Richert, Denken und Führen: Ethik für unsere Gesellschaft 9783534712595

Der Pluralismus unserer Zeit, die Vielfalt der Lebens- und Denkmöglichkeiten ist oft genug mit Orientierungslosigkeit ve

120 9 5MB

German Pages 182 Year 2012

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Kapitel I. Zur Klärung der Lage
1. Gemeinschaft als Basis für das Leben
2. Die Suche nach dem Guten
3. Öffentlich und Privat
4. Die Suche nach dem Besten
5. Die Sehnsucht nach Stimmigkeit
Kapitel II. Zeitzeichen
1. Höhlendasein
1.1. Fortschritt
1.2. Konturenloser Pluralismus
1.3. Der Ruf nach Werten
2. Die Last der Schnelligkeit
3. Die Einsamkeit der Verantwortlichen
Kapitel III. Vorläufige Wege
1. Corporate Identity
2. Branding: Weg und Grenze
Kapitel IV. Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit
1. Wahrheit und Gestimmtsein
1.1. Wirklichkeit
1.2. Gerechtigkeit
1.3. Gutes Leben
1.4. Frieden
1.5. Schönes Leben
1.6. Liebe
2. Universalien
3. Zur Ordnung des Denkens
4. Religion und Leben
4.1. Die Verwandlung der Vernunft in Rationalität
4.2. Vernünftige Horizonterweiterung
4.3. Glaube und Leben
5. Arbeit und Leben
5.1. Arbeit
5.2. Martin Luther
5.3. Die Neuzeit
5.4. Gegenwärtige Herausforderungen
5.5. Das christliche Arbeitsverständnis
6. Trinität und Person
6.1. Anmerkungen zur Trinitätslehre
6.2. Der Mensch als Person
6.3. Vom Verschwinden der Person
6. 4. Zur Wiedergewinnung des Menschen als Person
Kapitel V. Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik
1. Personenethik
2. Grundelemente
2.1. Das Gebot der Anerkennung
2.2. Die Person als Leistungsträger
2.3. Verzeihung
2.4. Herzensbildung
3. Persönlichkeit
3.1. Vom Wesen der Tugend
3.2. Zeit als Aufmerksamkeit
3.3. Ehrlichkeit
3.4. Besonnenheit
3.5. Tapferkeit
3.6. Gerechtigkeit
3.7. Frömmigkeit
4. Ethik in der Führung
4.1. Was ist Führung?
4.2. Macht
4.3. Vertrauen
4.4. Gewissen
4.5. Verantwortung
4.6. Das Lachen und das Heilige
Kapitel VI. Haltung als Maß
1. Das Normale
2. Pragmatismus
3. Wissen
4. Glaube
5. Hoffnung
6. Die Ordnung der Liebe
Kapitel VII. Literaturverzeichnis
Recommend Papers

Richert, Denken und Führen: Ethik für unsere Gesellschaft
 9783534712595

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Friedemann Richert Denken und Führen Ethik für unsere Gesellschaft WBG Wissen verbindet

Friedemann Richert

DENKEN UND FÜHREN Ethik für unsere Gesellschaft

Friedemann Richert DENKEN UND FÜHREN Ethik für unsere Gesellschaft Lieber Leser,

vielen Dank für den Kauf dieses E-Books. Um Ihnen das Lesen so unkompliziert wie möglich zu gestalten, haben wir auf die Anwendung eines harten Kopierschutzes verzichtet.

Dennoch werden unsere E-Books durch ein digitales Rechtemanagement vor Missbrauch des Urheberrechts geschützt. Bei Kauf im Webshop des Verlages werden die E-Books mit einem nicht sichtbaren digitalen Wasserzeichen auf den Käufer individualisiert. Bei Kauf in anderen Shops erfolgt die Signatur durch den Shopbetreiber. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.

4

Inhaltsverzeichnis

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. © 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN-13: 978-3-534-19906-8 ISBN-10: 3-534-19906-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... 7 Einleitung..................................................................................................... 11 Kapitel I. Zur Klärung der Lage .................................................................. 14 1. Gemeinschaft als Basis für das Leben ................................................. 14 2. Die Suche nach dem Guten.................................................................. 16 3. Öffentlich und Privat ........................................................................... 18 4. Die Suche nach dem Besten................................................................. 20 5. Die Sehnsucht nach Stimmigkeit......................................................... 23 Kapitel II. Zeitzeichen ................................................................................. 27 1. Höhlendasein ....................................................................................... 27 1. 1. Fortschritt..................................................................................... 29 1. 2. Konturenloser Pluralismus........................................................... 30 1. 3. Der Ruf nach Werten ................................................................... 33 2. Die Last der Schnelligkeit.................................................................... 35 3. Die Einsamkeit der Verantwortlichen.................................................. 37 Kapitel III. Vorläufige Wege ....................................................................... 41 1. Corporate Identity ................................................................................ 41 2. Branding: Weg und Grenze ................................................................. 46 Kapitel IV. Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit ................................. 50 1. Wahrheit und Gestimmtsein ................................................................ 50 1. 1. Wirklichkeit ................................................................................. 53 1. 2. Gerechtigkeit................................................................................ 54 1. 3. Gutes Leben ................................................................................. 55 1. 4. Frieden ......................................................................................... 57 1. 5. Schönes Leben ............................................................................. 57 1. 6. Liebe ............................................................................................ 58 2. Universalien ......................................................................................... 59 3. Zur Ordnung des Denkens ................................................................... 60 4. Religion und Leben.............................................................................. 66 4. 1. Die Verwandlung der Vernunft in Rationalität ........................... 66 4. 2. Vernünftige Horizonterweiterung................................................ 68 4. 3. Glaube und Leben........................................................................ 69 5. Arbeit und Leben ................................................................................. 75

6

Inhaltsverzeichnis

5. 1. Arbeit ........................................................................................... 76 5. 2. Martin Luther............................................................................... 78 5. 3. Die Neuzeit .................................................................................. 78 5. 4. Gegenwärtige Herausforderungen ............................................... 80 5. 5. Das christliche Arbeitsverständnis............................................... 82 6. Trinität und Person............................................................................... 85 6. 1. Anmerkungen zur Trinitätslehre.................................................. 86 6. 2. Der Mensch als Person ................................................................ 87 6. 3. Vom Verschwinden der Person ................................................... 89 6. 4. Zur Wiedergewinnung des Menschen als Person ........................ 91 Kapitel V. Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik ... 96 1. Personenethik....................................................................................... 96 2. Grundelemente................................................................................... 101 2. 1. Das Gebot der Anerkennung...................................................... 102 2. 2. Die Person als Leistungsträger .................................................. 107 2. 3. Verzeihung................................................................................. 110 2. 4. Herzensbildung .......................................................................... 115 3. Persönlichkeit..................................................................................... 118 3. 1. Vom Wesen der Tugend ............................................................ 119 3. 2. Zeit als Aufmerksamkeit............................................................ 120 3. 3. Ehrlichkeit.................................................................................. 124 3. 4. Besonnenheit.............................................................................. 126 3. 5. Tapferkeit................................................................................... 127 3. 6. Gerechtigkeit.............................................................................. 129 3. 7. Frömmigkeit............................................................................... 134 4. Ethik in der Führung .......................................................................... 137 4. 1. Was ist Führung? ....................................................................... 137 4. 2. Macht ......................................................................................... 139 4. 3. Vertrauen ................................................................................... 141 4. 4. Gewissen .................................................................................... 144 4. 5. Verantwortung ........................................................................... 148 4. 6. Das Lachen und das Heilige ...................................................... 152 Kapitel VI. Haltung als Maß...................................................................... 157 1. Das Normale ...................................................................................... 158 2. Pragmatismus..................................................................................... 160 3. Wissen................................................................................................ 163 4. Glaube ................................................................................................ 167 5. Hoffnung ............................................................................................ 172 6. Die Ordnung der Liebe ...................................................................... 175 Kapitel VII. Literaturverzeichnis............................................................... 180

Vorwort Prof. Dr. Thomas Schreckenbach

Mühltal, 26. Januar 2006

„Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen können nicht wachsen ohne das Bewusstsein davon, wer wir sind und woher wir kommen.“ Johannes Rau, Berliner Rede, 12. Mai 2004 Liebe Leserin, lieber Leser, die Worte von Johannes Rau sind einer Rede als Bundespräsident entnommen, in der er sich mit den Voraussetzungen für die Gestaltung unserer Zukunft in Zeiten der gesellschaftlichen Verunsicherung befasst. Er erinnert in seinen Ausführungen die Hörer und Leser an die elementaren Grundwerte Vertrauen und Verantwortung, da ohne sie die notwendigen Veränderungen nicht gemeistert werden können. Eine Rede, die Mut macht. Die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen unser Land steht und der hierdurch ausgelöste Veränderungsdruck sind unvermindert Teil unserer täglichen Wirklichkeit. Mit ihnen steigt das Bedürfnis nach Rat, der in Seminaren, Workshops und in der Literatur im Überfluss geboten wird. Wer auch immer einen Ratgeber kauft, sucht nicht nur praktische Hilfe, sondern auch Orientierung und Rückhalt. Sie halten hier ein Buch in der Hand, das ich Ihnen ans Herz legen möchte, denn es bietet Ihnen genau dieses an. Es kann Ihnen helfen, etwas wieder zu entdecken, was in Ihnen verborgen ist und für Sie zu einer Quelle von Kraft und Energie werden kann. Das Buch von Friedemann Richert ist ein Ratgeber, allerdings keiner dieser vielen, die mit verlockend einfachen Ratschlägen schnelle Hilfe versprechen. Auch ein ungeduldiger Leser kann es genießen, wenn er in den zentralen Kapiteln verweilt und die Denkanstöße mit auf den Weg nimmt. Für die Umsetzung dessen was, was das Buch erreichen möchte, benötigt der Leser jedoch Muße. Nur so wird man offen für die Impulse, die wir durch die Rückbesinnung auf unsere ethischen Grundwerte erhalten, auf das, wer wir sind und woher wir kommen.

8

Vorwort

Dieses Buch ist der Beginn einer Reise des Nachdenkens. In der besonnenen Rückschau auf unsere ureigensten Überzeugungen und Haltungen will Friedemann Richert Sie zu dem hinführen, was uns den Umgang mit uns selbst und mit anderen Menschen anregend und erfüllt erscheinen lässt; es geht um die Werte, die Sie leiten. Für die von Ihnen, die Verantwortung für andere Menschen in Wirtschaft, Politik oder in Schule und Hochschule haben, kann und soll es Anregung geben, über Ihre Rolle als Vorbild nachzudenken. Komplexe und sich rasch verändernde Welten wie unsere gegenwärtige fordern dem Menschen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Standfestigkeit ab. Die Frage nach dem, was uns im Innersten zusammenhält, wird in diesen lauten Zeiten kaum mehr hörbar. Umso schwerer fällt es daher, eine Antwort auf sie zu finden. Wirtschaftliche Unsicherheit, Restrukturierung unserer Sozialsysteme, Sorge um den Arbeitsplatz und die Zukunftssicherung für die nachwachsende Generation: das sind die Probleme, die wir in der abstrakten politischen Sprache gut von uns fern halten können; dennoch betreffen sie uns und die, die nach uns kommen. Eine Welt, die sich schnell verändert, verlangt vom Menschen, dass er sich schnell für oder gegen etwas entscheidet. Die meisten Entscheidungen benötigen aber Zeit, die wir nicht haben. Ein zum Aktionismus gesteigerter Pragmatismus kann zwar oberflächlich beruhigen, aber er macht unfrei; Veränderungsmanagement, Zeitplanung und Problemlösungstechniken mögen helfen. Im Blick auf das, was Ihnen dieses Buch anbietet, sind sie aber nur Kosmetik an den Symptomen. Friedemann Richert beschreitet den Weg des Nachdenkens aus der Sicht eines evangelischen Pfarrers, der die vielfältigen Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Nöte der Menschen täglich erlebt. Er weiß aus persönlicher Erfahrung, was das gegenwärtige Leben heute dem Menschen abverlangt: die Last der Schnelligkeit, die Vereinsamung von Randgruppen unserer Gesellschaft, die Einsamkeit der Verantwortlichen, der konturenlose Pluralismus. All das löst eine Sehnsucht nach Orientierung und verlässlichen, bleibenden Werten aus. Diese Sehnsucht kann gestillt werden, wenn man sich auf den Weg macht. In seinen Worten: Zu einem wahrhaftigen und gestimmten Leben in christlicher Klarheit. Indem Friedemann Richert uns in diesem Buch an unser Christ-Sein erinnert, macht er den Blick frei für das, was uns alle kulturell von Geburt an prägt, was aber in den Hintergrund getreten ist, ins Verborgene. Diese Erinnerung an uns selbst wird umso dringender, als wir uns in Zeiten der Globalisierung, in denen religiöser Fundamentalismus zu einem prägenden Moment wird, über das Christ-Sein zugleich als Individuum und als

Vorwort

9

verantwortlich handelnde Person in unserer Gesellschaft definieren können. Der gedankliche Weg, auf den Friedemann Richert uns mitnimmt, ist ein christlicher. Richert beschreitet ihn jedoch als einen universellen Weg, der auch für die Menschen nachvollziehbar ist, die sich nicht als aktives Mitglied einer christlichen Kirche verstehen. „Es liegt an jedem von uns, dieses Land, unser Land, jeden Tag ein Stück besser und menschenfreundlicher zu machen“ (J. Rau). Die Voraussetzungen zum verantwortungsvollen Handeln und damit zum Glücklich-Sein haben die, die sich an sich erinnern und sich auf ihre Herkunft besinnen. In diesem Sinn soll dieses Buch Ihr Wegweiser und Wegbegleiter sein.

Danksagung Dieses Buch wäre ohne die Begegnung mit Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Schreckenbach nicht entstanden. Als langjähriger, persönlich haftender Gesellschafter der Merck KGaA in Darmstadt reflektierte er mit mir immer wieder in gewinnender Art den Handlungszusammenhang von Ethik und Führung. Ein Ergebnis dieser Überlegungen war die gemeinsame Durchführung von mehreren Ethikseminaren für Führungskräfte der Merck KGaA in den Jahren 2003 und 2004. Als geistiger Gesprächspartner und Freund ermunterte mich daraufhin Thomas Schreckenbach, die darin entwickelten Gedanken einem größeren Publikum vorzustellen. Das Ergebnis hält nun der geneigte Leser als Buch in seinen Händen. Deswegen gilt Thomas Schreckenbach mein herzlicher Dank. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat dieses Buch in ihr Verlagsprogramm aufgenommen. Dass das so kam, verdanke ich dem geschäftsführenden Direktor der WBG, Herrn Andreas Auth, und vor allem dem Lektor für Theologie und Philosophie der WBG, Herrn Dr. Bernd Villhauer. Letzterer hat durch seine sachkundigen Anregungen wesentlich zur Gestalt dieses Buches beigetragen. Dass er dies stets in Freundlichkeit und gedanklicher Aufgeschlossenheit getan hat, danke ich ihm. Die Erstellung der Druckvorlage hat Herr Joachim Schmucker aus Sindelfingen übernommen. Ohne seine ausgewiesenen EDV-Kenntnisse wäre

10

Vorwort

mir das allein nicht möglich gewesen. Ihm schulde ich meinen freundschaftlichen Dank. Geistige Arbeit braucht Ruhe und Aufmerksamkeit. In der gesamten Zeit des Denkens und Schreibens hat mir meine Frau diese stets vom Herzen zukommen lassen und es mir hierdurch ermöglicht, neben meinem beruflichen Alltag dieses Buch zu schreiben. Dafür möchte ich mich bei ihr vom Herzen bedanken. All unser Denken bedarf immer der Anleitung und Führung. Andernfalls droht die Gefahr, sich im Denken zu verlieren. Deswegen möchte ich meinem alten Griechischlehrer, Herrn Dr. Günter Vogel aus Nürnberg, für seine nunmehr weit zurückliegende gedankliche Unterweisung in die altgriechische Denkwelt danken. Herr Vogel hat zudem dankenswerterweise den Text des Buches Korrektur gelesen. Die weitestreichende Orientierung im Denken verdanke ich freilich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Joachim Track, bis zum Jahr 2005 Ordinarius für systematische Theologie und Philosophie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, nunmehr in Hannover lebend. Mein eigenständiges Denken zu fördern, hat er in vielen guten Jahren des gemeinsamen Nachdenkens aufs Beste verstanden. So ist er mir zum geistigen Freund geworden, dem ich vom Herzen dieses Buch, für meinen Teil gesprochen, widmen will. Sindelfingen, im Frühjahr 2006

Friedemann Richert

Einleitung Für das menschliche Zusammenleben wurde das ethisch Gute in Europa jahrhundertelang über die Kulturtradition der christlichen Religion gesucht und in der Personengemeinschaft als Basis für ethisches Handeln gefunden. In der Neuzeit wurde diese Tradition durch die Aufklärung und den Humanismus dahingehend bereichert, dass der Mensch sich selbst als autonomes Subjekt entdeckte. Dies hatte zur Folge, dass man in ethischer Hinsicht zwischen den Bereichen des Öffentlichen und des Privaten unterschied, freilich mit dem Ergebnis, dass im Laufe der Zeit der religiöse Herkunftshintergrund seine gesellschaftsprägende Kraft verlor und ein öffentlicher, weltanschaulich neutraler Sinnhorizont gesucht wurde. Auf diese Weise wurde die Suche nach dem ethisch Guten der eigenen Herkunft in die Suche nach dem ethisch Besten der Zukunft umgewandelt. Es entstand somit die ruhelose Suche nach der best möglichen Form an Gemeinschaft und Gesellschaft und, dem zugeordnet, nach der besten Wirtschaftsgestalt, kurz „Utopie“ genannt. Im ethischen Denken schlug sich diese Suche nach dem besseren Leben in eine Fülle von ethischen Denkansätzen nieder, die sich bis heute im Begriff des „Ethikbooms“ zu Wort melden. Ein Ergebnis hiervon ist eine Unübersichtlichkeit in ethischen Fragestellungen, von welcher der moderne Mensch in besonderer Weise herausgefordert ist, will er sich gedanklich orientieren. Von diesem Sachverhalt ist darum auch jede Gesellschaftsethik und auch jede Unternehmensethik betroffen. Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit kam es im Laufe der Zeit zu einer Vorherrschaft von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen, die zum „stahlharten Gehäuse“ der Moderne führte. Im normalen und alltäglichen Leben der Menschen aber bringt diese Vorherrschaft von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen ein allgemeines Unbehagen mit sich, welches sich wiederum in einer allgemeinen Sehnsucht nach Stimmigkeit und Überschaubarkeit des Leben kundtut. Das Kapitel I. Zur Klärung der Lage beschreibt und bedenkt nun überblicksartig diesen gedanklichen Weg. Im Kapitel II. Zeitzeichen wird dieses allgemeine Unbehagen anhand zweier gegenwärtiger Denkansätze näher untersucht: Zum einen ist das die neuzeitlich entworfene Idee des Fortschritts, zum andern die Idee des Pluralismus, denn beide Ideen werden, unabhängig von deren unbestritten positiven Seiten, als nicht mehr hinreichend gemeinschaftsstiftend erlebt. Darum

12

Einleitung

erschallt heute immer wieder im öffentlichen Diskurs der Ruf nach Werten. Da dieser aber ohne Rückbindung an die gewachsene Kulturtradition der Religion erfolgt, besitzt dies keine ethische Aussagekraft, erkenntlich an der beliebigen Formulierbarkeit von Werten. So wird ersichtlich, dass Werte auch trennen können. Ein ruheloser Aktionismus der Schnelligkeit ist die Folge, der die Vereinsamung aller Verantwortlichen in allen Feldern des Lebens mit sich bringt. Nicht nur auf unternehmensethischer Seite wird dieser Ruf nach Werten durch die Methoden der Corporate Identity und des Brandings aufgegriffen. Bei diesen Modellen aber erweist es sich, dass sie nur vorläufige Wege aufzeigen und ethisch keine Klärung herbeiführen können. Kapitel III. Vorläufige Wege wendet sich dieser Problematik zu. Im Kapitel IV. Wege zur christlichen Klarheit wird dargestellt, wie mit einer Wiederbesinnung auf die christliche Erkenntnistheorie der gedankliche Mangel der Wertediskussion beseitigt werden kann. Mit Hilfe der Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit wird ein Denkweg beschrieben, der aus der Unübersichtlichkeit herausführt. Dieser Weg besteht darin, dass allen Menschen, über das bloße Medium des Denkens, ethisch einsehbare und einsichtige Lebensformen zugänglich sind, die Universalien genannt werden können. Mit diesen aber lässt sich Ethik wieder als allen Menschen gemeinsame Suche nach dem Guten beschreiben. Die konkrete Form dieser Ethik ist aber die Personenethik. Um freilich Klarheit über diesen Denkweg zu bekommen, bedarf es der Ordnung im Denken. Diese findet statt über die Rangordnung von Vernunft, Verstand und Urteilskraft zur Religion und zum Glauben, ordnet das Verhältnis von Arbeit und Leben und findet in der christlichen Trinitätslehre die gedankliche Begründung dafür, jeden Menschen mit Würde und Ehre je gleich zu behandeln. Der entsprechende Ausdruck hierfür ist: Person. Da es Personen - im Unterschied zum Individuum - nur im Plural gibt, ist für ethisches Denken und Handeln vor allem die am gemeinsamen Wohl auszurichtende Willensbildung der Menschen zu bedenken. Und nur innerhalb dieses Geschehens findet jede in Verantwortung stehende Person ihre ethisch verantwortliche Rolle, die Persönlichkeit zu nennen ist. Darum muss die persönliche Willensbildung vor allem von Herzensbildung geleitet sein, die sich dann als persönliche Reife konkretisiert. Eine so verstandene Personenethik redet dann nicht mehr von Werten, sondern von den bleibenden Tugenden. Denn Tugenden sind ihrem Wesen nach nicht verhandlungsfähig oder an bestimmte Verhältnisse anpassbar, wie dies bei den Werten der Fall ist. So erweisen sich die Tugenden für das gemeinschaftliche Leben als unabdingbare, grundlegende Voraussetzungen. Gelingende Führung ist darum bleibend auf die Tugenden verwiesen. Wird aber Führung in der Tugendhaltung vollzogen, eröffnet sich damit zugleich ein ethisches Rahmengefü-

Einleitung

13

ge, das in einen gelingenden Umgang mit den Phänomenen der Macht, des Vertrauens, des Gewissens und der Verantwortung einweist. Zugleich stellt sich über diese Tugendhaltung die Wiederentdeckung des befreienden Lachens ein, das manche ernste oder bedrückende Situation aus ihrer Erstarrung zu erlösen vermag. Das Kapitel V. Führung im Geiste christlicher Ethik entwickelt all diese Gedanken. Das Kapitel VI. Haltung als Maß zeigt nun auf, wie der Personenethik eine geistige Haltung entspricht, die das Maß des alltäglichen Lebens und Handelns zu bestimmen vermag. Diese Haltung orientiert sich an der Suche nach Geborgenheit in Gemeinschaft und ist Ausdruck des normalen Lebens. Sie widerspricht dem Pragmatismus als gemeinschaftszerstörender Form, ordnet die Kategorie des Wissens als unvollständige Erkenntnisweise für das Leben ein, führt in erkenntnistheoretischer Hinsicht in die Haltung des Glaubens, der als Ausdruck des erwachten Selbstseins des Menschen bestimmt wird. Ein Ergebnis hiervon ist die Haltung der begründeten Hoffnung. Als zusammenfassende Haltung von allem aber wird die Ordnung der Liebe bestimmt.

Kapitel I. Zur Klärung der Lage 1. Gemeinschaft als Basis für das Leben Unser menschliches Leben ist auf Gemeinschaft hin angelegt. Diese Erkenntnis bedarf keiner Rechtfertigung, unsere Erfahrung lehrt uns das. So ist unsere Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft wohl das erste und wichtigste Gut des Lebens, das wir miteinander teilen. Sei es unsere eigene Herkunft, sei es unsere Sprache, seien es unsere Lebenseinstellungen und die darin enthaltenen Wertvorstellungen: Jeder Mensch findet das Gut seines Lebens immer schon in einer personalen Verbundenheit vor. Diese personale Verbundenheit bildet das Rückgrat für alles weitere Leben und Denken. Darum kann die menschliche Gemeinschaft als Grunddatum für unser Leben ausgemacht werden. Dieses Grunddatum bestimmt und begleitet alles menschliche Denken und Handeln. Menschen begegnen einander nur gerecht in menschlicher Gemeinschaft. Menschliche Gemeinschaft aber ist Personengemeinschaft. Und so ist auch ethisches Denken ohne diese Bezugnahme auf die Personengemeinschaft nicht denkbar. Sei es die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, sei es die Gemeinschaft der Familie, des Dorfes, der Stadt, des Landes, sei es die Gemeinschaft des Berufes, oder sei es die Gemeinschaft der Religion: Immer ist es die Personengemeinschaft der Menschen im Denken und Handeln, die all dieses begleitet. Und wenn Aristoteles davon redet, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, wenn Jesus Christus darüber hinaus immer wieder vom Reich Gottes spricht, zu dem die Menschen berufen sind, dann greifen beide eben diese menschliche Grundgegebenheit auf: Der Mensch ist auf Gemeinschaft hin angelegt. Gemeinschaft ist somit eine Verbindung von Personen, die in lebendigen sozialen Beziehungen miteinander verbunden sind. Diese Gemeinschaft von Personen eröffnet den Raum zur verlässlichen Lebensgestaltung, in dem Fragen der Zugehörigkeit und der Herrschaftsverhältnisse wechselseitig bedacht und geklärt werden. Darum ist menschliche Gemeinschaft die Basis für unser Leben. Von dieser menschlichen Grundgegebenheit ist auch keine Organisation, keine Institution und auch kein Unternehmen ausgenommen. All diese sind und bleiben Gemeinschaften von Personen und unterliegen darum unabweislich dem menschlichen Bedürfnis nach Verständigung, Gespräch, Ab-

Zur Klärung der Lage

15

sprachen und Orientierung. Der Wege und Modalitäten freilich, wie diese Gemeinschaft gestaltet, belebt und gelebt wird, sind gar viele. Jede Gemeinschaft aber, wenn sie Bestand haben soll, bedarf hierzu gemeinschaftlich gewonnener und gepflegter Überzeugungen, die den Grundfragen des Menschen nach Sinn des Lebens und darum auch nach dem Sinn der Arbeit eine verlässliche Erkenntnis gewähren. Die wohl älteste Pflege solcher Überzeugungen wurde seit jeher in der Religion geübt. Die konkrete gesellschaftliche Ausdrucksform hierfür ist in Europa die Institution der Kirche, die unserem modernen Staat sowohl zeitlich als auch gedanklich vorausgeht. Darum ist unser moderner Staat nur dann lebensfähig, wenn er sich weiterhin eingebunden weiß in die geschichtlich überlieferten und zugleich kritisch reflektierten Gewissheiten der eigenen Herkunft. Jeder Staat, jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft bedarf deshalb immer notwendig der Orientierung im Denken. Und dieses Denken muss die eigene Herkunft klären. Dies gilt entsprechend für jede gesellschaftliche Aktionsform wie Institutionen oder auch Unternehmen. Ein konkretes Ergebnis solcher gemeinschaftlicher Erschließungen ist die politische Gestaltung unserer Gesellschaft, die sich darum - zur Erhaltung und Bewahrung ihrer selbst - Regeln des geordneten Miteinanders gegeben hat und gibt. Daraus erwuchs dann unser demokratisches Staatswesen mit seinen Institutionen, Gesetzen und seiner Verfassung. Dem allen aber liegt als Wurzelgrund immer die Gemeinschaft von Personen zugrunde, die ihrerseits nicht in dem Staatswesen aufgeht, sondern an diesem über ihre Herkunft in Wechselseitigkeit teilhat. Daraus entspringen dann ethische Handlungsmaximen, die sowohl von der Gemeinschaft, der Gesellschaft, von der Ökonomie, von der Kirche als auch vom Staatswesen in einem lebendigen Geschehen miteinander bedacht werden. Erst auf dem Hintergrund dieses lebendigen Wechselspiels finden alle Personengemeinschaften wie Familien, Vereine, Organisationen, Institutionen oder auch Unternehmen ihren Platz innerhalb einer Gesellschaft. Darum ist keine Familie, kein Unternehmen, keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, kein Staatswesen eine stehende, starre Erscheinung, sondern das genaue Gegenteil: eine fließende, bewegliche und darum immer auch eine unverfügbare Größe. Diese bewegliche Gestalt von Gesellschaften, Gemeinschaften, Organisationen, Institutionen und auch Unternehmen rührt daher, dass diese elementar und wesentlich von Menschen geprägt und geleitet wird. Und Menschen sind zeit ihres Lebens in lebendiger Bewegung, weil sie eben als Denkende, Sprechende und Handelnde in der Gesellschaft, Gemeinschaft und im Unternehmen anwesend sind. Handeln vollzieht sich daher niemals in einem geschichtslosen oder geschichtsneutralen Raum, sondern ist immer eingebunden in und rückgebunden an einen

16

Zur Klärung der Lage

Kanon von geschichtlich gewachsenen Überzeugungen und Einsichten. Handeln ist daher immer auch herkunftsorientiert und gemeinschaftsbezogen. Handeln hat daher immer auch die Seite der persönlichen Verantwortung.

2. Die Suche nach dem Guten Handeln aber ist das willentliche Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu einer Gesellschaft, Gemeinschaft und dementsprechend zur Wirtschaft und zu den Unternehmen. Handeln ist des Näheren das willentliche Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu meiner erfahrbaren Lebenswirklichkeit, durch Umsetzung eines selbst gewollten oder auch gesollten Zweckes. Handeln ist daher immer mehr als das bloße Tun, als eine Tätigkeit auszuführen und diese zu verrichten. Da der Mensch aber handelnd in seiner Familie und in seinem Freundesund Bekanntenkreis, in seiner Gesellschaft und Gemeinschaft, in seiner Firma, in seinem Unternehmen oder in seiner Institution anwesend ist, stellt sich ihm immer wieder die Frage nach dem richtigen Handeln. Diese Frage kann jedoch nicht ständig in grundsätzlicher Weise bedacht werden, dazu fehlt schlicht die Lebenszeit. Hier gilt: ars longa, vita brevis. Der Mensch muss aufgrund seiner Lebendigkeit nämlich handeln, oft hier und jetzt. Dennoch aber wird der Mensch für sein Handeln in Verantwortung gestellt: von seiner Familie, von seiner Gesellschaft, von seiner Gemeinschaft, von seiner Organisation, von seiner Institution und auch von seinem Unternehmen. Und, was niemals übergangen werden darf: Der Mensch wird auch von sich selbst vor sich selbst in Verantwortung gestellt: Ich bin mir selbst verantwortlich. Diese Art der Verantwortung kann im guten Fall als Freundschaft mit sich selbst, im schlechten Fall als Feindschaft mit sich selbst beschrieben werden. Handeln aber ist und bleibt persönlich. Als Kriterium und Maßstab dieser Bezogenheit von Handeln und Verantwortung hat sich in Europa über Jahrhunderte hinweg die kulturgeschichtlich erworbene christliche Religion erwiesen. Denn diese bildete das Fundament der unterschiedlichen europäischen Gesellschaften, Gemeinschaften, Familien oder auch Unternehmen. Das Christentum gab diesen beweglichen Größen einen verlässlichen Rahmen, der sie vor der Gefahr der gedanklichen Orientierungslosigkeit bewahrte. Das Christentum gewährte also Gewissheit und Verlässlichkeit in der Gestaltung des Lebens. Diese Gewissheitsüberlieferung der christlichen Wirklichkeitserschließung eröffnete den Menschen in ihrer Gemeinschaft das Erleben von „Normalität“, bezeichnete

Zur Klärung der Lage

17

den common sense und klärte, was eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, eine Organisation, eine Institution, eine Familie und auch ein Unternehmen wirklich wollte, im Unterschied zu allem vordergründigen Wollen. Mittels dieses Fundamentes konnte dann auch ethisches Denken und Handeln erschlossen, konnten die jeweiligen Moralvorstellungen auf ihre Stimmigkeit hin befragt werden, und zwar so - das ist die spezielle Errungenschaft der evangelischen Wirklichkeitserschließung -, dass der Einzelne als Handelnder in Freiheit und Verantwortung vor Gott und den Menschen sein Leben persönlich gestalten und zudem wirtschaftlich organisieren konnte. Auf diese Weise wurde der Mensch als Person ein Mitarbeiter Gottes zur Gestaltung der Welt, wurde der Mensch als Person ein cooperator dei, wie Martin Luther in seiner Schrift: „Vom unfreien Willen“ ausführte. Als „freier Mitarbeiter Gottes“ aber blieb der Mensch als Handelnder an die allen gemeinsame Frage und Aufgabe der Ermöglichung eines guten Leben für alle verwiesen. Demgemäß blieben alle gesellschaftliche Bereiche in ihrer öffentlichen als auch privaten Dimension dieser Suche nach dem guten Leben verpflichtet. Zugleich aber war es dadurch offensichtlich, dass die Maximen des Willens beim Handeln nicht durch vordergründige, etwa gemeinschaftsschädigende, Interessen instrumentalisiert werden durften. Denn das Einrücken des Menschen in die Gewissheitsüberlieferung des christlichen Glaubens verhinderte die Ausdifferenzierung in verschiedene „Bereichsethiken“, weil eben immer derselbe Mensch in allen seinen Lebensbereichen als je verantwortlicher Mitarbeiter Gottes in der öffentlichen Ausweispflicht für sein Handeln stand. Zwar gab es zweifelsohne verschiedene Aufgaben und darum auch verschiedene Pflichten der Handlungsorientierung, die auch vordergründig unterschiedliche Vorstellungen von je rechtem Handeln mit sich brachten. Aber hintergründig blieb immer die Anschauung bestehen, der Gesamtverantwortung des Menschen für sein Leben und Handeln - im wahrsten Sinne des Wortes - vor Gott und der Welt verpflichtet zu sein. Diese Gesamtverantwortung war keine Sache von Beliebigkeit, sondern war gefasst als Suche nach dem Guten, welches wiederum mit der Theologie gedanklich erschlossen wurde. Ethik nannte man diese reflektierte Suche nach dem Guten in Denken und Handeln. Konkret wurde diese Gesamtverantwortung des Menschen darin, dass jeder Mensch, kraft seiner genealogischen Abstammung, als wert- und qualitätsfreie, weil mit Würde ausgestatte Person zu achten war. Diese Würde stellte nun jeden Menschen in ein ethisch verantwortetes gegenseitiges Anerkennungsverhältnis, das jedem Menschen um seiner selbst willen einen menschenwürdigen Raum zum Leben garantierte, und das unabhängig von des Menschen Leistungsfähigkeit. Auf das Gesellschafts- und Arbeitsleben bezogen bedeutete dies, dass jeder Mensch im

18

Zur Klärung der Lage

Rahmen seiner Möglichkeiten und geschlechtsspezifischen Fähigkeiten dem Gemeinwohl verpflichtet war, ein Gedanke, den Martin Luther mit dem bis heute prägenden Begriff des Berufes zum Ausdruck gebracht hat. So eröffnete der Beruf des Menschen zweierlei: Einmal die Verpflichtung, dem Gemeinwohl zu dienen, also mit seiner je möglichen Leistungskraft zu arbeiten. Ein Auswirkung dieser Einstellung ist heute noch in dem Artikel 14 unseres Grundgesetzes vorfindbar, wenn es heißt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Zum anderen aber fand der Mensch seine Würde eben nicht durch seine Arbeit gegeben, sondern durch seine Berufung als Geschöpf Gottes zur Lebensgestaltung und zur Arbeit, die er u. a. in der christlichen Handlungsanweisung des Betens und Arbeitens, des ora et labora, wiederfand. Der Mensch ist, so gesehen, eine Person, die sich in und mit ihrem Handeln dem Gesamtwohl ihrer Familie und Gemeinschaft, ihren Institutionen und ihrer Gesellschaft, ihrem Arbeitgeber und Unternehmen verpflichtet weiß. Und umgekehrt gilt hier zugleich, dass ihrerseits die Familie und Gemeinschaft, die Institutionen und Gesellschaft, die Arbeitgeber und Unternehmen ebenso in ethischer Verantwortung gegenüber dem möglichen Wohl der jeweiligen Personen stehen. Das freilich erfordert stets eine Beweglichkeit im Denken, das sich von der Suche nach dem Guten leiten lässt.

3. Öffentlich und Privat Diese gedankliche Haltung änderte sich langsam, aber stetig, von der Zeit an, als man anfing, das Leben mehr und mehr in die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten einzuteilen und nach entsprechenden Handlungsmaximen zu ordnen. Die kulturgeschichtlich bedachte christliche Religion und die daraus entspringende Haltung des Glaubens wanderte zusehends in den Bereich des Privaten aus, schließlich zwar mit allen Privilegien der positiven und der negativen Religionsfreiheit versehen, dennoch aber verlor die christliche Religion ihren gesellschaftstragenden Charakter. Verstärkt wurde dieser gesellschaftliche Wandel noch durch die philosophisch geführte Debatte des Atheismus, vor allem der des 19. Jahrhunderts, ergänzt durch die weltanschaulich sich neutral gerierenden Humanwissenschaften der Medizin, Soziologie und Psychologie. Am Beispiel des Begriffs „Gesundheit“ lässt sich dieser gesellschaftliche Wandel gut belegen: Es ist Martin Luther gewesen, der mit seiner deutschen Bibelübersetzung das Wort „Gesundheit“ in der deutschen Schriftsprache begünstigte und zu seiner Verbreitung verhalf (Vgl. Grimm, Bd. 5, 4321). In Psalm 38, 4, übersetzte Luther das latei-

Zur Klärung der Lage

19

nische Wort sanitas mit Gesundes: Es ist Nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens, und ist nichts Heiles an meinem Gebein wegen meiner Sünde. Und in Apostelgeschichte 4, 30 übersetzt Luther das griechische Wort hiasis (= lateinisch: sanitas) mit Gesundheit. Dem Wort „Gesundes“ entspricht demnach als Substantivbildung der Begriff „Gesundheit“ und bezeichnet im Sinne Luthers das Wohlergehen des Menschen in seiner Leib-Geist-Seele-Einheit. Das Wohlergehen zeigte sich grundlegend im Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, alle Bereiche des menschlichen Lebens umgreifend und erfassend. Gesundheit war bis zum 17. Jahrhundert somit ein religiöser Begriff und der Arzt war eine Art „Handlanger Gottes“, wie etwa ein Reim von Friedrich Logau belegt: „Wenn ein krancker wird gesund, ist gesundheit gottes gabe, und dem arzte kommt nur zu, dasz er für die müh was habe“ (Grimm, Bd. 5, 4322). Im Zuge der Aufklärung wurde der Begriff „Gesundheit“ seiner religiösen Begründung entkleidet und wurde zu einem Gut unter anderen Gütern, die der Mensch erwerben und erhalten kann. So etwa, wenn Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft „Güter, Gesundheit und Leben“ als Besorgungsweisen des Menschen aufzählt (vgl. Kritik der ästhetischen Urteilskraft, A 104) und darüber hinaus Gesundheit als Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des Menschen bestimmt (vgl. Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 11). Diese Linie wurde bis in unsere Gegenwart hinein ausgezogen und weitergeführt, mit der Folge, dass Gesundheit mehr und mehr zu einem der wichtigsten Güter menschlichen Lebens geworden ist. Gesundheit ist seither kein religiöser Beziehungsbegriff mehr, sondern ein Begriff der individuellen Leistungsfähigkeit, vor allem in Bezug auf das gesellschaftliche Leben. Seither macht man einen „Gesundheitscheck“, erfährt ein „staging“ betreffs seiner Leistungsfähigkeit. Heute verliert oder behält man seine Gesundheit wie ein Gut. Gesundheit ist ein rein innerweltlicher Begriff geworden, der als zu verwaltende Größe dem Menschen aufgegeben ist. Diese Andeutungen müssen hier genügen. Im Gefolge der Aufklärung etablierte sich nun mittels der autonomen Vernunft der öffentliche Bereich als mehr und mehr weltanschaulich neutraler Raum, welcher der Gesellschaft einen verbindlichen Rahmen der Ermöglichung pluraler Lebensentwürfe eröffnen wollte. Und begünstigt wurde diese Betrachtung der Wirklichkeit durch die neue Wissenschaftstheorie der empirisch-induktiven Methode der Moderne, die im Prinzip des verumfactum zusammengefasst werden kann: Wahr ist, was der Mensch machen kann. Von der kulturgeschichtlich erworbenen Gewissheitsüberlieferung des christlichen Glaubens blieb im öffentlichen Bewusstsein schließlich die Kulturgeschichte an sich übrig, die man, je nach Weltanschauung, entweder einer positiven oder negativen Wertung zuführen konnte. Seither begriff

20

Zur Klärung der Lage

sich der Mensch als der Kultur und der ihr gemäßen Religion als Subjekt gegenüberstehend. Nicht mehr Gott und seine Wahrheit bildeten nun das Subjekt der menschlichen Verlässlichkeiten, sondern allein der Mensch. Dieses Gegenüberstehen des Menschen zur Kulturgeschichte wurde dann noch dadurch verstärkt, dass nun mehr und mehr mit den Erkenntnissen der Humanwissenschaften, allen voran der Soziologie und der Psychologie, eben die Kulturgeschichte und die in ihr enthaltenen Gewissheitsüberlieferungen der christlichen Religion bemessen, bewertet und dann einer methodischen Prüfung unterzogen wurden. Dieses Bemessen wiederum wurde mit dem Maßstab der Funktionalität zur Erreichung von Zwecken unternehmerischer, gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Art vollzogen. Diese Funktionalität wurde dann mit dem Gedanken einer allgemeinen Gültigkeit verbunden, so dass der Mensch an sich zu seinem je eigenen Kulturträger und Kulturstifter selbst wurde. Nicht mehr die Gewissheit der Religion wurde öffentlich proklamiert, sondern der von allen Autoritäten endlich befreite Mensch, der homo faber trat auf den Plan: Der Mensch begriff sich als autonomes Subjekt. Das Ergebnis hiervon ist, dass der Mensch sich selbst zu denken sucht, und sich nicht mehr über die gottgegebene Würde definiert. Dieses Selbstdenken soll nun über eine Denkordnung vernünftig geglaubter Qualitäten wie Selbstbewusstsein, Erinnerung, Gewinnung eines Verhältnisses zum Leben als Ganzes und Interesse am eigenen Leben vollzogen werden. Die Folge davon ist bis heute, dass hiermit ausschließende Kriterien für den Status der Erlangung der Würde des Menschen benannt sind. Erst die Verwirklichung und Selbstverwirklichung dieser qualitativen Werte menschlichen Lebens garantierte nämlich die Würde des Menschen. Vor allem die Arbeit und Leistungsfähigkeit des Menschen wurde der Garant für diese Selbstverwirklichung des Menschen. Die Arbeit wurde zum Sinnstifter des menschlichen Lebens schlechthin. Doch mit dieser gewonnen Freiheit ging und geht zugleich eine gesellschaftliche Ratlosigkeit einher, die sich im Widerspruch zwischen dem Leben des Menschen in lebendiger und beweglicher Gemeinschaft und einer funktionstechnischen Lebenssicht sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich erschließt.

4. Die Suche nach dem Besten Die vormals gegebene gemeinsame Suche nach dem Guten wurde im Laufe der Zeit ersetzt durch eine Fülle von Spielarten der Suche nach dem Besten: Das jeweils Beste für die Familie, die Gesellschaft, für die Gemeinschaften, für Institutionen und Organisationen, für die Unternehmen wurde gesucht.

Zur Klärung der Lage

21

So ist uns allen die Redewendung vertraut, dass es unsere Kinder einmal besser haben sollen als wir. Und so begann auch der Wettlauf um die je beste Platzierung eines Unternehmens am Markt, um die Gestaltung der besten Welt, Utopie genannt. Hierzu wurden säkulare Visionen eines befreit und befriedet geglaubten Lebens entworfen, die allesamt als Kernpunkt ihres Denkens die politischen und ökonomischen Verhältnisse, das Arbeitsleben und das Geschlechterverhältnis ins Auge fassten. Diese nunmehr anvisierte Ausgestaltung von Gesellschaft und Gemeinschaft nötigte zur Formulierung neuer gedanklicher Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese neugewonnenen Formulierungen traten zwar mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, in Wirklichkeit aber stellten und stellen diese nur einen sehr speziellen Willen der wenigen für und über die vielen anderen dar. Und scheinbar beglaubigt wurden diese utopischen Anstrengungen mit deren Verheißungen eines besseren Lebens. Als Folge hiervon entstand eine Fülle von Ethiken, heute fassbar im „Ethikboom“ des öffentlichen Bereichs. Hatte man früher mit dem Begriff „Ethik“ noch die Gesamtheit des Handelns von Menschen als Gemeinschaftswesen im Blick, so werden heute die Antworten der Tradition in Fragen der Ethik als unzureichend bezeichnet. Verloren gegangen ist nämlich das gemeinschaftsstiftende Band der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferung des christlichen Glaubens, der in Reflexion auf den späteren Humanismus und der noch späteren Aufklärung das ethische Denken handlungsleitend prägte. Anstelle dessen ist die Vorstellung einer postmodernen Gesellschaft getreten, die ihr Selbstverständnis darin findet, dass es keine allgemein verbindlichen ethischen Handlungsmaximen mehr gibt. Vielmehr gebe es nur noch ein Nebeneinander je selbstständiger Lebenskreise in Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und auch Ökonomie mit je eigenen ethischen Handlungsformen. Daraus aber entsteht eine Unübersichtlichkeit für das gesamte Leben und Handeln der Menschen. So gibt es heute etwa ethische Entwürfe für die Politik, für die Medien, für die Medizin, für die Ökologie, für das Recht, für die Tiere, für die Technik, für die Gentechnologie, für das Geschlechterverhältnis, für die Geriatrie und schließlich auch für die Wirtschaft. Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit werden im politischen, gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und auch unternehmerischen Denken und Handeln angewandte Ethiken immer mehr gebraucht. Denn je unübersichtlicher die Lebenslage der Menschen wird, desto mehr wächst das menschliche Bedürfnis nach einer normalen Klarheit und Überschaubarkeit des Lebens. Denn niemand kann sein Leben ständig reflektieren und nach allen Seiten hin absichern. Angewandte Ethiken wollen nun diesem Bedürfnis nach Orientierung gerecht werden und hierbei die Richtigkeit und Stimmigkeit des je Vorhan-

22

Zur Klärung der Lage

denen ethisch ausweisen. Eine Folge hiervon ist, dass in diesem öffentlich geführten Diskurs vor allem die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, in den Unternehmen und den Führungsetagen in einer ethisch geforderten Ausweispflicht betreffs ihres Handelns stehen. Denn deren Entscheidungen können tief in das Leben der Menschen eingreifen, angefangen von der Arbeitsplatzerhaltung bis hin zu ökologischen Folgen für den Lebensraum Erde. Aufgrund unserer medial geprägten Gesellschaft kann sich heute wohl keine Institution oder Organisation, kein Unternehmen mehr dieser Ausweispflicht entziehen. Mittels angewandten Ethiken und Leitbildern reagieren nun Institutionen und Unternehmen auf diese öffentlichen Anfragen. Erkenntnisleitend ist hierbei die Einsicht, dass öffentlichkeitsrelevantes Handeln in seiner Eigendynamik ohne ethische Verantwortung gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nur schwer zu vermitteln ist. Da aber zugleich in unserer pluralen und postmodernen Gesellschaft ein die verschiedenen Bereichsethiken verbindender und verbindlicher ethischer Grundkonsens nur rudimentär auszumachen ist, - denn zu jedem Argument kann immer ein Gegenargument, zu jedem ethischen Entwurf kann immer ein ethischer Gegenentwurf formuliert werden -, sind die hierbei Verantwortlichen und Führungspersonen in der Formulierung ihrer ethischen Standards auf sich allein gestellt. Aus dieser Not gedenken sie nun aber eine Tugend zu machen und formulieren daher Leitbilder und Verhaltenskodizes, entweder in eigener Verantwortung oder in einer teueren Zusammenarbeit mit Unternehmensberatern. Der entscheidende Aspekt freilich ist hierbei das den Leitbildern und Verhaltenskodizes zugrundegelegte Menschenund Weltbild. Knüpft dieses aber in erkenntnisleitendem Interesse inhaltlich an das gemeinschaftsstiftende Band der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferung an, für die die reflektierte, christliche Welterschließung steht, so kann in diesen Leitbildern und Verhaltenskodizes so etwas wie „Heimat“ für alle Beteiligten ausgemacht werden. Denn im Mittelpunkt all dieser Überlegungen steht dann das Wohl der Menschen als Personen, die ihrerseits dann auch dem Wohlergehen und der Prosperität etwa der Institutionen oder Unternehmen verpflichtet sind. Die auf diese Weise gewonnenen ethischen Standards befördern eine wechselseitige Verantwortung und sind darum gut und nützlich. Folgt hingegen die Formulierung von Leitbildern und Verhaltenskodizes dem Kerngedanken der angewandten Ethik, so droht die Gefahr der Fortschreibung der erlebten Unübersichtlichkeit des Lebens: Denn angewandte Ethiken laufen Gefahr, das Beste mit Blick auf den Nutzen von Eigeninteressen zu formulieren. Mit angewandten Ethiken lassen sich nämlich im Gewande einer plausibel erscheinenden Verantwortlichkeit Akzeptanzkriterien für das benennen, was aufgrund der vorherrschenden Denkordnung der pluralen Gesellschaft ohnehin geschieht. Das aber ist

Zur Klärung der Lage

23

nicht unbedingt gut. So helfen etwa angewandte Ethiken, die Geschwindigkeit von Veränderungen „sozialverträglich“ - was immer dies auch heißen mag - zu machen und erhöhen damit das Risiko der Instrumentalisierung durch vordergründige Nützlichkeitskriterien jedweder Art. Damit aber wird der allgemein menschliche Wille nach einem gemeinsam verantworteten Leben in der Gesellschaft unterlaufen zugunsten einer Fülle von Willenskonzeptionen, die miteinander im Wettbewerb um die gedankliche Vorherrschaft stehen. Zur Zeit scheint dies die Willenskonzeption des ökonomischen Denkens zu sein, die alle Bereiche des öffentlichen und des privaten Lebens kolonialisiert zu haben scheint.

5. Die Sehnsucht nach Stimmigkeit Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben stellt sich aber mehr und mehr, als Antwort auf dieses Geschehen, ein allgemeines Unbehagen in Bezug auf die Befindlichkeit unseres gesellschaftlichen Lebens ein. Dieses Unbehagen nimmt Anstoß an dem Willen, das menschliche Zusammenleben auf allen Gebieten primär unter Nützlichkeitskriterien zu gestalten. Geschieht dies gleichwohl, verliert das Leben seine geistige Sicherheit und wird unter der Hand zu einer beliebig verfügbaren Angelegenheit, indem der Mensch als Mittel zum Zweck definiert wird. Konnte Aristoteles und die spätere christliche Tradition die menschliche Gemeinschaft noch unter dem Gedanken der Freundschaft erschließen, so wird heute der Mensch in seiner Gemeinschaft als Funktionsträger von Pflichten, Leistungen und Rechten gesehen. Auch wenn dieses Denken immer mehr zur Norm wird, so ist ein Leben unter diesen Bedingungen jedoch nicht normal. Denn das Normale zeichnet sich hier dadurch aus, dass Menschen zwar immer je ihre verschiedenen Rollen spielen und je in verschiedenen Bereichen tätig sind, dass darüber hinaus aber immer die Würde und Achtung des Menschen um seiner selbst willen ehrerbietend zu wahren ist. Normal ist es daher, den Menschen nicht zuerst unter Brauchbarkeitskriterien zu betrachten, sondern ihn als Person zu sehen und ihn entsprechend respektvoll gegenüberzutreten. Der normale Lebensvollzug des Menschen zeichnet sich somit primär nicht über sein funktionstüchtiges Dasein aus, sondern über seine alltägliche Gegenwart als zweckfreie Anerkenntnis. Erst dann finden auch Brauchbarkeitskriterien im gegenseitigen Umgang miteinander ihre Berechtigung. Normal ist es also, den Menschen unabhängig von seinen Rollen und Tätigkeiten in der Gesellschaft als Person zu achten. Diese Erkenntnis ist eine der

24

Zur Klärung der Lage

großen Errungenschaften der christlichen Kultur, darüber hinaus haben alle großen Lehrer der Menschheit dies gelehrt. Dieses Selbstverständnis des gemeinschaftlichen Miteinanders schließt aber reine Nützlichkeitserwägungen in Bezug auf das gemeinsame Handeln und Arbeiten aus. Denn es sind immer Menschen, die nur in verschiedenen Rollen die Gesellschaft, die Politik und die Ökonomie gestalten. Das aber ist bis heute so und wird auch so bleiben. Nimmt aber das Nützlichkeitsdenken überhand, entwickelt sich über kurz oder lang das menschliche Gefühl, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmt, dass wir Menschen also miteinander nicht mehr stimmig leben. Freilich bleibt dieses Unbehagen meist gedanklich unreflektiert und äußert sich meist nur in der Suche nach einem sogenannten ganzheitlichen Leben. Dieses darin aufscheinende Unbehagen lässt sich aber doch sehr genau mit Gründen benennen. Denn es ist unsere nützlichkeitsorientierte Gesellschaft, die in ihrem Hang und Drang zur Schnelligkeit, zur ständig geforderten Veränderung, zur höheren Flexibilität und Mobilität, zur Globalisierung, zur permanenten Wissensanreicherung den Menschen vor sich hertreibt. Sprachlich wird dieses Geschehen wohlverpackt und verheißungsvoll klingend mit den Slogan: „life is change“ umschrieben. Menschen aber sind langsam und auf Geborgenheit und Stetigkeit aus. So gesehen, sind die postmodernen Menschen unstet und flüchtig und vor allem in ihrem „Herzen“ ruhelos geworden. Von diesem Getriebensein der Menschen ist auch jedes Unternehmen betroffen. Konnte früher ein Unternehmen, allgemein gesprochen, noch den darin arbeitenden und handelnden Personen so etwas wie Heimat bieten, so geht dieses Empfinden unter den Gegebenheiten der weltwirtschaftlichen Verflechtungen langsam verloren und anstelle der „betrieblichen Geborgenheit“ treten die Angst um den Arbeitsplatz, Hektik und Stress. Auch wenn dieses immer mehr zur Norm der heutigen Arbeitswelt gehört, so ist es doch nicht normal. Denn normal ist es eben, dass der Mensch im Grunde gerne arbeitet. Daher rührt das Unbehagen, das in unserer gesellschaftlichen Verfasstheit immer wieder anzutreffen ist. Die nachfolgenden Überlegungen wollen nun einen Denkweg aufzeigen, welcher der Wiederherstellung von Normalität im Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen das Wort redet. Hierbei handelt es sich nicht um methodische Gebrauchsanweisungen, nach denen dann das Leben und die Arbeit wiederum funktional für die Zukunft „fit“ gemacht werden sollen. Es handelt sich vielmehr um eine Einführung in einen Denkweg, der in das notwendig Normale menschlichen Lebens einweist: Der Stimmigkeit des Lebens durch Vertrauen und Glauben. Denn ohne Vertrauen und Glauben lässt sich kein Leben führen, es sei denn, es verliert sich in Vordergrün-

Zur Klärung der Lage

25

digkeit und Banalität. Vertrauen und Glauben sind die Grundpfeiler des gesamten Zusammenlebens. Jede Gemeinschaft und Gesellschaft, jeder Staat lebt von dieser Haltung des Vertrauens und des Glaubens. Dementsprechend kann auch kein Unternehmen ohne diese Haltung sinnvoll geführt werden. Unsere Überlegungen sind darum als eine Beratung zu verstehen, die erschließen will, wie Vertrauen und Glauben in ethischer Perspektive wiedergewonnen und vernünftig gepflegt werden können. Das aber kommt jedem Unternehmen zugute. Denn man muss sich klar vor Augen führen, dass kein Vorstand, kein Manager glaubhaft agieren kann, wenn er in seiner Person nicht glaubhaft für ein sinnvolles Lebensziel eintritt. Und sinnvoll ist ein Lebensziel dann, wenn es sich nicht nur über das ökonomische Leben erschließt, sondern sich darüber hinaus in der Stimmigkeit des Lebens gründet. Wird nämlich das eigene Leben und Handeln nur in der ökonomischen Perspektive bedacht, kommt es schnell zum sogenannten „Fraglichkeits-Syndrom“, also zu der Frage: „Was soll das eigentlich alles?“ Dieses Syndrom rührt an die Stimmigkeit menschlichen Lebens und Handelns. Kommt es hierbei nicht zu einer verbindenden Sinnorientierung, droht das Leben oder das Handeln sich in vordergründigen Plausibilitätsrechnungen und angewandten Ethiken zu verlieren, die aber nicht in der Lage sind, unserem menschlichen Stimmigkeitsbedürfnis und unserer Vergänglichkeit gerecht zu werden. Plausibilitätsrechnungen sind hier darum immer mit einem schalen Geschmack der aufkeimenden Sinnlosigkeit verbunden, eben ersichtlich an der einsam gestellten Frage: „Was soll das eigentlich alles?“ Darum ist dieses Fraglichkeits-Syndrom nicht hilfreich und lebensbefördernd. Diesem kann nur über die Klärung der Stimmigkeit des Lebens entgegengewirkt werden, also durch die Haltung von Glauben und Vertrauen. Und Glaube und Vertrauen manifestieren sich darin, dass jeder, der Verantwortung trägt, also auch jeder Manager, jede Führungskraft, jeder Vorstand stets als Person greifbar ist, die dadurch den anderen überlegen ist, dass sie ihnen - dient. In den Worten des Unternehmerberaters Roland Berger ausgedrückt: „Sich auf Vergängliches zu verlassen, widerspricht der Erfahrung des Lebens - und der Intelligenz“ (Chrismon, Fragen an das Leben, 47). Grundsätzlich ist unser Denkweg von einem personalethischen Ansatz gekennzeichnet. Denn es sind immer und ausschließlich Personen, die eine Gesellschaft oder die Wirtschaft gestalten. Und es ist eine, wenn auch gern zu Hilfe genommene Täuschung, wenn behauptet wird, dass in allen menschlichen Handlungsfeldern sachbedingte Gegebenheiten die alles bestimmenden Triebfedern sind. Dem ist nicht so. So etwa ist die gesamte Finanzpolitik immer eine Größe, die ausschließlich von Vertrauen und

26

Zur Klärung der Lage

Glauben lebt. Geld ist eine Vertrauensangelegenheit. Und was für das Geld gilt, gilt in ungleich größerem Maße für das Zusammenleben der Menschen. Denn Leben ist immer verabredetes und versprochenes Leben. Das aber birgt Risiken in sich, weil wir Menschen eben nicht nur gut, sondern auch gefährlich sind. Denn wir brechen doch Verabredungen und Versprechen, vor allem dann, wenn sich hierbei für uns besondere, vordergründige Nützlichkeiten einstellen. Hier tut also Nüchternheit Not, und nicht nur jede Führungskraft sollte sich in diese Nüchternheit einfinden. Dies gelingt am besten durch das Denken und Bedenken der Personenethik: Zum einem deswegen, weil die Personenethik die Würde und die daraus resultierende Verantwortung des Menschen thematisiert, zum anderen aber deswegen, weil es Personen immer, im Unterschied zum Individuum, nur im Plural der gegenseitigen Gemeinschaft gibt, Personen also pluralitätsfreundlich sind. Und da jede Institution, jede Organisation, jedes Unternehmen immer auch eine Personengemeinschaft ist, lassen sich diese in Fragen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens mit Hilfe des personalethischen Denkweges sinnvoll anleiten und führen. Das würde die so notwendige Glaubwürdigkeit von öffentlich agierenden Mandatsträgern in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft stärken. Und unserer gegenwärtig erlebbaren Gesellschaft würde ein personalethisches Denken ein höheres Maß an Gemeinwohl eröffnen und all die vielen Bereichsethiken wieder zu einem ethischen Entwurf zusammenführen, der sich je ins persönliche Leben der Menschen rückbinden lässt.

Kapitel II. Zeitzeichen Die Dringlichkeit des oben beschriebenen gesellschaftlichen Unbehagens wird an einem Zeitzeichen besonderer Art deutlich: Nachdem Religion und kirchliche Lebensbindung vor allem als Privatangelegenheit angesehen werden, erschallt nun - an deren Stelle - der allgemein vernehmbare Ruf nach Werten: Werte sollen nun das einheitsstiftende Band einer sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft wieder herstellen. Unsere pluralistische oder auch postmodern genannte Gesellschaft sucht sich selbst über die Gewinnung von Werten zu denken. Werte sollen den gemeinsamen Rahmen für unsere Gesellschaft, Gemeinschaft, für das öffentliche Leben und auch für die Unternehmen abgeben. Hinter diesem Ruf nach Werten verbirgt sich aber die öffentliche Wiederentdeckung der Sinnsuche, die auf den angebotenen Wegen der westlichen Moderne allein nicht mehr gefunden werden kann. Weitere Zeitzeichen, die zum Nachdenken über unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Verfasstheit auffordern, sind die im beruflichen Alltag erlebte Last der Schnelligkeit und die Einsamkeit der Verantwortlichen bei wichtigen Entscheidungen.

1. Höhlendasein Jede Zeit und jede Gesellschaft hat zu ihrer eigenen Absicherungen und eigenen Bestandsgarantie Bekenntnisse der Vergewisserung hervorgebracht. Diese Bekenntnisse sind deswegen vonnöten, weil keine Gesellschaft von sich aus in der Lage ist, eine tragfähige Ordnung des Zusammenlebens allein durch die Organisation von funktionalen Vorkehrungen einzurichten. Jede Gesellschaft und jeder Staat braucht darüber hinaus Formen des gemeinsamen Erkennens und des daraus resultierenden Bekennens, in denen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens aufscheinen und die Gemeinsamkeit befördern. Leben ist darum immer allem voran zuerst Deutung von dem, was uns widerfährt. Platon hat zur Situationsbeschreibung menschlichen Erkennens darum in seinem Werk „Der Staat“ das sogenannte Höhlengleichnis eingeführt: Die Menschen sitzen in einer fensterlosen Höhle angekettet einer Wand gegenüber. Auf der Wand sehen die Menschen ein Schattenspiel, eine Art Höh-

28

Zeitzeichen

lentheater. Im Rücken der angeketteten Menschen befindet sich eine Lichtquelle, vor der Figuren hin- und herbewegt werden, und nur deren Schattenspiel sehen die Menschen auf der Wand erscheinen. Durch ihr Gefangensein können die Menschen weder sich selbst noch einander sehen, allein das Schattenspiel ist für die Menschen deshalb die einzige Wirklichkeit. Darum entwerfen sie in aller gebundener Anstrengung Vermutungen über den Fortgang des erscheinenden Dramas, stellen Theorien und Prognosen auf. Zwar vernimmt man hin und wieder das Gerücht in der Höhle, das Spiel auf der Wand sei nur ein Schatten der eigentlichen Wahrheit, denn es gebe eine wahre Welt außerhalb der Höhle und man könne sogar zu dieser wahren Welt gelangen. Auch sei es Einzelnen gelungen, zu dieser wahren Welt vorzudringen, aber deren Augen seien durch das Sonnenlicht so stark geblendet worden, dass sie nichts sahen, außer wenn sie mit großer Geduld die Anpassung ihrer Augen an das Sonnenlicht abwarteten. Dieser Anstrengung aber wollte sich die Mehrzahl der Höhlenbewohner nicht unterziehen und so sträubten sie sich mit Beharrlichkeit gegen die Befreiung aus dem Schattenreich, denn das gemeinsame Erkennen der Wahrheit sei zu mühsam (vgl. Platon, der Staat, 7. Buch, 514ff; 532ff; 539e). Dieses Gleichnis ist für unsere heutige Zeit deswegen so aufschlussreich, weil es unsere müde gewordene Moderne gut zur Sprache bringt. Die Sonne ist für Platon nämlich das Bild des substantiellen Guten und Schönen, des höchsten Gutes, das alles strebende Denken und Erkennen, und darum auch Bekennen, in der Welt handlungsleitend befördert. Platon nennt dieses höchste Gut auch „Schöngutheit“. Dieses höchste Gut hat die christliche Tradition später mit Gott gleichgesetzt, der zwar in der Wirklichkeit erscheint, aber niemals in der Wirklichkeit aufgeht. Gott ist immer mehr als die erscheinende Wirklichkeit. Unsere Zeit aber legt ihr ganzes Augenmerk allein auf die Wirklichkeit, bleibt also - im Bilde gesprochen - in der Höhle gefangen und arbeitet sich seither an dieser Wirklichkeit ab. Das aber ist ermüdend, weil keine Lösung oder Befreiung in Sicht ist. Der gegenwärtig vernehmbare Ruf nach Werten spiegelt dieses Dilemma wider. Denn mit dem öffentlichen Ruf nach den Werten werden doch genau diejenigen geistigen Quellen bemüht, die nicht unserer wissenschaftsorientierten, ökonomischen, soziologischen und nützlichkeitsorientierten Welt entspringen. Und für die Sicherung dieser geistigen Quellen ist seit jeher die Religion zuständig gewesen, allen Unkenrufen zum Trotz. Dieser Ruf nach Werten offenbart zugleich die Schattenspiele der Wirklichkeit, ohne dass freilich bisher in den säkularen Angeboten der Befreiung aus den Schattenspielen die Wahrheit selbst zum Thema erhoben worden wäre. Vielmehr hat man hierzu bislang „Schattengötter“ bemüht, die zunächst verheißend die Befreiung zur Wahrheit verkündeten: Die Rede

Zeitzeichen

29

ist vom Fortschrittsglauben und dem Glauben an den konturenlos gewordenen Pluralismus. Deren Glaubwürdigkeit wird aber zunehmend durch die Erfahrung des Alltagslebens mehr und mehr in Frage gestellt. Als Befreiungsweg dient nun der Ruf nach Werten, mit dem man sich die Befreiung aus dem Höhlendasein erhofft.

1. 1. Fortschritt Der seit der klassischen Geschichtsphilosophie - für die vor allem die Denker Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel stehen - allseits bekannte Gedanke des Fortschritts ist brüchig geworden. Es ist übrigens Friedrich Rapp gewesen, der in seinem Buch: „Fortschritt“ auf diese Brüchigkeit bereits hingewiesen hat. Diese Philosophie ging davon aus, dass sich über das Vehikel der Geschichte ein rein positiv gefasster Fortschritt auf allen wichtigen Ebenen gesellschaftlichen und damit auch ökonomischen Lebens gleichsam von selbst vollziehen werde. Denn als Subjekt des Fortschritts wurde die Geschichte selbst ausgemacht, die eben das Fortschreiten wolle, verlange, fordere oder gar erzwinge. Und wer sich dieser Sichtweise gedanklich widersetzte und dagegen Einspruch erhob, der galt als altmodisch, als nicht auf der Höhe der Zeit stehend und durch das sich entwickelnde Leben als widerlegt. Diesem Fortschrittstheorem entspricht das ökonomische Wachstumstheorem: Die Rede vom Wachstum im Sinne der Zunahme des Wohlstandes einer Gesellschaft taucht wohl zum ersten Mal im Zusammenhang der allgemein übernommenen Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert auf und gehört nun zum festen Bestand des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens unter dem Begriff „wirtschaftliches Wachstum“. Fortschritt und Wachstum zählen seither zu den Signa einer verheißenden Politik, die auf diese Weise die Zeit in Anschauung der verheißenen Zukunft gestalten will. Dieses Fortschrittstheorem aber ist in seiner gesamtgesellschaftlichen Ausrichtung und auch in seiner ökonomischen Spielart fraglich geworden. Denn sowohl die wirtschaftlichen als auch die gesamtgesellschaftlichen politischen Verhältnisse sind vor allem seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts derart gestaltet, dass dem bis dato normativen, positiven Fortschrittsbegriff der genetische, wertneutrale Fortschrittsbegriff im öffentlichen Bewusstsein gleichberechtigt zur Seite getreten ist. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass jeder Fortschritt immer auch eine Zweischneidigkeit, eine Doppelseitigkeit aufweist. Der genetische Fortschrittsbegriff macht darauf aufmerksam, dass der Mensch - als langsames Wesen - in seinen alltäglichen Lebensvollzügen dem immer schneller werdenden Fortschritt schlicht hinterherhinkt. So stellt

30

Zeitzeichen

sich heute die notwendige Frage, ob der Mensch auch alles tun darf, was er durch das Fortschreiten in Wissenschaft und Technik theoretisch tun kann. Das aber ist eine ethische Fragestellung. Seitdem aber bedarf jede Fortschrittsentwicklung immer auch der ethischen Begleitung und einer lebensbezogenen Befragung. Diese Fragestellung aber verdeutlich eben die Brüchigkeit des klassischen Fortschrittsbegriffes. Ersichtlich wird dies etwa im Bereich der Arbeitswelt, in der ein technischer Fortschritt im Rahmen der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr selbstredend als Fortschritt zur Ermöglichung eines gemeinsamen, guten Lebens für die Gesellschaft und Gemeinschaft angesehen wird. Denn das Fortschreiten in Arbeitsprozessen und technischen Entwicklungen, verheißend Innovationen genannt, birgt die Gefahr der Reduzierung von Möglichkeiten der Erwerbsarbeit in sich. Damit aber tut sich ein circulus vitiosus, ein Zirkelschluss auf: Das Fortschreiten in den Entwicklungen und Erforschungen untergräbt das Theorem von der Vorherrschaft der gesellschaftlich getragenen Sinnstiftung durch Arbeit. Und ebenso führt wirtschaftliches Wachstum nicht zwangsläufig zur Erhöhung und Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Denn wirtschaftliches Wachstum kann sich auch auf die Vermehrung von Kapital beziehen, ohne dass damit gleichzeitig die Quote der allgemeinen Erwerbsarbeit erhöht wird. Allein der alltägliche Blick auf das Börsengeschehen lehrt uns das.

1. 2. Konturenloser Pluralismus Auch das Theorem der pluralistischen Gestaltung von Gesellschaft ist elementar ins Wanken geraten. Zu vielfältig und beliebig scheinen die Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich geworden zu sein. Denn es fehlt heute im allgemeinen Bewusstsein ein ethischer Rand und Rahmen, der das plurale Leben geistig zusammenhält. Seinen geschichtlichen Ursprung hat der Pluralismus in der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Privat trägt hier die Konnotation von etwas, das kein allgemeines Wissen sein soll, das nicht jedermann zugänglich zu sein hat, das entweder mich als Person oder als Personengemeinschaft allein etwas angeht. Öffentlich hingegen bezeichnet all das, was eine Gesellschaft an gemeinschaftlichen Interessen, Lebensäußerungen, sozialen Rahmengebilden, Institutionen, Organisationen etc. benötigt und befördert, schützt, unterstützt oder auch einfordert, um gemäß ihrer Vorstellungen leben zu können. Als einer der Grundpfeiler zur inhaltlichen Bestimmung des Öffentlichen hat sich darum im Gefolge der Aufklärung die Vorstellung durchgesetzt, dass jede politische Ordnung öffentlicher

Zeitzeichen

31

Art vernünftig zu sein hat. Immanuel Kant bringt diesen Aspekt in seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden“ (A 93) wie folgt zum Ausdruck: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ Die Folge davon ist bis heute in unserer Gesellschaft, dass ich als Privatperson in der Öffentlichkeit leben und agieren kann, solange ich mich im Rahmen der für alle geltenden Gesetze vernunftgemäß bewege. Dies vorausgesetzt, habe ich den Anspruch, dass das Prinzip der Nichtbeachtbarkeit auch meiner Person zugebilligt wird. Und es ist sogar die Pflicht des Staates, dieses Prinzip zu schützen. Hinter dieser Unterscheidung von öffentlich und privat steckt eine grundlegende, gesellschaftspolitisch bis heute höchst wirksame Unterscheidung. Denn das Auseinanderfallen von öffentlich und privat hat sich im Sinne der Unterscheidung des Politischen als des öffentlichen und des Religiösen als des privaten Bereichs mit dem Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555 in Europa allgemein durchgesetzt. Ab da unterschied man klar zwischen Politik und Religion als zwei getrennten Bereichen. Verfestigt wurde diese Unterscheidung dann mit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648, denn mit diesem Friedensschluss setzte sich in der politischen Meinung die Vorstellung durch, dass das öffentliche Leben weltanschaulich neutral zu sein habe und der religiöse, weltanschauliche Bereich ausschließlich im privaten Leben der Personen zu verorten sei. Dieses so gewonnene Gesellschaftsverständnis speiste sich aber aus der gedanklichen Trias: Christentum - Humanismus - Aufklärung. Und diese Kombination bildete das Fundament für die Entstehung unserer pluralistischen Gesellschaft. Das deutsche Grundgesetz zeigt in der Präambel und besonders in den Artikeln 1 bis 7 noch deutlich diese geistigen Wurzeln auf. Eine Folge hiervon ist, dass die aus dem Grundgesetz abgeleiteten Gesetze unsere pluralistisch organisierte Gesellschaft inhaltlich zusammenhalten, indem für jede Person wie auch für jede Gemeinschaft hier ein verlässliches Rahmengebilde des geordneten Zusammenlebens beschrieben wird. Nun ist aber zu beobachten, dass sowohl im Zuge der Globalisierung als auch in der wachsenden Begegnung mit anderen Kulturen bzw. Religionen unsere Pluralismuskonstruktion der Gesellschaft fraglich geworden ist. Dies geschah und geschieht um so mehr, je weniger die geistigen Wurzeln unseres Pluralismus, nämlich die Trias Christentum - Humanismus - Aufklärung in gegenseitiger Bezogenheit öffentlichkeitswirksam gepflegt wurden bzw. werden. Eine Folge hiervon ist die Vertauschung des Pluralismus mit gesellschaftlicher Beliebigkeit, versehen mit dem Denkpostulat einer multikulturellen Gesellschaft. Pluralismus und Multikulturalität sind aber nicht miteinander vereinbar, und zwar schlicht deswegen, weil unser bisher bewährter Pluralismus von einer legitimen Herrschaft oder Politik lebt, die das im

32

Zeitzeichen

Grundgesetz aufbewahrte Herkunftsgut von Christentum, Humanismus und Aufklärung in ein gesamtgesellschaftliches unbedingtes Wertegefüge übersetzt hat. Dieses gesetzliche Wertgefüge eröffnet allen Beteiligten die Möglichkeit zu einer pluralen Lebensgestaltung, jedoch nicht zu einer beliebigen Lebensführung. Diese ist dann gegeben, wenn man sich von den geistigen Wurzeln unserer Herkunft bewusst distanziert oder im Laissez-faire-Stil konturenlos lebt. Denn unsere ermöglichten vielfältigen Lebensgestaltungen bzw. Lebensstile müssen sich immer rückbinden lassen an unsere kulturgeschichtliche gewachsene Tradition, in gegenseitig achtbarer Weise den Anderen als eben den Anderen leben zu lassen. Das ist der tiefere Sinn der für alle geltenden Gesetze. Analoges lässt sich auch für die europäische Verfassungsfrage feststellen. Darum lässt sich unser Pluralismus nur solange leben, als auch die ihn begründenden Denktraditionen je kritisch gepflegt und geachtet werden. Genau das aber ist beim Denkpostulat einer multikulturellen Gesellschaft nicht möglich, denn diesem ist die Grundlage des pluralistischen Denkens, die Trias Christentum - Humanismus - Aufklärung, nicht zugänglich. Anstelle dessen wird nur ein meist einseitig gelebtes Toleranzdenken propagiert, das die Gefahr zur Bildung von Parallelgesellschaften in sich trägt, die in Folge dessen eben den Anderen in Fragen des gemeinschaftsübergreifenden Zusammenlebens nicht als den Anderen leben lassen. Was aber für den gesellschaftlichen Bereich festzustellen ist, ist ebenso im ökonomischen Bereich ein Problem. Denn auch für jedes global agierende Unternehmen stellt sich die Frage, wie die plurale Verwobenheit in einem kulturübergreifenden Sinn als Unternehmenspolitik ethisch namhaft gemacht werden kann. Diese Problemlage zeitigt sich nun dahingehend, dass sich die pluralistische Gesellschaft ihrer eigenen Herkunft aus Christentum, Humanismus und Aufklärung nicht mehr gewiss und daher ihres eigenen Weges der Gesellschaftsgestaltung und auch der Unternehmenspolitik unsicher geworden ist. Diese Problemlage aber wird heute mit dem Stichwort der Postmoderne umschrieben. Diese Postmoderne kann somit als Signum einer Herkunftsvergessenheit verstanden werden, die nicht mehr in der Lage zu sein scheint, einer gemeinsamen Ethikerschließung in der Bezogenheit von öffentlich und privat das Wort zu reden. Das aber wäre zur Aufrechterhaltung des Pluralismus als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses notwendig. Dieser Unsicherheit des gesellschaftlichen Weges in die Zukunft entsprechen nun, gerade angesichts der multikulturellen und globalen Herausforderung, konträr geführte Diskurse über die unserer Gesellschaft zugrundeliegenden Werte, ersichtlich etwa an den neu belebten Begriffen wie Patriotismus, Leitkultur oder auch Verfassungspatriotismus.

Zeitzeichen

33

1. 3. Der Ruf nach Werten Als öffentlicher Reflex auf das oben beschriebene gesamtgesellschaftliche Geschehen sollen nun Werte im öffentlichen Diskurs neu oder wieder zum Tragen kommen. Der Ruf nach einer Wertegemeinschaft wird nahezu von allen Verantwortlichen des öffentlichen Lebens laut. Und dieser Ruf erfreut sich allgemeiner Zustimmung, was auch zu begrüßen ist. Denn die Frage nach den Werten rührt an das grundmenschliche Sein. So einfach aber, wie dieser Ruf erklingt, ist es mit den Werten jedoch nicht. Denn der Begriff „Wert, Werte“, als gemeinschaftsstiftendes Geschehen proklamiert, ist in Fragen des Zusammenlebens der Menschen in Gesellschaft, Gemeinschaft, im öffentlichen Leben und auch in den Unternehmen zunächst nicht aussagefähig. Wer etwa eine Wertegemeinschaft ausruft, wie dies auch bei verschiedenen Unternehmenskonzeptionen mit deren Leitbildern geschieht, der arbeitet immer schon mit einem hierbei mitgeführten und dem allem zugrundeliegenden Welt- und Menschenbild, bis hin zur Bezugnahme auf religiöse Überlieferungen. Und mit dieser Bezugnahme auf die hierbei, wie auch immer, zugrundegelegte Religion wird dann das inhaltliche Finden und Definieren von Werten als gesellschaftliche Größe bestimmt. Denn Werte sind immer Bestandteil von Ethik, und Ethik lässt sich nicht ohne ein religiöses Erschließungsgeschehen von dem Guten und Rechten des Denkens und Handelns gewinnen. Dementsprechend gibt es keine Ethik, damit auch keine Werte, ohne die gedankliche Bezugnahme auf die eigene Herkunft, die sich in der Form der Religion ausdrückt. Zwar wird demgegenüber in der öffentlichen Wertediskussion immer wieder die „Karte des Verfassungspatriotismus“ gespielt, die eine überzeugende Formulierung von Werten ermöglichen soll. In unserem Grundgesetz, so heißt es, seien die grundlegenden Werte für unsere Gesellschaft und für unseren Staat doch klar zum Ausdruck gebracht. Es ist vor allem der wirkmächtige Philosoph Jürgen Habermas gewesen, der aufgrund seiner kommunikativen Ethik bisher ein religionsfreies Finden und Benennen von Werten für möglich und geboten hielt (vgl. etwa: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 449 - 488, bes. 486). Seinen konkreten Ausdruck fand dieser Ansatz in dem uns bekannten Verfahren des allgemeinen Diskurses, wie er sich etwa in den Ethikkommissionen niedergeschlagen hat. Nun ist aber zu beobachten, dass diese Diskussionen - etwa in Fragen der Gentechnologie - an Vermittlungsgrenzen stoßen, die nicht mehr durch den Verfassungspatriotismus befriedet werden können. Denn als entscheidend erweist sich hierbei doch die unserem Wertfinden zugrunde liegende - wie immer geartete weltanschauliche oder religiöse Überzeugung. Diese Einsicht hat denn auch Jürgen Habermas dazu bewogen, das wertneutrale Finden von Werten durch

34

Zeitzeichen

eine „postreligiöse“ Karte zu untermauern, um eine menschheitserhaltende Formulierung und Benennung von Werten zu ermöglichen (vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001, 56 - 69). Diese Einsicht weiterführend, kann man zu Recht sagen, dass es kein wertneutrales Finden und Definieren von Ethik und Werten gibt. Werte und Ethik sind also ohne eine Bezugnahme auf die kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen erst gar nicht zu gewinnen. In einfachen Worten gesagt: Ohne Anschauung eines Erschließungsgeschehens, ohne Glauben also, lässt sich - im Kern keine Ethik formulieren, lassen sich keine Werte gewinnen. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass allein der sachliche Verweis auf menschliche Kulturtraditionen zur Begründung von Ethik und Werten ebenso nicht ausreicht. Denn man kann dann immer fragen, warum diese Ethik oder jener Wert bei uns gelten soll, weil man es mit Gründen, etwa kultureller Art, auch immer anders machen kann, je nachdem, was man glaubt. Aus dieser Erkenntnis ist aber die Konsequenz zu ziehen, dass einzig die Bezugnahme auf ein gemeinsames, religiöses Bekenntnis - und ein religiöses Bekenntnis ist immer auch ein persönlicher Akt - in der Lage ist, eine verpflichtende, verbindliche und darum verbindende Form von Ethik zu formulieren. Es ist darum ein allgemeiner Trugschluß, Werte und Ethik als gleichsam weltanschaulich neutralen, öffentlichen Bereich gegen den privaten, nichtöffentlich Bereich der Religion auszuspielen. Aufgrund der nicht hintergehbaren Begründung von Ethik und den daraus abgeleiteten Werten durch die Religion sind religionsfrei formulierte Werte und Ethiken an sich kein Garant für eine einheitliche Vorstellung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht. Werte und Ethik befördern nicht von selbst eine gelingende Abstimmung von handlungsleitenden Interessen. Dies zu meinen, ist der Grundfehler aller geschichtsvergessenen, konturenlosen Pluralismusdebatten und Pluralismustheorien. Insofern bezeichnet der Wertebegriff sowohl das mögliche Gemeinsame einer Gesellschaft und eines Gemeinwesens als eben auch das faktisch Trennende zwischen verschiedenen Gesellschaften und Gemeinwesen, wie dies in der Multikulturalität gegeben ist. Und nur, wer sich dieses gedanklichen Zusammenhangs bewusst ist, vermag auch den lebensbefördernden Pluralismus unserer Gesellschaft zu bewahren. Darum muss sich jeder Verantwortliche in Politik und Gesellschaft, in Institutionen und Ökonomie über diese Ambivalenz des Wertebegriff im Klaren sein, sobald er über den Wertebegriff das Gemeinschaftsstiftende für eine Personengemeinschaft benennen will. Und da jedes Unternehmen, jede Institution oder jede Organisation immer innerhalb einer (oder mehrerer) Gesellschaften verortet ist, ist eine handlungsleitende Ethik, die nicht in Beziehung zu den kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen der jeweiligen Gesellschaften steht und diese je achtet, lebensweltlich undenk-

Zeitzeichen

35

bar. Diese Achtung etwa vor anderen Kulturen und deren Überlieferungen entbindet jedoch zum Beispiel kein Unternehmen von der Entscheidung zu klären, nach welchen ethischen Kriterien sie ihre Unternehmenspolitik vor Ort oder auch im globalen Rahmen zu gestalten gedenkt. Von dieser Erkenntnis ist dementsprechend jede unternehmensbezogene Formulierung von ethischen Handlungsmaximen betroffen. Und Fortbildungsseminare für Manager und Führungspersonen, die, unter Verweis auf die Neutralität der Wertfindung für wirtschaftliche Entscheidungen, das kulturgeschichtlich geprägte Denken und Handeln eben dieser Führungspersonen hierbei übergehen, bewegen sich in einer Scheinwelt. Das oben Gesagte gilt dementsprechend auch für allen anderen Verantwortungsträger in Politik, Gesellschaft und Institutionen.

2. Die Last der Schnelligkeit Nachdem die Sinnfrage des Lebens in unserer Gesellschaft nicht mehr durch die Wahrheit, sondern durch die Formulierung von Werten anhand der Wirklichkeit beantwortet wird, hat sich ein sonderbarer Aktionismus in unserer Zeit breit gemacht. Alle reden von der schnelllebigen Zeit, von der Hektik des Alltags, vom Stress in Beruf und Arbeit. Sogar unsere Freizeit ist von diesem Syndrom nicht verschont geblieben, Freizeitstress verwandelt die arbeitsfreie Zeit in ein Pflichtprogramm von glücksverheißenden Events. Die Beschleunigung der Zeit und des Lebens stellt sich als ein unabänderliches, ehernes Gesetz dar, dem der Mensch gnadenlos unterworfen zu sein scheint. Die moderne Welt mit ihrer medialen, technokratischen und wissenskompakten Ausrichtung forciert diese Schnelligkeit. Diese beschleunigt sich immer mehr, so dass dadurch die menschliche Langsamkeit abzusterben scheint: Wer schnell ist, hat recht, wer technisch hochgerüstet und wissenskompakt sich präsentiert, ist unschlagbar. Möglich wird diese ständige Steigerung der Veränderungsschnelligkeit durch das Wissenschaftsprogramm der Moderne, das einer methodischen Neutralisierung der kulturgeschichtlichen Gewissheitsüberlieferungen, also einer Aufhebung der Traditionswelt in ein neutrales Geschehen das Wort redet. Völlig zurecht bemerkt hierzu der Philosoph Odo Marquard: „Die Modernisierungskräfte des Fortschritts operieren traditionsneutral: Nur so - traditionsneutral - kann die moderne Naturwissenschaft (welteinheitlich messend und experimentierend) immer schneller zu traditionsunabhängig überprüfbaren Ergebnissen kommen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Technik gewachsene Traditionswirklichkeit immer schneller durch artifizielle Funk-

36

Zeitzeichen

tionswirklichkeiten ersetzen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Wirtschaft ihre Produkte immer schneller zu Waren des weltweiten Handels machen; nur so - durch traditionsneutrale Kommunikationssysteme - kann die moderne Informationstechnologie immer schneller immer mehr Information global kommunizierbar machen. Die moderne Fortschrittswelt ist Neutralisierungswelt: je konsequenter die Herkunftstraditionen - die menschliche Langsamkeiten sind - methodisch neutralisiert werden, desto schneller wird der Fortschritt, so dass gerade dadurch eintritt: Die Menschen werden das, was Menschen - getrieben durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Kürze ihres Lebens - ohnehin sein müssen, modern in zunehmend verstärktem Maße, nämlich schnell, als immer schnellere Menschen in einer immer schnelleren Welt“ (Marquard, Zukunft braucht Herkunft, 226). Damit soll keinem allgemeinen Lamento über den gegenwärtigen Schnelligkeitsgeist das Wort geredet werden, denn die Schnelligkeit bringt zweifelsohne auch Vorteile mit sich. Aber die Schnelligkeit führt einen unbestreitbaren Sachverhalt mit sich, der das Leben unbehaglich werden lässt: Die Entwirklichung des Menschen. Denn der Mensch ist langsam und begrenzt. Und je mehr er sich dieser Langsamkeit und Begrenztheit des Lebens zu entziehen sucht, desto mehr wird er sich selbst fremd, verliert er den Grund seines Herkommens und versucht den Verlust seiner Herkunft als Weise des abstammenden und damit tradierten Lebens - methodisch zu kompensieren. Als methodisches Rüstzeug hierfür bedient sich der moderne Mensch wiederum der sich als neutral ausgebenden Humanwissenschaften. Neutrale Humanwissenschaften, wie etwa einflussreiche Formen der Soziologie und der Psychologie, lehren das Leben methodisch zu erkennen, also nach dem vereinfachten Muster von Ursache und Wirkung. Und sie verzichten häufig auf das weisheitlich geprägte Traditionsgut menschlichen Denkens und Erkennens von Wahrheit. Dadurch aber lernt der Mensch nicht mehr, in Freundschaft mit sich selbst zu leben. Denn die Freundschaft des Menschen mit sich selbst, als Frieden mit und Verlässlichkeit zu sich selbst erlebbar, lässt sich nicht machen, lässt sich nicht methodisch aneignen. Freundschaft und Frieden mit sich selbst ist vielmehr ein Widerfahrnis, ist etwas mir von außen Einfallendes und mich darum beruhigend Belebendes. In einfachen Worten ausgedrückt: Freundschaft und Frieden mit sich selbst ist eine Folge des Glaubens an die Wahrheit, die Gott als der je Unvordenkliche gewährt und schenkt. Denn das Bleibende des Menschen ist nicht seine Zeit und ihre Schnelligkeit - wir alle vergehen in und mit der Zeit, wir verwesen gar am Ende unserer Lebenszeit. Das Bleibende des Menschen ist sein Gehaltensein, sein Bewahrtsein durch Gott, über die Zeiten hinweg, Ewigkeit genannt, als Form der zeitlosen Anschauung der göttlichen Wahrheit.

Zeitzeichen

37

Der christliche Glaube hat dieses Bleibende des Menschen im Personenbegriff des Menschen allgemein zur Sprache gebracht. Eine Person ist nämlich ein qualitätsfreies Wesen, unabhängig gedacht von seiner Befindlichkeit, seiner Zuständigkeit, seiner Geschlechtlichkeit, seiner Zeitlichkeit. Personsein bedeutet, in eine berufene Freiheit gestellt zu sein, die von Gott, als Ursprung und Vollender des Seins, den Menschen gewährt wird. Darum ist der Mensch als Person auch der Repräsentant Gottes auf Erden, ein Gedanke, der sich in der säkularen Rede von der Würde des Menschen widerspiegelt. Um diesen Gedanken wieder zu entdecken, bedarf unsere Zeit wieder des Lobes der Langsamkeit, des verweilenden, gemeinschaftlichen Nachdenkens über Gott und seine Wahrheit.

3. Die Einsamkeit der Verantwortlichen Menschliches Zusammenleben bedarf der Ordnungen und Zuständigkeiten. Diese schlagen sich in geschichtlich gewachsenen Erkenntnissen und Absprachen nieder, die ihrerseits je bestätigt, neu gewonnen oder auch reformiert werden. Damit das Zusammenleben hierbei nicht einem willkürlichen Geschehen unterworfen wird, bedarf es Personen, die in Verantwortlichkeit eine Führungsrolle übernehmen. Alle unsere Lebenskontexte gestalten sich nach diesem Prinzip. In der Familie führen die Eltern ihre Kinder, in den Schulen die Lehrer die Schüler, in den Institutionen und Behörden die Vorgesetzten die Angestellten, in der Politik die Parteivorsitzenden die Parteimitglieder, in der Regierung der Ministerpräsident bzw. die Bundeskanzlerin das Land, im Betrieb und in den Unternehmen der Vorstand die Angestellten und Arbeiter: All diese Kontexte leben u. a. davon, dass hier Personen eine Führungsrolle ausüben. Führung ist darum ein notwendiges Geschehen, das jeder Mensch in seinem Alltag erkennt und im Idealfall auch anerkennen kann. Da Führung aber der Anerkennung bedarf, muss sie gut und menschengewinnend sein. Das aber ist nicht immer leicht, wie jede Führungsperson bestätigen wird. Denn wer eine Führungsposition innehat, muss oft Entscheidungen fällen oder auch geschäftsbedingte Anweisungen erteilen, die sich auf das Leben anderer direkt oder indirekt auswirken. Darum ist jede Führungskraft in einer besonderen Verantwortung für ihr Handeln stehend, und zwar vor allem im Blick auf die Menschen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Wie nun aber diese Verantwortung vollzogen und gelebt wird, hängt, neben all den kulturellen Gegebenheiten, politischen Grundlegungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, im Wesentlichen von der Bildung

38

Zeitzeichen

der Persönlichkeit der jeweiligen Führungskraft ab. In dieser spiegelt sich nämlich ihre Lebenseinstellung wider, die vielfach mit dem Wort Wertvorstellung umschrieben wird. In seinen Entscheidungen fühlt man sich denn heute allgemein seinen Wertvorstellungen verpflichtet. Neben all dem oben schon genannten Problem mit dem Begriff Wert sei hier noch auf eine weitere Schwierigkeit eingegangen: Wertvorstellungen machen einsam. Dies hängt damit zusammen, dass der Wertbegriff in seiner heutigen allgemeinen Anwendung ein ideengeschichtlich junger Begriff ist. Es ist wohl Rudolf Herrmann Lotze gewesen, der im 19. Jahrhundert den Wertbegriff in unseren Sprach- und Denkgebrauch eingeführt hat. Entscheidend hierbei war die gedankliche Verknüpfung des Wertes mit seiner Gültigkeit. Ein Weiteres bewirkte Friedrich Nietzsches Postulats der Umwertung aller Werte, das etwa in seinem Werk „Zur Genealogie der Moral“ (vgl. ebd., dritte Abhandlung, Kap. 27) oder aber in seinem „Zarathustra“ zum Ausdruck kommt. Denn seither führt der Wertbegriff den Gedanken mit sich, dass das verbindliche Maß des Denkens und Handelns in der Gültigkeit von Werten seine Bestimmung findet. Das aber hat weitreichende Konsequenzen. Denn damit wurden die bis dahin als zeitlos geltenden Erkenntniswahrheiten, nämlich Gott und das Göttliche, das Wahre und das Gute, das Heilige und die Gerechtigkeit als Werte definiert, die mit einer Geltung versehen wurden. Somit trat an die Stelle des glaubensbedingten Erschließungsgeschehens von Gott und der Wahrheit die Geltung von Gott und der Wahrheit als Werte. Diese Geltung findet aber, gemäß unserer autonompositivistischen Denktradition nach variablen Absprachen und Übereinkünften statt. Die Folge hiervon ist, dass der Einzelne in seinen Wertentscheidungen letztlich auf sich allein gestellt bleibt und dementsprechend den Sinn seines Handelns und Lebens selbst erarbeiten muss. Letztlich ist also der Einzelne gefordert, für sich die Geltung seiner Werte zu ermitteln. Diese gedankliche Konzeption führt aber letztendlich in die Einsamkeit der Entscheidung, und dies wiederum genau nach der Maßgabe der wandelbaren Geltung von Werten. Die Folge davon ist nun eine nahezu beliebige Bestimmung der Geltung von Werten, der wiederum eine ebenso unklare Begründung von Ethik in diesem Zusammenhang entspricht. Von diesem Beliebigkeitsdilemma ist in unserer modernen Welt nahezu jeder denkende Mensch herausgefordert, werden doch in unserer medial geprägten Welt eine Vielzahl von Werten auf dem Markt der Möglichkeiten angeboten, und es ist dem Einzelnen selbst überlassen, für welche Werte er sich in seinem „Herzen“ entscheidet. Bei aller zu begrüßenden Entscheidungsfreiheit macht diese doch auch einsam und in Fragen der Ethik unsicher. Für unser gesamtes Alltagsleben sowie für das ökonomische Leben bleibt dieses Beliebigkeitsdilemma nicht ohne Folgen.

Zeitzeichen

39

Darum ist der moderne Mensch in seinen Entscheidungen einsam geworden. Und von dieser Einsamkeit werden dementsprechend der Manager und die Führungskraft, der Vorstand und die Geschäftsleitung in ihren Beschlüssen eingeholt. Ja sogar Lehrer und Eltern stehen oftmals in der ethischen Begründung ihrer Entscheidungen einsam da. Und diese Einsamkeit ist eine schwere Bürde des Lebens, die ins Leiden am Denken führt und die Frage nach dem Sinn des Lebens aufwirft. Denn es ist fraglich, ob meine persönlich gewonnenen Werte mit denen der anderen in Übereinstimmung zu bringen sind. So dient häufig der Rückzug ins Private als Refugium der Bewahrung eines guten Lebens für die Führungskraft. Und auch hier, im Privaten kann sich der Wettstreit um die Geltung der Werte fortsetzen. Und dies allein deswegen, weil die jeweiligen Werte und die Fragen der Ethik nicht mehr an allgemein kommunizierbare, auch religiös gewonnene Überzeugungen und Einsichten rückgebunden sind, die als vernunftleitendes Organ des Gemeinsamen auftreten könnten. Denn es gehört zum Wesen des Gemeinsamen, dass es sich an der Wahrheitsfrage, an der Frage nach dem Sinn des Lebens orientiert. Wird aber der Wahrheitsfrage nicht mehr gemeinsam nachgegangen, sondern beantwortet jeder für sich diese Grundfrage menschlichen Lebens, verliert man von selbst die Wahrheit als das gemeinsam Gedachte und Erkannte aus den Augen. Denn Wahrheit zu verstehen beginnt immer im gemeinsamen Denken und Erkennen. Darum ist das Verstehen und Zur-Sprache-Bringen von Wahrheit elementar an das nachdenkende Gespräch und den Gedankenaustausch gebunden, an dem prinzipiell jeder Mensch teilnehmen kann. Damit aber ist eine grundchristliche Einsicht in Fragen der Wahrheit benannt: Wahrheit macht nicht einsam, sondern stiftet gemeinsam erfahrbare Freiheit. Dies ist der tiefere Sinn des Wortes Jesu: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 31f.). Wahrheit begründet deshalb gegenseitiges Vertrauen, und zwar unabhängig von meiner jeweiligen Befindlichkeit, von meiner Stellung und öffentlichen Position, etwa in einem Unternehmen oder in einer Institution. Für diesen Gedanken des in Wahrheit gegründeten Vertrauens aber steht die christliche Gewissheitsüberlieferung. Sie besagt: Niemand, der sein Leben in der Wahrheit gründen will, ist ausgeschlossen. Niemand, der glauben will, wird dieser geistigen Gemeinschaft verwiesen. Das ist das Wesen der Kirche. Bedarf daher unsere Zeit nicht notwendigerweise der Kirche, die im kritischen Gegenüber zur Gesellschaft und den Unternehmen, zur Politik und den Institutionen das gemeinsame Denken und Erkennen von Wahrheit zur Sprache bringt? Denn Wahrheit bringt keine auserlesene Schar von „Heiligen“ hervor, sondern führt die Menschen schlicht als Men-

40

Zeitzeichen

schen zusammen, die sich auf diese Weise mit ihren unterschiedlichen Begabungen und Leistungsfähigkeiten gegenseitig als Personen zu achten lernen. Das war nicht immer so. In der großen Denktradition der Philosophie des Abendlandes herrschte über viele Jahrhunderte die Meinung vor, dass nur eine auserlesene Schar der Erkenntnis von Wahrheit fähig ist: Zweierlei Leben gebe es auf Erden, eines für die wenigen Weisen, die der Wahrheit verpflichtet, und eines für die vielen Menschen, die dem alltäglichen, banalen Treiben verhaftet sind. Der Name des wirkmächtigen Philosophen Platon etwa steht hierfür, wie dies anhand seines Höhlengleichnises deutlich wird. Erst Martin Luther hat durch seine Bibelübersetzung im Gefolge der christlichen Überlieferung den Gedanken der gemeinschaftsstiftenden Wahrheit für alle wieder belebt und darum jeden Menschen zu dieser vertrauensschaffenden Glaubenshaltung aus Wahrheit berufen gesehen. Und Immanuel Kant hat später dann diese Linie fortgesetzt, indem er jeden denkenden Menschen als zu Wahrheitserkenntnis fähig erachtet hat (vgl. Kant, Logik, Einleitung, IV). Luther und Kant stehen also für die Erkenntnis der gemeinschaftsstiftenden Wahrheit der geistigen Kulturgemeinschaft. Und erst auf dieser Basis unternahm es dann Kant, die Autonomie des Einzelnen gedanklich zu erschließen. Die Auflösung dieser geistigen Kulturgemeinschaft durch das nachfolgende emanzipatorische Denken verabschiedete diese Wahrheitsorientierung und ersetzte diese durch die Wert-GültigkeitsGleichung. Herausgekommen ist dabei ein atomisiertes, einsames Individuum.

Kapitel III. Vorläufige Wege Im folgenden Teil unserer Überlegungen werden nun aus der Fülle der auseinandergehenden Fälle unternehmerischen Handelns, wie etwa die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Mitbestimmung, Betriebsratsarbeit, Vorschlagswesen, Gehaltswesen etc., zwei besondere Formen unternehmensbezogenen Denkens behandelt, die in den letzten Jahren nahezu von allen Unternehmen handlungsleitend praktiziert worden sind: Es handelt sich um das Modell der Corporate Identity und um das Modell des Brandings, das jeweils auf seine ethische Stichhaltigkeit untersucht werden soll. Diese Untersuchung ist - über den unternehmensbezogenen Bereich hinaus - zudem auch deswegen angezeigt, weil in nahezu allen Institutionen und bei den Dienstleistungsanbietern bis hin zu den Kirchen sich diese Modelle einer Beliebtheit erfreuen, die nachdenklich stimmt. So begegnen einem auf Schritt und Tritt Zielfindungsprozesse, Leitbilder und Logos. Damit soll einer modernen Handlungsqualität, einer besseren Kundenorientierung und einer verbesserten Produktqualität Rechnung getragen werden. Corporate Identity und Branding scheinen in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens eine heute notwendige Form einer modernen Selbstpräsentation zu sein, ohne die es keine Zukunft im gesellschaftlichen oder im ökonomischen Leben zu geben scheint. Ist diese Annahme begründet? Der kundige Leser wird schnell erkennen, wie leicht die nachfolgenden Ausführungen auf andere Bereiche des öffentlichen Lebens übertragbar sind, in denen die genannten Modelle zur Anwendung kommen.

1. Corporate Identity Das in unserer westlichen Welt vorherrschende Lob der Schnelligkeit hat die Idee einer bleibenden, erkennbaren und verbindlichen Erscheinungswelt hervorgebracht, die den Unternehmen und seinen Mitarbeitern im Fluss der Zeit einen bleibenden Wert garantieren soll. Damit soll Vertrauen für ein Unternehmen und seine Produkte erworben werden. Denn ohne Vertrauen ist auch ökonomisches Handeln nicht möglich. Jedes unternehmerische Handeln zeichnet sich aber dadurch aus, dass jedes Unternehmen schlicht überleben und auf dem Markt sich behaupten will. Damit dies gelingt, muss

42

Vorläufige Wege

jedes Unternehmen Gewinn erwirtschaften, und zwar in dem Maße, dass es eine ausreichende Finanzkraft besitzt, um Krisensituationen unbeschadet zu überstehen. Damit dieses seinerseits gelingt, bedarf jedes Unternehmen neben Qualitätsprodukten eines ausreichend qualifizierten und zudem arbeitswilligen Personals, das sich mit den Unternehmenszielen in Einsatzbereitschaft und Leistungshaltung identifiziert. So verschieden jedes Unternehmen sowohl in seiner Geschichte als auch in seinem Selbstverständnis ist, so kommen doch alle Unternehmen in dem Punkt überein, dass sie sich im Rahmen des ökonomischen Wettbewerbs behaupten wollen. Als Königsweg zur Erlangung dieser Verbindung von bleibendem Wert und Vertrauen, von persönlicher Einsatzbereitschaft und Leistungsbereitschaft, einhergehend mit einer entsprechenden Entlohnung, hat sich anfangs der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts das Modell der Corporate Identity in der Unternehmenspolitik durchgesetzt. Darunter versteht man im Wesentlichen ein Kommunikationskonzept der Personalführung, das mit der Analogie der persönlichen Identität eines Individuums und der Identität eines Unternehmens im personalen Sinne arbeitet. Über die Entwicklung eines deutlichen „Wir-Bewusstseins“, also der persönlichen Identifikation aller Mitarbeiter mit dem Unternehmen, will das Modell der Corporate Identity für ein Unternehmen eine diesem gemäße „Unternehmenskultur“ nach innen als Netzwerk von gelebten Verhaltensmustern und Normen etablieren. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Vielzahl der Entscheidungsbeteiligten auf der Grundlage eines einheitlichen Firmenimages und Unternehmensleitbildes entscheidet und handelt. Dadurch soll eine höhere Synergie der Unternehmensaktivitäten erreicht werden, die zugleich über das dadurch gesteigerte Motivationspotential der Mitarbeiter, allen voran der Führungskräfte, bereichernd ergänzt wird. Dieses so gewonnene einheitliche Firmenimage soll dann nach außen Vertrauen beim je unterschiedlichen Adressatenkreis erwecken. Die Öffentlichkeit, die Kunden, die Presse, die Kapitalgeber, die Lieferanten, potentielle Arbeitnehmer sollen durch das Modell der Corporate Identity überzeugt werden, dass dem Schein des Unternehmens in der Tat auch sein Sein entspricht. Der Zielpunkt ist hier also Vertrauen und Glaubwürdigkeit: In und für die Führungsspitze des Unternehmens, in und für deren Entscheidungen und Handlungen, in und für die Produkte und Waren des Unternehmens. Dementsprechend verspricht das Modell der Corporate Identity die humanwissenschaftlich begründete, methodische Formbarkeit von Unternehmenspersönlichkeiten in Verbund mit einem überzeugenden Firmenimage. Das Model der Corporate Identity verheißt auf diese Weise, den Königsweg zum kommunikativen und geschäftlichen Erfolg beschreiten zu können. Seither gibt es eine unübersehbare Anzahl von Unternehmensberatern und Consulting-Agenturen, die mit

Vorläufige Wege

43

Trainess, Motivationsberatern, Coaches und Mentoren die Identität eines Unternehmens und ihrer Führungskräfte - selbstverständlich für teures Geld - zu erarbeiten versprechen. Hinzu kommt noch, dass in dem Feld der Unternehmensberatung mit einer Fülle von gutklingenden Anglizismen und Plastikwörtern gearbeitet wird. Gerade die Kombination von Anglizismen und Plastikwörtern hat einen nahezu beschwörenden Klang. Formulierungen wie: Human-Performance-Improvement, PE-Scorecard, Change, Changestory, Mental-Change, Mindsets, Exploration, Kommunikation etc. dienen der Beförderung einer geglaubten Form- und Machbarkeit des Zusammenlebens von Personen und des Handelns eines Unternehmens, sind aber in Wirklichkeit nur Sprachhülsen einer babylonischen Sprachverwirrung. Denn ein Plastikwort - analoges gilt für die meisten Anglizismen - zeichnet sich nach dem Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen dadurch aus, dass es kein gewachsenes Wortbedeutungsfeld mit sich führt, mithin also konnotationslos ist. Ein Plastikwort ist darum ohne Inhalt und bedeutungslos und darum willkürlich einsetzbar. Mit einem Plastikwort lassen sich Sätze bilden, die in der Grammatik Gleichsetzungssätze genannt werden, also Sätze, die nahezu beliebig aneinandergereiht und ausgetauscht werden können, ohne dass dabei eine Sinnerweiterung geschieht. Als Beispiel sei hier das allgemein verbreitete Wort Information genannt: „Information ist Partizipation. Partizipation ist Delegation. Delegation ist Kommunikation. Kommunikation ist Innovation. Innovation ist Exploration. Exploration ist Definition. Definition ist Präsentation. Präsentation ist enrichment. Enrichment ist Fortschritt. Fortschritt ist eine Ressource. Ressource ist ein Problem.“ Dieser Gleichsetzungssatz lässt sich sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen, was besagt, dass er ohne inhaltliche Aussage auskommt, aber im Sprachgewandt des analytischen Denkens Klärung verheißt. Das Bedenkliche an solchen Satzketten ist, dass es das menschliche Leben sprachlich neutralisiert, also seiner Lebendigkeit beraubt. Zugleich aber tritt das Plastikwort mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auf und wirkt eben dadurch faszinierend und autoritativ. Ein Plastikwort ersetzt das Denken und Differenzieren, bietet eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten, ist aber magisch und leer. Plastikwörter neutralisieren und uniformieren die menschliche Lebenswirklichkeit, ersetzen das nachdenkliche Gespräch durch Stereotypen, deuten die soziale Welt der Menschen um in ein endlos arbeitendes Labor (wie viele „workshops“ werden nicht im Zusammenhang der Corporate Identity angeboten) und erwecken den Schein einer durchdachten ökonomischen Vernunft. Gerade deshalb aber hat das Plastikwort als verheißender Lösungsbegriff im Verbund mit dem Modell der Corporate Identity einen Siegeszug angetreten. Hierbei aber handelt es sich in Wahr-

44

Vorläufige Wege

heit nur um einen Pyrrhussieg, weil jeder ein Plastikwort mit anderen Inhalten füllen kann, ohne dass man sich darüber auf den ersten Blick hin verständigen müsste. Plastikwörter erwecken die Illusion der Beherrschbarkeit des Lebens. Und sie zerstören die Lebendigkeit der Sprache der Menschen. Wer aber den Menschen die Lebendigkeit ihrer Sprache nimmt, der bringt sie um die Grundform der Lebensorientierung im Gemeinsamen der Sprache: „Sprache ist zugleich die beweglichste und die konservativste soziale Institution. Das beides hängt zusammen. Weil sie so flexibel ist, weil ihre „doppelte Gliederung“, diese Verbindung von Einzelsymbolen und Konstruktionsregeln, erlaubt, von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch zu machen und sich auf diese Weise unbegrenzt anpassungsfähig zu erhalten, kann sie so konservativ sein, beständiger als Kleidung und Sitte, Gesetz oder Staatsform. Sprache ist, als flüchtige gehauchte Rede, das vergänglichste, als rhythmisch und lautlich geprägte Form und als überlieferter Buchstabe das stabilste Menschenwerk“ (Pörksen, Weltmarkt der Bilder, 294f.). Darum aber ist es für jede Führungskraft unerlässlich, einer gebildeten Sprache verpflichtet zu sein, die über ökonomische Sprachregelungen hinausreicht und dem Gebrauch von Plastikwörtern wehrt. Denn wie und auf welche Weise gesprochen wird, welcher firmeninterne Sprachgebrauch gewählt und gepflegt wird, das entscheidet elementar über die Befindlichkeit, die Stimmung und das gemeinsame Erleben der Mitarbeiter eines Unternehmens. Angetreten ist das Programm der Corporate Identity mit dem Ziel, in der schnelllebigen Zeit für die jeweiligen Unternehmen einen sowohl nach innen als auch nach außen kommunizierbaren Wert, eine Art Firmenidentität, zu erstellen. Damit aber war von vornherein klar, dass dieser erarbeitete Wert ebenso der Schnelllebigkeit unserer Zeit unterworfen ist, denn erarbeitete Werte haben - im Gegensatz zur Wahrheit - keine bleibende Kraft. Die im Zusammenhang der Corporate Identity forcierte Methodengläubigkeit im Sinne der Modellierung der Mitarbeiter und Führungskräfte nach primär ökonomischen Werten, die hinter all den Modellen der Corporate Identity stehen, haben in weiten Kreisen der Unternehmenspolitik die Erkenntnis reifen lassen, dass das Modell der Corporate Identity nur ein begrenzt gangbarer Weg zur Unternehmensführung ist. Zwar findet das Modell der Corporate Identity im äußerlichen Erscheinungsbild einer Firma seine begrenzte Berechtigung, denn es eröffnet dem Kunden bzw. den Verhandlungspartnern eine nachvollziehbare Identifikation zwischen dem Namen und dem Erscheinungsbild einer Firma auf der einen und den Produkten auf der anderen Seite. Im Innenverhältnis einer Firma aber, also bei ihren Mitarbeitern, ist die Grenze der Corporate Identity schnell erkannt, und zwar deswegen, weil der Mitarbeiter als Mensch erstens in seiner Le-

Vorläufige Wege

45

bens- und Willensbildung nicht modellfähig gemacht werden kann. Jeder Mensch ist in seiner Lebensorientierung immer an einer gedanklichen Anschauung für sein gesamtes Leben interessiert, sucht in seinem gesamten Leben nach einer Sinnerfüllung. Persönliche Identität und Authentizität aber lässt sich nicht mittels eines Identitätsangebotes durch ein Unternehmen finden, wenngleich die Arbeit in einem Unternehmen hierbei einen begrenzten, darin aber wichtigen Beitrag liefern kann. Insofern sind persönliche Identität und unternehmerische Identität niemals deckungsgleich. Und zweitens ist es ein Trugschluß zu glauben, dass ein Unternehmen im Sinne einer personalen Identität geführt und gelenkt werden kann. Denn diejenigen, die ein Unternehmen mit Leben erfüllen, sind schlicht Menschen. Und Menschen unterscheiden sich voneinander in ihrer Lebendigkeit und darum auch in ihrer Persönlichkeit. Diese Vielfalt aber macht es nahezu unmöglich, aus einem Unternehmen ein Einheitsmodell von geistiger und handlungsleitender Identität zu machen. Davon freilich unbenommen ist die menschliche Möglichkeit, dass eine arbeitende Person sich nach Kräften für ein Unternehmen engagiert, und das nicht nur der Sicherung des Lebensunterhaltes wegen. Im Zusammenhang der Corporate-Identity-Diskussion ist auch kurz das Modell der Personalentwicklung zu betrachten. Dieses zielt im Wesentlichen auf die Entwicklung und Verbesserung der Leistungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Seine Begründung findet das Modell der Personalentwicklung in den faktisch feststellbaren Innovationen, technologischen Veränderungen, marktpolitischen Erneuerungen, wie etwa der Internationalisierung oder Globalisierung unternehmerischen Handelns. Denn diese Faktoren nötigen die Unternehmensleitungen dazu, das Bildungs- und Schulungsprogramm den damit gegebenen Herausforderungen anzugleichen. Hintergrund der Personalentwicklung ist also die Beförderung unternehmerischer Effizienz, ein durchaus berechtigter Ansatz. Denn es ist zweifelsohne richtig und wichtig, dass ein Unternehmen auf dem Markt seine Position festigen muss. Insofern ist die Personalentwicklung ein Bildungsgeschehen innerhalb eines Unternehmens. Darum ist es nicht in Abrede gestellt, dass die Personalentwicklung sich durchaus sinnvoll den Fragen der arbeitsbezogenen, sachlichen Qualifizierung von Mitarbeitern zuwendet, denen dadurch Chancen des Aufstiegs und einer adäquaten Entlohnung gewährt werden. Auch wird nicht in Abrede gestellt, dass die Personalentwicklung im allgemeinen Sinne ein wirtschaftliches Instrumentarium zur Steigerung der Arbeits- und Leistungsbereitschaft von Mitarbeitern darstellt. Insofern findet die Personalentwicklung auf Seiten der Unternehmensplanung wie Gehalt, sachliche Qualifizierung, berufliche Fortbildung etc., ihre Berechtigung. Im Bereich der messbaren Größen wie betriebliches

46

Vorläufige Wege

Vorschlagswesen, Fluktuation, Anwesenheitsquote, Krankenstandsquote lassen sich in der Tat Erfolge der Personalentwicklungsgespräche aus Sicht der Unternehmensleitung feststellen. So weit, so gut. Aber die gedankliche Gleichsetzung der personalen Identität eines Menschen mit der Identität eines Unternehmens im personalen Sinne kommt einer Entwirklichung des Menschen gleich. Und auch kein Personalentwicklungsgespräch vermag die persönliche Bindung eines Mitarbeiters an seine Firma so zu gestalten, dass dieser Mitarbeiter sich stets mit den Zielen der Unternehmensführung identifiziert. Wenn dem so wäre, würde es keine freiwilligen Kündigungen geben. Hier tut also Nüchternheit Not. Denn kein Mensch lässt sich in seiner Willensbildung methodisch einholen. Wird dies gleichwohl versucht oder so empfunden, so verwahrt sich der Mensch von selbst dagegen, sei es durch innere Emigration, sei es durch „Dienst nach Vorschrift“, sei es durch Krankheiten, oder sei es auch durch einen nach außen dargestellten, künstlichen Übereifer des Workaholics, um einer eventuellen Kündigung zu entgehen. Das aber ist auf Dauer nicht lebbar. Weil also das Gesamtmodell der Corporate Identity sowohl eine Entwirklichung des Menschen als auch eine künstlich-neutrale Lebenswelt innerhalb der Unternehmen hervorbringt, ist das Programm der Corporate Identity nur bedingt zur Unternehmensführung geeignet. Und es steht zu vermuten, dass wohl bisher kein Unternehmen aufgrund der Corporate-Identity-Idee oder aufgrund von Personalentwicklungsgesprächen vor wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Schwierigkeiten bewahrt worden ist.

2. Branding: Weg und Grenze Kein Unternehmen kommt ohne eigene Identität aus, weswegen jedes Unternehmen in aller Regel auch seine Unternehmensgeschichte pflegt. Auch hier wird die Einsicht deutlich: Zukunft braucht Herkunft. Je vielfältiger und globaler sich nun aber das Wirtschaftsleben entwickelt, desto schwieriger wird es für eine Unternehmensleitung, sich klar als Firma, als Unternehmen auf dem Markt zu platzieren. Dass dies gut gelingt, dass sich also ein Unternehmen in den vielfältigen Wechselfällen des wirtschaftlichen Lebens prosperierend behaupten kann, ist eine der klassischen Aufgaben jeder Unternehmensführung. In diesem Zusammenhang tauchen immer wieder bestimmte Fragen auf, die einer Antwort bedürfen, Fragen wie: „Wer sind wir eigentlich im vielstimmigen Konzert des wirtschaftlichen Lebens? Wofür steht unser Firmenname, welche Marken und Produkte zeichnen uns gegenüber den Konkurrenten qualitativ aus? Welche Quali-

Vorläufige Wege

47

täts- und Designmerkmale müssen unsere Produkte aufweisen, damit sie zu unverwechselbaren Marken werden, die gerne gekauft werden?“ All diese Fragen rühren an das Phänomen der Firmen- und der Markenidentität. Es geht hier also um eine Innen- und eine Außenperspektive. Die Innenperspektive wird durch die Schaffung eines unverwechselbaren Firmenprofils erzeugt, mit dem sich die Arbeiter und Angestellten eines Unternehmens im Bezug auf ihre Arbeit „identifizieren“ können. Die Außenperspektive zielt auf die Konsumenten, denen ein verlässliches und vertrauensvolles Markenbild eines Produktes präsentiert wird. Man nennt diesen Vorgang neuerdings Branding. Branding ist aber nicht nur ein ökonomischer, sondern vor allem ein psychologischer Vorgang. Denn hier geht es um Vertrauen und Verlässlichkeit. Mit dem Branding ist die Einsicht verbunden, dass der Name eines Unternehmens für das qualitativ wertvolle und darum vertrauensvolle Markenbild eines Produktes einsteht, dass also der Name eines Unternehmens Vertrauen in seine Produkte schafft. Damit dies gelingt und erhalten bleibt, benötigt ein Unternehmen notwendigerweise Produkte, die durch ihre Qualität und ihr äußeres Erscheinen in der Tat den Konsumenten zum Kauf veranlassen und ihn überzeugt sein lassen, dass der Kaufpreis gerechtfertigt ist. Hier gilt: Qualität darf kosten. Und es ist außer Frage, dass jedes Unternehmen, so es auf seinen Namen als Qualitätsträger setzt, des Brandings bedarf. Voraussetzung hierfür ist, dass mit dem Namen eines Unternehmens auch eine stets hohe Produktqualität verbürgt ist. Jede verantwortlich denkende Führungskraft weiß dies. So gesehen, ist Branding eine notwendige ethische Voraussetzung für das Bestehen eines Unternehmens im Wettbewerb des Marktes. Doch sobald ein Unternehmen seinen Namen und seine Produkte über die gebotene Gegenständlichkeit hinaus erhebt und mit Hilfe des Unternehmensnamens und seiner Marken eine Lebenssinnbesetzung betreibt, ist die Grenze eines ethisch verantwortbaren Brandings überschritten. Die Grenze des Überschreitens ist hier fließend, weswegen jede Unternehmensführung hierbei besonders aufmerksam zu sein hat. So etwa, wenn Namen und Marken zu Sinnstiftern für ein erfülltes Leben hochstilisiert werden. Die Formel: “Living the brand” steht hierfür. Schon im Alten Testament wird ein vergleichbarer Vorgang beschrieben, der unter dem Stichwort: Der Tanz ums goldene Kalb bekannt geworden ist: „Als aber das Volk sah, daß Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat. Aaron sprach zu ihnen: Reißt ab die goldenen Ohrringe an den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter und bringt sie zu mir. Da riss alles

48

Vorläufige Wege

Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat! Als das Aaron sah, baute er einen Altar vor ihm und ließ ausrufen und sprach: Morgen ist des Herrn Fest. Und sie standen früh am Morgen auf und opferten Brandopfer und brachten dazu Dankopfer dar. Danach setzte sich das Volk, um zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um ihre Lust zu treiben“ (2. Mose 32, 1-6). Diesem Tanz ums goldene Kalb folgt dann, so erzählt diese Geschichte weiter, die erschreckende und blanke Ernüchterung darüber, dass kein Menschenwerk und kein Gegenstand je in der Lage sind, den Menschen in Fragen der Sinnorientierung des Lebens eine verlässliche, wahrhaftige Antwort zu geben. Vielmehr sind Gegenstände nur Mittel zum Leben und zur Freude daran. Leben ist aber immer mehr als Besitz. Denn das Leben kann nicht mit Hilfe von Gegenständen verlässlich sinnbesetzt und bewahrheitet werden. Bestimmte Brandingstrategien arbeiten aber genau mit dem Ansatz, den Besitz einer Marke, eines Produktes als lebensrelevant auszugeben. Eine Marke, ein Produkt wird auf diese Weise erhöht und als Sinnträger eines besseren, gelingenderen Lebens ausgewiesen. Soll das ethisch verantwortliche Branding für die hohe Qualität einer Marke werben und die damit verbundene persönliche Freude am Besitz dieser Marke fördern - denn es ist grundmenschlich, sich am Besitz von Gegenständen erfreuen zu können -, so wird nun beim übersteigernden Branding das ethisch Gute verlassen, und zwar deswegen, weil das übersteigerte Branding den Menschen in seiner Suche nach Lebensfreude und Lebenssinn zu banalisieren droht. Dem Menschen wird dann nämlich der Schluss nahegelegt, seine Identität nicht mehr über die kulturellen Gewissheitsüberlieferungen, etwa die der Religion, zu finden, sondern über den Besitz von Marken und Waren. Auf diese Weise werden die Dinge zum Regenten des Lebens. Dies gelingt um so mehr, je säkularer eine Gesellschaft geworden ist. Wie anders wäre es erklärbar, dass wir in den letzten Jahren eine enorme Zunahme von sogenannten Designerartikeln erleben, die den jeweiligen Besitzern eine besondere Lebensqualität verheißen. Darin dürfte doch wohl auch der Grund liegen, warum für eine Vielzahl vor allem von jüngeren Menschen bei uns das „Shopping“ zu einer lebenserhebenden Qualität geworden ist und einen eigenen Wert darstellt, ohne den das Leben sinnarm und nicht anerkennenswert wird. Sogar bis in den schulischen Alltag hinein macht sich das übersteigerte Branding bemerkbar: So etwa kommt es immer wieder vor, dass sich Schüler im Klassen- und Schulverband erst über den Besitz und das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken und Schuhen gegenseitig anerkennen. Wer hier aus finanziellen Gründen nicht mithalten kann, gilt schnell als Außenseiter.

Vorläufige Wege

49

Durch die damit verbundene Überhöhung der Dinge wird die noch vorfindbare religiöse Kultur entzaubert, indem die Dinge verzaubert werden. Das Branding und die damit einhergehende Werbung eröffnet auf diese Weise eine Lebensbetrachtung, die auf den käuflichen Erwerb der Individualität und Persönlichkeit des Menschen setzt, diese aber - durch Bindung an die häufig vorkommenden Produkte - paradoxerweise in eine egalisierende Uniformität überführt. Die Menschen gewinnen auf diese Weise das täuschend echte Gefühl, anders als die anderen zu sein, wählen aber genau das Produkt, die Marke, das bzw. die viele andere auch wählen, weil es, bedingt durch das Branding und die Werbung, „chic, in, trendy und exklusiv“ ist. Die Menschen verschwinden dann in ihrer eigentlichen Lebenswirklichkeit mehr und mehr, gelangen alltäglich in Scheinwelten, gewinnen gar ein markengesteuertes „Selbstbewusstsein“ als Persönlichkeitsillusion. Eine kommerzialisierte Lebensdeutung ist die Folge. Das aber ist ethisch bedenklich. So notwendig heute auf der einen Seite das Branding im Wettbewerb als Marketingstrategie ist, so ethisch gerechtfertigt ein ethisch verantworteter Umgang mit dem Branding ausgewiesen werden kann, so bedenklich und ethisch unverantwortlich ist diejenige Spielart des Brandings, die in der Formel: „Living the brand“ zusammengefasst werden kann. Denn letztere Spielart steht in der Gefahr, der Vorherrschaft der Ökonomie über das gesamte Leben der Menschen das Wort zu reden. Das aber überschreitet die ethisch verantwortbare Grenze unternehmerischen Handelns.

Kapitel IV. Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln eine Beschreibung der gedanklichen Verfasstheit und Wirklichkeit sowohl unserer gesellschaftlichen als auch unternehmerischen Gegenwart im allgemeinen Sinne vorgelegt worden ist, sollen nun Wege zur Wahrheit unter Aufnahme der christlichen Denkorientierung beschrieben werden. Im Bilde des Höhlengleichnisses von Platon bleibend, soll nun das „Licht der Sonne“, also das höchste Gut, welches die Christen mit dem dreieinigen Gott gleichsetzen, so ins Auge gefasst werden, dass dieses Licht nicht mehr blendet, sondern eine Erhellung im Denken und Erkennen des Menschen erkenntnisleitend mit sich bringt. Es geht also um das Nachdenken und das Erkennen von Wahrheit. Den Weg hierzu werden wir dementsprechend über menschlich allgemein erfahrbare und darum mitteilbare Phänomene beschreiten. Und an diesen Phänomenen wird deutlich werden, was es mit der Gewissheitsüberlieferung der Religion auf sich hat.

1. Wahrheit und Gestimmtsein Wir sind es gewohnt, unser Leben irgendwie ins Verhältnis zur Wahrheit zu setzen. Auch wenn wir in aller Regel keine ausgeprägte Wahrheitstheorie besitzen, so haben wir doch ein Gespür für die Wahrheit. Wir alle haben nämlich Anteil an dem grundlegenden Phänomen des Gestimmtseins zur Wahrheit hin. Das aber ist ein Bewusstseinsakt, also ein Phänomen, an dem wir alle Anteil haben. Dadurch aber ist für uns erst überhaupt eine Welt und durch dieses Gestimmtsein sind wir allererst in dieser Welt. Im Unterschied zu jeglichem ökonomischen oder humanwissenschaftlichen Denken ist dieses Gestimmtsein, wie Heidegger erklärt hat, keine Leistung, es ist überhaupt kein sich in besonderer Weise abhebendes Ereignis, sondern liegt all diesem voraus. Ohne dieses Gestimmtsein können wir gar nicht leben, es sei denn um den Preis des Verlustes des freien Seins in der Welt und unserer Menschlichkeit. Denn unser Bewusstsein, Wissen, Streben und Wollen sind nur, was sie eben sind, wenn sie in solch einem Gestimmtsein eingebettet und von diesem geprägt sind. Gestimmtsein ist „Aus-Sein-auf“ und „Bezugauf“. Erst durch unser schon immer vorfindbares Gestimmtsein erhalten

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

51

unser Bewusstsein, unser Wissen, unser Streben, unser Wollen eine Richtung, sind sie im „Aus-Sein-auf“ und im „Bezug-auf“ eingebettet und bekommen dadurch erst ihre Konturen. Unser Leben ist insgesamt in solch einem Gestimmtsein aufgehoben und eingebettet. Allein schon, dass wir leben wollen und uns in unserem Leben zu orientieren suchen, ist Ausdruck dieses Gestimmtseins. All unsere Handlungen vollziehen wir immer auf der Folie dieses Gestimmtseins, sei es in unseren privaten Lebensvollzügen, sei es in unseren unternehmerischen Entscheidungen. Wir haben über unser Bewusstsein Anteil am Leben. Wo nun aber dieses Gestimmtsein in Widerstreit gerät zu unserem Lebensvollzug, zu unseren Entscheidungen, da taucht in grundlegender Anschauung die Frage nach der Wahrheit auf. Denn unser Gespür für die Wahrheit zwingt uns zur Einheit mit uns selbst, und die Weise dieser Einheit mit uns selbst zeigt sich in unserem grundsätzlichen Gestimmtsein. Wahrheit und Gestimmtsein sind also so aufeinander ausgerichtet, dass unser Gestimmtsein sich immer auf die Wahrheit bezieht. Beides zusammen aber gibt unserem Leben Gestalt. All das ist keine willkürliche Spekulation, ist keine philosophische Leerübung, sondern entspringt einfach unserer Lebenserfahrung. So ziehen wir immer ein wahrhaftig geführtes Leben als Ausdruck einer Persönlichkeit allen unwahrhaftigen Lebensvollzügen vor, und zwar so, dass wir beim Vorziehen der Wahrhaftigkeit als Lebensgestalt keine Argumente benötigen. Erst im Verbund mit der Wahrheit wird unser Leben stimmig. Wir merken dies etwa daran, dass wir allgemein an der Haltung der Verwahrlosung Anstoß nehmen. So etwa brauchen wir keine Argumente, um Anstand und Höflichkeit im gegenseitigen Umgang einem unanständigen und unhöflichen Benehmen vorzuziehen. Und wir nehmen mit einem natürlichen Befremden verwahrloste Haltungen und Handlungen im gegenseitigen Umgang wahr, so etwa, wenn Menschen gefoltert, Kinder sexuell missbraucht oder durch ihre Eltern sträflich vernachlässigt werden. Auch manche geistige Haltung betrachten wir als verwahrlost, so in etwa, wenn Menschen in fanatischer Weise - wie wir dann sagen - unmenschliche und menschenverachtende Handlungen begehen, wie dies etwa im Krieg oftmals der Fall ist. Warum denn sonst wurde 1907 die Haager Landkriegsordnung vereinbart, die ein kulturelles Mindestmaß an Anstand völkerrechtlich fixieren wollte, um der allgemeinen Verwahrlosung zu wehren. Artikel 46 dieser Landkriegsordnung bestimmt übrigens als erstes Schutzgut die Ehre der Bürger eines militärisch besetzten Landes (vgl. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 257). Daraus wird ersichtlich, dass es einen unbedingten Zusammenhang zwischen der Erhaltung der Ehre und der Verhinderung von Verwahrlosung gibt. Wir erachten also einen verwahrlosten Menschen als nicht stimmig lebend mit der Gabe und Aufgabe seines Lebens. Ein verwahrlos-

52

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

ter Mensch ist so weit von der Wahrheit entfernt, dass in ihm das Gestimmtsein des Lebens größtenteils abhanden gekommen ist. Verwahrlosung ist ein Ausdruck einer Unordnung im Denken, äußert sich in der Sprache - ist doch unsere Sprache zugleich immer ein Spiegel unseres Denkens - und reicht bis hin zum alltäglichen Benehmen. So stellt sich die Frage, ob nicht schon die Banalisierung und öffentliche Zurschaustellung der menschlichen Intimität durch bestimmte Medien einer Verwahrlosung gleichkommen, indem etwa Scham zu einer einträglichen Marktware öffentlich degradiert wird, wie dies bei manchen Talksendungen der Fall ist. Wie dem auch sei: Ein verwahrloster Mensch fordert uns persönlich heraus, und zwar dahingehend, dass wir das Erscheinungsbild dieses Menschen nicht als Vorbild erleben und ihm nicht nacheifern wollen. Wir erkennen vielmehr, dass dieser Mensch nicht in Einheit mit sich selbst lebt, dass er sozusagen aus der Wahrheit „herausgefallen“ ist. Und wir alle spüren: So soll ein Leben nicht sein. Unsere Reaktionen sind dann etwa Distanz, Zurückhaltung, Empörung, Mitleid, Ermahnung oder auch Abscheu. Daran aber können wir erkennen, dass unser Wollen an sich dem Gestimmtsein zur Wahrheit hin verpflichtet ist. Und zugleich erkennen wir, dass unser Leben immer in gemeinschaftlicher Beziehung steht, dass wir also keine individuelle Wahrheit in uns tragen, sondern dass Wahrheit der Grund des Gemeinsamen des Lebens ist. Wahrheit, so vernehmen wir, will also die Wirklichkeit unseres Lebens formen. Jede Erziehung lebt von dieser Einsicht. Das freilich ist nicht zu verwechseln mit einer Uniformität des Lebens. Denn hier gilt es die Differenz zwischen Denken und Erkennen zu wahren: Denken geht immer dem Erkennen voraus. Diese Differenz zu übersehen, ist der Denkfehler aller naturalistischen Erkenntnistheorien. Denn unser Denkvermögen, geschult durch eine Vielzahl von kulturellen Überlieferungen, erschließt in Form des Erkennens eine Variationsbreite der Wahrheitsorientierung. Gehört es doch zum Wesen der Wahrheit, dass man ihr nicht eindeutig gehorchen kann, wie der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers wohl in Anlehnung an Aristoteles einleuchtend dargelegt hat (vgl. Jaspers, Was ist Philosophie, 33 – 118, bes. 117). Aber denken können wir den Gedanken der Wahrheit insofern, als er unser Leben in die Pflicht nimmt, und wir können zudem erkennen, dass die Wahrheit die grundlegende und gestaltende Herausforderung des Menschen ist, etwa ersichtlich am Phänomen der Verwahrlosung. Und darum müssen wir Menschen auch den Gedanken der Wahrheit denken, wir können gar nicht anders, ansonsten kommen wir nicht zu einer wohlgeordneten Gestalt unseres Lebens. Insofern lässt sich folgende Ordnung des Lebens beschreiben: Wahrheit als Grundprinzip, Gestimmtsein als Ursache, Gestalt als Wirklichkeit. Die einfache Frage „Ist dies wirklich wahr“ nimmt genau Bezug auf diese Ordnung des Lebens.

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

53

1. 1. Wirklichkeit Damit aber sind wir bei der Wirklichkeit. Auch diese lässt sich ohne Bezugnahme auf die Wahrheit nicht denken. Wir erkennen dies am Phänomen der Lüge. Wir alle wissen um die Wirklichkeit der Lüge und können diese nur aufgrund unseres Gespürs für die Wahrheit denken und erkennen. Eine Lüge ist nämlich wirklich, aber niemals wahr. Darum unterscheiden wir zwischen Wirklichkeit und Wahrheit. Aufgabe des Menschen ist es nun, in seinem Leben der Wahrheit verpflichtet zu bleiben, damit seine Wirklichkeit von der Wahrheit getragen wird. Wie notwendig dies ist, zeigt ebenfalls unser Alltagsleben. Kein Mensch will nämlich mit anderen Menschen zusammenleben oder zusammenarbeiten, von denen er weiß, dass sie ihn belügen und dass sie ihm gegenüber unwahrhaftig sind. Und umgekehrt wissen wir alle, dass jeder Mensch, so er lügt, stets ein gutes Gedächtnis braucht. Denn er muss jeweils seine Lügengeschichte so fortführen, dass er stets sein Gesicht wahren kann. Das aber ist anstrengend und auf die Dauer des Lebens kaum lebbar. So lehrt uns die allgemeine menschliche Erfahrung, dass „Lügen kurze Beine haben“, und dass „die Wahrheit ans Licht kommt“. Umgekehrt braucht der Mensch, der nicht lügt, sondern der Wahrheit verpflichtet lebt, hier kein gutes Gedächtnis, er kann jederzeit nahtlos und bruchlos an die Wahrheitsrede anknüpfen. Überhaupt ist es ein untrügliches Kennzeichen der Wahrheitsrede, dass sie immer, zu allen Zeiten, an allen Orten und bei allen Menschen problemlos an wahres Reden, Denken und Handeln anknüpfen kann. Beim wirklichen Reden ist dies nicht immer der Fall. Diese Erkenntnis steckt übrigens hinter dem rigoros klingenden Satz von Jesus Christus in der Bergpredigt: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel (Matthäus 5, 37). Darum aber führt das Gestimmtsein zur Wahrheit von selbst in die Unterscheidung der Wahrheit, als Grundprinzip allen Lebens, und der Wirklichkeit, als Gestalt des Lebens. Die Gestaltung unseres Lebens aber nötigt uns immer wieder zu einer Bestimmtheit der Gestaltung, die uns vor Wahlmöglichkeiten stellt. So können wir grundsätzlich zwischen der Wahrheitsorientierung und der Lügenorientierung wählen. Dem gemäß können wir wählen zwischen der Haltung der Wahrhaftigkeit und der Haltung der Unaufrichtigkeit, die sich manchmal unter dem Mantel einer sich neutral gebenden und rein zweckfreien Entscheidung verbirgt. Dadurch aber eröffnen diese Wahlmöglichkeiten auch die Option der Verfehlung des Wahrheitsgrundes unseres Lebens, wie etwa Lüge, Betrug, Bestechlichkeit und Unaufrichtigkeit zeigen. Wir können also selbst entscheiden, wie wir das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit zum Tragen bringen: Entweder als ein befriedetes Verhältnis, in dem die Wahrheit in die Wirklichkeit bestimmend hineinragt, oder aber

54

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

als ein Verhältnis, in dem Wahrheit und Wirklichkeit unversöhnt einander gegenüberstehen. Wie immer wir aber das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit denken, wir kommen dabei nicht um eine lebensbezogene Bestimmung von Wahrheit und Wirklichkeit herum, und sei es in der modernen Form der Auflösung von Wahrheit in Wirklichkeit. Um aber das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit und damit die Wahlmöglichkeiten unseres Lebens zu ordnen und zu klären, bedarf es der Einsicht in die Gerechtigkeit.

1. 2. Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit steht der Verfehlung unseres Lebens entgegen. Die Gerechtigkeit erhebt, für jeden Menschen einsehbar, Einspruch gegen Lüge, Betrug, Bestechlichkeit und Unaufrichtigkeit, ja sogar gegen jedwede Form der Instrumentalisierung anderer Menschen durch uns. Gerechtigkeit hat darum immer einen gemeinschaftsbezogenen Sinn. Deswegen gibt es auch keine individuelle Gerechtigkeit. Immanuel Kant hat diesen Gerechtigkeitsanspruch in seinem kategorischen Imperativ darum wie folgt formuliert: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 52). Das aber kann nicht ohne praktische Folgen bleiben, so dass Immanuel Kant in seinem praktischen Imperativ folgende Konsequenz zieht: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest (ebd., A 66f.). Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Schon Jesus Christus hat diese Gerechtigkeitsforderung in der goldenen Regel handlungsleitend so formuliert: Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Matthäus 7, 12). Der Volksmund kennt diese Gerechtigkeitsforderung mit den Worten: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu! Unser Alltagsleben bezeugt in klarer Weise diesen umfassenden Anspruch der Gerechtigkeit auf unser Leben. So tragen wir nämlich selbst ein untrügliches Gespür und Empfinden für die Gerechtigkeit in uns. Wir selbst haben eine sensible Wahrnehmung dafür, wenn wir ungerecht behandelt werden. Dieses Erleben erzeugt dann Widerstand in uns. Zudem fühlen wird uns in unserer Ehre verletzt, wenn uns als Person, aus welchen Gründen auch immer, die nötige Gerechtigkeit vorenthalten wird. Wir haben also in uns selbst den Hang zum Gerechtigkeitserleben, auch wenn wir in unserem Handeln und Tun diesem Gerechtigkeitsanspruch selbst oft nicht entsprechen, sei es willentlich oder unbeabsichtigt. Darüber hinaus wissen wir alle,

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

55

dass Lüge, Betrug, Bestechlichkeit und Unaufrichtigkeit nicht mit der Gerechtigkeit kompatibel sind. Denn wir können sehr wohl einsehen, dass eine Behauptung, Handlung und Entscheidung nicht dadurch besser wird, wenn wir diese zwar aus einem gutgemeinten Beweggrund vollführen, sie im Kern aber ungerecht ist. Ein redlicher Blick auf unser eigenes Leben, auf unsere wirtschaftliche und politische Kultur lehrt uns dies deutlich. Gerechtigkeit ist darum immer einer umfassenden Lebenshaltung verpflichtet und hat damit das Gesamte des Lebens von Gesellschaften, ja sogar der Welt im Blick. Gerechtigkeit intendiert demnach auch die allgemein menschliche Sehnsucht nach einem guten Leben.

1. 3. Gutes Leben Alle Menschen wollen ein gutes Leben führen und leben. Alle Kulturanstrengungen, alle wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen sind letztlich vom Wunsch nach einem guten Leben getragen. Dass es hierbei zu Parteiungen und zu Interessenkonflikten darüber kommt, wer, wann, wo und wie zu diesem guten Leben kommt, ändert nichts an der grundmenschlichen Sehnsucht nach einem guten Leben. Ein gutes Leben zeichnet sich neben einer materiellen und physischen Absicherung zur Erhaltung, Förderung und Bewahrung des Lebens im Sinne der Lebenskraft - dadurch aus, dass es sich in einen gemeinschaftsstiftenden Sinnhorizont beheimatet weiß, der auf die Grundfragen menschlichen Lebens „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?“ gemeinschaftsstiftende Antworten zu geben vermag. Sobald aber die Frage nach dem Sinn des Lebens auftaucht, kommt zugleich das Gestimmtsein zur Wahrheit hin zum Tragen, denn Sinn lässt sich ohne die Wahrheitsfrage nicht finden. Sinn bedeutet ursprünglich „Reise, Gang, Weg“. Die Frage nach dem Lebenssinn umschließt damit aber die Frage nach meinem Lebensweg, den ich zu gehen habe. Diesen aber will jeder Mensch gut gehen. Und es ist eine Binsenweisheit, dass mein Lebensweg, mein Lebenssinn nur dann gut ist, wenn er in Übereinstimmung mit der Wahrheitssuche der anderen Menschen sich vollzieht: Ein gutes Leben des Menschen gibt es nur in Gemeinschaft der Wahrheitssuchenden. Dementsprechend bedarf ein gutes Leben einer wahrheitsfähigen Anschauung der Welt und des Lebens, um mit den Unverrechenbarkeiten und Möglichkeiten des Lebens vernünftig umgehen zu lernen. In anderen Worten gesagt: Ein gutes Leben ist auf eine redliche Geisteshaltung angewiesen. Eine redliche Geisteshaltung zeichnet sich nach den Wortenvon Boethius durch eine Gesundheit des Geistes aus, die Boethius vornehmlich in der Religion wiederfindet (vgl. Boethius, Trost der Philosophie, z.B. viertes

56

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Buch). Denn die Religion eröffnet den erkennbaren Zusammenhang zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, zwischen Sinn und einem guten Leben, zwischen Gelingen und Scheitern. Im Gegensatz zu allen hedonistischen Lebensvollzügen unserer Zeit, die das Leben als letzte und einzige Möglichkeit betrachten, zeichnet sich ein religiöses Leben in einem Gestimmtsein zur Wahrheit aus, und dies vor allem angesichts des eigenen Todes. Dies vorausgesetzt, kann gesagt werden, dass ein religiöses Leben auch ein gutes Leben ist. Solch ein gutes Leben kann auch in einer säkularen Welt die wahrhaftige Dimension des Glaubens in gemeinschaftsstiftender Form denken. Denn Glaube ist das Gemeinschaftsstiftende über die eigene Vergänglichkeit hinaus. Martin Luther hat dies wie folgt zum Ausdruck gebracht: Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muß für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. Hierin muß jedermann die Hauptsstücke, die einen Christen angehen, genau wissen und gerüstet sein (Predigt Luthers vom 9. März 1522). Unbestreitbar durchfärbt der Tod jeden Tag unser eigenes Leben und ist immer unmittelbar zu uns selbst. Ist es daher nicht naheliegend zu sagen, dass nur in Anschauung dieser Gegebenheit ein gutes Leben beschrieben werden kann? Die bisher einzige Form einer gelingenden Anschauung dieser Gegebenheit ist eben die Religion, von der selbst der Philosoph Jürgen Habermas sagt, dass diese mehr zu sagen weiß, als dies die Philosophie vermag (vgl. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 185). „Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt. Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach. Sie bewahren die Dimension unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen. Warum sollten sie nicht immer noch verschlüsselte semantische Potentiale enthalten, die, wenn sie nur in begründende Rede verwandelt und ihres profanen Wahrheitsgehaltes entbunden würden, eine inspirierende Kraft entfalten können?“ (ders., Zwischen Naturalismus und Religion, 13) Dies vorausgesetzt, kann auch der religiös unmusikalische Bürger zumindest erkennen, dass ein gutes Leben auf die Religion verwiesen bleibt. Religion und Glaube aber kreisen um ein zentrales Thema der Menschheit: der Sehnsucht nach Frieden.

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

57

1. 4. Frieden Alle Menschen wollen in Frieden leben, und zwar in Frieden mit sich selbst wie auch in Frieden mit den anderen. Selbst alle Kriege und Konflikte zwischen den Menschen sind letztlich von dem Wunsch beseelt, Frieden auf Erden zu erwirken. Und jeder Mensch weiß, dass sein Handeln auf Dauer nur Bestand haben wird, wenn es dem Frieden verpflichtet ist. Denn Frieden ist die auf Dauer einzig denkbare gesellschaftliche Form eines guten Lebens. Frieden ist nämlich nicht nur der Gerechtigkeit und dem guten Leben verpflichtet, sondern umgreift darüber hinaus auch noch die inhaltliche Art und Weise des Zusammenlebens von Menschen. Das Wort „Frieden“ hat in unserer Sprache die Grundbedeutung von „Schonung und Freundschaft“. Verbunden ist damit die Haltung, das Widerständige des Anderen in wohlwollender Weise gedanklich zu ergründen und einem Miteinander das Wort zu reden. Das aber zieht die Konsequenz nach sich, dass Frieden nur als inklusiver, alle Menschen verpflichtender Begriff zu verstehen ist. Frieden ist also auf Gegenseitigkeit im Sinne der Anerkennung des Anderen ausgerichtet und angewiesen. So zumindest in unserer, der christlichen Kulturprägung entstammenden, Gesellschaft. Und darum werden Streitigkeiten im Idealfall auch in und mit Frieden beendet, wie etwa die Wörter „Friedensschluss“, „Friedensvertrag“ oder auch die „Friedenspflicht“ belegen. Daher aber ergibt sich für alle handlungsleitenden Interessen, dass sie letztlich dem Frieden verpflichtet, dass sie dem Frieden dienlich zu sein haben. Somit aber kann sich auch kein Unternehmen, keine Institution sowie keine Person dieser Friedenspflicht entziehen, es sei denn um des Preises des Unfriedens, des Konfliktes oder auch des Kampfes willen. Das aber ist nicht schön. Und das Nicht-Schöne findet auf Dauer keine Zustimmung des Menschen. Damit sind wir bei einem Gestimmtsein, in das alle Menschen kulturunabhängig gestellt sind: dem schönen Leben.

1. 5. Schönes Leben Alle Menschen wollen ein schönes Leben haben. In der Tradition der Menschheit hat man sich viele Gedanken über das Schöne gemacht: Man hat etwa das Schöne mit dem begehrten menschlichen Körper gleichgesetzt; hat das Schöne im bewunderten Kunstwerk erblickt; hat in Anlehnung an die Schöpfung das Naturschöne bewundert; hat in Verbindung von Ethik und Ästhetik die schöne Handlung thematisiert; hat den Gedanken des schönen Lebens bedacht. Hinter all diesen Vorstellungen aber ist der Drang des Menschen zu vernehmen, das eigene Leben in seiner vielfältigen Spiel-

58

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

art in Beziehung und ins Verhältnis zum Schönen an sich zu setzen. Denn das Schöne kann als das zeitliche Erscheinen und Sichereignen, als das Hineinragen der Wahrheit in unsere Lebenswirklichkeit verstanden werden. Dass wir Menschen etwa gerne spielen, ist ein möglicher Ausdruck dieses Schönen. Denn Spielen ist, ernsthaft betrachtet, ein zweckfreies Geschehen, ist damit eine ernste Angelegenheit. Darum versuchen wir auch mit unserer Anstrengung das Verspielen zu vermeiden. Denn es ist uns Menschen eigen, dass wir in und mit unserem Leben und seinen Vollzügen nach dem Schönen drängen. Gerade beim Spiel merken wir, dass wir dieses nicht etwa tun, weil man nach der Arbeit irgendetwas tun muss, sondern wir spielen deswegen, weil es einfach schön ist. Auch gewisse Handlungen führen wir aus, weil sie einfach schön sind. Und gewisse Ereignisse und Erlebnisse erfreuen uns, weil sie schön sind. Dabei aber verspüren wir, dass wir dem Guten und dem Wahren im Leben nahe sind. Das wahrhaft Schöne ist nämlich nicht nur eine kosmetische Verzierung des Lebens, sondern das Schöne eröffnet den Weg zum Sinn des Lebens. Führt doch das Schöne zur Liebe hin. Zu Recht macht darum der Philosoph Robert Spaemann auf die grundlegende Bedeutung des Schönen für unser Leben aufmerksam: „Es gibt nichts Ernsteres, nichts, wofür es sich mehr lohnt, sich anzustrengen, als das Schöne. Das Schöne ist das wahrhaft Heilende, weil es das wahrhaft Wirkliche ist, der splendor veri, der Glanz des Wahren“ (Spaemann, Grenzen, 510). Darum aber führt das aus der Wahrheit kommende Schöne zur Liebe hin. Über das Schöne erwacht die Liebe in unserem Leben. Und über die - durch das ernsthaft Schöne - erwachte Liebe wird der Andere erst wirklich für mich und ich wirklich für ihn. Das Schöne ist also die Form der Liebe, darum aber wollen alle Menschen ein schönes Leben. Getragen aber wird ein schönes Leben durch Frieden, durch das Gute, durch Gerechtigkeit, welche unserer Wirklichkeit eine gelingende Gestalt geben. Die gelingendste Gestalt unseres Leben aber ist die Liebe.

1. 6. Liebe Alle Menschen wollen Liebe erleben. Denn die Liebe verheißt die Gestaltungen einer wahrhaftigen Wirklichkeit. Liebe verweist im Grunde ihrer selbst auf die Wahrheit. Dabei freilich bleibt das Erleben der Liebe in ihrer Weite stets ein Geheimnis, denn die Liebe zeigt sich in den Weisen der Elternliebe zum Kinde, des Eros und der lustdurchdrungenen Geschlechterliebe, der Geschwisterliebe, der Freundschaft und der liebenden Anerkennung. Die Liebe aber ist deswegen ein Geheimnis, weil sie sich zwar deuten, aber letztlich nicht erklären lässt. Mit rationalen Erkenntnissen kommt

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

59

man dem Wesen der Liebe nicht auf die Spur. Wir merken dies daran, dass sich Liebe nicht machen, nicht verordnen und nicht planen lässt. Daher ist die Liebe des Menschen ein kulturgeschichtlich gewachsener Umgang mit einer passiv begründeten Befindlichkeit des Menschen, die ihrerseits unser Gestimmtsein grundsätzlich zur wahrhaftigen Wirklichkeit überführen will. Liebe ist ein Widerfahrnis, das mein Leben gründet und zugleich befragt. Denn Liebe ist immer in Bezogenheit, auch im Sinne der Leidenschaft, auf das Schöne, auf das Gute und auf die Wahrheit hin zu verstehen. Liebe sucht und fragt nach dem Schönen, dem Guten und der Wahrheit und gründet zugleich mein Leben. Denn das Schöne, das Gute und die Wahrheit scheinen in der Liebe immer auf, ohne dass die Liebe selbst mit diesen Dreien in eins fallen würde. Darum aber ist die Liebe auch immer ein „AusSein-auf“, ein Streben nach einem besseren, „nach oben hin“ sich ausrichtenden gemeinschaftlichen Leben, das seinerseits durch die Kraft der Liebe verändert wird. Vor allem die Liebe im Geschlechterverhältnis ist ein Brennpunkt jeglicher Gesellschaft, wie ein Blick in die Geschichte der alten Epen, Sagen, Erzählungen, Dramen und der Utopien ebenso belegt wie eine Betrachtung unserer gegenwärtigen Zeit verdeutlicht. Denn die Geschlechterliebe hat die Kraft in sich, herkömmliche Bestimmungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu hinterfragen oder gar zu ändern. Und jede Gesellschaftstheorie oder auch Unternehmenstheorie, die sich diesem Aspekt verschließt, bewegt sich in einem künstlichen und unnatürlichen Rahmen, unbeschadet aller Gender- und Sexusdiskussionen. Die Liebe verweist nicht nur auf das Schöne, das Gute und die Wahrheit, sondern zugleich in ihrer einfachsten Form auch auf Frieden und Gerechtigkeit. Liebe ist also die umfassendste Lebenshaltung des Menschen, die den Anderen als Anderen anerkennt und achtet und dann um seiner selbst willen entdeckt.

2. Universalien Ausgangspunkt unserer Überlegungen war eine Spurensuche nach Wahrheit, die wir über eine Betrachtung unserer menschlichen Lebenserschließung vollzogen haben. Dabei hat sich gezeigt, dass unser Leben insgesamt von einem Gestimmtsein zur Wahrheit hin geleitet wird. Aufgrund dieses Gestimmtseins zur Wahrheit hin erkannten wir in einfacher Einsicht, dass allen Menschen über ihr denkendes Gefühl Grundformen der Handlungsorientierung erkennbar sind, auf die hin alle Menschen ansprechbar sind, auf die hin alle Menschen ansprechbar sind. Diese Grundformen finden wir die-

60

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

se Grundformen als Universalien bezeichnen, die ihrerseits in einer aufeinander bezogenen Ordnung in unser Leben hineinragen. Und so verwundert es nicht, dass diese beschriebenen Universalien als ethischer Grundbestand in allen Religionen anzutreffen sind, so dass man von einer phänomenologisch erschließbaren ethischen Ordnung für alle Menschen reden kann. Zusammenfassend können wir also festhalten: • • • • •

Alle Menschen wollen in ihrem Leben Gerechtigkeit erleben. Alle Menschen wollen ein gutes Leben führen. Alle Menschen wollen in Frieden leben. Alle Menschen wollen ein schönes Leben ergreifen. Alle Menschen wollen Liebe erleben.

So einfach aber, wie dies oben zunächst beschrieben klingt, ist es im Leben der Menschen mit den Universalien nicht. Denn sobald die Universalien in gesellschaftliche Konkretionen umgesetzt werden sollen, tun sich unterschiedliche Formen der lebensbezogenen Umsetzung der Universalien als Handlungsmaximen auf. Diese sind zwar allesamt in den Universalien begründet, doch deren kulturelle Umsetzungen sind eben je verschieden. Um aber eine möglichst umfassende Form einer kulturübergreifenden Ethik zu finden, muss der Mensch als Person in den Blick genommen werden. Dieses Bedenken der Person muss ethisch geführt werden, um sowohl die Vorherrschaft des Subjekts als Individuum der westlichen Welt als auch die Vorherrschaft der gemeinschaftsbezogenen kollektiven Varianten zu überwinden. Denn Personen gibt es nur im Plural, zugleich aber sind Personen immer auch selbstständig agierende Wesen. Darum muss jede Form von Ethik grundlegend zuerst als Personenethik gefasst werden, sollen das Individuum und die Gemeinschaft in ein lebensförderliches Verhältnis gebracht werden. Insofern ist auch jede unternehmensethische Beratung mit Hilfe der Personenethik sinnvoll zu gestalten. Um aber zur Personenethik vorzudringen, bedarf es zunächst der Klärung der Ordnung des menschlichen Denkens.

3. Zur Ordnung des Denkens Bisher haben wir zu klären gesucht, was das allen Menschen Gemeinsame in ihrer Suche nach dem Lebenssinn darstellt. Dabei haben wir die in der Wahrheit gegründeten Universalien gefunden, die das gemeinsame menschliche Bewusstsein und Wissen, Streben und Wollen stets begleiten. Außer

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

61

Acht gelassen haben wir aber bisher die Frage, warum sich dennoch das Leben der Menschen und ihre Handlungen sooft einander fremd begegnen und mitunter sogar unversöhnlich gegenüberstehen. Eine der Hauptursachen hierfür ist wohl in der Art und Weise zu finden, wie Menschen ihre Ordnung im Denken vernehmen und gestalten. Denn hiervon hängt ab, was der Mensch als Konkretion der Universalien zu leben gedenkt. Und daraus ergeben sich dann auch die unterschiedlich gefüllten Kulturbegriffe mit ihren je eigenen Verflechtungen und Lebensformen. Um der Ordnung des Denkens näher zu kommen, soll nun eine kurze Betrachtung zu dem Bewusstseinszustand folgen, den wir herkömmlich „Denken“ nennen. Und wir tun dieses im Geiste unserer christlich geprägten Herkunft der Wahrheitserschließung. Denken ist ein besonderer reflexiver Akt des Menschen, der sich in aller Regel in der Form der Erwägung, des Erinnerns, der Vorstellung, des Meinens, des Einschätzens vollzieht. Denken nimmt also immer Bezug auf etwas oder jemand, Denken ist also eine ausgerichtete Größe. Deswegen aber kann das Denken nicht sich selbst denken, weswegen es auch kein iteratives, verdoppeltes Denken geben kann. Damit aber gibt es kein leeres, inhaltsloses Denken, das ohne Bezug zu etwas oder jemand gedacht werden kann. Denken ist also immer ein Bezogen-auf, wie etwa auch die Begriffe „Einfall“ oder auch die „Phantasie“ bezeugen. Da das Denken sich im Inneren des Menschen ereignet und sich meist lautlos und zudem frei vollzieht, kann das Denken im Sinne Platons als Reden der Seele mit sich selbst beschrieben werden. Denken gleicht damit einem inneren Gespräch, das wir in uns selber führen. Erst über die Sprache, die Darstellung oder die Kunst übersetzen wir das Denken in die Form des Sich-miteinander-Verständigens. Deswegen bedarf das Denken der Wahrnehmung, die ursprünglich mit Ästhetik bezeichnet wurde. Daher ergibt sich, dass Denken zum einen das Aufgreifen der Wahrheit, zum andern aber das Begreifen von Wirklichkeit ist. Denn im Denken, als Reden mit uns selbst, hören wir aufhorchend zum einen auf die Grundlegung der Wahrheit für unser Leben, ein Gedanke, der noch in der Sprachfamilie des Wortes denken anklingt: Denn denken und danken sind etymologisch miteinander verwandt. Im Denken sind wir letztlich also dankbar auf die Wahrheit ausgerichtet. Zum andern aber führen wir dieses Hören der Wahrheit in die Wirklichkeit über, indem wir miteinander denkend sprechen, darstellen und gestalten, also durch Denken unsere Wirklichkeit nachdenkend erschließen und begreifen. Denken ist also nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein ästhetisch-sinnlicher Akt. Daher ist es für unser menschliches Denken unmöglich, wertneutrale und objektive Erkenntnisse zu gewinnen. Denn dazu müsste der Mensch außerhalb von Zeit und Raum, außerhalb seiner Person sein. Darüber hinaus

62

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

müsste der Mensch die Bedingung des Denkens, den Bezug auf, überwunden haben, ist doch jede Aussage über die Wirklichkeit immer rückgebunden an gedankliche Setzungen und Annahmen, Axiome genannt. Diese Axiome sind ihrerseits immer das Ergebnis einer Anschauung von Welt, eines Begreifens von Welt als Wirklichkeit. Deswegen liegt jedem Weltbild immer eine vernehmende Rückbindung an den Grund unseres Denkens und Erkennens an die Wahrheit zugrunde. Die kulturgeschichtliche Form dieses Denkens und Erkennens von Wahrheit aber ist die religio, also die Religion. Die Religion aber findet ihren sprachlichen Ausdruck in Gewissheitsüberlieferungen oder auch Bekenntnissen: Diese sind Einweisungen in die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens, in die Gewährung von befriedeter Verlässlichkeit angesichts der Gefährdungen des Lebens und in die Formulierung von ethischen Handlungsmaximen. Dies zieht die Folge nach sich, dass jede Wirklichkeitserfassung und jede Wirklichkeitsformulierung, jedes Zur-Sprache-Bringen von Wirklichkeit unter der Bedingung der denkenden Wahrnehmung der Universalien in ihrer Bezogenheit auf die Religion und der darin vernehmbaren Wahrheit zum Stehen kommt. In einem „lebendigen, geschichtlichen Gespräch“ zwischen Christentum, Humanismus und Aufklärung hat sich diese Wahrnehmung in einen ausgewogenen gesellschaftlichen Fächerkanon aufgeteilt, der nur in gegenseitiger Abhängigkeit gedacht werden kann und sich gegenseitig durchdringt:



Gemeinschaft als Basis ↔





Politik ↔ Wissenschaft ↔ Ökonomie



Humanismus



Aufklärung



Universalien Religion/Kultur Je nachdem nun, welches Feld stärker akzentuiert wird, kommt man dabei zu unterschiedlichen Weltbildern und demgemäß zu einer unterschiedlichen Konzeption der Denkordnung, mittels deren das gemeinsame Leben in seiner Wirklichkeit wahrgenommen, beurteilt und bestimmt wird. Sobald aber aus dem Bereich: Ökonomie - Politik - Wissenschaft die gedankliche Rückbindung an den Bereich der Religion/Kultur verloren geht, kommt es unweigerlich zu Verengungen. Ist dies die Politik, kommt es zur Ideologie,

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

63

wie Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hinreichend belegen. Ist dies die Wissenschaft im Sinne der modernen Wissenschaftstheorie des verumfactum-Modells, kommt es zur naturalistischen Erkenntnistheorie, die Denken und Erkennen je gleichsetzt. Ist dieses die Ökonomie, so kommt es zum stahlharten Gehäuse der Moderne mit ihren Pathologien, auf das der Soziologe Max Weber bereits aufmerksam gemacht hat und von dem der Philosoph Jürgen Habermas spricht (vgl. Richert, Der endlose Weg der Utopie, 215 – 218). Nur das jeweils ausgewogene Verhältnis der einzelnen Felder zueinander eröffnet einen pluralen Lebensraum für alle. Das ist darin begründet, dass in der Religion des Menschen das Grundbestimmende für unser gesamtes Leben und Handeln gefunden ist. Denn in ihr erkennt sich der Mensch als Wahrheitssuchender. An dem nämlich, was wir für wahr halten, bauen wir unsere Überzeugungen auf. An dem, was wir aufgrund des Wahren für gut halten, prüfen wir unsere Absichten. An dem, was wir für das wahrhaft Schöne erachten, entwickeln wir unsere Wahrnehmungsfähigkeit. An dem, was wir als das wahrhaft Gerechte und Friedvolle erkennen, bauen wir unsere Ideale auf. Und zu dem, was wir von der Liebe erkennen, fühlen wir uns hingezogen. All das aber hat seinen Platz innerhalb der Religion. Darum ist Religion immer auch eine kulturstiftende Größe. Gerade aber die Religion entbindet uns nicht von der Notwendigkeit des Denkens, und zwar deswegen, weil die Wahrheit der Religion nur durch das nachdenkende Gespräch und das suchende Fragen gefunden werden kann. Genau deswegen aber hat Religion - neben all den Formen des kultischen Brauchtums und der Frömmigkeit - immer auch mit Denken und Sprache zu tun. Und Religion wird über die Begegnung mit der Aufklärung und dem Humanismus ins Denken gestellt. Das Denken an sich aber hat seine eigene Ordnung. Darum unterscheiden wir zwischen: • Vernunft

• Verstand

• Urteilskraft

Aber erst die richtige Verhältnisbestimmung dieser drei stets aufeinander bezogenen Denkbereiche ermöglicht eine menschengemäße Orientierung im Denken. Diese Denkordnung soll nun anhand der Begriffe von Vernunft, Verstand und Urteilskraft näher umrissen werden: • Der Begriff Vernunft, abgeleitet von dem Verb vernehmen, ist die geistige Fähigkeit des Menschen, die auf den universellen Zusammenhang des Lebens und der Dinge, die auf alles Geschehen und auf eine zweck- und sinnvolle Betätigung innerhalb dieses Zusammenhanges gerichtet ist. Das aber heißt: Vernunft ist ihrem eigentlichen Sinne nach rezeptiv, also eine vernehmende oder empfangende Größe. Denn im Leben und Denken gibt es stets mehr, als unsere Vernunft denken und erkennen kann, nämlich das Un-

64

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Unvordenkliche, das Göttliche. Der Mensch aber ist in seiner Existenz immer auf dieses Mehr-an, auf diesen Überschuss an Leben und Denken ausgerichtet. Darum aber ist die Vernunft des Menschen stets in Bewegung und gleichsam ruhelos. Wäre dem nicht so, würden wir den Begriff des Potentiellen unseres Lebens und Denkens preisgeben. Wird aber das Potentielle unseres Lebens und Denkens preisgegeben, dann verschwindet die Vernunft hinter der Rationalität. Der Rationalität fehlt aber die Lebendigkeit des Lebens. Ein rationales Leben ist nämlich, für sich allein genommen, nicht tauglich, die Beziehung der Menschen zur Liebe, zum Schönen, zum Guten zu gestalten. Die Rationalität ist im Unterschied zur Vernunft nicht fähig, das ihr Verschiedene zu versöhnen. Rationalität ergreift Partei, Vernunft integriert und führt zusammen. Vernunft ist somit das Vermögen, als Organ des Gemeinsamen zu fungieren, und zwar in der Weise, dass mittels der Vernunft die in der Wahrheit gegründeten Universalien auf das Gemeinsame hin eingelebt und eingewohnt werden, also dem Leben Konturen geben. Daraus aber erwächst dann das Vermögen, nach Grundsätzen entweder zu urteilen, das wäre die theoretische Vernunft, oder zu handeln, das wäre die praktische Vernunft. • Der Begriff Verstand, abgeleitet von dem Verb verstehen, ist das Vermögen, mit Hilfe der Vernunft Begriffe, Urteile und Regeln zu bilden und mit diesen zu denken. Der Verstand ist also unsere geistige Fähigkeit, das in der Vernunft Vernommene und Gedachte in Erkanntes zu überführen und zur Sprache zu bringen. Das ist dann die Fähigkeit des gesunden Menschenverstandes. Darum reden wir etwa davon, etwas mit „Sinn und Verstand“ handelnd vollziehen zu können. Der Verstand kann also geschult werden, jeder Mensch kann im Laufe seines Lebens mehr und mehr verständig werden. Zudem aber kann der Verstand befriedigt werden, mit der Folge, dass, wenn etwas verstanden ist, der Verstand gleichsam „ruht“, bis er durch neue - aus der Vernunft abgeleitete - Denkfragen wieder bewegt wird. Darum ist hier im Verstand auch der Ort des wissenschaftlichen, des politischen und des ökonomischen Denkens. Denn zu dieser Form des Denkens gehört das Verstehen einer Sache, gehört die Bewegung des Wissenswollens, des Prüfens und des Experimentierens. Darum vollziehen sich mit der Fähigkeit des Verstandes auch die wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Streitgespräche, die um die Bildung von Begriffen, Urteilen und Regeln kreisen, und zwar mit der Maßgabe des je besseren Verstehens. Die Grenze des Verstandes aber zeigt sich darin, dass der Verstand uns nicht erklären kann, warum wir überhaupt etwas wissen wollen. Auch kann uns der Verstand nicht erklären, was wir als Nächstes bedenken, erforschen und erkennen wollen. Darum verweist der Verstand immer auf die Vernunft.

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

65

• Der Begriff Urteilskraft nun ist das Vermögen, unter gebildeten Regeln etwas oder jemand einzuordnen, also zu unterscheiden, ob etwas oder jemand unter einer gegebenen Regel steht oder nicht. Dies ist die subsummierende Urteilskraft. Zudem meint Urteilskraft das Vermögen, das Besondere als unter dem Allgemeinen (etwa Regel, Gesetz, Prinzip) enthalten zu denken. Das ist die reflektierende Urteilskraft. Damit aber übernimmt die Urteilskraft eine vermittelnde Rolle zwischen der Vernunft und dem Verstand, denn der Urteilskraft kommt die Verknüpfung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu. Diese Verknüpfung aber ist, wie Kant sagt, ein „besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“. In ihr liege „auch das Specifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann“ (Kritik der reinen Vernunft, A 133). So ist es ein Kennzeichen des Witzes und des Humors, dass beide nicht erlernt werden können. Die Urteilskraft ist auch der Ort, an dem die Dummheit auszumachen ist. Denn ein Mangel an Urteilskraft versetzt den Menschen nicht in der Lage, sich vernünftig und verständig im Leben zu orientieren. Zugleich aber hat die Urteilskraft auch noch eine zutiefst ethische Funktion, indem sie an den gesunden Menschenverstand und an vernünftiges Handeln appelliert. Denn das Vermögen der Urteilskraft zeigt sich auch darin, Urteile zu fällen über recht und unrecht, über tunlich und untunlich. Wer eine gesunde Urteilskraft besitzt, der weiß, worauf es wirklich ankommt. Er sieht die Personen und die Dinge unter den richtigen, rechten, gesunden Gesichtspunkten. Ein Betrüger, der die Schwächen der Menschen richtig berechnet und einschätzt, und darum für seinen Betrug das Richtige trifft, hat - gemäß der rezeptiven Vernunft - keine gesunde Urteilskraft. Auf diesen Gesichtspunkt hat Hans-Georg Gadamer zu Recht hingewiesen (vgl. Wahrheit und Methode, 37). Darum ist auch die Urteilskraft der Ort, an dem das Gewissen seinen Platz findet. Als Erkenntnis der Erfassung unserer menschlichen Denkordnung kann nunmehr festgehalten werden, dass unsere menschliche Vernunft diejenige Größe des Denkens ist, mit der die Wahrheit gemeinsam auszumachen und zu vernehmen ist. Darum ist die Vernunft auch das Organ, welches den Zugang zur Religion eröffnet, sind doch Religion, ihrem Selbstverständnis nach, und die Wahrheit in einem komplementären Verhältnis zueinander stehend. Verstand und Urteilskraft hingegen beziehen sich immer auf das in der Vernunft Erkannte und bringen dieses nachgeordnet lebensgestaltend zur Geltung.

66

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

4. Religion und Leben Im Folgenden fragen wir mit den oben genannten Vernunftgründen nach dem Verhältnis von Religion und Leben. Fragen aber bedeutet, einen Weg im Denken zu gehen. Alle Denkwege aber führen mehr oder weniger vernehmbar durch die Sprache. Darum ist es angezeigt, den Denkweg durch die Sprache hier mit zu vollziehen, um einen Gesamteindruck dieses Weges zu gewinnen. Ein vernünftiges Leben will jeder Mensch führen. Doch was ein vernünftiges Leben ist, daran scheiden sich die Geister. Wir sahen schon, dass wir heute Religion und Vernunft als einander entgegengesetzte Bereiche der Lebensgestaltung verstehen. Vernunft und Religion erscheinen uns miteinander unvereinbar zu sein. Damit aber ist ein großer Bruch innerhalb der Denkordnung bezeichnet, der Religion, Vernunft und Leben in ein anderes Gefüge stellt, als bisher beschrieben. Zwar wird nun weiterhin zwischen Vernunft, Verstand und Urteilskraft unterschieden, aber die Vernunft wird im Gefolge der Aufklärung mehr und mehr als autonome Größe beschrieben, die sich selbst zu denken sucht. Diese Vernunftskonzeption vernimmt und empfängt nicht mehr, etwa die Universalien, sondern konstruiert die Wirklichkeit. Seither versucht vor allem die europäische Kultur in einer Art der Quadratur des Kreises, eine Verdoppelung des Denkens über die autonome Vernunft zuwege zu bringen, ein Versuch freilich, der mehr verspricht, als er de facto, wie wir sehen werden, einlösen kann. Auch Jürgen Habermas hat diese gedankliche Engführung der autonomen Vernunft als alleinige Erkenntnisautorität erkannt, weswegen er einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Wissen das Wort redet: „Die Erwartung einer fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von Glauben und Wissen verdient nämlich nur dann das Prädikat „vernünftig“, wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist“ (Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 118).

4. 1. Die Verwandlung der Vernunft in Rationalität Der Begriff Aufklärung freilich ist kein monolithischer Block der Betrachtungen des Verhältnisses von Wahrheit und Wirklichkeit, sondern seinerseits ein vielfältiges geistesgeschichtliches und emanzipatorisches Geschehen, vor allem ab dem 18. Jahrhundert. Am bekanntesten ist die Definition der Aufklärung von Immanuel Kant geworden: „Aufklärung ist der Aus-

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

67

gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Was ist Aufklärung, A 481). Um sich also seines eigenen Verstandes zu bedienen, bedarf es nach Kant darum des in Freiheit vollzogenen, öffentlichen Gebrauchs der Vernunft. Dies fordert Kant auch ausdrücklich in Bezug auf die Religion. Denn nur auf diese Weise kann die freie Entscheidung des Menschen in Fragen seiner Denkungsart und Lebensführung gewahrt bleiben. Und so hat sich bei uns in Europa in nahezu allen öffentlichen Lebensbereichen die Einstellung durchgesetzt, dass unser Denken und Handeln in Freiheit gegenüber der Religion sich zu vollziehen habe. Öffentliche Ämter, bei denen ein verfassungsbezogener Amtseid abzulegen ist, können ohne Bezugnahme auf die Schwurformel: „So wahr mir Gott helfe“ angetreten werden. Und wohl keine Unternehmensführung wird ihre wie auch immer gehaltenen Entscheidung öffentlich mit religiösen Argumenten oder Einstellungen untermauern oder begründen. Zu sehr hat sich in unserem Kulturkreis die Unterscheidung des Öffentlichen als des Vernünftigen und des Privaten als des Religiösen, Letzteres oft gleichgesetzt mit dem Unvernünftigen, durchgesetzt. Da aber die reine, autonome Vernunft nicht ausreicht, unser Leben inhaltlich in Fragen der Handlungsorientierung zu bestimmen und aufzuklären, hat man nun, wie wir schon sahen, anstelle der Religion die Ethik als handlungsleitende Orientierungsgröße eingesetzt. Seither hat nun die Ethik die gesellschaftsverbindende und sinneröffnende Verheißung für ein gutes Leben übernommen, ohne dass freilich klar wäre, woher die Ethik - im Unterschied zur Religion - ihre Handlungsmaximen bezieht. So berechtigt bis heute das ursprüngliche Programm der Aufklärung ist, nämlich die Ermöglichung von pluralen Lebensformen, so fragwürdig ist die damit verbundene geistige Engführung geworden, die diesem Programm entwachsen ist. Denn in unserer Zeit wird Aufklärung mit einem Logozentrismus, mit einer Theorie der Rationalität und der Ökonomie verwechselt, die ihrerseits gerade die geforderte aufgeklärte Beweglichkeit und Freiheit im Denken verloren haben. Der von Kant geforderte Mut im Denken ist weitgehend durch ein starres Gehäuse einer zweckorientierten Rationalität ersetzt worden. Die Rede ist von dem bereits erwähnten Höhlendasein des modernen Menschen mit seinem Fortschrittsglauben, dem konturenlos gewordenen Pluralismus und dem Ruf nach Werten, kurz: von der modernen Rationalität. Bei diesem Programm der Rationalität aber ist eine der wichtigsten Fra-

68

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

gen menschlichen Lebens abhanden gekommen, nämlich das alltägliche Leben in seiner Unverfügbarkeit. Wurde bis zur Moderne die Betrachtung des Lebens aus dem Staunen über das Sein des Lebens selbst gewonnen und in dieser Hinsicht gedanklich erschlossen, so wird seither das Leben, ohne Bezugnahme auf das Sein, erforscht, quantifiziert, qualifiziert, vermessen, konstruiert und normiert. Das Leben soll plan- und beherrschbar gemacht, es soll rational betrachtet und geführt werden. Ein untrügliches Kennzeichen der Beschreibung menschlichen Lebens ist jedoch das je Unverfügbare, nicht Beherrschbare und Unvorhersehbare eben des Lebens selbst. Denn Leben ist immer im Sein verwurzelt, das zum Bewusstsein ruft. Und das Sein ist immer mehr als unser Leben. Darum sind alle Aussagen über das Leben stets nur Annäherungen an das Sein. Annäherungen aber sind immer unvollständig und nur bedingtes Wissen und Erkennen. Leben kann darum als anteiliges Sein des Lebendigen beschrieben werden, dem man immer nur nachdenken, das man aber inhaltlich nie vollständig beschreiben, bestimmen oder gar vorhersagen kann. Wird nun aber das Leben des Menschen allein mit den Mitteln der Moderne beschrieben, dann verlieren wir diese denkende Wahrnehmung bewussten Leben zulasten einer Funktion des Lebens und eines systemischen Zustandes von anorganischer Materie. Das Leben des Einzelnen wird auf diese Weise entpersonalisiert und im Gegenzug versachlicht. Ein Ergebnis hiervon ist dann ein verkürzter Lebensbegriff, der mit den alltäglichen Erfahrungen des je unverrechenbaren Möglichen des Lebens nicht in Einklang zu bringen ist. Wir erleben dies etwa im Umgang mit sogenannt behinderten Menschen, denen wir über einen Normbegriff eines definiert unbehinderten Lebens einen negativ qualitativen Wertebegriff ihrer Behinderung entgegenhalten. Dadurch aber wird das bis dahin unhinterfragte genealogische Prinzip der Würde gewährenden Abstammung des Menschen von den Menschen ersetzt durch ein Prinzip der Werte zusprechenden qualitativen Lebenserfassung. Die Folge hiervon ist, dass wir im gesellschaftlichen Sprachgebrauch seit dem 19. Jahrhundert zwischen lebenswert und lebensunwert unterscheiden. Deswegen finden wir uns über den verkürzten Lebensbegriff in einer Rationalität des Lebens vor, die uns unserer beweglichen und freien, unverfügbaren und je möglichen Lebendigkeit beraubt.

4. 2. Vernünftige Horizonterweiterung Dagegen aber wehrt sich unsere Vernunft, solange sie nicht ihrerseits durch die unbewegliche Rationalität, also die einer transformierten Aufklärung, beschnitten und beherrscht wird. Denn unsere menschliche Vernunft zeich-

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

69

net sich auch durch diejenige Fähigkeit aus, uns selbst von außen, mit den Augen anderer zu sehen und dabei zu wissen, dass dieser Blick auf uns als Person nicht identisch ist mit unserem Blick auf und unserem Verstehen von uns selbst. Das aber ist, wie Robert Spaemann schreibt, die Bedingung von Sprache (vgl. Glück und Wohlwollen, 110f.). Und mittels unseres Sprechens nehmen wir das Hören des Hörenden geistig schon vorweg und erkennen zugleich, dass wir durch den anderen auf eine bestimmte Weise verstanden werden wollen. Wir erkennen damit zugleich, dass auch der andere an uns die gleiche Erwartungshaltung richtet. Das aber führt ins menschliche Gespräch, und ein Wesenszug des Gesprächs ist es, dass es uns gleichsam führt, und zwar zu manchmal überraschenden Einsichten. In einem Gespräch erleben wir also das Aufbrechen unserer Ichhaftigkeit zugunsten eines gemeinsamen Raums und einer gemeinsamen Zeit des Erlebens mit anderen. Indem wir also ein Gespräch führen, erleben wir, dass unser Leben ein Innen ist, das sich gegen ein Außen abgrenzt, zugleich aber mit diesem Außen in Beziehung tritt, vornehmlich durch die Sprache. Dieses In-Beziehung-Treten zu dem Außen benennt ein denkerisches Weltverhältnis. Es bedeutet, dass das Außen als etwas realisiert wird, das für meine Welterschließung zunächst keine Bedeutung hat. Aber es heißt hierbei zugleich zu erkennen, dass das Außen selbst Subjekt ist, für das es eben eine Bedeutung gibt, die sich von der Meinigen unterscheidet. Das aber ist ein untrügliches Kennzeichen der Begegnung zwischen Personen. Vernunft beginnt darum mit dem Wissen, dass man vernimmt und weiß, dass jemand bzw. etwas existiert, von dem bzw. wovon man selbst nichts weiß oder den bzw. das man nicht versteht, wie Robert Spaemann sagt. Darüber hinaus eröffnen die außerhalb unseres Selbst vorfindbaren Universalien in ihrer Bezogenheit auf Wahrheit einen Horizont, dessen Ausmaß unendlich ist und dessen Mitte mich immer unfasslich übersteigt. Darum empfängt die Vernunft die Erkenntnis und belehrt das Denken, dass ich selbst niemals der Mittelpunkt der Welt und des Lebens bin, so sehr ich zugleich dieses zu sein wünsche und begehre. Das aber ist der bleibende Widerstreit zwischen der rezeptiven Vernunft und der Rationalität.

4. 3. Glaube und Leben Genau an diesem Punkt aber setzt die Religion ein. Denn wahre Religion ist der Gewissenhaftigkeit des Denkens verpflichtet, das ist von der Aufklärung im Sinne Kants zu lernen. Und diese Gewissenhaftigkeit des Denkens kann nicht die schematische Aufteilung von öffentlich und privat, von gesellschaftspolitischem oder unternehmerischem Handeln und Privatleben aner-

70

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

kennen, und zwar deswegen, weil ich als Mensch in allen Bereichen des Lebens doch immer ein und dieselbe Person bin. Darum bin ich immer als Person in meiner gesamten Lebenswirklichkeit handelnd anwesend. Deshalb aber bezieht sich Religion als denkende Welterschließung immer auf die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen. Es gehört zur Grundstruktur der Gewissenhaftigkeit unseres Denkens, sich der Vernunft - als vernehmend-wissendes Beginnen - in Bezug auf das Sein des Lebens in Freiheit zu bedienen, um sich in der Wahrheit zu gründen. Diese Haltung aber wird seit jeher mit dem Wort Glauben umschrieben. Glauben ist also kein Akt der sentimentalen Regression und des Unmündigwerdens, sondern der Akt menschlichen Lebens, der zum erwachten Selbstsein des Menschen führt. Glaube kann somit als erkenntnistheoretischer Akt begriffen werden. Will man sich also mit Vernunftgründen gedanklich orientieren, ist dieses durchaus in der Haltung des Glaubens möglich. Denn was sich unter der Idee des aufgeklärten, mündigen und autonomen Menschen als beschränkendes und entmündigendes Geschehen darstellt, nämlich der Glaube, gehört das nicht in Wahrheit zur geschichtlichen Realität und Herkunft des Menschen selber? Aus der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Glaubens folgt aber eine Rehabilitierung und gesellschaftlichen Anerkennung des Begriffes Glauben, wenn man der endlich-geschichtlichen Seinsweise des Menschen gerecht werden will. Auf diese so wichtige Erkenntnis hat Hans-Georg Gadamer ausdrücklich hingewiesen (vgl. Wahrheit und Methode, 281). Glaube und Leben können also in gelingender Weise zusammengedacht werden mit der Folge einer ganzheitlichen Sicht des Lebens. Zudem entkommen Glaube und Leben dem ohnmächtigen Versuch des „verdoppelten“ Denkens, mit allen bekannt-erkennbaren Folgen. Finden also auf dem Weg des Denkens Glaube und Leben insgesamt wieder zueinander, entsteht als Stimmung unseres Lebens auch wieder die Haltung des Lobes der Langsamkeit und der Befriedung unseres Lebens, und zwar aus der Haltung des Glaubens heraus. Glauben aber vollzieht sich immer in und durch die Religion. Denn der Glaube ist die Form der Religion. Der Kern einer jeden Religion aber ist das Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, und zwar derart, dass wir unser gesamtes Leben in Beziehung zu diesem Überlieferungsgeschehen setzen, dass wir also all unsere Entscheidungen, Handlungen und Tätigkeiten in Bezug auf die Überlieferungsgeschichte der jeweiligen Religion gedanklich zu klären und kritisch zu würdigen suchen. Das aber ist letztlich gelingend nur in Gemeinschaft möglich. Wir reden hier aber nicht von irgendeinem Überlieferungsgeschehen oder von irgendeiner Religion, sondern von der christlichen Religion. Diese hält den Gottesgedanken präsent, und zwar in der Weise des persönlichen Gottes. Die Größe dieses Gottesgedankens zeigt sich u.a. in der sich je persön-

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

71

lich vollziehenden Zentrierung auf das Leben. Denn Leben heißt auch: in sich selbst zentriert sein. Und in sich selbst zentriert ist jemand, der wesentlich auf die Wahrheit ausgerichtet ist. Wahrheit aber verpflichtet zu einem verantwortlichen Leben, das in allen Lebensbereichen wahrhaftig zu sein sucht. Zugleich aber beinhaltet der christliche Gottesgedanke - mit seiner Lehre von der Dreieinigkeit - die friedliche und gegenseitige Anerkennung des Anderen als je würdige Person: Ein Gedanke, der gerade angesichts der globalen Kulturbegegnungen die menschliche Sprachfähigkeit untereinander kritisch zu leiten weiß. Denn wie der Mensch sich selbst etwa durch die Sprache und die Kunst einen Kulturraum gibt, der ihn vor der Aufhebung ins Nichts, in den Nihilismus und in die Sinnlosigkeit schützt, so erkennt der Mensch vornehmlich in der christlichen Religion durch die Bewahrung der Vorstellung eines persönliches Gottes seine eigene substantielle Wahrheit, ohne sich selbst verlieren zu müssen. Christliche Religion eröffnet, so gesehen, einen Gedankenhorizont, in dem der Mensch seine substantielle Wahrheit vorfindet (vgl. Spaemann, Personen, 103) Dieser Gedankenhorizont wird folgerichtig im Neuen Testament mit der Liebe Gottes in Jesus Christus umschrieben. Eine Konsequenz dieses Gottesgedankens für das menschliche Leben ist das vernehmend-vernünftige Nachdenken, das aufgrund seiner Zentriertheit gedankliche Sicherheit und Ruhe findet. Leben kann so als Anteilhabe am Sein beschrieben werden. Dadurch aber wird der sich als geschaffen erkennende Mensch auf das Grundprinzip allen Seins und Lebens verwiesen: auf Gott. Und eben hier erfährt der Mensch den Grund allen Seins und Lebens: die Wahrheit. Wahrheit ist hier nicht verstanden als abstrakte Größe, sondern als das damit ursprünglich Gemeinte: Das verlässliche und liebevolle denkende Sprechen Gottes zu den Menschen. Diesem denkenden Sprechen Gottes entspricht auf Seiten des Menschen, allgemein formuliert, das Erkennen und Erschließen der Universalien. Traditionell wird diese Haltung mit der Formel: Glauben und Verstehen umschrieben. Darum ist die christliche Religion eben auch an der Sprache orientiert, aber nicht im Sinne einer enggeführten Rationalität, die behauptet, unser Selbstverständnis als Person sei ein evolutionär ableitbarer Trugschluss. Diese Denkhaltung nämlich vorausgesetzt, muss die autonome Vernunft immer eine unendliche Flucht nach vorne antreten, muss sie das Gute durch das vermeintlich Bessere kompensieren, muss sie in Aktionismus die erfahrbare Gegenwart stets überbieten, muss sie mit Hilfe der Utopie diese Flucht untermauern. Unser Nachdenken aber, also unsere Vernunftorientierung und unser Leben selbst, kommt im Glauben - als Form der Religion - zu einem sinnvollen Stehen. Und dieser Glaube nimmt auf den christlich gedachten Gott als Inbegriff der Wahrheit - Bezug. Denn allein im christlichen Gottesver-

72

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

ständnis kommen Sein und Denken, Macht und Sinn, Gerechtigkeit und das Gute, Vernunft und Liebe zu einer Einheit, die wir in der christlichen Religion als das verehren, was wir selbst nicht sind, aber als Personen stets voraussetzen: Gott (vgl. Spaemann, Personen, 104). Unser Leben und Denken verweist uns also, soll es denn vor dem endlos-iterativen Prozess der autonomen Suche nach dem Lebenssinn bewahrt werden, auf die christliche Religion und die Haltung des Glaubens. Unserer Zeit freilich ist dieser Gedanke fremd geworden. Zu sehr hat sich bei uns die enggeführte Aufklärung breit gemacht, einhergehend mit einem praktischen Atheismus. Dennoch aber ist das Religiöse aus unserem Leben nicht verschwunden, wenngleich in Europa das gesellschaftliche Verständnis für das Christentum im Schwinden begriffen ist. Begründet ist dies u. a. damit, dass im Verbund mit der Internationalisierung und Globalisierung die außerchristlichen Weltreligionen in Europa Zuspruch erfahren. Das wiederum hängt mit einer Traditionsvergessenheit in Bezug auf die christliche Ursprungsreligion Europas zusammen, die vor allem in der wissenschaftstheoretisch begründeten Neutralisierung der Kulturtradition Europas begründet ist. Dieser Neutralisierungseffekt aber entbindet den Menschen nicht von seiner grundsätzlichen Sinnsuche für sein eigenes Leben an sich. Wir haben in diesem Zusammenhang schon auf das Branding-Modell hingewiesen, das dieser Sinnsuche einer ökonomischen Antwort zuführen will. Zwei weitere Beobachtung zum Neutralisierungseffekt seien hier noch angemerkt. Zum einen wird am praktischen Atheismus festgehalten, der aber seinerseits in eine Art Ersatzreligion überführt wird. Hierzu bedient man sich dann gerne des europäisierten Buddhismus. Denn der Buddhismus ist - allgemein gesprochen - eine Religion ohne Gott, eine Art atheistischer Religion. „Dem religionsgeneigten, aber in seiner säkularen Orientierung lebenden Westler eröffnet sich im Buddhismus die Möglichkeit, sich religiös zu orientieren, ohne die „Zumutung“ eines personalen Gottes, die ihm sein aufklärungsbestimmtes Bewusstsein verbietet, übernehmen zu müssen. Gewiss ist dies ein „Buddhismus-Light“, aber eben eine Religion, kompatibel mit westlicher Säkularität (Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion, 34). Dies dürfte wohl auch ein Grund dafür sein, dass der Buddhismus bei deutschen Intellektuellen, bei Vertretern des Show-Geschäftes und auch bei Selbsterfahrungsseminaren für Manager sich wachsender Beliebtheit erfreut. Zum anderen aber ist hier der selbstbewusst auftretende Islam in Europa zu nennen. Denn der Islam hat in seiner Grundstruktur niemals die Trennung von öffentlich und privat, von Religion und Kultur, von Religion und Ökonomie, von Religion und Politik vollzogen. Deswegen aber ist zumindest dem orthodoxen Islam ein lebensdienlicher Pluralismus westlicher Couleur nicht zugänglich. Insofern steht der Islam für eine alle Bereiche umfassende und bestimmende Le-

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

73

bensorientierung, die sich selbstbewusst und im klaren Widerspruch zur pluralen westlichen, aufgeklärten Gesellschaft präsentiert. Zudem verspricht der Islam, so wie er sich in Europa öffentlich darstellt, eine eindeutige Klärung des Geschlechterverhältnisses mit klar umrissenen Rollen von Mann und Frau. Denn das Geschlechterverhältnis ist immer der Probierstein für den Geist einer jeden Gesellschaft. An ihm zeigt sich deutlich, wessen Geistes Kind eine Gesellschaft ist. Hier aber tut sich eine Unterscheidung zwischen unserem Gesellschaftsverständnis und dem des Islams auf, die zur nachdenklichen Abgrenzung nötigt. Darüber hinaus lebt der Islam von seinem Gemeinschaftsdenken, der Umma, die das kollektive Bedürfnis nach einem gesellschaftlichen Miteinander - angesichts der sich mehr und mehr ausdifferenzierenden westlichen Gesellschaft - thematisch und erlebensorientiert aufzugreifen versteht. Es ist Basam Tibi gewesen, der eindringlich und mahnend auf diese Welterschließung und Lebensgestaltung des Islams hingewiesen hat, wenngleich Tibis Ausführungen mitunter zu schematisch formuliert anmuten. Diese Andeutungen mögen hier genügen. Greifbar aber hinter all diesen gesellschaftlichen Strömungen ist die Suche des Menschen nach Religion. Darum ist es sicherlich nicht falsch zu sagen, dass sich unsere westliche Gesellschaft wieder auf ihre religiöse Wurzel besinnen sollte, denn Zukunft braucht Herkunft, wie der Philosoph Odo Marquard sagt. Damit ist nicht gemeint, dass wieder ein christliches Zeitalter ausgerufen werden soll. Vielmehr soll die Würdigkeit des religiösen Denkens für gesellschaftliches Leben wieder entdeckt werden, selbst wenn man aus persönlichen Gründen sich dieses religiöse Denken nicht zu eigen manchen will. Denn so gesehen, ist es eine intellektuelle Blindheit ersten Ranges, wenn Politiker, Unternehmensführer und auch Soziologen das selbstbewusste Auftreten von Religionsführern in der Welt mit dem Etikett des Fundamentalismus belegen, um auf diese Weise eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Anliegen der Religion übergehen zu können und stattdessen einem gesellschaftlichen Funktionalismus von Religion das Wort reden. Die Folge davon ist, dass die Frage nach der Wahrheit als eine Verfahrensfrage banalisiert wird. Der Grundfehler des Funktionalismus ist nämlich, dass er kein Verständnis für das geschichtliche Herkommen des Menschen besitzt und darum Religion als das je Austauschbare innerhalb einer Gesellschaft begreift, mithin also vorgibt, einen archimedischen Punkt zur Lösung von nahezu allen gesellschaftspolitischen Fragen gefunden zu haben. Dadurch aber werden die Menschen zu Inhaltsgrößen utopischer Programme, welche die Ursachen für das vor allem außerhalb Europas wieder deutlich vernehmbare Auftreten von Religion primär einem Mangel an Verteilungsgerechtigkeit, an Bildung und schließlich der Armut zuschreiben. Das Anliegen der Religion aber, die Frage der Wahrheit zu bedenken

74

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

und in ein hermeneutisches Konzept von ethischen Handlungsorientierungen zu gießen, wird nun anstelle dessen in ein Nützlichkeitsdenken für die jeweilige Gesellschaft übersetzt, an das die Ökonomie nahtlos anknüpfen kann. Gegen diese Denktradition aber gehen zur Zeit etwa bestimmte religiöse Führer des Islams an, weil sie nicht der These zustimmen können, dass unser westlich-liberaler Verfassungsstaat sein Verhältnis zur Religion hinreichend geklärt hat. Es geht hier also in der Tat um die Fundamente unserer Kultur und Gesellschaft, freilich in einer Art und Weise, die unserer verfahrenstheoretisch orientierten „political correctness” grundsätzlich zuwiderläuft. Hinter all den öffentlich sich vollziehenden religiösen Herausforderungen der Gegenwart steckt ein anderes Verständnis von Religion und Leben, das sich grundsätzlich von dem hier dargestellten christlichen Religions- und Lebensverständnis unterscheidet. Und dieses andere Verständnis von Religion und Leben, das nicht in der Lage zu sein scheint, das ihr Fremde anzuerkennen und zu versöhnen, kennt auch nicht den Personenbegriff. Dieses andere Verständnis verkündet daher eine dezidierte Ethik und Handlungsanleitungen und darum auch Werte, die unserer europäisch geprägten Ethiktradition und unserem daraus abgeleiteten gesetzlichen Wertekanon elementar widersprechen. Solange unsere Verantwortlichen in Politik und Recht, in Gesellschaft und Ökonomie sich dieser religiös begründeten Herausforderung durch die Weltreligionen nur mit den denkerischen Mittel der Politologie, Psychologie, Soziologie und der Ökonomie stellen, werden sie immer die Konflikthaltigkeit innerhalb der Begegnung der unterschiedlichen Religionen und Kulturen falsch analysieren und dementsprechend auch falsch handeln. Darauf hat eindringlich schon Samuel P. Huntington mit seinem Buch: „Kampf der Kulturen“ hingewiesen. Und auch der Verfassungsrichter Udo di Fabio hat in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ diesen Mangel an ethisch-religiöser Begründung des westlichen Denkens angemahnt. Zur Verdeutlichung dieser These mag ein Ausschnitt des Aufrufes von Osama bin Laden nach dem 11. September 2001 dienen: „Da ist Amerika, von Gott getroffen an einer seiner empfindlichsten Stellen. Seine größten Gebäude wurden zerstört. Gott sei Dank dafür. Da ist Amerika, voll Angst von Norden nach Süden, von Westen nach Osten. Gott sei Dank dafür. Was Amerika jetzt erfährt, ist unbedeutend im Vergleich zu dem, was wir seit etlichen Jahren erfahren. Unsere Gemeinschaft erfährt diese Erniedrigung und diese Entwürdigung seit mehr als 80 Jahren. Ihre Söhne werden getötet, ihr Blut wird vergossen, ihre Heiligtümer werden angegriffen, und niemand hört es und niemand nimmt Notiz. Als Gott eine der Gruppen des Islams segnete, Speerspitzen des Islams, zerstörten sie Amerika. Ich bete zu Gott, dass er sie erhören und segnen möge. Diese Ereignisse haben die ganze Welt in

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

75

zwei Lager geteilt: Das Lager der Gläubigen und das Lager der Ungläubigen, möge Gott euch von ihm fernhalten. Jeder Muslim muss danach drängen, seiner Religion zum Sieg zu verhelfen. Der Sturm des Glaubens ist gekommen. Der Sturm der Veränderung ist gekommen, um die Unterdrückung von Mohammeds Insel auszumerzen, Friede sei mit ihm“ (zitiert nach: Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion, 42f.). So erschreckend diese Aussage auch ist, es ist eine religiös begründete Aussage. Und diese religiöse Aussage belegt aufgrund ihrer weltweiten Wirksamkeit die These, dass Religion und Leben nicht auf Dauer zu trennen sind. Umgekehrt kann damit vorgeschlagen werden, dass der christlichen Theologie in Bezug auf Gesellschaft, Politik und Ökonomie eine bestimmendere Rolle zuzufallen habe, als dies in unserem europäischen Kulturkreis bisher wahrgenommen wird. Denn christliche Theologie ist der gedankliche Versuch, Religion und Leben miteinander zum Ausgleich zu bringen. Und das Wesen der christlichen Theologie ist es, dieses mit Hilfe des epistemisch verstandenen Gottesgedankens und der darin begründeten Universalien: Gerechtigkeit, gutes Leben, Frieden, schönes Leben, Liebe in Wahrheit, zu vollziehen. Darum aber wird es für unser europäisches Leben sowie für jedes auch international agierende Unternehmen von elementarer Wichtigkeit sein, den Zusammenhang von Religion und Leben nicht nur wiederzuentdecken, sondern diesen Zusammenhang im friedlichen Sinne zu beleben. Für dieses Geschehen aber tritt gedanklich der Wahrheitskern des christlichen Glaubens ein. So steht zu vermuten, dass es sich perspektivisch als fataler Trugschluß erweisen wird, wenn innerhalb unserer Gesellschaft und des öffentlichen Lebens, innerhalb der Ökonomie und auch innerhalb eines Unternehmens nur einem angeblich weltanschaulich neutralen Wertekanon das Wort geredet wird, solange dieser nicht durch eine religiös begründete Ethik, respektive die der christlichen Kulturüberlieferung, inhaltlich reflektiert und geprägt sein wird. Allein das Leben des Menschen in seiner religiösen Orientierung legt diesen Trugschluß nahe.

5. Arbeit und Leben Die christliche Religion hat den Menschen schon immer zur Gestaltung seiner Welt beauftragt gesehen. Zudem ist der Mensch seit je her als Arbeitender in der Welt anwesend, daher kennen wir alle das Phänomen der Arbeit. Doch gerade bei unserer Arbeit stellt sich die grundsätzliche Frage, wie wir sie in ein begründetes Verhältnis zu unserem eigenen Leben bringen, denn die ursprünglich christliche Beauftragung des Menschen zur

76

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Arbeit und Kulturgestaltung ist weitgehend aus unserem Bewusstsein verschwunden. Um dem wieder auf die Spur zu kommen, müssen wir eine gedankliche Klärung des Phänomens der Arbeit vornehmen. Genauer soll darum im Folgenden dem Problem der Erwerbsarbeit nachgegangen werden. Noch ist es üblich, von der Arbeit als Beruf zu reden, wie dies etwa die Begriffe Berufsschule, Berufsausbildung, Berufsbild, Berufszufriedenheit etc. belegen. Jedoch besetzt in letzter Zeit der Begriff „Job“ mehr und mehr die Bezeichnung dessen, was herkömmlich mit dem Begriff Arbeit als Beruf benannt worden ist. Dahinter verbirgt sich eine gedankliche Entwicklung, der nachzugehen sich lohnt. Denn mit dem Begriff „Beruf“ verbindet sich eine innere Bejahung, eine Art innerer Berufung zur Arbeit mit der Folge der persönlichen Einsatzbereitschaft und Verantwortungsübernahme. Mit dem Begriff „Job“ hingegen verbindet sich eine Art äußerer Beauftragung, eine zeitlich befristete Annahme einer Tätigkeit mit der Folge der inneren Distanz und der Haltung des Dienstes nach Vorschrift. Ist im Beruf das persönliche Leben des Einzelnen direkt im Verhältnis zur Arbeit stehend, so ist dies beim Job nur indirekt gegeben. Der Beruf ermöglicht die persönliche Identifikation mit der Arbeit, der Job hingegen ermöglicht immer die persönliche, innere Distanz hierzu. „Ich hab nur meinen Job getan“ heißt: Ich habe Dienst nach Vorschrift getan, ohne persönliche Verantwortungsnahme hierfür. Wer nur seinen Job tut, der folgt einer äußeren Verpflichtung, ohne dass des Näheren das Gegenüber dieser Verpflichtung geklärt wäre. Wie sehr wir jedoch noch in unserem Empfinden dem Berufsbegriff verbunden sind, zeigt unsere Erwartung an Ärzte und Pfarrer: Von diesen fordern wir, dass sie ihre Tätigkeit nicht nur nach Vorschrift tun, sondern persönlich und in ethischer Verantwortungsbereitschaft eben ihren Beruf ausüben. Wir erwarten also, dass das Verständnis ihrer Verantwortungsbereitschaft mehr umfasst als den Dienst nach Vorschrift. Darum sind solche sprachlichen Wandlungen wie etwa die begriffliche Ersetzung des Wortes Beruf durch Job, nicht einfach irgendwelche Lappalien, sondern eine still sich vollziehende Umdeutung des Verhältnisses von Arbeit und Leben mit Folgen für jede Institution und Organisation, für jedes Unternehmen sowie für die Gesellschaft. Darum soll im Folgendem dieses Verhältnis von Arbeit und Leben näher bedacht werden.

5. 1. Arbeit Schon immer war die Arbeit in einem vielschichtigen Geflecht von anthropologischen, technischen, gesellschaftspolitischen, sozialen und ökonomischen Bedingungsfaktoren eingebunden. Darum gab und gibt es bis heute

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

77

kein „Arbeiten an sich“, ohne eine Bezugnahme auf diese Bedingungsfaktoren. So ist es nicht verwunderlich, dass der Ausdruck „Arbeit“ in nahezu allen Sprachen zu deren wichtigsten Wörtern gehört und dabei immer eine grundlegende menschliche Tätigkeit beschreibt, die zum Menschsein unbedingt mit hinzugehört. Wie sehr wir auch in unserer Zeit diesem Denken verpflichtet sind, zeigt deutlich das Erleben der Arbeitslosigkeit auf, die bis hin zur persönlichen Lebenssinnfrage den jeweils davon Betroffenen herausfordert. Zugleich aber ist mit der Arbeit die Erfahrung verbunden, dass diese nicht einfach von der Hand geht, sondern dass Arbeit mit Anstrengung verbunden ist. In allen europäischen Sprachen hat sich daher mit dem Wort „Arbeit“ die Grundbestimmung erhalten, die neben dem Gelingen auch das Mühsame und die harte Anstrengung beschreibt. Das deutsche Wort „Arbeit“, mit dem lateinischen Wort „orbus“ in der Bedeutung „verwaist“ und mit dem germanischen „arbejo“ in der Bedeutung „ich bin ein verwaistes Kind und daher zu harter Arbeit verdingt“ verwandt, bedeutet ursprünglich demnach „eine schwere körperliche Tätigkeit als Waisenkind ausführen zu müssen“. Diese Sprachherkunft wurde dann im Sinne des Ackerbaus gedeutet. Später wächst dem Wort „Arbeit“ noch die Bedeutung von Unbequemlichkeit, Schmerz und Erschöpfung durch Müdigkeit zu. (vgl. Grimm, Bd. 1, 538 - 541). Entsprechendes gilt für das französische Wort „le travail“ in der ursprünglichen Bedeutung von Qual, für das spanische „el trabajo“ sowie für das englische „work“. Im Mittelalter nun wird der Begriff Arbeit mit dem lateinischen „labor“ wiedergegeben, welches nun das produktive Arbeiten der menschlichen Erfindergabe umschreibt. Arbeit bedeutet dementsprechend auch „etwas Neues hervorbringen“. Diese gedankliche Linie von der harten Plage im Verbund mit der menschlichen Erfindergabe bleibt bis zum ausgehenden Mittelalter das vorherrschende Arbeitsverständnis. Denn Hintergrund dieses Denkens war die biblisch begründete Erfahrung, dass Arbeit zum einen lebensnotwendig ist, damit durch sie Gottes Werk durch den Menschen in eine Kultur überführt werde, wie dies 1. Mose 1, 28 nahe legt: „Und Gott segnete sie (die Menschen) und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Zum andern aber wurde zugleich die Ambivalenz des menschlichen Arbeitens thematisiert: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst wieder zur Erde werden“ (1. Mose 3, 19). Arbeit war hier vor allem eine mühevolle Tätigkeit des Menschen zur Deckung seines Lebensunterhalts und war dementsprechend mit einem negativen Klang versehen. Dies änderte sich erst durch Martin Luther.

78

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

5. 2. Martin Luther Lag bis zu Martin Luther der Sinn der Arbeit vor allem in der Lebenserhaltung, so wurde bei Luther erstmals die Arbeit des Menschen mit einem Sinn erfüllt, der über die einfache Lebenserhaltung hinausging und in der göttlichen Berufung des Menschen zu gesellschaftsfördernden Tätigkeiten gipfelte. Erst Luther machte die Arbeit des Menschen zu einem ethischen Gut, indem er alle erlaubte Arbeit des Menschen als Berufung Gottes definierte. Dies gelang Luther dadurch, dass er die Form der Erwerbstätigkeit bis hin zu alltäglichen Verrichtungen wie Erziehung und Bildung einer religiösen Sinngebung unterzog, die sich im Begriff „Beruf“ ausdrückte. Mit der Einsicht, dass jede erlaubte Tätigkeit vor Gott gleichviel gelte, es also kein unterschiedliches Ansehen der Person aufgrund ihrer Arbeit vor Gott und darum gegenüber den Menschen gibt, ist Luthers entscheidender Beitrag zur ethischen Verantwortung des Menschen bei seiner Arbeit benannt. Arbeit ist demnach die allen Menschen zukommende gleichwürdige Beauftragung durch Gott, dem Wohl der Gesellschaft zu dienen. Daraus folgt dann, dass bei jedem Beruf und an jedem Ort der Mensch immer zur ethischen Verantwortung, also zum Erhalt und zur Beförderung des Gesamtwohls der Gesellschaft, verpflichtet ist. All dem liegt eine unabdingbare gedankliche Voraussetzung zugrunde, nämlich der Glaube des Menschen an Gott. Nur mittels dieser Verwiesenheit des Menschen an Gott kann Luthers Berufsethos richtig verstanden werden. Dies vorausgesetzt, ist das Wort „Beruf“ ein Grundbestand der deutschen Alltagsprache geworden. Und Luthers Hochschätzung der Arbeit als Beruf geht so weit, dass er den Menschen über seinen Beruf zum alltäglichen Mitarbeiter Gottes bestimmt, der über seinen Beruf dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet ist. Arbeit ist darum Kulturauftrag. Die ökonomischen Entsprechungen dieser Berufsethik sind u.a. die Bezahlung eines gerechten Lohns, gerechte Arbeitsverhältnisse und das Verbot des Wuchers.

5. 3. Die Neuzeit Die Neuzeit bringt entscheidende Veränderungen im Verständnis der Arbeit mit sich. War durch Luther die Arbeit des Menschen Gottes Gebot und Kulturauftrag, so wird nun die Arbeit über eine Fülle von philosophischen Entwürfen zum entscheidenden Mittel der Selbstverwirklichung des Menschen. Arbeit wird nun zur zentralen Aufgabe des Menschen mit dem Ziel, die Gesellschaft und die Welt zu modernisieren. Nicht mehr Gott ist der Bezugspunkt der Sinnfindung von und in der Arbeit, sondern der sich selbst

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

79

denkende Mensch, der sich durch seine Arbeit allererst selbst zu erschaffen gedenkt. Den Höhepunkt dieses Arbeitsverständnisses markiert die Aussage des Philosophen Hegel, dass der Mensch durch Arbeit frei werde, und zwar in dem Sinne, dass durch die Ersetzung des Menschen durch Maschinen der Mensch von einengenden und bedrückenden Tätigkeiten im Produktionsprozess entbunden wird (vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§194 -198). Der homo faber tritt auf den Plan, der sich nicht mehr als ein Teil von Gottes Schöpfung begreifen und daher nicht mehr Mitarbeiter Gottes sein will. Darum hat er sein „Arbeitsverhältnis“ zu Gott „gekündigt“ und hat statt dessen sich die Besiegung und Überwindung der Natur, auch seiner eigenen, auf die Fahnen geschrieben, und das ausschließlich durch die Arbeit. Durch die Arbeit verwirklicht sich der Mensch selbst, so lautet das moderne Glaubensbekenntnis unserer Zeit. Wer hätte noch nicht den Begründungssatz gehört: „Ich will mich durch meine Arbeit selbst verwirklichen.“? Der durch das moderne Wissenschaftsprogramm hervorgebrachte Glaube an die Machbarkeit von Welt, Gesellschaft und Ökonomie erhebt den Menschen mit Hilfe des modernen Arbeitsbegriffs zum alleinigen Sinngeber - im wahrsten Sinne des Wortes - für Zeit und Ewigkeit. Dieser Paradigmawechsel kann gar nicht bedeutsam genug eingeschätzt werden: Nicht mehr die göttliche Berufung des Menschen zur verantwortlichen Arbeit bildet das Rückgrat unseres Arbeitsbegriffs, sondern das autonome Forum des sich selbst erschaffenden Menschen. Der Sinn der Arbeit wird nicht mehr im Erhalt und in der Beförderung des Gesamtwohls der Gesellschaft und des Unternehmens, des Staates und der Saaten gesehen, sondern in einer jeweils autonom entworfenen liberalen Marktlage, die je nach Interessenlage das jeweils Beste an Funktionalität, Ökonomie, Strukturen, Leistungsparametern, Arbeitsverhältnissen, Entlohung etc. für einen bestimmten Bereich der Gesellschaft hervorbringen will. Diese liberale Sichtweise ruft das frei Spiel der Kräfte auf den Plan, und zwar mit dem Ziel, dass diejenige Kraft, die sich auf dem Markt behauptet, eben auch die beste für das Gemeinwohl sei. Gerechtfertigt wird dieses Beste allein dadurch, dass es sich im Spiel der freien Kräfte durchgesetzt habe. So die Lehre von Adam Smith. Das Beste aber, so sahen wir, ist nicht immer das Gute. Ein zweiter, nicht minder wichtiger Paradigmawechsel im Arbeitsbegriff der Neuzeit muss noch genannt werden: Es ist die Preisgabe des geschlechtsspezifischen zugunsten eines geschlechtsneutralen Arbeitsbegriffs. War bis ins 18. Jahrhundert der Arbeitsbegriff noch geschlechtsspezifisch innerhalb der europäischen Gesellschaften geregelt, war also bis dahin ein festes Band zwischen Arbeit, Werkzeug, Leistung und Geschlecht gegeben, so wurde dieses Band nun durch die technisch-industrielle Entwicklung zerrissen. Das hat bis heute zur Folge, dass das Maß der Quantität und der Qualität der

80

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Arbeit nicht mehr geschlechtsspezifisch ermittelt und geachtet, sondern über technische Vorgaben nun geschlechtsneutral definiert wird. Somit wurde und wird der geschlechtsspezifische Arbeitsbegriff, der vornehmlich zum Schutze der arbeitenden Frau gedacht war, durch einen uniformen, geschlechtsneutralen, technisch orientierten Arbeitsbegriff ersetzt. Seither wird mehr oder weniger ein geschlechtsloser Mensch bei der Arbeit vorausgesetzt. Dieser geschlechtsneutrale Arbeitsbegriff aber bringt eine Reihe von Arbeitskonflikten mit sich, vor allem dann, wenn er mit dem Gedanken der Selbstverwirklichung kombiniert wird. Denn Mann und Frau werden hierdurch angehalten, in symmetrischer Beziehung dasselbe zu sagen, zu tun, zu erarbeiten, zu wünschen und zu fühlen. Das aber ist, wie Ivan Illich in seinem Buch „Genus“ nachgewiesen hat, unmöglich, und jeder denkende Mensch kommt selbstredend zu dieser Einsicht. Das Unbehagen über diesen geschlechtsneutralen Arbeitsbegriff wird in unserer Zeit u.a. von den jeweiligen Frauenbeauftragten personifiziert, meist jedoch so, dass diese ihrerseits ihrem Denken und Fordern den geschlechtsneutralen Arbeitsbegriff zugrunde legen. Hierin liegt m. E. auch der Grund, warum die bejahte Rede von der geforderten Gleichberechtigung sowohl im unternehmerischen als auch im gesellschaftspolitischen Bereich meist nicht mit der Arbeitswirklichkeit übereinstimmt.

5. 4. Gegenwärtige Herausforderungen Jeder Mensch, so er selbständig arbeitet oder in einem Arbeitsverhältnis steht, ist gehalten, sich in seinem Denken und Handeln Rechenschaft über sein Arbeitsverständnis abzulegen. Vor allem ist hierbei zu klären, welchen Stellenwert das jeweilige Arbeiten im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft hat. Diesem Rechenschaftsgeschehen ist dementsprechend auch jede Führungskraft unterworfen. Das ist u.a. darin begründet, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in und mit seinem Arbeiten einen Sinn zu suchen, der nicht allein in der bloßen Vollziehung von Tätigkeiten aufgeht. Diesen Sinnfaktor in der Arbeit gilt es wieder zu entdecken bzw. neu zu formulieren. Damit aber ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe benannt, die mehr umfasst als das je persönliche Arbeitsverständnis. Denn nach den Kriterien, gemäß denen das gesellschaftliche und unternehmerische Arbeitsverständnis inhaltlich geformt und gestaltet wird, wird auch die Bewertung der Arbeit erfolgen und das gesellschaftliche und unternehmerische Leistungsprofil erhoben. Entscheidend hierbei ist das der Arbeit zugrunde liegende Menschenbild, und zwar in Beantwortung der Frage: Lebt der Mensch, um zu arbeiten, oder arbeitet der Mensch, um zu leben? Lebt der Mensch, um zu

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

81

arbeiten, dann wird der Arbeit die alleinige menschliche Sinnerfüllung zugeschrieben, arbeitet der Mensch, um zu leben, dann wird der Sinn der Arbeit im Gesamtentwurf der Lebenshaltung, also etwa in der Religion gesucht. Denn die Religion versteht es, Arbeit in den Sinnhorizont des Lebens reflektiert zur Sprache zu bringen. Darum ist jede Gesellschaft und dementsprechend auch jede Institution und Organisation, jede Partei- oder Unternehmensführung gehalten, sich selbst ausführlich über diese Frage zu verständigen, um Arbeit als ethisches Gut wieder zu entdecken. Folgende Aspekte mögen hierbei eine gedankliche Anleitung sein: Das christliche Arbeitsverständnis geht von der Einsicht aus, dass der Mensch als Mann und Frau von Gott zur ethisch verantworteten Arbeit gemäß seiner jeweiligen Leistungsfähigkeit beauftragt ist. Das Forum der menschlichen Verantwortung ist darum die vernünftig erschlossene Gottbezogenheit des Menschen, die als gedanklicher Hintergrund alle ökonomischen Entscheidungen kritisch zu begleiten hat. Arbeit kann daher definiert werden als bewusste, rational geplante Tätigkeit im Sinne des Denkens, der Herstellung, Veränderung und Erhaltung von Sachen und Zuständen. Der Vollzug der Arbeit ist auszurichten an der Erfüllung und Verwirklichung unterschiedlich vorgegebener Ziele und Zwecke, die ihrerseits ethisch reflektiert werden müssen. Arbeit ist daher nicht nur eine bloße Tätigkeit, sondern vor allem eine intentionale Haltung und Handlung des Menschen im Verhältnis zu seiner Lebenswelt. Insofern kommen über die Sinnfrage des Menschen („Wozu lebe ich?“, „Welch ein Sinn ist in meiner Arbeit auszumachen?“) die Lebenswelt und die Arbeitswelt miteinander ins Gespräch. Sinnvolles Arbeiten ist damit rückgebunden an die Vorstellungen eines guten, gelingenden Lebens. Daraus wird ersichtlich, dass Arbeit zum einen ein wesentlicher Pfeiler menschlichen Lebens ist, zum andern aber der Sinn des Lebens nicht in der Arbeit aufgeht. Diese Einsicht wird besonders deutlich an den uns allen gemeinsamen Erfahrungen von Versagen und Fehlleistungen, Krankheit und Leid, vor allem aber bei der uns allen bevorstehenden Erfahrung des Sterbens und des Todes. Denn diese Erfahrungen markieren deutlich die Diskrepanz zwischen Arbeit und Leben und zeigen, dass der Sinn der Arbeit weniger umfaßt als der Sinn des Lebens. Besonders bei Nachrufen im Rahmen von Beerdigungen wird diese Diskrepanz deutlich hörbar. Hier wird zwar das Arbeitsleben des Verstorbenen je gewürdigt, aber es bleibt hierbei in aller Regel erkennbar, dass gerade diese Würdigung des Arbeitsleben keinen Trost für den Verlust eines Menschen bieten kann. Da man diese Sinnlücke erkennt, werden die Verstorbenen allermeist über ihre je persönlich zu achtende Arbeitsleistung hinaus glorifiziert, es wird ihnen also ein Sinnerleben zuerkannt, das sich nicht über die Arbeit an sich erschließen lässt. Darum werden in den öffentlichen Reden bei Begräbnis-

82

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

sen im Unterschied zu den Predigten meist nur „Engel“ und „beste Menschen“ bestattet. Diese theologische Einsicht mahnt aber zu einer wahrhaftigen Verhältnisbestimmung von Arbeit und Leben. Und je nachdem, wie sowohl die politischen Rahmenbedingungen, die Unternehmensführung als auch der Einzelne Lebenswelt und Arbeitswelt zueinander ins Verhältnis setzen, wird die Arbeit als erfüllt und sinnvoll wahrgenommen oder eben nicht. Je weiter sich freilich diese Verhältnisbestimmung zugunsten der Arbeitswelt verschiebt, der Lebenssinn in der Arbeit aufzugehen scheint, desto fragwürdiger wird mitunter das Erleben der Arbeit. Um so mehr wird dann die Erfüllung des Lebens außerhalb der Arbeit gesucht, also etwa in Ehe und Familie, in Kunst, Sport und Freizeit, im Erwerb von Luxusgütern. Daher haben sich in unserer Gegenwart die Kultur der Privatsphäre und die Freizeitkultur als eigenständiger Bereich entwickelt. Diese Bereiche aber sind Zeugen für die Differenz von Arbeit und Leben. Allein es fehlt in unserer gegenwärtigen Kultur ein gelingendes Konzept, wie die Bereiche der Arbeitswelt und der Lebenswelt miteinander menschengemäß zum Ausgleich kommen. Das christliche Arbeitsverständnis bietet hierzu eine Orientierung an.

5. 5. Das christliche Arbeitsverständnis Der Kerngedanke des christlichen Arbeitsverständnisses ist im damit verbundenen Kulturauftrag des Menschen zu sehen. Kulturauftrag bedeutet, dass der Mensch mittels seiner geistigen und körperlichen Kraft und Arbeit gehalten ist, die vorfindbare erste Natur als natürliche Umwelt durch eine zweite Natur als Kultur gleichsam zu „verlängern“. Der Unternehmensberater Roland Berger hat diesen christlich begründeten Gedanken wie folgt umschreiben: „Das Christentum ist unter den Religionen die vielleicht anspruchvollste und für den Menschen verheißungsvollste: Es verlangt, stets moralische Imperative zu befolgen und den Nächsten zu achten, und fordert gleichzeitig auf, Leistung für sich und die Gemeinschaft zu erbringen und ein tiefes Vertrauen in die Gnade Gottes zu entwickeln“ (Chrismon. Fragen an das Leben, 47). Anerkennt nun der Mensch seine Arbeit als Kulturauftrag, dann wird er seine Arbeit nicht nur in Verantwortung vor seinem Arbeitgeber und der damit verbundenen gesellschaftlichen Ausweispflicht vollziehen, sondern auch in persönlicher Verantwortung, in christlicher Perspektive gesprochen, in Verantwortung vor Gott. Insofern wird der Sinn der Arbeit nicht nur in der jeweiligen Tätigkeit gesucht, sondern auch in der Zweckmäßigkeit, „Gott zu Ehren“ zu arbeiten. Daher versteht es sich, dass

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

83

Arbeit immer mehr ist als ein Job, umfasst doch Arbeit einen vierfachen ethischen Verantwortungsbereich: 1. Die Verantwortung gegenüber der eigenen Person; 2. die Verantwortung gegenüber dem Unternehmen und den darin Arbeitenden; 3. die Verantwortung gegenüber der geschaffenen Welt und den darin lebenden Menschen und bestehenden Gesellschaften und 4. die persönliche Verantwortung des Menschen gegenüber Gott. Insofern ist Arbeit immer schon global ausgerichtet, eine Erfahrung, die besonders bei Führungskräften, Vorständen und Aufsichtsräten deutlich zum Vorschein kommt. Darum ist Arbeit als Kulturauftrag immer ein reflexives Geschehen, das sich im ausgewogenen Verhältnis zu den vier genannten Verantwortungsbereichen manifestiert. Wird aber einer dieser vier Verantwortungsbereiche vernachlässigt oder zugunsten einer ausschließlich instrumentalisierten Ökonomie aufgegeben, bleiben Arbeitskonflikte nicht aus, denn es verschwindet der Zusammenhang zwischen gerechter Arbeit, gerechter Entlohung und gerechter Anerkennung. Dies vorausgesetzt, lassen sich folgende Aspekte eines christlichen Arbeitsverständnis ausmachen, die in mancher Hinsicht dem Gespräch mit dem Theologen Joachim Track entnommen sind. • Arbeit ist immer in der Polarität zwischen Freude und Last eingespannt und ist daher in dieser Korrelation als dem Menschen gemäß zu betrachten. Der Mensch ist daher gehalten, sein Leben auch in besonderer Weise, aber nicht ausschließlich durch Arbeit sinnorientiert zu gestalten. • Diese Bejahung von Arbeit widerspricht grundsätzlich der Sichtweise, dass der Mensch seinen Lebensinhalt, seinen Lebenssinn, seine Selbstverwirklichung allein in und mit der Arbeit findet. Vielmehr muss hier prinzipiell unterschieden werden zwischen dem Menschen und seiner Arbeit, also zwischen Person und Werk. Denn der Mensch kann zwar eine Erfüllung in seiner Arbeit finden, geht aber niemals in seiner Arbeit als Person auf. Der Mensch ist immer mehr als seine Arbeit, ein Gedanke, der in der Rede vom Menschen als Geschöpf Gottes zum Ausdruck kommt. Dass dies heute meistens nicht so gesehen wird, befördert die soziologisch-funktionale Deutung des arbeitenden Menschen mit der Tendenz, den arbeitenden Menschen als numerische Größe zu betrachten. • Die Unterscheidung zwischen Mensch und Arbeit, zwischen Person und Werk eröffnet einen Freiraum in der Wahrnehmung und im Erleben der Arbeit: Da der Mensch sich selbst nicht durch Arbeit zu erschaffen braucht, sondern sich immer schon im Status der Gottesebenbildlichkeit vorfindet, kann der Mensch bewusst und reflektierend die Ambivalenz der Arbeit zwischen Freude und Last annehmen und diese als Mandat Gottes für seine

84

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Arbeitshaltung verstehen. Dieses Verstehen eröffnet eine Perspektive für Leistung und Pflichtverhalten gerade angesichts schwieriger Aufgaben. • Arbeit gelingt nur dann im Sinne der Bewahrung und Mehrung von Freude, wenn sowohl der Arbeitende als auch die Arbeitgeber eine gemeinsame Welt- und Sinnperspektive einnehmen, die ihrerseits nicht ausschließlich an ökonomischen Interessen gebunden ist. Darum hat jedes Unternehmen auch die Pflicht, einen Kulturauftrag zur Erhaltung und Beförderung der Gesellschaft zu leisten, indem die jeweiligen Kulturüberlieferungen und die darin enthaltenen Gewissheitsüberzeugungen kritisch gepflegt werden. • Eine gute Arbeitsatmosphäre stellt sich dann in einem Betrieb oder Unternehmen ein, wenn der Gedanke der Würde und Ehre des Menschen, christlich gesprochen: der Geschöpflichkeit des Menschen wieder Einzug in die Personalführung hält. Würde und Ehre bedeuten hier: Als Mensch habe ich meine Grenzen an Fähigkeiten, Begabungen, Führungsstil und Intellekt und bin daher auf die Gemeinschaft von Mitarbeitern verwiesen. Dies eröffnet eine geteilte Verantwortung im Sinne einer hierarchischen Zuordnung und Aufgabenverteilung und befördert den für jedes Unternehmen unverzichtbaren Gemeinschaftssinn. Umgekehrt bedeutet das, dass ich nicht der einzige bin, der die Verantwortung für das Gelingen der Arbeit und der damit verbundenen Führung trägt. Vielmehr kommt in der gegenseitigen Anerkennung ein Geist des Wohlwollens zu Stande, der arbeitsfördernde Perspektiven freisetzt. Der Geist des Wohlwollens ist allerdings nicht zu verwechseln mit einem symmetrischen Harmonieempfinden, sondern beinhaltet auch die klare Struktur von Anordnungen und Beauftragungen, also die Ausübung von Macht. • Die Anerkenntnis der Geschöpflichkeit des Menschen beinhaltet auch die Würdigung der Geschlechterdifferenz. Diese besteht darin, das vorherrschende Unisex-Postulat des geschlechtsneutralen Arbeitsbegriffs zugunsten einer komplementären Sicht der geschlechtsspezifischen Verschiedenheiten zu überwinden, dass also Mann und Frau- nicht in symmetrischer, sondern in komplementärer Weise miteinander arbeiten. • Arbeit im christlichen Sinne fordert eine gesellschaftserhaltende Einstellung aller in einem Unternehmen Beschäftigten, sofern diese Gesellschaft keine menschenverachtende und totalisierende Form innehat. Dementsprechend ist der christliche Arbeitsbegriff zugleich eine Absage an alle Arbeitshaltungen, die auf Kosten anderer unter Missachtung von Wahrheit und Gerechtigkeit sich zu bereichern suchen. Christlich verstandenes Arbeiten ist ein Widerspruch zu allen Formen der Korruption und der unlauteren Vorteilsnahme. • Christliches Arbeiten reflektiert die globale Weltgemeinschaft samt ihren unterschiedlich geprägten Kulturen. Dies geschieht so, dass deren

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

85

jeweilige Kulturformen zu achten sind. Erst auf der Folie dieser Achtung können Fragen der Gerechtigkeit wie Entlohnung, Arbeitszeiten etc. bedacht werden. Als Kriterium hierfür ist die Wahrung der Menschenwürde heranzuziehen, wobei hier jeweils ein flexibles Vorgehen gegenüber einem moralisch-rigiden Standpunkt vorzuziehen ist. Daher sucht christliches Arbeiten keine ideologischen, sondern intelligente Lösungen. • Christliches Arbeiten würdigt die geistige Intelligenz und deren ökonomische Leistungen, sofern diese in Verantwortung vor Gott vollzogen werden. Darum erhebt das christliche Arbeitsverständnis nicht nur sein Wort für die Schwachen, sondern fordert zu einer geistigen Elitenbildung auf, die das vierfache Verantwortungsgeschehen von Arbeit vor der eigenen Person, vor dem Arbeitgeber, vor der geschaffenen Welt und vor Gott in ihrem Denken mit sich führt und dementsprechend gerecht finanziell befördert weiß. Diese Elite ist dann je nach Qualifikation an Führungsaufgaben innerhalb eines Unternehmens heranzuführen und im Rahmen der Sozialverträglichkeit besser zu entlohnen als das Gros der übrigen Arbeiter und Angestellten. Denn es ist ein fundamentaler Fehler der Gesellschaftspolitik, wenn diese die symmetrische Angleichung der Entlohung aller Arbeitenden auf ein Mittelmaß fordert, wird doch hierdurch der Leistungswille der Elite, so dieser dem Gesamtwohl der Gesellschaft dient, mit der Folge banalisiert, dass die Elite ihrerseits sowohl mit Kapitalflucht als auch mit Leistungsverweigerung reagiert oder gar auswandert. Das aber ist keiner Gesellschaft förderlich oder dienlich. Denn verliert eine Gesellschaft ihre geistige Elite, gehen mit dieser auf die Länge der Zeit gesehen auch gesellschaftliche Überlebensfähigkeiten verloren. Es ist übrigens das Gleichnis Jesu von den anvertrauten Zentnern, also dem Geld, das diesen Gedanken anschaulich ausführt (vgl. Matthäus, 25, 14-30).

6. Trinität und Person Auf unserem Denkweg sind wir auf den Zusammenhang von Religion und Leben, von Arbeit und Leben gestoßen. Darum wollen wir weiterfragen, wie die christliche Theologie sich dieses Zusammenhangs annimmt und welche ethischen Handlungsanleitungen hieraus gewonnen werden können. Ausgangspunkt hierbei ist die christliche Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, auch Trinität genannt. Denn die Trinitätslehre ist der Kern des christlichen Redens von Gott, der zugleich das Unverwechselbare des christlichen Glaubens in der vielfältigen Gemengelage unserer religiösen Gegenwart beschreibt. Zugleich wird sich zeigen, dass es nur auf der gedanklichen

86

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Folie der Trinitätslehre möglich war und ist, vom Menschen als Person zu reden.

6. 1. Anmerkungen zur Trinitätslehre Die christliche Trinitätslehre hat sich als erkenntnistheoretische Zusammenfassung des biblischen Redens von Gott im 4. Jahrhundert nach Christus in der christlichen Theologie allgemein durchgesetzt. Die Trinitätslehre stellt den Versuch dar, sowohl die Einheit Gottes in seiner Wahrheit als auch die Wirklichkeit Gottes in seiner Lebendigkeit zu denken. Christen bekennen darum den einen und einzigen Gott als ein Wesen, das zugleich in drei Personen lebt: als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das gelingt aber nicht, indem man Gott als eine abstrakte Größe, also als etwas definiert, auch nicht, indem man sich Gott als statische, unbewegliche, in sich ewig ruhende Größe vorstellt, also Gott als numinoses Subjekt denkt. Dies gelingt nur, indem man Gott als Ursprung und Vollender des Lebens begreift, Gott also als lebendiges und persönliches Wesen denkt. Daraus ergibt sich, dass Gott nicht etwas, sondern jemand ist. Darum reden Christen von Gott als einem Wesen, das sich in drei Personen entfaltet: Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Der dreieinige Gott wird aber im Glauben als derjenige verehrt, der wir Menschen nicht sind: Als unvordenkliches Wesen, das sich in den Weisen von Vater, Sohn und Heiligem Geist uns Menschen zeigt und offenbart. Dies klingt zunächst sehr abstrakt und widersprüchlich. Doch ein Blick in die uns umgebende Lebenswirklichkeit weist uns die überzeugende Wahrheit dieser theologischen Einsicht auf. Denn unsere Wirklichkeit ist so geschaffen, dass in ihr die Dreieinigkeit Gottes als Grund der Wahrheit aufleuchtet, erkennbar über die Denkordnung der vernehmenden Vernunft. Diese aber vernimmt mit ihrem wachen Blick auf die Wirklichkeit eine grundlegende Struktur unseres menschlichen Lebens, die als Spuren von Gottes dreifaltiger Lebendigkeit gedeutet werden können: das Prinzip der Dreiheit in unserer Sprache und in unseren Lebens- und Handlungsprinzipien: Korrektes und verständliches Sprechen gelingt nur mit Hilfe des Prinzips der Dreiheit. Denn jeder aussagefähige Satz bedarf der grammatikalischen Struktur der Dreiheit von Subjekt, Prädikat und Objekt. Nur unter Beachtung dieser Dreiheit ist allererst die Einheit einer Aussage möglich. Und wo immer diese beweglich-lebendige Relation von Subjekt, Prädikat und Objekt nicht gewahrt bleibt, ist eine sinnvolle sprachliche Aussage nicht möglich. Neben dieser Sprachstruktur ist vor allem das genealogische Prinzip

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

87

menschlichen Lebens zu bedenken. Denn dieses ist prinzipiell in einer Dreiheitsrelation beschreibbar: Unser Leben ist in seinem Grundbeziehungen nur mit den Personenbegriffen: Vater, Mutter, Kind zu erfassen, ein Beziehungsgeschehen, das zeitübergreifenden Charakter hat: Selbst nach meinem eigenen Tod bin ich - gedanklich gesehen - das Kind meines Vater und meiner Mutter gewesen. Aber auch unser normales Wirtschaftsleben ist ohne diese Dreiheitsrelation nicht zu begreifen: Ein Unternehmer fertig ein Produkt, für das er einen Käufer sucht. Diese Dreiheitsreihen lassen sich beliebig fortsetzen. Wichtig für uns hierbei ist die Erkenntnis, dass unsere Wirklichkeit in genauer Entsprechung die einheitliche Differenz der christlichen Trinitätslehre widerspiegelt. Insofern ist die christliche Trinitätslehre die Grundform der Erfassung aller unserer Lebenswirklichkeit. Und es gehört zu einer der größten Leistungen der christlichen Theologie, dieses je erfasst zu haben. Damit aber stellt die Trinitätslehre eine Brücke dar zwischen der Wahrheit und der Wirklichkeit. Insofern kann es jedem denkenden und erkenntnistheoretisch interessierten Menschen plausibel werden, vom trinitarisch bezeugten Gott zu reden. Insofern liegt es nahe, unsere Wirklichkeit in ihrer Grundstruktur - als von Gott Geschaffene - triadisch zu bedenken. Dieses triadische Erfassen unserer Wirklichkeit ist aber keine funktionale Betrachtung des Lebens, sondern das genaue Gegenteil: Eine höchst gelingende Form der in unserer Lebenswirklichkeit waltenden Freiheit und der geschichtlich erlebbaren Unverfügbarkeit menschlichen Lebens. Denn auch wir Menschen existieren in dieser einheitlichen Differenz als Personen: Leib, Seele und Geist habend. Darum unterscheiden wir unser Sein von unserer bestimmten Weise zu sein, also von unserer Natur. Denn wir sind nicht nur einfach unsere Natur, sondern wir haben unsere Natur. Und dieses Haben ist unser Sein. Alle Kultur lebt von dieser notwendigen Unterscheidung. Damit aber sind wir beim zweiten wichtigen Gedanken, der sich aus der Trinitätslehre ergibt: Die Rede vom Menschen als Person.

6. 2. Der Mensch als Person Nicht zu allen Zeiten ist es normal gewesen, den Menschen als Person zu bezeichnen und mit diesem Personenstatus den Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen zu verbinden. Erst im Gefolge der christlichen Trinitätslehre des 4. Jahrhunderts gelangte der Personenbegriff in den allgemeinen Sprachschatz, und zwar nur in den Kulturen, in denen das Christentum die bestimmende Denkart geworden ist. Dieser Umstand erklärt auch die bis

88

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

heute vorherrschende, unterschiedliche Sichtweise betreffs der Würde und Unantastbarkeit des Menschen etwa zwischen dem europäischen einerseits und dem asiatischen oder arabischen Kulturkreis andererseits. Der Begriff Person wurde zunächst der lateinischen bzw. der griechischen Theatersprache entlehnt: persona bzw. prosopon bezeichnet dort zuerst die Maske, die ein Schauspieler trägt, dann die Rolle, die jemand spielt, im Unterschied zu seinem sonstigen Menschsein. Später bedeutet dann der Begriff „Person“ auch die Rolle, die jemand in der Gesellschaft spielt, und bezeichnet damit zugleich seinen gesellschaftlichen Status, wie wir es heute noch im Begriff „Amtsperson“ vorfinden. Auf diese Weise wanderte der Personenbegriff in die alexandrinische und lateinische Philologie ein, die die drei Sprecherrollen der Grammatik als erste, zweite und dritte Person bezeichneten. Damit aber wurde zur Beschreibung und Erfassung des Menschen ein wesentlicher, weil wertfreier Schritt getan: So wie in der Trinität Gott als der Eine und Einzige beschrieben wird, der in und als sich selbst in der lebendigen Beziehung der drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, aus sich heraustritt und existiert, so wurde diese Abstraktion im Sinne einer Verallgemeinerung dem Menschen qualitätsfrei zuerkannt. Durch das Übertragen des Personenbegriffs auf den Menschen an sich wurde der Raum einer gedanklichen Freiheit ersten Ranges etabliert: Denn von nun an war es möglich, von ein und demselben Menschen in der ersten, zweiten und dritten Person zu reden. Dieser abstrakte, freie Personenbegriff wurde dann in der unverlierbaren Rolle und dem unverlierbaren Status des Personseins jedem Menschen zuerkannt, unabhängig von seinen Fähigkeiten, seinem Leistungsvermögen, seinem Geschlecht, seiner ethnischen Herkunft und seinem Aussehen. Jeder Mensch ist somit eine Person, und zwar allein aufgrund seiner genealogisch-geschöpflichen Abstammung. Damit aber wurde der Gedanke in die Welt getragen, dass jeder Mensch nicht eine beliebig zu behandelnde, sprechende Sache ist, sondern eine mit Rechten und Pflichten ausgestattete Person. Man erkannte, dass er Mensch nicht etwas, sondern jemand ist. Und dieser Jemand ist mit einer gottgegebenen Würde ausgezeichnet. Theologisch wird dieser Status mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck gebracht. Unsere Alltagssprache ist bis heute von dieser Beschreibung und Erfassung des Menschen als Person durchdrungen. So reden wir von Personenzügen, vom Personenkraftwagen, von der Personenwaage, von der Anzahl der Personen etc. und bekunden damit, dass unter allem, was lebt, Personen eine Sonderstellung innehaben. Zugleich aber wissen wir, dass die Personengemeinschaft keine natürliche Art ist, sondern ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis. Dies aber führte das Denken in die Frage, ob wirklich alle Menschen als Personen anerkannt werden können. Und diese Frage gewann und

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

89

gewinnt im Zusammenhang mit der sich ausbreitenden Denktradition der Neuzeit mehr und mehr an Gewicht. Es ist der Philosoph Robert Spaemann mit seinem Buch „Personen“ gewesen, der diesen Zusammenhang in brillanter Weise dargestellt und einer einleuchtenden Klärung zugeführt hat, der wir im Wesentlichen folgen.

6. 3. Vom Verschwinden der Person Als Hauptmerkmal zur Erfassung dieses gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses von Menschen als Personen wurde vor allem in der angelsächsischen Philosophie zu klären versucht, was in Bezug auf den Menschen vernünftig heißt. Im Sinne der in der Neuzeit sich ausbreitenden Emanzipationsvorstellung wurde die Vernunft ihres rezeptiven Charakters beraubt und statt dessen das Vernünftigsein des Menschen von qualitativen Prädikaten abhängig gemacht. Die Folge davon ist bis heute, dass der bis dahin unlösbare Zusammenhang vom Menschen an sich als Person aufgelöst wurde in personale Merkmale, deren Vorhandensein zur Anerkennung des Personenstatus herangezogen werden. Die wohl erste und deutlichste Beschreibung einer vernünftigen Person nach qualitativen Prädikaten legte John Locke Ende des 17. Jahrhunderts vor, indem er Folgendes als vernünftige Merkmale für eine Person nannte: Das Selbstbewusstsein, die Erinnerung, ein Verhältnis zum Leben als Ganzem, ein Interesse an diesem Leben. Erst dieses zusammen ermögliche eine Identität des Menschen als Person. Damit aber wurde zum ersten Mal in der europäischen Denktradition bewusst zwischen Mensch und Person unterschieden, und zwar deswegen, weil hiermit die Identität der Person an einen je aktualen Bewusstseinszustand geknüpft wird, dem aber, dies zu Ende gedacht, nicht alle Menschen immer folgen können. So gesehen, wären nämlich schon schlafende oder bewusstlose Menschen keine Personen mehr, weil sie eben in ihrem Zustand des Schlafes bzw. der Bewusstlosigkeit keinen aktualen Bewusstseinszustand innehaben. Seither haben wir den christlich gewonnenen Lebensbegriff des Menschen als zu achtendes Geschöpf Gottes eingetauscht gegen die Beschreibung des Menschen unter je aktualen Bewusstseinszuständen. Darum müssen wir heute im Gemeinschaftsleben immer „fit“ sein, müssen „Spaß“ am Leben haben, müssen selbst in unserer Freizeit diese Zeit noch ausverkaufen und durch „events“ überbieten. Ein Aktionismus der Ruhelosigkeit hat unsere Zeit erfasst. Damit aber wurden Ausschließlichkeitskriterien für die Erlangung des Personenstatus benannt, die sich bis in unsere Zeit hinein mit der Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben gehalten haben. In

90

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

den letzten Jahren hat sich dieses Denken mehr und mehr gesamtgesellschaftlich durchgesetzt und die Trennung von Mensch und Person - im Gefolge von John Locke - zu einem Allgemeingut ethischer Urteilsfindung etabliert. Und paradoxerweise spielt dabei der - inzwischen seiner christlichen Rückbindung entleerte - Personenbegriff eine Schlüsselrolle bei der Zerstörung des Gedankens, alle Menschen hätten im gegenseitigen Sinne aufgrund ihrer genealogischen Abstammung die gleichen Menschenrechte und unbedingten Anspruch auf Achtung. Heute wird die These vertreten, dass Menschen nicht als Menschen, sondern nur als Personen Rechte innehaben. Im Jahre 1984 vollzog David Parfit diese Tabuverletzung, indem er behauptete, dass kleine Kinder, schwer Debile, schlafende und bewusstlose Menschen keine Personen sind und es deswegen auch keinen Grund gibt, diesen Menschen einen Rechtsanspruch etwa auf Leben zuzugestehen. Und im gleichen Jahr behauptete Peter Singer, dass allein aufgrund der genealogischen Abstammung des Menschen sich kein Lebensrecht für den Menschen begründen lässt. Vielmehr sollte dieses nur solchen Wesen eingeräumt werden, die über bestimmte Eigenschaften und Qualitäten verfügen, nämlich über ein Ichbewusstsein und Rationalität. Embryonen, Kinder bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres, schwer geistig behinderte und alterschwachsinnige Menschen sind darum keine Personen und können prinzipiell zur Tötung freigegeben werden. Diese Denkform aber hat, so ihr nicht mit guten Argumenten widersprochen wird, auf die Länge der Zeit gesehen einen alles gesellschaftliche Leben verändernden Charakter, zumal dann, wenn sich in diese Überlegungen zur Benennung von Menschenrechten als Personenrechten auch noch ökonomische und finanzielle Gründe einmischen. Dann ist es nicht mehr weit zu der von Robert Spaemann geprägten Formel: „Töten ist billiger als Trösten.“ Es mag manchen Leser in diesem Zusammenhang durchaus die Frage durch den Kopf gehen, welche Bedeutung das Verschwinden der Person für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, für das unternehmerische oder das institutionelle Handeln hat, scheint doch auf den ersten Blick hier kein direkter Bezug erkennbar zu sein. Doch wer sich genauer auf bestimmte gesellschaftliche, institutionelle oder auch unternehmerische Handlungsweisen im allgemeinen Umgang mit Menschen einlässt, seien es Mitarbeiter, Angestellte oder auch Topmanager, der merkt sehr schnell, wie sehr dieses Denken vom Verschwinden der Person sich breit gemacht hat. Ein Blick etwa auf das Shareholder-Value-Modell mit seiner aktienbezogenen Orientierung zeigt deutlich auf, wie leicht und unbedarft hier nicht nur angestellte Menschen zu einer reinen Verfügungsmasse werden, die in ein rein ökonomisches Verhältnis zum Unternehmenswert gesetzt werden. Dem

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

91

entspricht dann auch die Praxis des Outsourcing von Wertschöpfungsaktivitäten auf Zulieferer, ohne dass dabei das Unternehmen seine Schlüsseltechnologien und Schlüsselkompetenzen aus der Hand gibt. Und zugleich lassen so manche Fusionen der jüngeren Wirtschaftsgeschichte die Frage aufkommen, inwiefern hier nicht das Eigenwohl der Verhandlungspartner höherrangig bewertet wurde als der Erhalt und das Befördern des eigenen Unternehmens. Wie dem auch immer sei, in vielen Feldern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns ist heute im Umgang mit Menschen das schleichend sich verbreiternde Verschwinden der Person festzustellen, dem dann etwa im Ernstfall der Entlassung (welcher nicht immer zu vermeiden ist) mit Sozialplänen funktionstheoretisch entsprochen wird. Das aber hat zur Folge, dass Menschen im wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Leben nicht mehr unter dem Aspekt der Würde und der damit verbundenen gegenseitigen Anerkennung als Personen in einem qualitätsfreien Raum einander begegnen, sondern primär unter dem Diktum des Unternehmens- oder Gesellschaftswertes plantechnisch verrechnet werden. Menschen werden also hier ihrerseits unter dem Begriff des Wertes für ein Unternehmen, für die Gesellschaft eingeordnet und dementsprechend verwaltet. Das aber führt zwangsläufig zu einem (Betriebs-)Klima des Misstrauens im öffentlichen Leben oder gegenüber den Geschäftsleitungen und Verantwortungsträgern. Und diese wiederum stehen vor der kaum lösbaren Aufgabe, ihre Macht und Kompetenzen in Ausgleich zu bringen zwischen dem Unternehmenswohl und dem Wohl der Allgemeinheit. Entscheidend in dieser Frage ist freilich, von welchem Menschenbild und von welchem Verantwortungsbegriff sich die jeweils Verantwortlichen in ihren Entscheidungen leiten lassen. Allein die Wiedergewinnung des Personenbegriffs ist hier der Schlüssel zur Bewahrung eines vernünftigen Handelns und Wirtschaftens.

6. 4. Zur Wiedergewinnung des Menschen als Person Von Heidegger stammt der schöne Satz: Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens. In diesem Sinne wollen wir gerne fromm sein und fragen, ob denn der Mensch als Person über den Denkweg der qualitativen Prädikate erschlossen werden kann. Und in der Tat scheint diese Bestimmung des Menschen als Person vor allem einem wirtschaftlichen Interesse entgegenzukommen, nämlich den Menschen im Zusammenhang mit seiner Leistung zu bewerten. Ohne Zweifel ist der Leistungsbegriff für gesellschaftliches oder wirtschaftliches Handeln unentbehrlich. Denn Arbeit und Leistung gehören untrennbar zusammen, ja müssen geradezu befördert und gefordert werden, denkt man vor allem an die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen

92

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

unserer Zeit. Damit aber ist noch nichts ausgesagt über den Maßstab, mit dem die Leistung erhoben wird. Kein Mensch gleicht dem anderen, wir alle sind voneinander und zueinander verschieden, etwa nach Herkunft, Geschlecht, Begabung, Fähigkeit, Intelligenz und Erscheinen. Deswegen aber gibt es auch keine einheitliche Leistung der Menschen. Im wirtschaftlichen Bereich hat man sich darum zur Beurteilung von Leistung auf den Maßstab der Erfüllung von vereinbarter Normleistung, Effizienz genannt, geeinigt. Soll jedoch wirtschaftliches als effizientes Handeln allgemein kommunizierbar sein, soll also der Maßstab der Leistungserhebung öffentlich und gesellschaftlich glaubhaft vermittelbar sein, dann muss die Leistungserhebung im Verhältnis stehen zu einer vorgegebenen Bestimmung des Menschen. Ist diese jedoch die qualitative Erfassung und Beschreibung des Menschen, kommt es zwangsläufig zu unterschiedlichen Wertungen und Werturteilen von Menschen über andere Menschen. Eine mögliche Folge davon ist dann etwa das Sortieren von Menschen nach Qualitäten und Fähigkeiten mit dem Ergebnis, dass bestimmte Menschen in ihrem Wert anderen Menschen vorgezogen und bevorzugt werden. Im wirtschaftlichen Leben kann auf diese Auswahl von Menschen nicht verzichtet werden. Denn wer etwa eine Führungsposition innehat, der muss sich von den anderen Menschen nach Kenntnis, Fähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Führungskraft und Bildung unterscheiden. Effizienz und Leistung solch einer Führungskraft sind als solche auf dem Hintergrund der unternehmensbedingten und unternehmensgeforderten Leistungsmerkmale zu beschreiben und zu erfassen. Solange sich diese Wertschätzung nicht auf das Ansehen im Sinne der Würde des Menschen richtet, ist dagegen nichts einzuwenden. Sobald aber diese Wertschätzung in eine Abwertung anderer Menschen in ihrer Würde mündet, wird eben der Mensch schnell zu einer sortierbaren Sache. Die Persönlichkeit des Menschen geht aber niemals allein in der ökonomischen Statustheorie der Leistung auf, sondern eine Persönlichkeit bildet sich immer im Verbund von privater Herkunft, menschlichen Bedingungen, gesamtgesellschaftlichem Kulturgefüge wie Bildung, ethischen Handlungsformen und eben auch den wirtschaftlichen Rahmengegebenheiten. Wird der Mensch nur über das qualitative Erfassen von Prädikaten wie etwa der vereinbarten Normleistung von Effizienz und Leistung als Person anerkannt, wird ersichtlich, dass jeder Mensch, auch jede Führungskraft, immer wieder seinen bzw. ihren Personenstatus verliert. Denn alle Menschen sind immer auch gebrochene Wesen, begehen Fehler, erliegen Irrtümern, sind niemals in der Lage, stets eine aktuale Rationalität lebensbezogen mit sich zu führen. Wer also dem Menschen über das qualitative Beschreiben von Prädikaten seinen Personenstatus zuerkennt oder abspricht, der schafft in

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

93

letzter Konsequenz auch den Menschen als je zu achtendes Wesen ab und versteht den Menschen nur noch als zu sortierendes Wesen, mit dem nach der jeweiligen Interessenlage beliebig zu verfahren sei. Und die hierbei persönliche Verantwortung der so Handelnden für dieses Geschehen wird schnell in eine Verfahrensfrage umgedeutet und mit Hilfe der funktionalistischen Betrachtung der Gesellschaft an das Sozialsystem delegiert. Das aber führt seinerseits zu einer Entpersönlichung und damit zu einer Entmenschlichung im gegenseitigen Umgang miteinander. Darum tut es mehr als Not, dass unsere Gesellschaft, unser öffentliches Leben, unsere Unternehmen, dass jeder Einzelne sich dem Verschwinden der Person als je vorfindbarer Mensch entgegenstellt und das christlich begründete Personenverständnis allen Menschen vorbehaltlos zuerkennt. Es ist wohl Immanuel Kant gewesen, der am deutlichsten die Gefahr der Trennung von Mensch und Person gesehen und gegen dieses Denken der angelsächsischen Philosophie Einspruch erhoben hat. Darum schreibt Kant schon im Jahre 1797: „Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann“ (Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, A 94). Und demgemäß formuliert Kant seinen praktischen Imperativ, also die Maxime, an der sich alles Handeln der Menschen auszurichten hat, folgendermaßen: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 66f.). Für Kant besteht demnach die Würde des Menschen darin, dass er in sich selbst einen eigenen Zweck hat, dass der Mensch also durch sich selbst, ohne Anspruch auf eine qualitative Prädikation, eine Würde besitzt, die im gegenseitigen Anerkennungsverhältnis der Menschen als Personen gesellschaftlich zum Tragen kommt. Für Kant ist es also ein Gebot der Vernunft, jedem Menschen den unantastbaren Personenstatus zuzuerkennen, und zwar ohne Bezugnahme auf seine je möglichen Qualitäten und Leistungen, und dies genauer deswegen, weil wir Menschen uns gegenseitig als Personen gegeben sind und dementsprechend in der gleichursprünglichen Unantastbarkeit einander zu begegnen haben. Die ethische Form und Handlungsmaxime dieser Begegnung ist die gegenseitige Anerkennung. Genau das aber beschreibt der Begriff der Person.

94

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

Der zweite große Denker, der in jüngster Zeit gegen die Trennung von Mensch und Person seine Stimme erhoben hat, ist der Philosoph Robert Spaemann. Er tut dies dezidiert aus einer christlichen Verantwortung heraus, weil er hierin die gedankliche Schärfe vorfindet, einer ethischen Instrumentalisierung der qualitativen Wertung von nur bestimmten Menschen als Personen zu wehren. Spaemann führt in seinem 1996 erschienen Buch „Personen“ sechs Gedankengänge an, welche die hochproblematische Trennung zwischen Mensch und Person nach qualitativen Prädikaten gedanklich zu widerlegen verstehen: 1. Jeder Mensch ist aufgrund seines genealogischen Zusammenhangs schon immer als ein Mensch zu erkennen, der in verwandtschaftlichen Grundbezügen von Müttern und Vätern zu Söhnen und Töchtern, von Großeltern zu Enkeln, von Geschwistern und entfernteren Verwandten nicht als nur biologisches Geschehen, sondern als gleichursprüngliches Beziehungswesen von vornherein anerkannt ist. 2. „Die Anerkennung als Person kann nicht die Reaktion auf das Vorliegen spezifisch personaler Eigenschaften sein, weil diese Eigenschaften überhaupt erst auftreten, wo ein Kind diejenige Zuwendung erfährt, die wir Personen entgegenbringen“ (ebd., 256). Darum behandelt jede Mutter oder jeder Vater das Kind von Anfang an nicht als zu manipulierenden Gegenstand, sondern als personales Gegenüber. Darum sprechen die Eltern zu dem Kind und haben dabei nicht das Bewusstsein, das Kind zu einer Person zu machen. Denn es gibt keinen gleitenden Übergang von „etwas“ zu „jemand“. 3. Bei dem Weg der unmittelbaren personalen Kommunikation setzen wir selbstverständlich das Vorliegen von Intentionalität voraus, können aber mit ähnlicher Sicherheit nicht über deren Nichtvorliegen entscheiden. Deshalb aber kann jeder Mensch - unabhängig von unserer Wahrnehmung - seine eigene Intentionalität und Handlungsrationalität haben und darum - nicht vor den Menschen, aber vor Gott - auf gleiche Weise verantwortlich sein, wie jeder „vernünftige“ Mensch. 4. Jeder Mensch, auch schwer Debile oder Säuglinge, ist immer mehr als die Summe seiner Prädikate, denn jeder Mensch hat seine Natur und ist nicht nur seine Natur. Denn die Liebe zu einem Menschen gilt nicht nur seinen Eigenschaften, sondern eben der Person, die hinter diesen Eigenschaften aufscheint. Das aber ist bei jedem Menschen so. 5. „Es gibt keine potentiellen Personen. Personen besitzen Fähigkeiten, Potenzen. Personen können sich entwickeln. Aber es kann sich nicht etwas zur Person entwickeln. Aus etwas wird nicht jemand“ (ebd., 261). Darum ist Personalität nicht das Ergebnis, sondern die charakteristische Struktur einer Entwicklung. Und diese Entwicklung können Personen verstehen, indem sie

Wege zur Wahrheit: Christliche Klarheit

95

sich selbst hierbei als zeitübergreifende Einheit begreifen. Diese Einheit ist aber die Person, die darum nicht in je aktuale Bewusstseinszustände versenkt sein kann. 6. Die Anerkennung des Personseins ist die Anerkennung eines unbedingten Anspruchs, und zwar deswegen, weil die Person kein Artbegriff ist, sondern die Weise, wie Individuen der Art „Mensch“ sind. Darum werden Personenrechte nicht verliehen oder nicht zuerkannt, sondern von einem jeden Menschen mit dem gleichen Recht in Anspruch genommen, weil jeder Mensch als geborenes Mitglied der Menschheit diesen Rechtsplatz von selbst innehat. „Darum können auch Anfang und Ende der Existenz der Person nicht getrennt werden vom Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Wenn „jemand“ existiert, dann hat er existiert, seit es diesen individuellen menschlichen Organismus gab, und er wird existieren, solange dieser Organismus lebendig ist. Das Sein der Person ist das Leben eines Menschen“ (ebd., 264). Für unseren Gedankengang ist es von großer Wichtigkeit, den untrennbaren Zusammenhang vom Sein der Person als das Leben des Menschen festzuhalten und auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben anzuwenden.

Kapitel V. Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik 1. Personenethik Mit der Personenethik betreten wir das Hauptfeld unserer Überlegungen. Wohl die Mehrzahl aller Lebensratgeber und Unternehmensethiken hingegen nimmt ihren Ausgang in ausgetreten Wegen des Denkens, die kaum zum Ziel einer lebbaren Gemeinschaft für eine Unternehmenskultur oder gar für das öffentliche Leben und die Gesellschaft führen. Verantwortliches Leben und Führen lässt sich auf den hergebrachten Denkwegen nicht mehr überzeugend formulieren, ersichtlich an den stetig neu vorgelegten Lebensund Handlungsratgebern oder dem wachsenden Markt von Coachingagenturen. Der erste Weg ist der der Subjektethik. Hier wird der Einzelne, das Individuum, als Subjekt aller ethischen Überlegungen betrachtet. Kerngedanke hierbei ist die Autonomie des Einzelnen, der sein Leben und Handeln selbstverantwortlich zu gestalten hat. Die Subjektethik nimmt ihren Ausgangspunkt in der Rede vom mündigen Menschen, der sich kraft seines Denkens zu allem, was ihm begegnet und widerfährt, selbst ins Verhältnis setzen kann. Auf diese Weise wird der Mensch zum alleinigen Subjekt, das alles andere und jeden anderen zum Objekt erklärt: In ethischer Perspektive werden die anderen Menschen zum Objekt, das man behandelt und einordnet. Und ebenso wird auch Gott zu einem Objekt, das behandelt, besänftigt, verehrt, missbraucht, für gerade abwesend erklärt oder auch geleugnet wird. In der Subjektethik wird der Mensch zum alleinigen Sinn- und Verantwortungsträger für Gott und die Welt, wird das Subjekt als höchste Form der Sinnstiftung und damit der Wahrheitserkenntnis ausgegeben. Eine wesentliche Folge hiervon ist die Entstehung der Postmoderne, also einer Gesellschafts- und Lebenssicht, die keine allgemein verbindlichen ethischen Einsichten anerkennt, sondern immer nur die jeweils spezifischen Interessenlagen von Individuen oder sich daraus firmierenden Gruppen als ethische Handlungsgröße gelten lassen kann. Das aber bringt eine Vereinsamung im Denken und Handeln mit sich, denn jedes Individuum kann es mit seinen individuellen Gründen auch immer anders machen als der andere, und das mit dem Recht der Freiheit des Subjekts. Es entsteht eine Situation des

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

97

unauflöslichen Widerstreits zwischen je gleichberechtigt erscheinenden Gerechtigkeitsansprüchen, wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard die Postmoderne beschrieben hat. Als Folge hiervon tritt dann eine allgemeine Lähmung und eine gesellschaftliche Lethargie ein, lassen sich doch mit dem postmodernen Subjektivismus keine lebenswelt- und zeitübergreifenden Verlässlichkeiten und gemeinschaftsstiftenden Verbindlichkeiten formulieren und finden. Als öffentliche Reaktion hierauf ertönt dann immer wieder der Ruf nach dem „starken Mann“, der sogleich mit dem Gegenruf nach multikultureller Toleranz beantwortet wird. Im wirtschaftlichen Denken versucht man seither dieser Individualismusfalle mit Hilfe der Programme der Corporate Identity, der Personalentwicklung und des Brandings zu entkommen. Die daraus resultierenden ethischen Schwierigkeiten wurden ja bereits erwähnt. Der andere Weg ist der der Kollektivethik. Hier steht nicht das Individuum, sondern das Kollektiv im Zentrum ethischen Denkens. Dieses Kollektiv wird nun mittels strukturell ansetzender Gesellschaftskritik untersucht und mit einem künstlichen Ideal einer besseren Gesellschaft utopisch konfrontiert. Darum erhebt diese Kollektivethik den Anspruch, durch Veränderung des Systems von Ökonomie und Gesellschaft eine bessere Welt hervorzubringen. Die bekannteste Variante dieser Denkform ist die sozialistische Theorie mit ihrem gesellschaftspolitischen und ökonomischen Anspruch: Der Einzelne soll insofern ethisch bedacht und gewürdigt werden, indem ein definiertes Gesamtwohl als Maß des ethischen Urteilens allen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zugrunde gelegt wird. Das aber zieht die Folge nach sich, dass eine bestimmte Führungsriege bestimmt, was für das Kollektiv, die Gesellschaft und die Wirtschaft gut oder schlecht sei. Der Ertrag hiervon ist, dass die Struktur des Gemeinwesens, die Struktur der Organisation von Politik und Ökonomie zugunsten einer Planbarkeit abgeändert wird. Ein Ergebnis hiervon ist eine allgemeine gesellschaftliche Lethargie. Der Grundfehler dieser Denkform besteht darin, dass über die strukturelle Veränderungsarbeit an Besitz und Kapital ein ethischer Wille vorgetragen wird, der vorgibt, das Allgemeine zu vertreten. In Wirklichkeit jedoch stellt dieser ethische Wille nur einen speziellen Willen dar, der nur beansprucht, ein allgemeiner Wille zu sein. Das aber ist ein Kennzeichen von totalitärem Denken. Hinzu kommt noch das Unvermögen der kollektiven Ethik, den Menschen in seinem Hang und Drang zum Besonderen ernst zu nehmen. Denn kein Mensch will in der Masse als einer unter vielen aufgehen, sondern jeder Mensch möchte doch in seiner Erscheinung als Besonderer wahrgenommen werden. Allein schon die Vielzahl unserer auch genutzten Kleidungsmöglichkeiten verdeutlicht dies auf einfache Weise. So nimmt es nicht Wunder, dass alle sozialisti-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

98

schen Gesellschafts- und Ökonomiemodelle samt und sonders in der geschichtlichen Wirklichkeit gescheitert sind. Diese Andeutungen mögen hier genügen. Das andere Modell von kollektiver Ethik ist unter dem Stichwort des Kommunitarismus bekannt geworden. In manchen politischen Konzepten der Gegenwart oder in unternehmensethischen Entwürfen wird diese Denkform gerne verwendet. Denn in den Führungsetagen der Unternehmen wird das Defizit sowohl der Subjektethik als auch der sozialistischen Kollektivethik gesehen, weswegen nun versucht wird, dieses Defizit an gemeinsamer Begründung von Werten durch eine kommunitaristisch geprägte Ethik auszugleichen, die sich in vielen Unternehmensleitbildern widerspiegeln. Die kommunitaristische Idee ist eine us-amerikanische Sozialphilosophie der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, welche die von Aristoteles kommende Erkenntnis fruchtbar zu machen sucht, dass der Mensch ein soziales und darum nicht singuläres Wesen, dass der Mensch also als Gemeinschaftswesen zu begreifen ist. Insofern kritisiert der Kommunitarismus in ethischer Perspektive sowohl die Vereinzelung und Vereinsamung des Menschen als auch die kollektivethische Entmündigung des Einzelnen. Der Kommunitarismus dient damit vordergründig der Erneuerung des Gemeinschaftsdenkens. Darum unterscheidet der Kommunitasismus auch zwischen dem Gemeinschaftsdenken und der Gesellschaft als Ganzes und versucht das Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen der sich pluralistisch ausdifferenzierenden (Dienstleistungs-) Gesellschaft zu befördern. Das hört sich zunächst einleuchtend an. Aber der Kommunitarismus kann nicht halten und einlösen, was er zu geben verspricht: einen gemeinschaftsstiftenden Geist. Die große Schwäche des Kommunitarismus ist es nämlich, dass er nicht in der Lage ist, das in einer pluralistischen Gesellschaft allen Gemeinsame an Recht und Gesetz, an Sprache, Religion und Kultur, an Sitten, Bräuchen und Traditionen, oft erkennbar an Sprichwörtern, gedanklich einzuholen und ethisch umzusetzen. Denn eben dieses Gemeinsame bildet die geistige und kulturelle Grundlage für die Entstehung und Ausdifferenzierung der verschiedenen Gemeinschaften innerhalb einer jeden Gesellschaft. Der Kommunitarismus verliert deswegen mit seiner Betonung der Selbstständigkeit der Gemeinschaft den Wurzelgrund aller Gemeinschaft aus den Augen, welches die Folge der künstlichen Lebenswelt von Gemeinschaften nach sich zieht. Damit aber lässt sich keine Gesellschaft ethisch gestalten. Und gerade darum ist der Kommunitarismus nicht in der Lage, das Verstehen der Wahrheit als gesellschaftsstiftendes Geschehen des gegenseitigen Vertrauens von Mensch zu Mensch gedanklich zu würdigen. Deshalb kann der Kommunitarismus die Menschen letztlich auch nicht als Personen denken. Der Kommunitarismus läuft Gefahr, seinerseits einer kollektiven Ato-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

99

misierung, einer postmodern verstandenen kollektiven Beliebigkeit das Wort zu reden. Von diesem Einwand kann sich auch keine kommunitaristisch orientierte Gesellschafts- oder Unternehmensführung dispensieren, denn jede Gesellschaft lebt und bewegt sich in einem gemeinsamen Kulturraum und Unternehmen manchmal sogar in mehreren. Darum kann der Kommunitarismus weder den eigenen Kulturraum, geschweige denn mehrere Kulturräume ethisch erschließen. Deswegen ist der Kommunitarismus letztlich auch nicht pluralitätsfähig, so gerne das seine Vertreter behaupten. Einen neuen und bisher kaum gedachten Denkweg zur Begründung und Durchführung von Ethik geht hingegen die Personenethik. Die Personenethik entgeht sowohl der Subjektfalle als auch dem Irrtum der Kollektivethik, denn die Personenethik setzt schlicht voraus, dass die Menschen in ethischen Fragen nicht Opfer äußerer, anonymer Mächte, Systeme und Strukturen oder subjektiver, psychischer Gegebenheiten oder auch begrenzt kultureller Sonderheiten sind. Vielmehr können Menschen als Personen in würdiger und reflexiver Freiheit sowohl ihr gemeinsames als auch ihr einzelnes Leben in gemeinschaftsstiftender Weise führen, indem sie über die richtige Denkordnung das Leben als Haltung und Handlung, als Muße und Leistung in gegenseitiger Verantwortung begreifen lernen. Denn es ist immer zuerst das Denken, welches das Handeln anleitet. Darum gestaltet das menschliche Denkvermögen die Systeme und Strukturen von Gesellschaft, Ökonomie und Gemeinschaft. Und dies gilt selbst für unsere inneren, psychischen Gegebenheiten. Allein dadurch, dass wir uns über unsere Sprache und die darin enthaltenen Begriffe hierzu ins Verhältnis setzen können, zeigt dies deutlich an. Denn über unser Denken und unsere Sprache gestalten und erschaffen wir unsere Welt, und zwar in jeder Beziehung. Wäre dem nicht so, könnten wir überhaupt nichts zur Sprache bringen. Weder Schmerzen noch Gefühle, weder Analysen noch Formeln, weder Abstraktes noch Konkretes, weder Richtiges noch Falsches könnten wir denkend durch die Sprache erschließen. Der Vorrang des Denkens gestaltet unsere Welt, und erst über die damit verbundenen Erfahrungen nehmen Systeme und Strukturen, innere, psychische Gegebenheiten ihrerseits Einfluss auf unser Denken. Wer aber den Vorrang der Systeme, Strukturen und der inneren, psychischen Gegebenheiten behautet, der schafft den denkenden Menschen ab. Und er tut dies, selbstentlarvend, mit denkerischen Mitteln. Die Personenethik erkennt nun den Menschen als schon immer in Gemeinschaft seiend an, und zwar grundlegend in der Gemeinschaft des Denkens und der Sprache. Während es Menschen als Individuen im Singular gibt, gibt es den Menschen als Person über das gegenseitige Anerkennungsverhältnis immer nur im Plural. Darum ist die Personenethik prinzipiell pluralitätsfreundlich. Gerade der Personenstatus, wie ihn die christliche

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

100

Theologie entdeckt hat, betont die Tatsache, dass der Mensch in einem nicht zu hintergehenden Beziehungsverhältnis sowohl zu Gott als auch zu allen anderen Menschen steht. Daraus erwächst in Anlehnung an Robert Spaemann die Einsicht, dass alle Menschen allein durch die Gnade Gottes mit allem anderen, was es gibt, auf eine tiefere Weise miteinander verbunden sind, als alles andere, was es gibt, untereinander verbunden sein kann (vgl. Spaemann, Personen, 12). Dieses Beziehungsverhältnis bezeichnet die Stärke der Personenethik. Darum ermöglicht die Personenethik auch eine Überwindung der Subjekt- und der Kollektivethik, ohne dass deren Grundfehler zum Tragen kommen: sowohl die widerstreitenden Interessenskonflikte der Subjektethik als auch die Entmündigung des Einzelnen durch die repressive Verfahrensweise der Kollektivethik. Denn in der Personenethik erlebt sich der Mensch als Person schon immer auch in einem Bildungszusammenhang von Sprache, Kultur und Religion gestellt, der ihm die gemeinsame Grundfrage nach dem Sinn des Lebens als Bildungsaufgabe stellt: Die Anschauung und Verehrung von Gott und seiner Wahrheit. Die Personenethik eröffnet auf diese Weise einen gemeinsamen und gleichursprünglichen Lebensraum für die Menschen. Darum trägt die Personenethik zur Ausformulierung von gemeinsamen Lebensvollzügen bei, aber dies stets auf eine je bewegliche und lebendige Weise, die den intelligenten Anspruch erhebt, keine methodisch anwendbaren Patentlösungen zu verkündigen. Vielmehr ist die Personenethik ein Weg der gegenseitigen Achtsamkeit, der das je Gute im Handeln sucht. Um dies zu erreichen, bedenkt die Personenethik zweierlei grundmenschliche Gegebenheiten: 1. Die Personenethik weiß, dass alle Personen auch gefährlich sind. Gefährlich sind sie deswegen, weil sie durch ihr Erscheinen mehr versprechen zu sein, als sie sind. Denn keine Person hält durch ihr Handeln, durch ihren Lebensvollzug das, was sie vorgibt zu sein. Darum verweist die Personenethik den Menschen als Person immer auf die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Lebensentwürfe. Dies aber hat einen entlastenden Effekt: Personen brauchen die gegenseitige Freiheit, sich selbst und den anderen niemals vollkommen ernstnehmen zu müssen. Denn einen Menschen vollkommen ernst zu nehmen, heißt ihn auf unmenschliche Weise zu überfordern. Diese Erkenntnis verbirgt sich hinter der fünften Vaterunserbitte: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. 2. Aufgrund der Gefährlichkeit des Menschen als Person stellt die Personenethik jeden Menschen in eine persönliche und nicht zu delegierende Verantwortung für sein Denken und Handeln. Keine Struktur, keine Sachlogik, keine wirtschaftliche oder politische Gegebenheit entbindet den Menschen als Person seiner Verantwortung. Denn es sind immer Personen, die diese Strukturen, diese Sachlogik, diese wirtschaftliche oder politische Ge-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

101

gebenheiten mit Leben und Handlungsformen prägen, gestalten und anwenden. Und es gibt kein ehernes, sachlogisches Gesetz, unter dem die persönlichen ethischen Entscheidungen zwangsweise gefällt werden müssten. Ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlicht dies: Wenn man aus einem Unternehmen oder einer Institution alle Personen entfernen würde, würden für dieses Unternehmen bzw. für diese Institution gar keine Entscheidungen mehr gefällt werden können, denn es hätte schlicht aufgehört, zu existieren. Sobald aber ein Unternehmen oder eine Institution besteht, sind darin Personen anwesend, die das Unternehmen bzw. die Institution gestalten oder auch führen. Also sind es immer die Personen, die Entscheidungen treffen und Handlungsweisen bestimmen. Wer aber entscheiden kann, der kann es auch immer anders. Die Personenethik weiß also um die Freiheitsoptionen in den Entscheidungen und thematisiert hierbei zugleich die je persönliche Eingebundenheit der Entscheidungsträger. Das aber stellt jede Person in eine persönliche Verantwortung, und hier gilt: Je höher die eigene Position mit Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten ist, je größer die eigenen Machtbefugnisse sind, desto höher und weitreichender ist die persönliche Verantwortung der Entscheidungsträger.

2. Grundelemente Führung im Geiste christlicher Personenethik hat darum ein bestimmtes Profil, das sich nicht durch ein methodisches Verfahren auszeichnet, sondern sich in der Beweglichkeit der richtigen Denkordnung beheimatet weiß. Denn jedes methodische Verfahren hat in Bezug auf die Begegnungswelt mit Menschen immer das Defizit, Menschen in ihrer Lebendigkeit und Freiheit nur unterbestimmt wahrzunehmen. Das Profil einer christlichen Führung zeichnet sich demgegenüber durch eine Denkbewegung aus, die sich in der Wahrheit Gottes erkennend gründet und dann daraus Grundelemente einer persönlich zu belebenden Führungshaltung hervorbringt, die sich in einem bestimmten Führungsstil niederschlagen. Und Führungsstil bedeutet, dass hierbei die jeweilige persönliche Note und Charakterstärke der Führungskraft zum Tragen kommt. Dieses geschieht aber niemals nach starren Formen, sondern immer in einer lebendigen Ausrichtung und Beweglichkeit, die aber zur Deutlichkeit rufen. Als Rahmengebilde hierfür ist dann die Umgangsform des Wohlwollens zu wählen, die ein Ausdruck eines ethisch reflektierten Handelns ist. Christliches Wohlwollen zeichnet sich darum in der Willenshaltung aus, den anderen wohlgesonnen und verlässlich, freundlich und verantwortungsbereit zu begegnen. Wohlwollen ist also die Prü-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

102

fung und Bewahrung eines guten Umgangs miteinander. Die Grundelemente hierfür sind das Gebot der Anerkennung, die Würdigung der Person als Leistungsträger, die Haltung der Verzeihung und die Kultur der Herzensbildung.

2. 1. Das Gebot der Anerkennung Alle Menschen leben davon, dass sie von anderen Menschen anerkannt werden, und dies auf zweifache Weise: einmal in Form der Anerkennung von persönlichen Leistungen und Fertigkeiten in geistiger sowie auch in praktischer Hinsicht, zum andern aber als Person selbst. Und jeder Mensch weiß um die Notwendigkeit der beiden Formen der Anerkennung, und zwar vor allem dann, wenn er diese nicht erfährt. Die Abwesenheit der Anerkennung verweist uns auf die lebensnotwendige und freie Form der Anwesenheit von Anerkennung: Lob und Auszeichnung, Achtung und Rücksichtnahme, aber auch Verzeihung und Nachsicht, schließlich auch Ruhm und Ehre sind keine funktionalen Gemeinschaftstechniken, die einfach methodisch und programmatisch bei Bedarf zu vollziehen sind. Denn dieses würde einer Sinnentleerung der Anerkennung gleichkommen, deren faden Geschmack jeder Mensch aufgrund seines Gestimmtseins zur Wahrheit hin intuitiv ablehnt. In der Redewendung: „Das sagst du nur so“ oder in der nüchternen Erkenntnis: „Das mussten sie halt machen“ kommt unsere Vorsicht gegenüber methodischen Anerkennungsformen zum Ausdruck. Anerkennung in den Formen von Lob und Auszeichnung, Achtung und Rücksichtnahme, Verzeihung und Nachsicht, Ruhm und Ehre ist vielmehr die grundlegende Art und Weise, in der und durch die Gemeinschaft zwischen Menschen lebensfreundlich und lebensdienlich begründet wird. Insofern ist Anerkennung nicht nur ein wahlweises und spezielles Geschehen, sondern eine ethische Grundhaltung des gesamten Lebensvollzuges, die in der Einsicht geschieht, dass eben alle Menschen Personen sind. Anerkennung ist der Schlüssel für jede Form von menschlicher Begegnung, so diese denn einen gelingenden Charakter haben soll. Darum ist es für jede Form menschlichen Handelns ein eindeutiges Kennzeichen von Bosheit, einen Menschen auf eine bloße Gegenständlichkeit von Qualitäten zu reduzieren. Denn dann wird jeder Mensch von einem „Jemand“ zu einem „Etwas“. Und mit einem „Etwas“ geht man eben sachlich um. Bis in unsere Alltagssprache hinein ist solch ein Geschehen inzwischen vernehmbar: Erkrankte Menschen werden in den Krankenhäusern nicht mehr als Patienten, also als leidende Personen, sondern als Kunden bezeichnet und ebenso geführt. Das aber ist eine sachliche Betrachtung eines kranken Menschen, die eben die-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

103

sem kranken Menschen seine Würde nimmt und darum als Person nicht gerecht werden kann. Aber nicht nur in unserer Alltagssprache ist solch eine anerkennungslose, versachlichte Form der menschlichen Begegnung feststellbar. Auch gerade im ökonomischen Bereich wird immer wieder das Gebot der Anerkennung unterlaufen zugunsten einer rein fiskalischen Betrachtung des ökonomischen Geschehens. Ein Unternehmen einzig als sachlichen Gegenstand etwa der Börsennotierung zu behandeln, ohne hierbei das Wohlergehen der Mitarbeiter vertrauensvoll und verantwortungsbewusst zu pflegen, ist solch ein Fall, der ethisch nur als Bosheit gewertet werde kann. Das Gleiche gilt, wenn etwa Schulen oder öffentliche Einrichtungen als Sozialagenturen betrachtet werden, die nur nach funktionstheoretischen Überlegungen in einem kybernetischen Sinne gesteuert werden müssen. Einen Menschen, wo immer er auch in Handlungsberührung mit öffentlich agierenden Einrichtungen oder auch Unternehmen kommt, auf den Status von dinghaften Qualitäten wie Leistung und Fertigkeiten, Zustand und Befindlichkeit zu reduzieren, über die nur gesprochen und verhandelt wird, ist - trotz aller gut gemeinten Intention - ein Fall von verweigerter Anerkennung, also ethisch als böse zu beurteilen. Darum ist jedes unternehmerische oder behördliche Handeln stets in Gefahr, seine Mitarbeiter oder Gesprächspartner primär unter dem Aspekt der Normleistung und der Optimierungspräferenz zu sehen, sofern nicht das ethisch verantwortete Handeln der gegenseitigen Anerkennung dem sinnvoll Einhalt gebietet. Zwar wird das Gebot der Anerkennung in unserem öffentlichen Leben oder auch im ökonomischen Bereich durchaus gesehen. Darum soll nun diese Anerkennung vielfach durch den Einsatz von sozialwissenschaftlichen Verfahrensweisen als Form des gegenseitigen Umgangs gewährleistet werden. Verbunden ist damit im Grunde die Hoffnung, das allgemeine Klima in einer Gemeinschaft oder auch in der Gesellschaft zu verbessern. Auf diese Weise aber wird gerade die ethisch gebotene und begründete Anerkennung sinnentleert, weil funktionalisiert. Denn das Grundproblem aller sozialwissenschaftlichen Verfahrensweisen ist es, dass diese den Menschen bzw. die Menschen behandeln, und zwar allermeist in der Perspektive der dritten Person, also als Objekt. Damit aber werden die Menschen ihres Personenstatus beraubt und werden auf diese Weise zu einer Masse von Mitarbeitern“. Im großindustriellen Bereich etwa zeigen die Begriffe wie „Human Ressource Headquarters“, als Bezeichnung der Führung, Betreuung und Fortbildung von Mitarbeitern, schon sprachlich diese funktionalistische Denkwelt an. Man lernt dann etwa mit bestimmten methodischen Verfahren das gemeinsame Miteinander zu gestalten. Gut aber ist dies nicht unbedingt. Denn kein Mensch erlebt sich selbst gerne als zu behandelnden Gegenstand, der nach bestimmten Mustern zu

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

104

funktionieren habe. Genau genommen bedeutet die alleinige Anwendung von sozialwissenschaftlichen Mustern etwa in unserem öffentlichen Leben (oder auch in der Personalführung von Großunternehmen) die Entpersonalisierung des menschlichen Miteinanders, und dies gilt unabhängig von dem durchaus Sinnvollen dieser Disziplinen wie etwa dem Aufspüren von bestimmten Kommunikationsmustern etc. Denn diese erklären nur vordergründig das Wie, nicht aber das Wesen der menschlichen Begegnung. Das Wesen der menschlichen Begegnung aber besteht in der fundamentalen gegenseitigen Anerkennung, und zwar deswegen, weil wir als Menschen uns untereinander nur als unseresgleichen begegnen können. Darum aber vollzieht sich Anerkennung im allgemeinen Rahmen über die redliche Höflichkeit. Redliche Höflichkeit und Anerkennung gehören untrennbar zusammen. Denn redliche Höflichkeit ist ein Ausdruck einer kulturorientierten Kreativität, die eine sinnvolle Distanz der Anerkennung darstellt. Darum lässt sich redliche Höflichkeit als distanzierte Anerkennung vielfältigen Lebensfeldern zuordnen: Sei es den „sprachlichen oder nichtsprachlichen Traditionen der Verwaltung, des Handels, des Verkehrs, der Politik, der Diplomatie, der Interessenvertretungen und Unternehmensorganisationen, der Religion, der Erziehung und der Schule, des Militärs, der wissenschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Diskurse, der Medien, zugleich aber auch der Alltagswelt familiärer und privater Beziehungen“ (Felderer/Macho, Höflichkeit, 7). Immer ist es das Gebot der Anerkennung, das all diese Felder über die redliche Höflichkeit als gelingende menschliche „Begegnungswelten“ etabliert. Allein schon der gesunde Menschenverstand lehrt uns das, wie etwa das bekannte Sprichwort belegt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Noch deutlicher wird das ethische Gebot der Anerkennung im Rahmen der sich allgemein vollziehenden Globalisierung. Was hier im Großen geschieht, scheint vordergründig in niemandes Verantwortung zu liegen und den Charakter des Naturwüchsigen anzunehmen, sofern mit der Globalisierung der Prozess der Ökonomisierung der Welt einhergeht. Dies aber fördert ebenso die Entpersonalisierung des ökonomischen Handelns und die funktionstechnische Erfassung der Begegnung zwischen den Handlungsträgern, weil man immer schnell bereit ist, diese hier feststellbaren Entwicklungen den Märkten entlastend zuzuschreiben. Aber das ist ein Trugschluß. Denn immer sind es Personen, die im Rahmen der Globalisierung handeln und Verträge abschließen. Und dies gilt selbstverständlich auch für alle anderen Handlungsfelder und Tätigkeitsbereiche: Immer sind es Personen, die hier Entscheidungen und Verabredungen treffen. Diese Entscheidungen und Verabredungen geschehen in keinem wertfreien, neutralen Raum, in keinem selbstwüchsigen Sachgebiet irgendwelcher ökonomischen Zwänge,

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

105

sondern immer innerhalb der Lebensräume von Menschen. Und jeder Topmanager oder Politiker teilt solche Lebensräume mit anderen Menschen, bewegt sich seinerseits als Person unter Personen. Und jede dieser Personen hat einen Namen, eine Anschrift, ein Heim und auch ein Bett. Darum ist jede Person auch verantwortlich für ihr Handeln anderen Personen gegenüber, und zwar in Grundform der gegenseitigen Anerkennung. Ohne diese reziproke Anerkennung kann kein Staat, keine Gesellschaft, kein System, kein Unternehmen auf Dauer existieren. Darum sind Personen die einzig sinnvollen Adressaten für ethisches Denken und Handeln. Personenethik ist darum der Schlüssel zur Gestaltung jeder Ethik. Und nur von der Personenethik her gesehen können dann des Weiteren andere Felder gesellschaftlichen Lebens ethisch erschlossen werden. Insofern ist eine „Extra-Ethik“ für bestimmte gesellschaftliche Lebensbereiche wie etwa die Medizinethik oder eine Unternehmensethik ein Unding, „es sei denn, man verstehe darunter einfach zusätzliche Auflagen an Redlichkeit und Wahrhaftigkeit“ (Spaemann, Natürliche Ziele, 228). Diese klare Erkenntnis verbirgt sich hinter dem ethischen Gebot der goldenen Regel Jesu aus der Bergpredigt: Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Matthäus 7, 12). Freilich haben großwirtschaftliche Optionen für den Einzelnen den Charakter eines unabwendbaren Geschicks, gegen das er nichts auszurichten vermag. Auch mancher Manager oder Politiker mag dies so empfinden. Aber niemand kann Menschen dazu zwingen, dieser Sichtweise zuzustimmen. Und wo diese Sichtweise nicht mehrheitlich geteilt wird, da verschwindet auf Dauer der Loyalitätsanspruch, den aber jede Art von (politischer) Führung und jedes Unternehmen notwendigerweise braucht. Dies gilt entsprechend im privaten Bereich ebenso. Im eintretenden Krisenfall wird das ersichtlich etwa an öffentlichen Protestkundgebungen eben gegen solche großwirtschaftlichen Optionen, an dem Entstehen von sogenannten NGOs (non-government-organisations) oder auch an der Entlassung von Topmanagern und Vorständen. Ein Großunternehmen kann beispielsweise seine Unternehmenspolitik allein dem Ziel verschreiben, in ökonomischer Hinsicht zu einem Weltunternehmen zu werden und dabei die Zustimmung aller Beteiligten stillschweigend voraussetzen. Fehlt hierzu aber der eindeutig nachvollziehbare - und auch kulturübergreifende - Wille aller Beteiligten, dieses auch zu wollen, so verliert dieses Unternehmen auf Dauer gesehen die Loyalität seiner Mitarbeiter und seiner Partner. Denn Willensbekundungen sind immer ein persönlicher Akt, der seinerseits notwendig auf Anerkennung angewiesen ist. Diese Art der globalisierten Entpersonalisierung verzichtet aber bewusst auf diese anerkennende Willensbekundung der vielen zugunsten der ökonomischen Interessensentscheidungen von weni-

106

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

gen. Terminologisch werden dann diese Interessensentscheidungen der wenigen als dem Wohl der vielen dienend dargestellt, meist verpackt in die Formulierung, ein modernes Unternehmen zu gestalten und dieses zukunftsfähig zu machen. Diese Interessensentscheidungen sind aber ein sehr spezieller Wille, die nicht für sich die anerkennende Willensbildung der vielen beanspruchen können. Manche mögen dies durchaus so wollen, und nicht einmal in böser Absicht. Aber man muss sich dabei klar vor Augen halten, dass dieses so gewonnene System nicht gleichbedeutend ist mit Legitimität. Im Gegenteil, dieses Vorgehen bringt die Legitimität eher zum Verschwinden, denn Legitimität ist eine personale Kategorie, durch die die Loyalität von Personen in Anspruch genommen wird. Dies aber gelingt wiederum nur, wo die Form der gegenseitigen Anerkennung als Personen auf allen Ebenen des Handelns gewahrt bleibt. Dass dem so ist, zeigt, wenn auch in sein Gegenteil verkehrt, das peinliche Phänomen des aufdringlichen personalisierten Vokabulars, das uns beinahe überall begegnet: So wird uns in der Werbung, auf Computern, bei der Inanspruchnahme von sogenannten „Dienstleistungen“ immer alles Gute gewünscht, selbst Gegenstände oder Wetterereignisse stellen sich uns als „Personen“ vor und verheißen uns eine persönliche Begegnung. Und unsere Kinder werden in dieser funktionstechnische Lesart von Leben und Welt „konditioniert“, indem sie darüber aufgeklärt werden, „daß Freundlichkeit, Güte, Rücksichtnahme, Interesse am Wohlergehen anderer, Dankbarkeit und ähnliche Haltungen vor allem Schmieröl sind für das Funktionieren von Abläufen, die mit der Beziehung zwischen Personen fast nichts zu tun haben“ (Spaemann, Personen, 207). Anerkennung bedeutet hier, in Anlehnung an Robert Spaemann formuliert, die Rückkehr zu einer sachlich korrekten Sprache, die wieder unterscheiden lernt zwischen Menschen als Personen und den uns umgebenden Gegenständen und darüber hinaus wieder deutlich kundtut, dass Menschen keine handhabbaren Gegenstände sind, die funktionstechnisch zu behandeln sind. Erst dann nämlich gewinnt das Lächeln und das freundliche Wort des Vorgesetzten oder des Mitarbeiters einem anderen Menschen gegenüber wieder seinen persönlichen Wert, und zwar auch dann, wenn diese Freundlichkeit letztlich der Behörde, der Einrichtung, der Firma selbst zugute kommt. Denn diese Freundlichkeit bleibt eben dann die - nicht antrainierte! - Freundlichkeit der freundlichen Person, gilt dem Gegenüber als Person und nicht der Behörde, der Einrichtung, der Firma, kommt aber auf diese natürliche Weise auch den genannten Größen zugute. Das aber wäre eine Begegnung von Mensch zu Mensch mit persönlichem Charme.

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

107

Anerkennung ist also die Wahrnehmung des Menschen als „Du“, als zweite Person, die somit in ihrem Personsein zum Tragen kommt. Diese Begegnung von Personen, grammatikalisch gesprochen in der zweiten Person sich ereignend, begründet die christliche Religion, indem diese als Grundform der menschlichen Begegnung - über die redliche Höflichkeit hinaus - den göttlich gestifteten Frieden anführt. Dies ist der tiefere Sinn des bekannten Weihnachtsevangeliums im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums. Frieden aber ist ein Reflexionsbegriff, also ein Begriff, der erst im Gegenüber zum Unfrieden verstehbar wird. Darum kann Frieden definiert werden als gegenseitige Anerkennung der unantastbaren Würde der Menschen und der Achtung und Bewahrung dessen, welches das Dasein der Menschen in gleichursprünglicher Gerechtigkeit gewährt. Deshalb ist das Ziel des persönlichen gegenseitigen Anerkennens der Frieden. Als grundlegende Form ethischen Handelns ist aus christlicher Perspektive somit die Haltung der gegenseitigen Anerkennung gegenüber jedermann angezeigt, und dies auf allen Ebenen des persönlichen und damit auch gesellschaftlichen Handelns, angefangen etwa vom Busfahrer oder Pförtner, vom Lehrer und Schüler, von der Putzfrau (die man heute euphemistisch Raumpflegerin nennt) bis hin zum Stadtbrandmeister und Oberbürgermeister, vom Vorstandsvorsitzenden und Aufsichtrat eines Unternehmens. Denn in einem sind diese Menschen alle gleich: Alle sind Personen, die kraft ihrer genealogischen Abstammung - christlich gesprochen: aufgrund ihres Geschaffenseins durch Gott - ihre Würde innehaben und nicht aufgrund ihrer qualitativen Prädikate. Dieses Anerkennungsverhältnis auf allen Ebenen der Gesellschaft durchdekliniert und in allen Arbeitsverhältnissen angewandt, würde jedes gesellschaftliche Leben klimatisch auf einfache - und zudem kostengünstige - Weise verbessern: Die Beachtung des Gebotes der gegenseitigen Anerkennung würde jedes gemeinschaftliche Leben dem Maß des lebensdienlichen Friedens zuführen und somit einen guten menschlichen Umgang im Miteinander befördern. Anerkennung bedeutet hier, dass man den Anderen als den Anderen leben lässt und nicht erwartet, dass der Andere mein eigener Doppelgänger wird, der dasselbe sagt und empfindet, was ich mir vorstelle. Und im Zweifelsfall bedeutet Anerkennung, den anderen in Frieden sein und ziehen zu lassen.

2. 2. Die Person als Leistungsträger Anerkennung ist die Voraussetzung für einen guten Umgang miteinander. Anerkennung bezieht sich, wie wir inzwischen wissen, grundlegend auf die Person an sich. Damit aber ist keiner Gleichgültigkeit im Bewerten des

108

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

Handelns, Tuns und Lassens von Personen das Wort gesprochen. Anerkennung redet keiner Egalisierung in Sachen von Handlungsfähigkeiten, Leistung und Fertigkeiten von Personen das Wort. Im Gegenteil: Gerade die fundamentale Achtung der Würde der Person im gegenseitigen Anerkennungsverhältnis eröffnet den notwendigen Spielraum zur Bewertung der Handlungen bzw. der Handlungsfähigkeiten von Personen, und zwar so, dass hier grundsätzlich unterschieden wird zwischen der Würde der Person und ihren Handlungen. Diese Unterscheidung zwischen Werk und Person ist der Kern aller evangelischen Ethik. Ist die Würde der Person nur über die qualitätsfreie Anerkennung zu gewinnen, so bedarf das Handeln und Tun der Person geradezu einer sittlichen Prüfung und einer qualitätsorientierten Bewertung im Sinne der Beurteilung und der Leistungsbemessung. Denn jeder Mensch ist mit seinen Begabungen und Fähigkeiten, so die christliche Interpretation, von Gott berufen, dem Wohl der Gesellschaft in ihren vielfältigen Systemen (mithin also auch dem Wohl des jeweiligen Unternehmens) nach Kräften zu dienen. Diese Vorstellung steckt, wie wir schon sahen, hinter dem allgemein gewordenen Begriff des Berufes. Darum ist der Mensch gehalten, sein Berufsleben in größtmöglicher Verantwortung zu gestalten. Insofern legt christliches Denken Wert auf die geistige Intelligenz und deren ökonomische Leistungen, ohne freilich bei deren Mangel die Würde des Menschen in Frage zu stellen. Darum müssen alle menschlichen, also auch alle ökonomische Leistungen, einen gesellschafterhaltenden Charakter haben, sofern diese Gesellschaft selbst keinen totalisierenden Tendenzen verpflichtet ist. Dementsprechend ist das Verstehen der Person als Leistungsträger auch eine klare Absage an all diejenigen Geisteshaltungen, Einstellungen und Arbeitshaltungen, die auf Kosten anderer unter Missachtung von Gerechtigkeit sich zu bereichern suchen. Leistung ist darum sowohl eine persönliche als auch eine gesellschaftsbezogene Größe, sofern diese sich letztlich an der Erhaltung und Bewahrung der Personengemeinschaft und der Welt als Schöpfung Gottes orientiert. Voraussetzung hierfür aber sind Zielvereinbarungen, die etwa im gesellschaftspolitischen oder auch im ökonomischen Diskurs mit Hilfe einer personenethischen Verantwortung zu formulieren sind. Dies gelingt unter folgenden Voraussetzungen: 1. Zielvereinbarungen müssen von einem, für alle Beteiligten einsehbaren Nutzen getragen sein. Nutzen aber benennt hier die überzeugende Gewinnung von Sachverhalten, die der gesellschaftspolitischen oder auch ökonomischen Beförderung von bestimmten Zwecken dienlich sind. Hierzu gehören Sachverstand, Urteilsfähigkeit, glaubwürdiges Auftreten der Akteure, Kommunikationsfähigkeit, der Erwerb von Wissen um die dem allen zugrunde liegenden Regelmäßigkeiten von Handlungssituationen (etwa die

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

109

Kenntnis der gesellschaftspolitischen Regeln oder auch im ökonomischen Bereich Kenntnis des innerbetrieblichen Kontextes) und die reflektierende Orientierung der gemeinsamen Entscheidung an diesem Wissen. Dieses Wissen muss nun seinerseits an den gesamt-gesellschaftlichen Verantwortungsbereich politischen oder auch unternehmerischen Handelns rückgebunden sein. Insofern kann Nutzen als Mittel für andere Zwecke erfasst werden. 2. Zielvereinbarungen gelingen nur, wenn der angestrebte Nutzen zugleich rückgebunden ist an eine ethische Ausweispflicht der Verantwortlichkeit für die Folgen der Handlungen der Zielvereinbarungen. Denn dadurch wird jede darin agierende Person selbst in die Pflicht genommen, die erkennbaren Wirkungen und absehbaren Folgen der Entscheidung sowohl gegenüber der Gesellschaft und den in ihr lebenden Menschen, gegenüber den Institutionen, Einrichtungen und Behörden, gegenüber dem Unternehmen etc. gegenüber sich selbst und gegenüber Gott mitverantwortlich zu gestalten. Ein Ergebnis hiervon ist die Minimierung der Betroffenheitskultur der guten Absicht. Diese wird meist dann bemüht, wenn man sich der ethischen Ausweispflicht wissentlich entzieht, weil man anstelle deren einem rein instrumentalisierten Methodismus oder auch Ökonomismus das Wort redet. Daraus aber leitet sich dann eine christliche Leistungstheorie ab, die Folgendes umfaßt: 1. Jede Leistungsbewertung muss formal danach ausgerichtet sein, die ethisch verantwortete Ausweispflicht jedes Einzelnen für sein Handeln zu verrechnen und zu bewerten. Jeder Agierende ist darum selbst bei seiner Mitverantwortung zur Erreichung der Zielvereinbarung - verstanden als Kulturauftrag - namhaft zu machen. Die Folge hiervon ist, dass dabei eine gemeinschaftliche (und unternehmerische) Verantwortungshaltung entsteht, und zwar auf allen Ebenen des persönlichen Handelns. Dementsprechend können auch Leistungen beurteilt werden. 2. Jede Leistungsanerkennung wird darüber hinaus auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen reflektiert, wobei es letztlich immer Aufgabe bleiben muss, diesen Nutzen in Richtung der Gesellschaft und der Selbstachtung der Personen zu suchen. Wird hierbei einer dieser Faktoren ausgeblendet und gegenüber den anderen ausgespielt, wird also das Gleichgewicht von Gesellschaft und Selbstachtung der Personen aufgegeben, dann kann nicht mehr vom Nutzen im eigentlichen Sinne die Rede sein. Das Ergebnis wäre eine unlautere Nutzenmaximierung zu Lasten der anderen Bereiche. Erst das Zusammenspiel von Leistungsbewertung und Leistungsanerkennung ermöglicht es, die Eigenverantwortlichkeit jeder Person im personalen Miteinander zu fordern und zu fördern. Darum aber muss jede Leistungser-

110

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

hebung bei der Willensbildung des Menschen für sein Handeln und seine Arbeitshaltung einsetzen. Und hierbei muss die Grundsatzfrage gestellt werden, was wir Menschen wirklich wollen, im Unterschied zu jedem vordergründigen, instrumentellen Wollen. So stellt sich für jede verantwortliche Person die Frage, wie in unserer Zeit des Vordringens des ökonomischen Denkens in vielerlei Lebensbereiche das Verhältnis von ökonomischen Notwendigkeiten (wie Produktion, Marktpositionierung des Unternehmens, innerbetriebliche Atmosphäre etc.) und einer reflektierten Ethik im Sinne einer Bewahrung der Personen willentlich gesteuert und gestaltet werden kann. Verliert dabei die Willenskonzeption die Bewahrung der Selbstachtung aus den Augen und übergeht zugleich die Achtung der anderen zu Lasten einer Instrumentalisierung der Menschen, so verwirkt diese Option die ethische Glaubwürdigkeit. Eine Folge davon ist das Schwinden des Vertrauens etwa in unsere politisch Verantwortlichen oder auch das Abnehmen der Achtung vor ökonomischen Führungskräften. Das aber kann, perspektivisch gesehen, kein Politiker oder Manager ernsthaft wollen, und zwar deswegen, weil mit dem Schwinden der allgemeinen Achtung vor seinem Berufsstand dessen gesellschaftliche und damit auch politische oder auch ökonomische Reputation verloren geht. Geht aber diese verloren, schwindet - auf die Länge der Zeit gesehen - auch das allgemeine Vertrauen in die öffentlich Agierenden. Ist hingegen die Willenskonzeption ethisch glaubwürdig ausgewiesen und somit allgemein kommunizierbar, werden Entscheidungen, Leistungsbewertungen und Leistungsanerkennung sowohl gesellschaftspolitisch als auch ökonomisch als nicht leichtfertig vollzogen wahrgenommen und daher respektiert, und zwar auch dann, wenn vordergründig gegen diese Entscheidungen um der political correctness willen polemisiert wird.

2. 3. Verzeihung Es mutet im Rahmen eines Buches über Persönlichkeit und Führung zunächst sonderbar an, sich dem Thema der Verzeihung zuzuwenden. Denn die Bedeutung der Verzeihung wird heute im kulturellen, gesellschaftlichen, politischen sowie auch im ökonomischen Leben eher marginalisiert. Stattdessen wird allgemein von Konfliktbewältigung als funktionstheoretischer Größe gesprochen. So werden etwa in manchen Schulen heute sogenannte „Streitschlichter“ methodisch unterrichtet und ausgebildet, um alltägliche Konflikte sinnvoll schlichten zu können. Zugrundgelegt werden hier dann Einsichten der Kommunikationstheorien, die anthropologische Vorgänge mittels Modellbildungen als biologische, psychologische und technische

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

111

Prozesse nach dem Vorbild von Systemen zu erklären suchen: Deswegen wird etwa in der Literatur für Manager auf Modelle menschlichen Konfliktverhaltens verwiesen, sei es auf das „Johari-Fenster“, auf die Maslowsche Bedürfnispyramide oder auf die Herzberg-Faktoren (vgl. etwa: Doppler/Lauterburg, Change Management, S. 374); immer werden hier scheinbar praktikable Formen der Konfliktlösung und des daraus gewonnenen, geklärten menschlichen Umgangs miteinander anvisiert. So weit, so gut. Doch unsere Erfahrungen, auch im Berufsleben, zeigen uns, dass Konflikte eine alltägliche Begleiterscheinung menschlichen Zusammenlebens sind. Und weiter lehrt uns ein wacher Blick in unser Alltagsleben, dass Konflikte immer eine personenbezogene Größe sind, die zwischen Personen und (kleineren) Gruppen sich ereignen, wobei hier immer das persönliche Erleben von Konflikten die entscheidende Deutungsgröße ist und bleibt. Konflikte können ihren Grund in sachlichen Differenzen und in persönlichen Meinungsverschiedenheiten haben, werden aber immer von Personen ausgetragen. Weil dem so ist, werden Konflikte oft ihrer sachlichen Deutungsebene und Ursache entkleidet und als persönliche Verletzung oder Kränkung erlebt. Noch problematischer ist es, wenn Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich primär keine sachliche Ursache haben, sondern einfach in der Art und Weise begründet sind, wie Personen einander begegnen und sich erleben, wenn man also, wie der Volksmund sagt, einander nicht „riechen“ kann. Die Grenzen der kommunikationstheoretischen Konfliktlösungen zeigen sich hier besonders: So sinnvoll bestimmte Formen der kommunikationstheoretischen Konfliktlösung auf der sachlichen Ebene auch sind, ihre Grenzen sind die persönlich erlebten Verletzungen und Kränkungen, die im äußersten Fall sich als Mobbing manifestieren. Denn persönliche Verletzungen und Kränkungen lassen sich nicht kommunikationstheoretisch und systemisch beseitigen, und zwar deswegen, weil hierbei das persönliche Erleben die Folie der Deutung von Verletzungen und Kränkungen ist. Und eben diese Deutungsgröße lässt sich nicht allein methodisch und rational handhaben, weil der Mensch immer auch von seiner Irrationalität in seinem Empfinden mitgeprägt ist. So sehr mir auch die kommunikationstheoretischen und systemischen Konflikterschließungen zusagen mögen, so sehr ist es doch eine Sache der Herzensbildung, diesen Deutungen zuzustimmen. Unser aktuelles Entscheiden und Handeln vollzieht sich nämlich nicht nur im Fokus unseres vernünftigen Bewusstseins, sondern auch durch das, was wir schon geworden sind, also durch das, was unser vernünftiges Bewusstsein auf der Folie unserer Bildungsgeschichte erreicht. Und diese umfaßt immer mehr als nur vernünftiges Einsehen. Damit aber ist eine Gleichsetzung von Wissen und Handeln, die in den Kommunikationstheorien stillschweigend vorausgesetzt wird, nicht ohne weite-

112

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

res gegeben. Jeder ehrliche Blick in unser Alltagsleben lehrt uns dies. Wenn dem doch so wäre, würde sich unser gesamtes öffentliches Leben, jedes Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft verständig und konfliktfrei ereignen. Denn es bedürfte nur einen hinreichenden öffentlichen Anwendung von humanwissenschaftlichem Wissen, um dies zu erreichen. Unsere Lebenswirklichkeit sieht aber anders aus. Wir erleben in uns selbst einen Riss, eine Nicht-Übereinstimmung von Wissen und Handeln. Theologisch gesprochen kommt dieser Riss zwischen Wissen und Handeln in der Rede von der Sünde des Menschen zum Ausdruck, philosophisch gesprochen in der Rede vom Gebrochensein des Menschen in sich selbst. Darum aber sind Verletzungen und Kränkungen immer auch ein Ausdruck menschlicher Gebrochenheit, theologisch gesprochen Ausdruck der menschlichen Sünde. Und deshalb lassen sich persönliche Verletzungen und Kränkungen auch nicht nach ihrer Berechtigung hin diskutieren, so sehr dennoch die Frage nach der Gerechtigkeit hierbei in Gedanken mitgeführt werden muss. Darum stellt sich hier die Frage, wie denn mit Verletzungen und Kränkungen gerechterweise umgegangen werden muss. Und die Antwort lautet: durch Anerkennung. Aus Konflikten hervorgegangene Verletzungen und Kränkungen anerkennen heißt, die verletzte(n) Person(en) durch Anteilnahme zu verstehen. Durch Anteilnahme zu verstehen bedeutet aber nicht, sich das Erleben des anderen zueigen zu machen. Es bedeutet aber, den anderen als Person aus sich selbst heraus wahrzunehmen und so ernst zu nehmen, ihm also dadurch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Einer anderen Person in Fragen von Verletzung und Kränkung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, heißt aber, ihr mit Herzensbildung zu begegnen, es heißt, sich ihr als Person zuzuwenden. Denn jeder Mensch kann erwarten, dass er als lebendiges Wesen wahrgenommen wird, das nicht behandelt, sondern anerkannt wird. Hier aber setzt die Verzeihung ein. Es ist der Philosoph Robert Spaemann, der diese Erkenntnis in Deutlichkeit zur Sprache gebracht hat (vgl. Glück und Wohlwollen, 239 – 254): Verzeihung beginnt mit der Einsicht, sich selbst im gleichberechtigten Gegenüber zum Anderen zu sehen. Und hierbei wünschen wir uns, unser Handeln zu Lasten anderer - und unser Leben vollzieht sich immer auch auf Kosten anderen Lebens - möge uns selbst als Person in den Augen der anderen nicht zu einem Widerpart oder gar zu einem Feind machen. Im redlichhöflichen Umgang miteinander vollziehen wir diese Erkenntnis, wenn wir etwa sagen: „Verzeihen Sie, darf ich...“, oder wir sagen in Begegnung mit anderen „Entschuldigen Sie bitte,...“. Mit dieser sprachlichen Höflichkeitsformel bringen wir nicht zum Ausdruck, dass wir unsere nachfolgende Handlung bereuen, sondern wir bekunden unser Bedauern, dass unser persönlicher Vorteil im Augenblick mit einem augenblicklichen Nachteil des

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

113

Anderen verbunden ist. Gerade dadurch aber erkennen wir den anderen Menschen an, indem wir ihn in höflicher Weise zur Seite bitten oder beiseite schieben. Und als Ergebnis kann hier dann meist wahrgenommen werden, dass der Andere mich gewähren lässt und mich seinerseits entschuldigt. Wird allerdings auf diese höfliche Verzeihungsformel verzichtet und statt dessen einem bloßen „Ich muss“ das Wort geredet, entsteht auf Seiten des Anderen schnell das Empfinden des Verdrängtwerdens, das meist ohne Entschuldigung durch den Anderen zur Kenntnis genommen und eben als unhöflich angesehen wird. Verärgerung kann dann die Folge sein. Wir erleben solche Situationen etwa, wenn wir uns in einer Schlange anstellen. Drängt sich jemand ohne Angabe von Gründen vor, empfinden wir dessen Verhalten als unhöflich und erheben dagegen auch Einspruch. Bittet aber jemand mit nachvollziehbaren Gründen um Vorlass, stimmen wir dieser Bitte in aller Regel zu. Auch hier sehen wir leicht ein, dass Höflichkeit die lebensnotwendige Form der Anerkennung ist. Und Inhalt der Anerkennung ist das Eröffnen der Haltung der Verzeihung. Verzeihung aber ist deswegen lebensnotwendig, weil kein Mensch hält, was er durch sein Wesen verspricht. Denn jeder Mensch ist in seiner natürlichen Endlichkeit, in seiner Begrenztheit, in seiner Gebrochenheit, theologisch gesprochen: in seiner Sünde, gefangen und kann den Anspruch seines persönlichen Glanzes und seiner Macht nicht gerecht einlösen, und zwar sowohl sich selbst als auch allen andern gegenüber. Jede noch so gut durchdachte kommunikationstheoretische Methode und Verfahrenweise kann genau dieses gegenseitige menschliche, leere Versprechen, eben die Sünde, nicht ausgleichen oder gar beheben. Verzeihung bezieht sich also darauf, dass wir sind, wie wir sind. Verzeihung bezieht sich auf unser Sein an sich. Das Thema Verzeihung beschreibt damit keine moralische Gegebenheit, weil eben auch Sünde, also unser leeres Versprechen als eigene Person, kein moralischer Standpunkt ist. Vielmehr liegt auf unser aller Leben ein äußerer Schein, um dessen Flüchtigkeit und Vergänglichkeit wir selbst am besten wissen. Warum? Weil wir immer in der Spannung leben zwischen unserem äußeren Schein als Wirklichkeit und unserem inneren Sein als zur Wahrheit Berufene. Denn da wir gegenseitig immer nur um den äußeren Schein wissen, überfordern wir uns gegenseitig, wenn wir den äußeren Schein als absolute Erscheinung eines Menschen identifizieren. Verzeihung im vormoralischen Sinne bedeutet dann, dieser Spannung gerecht zu werden. Was aber geschieht in der Verzeihung? Es geschieht die gegenseitige Anerkennung des Unterschieds zwischen Schein und Sein einer Person. Und genau das erlaubt dem Anderen, sich von seinem Handeln oder seiner Unterlassung zu distanzieren. Es erlaubt, dass der Andere sich selbst und den anderen gegenüber wieder in Freiheit begegnen kann, indem man den

114

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

Anderen nicht auf sein Handeln oder seine Unterlassung reduziert. Das freilich setzt voraus, dass dem Anderen jeweils sein Handeln oder Unterlassen zugerechnet werden kann, weil er sich eben genau darin selbst gezeigt hat. Verzeihung vollzieht sich nun darin, dass der Handelnde beim Sichtbarwerden des Unterschieds zwischen Schein und Sein sich nachträglich zurücknehmen kann, ohne jedoch die Verantwortung für seine Person, die dieses tun konnte, abzuschütteln. Andernfalls wäre Verzeihung nur ein schales Instrument des persönlichen Lebens sowie der öffentlichen Kultur. Daher ist Verzeihung ohne die verantwortete Übernahme von Schuld undenkbar. Wie sehr wir in unserem öffentlichen Leben dieses Gedankens entbehren, vernehmen wir alle, wenn eine öffentlich bekundete Entschuldigung zu einem leeren Sprachritual der political correctness geworden ist, ohne jegliche Bezugnahme auf das persönliche Leben der Betroffenen. Eine fade Unglaubwürdigkeit und ein Unbehagen durchzieht infolgedessen unser öffentliches Leben. Wirkliche Verzeihung eröffnet hingegen einen notwendigen Perspektivenwechsel: Was vom früheren Standpunkt als notwendig erachtet wurde, wird nun selbst als eigene Schuld anerkannt. Zwar kann jeder seine Schuld von sich weisen, kann sich auf die Verhältnisse, die Umstände und die Strukturen berufen. Wer dies aber tut, der nimmt sich selber in der Weise vollkommen ernst, dass er beansprucht, keinen Unterschied in sich selbst zwischen Schein und Sein vorzufinden. Das aber bedeutet, sich selbst seiner Freiheit zu berauben und sich selbst nur als lebendigen Organismus mit Selbstdetermination zu begreifen. Das aber wäre das Ende aller menschlichen Lebendigkeit und Begegnung. Wer hingegen seine Schuld einsieht, befördert gerade jene menschliche Lebendigkeit der Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Schein und Sein, ohne die wir gar nicht leben können. Diese Lebendigkeit zeigt sich dann darin, dass der Schuldige angewiesen ist auf die Verzeihung dessen, gegenüber dem er schuldig geworden ist. Und Verzeihung wird dadurch erlebbar, indem man die eigene Schuld als wirkliche anerkennt. Schuld aber wirklich anerkennen heißt, diese überwinden zu wollen. Das aber geht nur mit fremder Hilfe. Und diese fremde Hilfe besteht darin, dass dem Schuldigen vom Schuldhalter verziehen wird. Wirkliche Verzeihung bejaht das Wesen des Anderen in seiner Spannung zwischen Schein und Sein und stellt ihn damit in seiner Humanität wieder her. Wirkliche Verzeihung eröffnet dem Schuldigen die Möglichkeit, angesichts seiner Schuld sein Gesicht wahren zu können. Verzeihung enthält sogar ein Moment der Entschuldigung des Anderen, indem man wohlwollend unterstellt: „Er wollte im Grunde nicht, was er tat.“ Und wir selbst beteuern, beim Einsehen der eigenen Schuld: „Das habe ich nicht gewollt.“ Freilich ist dieses entschuldigende Nichtwollen in einem zweifachen Sinne zu verstehen: Einmal nach der Art, dass das beteuerte Nichtwol-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

115

len der endlichen Natürlichkeit jedes Menschen zugerechnet und dadurch entschuldigt wird. Zum anderen aber, dass der Schuldige sein verfehltes Nichtwollen zugleich in innerer Einsicht als Schuld anerkennt und um Verzeihung bittet. Da aber immer der Mensch als endliches Wesen andere Menschen als ebenso endliche Wesen um Verzeihung bittet, gibt es kein Recht des Menschen, diese Verzeihung zu verwehren. Wer aber die erbetene Verzeihung verwehrt, stellt sich selbst außerhalb der Menschengemeinschaft und verdient die Zurechtweisung. Denn wir alle leben in gleicher Weise von einem geborgten Glanz, den wir niemals vollkommen einzulösen vermögen. In der Sprache des Vaterunsers ausgedrückt: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Verzeihung ist darum die Voraussetzung für jegliche Konfliktlösung und eine unabdingbare kulturelle Bedingung für ein gelingendes Zusammenleben.

2. 4. Herzensbildung Wer eine Ethik der Personen nicht nur theoretisch erschließen, sondern auch im Zusammenhang seines Lebens praktisch werden lassen will, der bedarf hierzu vor allem der Herzensbildung. Dieses Wort mag pathetisch klingen und manchem Leser gar antiquiert vorkommen, aber es umschreibt in treffender Weise das Auftreten und Erleben einer Persönlichkeit in ihrem Gegenüber zu anderen Menschen. Herzensbildung beschreibt in prägnanter Art den menschengemäßen Modus eines anerkennenden, erwachsenen Umgangs im Miteinander, kurz gesagt: Herzensbildung ist ein Vermögen von Führung. Denn Herzensbildung versteht es von sich aus, in den vielfältigen Abläufen einer Führungsfunktion, etwa bei Besprechungen, bei Planungsund Konzeptionssitzungen, bei Konferenzen, bei Verhandlungen und auch bei Anweisungen, das rechte, menschengemäße Maß im Umgang miteinander zu wahren. Darum zeichnet Herzensbildung eine Führungspersönlichkeit aus. Und Führungspersönlichkeiten mit Herzensbildung gestalten eine Lebenswelt, in der man gerne als Person anwesend ist und arbeitet. Rechte Herzensbildung trägt sogar eine Persönlichkeit, weil in der Herzensbildung die Kultur der Seele, des Denkens und des Empfindens des Menschen zur Wirklichkeit drängt. Gerade in unserer mehr und mehr technisch, ökonomisch, medial und strukturell stark geprägten Welt ist es für das menschliche Miteinander naheliegend, wieder die Herzensbildung zu entdecken. Diese ist aber ohne die christliche Tradition kaum fassbar. Denn der Aufstieg des Wortes „Bildung“ in unserem Kulturraum verdankt sich der biblischen Vorstellung, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Der Mensch aber trägt dieses Ebenbild Gottes in seinem „Herzen“,

116

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

das er, gemäß seiner potentiellen Möglichkeiten, zu befördern hat. Im Wort Herzensbildung steckt also das Bild vom Wesen des Menschen, das hinter seinem Schein als Wirklichkeit sein Sein zur Wahrheit vernimmt. Herzensbildung ist also auf das Werden des Menschen bezogen, es entspricht somit einem inneren Wachsen des Menschen nach Seele, Denken und Empfinden. Herzensbildung kennt also - im Unterschied zu allen technischen Fertigkeiten und methodischen Kenntnissen der Humanwissenschaften - keine außerhalb ihrer gelegenen Ziele. Darum kann Herzensbildung auch nicht bewirkt und herbeigeführt werden etwa durch Anreicherung von Wissen und Kenntnisse von Prozessabläufen. Sie kann nicht einmal eigentlich Ziel und gewollt sein, genauso wenig wie menschliches Wachstum durch unseren Willen zu beeinflussen ist (vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 17). Eben darin übersteigt die Herzensbildung die bloßen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse. In der Herzensbildung wird nämlich das, woran und wodurch eine Person gebildet wird, wie etwa Lebens- und Berufserfahrung, ihr selbst ganz zu eigen gemacht. Aber in der Herzensbildung wird dieses Aufgenommene seiner Funktionalität entkleidet und mit der Seele, dem Denken und dem Empfinden in Einklang gebracht. Dadurch aber wird ein achtsamer Umgangston gefunden, der Wissen und Kenntnisse als das erkennt, was sie sind: gedankliche Hilfsmittel zur Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit. Herzensbildung manifestiert sich also in der Aufbewahrung von Erkanntem, Gewusstem, Erfahrenem und Erlebtem, und zwar in der Weise, dass der Mensch in der Herzensbildung eine Verlängerung seiner eigener Natur vernimmt. Wie kann das gedacht werden? Herzensbildung vermag den Menschen in die Lage zu versetzen, von sich als konkreter Person Abstand zu gewinnen und sich zum Erkennen der Allgemeinheit menschlichen Lebens zu erheben. „Es ist das allgemeine Wesen der menschlichen Bildung, sich zu einem allgemeinen geistigen Wesen zu machen. Wer sich der Partikularität überlässt, ist ungebildet, z. B. wer seinem blinden Zorn ohne Maß und Verhältnis nachgibt“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, 18). Wer ohne Herzensbildung lebt, dem fehlt im Grunde die Abstraktionskraft: Er nimmt sich und seine öffentliche Stellung und Reputation als Maß für das Allgemeine, begeht das, was man einen induktiven Fehlschluss nennt, und wird deswegen von den anderen als herzlos, unnachgiebig und als kalter Rationalist wahrgenommen. Um dieser Einschätzung freilich zu entgehen, bezeichnen sich dann solche Menschen lieber als „Pragmatiker“. Aber in Wahrheit ist dies nur ein Vertuschen fehlender Herzensbildung. Vorhandene Herzensbildung aber versteht dem zu wehren, selbst dann, wenn harte gesellschaftspolitische Entscheidungen, z.B. zur Erhaltung von Arbeitsplätzen, getroffen werden oder auch schwierige private Anliegen entschieden werden müssen. Denn Herzensbildung - als Kultur

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

117

der Seele, des Denkens und des Empfindens - vollzieht sich in der Erhebung zur Allgemeinheit und ist deswegen eine menschliche Aufgabe, der sich kein verantwortlicher Mensch entziehen soll. Dieser menschlichen Aufgabe darf sich auch keine Führungsperson verschließen, will sie denn nicht nur ihrer Macht wegen anerkannt werden. Diese menschliche Aufgabe vollzieht sich beispielsweise konkret in der Hemmung der Begierde, etwa der absoluten Geld- und Kapitalvermehrung zulasten des allgemein Menschlichen der gegenseitigen Anerkennung. Vielmehr fördert die Herzensbildung die Haltung der Besonnenheit, die sich nicht nur im beruflichen Handeln dadurch auszeichnet, dass man gegenüber dem einzelnen Geschäft auch noch offen bleibt für die Betrachtung und Einbeziehung von notwendig anderen Geschäften und Verhältnissen bis hin zum Bedenken der konkreten Handlungsfolgen für die Allgemeinheit. Herzensbildung zeigt sich im Beruf und Leben dadurch, dass man seinen Beruf und seine Aufgabe nach allen seinen Seiten hin ausfüllt. Und dies schließt ein, dass ich bereit bin, das mir Fremde mit mir selbst zu versöhnen, indem ich mich selbst zu beschränken weiß. Darum ist Herzensbildung eben ein allgemeiner und gemeinschaftlicher Sinn. Diesen gemeinschaftlichen Sinn findet jeder Einzelne in der Sprache, in den Gewissheitsüberlieferungen und in den Einrichtungen seiner Herkunft als Volk vor. Und zu dieser Herkunft gehört eben auch die jeweilige Religion des eigenen Kulturraums. Darum tut es Not, dass jede in Verantwortung stehende Person wieder die Dimension ihrer geschichtlichen Herkunft wiederentdeckt. Denn diese Herkunft bereitet den Weg zur Herzensbildung, sofern diese Herkunft des Menschen natürliche, egoistische Zentralität aufhebt zugunsten einer Welt- und Lebenserschließung nach gebildeter Sprache und Sitte. Es ist vor allem der Philosoph Hegel gewesen, der hier betont hat, dass in dieser Herkunftsorientierung ein Volk sich sein Dasein und seine Unverwechselbarkeit geben hat. Anders formuliert: Zukunft braucht Herkunft. Als ethische Konkretion erwächst aus dem Gesagten die Haltung des Taktes im gegenseitigen Umgang. Mit Gadamer kann Takt definiert werden als „eine bestimmte Empfindlichkeit und Empfindungsfähigkeit für Situationen und das Verhalten in ihnen, für die wir kein Wissen aus allgemeinen Prinzipien besitzen“ (Wahrheit und Methode, 22). Einwände, Widersprüche oder berechtigte Hinweise kann man taktvoll sagen. Das aber bedeutet auch, dass man manchmal, aufgrund der Herzensbildung, sogar einen berechtigten Hinweis taktvoll übergeht und eben ungesagt lässt. Denn taktlos ist es, das auszusprechen und zu benennen, was man nur übergehen kann. Taktlos ist es, einen anderen bloßzustellen, so dass er sein Gesicht verliert. Taktlos ist derjenige, der nur den Augenblick vor Augen hat und sich in dieser vermeintlichen Zentralität des Augenblicks verliert. Etwas taktvoll zu überge-

118

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

hen heißt aber nicht, von etwas wegzusehen und es als belanglos abzutun. Es heißt, es so ins Auge zu nehmen, dass man daran keinen Anstoß zulasten der anderen Person nimmt, sondern daran vorbeikommt. Taktvoll einander zu begegnen bedeutet daher, zu anderen, ungeschickt sich benehmenden Personen so Abstand zu halten, dass das Anstößige vermieden und auf diese Weise die Würde des anderen geschützt wird. Die Haltung des Taktes eröffnet daher dem Anderen die Möglichkeit, sein Gesicht wahren zu können und sich weiterhin anerkanntermaßen in der Öffentlichkeit bewegen zu können.

3. Persönlichkeit Im öffentlichen Diskurs ist es üblich geworden, von allen Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, in Bildung und Verwaltung, in Ökonomie und in den Institutionen eine ausgewiesene Sozialkompetenz zu verlangen. Dahinter verbirgt sich die Einsicht, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und bleiben wird. Und so verwundert es auch nicht, dass es eine reichhaltige Fachliteratur zur Sozialkompetenz gibt, die dem interessierten Leser ein methodisch erschlossenes Kompendium hierzu anbietet. Sozialkompetenz wird heute gar als Schlüsselkompetenz für nahezu alle öffentlichkeitsrelevanten Bereiche ausgegeben. Sei es in der Schule und der Sozialarbeit, sei es im Rettungswesen und der Medizin, sei es im universitären Bereich und in der Forschung, sei es in der Verwaltung und der Exekutive, sei es in der Unternehmensführung und der Managerausbildung: Sozialkompetenz ist ein vielversprechender Schlüsselbegriff geworden, der alle wichtigen Bereiche von Gesellschaft und Leben menschlich besser zu erschließen verheißt. Der Begriff Sozialkompetenz will also die zeitgemäße Rolle von verantwortlichen Personen in verschiedensten Positionen beschreiben. Und diese Personen sollen in der Lage sein, Vertrauen aufzubauen, Teambildungsprozesse zu befördern, Kommunikations- und Feedbacksysteme zu etablieren, Konfliktfähigkeit und Souveränität zu beweisen, kurz: Die verantwortlichen Personen sollen dazu beitragen, dass ihre Einrichtung, ihr Unternehmen, ihre Behörde etc. mit und durch ihre Person zu einer lernenden Organisation wird. Vorausgesetzt wird hier stillschweigend die Machbarkeit von Sozialkompetenz und Führungsverhalten. In der Tat ist es nicht in Abrede zu stellen, dass durch Übernahme bestimmter Formen von humanwissenschaftlichen Kenntnissen sozialrelevantes Handeln befördert werden kann. Aber diese Übernahme bringt noch keine Sozialkompetenz hervor. Denn erst eine Persönlichkeit, verstanden als gebildetgeistige Größe, hat die Kraft in sich,

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

119

Sozialkompetenz in öffentlicher Verantwortung zu leben. Das Problem hierbei aber ist, dass eine Persönlichkeit nicht zu machen ist, sondern gleichsam als Person durch Erfahrung und Einsicht heranwächst, ganz so, wie es sich bei der Herzensbildung verhält. Ein untrügliches Kennzeichen einer Persönlichkeit ist somit deren Reife im gebildeten Sinne. Reife ist das gewachsene, gelingende Selbstverhältnis zwischen gewinnendem äußeren Erscheinen und Handeln einerseits und inneren Beweggründen andererseits als Ausdruck von Herzensbildung. Genau dieser Persönlichkeiten bedarf es aber in unserem öffentlichen Leben, um Führen und Leiten in verantwortlichen Positionen wohlgeraten sich vollziehen zu lassen. Daher ist Sozialkompetenz ein Handlungsergebnis einer Persönlichkeit und nicht ihre Voraussetzung. Darum wird im Folgenden ein Blick auf notwendige geistige Einstellungen und Einsichten geworfen, die eine Persönlichkeit auszeichnen, aber eben nicht machen. Die Rede ist von den Tugenden. Erst die Tugenden zeichnen eine Persönlichkeit im personenethischen Sinne aus und qualifizieren somit eine Person zur Führung und Verantwortungsübernahme. Erst die Tugenden führen zu sozialkompetentem Handeln.

3. 1. Vom Wesen der Tugend Tugend fängt mit der einfachen Erkenntnis an, dass es kein richtiges Leben im Falschen gibt. So wie es nicht möglich ist, auf der Grundlage von falschen Erkenntnissen eine wahrhaftige Verständigung zu beginnen und fortzusetzen, so ist es auch nicht möglich, aufgrund falscher Einstellungen Richtiges auszuführen. Nicht nur jede Führungspersönlichkeit, sondern jeder Mensch hat in dieser Situation sich der Pflicht zu unterziehen, sich korrigieren zu lassen bzw. den Anderen zu verbessern. Darum macht es keinen Sinn, eine Person, die in ihren Ausführungen von falschen Erkenntnissen oder Einstellungen ausgeht, ihre Position bis zum Ende ausführen zu lassen, weil man, wie sie sagt, erst am Ende erkenne, worauf sie hinauswolle. Warum ist das so? Einfach deswegen, weil unabhängig vom Zusammenhang jeder Satz als wahrheitsfähige Einheit der Aussage zu verstehen sein muss. Nur unter dieser Voraussetzung ist allererst wahrheitsfähige Verständigung möglich. Wir alle spüren diese unabdingbare Voraussetzung für eine wahrheitsfähige Kommunikation, wenn wir jemanden als Schwätzer oder als geschickt taktierenden Verhandlungspartner erleben und nicht recht glauben können, was wir da hören. Denn oft wird viel gesprochen, ohne dass dabei Wahrhaftiges mitgeteilt wird. Werte aber, so sahen wir bereits, erfüllen nicht unbedingt diese Voraussetzung einer wahrheitsfähigen Verständigung.

120

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

Was aber für unser Reden, Sprechen, Argumentieren und Darstellen gilt, das gilt ebenso für unsere Haltung zum Beruf, dem Unternehmen, dem Arbeitgeber, dem Verhandlungspartner gegenüber, bis hin zu unserem ganz persönlichen Leben in seinen Beziehungen. Nur wenn wir hier der Haltung der Wahrhaftigkeit verpflichtet sind, werden wir eine Stimmigkeit in unseren Handlungen erreichen und erleben, die uns glaubwürdig macht. Genau hier aber setzt die Tugend an. Denn Tugend ist die willentlich eingeübte Kultur, die aus der Herzensbildung kommt. Tugend kann nicht trennen und unterscheiden zwischen privatem und öffentlichem Handeln. Tugend ist also eine Einstellung zu einem vernünftigen Leben und Handeln. Und vernünftiges Handeln besteht im Erschlossensein des gemeinsamen Lebens. Damit aber fängt Tugend mit der erkennenden Liebe zur Wahrheit an. Tugend wird also von der gemeinsamen Vernunft geleitet, und Vernunft wiederum von der Wahrheit. Darum versetzt die Tugend eine in Verantwortung stehende Person - wie jeden anderen wahrheitsliebenden Menschen auch - in den Stand, selbstständig vernünftig zu handeln und gegenüber anderen als eigenständige Persönlichkeit in Erscheinung zu treten. Wer mit der Haltung der Tugend als gewollter Ordnung der Herzensbildung sein Handeln einübt, der gewinnt einen Horizont für sein Handeln, der über den je aktualen Zustand und über das je punktuelle Entscheiden hinausgreift. Diese Horizonterweiterung umfaßt prinzipiell die Situation aller Personen, insbesondere die der in Verantwortung stehenden Personen, und zwar im Verhältnis zur Gesellschaft, Politik, Kultur und Religion. So verstanden, ist die Haltung der Tugend die Basis für jegliche Form eines guten Zusammenlebens auf allen Feldern des öffentlichen und privaten Lebens. Tugend ist also ein Schlüsselbund einer reflektierten sozialen Praxis. Dieser Schlüsselbund aber lässt sich in verschiedene Einzelschlüssel aufgliedern, die allesamt einander gegenseitig ergänzen und bedingen.

3. 2. Zeit als Aufmerksamkeit Jede Person ist in die Zeit gestellt. Und zwar jeder auf die gleiche Weise. Abgesehen von der je unterschiedlichen Länge der Lebenszeit teilen alle Personen das gleiche Maß an Zeit. Keiner hat mehr oder weniger Zeit als der andere. Und dennoch erleben wir unsere Zeit sehr unterschiedlich, und nicht nur manche Führungsperson fühlt sich von dem Schwinden und Vergehen der Zeit elementar bedrängt. Termine sind einzuhalten, und immer wieder müssen Entscheidungen schnell getroffen werden. Obwohl kein Mensch sich selber beschleunigen oder seine Zeit irgendwie überholen kann - wir leben immer in der fließenden Gegenwart -, treibt uns die schnell-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

121

lebige Zeit durch die Zeit. Auf diese Weise wird unsere eigene Zeitlichkeit oftmals unwirklich, denn wir heutigen Menschen glauben an die Herrschaft der Zeit. Zeit wird infolgedessen als wesentlich bestimmender Faktor des gesellschaftlichen und vor allem des ökonomischen Lebens angesehen, ersichtlich an dem Sprichwort: „Zeit ist Geld“. Kurz: Wir leben heute im Zeitalter der Chronokratie: Wir leben nicht mehr in und mit der Zeit, sondern die Zeit beherrscht uns und bestimmt unser Leben und Handeln. In dieser Hinsicht haben sich die meisten Menschen in unserer Gesellschaft in zunehmendem Maße der Tyrannei der Zeit unterworfen. Zurecht stellt darum der Mathematiker Gerald J. Whitrow fest: „Die Uhr...ist die maßgebende Maschine für das moderne Industriezeitalter“ (Die Erfindung der Zeit, 250). Bis in unser Alltagsleben hinein beherrscht uns diese Zeitmessung durch die Uhr: Wir stehen nach der Uhr auf, wir essen vielfach nach der Uhr, wir gehen nach der Zeitangabe durch die Uhr schlafen, selbst unser eigener Todeszeitpunkt wird auf unserer Sterbeurkunde einst genau festgehalten werden. Darum lässt sich uneingeschränkt festhalten, dass unsere moderne Industriegesellschaft und die darin arbeitenden Menschen in einem Maße von der Zeit abhängen, wie dies bisher keine andere Form von Gesellschaft je erlebt hat. Als positiver Faktor hat sich darum in unserer Gesellschaft die Erwartungshaltung der Pünktlichkeit herausgebildet. Und es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass die Haltung der Pünktlichkeit zu einer der unabdingbaren Voraussetzungen gehört, ohne die unsere moderne Gesellschaft nicht funktionieren kann. Denn nur bei der Einhaltung von Pünktlichkeit können in unserer schnelllebigen Zeit verlässliche Absprachen und Handlungsregelungen so getroffen werden, dass ein geordnetes Miteinander sowohl von sachlichen als auch von persönlichen Gegebenheiten gewährleistet ist. Persönliche Pünktlichkeit ist in der Tat eine wesentliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung eines gelingenden Ablaufes von Organisation in Gesellschaft und Ökonomie. Pünktlichkeit gehört in unserer Industriegesellschaft notwendig zum rechten Umgang mit der Zeit. Jede Führungskraft weiß das. Zugleich aber wissen wir alle, dass diese selbstgemachte Zeitherrschaft uns Menschen nicht gerecht wird, denn wir Menschen sind und bleiben langsame Wesen. Wie sehr wir dieses sind, spüren wir alle daran, dass wir schlicht den Schlaf zur Erholung brauchen, dass wir Ruhepausen benötigen, um, wie wir als Tribut an die Schnelllebigkeit sagen, „abschalten“ zu können. Ein geschichtliches Ergebnis unserer menschlichen Langsamkeit ist die Freizeit, die wir als Entlastung für unsere Arbeitszeit gesamt-gesellschaftlich hervorgebracht und etabliert haben. Aber selbst hier erleben wir mitunter die Herrschaft der Zeit als bedrückend. Darum stellt sich die Frage: Wie kommen wir zu einem gelingenden Umgang mit der Zeit, der nicht nur von Pünkt-

122

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

lichkeit und Schnelligkeit gekennzeichnet ist? Wie finden wir einen menschengemäßen Umgang mit der Zeit, der der Langsamkeit von uns Menschen gerecht wird, ohne dass dadurch alles zeitlos auseinanderstrebt? In dem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny wird über die zu entdeckende Kunst der Langsamkeit im Umgang mit der Zeit und ihrer Wirklichkeit so gesprochen, dass hierin ein menschfreundliches Prinzip entdeckt und anempfohlen wird, um der Schnelllebigkeit und dem Gehetztsein des modernen Menschen entfliehen zu können. Die Grundthese dieses Romans lautet, dass der Langsame mehr sieht und dem Leben in der Zeit gerechter wird, weil er durch die Langsamkeit näher und tiefer an der ihn umgebenden und widerfahrenden Wirklichkeit Anteil hat als der Schnelle. An diesem Roman wird letztlich die philosophische Einsicht ersichtlich, dass die Zeit eine Erfindung des Menschen ist. Denn das einzige, was wir Menschen in Bezug auf die Zeit verlässlich feststellen können, ist das Fließen und die Bewegung des Lebens. Diesem Fließen und Bewegen, dem Wechsel zwischen hell und dunkel, zwischen Tag und Nacht, haben die Menschen im Laufe ihrer Geschichte eine bestimmte Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sich als Zeitmessung kulturgeschichtlich niedergeschlagen hat. Der Umgang mit der Zeit ist darum vor allem eine Frage der Aufmerksamkeit. Von Augustin stammt das bekannte Wort zum Thema Zeit: „Denn was ist ‚Zeit’? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde als ‚Zeit’? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen anderen aussprechen hören. Was ist also ‚Zeit’? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, daß es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre“ (Bekenntnisse, 11. Buch, 14 -15). Mit Aufmerksamkeit und mit nachdenkender Ruhe, so können wir unsere Überlegungen zur Zeit weiterführen, gelangt man dahin, als was Zeit begriffen werden kann: Zeit ist diejenige Hülle unseres vergehenden und fließenden Lebens, die uns über unser Gestimmtsein zur Wahrheit hin zum bleibenden Sein, zur zeitlosen Gegenwart eines stehenden Jetzt hinführt und unsere Existenz im wahrsten Sinne des Wortes bekleidet. Diese „Bekleidung“ unserer Existenz durch und mit der Zeit wird jedem Menschen immer dann besonders deutlich, wenn er gegen die Zeit kämpft. Denn dann wird dem Menschen seine Zeitgebundenheit klar, indem er sich unter Zeitdruck leicht als überlastet und verloren erlebt. Und umgekehrt wird die Hülle der

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

123

Zeit für unser Leben im guten Sinne erfahrbar, wenn wir uns selbst als stimmig mit unserem Zeiterleben erfahren, wenn wir also im Vergehen unserer Zeit unserer selbst sicher sind. Die konkrete Form hierfür, für die Zeit als Hülle unseres Lebens, ist die Zeitlichkeit. Und unsere Zeitlichkeit besteht nun darin, sich immer wieder bewusst zu werden, dass wir selbst vergehen. Die christliche Lebenskunst begreift darum unsere Zeitlichkeit als ein Aus-Sein und ein Ausgerichtetsein des Menschen auf Teilhabe an Gottes Lebendigkeit. Insofern ist unsere Zeitlichkeit ein Ausdruck des Glaubens, der über die Modi der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft hinaus das Maß der Zeit nicht mehr von den Menschen, sondern von Gott her nimmt. Der konkreteste, alltägliche Ausdruck hierfür ist darum die Haltung der persönlichen Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit gegenüber allem Lebendigen und vor allem gegenüber den anderen Menschen. Denn in der Begegnung mit der Lebendigkeit anderer Menschen kann sich die eigene Zeit als Zeitlichkeit zur erfüllten Zeit wandeln. Man redet dann gern von den Sternstunden des Lebens. Erfüllte Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass darin der Sinn des Lebens aufleuchtet. Deswegen ist es gerade für Personen in Führungspositionen ratsam, aufmerksam in der Begegnung und im Umgang mit anderen Menschen zu sein. Aufmerksam zu sein bedeutet, sich zu gegebener Zeit eben Zeit in der Begegnung mit anderen Menschen zu nehmen, also dem langsamen Wesen des Menschen gerecht zu werden. Sich Zeit zu nehmen heißt hierbei, einen zeitbegrenzten Begegnungsraum zu eröffnen, der die je eigene Zeitlichkeit mit der Zeitlichkeit des anderen teilt. Auf diese Weise nimmt man sich gegenseitig als Person wahr und ernst. Sich Zeit zu nehmen bedeutet aber zugleich auch, eine klar strukturierte berufliche Zeitkultur einzuüben, die sich dadurch unterscheidet, je Wichtiges vom Unwichtigen trennen zu können. Ein Ergebnis hiervon ist dann das Auffinden der Haltung der Gelassenheit, also der Kunst, im Rahmen der je eigenen Zeitlichkeit sich einzufinden. Dieses sich Einfinden in die eigene Zeitlichkeit deutet die Theologie als Sich-Aufgehoben- und Sich-Bewahrt-Wissen in der gestimmten Teilhabe an Gottes Lebendigkeit. So nämlich wandelt sich die Zeit zu einer wirklichen Hülle, in der wir Menschen uns getrost unserer Vergänglichkeit bewusst werden können. Darum sind Gelassenheit, Aufmerksamkeit und eine klare Zeitstruktur ein Kennzeichen des christlichen Glaubens, der einer menschengemäßen Zeitkultur das Wort redet. Zur Verdeutlichung dieser gelassenen Zeitkultur mögen die nachfolgenden Worte von Jesus Christus dienen: „Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen

124

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Felde so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Matthäus 6, 25-34). Ein ruhendes, befriedetes Jetzt, so kann man den Text zusammenfassen, ist das Ergebnis der Tugend einer aufmerksamen Zeitkultur. Mit dieser Haltung verliert man sich nicht in der Zeit, auch wenn die schnelle Zeit einen umgibt. Vielmehr findet man im Rahmen seiner erkannten Zeitlichkeit den ruhenden Pol in unserer Chronokratie. Jede Person, darum auch jede Person in Führungsposition, bedarf darum notwendigerweise der Pflege der aufmerksamen Zeitkultur, andernfalls wird sie von der Chronokratie vor sich hergetrieben.

3. 3. Ehrlichkeit Ehrlichkeit bezieht sich grundlegend auf das gesamte Handeln und Verhalten des Menschen. Ehrlichkeit betont das Ideal der Stimmigkeit zwischen meinen inneren Einstellungen und meinen nach außen gerichteten Redeweisen und Handlungen. Zwar muss kein Mensch immer alles sagen, was er denkt und empfindet - Gott sei Dank! Unsere Gedanken sind frei. Aber sobald ich mit anderen Menschen handelnd zu tun habe, sie also im Gegenüber zu meinen Worten und Handlungen zum Stehen kommen, bin ich zur Ehrlichkeit verpflichtet, und zwar auf taktvolle Weise. Taktvolle Ehrlichkeit besteht in der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit von Reden, Erklärungen und Stellungnahmen. Ehrlichkeit ist ein untrügliches Kennzeichen eines guten Lebens- und Führungsstils. Denn Ehrlichkeit befördert das Vertrauen sowohl in die Führungsperson als auch das wirklichkeitsnahe Einschätzen von gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen oder anderen Gegebenheiten

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

125

und Rahmenbedingungen aller davon Betroffenen. Ehrlichkeit führt somit in die Redlichkeit. Bis in unsere Alltagssprache hinein haben wir dieses Verständnis von Ehrlichkeit bewahrt, indem wir etwa von einer „ehrlichen Haut“, oder von einem „ehrlichen Kerl“ reden, und zwar anerkennend. Ehrlichkeit ist somit eine Tugend, die immer eingeübt und - im wahrsten Sinne des Wortes - beherzigt sein will, will jemand eine anerkannte und geachtete Führungspersönlichkeit sein. Umgekehrt gilt: Ein Mensch, der unehrlich anderen gegenüber ist, der also selbst nicht glaubt, was er sagt, verzichtet bewusst auf die Bildung seiner Persönlichkeit und wird, auf Dauer gesehen, als eine täuschende Erscheinung eines Menschen wahrgenommen, also als unglaubwürdig und nicht vertrauenswürdig. Diese Haltung wird in der Bibel als erstes Verbrechen des Menschen beschrieben. Nicht, wie wir gerne meinen, der erste Mord von Kain an Abel (vgl. 1. Mose 4), sondern die erste Unehrlichkeit von Adam und Eva wird als Haltung beschrieben, welche die Gemeinschaft zerstört: „Und die Frau sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten sich Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten. Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du sollst nicht davon essen? Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugestellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, so daß ich aß. ...Da wies Gott der Herr den Menschen aus dem Garten Eden...“ (1. Mose 3, 6-13, 23a). Diese Erzählung benennt die einfache Wahrheit, dass Unehrlichkeit sowohl die Gemeinschaft der Menschen untereinander als auch mit Gott tief gefährdet und die Folge nach sich zieht, dass der Mensch seinen verlässlichen geistigen Rahmen verliert. Darum ist Ehrlichkeit mehr als die immer wieder geforderte Authentizität einer Person oder einer Führungspersönlichkeit. Denn auch eine Person, die es sich zu einer möglichen Form der Orientierung gemacht hat, aus taktischen oder auch diplomatischen Gründen unehrlich zu sein, ist in dieser Haltung mit sich selbst authentisch. Ehrlichkeit hingegen bewirkt von selbst Vertrauen, redliche Authentizität und

126

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

Klarheit in der Begegnung von Menschen untereinander. Und nicht zuletzt ist Ehrlichkeit auch die Haltung, die den Glauben des Menschen an Gott auszeichnet.

3. 4. Besonnenheit Besonnenheit setzt ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst voraus. Mit der Besonnenheit entwickelt der Mensch die Einsicht, dass wir Menschen sowohl Natur sind als auch Natur haben. Diese Unterscheidung entfaltet sich in der christlichen Rede, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist. Diese Unterscheidung vollzieht sich auf zweierlei Weise: Einmal im Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Wir Menschen sind Natur, eingebunden in unsere natürlichen Gegebenheiten wie Geschlecht, Größe, Begabung, Naturanlagen und Zeitlichkeit. Doch niemand geht in diesen natürlichen Gegebenheiten vollkommen auf. Denn wir alle haben die einzuübende Fähigkeit, uns zu unseren natürlichen Gegebenheiten ins Verhältnis setzen zu können. Darum ist jeder Mensch ein potentielles Wesen. Und diese Potentialität eröffnet jedem Menschen eine gewisse Form des freien Handelns. Wenn jemand etwa wütend ist, ist er nicht genötigt, seiner Wut freien Lauf zu lassen, sofern er um den Unterschied zwischen Natursein und Naturhaben weiß. Er kann besonnen handeln und aus seiner ursprünglich natürlichen Zentralität heraustreten. Dass dies nicht immer gelingt, entkräftigt nicht die Tugend der Besonnenheit, vielmehr bestärkt oft das Erleben von ausgelebter Wut und Rücksichtslosigkeit gerade die Einsicht in die Vorzüglichkeit der Besonnenheit. Besonnenheit zeichnet sich also im Selbstverhältnis des Menschen dadurch aus, dass er sich, wie man sagt, „in den Griff bekommt“ und aus einer ausgewogenen Mitte heraus lebt. Im Sinne von Herder kann darum Besonnenheit beschrieben werden als einzuübende, menschliche Verfassung, mit der eine jede Persönlichkeit - wie jeder Mensch - sich festgelegter und unmittelbarer Reaktionen auf die Umwelt enthalten und aus ihr deswegen vernünftig redend und denkend heraustreten kann. Besonnenheit betont also das Naturhaben gegenüber dem Natursein des Menschen. Und das Naturhaben wird in der Besonnenheit als das in Wahrheit Vorzugswürdige erkannt und willentlich angestrebt. Schon Sokrates hat hierauf eindrücklich hingewiesen. Alle Kulturleistungen oder technischen Errungenschaften wären ohne diese Besonnenheit der einsichtig handgehabten Differenz zwischen Natursein und Naturhaben des Menschen nicht denkbar. Darum lebt jede Führungspersönlichkeit auch von der Pflege der Besonnenheit, und diese Pflege sollte zu einer Tugend heranwachsen. Zum anderen zeigt sich die Besonnenheit auch konkret im Rahmen führen-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

127

der Verantwortlichkeit. Dieses kann dann als gut bezeichnet werden, wenn sie auch vom Maß der Besonnenheit geleitet wird. Hier zeigt sich die Besonnenheit einer Persönlichkeit darin, dass sie zu unterscheiden weiß zwischen den reinen (z.B. ökonomischen) Sachverhalten und den allgemein menschlich gegebenen Lebensvollzügen. Besonnenheit wägt hier die Achtung vor diesen Lebensvollzügen mit den sachlogisch einleuchtenden (z.B. ökonomischen) Gegebenheiten ab, die diesen Lebensvollzügen mitunter entgegenstehen. So ist es etwa ein Kennzeichen der Besonnenheit einer Unternehmensführung, für eine gute und angenehme Arbeitsatmosphäre innerhalb des Unternehmens Sorge zu tragen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wird in einem Unternehmen bisher den Mitarbeitern eine kostenlos gewährte Frühstückssemmel angeboten, zeugt es von Besonnenheit, diese atmosphärische Wohltat nicht abzuschaffen, auch wenn vordergründig ökonomische Interessen dagegen stehen. Wird dies dennoch getan, wandelt sich unter der Hand das Betriebsklima zum Schlechteren hin, und es verbreitet sich die Stimmung des „früher war alles besser bei uns“. Das aber führt zu einer inneren Emigration der Mitarbeiter und minimiert deren Freude an der Arbeit, für jedes Unternehmen eine schlechte Situation, die sich letztlich auch ökonomisch nicht rechnet. Denn jedes Unternehmen ist nicht nur ein sachlogischer Verbund von Menschen, sondern ist immer auch eine atmosphärische Größe des Zusammenlebens. Besonnenheit würdigt eben diese Atmosphäre in einem Unternehmen und befördert diese zum Guten hin, und zwar deswegen, weil es immer Menschen in ihrer Würde, christlich gesprochen, Menschen als Geschöpfe Gottes sind, die darin arbeiten. Denn Besonnenheit fördert und pflegt sowohl die eigene Potentialität als auch die der anderen Personen. Geschöpf Gottes zu sein heißt dementsprechend auch, sich seiner eigenen Potentialität des Lebens nach Kräften bewusst zu werden und diese dementsprechend zu pflegen. Darum weiß die Besonnenheit auch um die menschlich gegebenen Unterschiede wie Geschlecht, Begabung und Leistungsfähigkeit und würdigt diese auch in der Beförderung eines guten atmosphärischen Miteinanders.

3. 5. Tapferkeit Es ist ungewöhnlich geworden, von der Tugend der Tapferkeit zu reden, wird diese doch meist dem körperlichen oder gar kriegerischen Kampf zugeordnet. Doch die Tugend der Tapferkeit beschreibt vielmehr das Vermögen des Menschen, sich selbst als geistiges Wesen in Ehrlichkeit und Besonnenheit gegenüber anderen treu bleiben zu können. Insofern ist Tap-

128

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

ferkeit das beherzte und vernünftig geordnete innere Sich-Aufstellen und Sich-Behaupten angesichts von ernsthaften Widerständen und Widersprüchen gegenüber den eigenen Überzeugungen. Diese Haltung hat immer einen öffentlichkeitsbezogenen Charakter. Denn es ist keinem Menschen möglich, auf Dauer gegen seine innersten Überzeugungen zu leben und sich öffentlich anders darzustellen, als man selbst empfindet. Tapferkeit ist also das positive, charakterstarke Auftreten einer Person und ist darum ohne Disziplin nicht denkbar. Gerade das Zusammenspiel von Tapferkeit und Disziplin befördert die Durchsetzungsfähigkeit eines Menschen, wobei Durchsetzungsfähigkeit nicht mit unreflektierter Machtausübung verwechselt werden darf. Denn Tapferkeit und Disziplin ebnen den Weg, aus der Fülle der Entscheidungsmöglichkeiten das Machbare zu erkennen und in Wirklichkeit zu überführen. Darum ist Tapferkeit das Gegenteil vom Wankelmut bzw. vom angepassten Leben, das unter keinen Umständen irgendwie auffallen will. Wer die Tugend der Tapferkeit nicht pflegt, der hängt, wie man sagt, seine Fahne nach dem Wind und ist eine Person ohne Rückgrat und aalglatt. Und intuitiv werden solche Menschen als nicht vertrauenswürdig angesehen, und zwar deswegen, weil Menschen ohne Tapferkeit als willfährige und benutzbare Personen wahrgenommen werden. Darum ist Tapferkeit auch das Vermögen, sich in begründeten und erwogenen Widerspruch zu anvisierten oder gar getroffenen Entscheidungen innerhalb der Unternehmensführung oder einer Institution zu stellen. Eine Person ohne Tapferkeit ist letztlich nicht durchsetzungsfähig und zur Führung ungeeignet. Führungsverhalten ist somit ohne die Tugend der Tapferkeit nicht denkbar. Freilich kommt Tapferkeit nicht ohne ein kluges und abwägendes Nachdenken aus. Wandelt sich doch ein tapferes Auftreten ohne dieses kluge Nachdenken und reflektierende Einschätzen schnell entweder in blinde Tollkühnheit und Halsstarrigkeit oder in Blindheit für de facto Gegebenes. So etwa, wenn man sich vom Kosten- und Zeitdruck dazu bringen lässt, wider besseres Wissen Entscheidungen zu fällen und Handlungsweisen anzukündigen, die so nicht umsetzbar sind. Das öffentliche Agieren im Zusammenhang der Mauterhebung für Lastkraftwagen auf den bundesdeutschen Autobahnen im Jahre 2003 wäre solch ein Beispiel für eine vermeintliche Tapferkeit. In unserem heutigen Sprachgebrauch wird wahrhaftige Tapferkeit auch mit dem seit dem 19. Jahrhundert üblichen Begriff der Zivilcourage umschrieben. Gemeint ist damit nicht nur die Übereinkunft von Überzeugungen als handlungsleitendes Geschehen, sondern auch die Beschreibung eines inneren Aktes von Freiheit, der seine Begründung in der ethischen Verantwortung für das Gemeinwohl findet. Tapferkeit und Freiheit sind aufeinander verwiesen. Denn Freiheit ist immer eine reflexive Größe, die

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

129

erstens abhebt auf die Negation von etwas und zweitens hinführt zu einer Position. So ist jemand etwa frei von Angst und darum mutig genug, sich selbst zu positionieren. Frei von Angst zu sein bedeutet, sich seiner selbst sicher zu sein, also nicht Gefahr zu laufen, sich selbst und seine Überzeugungen zu verlieren. Wer nicht frei von Angst ist, der ist wohl kaum in der Lage, sich selbst als Person zu positionieren, und darum wenig geeignet, Führungspositionen innerhalb einer Organisation zu übernehmen. Nur wer die Größe besitzt, in nachdenklicher Freiheit sich selbst als Person klar zum Vorschein zu bringen, so dass man weiß, mit wem man es konkret zu tun hat, hat das charakterliche Vermögen einer Führungskraft. Die Tugend der Tapferkeit ist darum eine unabdingbare Voraussetzung, als Führungspersönlichkeit wahrgenommen und geachtet zu werden. Das aber trifft auch auf das allgemeine Leben zu. Gerade unser öffentliches Leben in seiner pluralen Lebensform bedarf des Auftretens von tapferen Personen, die mit Zivilcourage Situationen zu klären suchen, in denen offensichtlich Unrecht begangen und der Gerechtigkeit zuwidergehandelt wird. Hier ist die Tugend der Tapferkeit die einzig wegweisende Haltung, der allgemein zu beobachtenden Tendenz der „inneren Emigration“, der Teilnahmslosigkeit, dem bewussten Wegschauen zu wehren. Darum aber verweist die Tugend der Tapferkeit zugleich auf die Haltung der Gerechtigkeit.

3. 6. Gerechtigkeit Richtiges Leben zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass es der Wirklichkeit gerecht wird. Die bisher aufgezählten Tugenden sollen den Menschen zu der Reife gelangen lassen, sich in der Haltung der Wahrhaftigkeit gegenüber der Wirklichkeit zu bewähren, also selbst handelnd aufzutreten und nicht durch die Umstände, die Verhältnisse und ökonomischen Rahmenbedingungen „gelebt zu werden“. Darum bedeutet der Wirklichkeit gerecht zu werden, seine eigenen und die fremden Interessen und Wünsche zu objektivieren. Dies aber können wir nur, indem wir sowohl uns als auch die Anderen allgemeinen Maßstäben unterstellen. Denn erst dadurch können wir uns über unsere und auch andere, konkurrierende Interessen und Wünsche verständigen. Denn die Wirklichkeit, der wir gerecht zu werden haben, besteht in erster Linie aus Menschen und dem nachgeordnet erst aus sachlichen Gegebenheiten und Strukturen. Werden doch Gegebenheiten und Strukturen ausschließlich von Menschen als solche erkannt, benannt und nach Kräften bestimmt. Diese Erkenntnis verbirgt sich hinter der Erzählung des Alten Testaments, dass der Mensch das ihm Begegnende im Auftrag Gottes einen Namen geben solle (vgl. 1. Mose 2, 19f.). Darum aber ist der Mensch ge-

130

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

fordert, in personenbezogener Verantwortlichkeit die ihm begegnende Wirklichkeit mitzugestalten. Nach evangelischem Verständnis wird darum der Mensch als Mitarbeiter Gottes beschrieben, die Wirklichkeit nach Gerechtigkeit hin zu kultivieren. Dies gelingt aber nur dann, wenn jeder Mensch in seinem Denken und Handeln die Zustimmung und Rechtfertigung derer bekommt, die von den Folgen seines Denkens und Handelns betroffen sind. Da aber Organisationen, Institutionen oder auch Unternehmen als lebendige Einheiten sich einzig aus Personen zusammensetzen, gilt dies entsprechend auch für diese, und zwar zu jederzeit und an jedem Ort. Diese Haltung, sich im Denken und Handeln einem solchen Rechtfertigungsmaßstab zu unterwerfen, heißt Gerechtigkeit. Darum schreibt der Philosoph Robert Spaemann vollkommen zu Recht: „Gerechtigkeit kann jedem jederzeit und gegenüber jedermann abverlangt werden; denn die Forderung der Gerechtigkeit verlangt nichts anderes als die Relativierung der eigenen Sympathien, Wünsche, Vorlieben und Interessen“ (Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 49). Daraus folgt die auch ökonomisch zu bedenkende Einsicht, dass die alleinigen Interessen einer handelnden Organisation allein kein hinreichender Rechtfertigungsgrund für dieses jeweilige Handeln sind, sobald dadurch auch die Interessen anderer davon betroffen sind. Das ist etwa bei jeder ökonomischen Entscheidung der Fall. Gerechte Entscheidungen werden allein dadurch gewonnen, dass diese - am allgemeinen Maßstab der Gerechtigkeit gemessen - sich als die inhaltlich wichtigeren erweisen. Kann dieses inhaltlich Wichtigere jedoch nicht gefunden werden, dann müssten die als wichtiger erkannten Interessen der anderen Interessensvertreter den Vorrang haben. Darum ist Gerechtigkeit immer auch ein wechselseitig verpflichtender Personenbegriff, der das Gesamtwohl etwa eines Unternehmens, einer Gesellschaft, einer Nation und der Beziehungen von Staaten in den Blick zu nehmen hat. Die Tugend der Gerechtigkeit befragt darum die Willensbildung aller Handelnden. Da jeder Mensch oder jeder Interessensverband aber immer versucht ist, die Bewertung der eigenen Interessen höherrangig als die der anderen einzustufen, also dazu neigt, die wechselseitige Gerechtigkeit zu seinen Gunsten zu unterlaufen, gehört es zur praktischen Gerechtigkeit, sich einer unparteiischen und legitimierten Instanz zu unterwerfen, also Verträge, staatliche Gesetze und öffentliche Gerichtsbarkeit anzuerkennen. Im gesellschaftlichen Leben etwa zeigt sich dies u. a. darin, dass immer mehr Organisationen oder Firmen ethisch begründete Leitlinien sich zu eigen machen, mit denen sie ihrer öffentlichen Ausweispflicht in Bezug auf ihr Handeln nachzukommen suchen. Ohne das Anerkennen der Gerechtigkeit als allgemeinen Maßstab für das Handeln wäre dies nicht denkbar.

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

131

Nun zeigt sich aber im Alltagsleben, dass nicht alle unsere Handlungen unter dem Primat der Gerechtigkeit zu stehen kommen. So etwa ist Sympathie nicht der Gerechtigkeitsregel unterworfen. Aber es gibt zwei Arten von Handlungen, die immer unter der Gerechtigkeitsforderung stehen: 1. Der Tausch von Gütern, also der ökonomische Bereich, und 2. die Verteilung von Lasten und Entschädigungen, also der politische Bereich. Gerechtigkeit kann nun nach Aristoteles wie folgt unterschieden werden. Die erste Art von Gerechtigkeit wird nach Aristoteles arithmetische Gerechtigkeit, im Lateinischen auch justitia commutativa genannt. Hier wird zur Aufrechterhaltung dieser Gerechtigkeit auf die Symmetrie der Tauschpartner geachtet. Nur wenn die Gleichwertigkeit der Tauschpartner in Bezug auf deren Interessen, Wünsche und Vorlieben hierbei gegenseitig beachtet wird, entsteht Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit ist hier dann festzustellen, wenn einer der Tauschpartner sich in einer Notlage befindet und zur Erhaltung seiner Lebensgrundlagen gezwungen ist, einen überhöhten Preis zum Erwerb einer Sache, z.B. von Lebensmitteln, Energie oder eines Medikaments, zu zahlen. Dies ist dann gegeben, wenn eine Interessenspartei ihre marktbeherrschende Position in der Preisgestaltung ausnutzt. Der Weg zum Wucher ist dann nicht mehr weit. Darum formuliert das Bürgerliche Gesetzbuch zu Recht: „(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig. (2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewährleisten lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen“ (BGB, §138). Darum ist es eine Forderung der Gerechtigkeit (justitia commutativa), dass der Staat bzw. internationale Institutionen dieser Asymmetrie entgegenwirken. Gerade in unserem heutigen weltweiten ökonomischen Beziehungsgeflecht ist die Frage dieser Tauschgerechtigkeit von friedenserhaltender Wichtigkeit. Denn in diesem Beziehungsgeflecht wandelt sich der Status der Tauschpartner schnell de facto in das Machtgefüge von Gebern und Empfängern, so dass die Geber zu ihrer eigenen Vorteilsnahme die Rahmenbedingungen des Tausches von Waren bestimmen können. Die momentane Situation auf dem deutschen Energiemarkt wäre so ein Fall. Von den Gebern muss daher verlangt werden, dass sie die Gesichtspunkte der genannten arithmetischen Gerechtigkeit in ihrem Handeln berücksichtigen. Und umgekehrt sind die Empfänger ebenso verpflichtet, dieser Gerechtigkeit zu entsprechen, indem sie nicht blind ideologischen Lehren folgen und etwa ihren „Opferstatus“ kultivieren. Dies geschieht etwa durch das vordergründige Inszenieren einer „moralischen“ Betroffenheitskultur, die aber hintergründig nicht mehr der Gerechtigkeit, sondern dem eigenen Vor-

132

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

teil verpflichtet ist. Eine Reihe von medialen Beiträgen in unserer Gesellschaft sind von dieser Betroffenheitskultur geprägt. Die zweite Art von Gerechtigkeit, die Aristoteles benennt, ist die Verteilungsgerechtigkeit, im Lateinischen auch justitia distributiva genannt. Diese orientiert sich am Maß des angemessenen Gleichen, es handelt sich also hierbei um eine geometrische Gerechtigkeit. Nach diesem Prinzip verstößt es gegen die Gerechtigkeit, wenn Gleiche Ungleiches sowie wenn Ungleiche Gleiches erhalten. Wir kennen dieses Gerechtigkeitsverständnis unter der Formel: „Jedem das Seine“. Und nur mittels dieser Formel lassen sich unterschiedliche Leistungen und unterschiedliche Begabungen entsprechend würdigen. Alle Eltern mit mehreren Kindern wissen in ihrer Erziehung prinzipiell um diese Gerechtigkeitsform. Keine Gesellschaft, kein Unternehmen wird auf Dauer gesehen sich behaupten können, wenn die Leistungen und Begabungen ihrer Mitglieder bzw. seiner Mitarbeiter nicht mit dieser geometrischen Gerechtigkeit gewürdigt und entsprechend belohnt werden. Zwar ist es eine gerechte Forderung, für gleiche Leistung oder Arbeit auch die gleiche Belohnung bzw. den gleichen Lohn zu bekommen. Aber es ist für jede Gesellschaft sowie für jedes Gemeinwesen unerlässlich, besondere Begabungen und darum auch Eliten zu fördern und diese im Rahmen der Verhältnismäßigkeit entsprechend sehr gut zu entlohnen. Denn andernfalls würde eine lähmende Uniformität sowohl die Gesellschaft als auch jedes Gemeinwesen durchziehen, weil eben die je persönliche Leistungswürdigung egalisiert werden würde. Das aber ist gegen unsere menschliche Natur, die uns - auf der Basis der Menschenwürde - dazu bewegt, unsere Leistungsfähigkeit und Begabung öffentlich zu bekunden. Gerade das Scheitern der sozialistischen Gesellschaftssysteme hat dies deutlich gezeigt. Das Gerechte muss also bei aller Verteilung nach dem Maß einer bestimmten Angemessenheit sich verwirklichen. Darum muss jede Person, die in Verantwortung für andere Personen steht, um diese grundsätzliche Bedingung der geometrischen Gerechtigkeit wissen. Wie freilich dieses Angemessene gefunden werden kann, darüber entscheidet sowohl das Menschen- als auch das Weltbild der unserem Denken zugrunde liegenden Religion. Ergänzt wird dieses Finden von Gerechtigkeit noch durch politische, gesetzliche und wohl auch ökonomische Rahmenbedingungen. Darum hat das Christentum in die Gerechtigkeitsdebatte noch einen entscheidenden Aspekt - über Aristoteles hinaus - hinzugefügt, nämlich das Berücksichtigen der elementaren Bedürfnisse der Menschen. Das heißt, dass dem, der sich nicht selber helfen kann, nach der Maßgabe seiner elementaren Bedürfnisse geholfen werden muss. Denn auch die elementaren Bedürfnisse sind ein Kennzeichen einer Person. Und das heißt, dass diejenigen zur Hilfe verpflichtet sind, die diese Hilfe de facto geben können, also etwa die

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

133

Mehrheit und die Finanzmächtigen einer Gesellschaft ebenso wie der Einzelne, der in die unerwartete Situation des Helfenskönnens gestellt ist. Was der barmherzige Samariter getan hat, als er den Schwerverletzen auf eigene Kosten in einer Herberge pflegen ließ, ist solch ein Beispiel einer gütigen und auf Barmherzigkeit aufbauenden Haltung der Gerechtigkeit: „Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er aber antwortete und sprach: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm getan hat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ (Lukas 10, 25-37). Bis in unsere Rechtssprechung hat dieses Gerechtigkeitsverständnis Einzug gehalten, nämlich im negativ formulierten Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Positiv hingegen bezeichnen wir dieses Handeln im Sinne der barmherzigen Gerechtigkeit als Diakonie. Allgemein hat sich dieses Handeln unter den Stichwort „soziale Gerechtigkeit“ etabliert. Diese kann aber nur in Reflexion zur geometrischen Gerechtigkeit gefunden werden, denn sozial ist kein statischer, sondern ein reflexiver Begriff. Darum aber kann das Angemessene nur im Verbund mit einer Lebenssicht gefunden werden, die jeden Menschen in seiner Würde achtet, oder christlich gesprochen: jeden Mensch als Geschöpf Gottes würdigt. Gerechtigkeit ist eine Haltung, die der Wirklichkeit gerecht werden will. Da unser Wirklichkeitserleben mehrdimensional ist, ist auch die Tugend der Gerechtigkeit mehrdimensional. Diese ist wesentlich in der Bezogenheit von Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit gegeben und kann

134

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

nur in dieser komplementären Art und Weise als Tugend gelebt werden. Das aber ist der unabhängige Maßstab, ohne den jede Form des Zusammenlebens letztlich nicht denkbar ist. Darüber hinaus wird die Gerechtigkeit durch das Prinzip der Barmherzigkeit bereichert, die heute auch als Sozialpflichtigkeit benannt wird.

3. 7. Frömmigkeit Keine christliche Tugendlehre lässt sich sinnvoll ohne den Begriff der Frömmigkeit denken und zur Sprache bringen. Denn Frömmigkeit als Tugend ist kein pathetischer Begriff, wenngleich dieser Begriff meist so gehört und eingeschätzt wird. Denn Frömmigkeit umfaßt vielmehr die Lebensführung wie auch die Lebensgestalt einer Person. Beides hängt grundlegend miteinander zusammen, wie schon Platon in seiner Schrift „Euthyphron“ feststellt: „Alles Fromme ist gerecht“ (vgl. 11e). Darum ist Frömmigkeit eine Tugend, die das Leben in seiner Gesamtheit, die Bereiche des öffentlichen und des privaten umfassend, zusammenhält. Frömmigkeit ist kein Reich der einseitigen Innerlichkeit, gar ein sentimentaler oder pathetischer Rückzug in eine weltfremde Lebenshaltung, wie der Begriff Frömmigkeit wohl ab dem 19. Jahrhundert überwiegend verstanden worden ist. Frömmigkeit in seinem ursprünglichem Sinn ist das genaue Gegenteil hiervon: Frömmigkeit beinhaltet als Lebensführung ein sicheres Auftreten als Person. Eine fromme Person zeichnet sich dementsprechend durch eine gerechte, rechtschaffen tüchtige und rechtschaffen treue Lebensführung aus, wie die Sprachgeschichte des Wortes „fromm“ anhand zahlreicher literarischer Belegstellen verdeutlicht (vgl. Grimm, Bd. 4, 240 - 244). Hermeneutisch betrachtet ist somit eine fromme Person in der Lage, im Alltagsleben den anderen Personen mit Anerkennung, Verzeihung und Herzensbildung zu begegnen. Frömmigkeit ist darum ein Wesensmerkmal einer Persönlichkeit. Frömmigkeit beinhaltet darüber hinaus, und das ist wesentlich, auch eine erkenntnistheoretisch geklärte Haltung im Denken und Handeln, die in der epistemisch verstandenen Wirklichkeitserschließung der Religion ihren Grund zu finden vermag. Aus dieser klaren Haltung im Denken und dem zugeordnet im Glauben kommt auch die Anerkenntnis einer vernünftigen Handlungsrationalität. Im Stile der Frömmigkeit wird diese Handlungsrationalität von den Tugenden der Ehrlichkeit, der Besonnenheit, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit und der Zeitkultur personenethisch angeleitet. Darum ist ein frommes Leben nicht lammfromm, das mit sich alles machen lässt und das jedem Menschen willfährig ist.

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

135

Es ist Martin Luther gewesen, der diese Bedeutung von Frömmigkeit durch seine Bibelübersetzung in unser Denken eingeführt hat. Damit aber zeigt Luther klar auf, dass Frömmigkeit als Zusammenfassung einer christlichen Tugendlehre zu verstehen ist, die in einer epistemisch-religiös verstandenen Ordnung des Denkens sich gründet. Deswegen aber weiß sich die Haltung der Frömmigkeit eingebunden in eine Lebenssicht, die sich nicht nur in einer tugendhaften Lebensführung ausdrückt, denn die genannten Tugenden lassen sich auch ohne eine christliche Denkorientierung leben. Demgegenüber betont die Frömmigkeit die Ergänzung der Tugenden durch den vernünftig geklärten Glauben. Frömmigkeit in ihrer christlichen Lesart ist also der Ausdruck des menschlichen Gestimmtseins zur Wahrheit hin. Dieses Gestimmtsein aber führt, wie wir schon sahen, den Menschen zu einer bestimmten Gestalt seines Lebens. Diese Gestalt des Lebens findet ihren konkreten Ausdruck in einer ethisch begründeten Lebensführung, die sich in Ehrfurcht vor transzendent erkennbaren Ordnungen des Lebens dem Alltag handlungsrelevant zuwendet. Frömmigkeit ist also im christlichen Sinne die Haltung der Verehrung dessen, was wir Menschen nicht sind, aber notwendig zum Leben brauchen und niemals selbst machen können: Gott als Wahrheit und höchstes Gut. Darum ist gelebte Frömmigkeit ein Spiegelbild einer jeden Person in ihrer Wahrheitsorientierung. Denn daran, wen oder was wir in unserem Leben ehrfürchtig verehren, wer oder was also in unserem Leben die höchste Priorität innehat, wird ersichtlich, welchem Wahrheitsverständnis wir verpflichtet sind. Denn worauf wir Menschen unser tiefstes Vertrauen setzen, das bestimmt unsere gesamte Lebensführung. Luther hat dieser Erkenntnis Recht getragen, wenn er in dieser Hinsicht nüchtern feststellt: Worauf Du nun Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott (Großer Katechismus, Auslegung zum 1. Gebot). Christlich verstandene Frömmigkeit zeichnet sich dementsprechend durch Glauben und Vertrauen zu Gott aus. Darum vollzieht sich solche Frömmigkeit nicht nur in einem tugendhaften Leben, sondern auch in dem religiös ausgeübten Kultus der davon überzeugten Personengemeinschaft. Frömmigkeit ist somit nicht eine allein gelebte, individuelle Veranstaltung, kein Reich der Innerlichkeit, sondern immer auch eine personenbezogene, gemeinschaftsstiftende und gesellschaftsbezogene Größe, deren institutionelle Verwirklichung die Kirche ist. Denn die Kirche ist, wenn sie recht verstanden wird, allein der Ort und die Gemeinschaft derjenigen Personen, welche die göttliche Wahrheit bezeugen und verehren. Insofern ist die rechte Gestalt der Kirche die Frömmigkeit, die in Bezug auf alle anderen menschlichen Lebenswirklichkeiten und gesellschaftlichen Institutionen darzustellen ist. Die Haltung der gemeinschaftlich gepflegten Frömmigkeit hat darum die Kraft in sich, die Trennung zwischen den unterschiedlichen

136

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

Lebensbreichen, etwa von Beruf und Privatleben, zu überwinden und einer gemeinsamen geführten und gestalteten Lebenshaltung das Wort zu reden. Frömmigkeit stiftet auf diese Weise Personengemeinschaft von ethischer Qualität. Seinen adäquaten gesellschaftlichen Ausdruck findet diese Personengemeinschaft im gemeinsamen Kultus des Gottesdienstes, weil jede Personengemeinschaft elementar von Denken und Erkennen der Wahrheit lebt. Dieses Denken und Erkennen der Wahrheit kann aber kein Staatwesen leisten. Nicht ohne Grund legt daher das Grundgesetz die Trennung von Kirche und Staat fest (vgl. GG, Art. 140, hier: WV, Art. 137). Es ist hingegen die Institution der Kirche, die diese Aufgabe seit jeher und bewährt übernommen hat, weswegen das Grundgesetz den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach erhoben hat (vgl. GG, Art. 3). Hinter dieser sogenannten „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat verbirgt sich die Erkenntnis, dass jeder Staat, jedes politische Gemeinwesen eine geschichtlich gewordene Lebenswelt ist, die sich als eine Art zweite Natur dem Menschen andient. Dies gilt übrigens für alle menschlichen Kulturleistungen. In dieser zweiten Natur wohnt der Mensch als Träger der ersten Natur ein. Jede zweite Natur aber ist nur so lange beherrsch- und steuerbar, wie diese nicht die erste Natur des Menschen verfremdet und sachlogisch überformt. Geschieht dies gleichwohl, kommt es vermehrt zu Konflikten zwischen der zweiten Natur, hier dem Staat (oder auch einem ökonomischen Großkonzern), und der ersten Natur, hier dem Menschen. Diese Konflikte umfassen etwa demokratisch legitimierte Arbeitskämpfe, ökonomisch bewertete Krankheiten (vgl. die ökonomische Bedeutung der Krankheitsquote), politische Unterdrückung und ebensolchen Widerstand (wie dies etwa bei totalitären Staaten der Fall war und ist) und auch politisch oder religiös motivierte Terroranschläge, wie die jüngste Zeit gezeigt hat. Hinter all diesen Konflikten verbirgt sich immer auch die Grundsatzfrage nach der Frömmigkeit als Lebensführung und Lebensgestalt. Eine gelingende Vermittlung und hermeneutische Übersetzung zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen eröffnet wiederum die Personenethik. Denn der Personenbegriff verbindet die naturwüchsige Gegebenheit des Lebens, mithin die erste Natur, mit der naturgemäßen Betrachtung des Lebens, mithin also der zweiten Natur des Menschen. Darum sind Personen auch kultivierte Menschen. Denn beim Menschen gilt: Das Haben seiner Natur ist das Sein seiner Natur. Dieses Haben als Sein ist die Person. Und personengemäß wird darum jede künstlich geschaffene Lebenswelt wie etwa ein Staat, eine Gesellschaft, eine Organisation, ein Unternehmen etc. nur dann gestaltet und geführt, wenn sich hierbei die je zweite Natur immer im lebensbefördernden Verhältnis zur ersten Natur des Menschen befindet, wenn also der Staat, die Gesellschaft, die Organisation, das Unternehmen etc. für die Menschen da

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

137

ist und nicht umgekehrt. Dennoch aber ist kein Staat, keine Gesellschaft, auch kein Unternehmen eine Wohlfahrtsveranstaltung, die unter Preisgabe von politischen, soziologischen oder auch ökonomischen Regelmäßigkeiten geführt werden könnten. Denn jeder Staat und jede Gesellschaft muss darauf aus sein, nicht über die eigenen Verhältnisse zu leben. Ethisch handhabbar wird dieses, wenn die Balance zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen gewahrt bleibt. Im ökonomischen Sektor ist das sofort einsehbar: Unternehmen sind und bleiben gewinnorientierte Größen, die aber ihre Unternehmenspolitik immer im Ausgleich zwischen der zweiten und der ersten Natur des Menschen zu vollziehen haben. Andernfalls wird die künstliche Lebenswelt zum Regenten des Lebens. Das aber führt von selbst in Pathologien und in strukturelle Zwänge, die dem menschlichen Miteinander schaden. Das aber gilt ebenso für alle anderen gesellschaftsrelevanten Handlungsfelder des Menschen. Allein die Personenethik mit ihrer Tugendlehre ist in der Lage, diese Balance zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen befriedend zum Ausgleich zu bringen. Die Haltung der Frömmigkeit ist hierfür eine ideale Anleitung.

4. Ethik in der Führung Jeder für die Öffentlichkeit oder für andere Personen Handelnde, so zum Beispiel jede Geschäftsleitung, ist zur gewissenhafter Führung beauftragt und darum in besonderer Verantwortung stehend. Darum gehört es zur unabweisbaren Pflicht jeder Führungskraft, über ihre Entscheidungen und Handlungsweisen Rechenschaft abzulegen. Als Grundlegung hierfür hat sich die Pflege und Haltung der Tugenden erwiesen. Das Forum dieser Rechenschaft ist aber mehrfach gegliedert, abhängig von der jeweils vorfindbaren Gesellschafts- und Rechtsstruktur: Dieses Forum kann in sich selbst eine mehrfach gegliederte Hierarchie aufweisen, bestehen aus Vorgesetzten und Dienstbehörden, aus den anderen Mitgliedern der Geschäftsleitung, des Vorstandes, des Aufsichtsrates, der Belegschaft etc. und der Öffentlichkeit. Damit dies glaubwürdig im Sinne der Personenethik gelingt, müssen wir uns zunächst über das Wesen von Führung verständigen.

4. 1. Was ist Führung? Wir sahen schon, dass sich jeder Einzelne bis hin zum Staatswesen und der Ökonomie nur innerhalb des eigenen geschichtlichen Herkommens bewe-

138

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

gen kann. Hierzu zählen insbesondere die Sprach- und die Kulturgemeinschaft, die Staats- und Wirtschaftsgeschichte und eben die Religion der eigenen Herkunft. Erst wenn dies erkannt, reflektiert und gepflegt wird, entsteht das, was wir als Selbstverständnis bezeichnen. Und dieses jeweilige Selbstverständnis kann sich nur sinnvoll im pluralen Kontext bewegen, wenn es selbstbewusst und sicher, aber niemals überheblich den anderen Selbstverständnissen von Sprach- und Kulturgemeinschaft, von Staats- und Wirtschaftsgeschichte, von Religionen im Gegenüber begegnet. Kurz gesagt: Jedes Selbstverständnis bedarf der Aufgeschlossenheit im Sinne einer Buntheitskompetenz. Diese wird etwa in ökonomischer Hinsicht daran ersichtlich, dass bis heute zur Produktangabe meist der Name des Herstellers und das Herkunftsland bezeichnet wird, wenngleich letzteres im Rahmen mancher global aufgestellter Unternehmen nicht mehr so eindeutig ist, wie die Herkunftsbezeichnung verspricht. Aber nach wie vor haben die Angaben wie: made in Germany, made in EU, made in U.S.A., made in Japan etc. genau den Stellenwert, das Firmenselbstverständnis innerhalb eines bestimmten Kulturkreises als Qualitätsangabe mit Vertrauensgarantie zu bezeichnen. Für die Führungspersönlichkeit erwachsen daraus vertrauensbedingte Führungsaufgaben. Führung bedeutet, eine Institution, eine Organisation, ein Unternehmen etc. bestmöglichst in der Öffentlichkeit zu positionieren. Das klingt selbstverständlich und ist es auch, aber eben dieses Selbstverständliche bedarf einer besondern Pflege. Führung muss hier vor allem organisationsintern den Geist eben dieser Organisation pflegen und beleben, Führung muss hier, über die Formen der Delegation, der Systemsteuerung, der Zielvereinbarung hinaus, von geistig kommunizierbaren Führungsgrundsätzen bestimmt sein, die immer nur mit den und niemals gegen die allen gemeinsamen ethischen Gewissheitsüberzeugungen vollzogen werden können. Denn Führung gelingt nur, wenn die davon Betroffenen dieser Führung inhaltlich zustimmen. Führung bedarf darum eines Stils, der sich nicht nur durch Sachkompetenz und Durchsetzungskraft, sondern vor allem durch Bildung auszeichnet, und zwar einer Bildung, die um die handlungsleitenden Gewissheitsüberzeugungen der eigenen Kultur weiß. Denn erst dann wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass alle Führungsentscheidungen meist als Gegenüber andere Personen haben, die ein Recht auf die nachvollziehbare Ausweispflicht von Entscheidungen haben. Diese Ausweispflicht beinhaltet nicht selbstverständlich die Zustimmung aller davon Betroffenen, wohl aber das Wesen der Übereinkunft mit den Betroffenen. Dieses wird nur annäherungsweise durch den Einsatz von bestimmten kommunikationstheoretischen Methoden der Führung erfüllt, denn hierbei besteht immer die Gefahr der methodischen Versachlichung von Personen. Daher sind Führungsgrundsätze am besten im Rahmen einer

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

139

Personenethik mit den Tugenden der Zeitkultur, Ehrlichkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit zu formulieren und ethisch mit daraus folgenden praktischen Konsequenzen zu versehen. Für den ökonomischen Bereich ist die wohl aufrichtigste und überzeugendste Rechtsform die persönliche Haftung, wenn also die Unternehmensspitze aus persönlich haftenden Personen besteht. Denn das befördert die Glaubwürdigkeit der Verantwortung jeder Führungskraft bei anstehenden Entscheidungen. Das christliche Kennzeichnen von Führung besteht darum in der verantwortlichen Übernahme des eigenen Personenstatus, der zur Persönlichkeit drängt. Das aber ist mehr, als nur im funktionstheoretischen Sinne eine Führungsaufgabe auszuüben. Dieses „Mehr“ zeichnet sich durch eine Horizonterweiterung aus: Führung darf nicht nur das organisationsbezogene Wohl im Auge haben, darf etwa bei einem Wirtschaftsunternehmen nicht nur die Steigerung der monetären Gewinne und die Börsenplatzierung im Blick haben, sondern muss auch nach Möglichkeit das Gesamtwohl von Organisationen und Unternehmen, von Staat und Gesellschaft, mitunter auch von Staaten verantwortungsvoll berücksichtigen. Führung kann daher definiert werden als das Vermögen, mit Sachverstand, Durchsetzungskraft und Tugendbildung Personen und deren Handlungen als kulturell reflektiertes Selbstverständnis zu gestalten, zu fordern, zu fördern und zu leiten. Erst wo dieses in einen Führungsstil mündet, wird Führung sowohl im Inneren (etwa eines Unternehmens) als auch in der Außenwahrnehmung als glaubwürdig im ethischen Sinne wahrgenommen werden. Das aber legt die Grundlage für Vertrauen in die Führungskräfte. Und Vertrauen ist keine ökonomische, keine methodische oder sachlogische Größe, sondern eine unabdingbare Voraussetzung für jede Form menschlichen Handelns, von der sich keine Führungskraft ohne Schaden befreien kann. Auch der alltägliche Blick auf die Börse lehrt uns das.

4. 2. Macht Macht ist attraktiv und befördert die gegenseitige Wahrnehmung. Das Gegenüber zur Macht sind aber immer Personen, darum muss sich jede Macht stets ethisch ausweisen und begründen. Zwar ergibt sich allein schon aus der Stellung von Führungspersonen deren Machtposition, dennoch bedarf jede Machtausübung - auf Dauer gesehen - des Einverständnisses der davon Betroffenen, wie ebenso diese die Machtverhältnisse anerkennen müssen. Einverständnis und Anerkennung müssen im Bereich der Macht deshalb zusammenkommen, weil zum einem jede Organisation, jede Institution, jedes Unternehmen, jeder demokratisch legitimierte Staat einen gemeinsa-

140

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

men akzeptierten Machtbereich als Handlungsvoraussetzung braucht, zum anderen deswegen, weil niemand in einem freien Rechtsstaat gezwungen ist, in einer bestimmten Organisation, in einer bestimmten Institution, in einem bestimmten Unternehmen zu arbeiten. Selbst in einem demokratisch legitimierten Staat wird niemand gezwungen zu leben. Diese Freiheit ist die unabdingbare Voraussetzung für jeden glaubwürdigen Machtvollzug. Macht beinhaltet darum Chancen wie auch Risiken. Die Chancen bestehen in der Möglichkeit, sinnvoll erkannte Ziele zu verfolgen und umzusetzen, das Risiko besteht im Verfehlen oder im Nicht-Erreichen der gesteckten Ziele. Das ist banal, dennoch wichtig zu bedenken. Entscheidend ist hier nämlich, wie die Führungsperson mit ihrer Macht umgeht. Darum gehören ein verantwortlicher Führungsstil und Machtausübung untrennbar zusammen. Macht ist nämlich das Vermögen, Mögliches in Wirkliches zu überführen. Darum gehört zur Machtanwendung ein ausgesprochen hohes Maß an Wirklichkeitserkenntnis, die hohe Kunst einer weitsichtigen Analyse von Gegebenheiten, Zuständen, Bedingungen, Widerständen und Schwierigkeiten. Daher bedarf Macht besonders der Tugenden der Tapferkeit und der Besonnenheit. Denn Macht zielt zum einen auf die Aufrechterhaltung eines Status quo, also etwa die Erhaltung einer Institution, einer Organisation oder auch eines Unternehmens, zum anderen aber auf die Veränderung dieses Status quo, also entweder die Anpassung an den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel oder die Beförderung dieses Wandels selbst. Dies gelingt nur, wenn jede Führungsperson als eine Persönlichkeit in Erscheinung tritt, die hierbei dreierlei vermag:1. Die Gewinnung von Einsicht in die und Erkenntnis der realisierbaren Möglichkeiten von sinnvollen Handlungen, Entscheidungen, Anordnungen etc. im Rahmen des vorgegebenen Verantwortungs- und Handlungsbereichs. 2. Die Selbsterkenntnis über das persönliche Vermögen, diese Möglichkeiten zu verwirklichen. 3. Die Übernahme eines verantwortlichen Führungsstils, der sich in ethisch begründeter Machtausübung niederschlägt. Ein wesentliches Kennzeichen von Macht ist deren Vorläufigkeit. Kein Mensch hat absolute Macht, Macht ist darum in des Menschen Hand immer eine zeitlich und räumlich begrenzte Größe. Christlich gesprochen ist daher Macht eine dem Menschen von Gott anvertraute Aufgabe, die der Mensch verantwortungsvoll, und das heißt gewissenhaft gegenüber Gott und den Menschen anzuwenden hat. Macht bedarf also notwendigerweise der ethischen Reflexion. Und nur eine ethisch begründete Machtanwendung führt zu einer wohlgeordneten Form eines gesellschaftlichen Miteinanders der beteiligten Personen, nur eine ethische Machtanwendung schafft Vertrauen in eben die Machtentscheidungen. Zugleich aber wehrt eine ethisch begründete Machtanwendung dem Machtmissbrauch, also etwa der Haltung, per-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

141

sönliche Billigkeitskriterien und „Vetternwirtschaft“ den Machtentscheidungen zugrunde zu legen. Wird dieses dennoch getan, schwindet rapide das Vertrauen in die Machtinhaber, die althergebrachte Kluft zwischen „den da oben und uns da unten“ wird dann belebt und es nehmen politische und ideologische Plattitüden überhand. Ein Blick in unser öffentliches Lebens lehrt uns dies deutlich: Man denke nur an die als „Sonntagsreden“ empfundenen Verlautbarungen bei Fusionen oder Übernahmen von Unternehmen. Nur mit der Haltung eines ethisch verantwortlichen Machtgebrauchs lässt sich dies vermeiden, so dass schließlich auch der Korruption, also der unlauteren Vorteilsnahme zu Lasten Dritter, gewehrt werden kann. Der Korruption aber können nur ethisch gefestigte Personen widerstehen, die als Persönlichkeit in der Lage sind, den nur augenscheinlichen momentanen persönlichen Vorteil zugunsten einer wohlgeordneten Form von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur zurückzustellen, sondern Korruption selbst als kriminelle Handlung zu brandmarken. Personen, die dies in und mit ihrem Machtgebrauch vermögen, sind Persönlichkeiten, die dadurch Vertrauen stiften und Vertrauen erfahren.

4. 3. Vertrauen Jede gute Führung ist auf Vertrauen angewiesen. Und jede Führungskraft muss in Gestalt ihrer Persönlichkeit das ihr entgegengebrachte Vertrauen aufgreifen und mit Leben füllen. Wie immer auch die jeweils eigene Führungs- und Machtposition bestimmt sein mag, das Gegenüber ist immer ein „Du“, ein „Sie“, ein „Ihr“: Immer ist eine Person oder sind mehrere Personen Adressaten des Vertrauens. Vertrauen ist daher eine personenethische Kategorie der zwischenmenschlichen Beziehungen. Daher geht Vertrauen notwendig immer jeder juristischen Betrachtung von Beziehungen voraus und liegt diesen zugrunde. Der wohl auf Lenin zurückgeführte und berühmt gewordene Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ übergeht die grundmenschliche Einsicht, dass zu einem gelingenden Miteinander notwendigerweise als Basis vor allem das Vertrauen gehört. Nur als Kritik am blinden Vertrauen behält dieser Satz seine Berechtigung. Aber als Grundregel für ein menschliches Miteinander ist dieser Satz nicht tragbar, weil er ein Arbeitsklima des Misstrauens schafft. Denn Vertrauen ist die Grundlage eines sicheren Lebens. Vertrauen ist die Anerkenntnis, dass ich als Mensch während meines gesamten Lebens immer auf andere Menschen angewiesen bin. Unser gesamtes Alltagsleben ist auf Vertrauen aufgebaut, jeder Mensch lebt davon, dass er sich auf das Wort des anderen, auf seine Entscheidungen, auf seine Handlungen verlassen kann, so diese in Beziehung zu seinem

142

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

eigenen Leben stehen. Vertrauen ist also eine Grundlage für jede Form des Zusammenlebens, wie schon folgendes Jesuswort belegt: „Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete, oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete?“ (Matthäus 7, 9f.). Im Führungsalltag zeigt sich Vertrauen darin, dass die Worte, Ansichten, Einschätzungen und Handlungen einer Führungsperson verlässlich sind, dass also nicht taktiert und schöngeredet wird. Darum bedarf Vertrauen der Tugend der Ehrlichkeit. Zugleich zeigt aber unser Alltagsleben, dass Vertrauen auch enttäuscht werden kann. Diese Erfahrung lehrt uns, dass das menschliche Vertrauen zueinander zugleich eine brüchige Qualität hat, weil kein Mensch letztlich das hergibt, was er durch seine Person verspricht zu sein. Personen sind und bleiben auch gefährlich. Misstrauen ist darum die Kehrseite des Vertrauens. Um dem Misstrauen zu wehren, bedarf es der Tugend der Besonnenheit. Erst die Kombination der Tugenden von Ehrlichkeit und Besonnenheit schafft ein gutes Klima des Vertrauens. Jede Führungsperson, die Vertrauen schaffen will, bedarf darum dieser Tugendhaltungen. Dennoch gibt es auch Grenzen des Vertrauens, begrenzt durch das Wesen des Menschen selbst. Vertrauen der Menschen zueinander hat auch eine begrenzte Qualität. Denn es gibt Lebenssituationen, in denen der Mensch gänzlich verlassen und auf sich selbst gestellt ist, und zwar auch dann, wenn man einander tiefes Vertrauen entgegenbringt: Die Erfahrungen des Schmerzes, die Erfahrungen von Krankheit, Leid und Tod, überhaupt die Erfahrungen von Gefühlen zeigen, dass diese Erfahrungen prinzipiell meine eigenen Erfahrungen sind, die darum von niemand wirklich geteilt werden können. Diese können vielmehr nur über die Erfahrungen der anderen erschlossen und sozusagen „übersetzt“ zur Sprache gebracht werden. Diese elementaren Lebenserfahrungen bezeichnen die Grenze der Kraft menschlichen Vertrauens. Noch deutlicher wird diese Grenze des Vertrauens beim Negativ des Lebens: dem Tod. Kein Mensch hat das Vermögen, den Tod zu überwinden. Aber jeder Mensch ist ab dem Alter seiner Sprachfähigkeit in der Lage, seinen eigenen Tod zu denken. Die Grundfrage des Vertrauens stellt sich an der Einsicht, dass ich einmal gewesen sein werde. Das zieht die Konsequenz nach sich, dass das Wissen um den eigenen Tod das gesamte menschliche Leben durchfärbt und durchzieht. Wenig hilfreich sind dabei Wahrscheinlichkeitsrechnungen, also: ich bin so und so alt und habe darum noch so und so viele Jahre zu leben. Die Unwissenheit über den Zeitpunkt meines eigenen Todes kommt jeden Tag zum Tragen. Darum braucht jeder Mensch für sein Leben ein Bedeutsamkeitszentrum, einen Glauben, um mit dem sicheren Wissen seines eigenen Todes umgehen zu können. Wie dieses Wissen inhaltlich geformt und alltäglich gehandhabt

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

143

wird, bestimmt das Grundvertrauen des Menschen. Denn kein Mensch stirbt zu früh, da sich kein menschliches Leben ökonomisch in seiner Lebenslänge mit anderer Menschen Lebenszeit verrechnen lässt. Davon unabhängig ist freilich die Klage über den zu früh erlebten Tod. Aber es ist unmöglich, eine bestimmte Lebenslänge an Zeit einzuklagen. Vielmehr zeigt das Nachdenken über den eigenen Tod die Brüchigkeit aller unserer vitalen Lebensvollzüge. Darum kann auch kein Mensch einen anderen Menschen in der Frage des Todes vertrauen. Dennoch sucht jeder Mensch absolutes Vertrauen, um sicher leben zu können. Dieses absolute Vertrauen findet der Mensch, so zumindest das christlich geformte Verständnis von Vertrauen, in der denkend erschlossenen Haltung des Glaubens an Gott, der als Ursprung und Vollender jedes Lebens wahrgenommen wird. Die christliche Erkenntnistheorie eröffnet nämlich in ihrer Denkordnung eine Kontextunabhängigkeit von den je eigenen Erfahrungen und relativiert diese zugleich angesichts von Gottes Lebendigkeit. Subjekt dieser Kontextunabhängigkeit ist Gott, der den Menschen über sein geistiges Vermögen, seinen eigenen Tod zu denken, in diese Kontextunabhängigkeit einführt. Diese Kontextunabhängigkeit formuliert sich in der Erkenntnis der Zeit. Zeit wird darin als eine begrenzte Größe erkannt, in der der Mensch als Geschöpf Gottes nicht aufgeht und dementsprechend nicht abschließend zeitlich gedacht werden kann. Zeit hat darum, wie wir sahen, die ursprüngliche Bedeutung: Hülle unseres Lebens, die uns in unserem eignen Tod entzogen wird. So kommt im Tode unser eigenes Wesen zum Vorschein: Ein Geschöpf Gottes zu sein, das nur durch Gottes Wirksamkeit in zeitenthobener Lebendigkeit, Ewigkeit genannt, über die Erfahrung des Todes hinaus je bewahrt und vollendet wird. Sprachlich haben wir diese Erkenntnis der Kontextunabhängigkeit von der Zeit im Begriff der Person entwickelt, wird doch die Person an sich, wie wir schon sahen, ohne jegliche qualitativen Prädikate erfasst. Im Tode wird also der Mensch als Person durch Gottes Handeln seine persönliche Wesensvollendung finden. Christliches Reden von Gott zeichnet sich besonders dadurch aus, dass es von Gott als Sein des Lebendigen spricht, der die Dimension des Todes durchdringt und die persönlich erfahrene Negation des Todes zum Positiven des ewigen Lebens wendet. Dies wird in der christlichen Erkenntnistheorie nicht als abstrakte Größe definiert, sondern in der persönlich gedachten Kategorie der Erfahrung mit dem trinitarisch erkannten Jesus Christus. Diese Erfahrungskategorie wird im Bekenntnis der Auferstehung der Toten als Kontextunabhängigkeit des Menschen von seinen Erfahrungen zum Ausdruck gebracht. Das verbirgt sich hinter dem biblischen Gedanken: Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden (Johannes, 1, 17). Entsprechend lautet die Zusammenfassung des christlichen Glaubens

144

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

aus dem Munde Jesu: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt (Johannes 11, 25). Dementsprechend wird Jesus Christus im Neuen Testament immer wieder als „Herr“ bezeichnet, wird gar von Paulus als die große Führungspersönlichkeit beschrieben, die den Menschen aus der Not des Todes herausführt (vgl. 1. Korinther, 15, 20). Darum kann letztlich nur der trinitarische Gott das Subjekt des absoluten Vertrauens sein. Diese christliche Erkenntnistheorie wurde nun von Martin Luther in eine persönliche Glaubenstheorie übersetzt. Darum sagt Luther: Jeder muss selber glauben, weil er selbst sterben muss. Die Grundfrage des Todes und die eigene Herausforderung dadurch fordert jeden Menschen heraus, sich hierzu gedanklich in Beziehung zu setzen. Dieses aber nennt das christliche Denken: Glauben. Wird also menschliches Vertrauen durch diese Haltung des Glaubens geformt und inhaltlich bestimmt, erweitert sich die christliche Erkenntnistheorie hin zu einer gedanklich nachvollziehbaren Lebensgewissheit, die eine persönliche Sicherheit und ein Grundvertrauen eröffnet. Dieses Grundvertrauen versteht es dementsprechend auch, mit den Unverrechenbarkeiten des Lebens umzugehen. Das aber strahlt Sicherheit und Gelassenheit aus. Ein Ergebnis hiervon ist die Haltung des Vertrauens, ohne die Führung nicht möglich ist.

4. 4. Gewissen In unserer abendländischen Kultur wird dem Gewissen eine besondere Stellung im Verhältnis zur Person zuerkannt. Wir merken dies bis heute, wenn wir etwa eine gewissenhafte von einer gewissenlosen Person unterscheiden und der gewissenhaften Person den Vorzug geben. So kann selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass jede in Verantwortung stehende Person als gewissenhaft durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden will. Werden hingegen Führungspersonen als gewissenlos durch die Öffentlichkeit eingeschätzt, wird ihnen schnell das Vertrauen entzogen bis hin zur juristischen Prüfung und Beurteilung ihres Handelns. Zugleich ist nach dem Grundgesetz (GG 4, 1) die „Freiheit des Gewissens“ unverletzlich, aber „Gewissenstäter“ werden juristisch belangt. Das Wort Gewissen ist zu einem Grundbegriff unserer europäischen Kultur geworden, ohne dass freilich meist geklärt ist, was es mit dem Gewissen auf sich hat. Vom Gewissen zu reden heißt, von der Würde des Menschen zu reden. Es ist Martin Luther gewesen, der durch seine Bibelübersetzung den Zusammenhang von Gewissen und Würde in der deutschen Sprachkultur verdeutlich hat. Für Luther selbst ist das Gewissen ohne das gehärtete Bewusstsein des christlichen Glaubens gar nicht denkbar. Das Gewissen ist für

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

145

ihn eine ethische Instanz der inneren Verantwortung des Menschen, die ihn zur Redlichkeit und Wahrhaftigkeit mit sich selber zwingt und darum handlungsleitend ist. Für Luther ist das Gewissen kein irrationales Orakel, sondern eine praktische Folge der richtigen Denkordnung. Das Gewissen stellt deswegen die Würde des Menschen dar, weil das Gewissen den einzelnen Menschen zum Richter in letzter Instanz in eigener Sache erhebt. Und diese eigene Sache wird wiederum durch das je eigene Verhältnis zur Wahrheit bestimmt, nach der christlichen Lesart, durch den Glauben des Menschen, durch sein Vertrauen zu Gott. Im Gewissen meldet sich daher die Wahrheit zu Wort. Darum kommen im Gewissen Würde und Wahrheit überein. Anders ausgedrückt: Das Gewissen ermahnt uns, richtig zu leben. Denn es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Deutlich wird dies an Luthers Worten vor Kaiser Karl V. auf dem Wormser Reichstag 1521. Damals musste Luther wegen seiner Kritik an der damaligen Wahrheitstheorie der römischen Kirche Rede und Antwort stehen: Wenn Eure Majestät und Eure Herrschaften denn eine einfache Antwort verlangen, so will ich sie ohne Hörner und Zähne geben: Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde..., so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Das Gewissen wird hier als unaufgebbares Forum der Verantwortung des Menschen verstanden, das sich auf zweierlei Weise entfaltet: Einmal inhaltlich in Bezug auf die Wahrheit (für die nach Luther das Schriftzeugnis der Bibel steht), zum andern als Würdebekundung der eigenen Person. Daraus folgt die Ablehnung des Gedankens, dass der Mensch einfach ein „Fall einer vorgegebenen Allgemeinheit“ ist, der er sich aufgrund von faktischen Machtverhältnissen unterzuordnen hat und gegenüber denen er die erkannte Wahrheit preisgeben muss. Sondern es erwächst die Einsicht des allgemeingültigen Anspruchs, dass jeder einzelne Mensch selbst eine eigenständige und verantwortliche Person ist, die in Gewissenstreue ihre Würde in Bezug auf die Wahrheit darstellt. Insofern kann das Gewissen als ethische Verantwortungsinstanz des Menschen für sein Handeln bestimmt werden. Allerdings muss die Person im Stande sein, das Ethische zu erkennen, sie muss also über die rechte Denkordnung verfügen. Dieses Verständnis des Gewissens hat sich, allgemein gesehen, bis in unsere Verfassung hinein durchgehalten. Freilich ist es für den heutigen Menschen, also auch für jede Führungsperson, nicht mehr eindeutig geklärt, wer der Adressat der Gewissensverantwortung ist. Folgt man hier etwa der ökonomischen Rationalität oder einer rein säkularen Welterschließung, wird das Gewissen letztlich zu einer

146

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

leeren Instanz der Verantwortung eines blinden Orakels vor nichts und vor niemand. Denn dann bestimmt diese ökonomische Rationalität bzw. diese säkulare Welterschließung inhaltlich das „Reden des Gewissens“: Recht und gut ist das, was ich autonom denke und selbst erkenne. Und weil ich es selbst denke und erkenne, ist eben dieses recht und gut. Das aber ist ein klassischer Zirkelschluss der Argumentation, der die persönliche Verantwortung in ein Niemandsland auflöst, in dem es das schlechte Gewissen und den Gewissensirrtum nicht mehr gibt. Dieses Niemandsland aber macht heimatlos und darum orientierungslos. Denn hier werden Wahrheitsfragen durch Verfahrensfragen ersetzt. Mancher Motivationstrainer oder Coach für Führungskräfte bedient sich genau dieser Vorgehensweise, um das jeweilige Ich und Selbstbewusstsein der Teilnehmer zu stärken. In Wirklichkeit aber erhöht dieses motivationstechnische Verfahren die innere Unruhe und Leere der Menschen, welche dann ihrerseits zur Friedensfindung mit sich selbst auf ein gewissenfreies Durchsetzungsvermögen im Verbund mit materieller Bedürfnisbefriedung setzen. Das aber ist eine erpresste Versöhnung, die niemand auf Dauer in Frieden leben kann. Macht sich aber dennoch das schlechte Gewissen durch Gewissensbisse bemerkbar, wird dieses Geschehen mit logischen Argumenten schnell relativiert. Man bringt sein Gewissen zum Verstummen. Der Preis dafür ist hoch. Das Problem hierbei nämlich ist, dass jeder so Denkende sich zum alleinigen Maßstab des Urteilens über gut und böse macht und so für ein Zusammenleben oder auch für ein gemeinsames Handeln der gemeinsame Boden entzogen wird. Anstelle des Gewissens treten dann schnell funktionalistische oder als sachlich ausgegebene Notwendigkeiten auf den Plan, mit der Gefahr, das menschliche Miteinander zu einem technokratischen oder bürokratischen Etwas zu bestimmen. Die Folge ist, dass die Würde der Menschen zum Verschwinden gebracht wird. Dieses Geschehen wird im allgemeinen als seelenlos erfahren. Das schlechte Gewissen, so es dennoch seine Stimme erhebt, klagt diese Seelenlosigkeit und Würdelosigkeit vor uns selber an und macht demgegenüber das von allen als gut und richtig Erkannte geltend: Die Würde der Menschen höher zu achten als alle instrumentalisierten Rechtfertigungsüberlegungen. Und dabei reift in uns die Einsicht, dass wir dieses Erkannte letztlich als unser eigenes Wollen begreifen. Diese Spannung zwischen jedem vordergründigen Wollen und dem eigentlichen Wollen erzeugt das schlechte Gewissen. Darum ist es ein untrügliches Kennzeichen einer Person, auf die Stimme ihres Gewissens zu hören. Das Gewissen formt auf diese Weise eine Person zur Persönlichkeit. Wer sich seinem schlechten Gewissen wie auch immer entzieht, der lebt darum nicht in Frieden und Freundschaft mit sich selbst. Darum lebt es sich auch mit einem schlechten Gewissen nicht gut. Folgt man hingegen der in unseren Überlegungen be-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

147

reits vorgetragenen Denkordnung mit ihrer rezeptiven Vernunft, wird das Gewissen zu einer ethisch durchdrungenen Verantwortungsinstanz, die den Menschen zum Frieden und zur Freundschaft mit sich selbst anleitet. Das Gewissen ist eine bestimmte Form des Denkens, mit welcher der Mensch in ethischer Hinsicht zu sich selbst ins Verhältnis tritt. Dieses Verhältnis spannt sich aus zwischen der Wahrheitsliebe, also dem Glauben, und der Selbstreflexion, also der Bewahrung der Würde. Daraus folgt, dass das Gewissen in dem Sinne absolut wird, dass an ihm vorbei oder gegen es kein menschengerechtes Leben geführt werden kann. Darum bedarf jede Person und jede Führungsperson der inneren Führung durch ihr Gewissen, um ihre Entscheidungen glaubhaft mit dem allgemein als gut und recht Erkannten, der Liebe zur Wahrheit, abzugleichen. In Konsequenz heißt das, dass es keine gute Entscheidung und Handlung gegen dieses so geformte Gewissen geben kann. Aber zugleich heißt dies, dass nicht alles, was das Gewissen gebietet, im Einklang steht mit gesellschaftlichen oder auch ökonomischen Entscheidungen. In der christlichen Erkenntnistheorie kann das Gewissen als Stimme Gottes verstanden werden, die den Menschen zur Einheit mit sich selbst drängt; und zwar einer Einheit, die sich nicht bestimmt weiß über die Relativierungsversuche neuzeitlicher Lebenserklärungen (ich bin das Produkt meiner Umwelt, meiner Herkunft, meiner Gene), sondern den gesamten Sinnhorizont menschlichen Lebens im Verhältnis zu Gott bedenkt. Das Gewissen als Drang zur Einheit mit sich selbst führt darum in Verantwortung. Darum setzen wir auch in unserer Zeit nach wie vor gewissenlos mit verantwortungslos gleich. Das aber schließt automatisch die Rede von der Schuld des Menschen ein, die sein Gewissen je anmahnt. Zugleich aber wird hier auch dem Gewissensirrtum Rechnung getragen, weil das Gewissen als „Stimme Gottes“ den Menschen mehr und mehr zur Erkenntnis der allgemeinen Vernunft der rechten Denkordnung erwachen lässt. Ein Mensch, dessen Gewissen erwacht ist und der plötzlich merkt, dass er lange Zeit einen anderen Menschen ungerecht behandelt hat, hält doch sein früheres Verhalten nicht für unschuldig, weil er sich damals des Unrechts nicht bewusst war. Vielmehr fällt ihm sein bisher nicht erkanntes Unrecht „wie Schuppen von den Augen“ und er bittet, so er Anstand hat, um Verzeihung (vgl. Spaemann, Personen, 187). Die Entdeckung des Gewissens ist also die Entdeckung, dass Vernunft an sich selbst im Leben greifbar und gegenständlich ist. Und zur Konkretion der Vernunft bedarf es immer wieder der „Stimme des Gewissens“. Vernunft nämlich zeigt sich mittels Verstand und Urteilskraft im Urteilen über Allgemeines und Besonderes. Da das Gewissen aber immer auf das Besondere zielt (man hat kein schlechtes Gewissen etwa über wirtschaftliche Verhältnisse an sich, über allgemein ökonomische Bedin-

148

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

gungen etc.), ist der eigentliche Ort des Gewissens die Urteilskraft. Isoliert man nun das Gewissen und die Urteilskraft von der Denkordnung der christlichen Tradition, dann wird das Gewissen seiner Freiheit beraubt und umgekehrt instrumentalisiert. Es entsteht dann die Betroffenheitskultur, und die Betroffenheitsliga gewinnt die Oberhand. Die Folge davon ist, dass das gesamte Leben moralisiert und instrumentalisiert wird und in Folge dessen die Ideologie entsteht, die das gesamte Leben unter Gewissenszwang stellt. Dadurch aber wird jeder Mensch seiner Würde beraubt, weil sein ganzes Leben und Handeln dann etwa einen durchgängigen politischen oder auch ökonomischen Charakter bekommt, ein Geschehen, das jedem denkenden Menschen als absurd vorkommt. Dem aber kann nur ein waches Gewissen wehren, das zwischen den Polen der Liebe zur Wahrheit und zur Wahrung der Würde des Menschen einen lebensschaffenden Raum eröffnet. Darauf sollten nicht nur Führungspersonen bedacht sein.

4. 5. Verantwortung Wir sahen, dass das Gewissen den Menschen in Verantwortung für sein Leben und Handeln stellt. Verantwortung setzt daher die Erkenntnis voraus, dass Leben eine Bewandtnis hat und Handeln Bewandtnis stiftet. Eine Bewandtnis haben heißt, zu etwas gut sein, eine Bewandtnis stiften heißt, für etwas gut sein. Darum ist jede Form von Führen und Leiten, jede Form von Entscheidungen und Bestimmungen aufgefordert, sich diesem Bewandtnischarakter zu stellen, wie der Philosoph Robert Spaemann (vgl. Glück und Wohlwollen, 222 - 238) schön ausgeführt hat. Diese Aufforderung willentlich anzunehmen, wird Verantwortung genannt. Dahinter steckt die einfache Erkenntnis, dass Leben gelingen oder scheitern, dass Handeln erfolgreich sein oder fehlschlagen kann. Und weil eine Führungsperson im Berufsleben und Handeln immer andere Menschen mit deren Leben und Handeln zum Gegenüber hat, darum ist Verantwortung als eine personen-ethische Aufgabe zu begreifen. Dieser ethischen Verantwortung muss sich aber jede Person stellen, denn nur so wird sie ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Ausweispflicht für ihr Tun und Handeln gerecht. Nur um den Preis der unethischen Haltung von interessengeleiteten Billigkeitskriterien kann sich eine Person dieser Verantwortung entziehen. Geschieht dies gleichwohl, so wird Verantwortung meist funktional ersetzt durch einen Regelbetrieb des bloß Vorhandenen, das keine Bewandtnis zulässt. Eine Institution, Organisation oder auch ein Unternehmen aber nur auf der Basis eines Regelbetriebs des bloß Vorhandenen zu führen und zu leiten, bestimmt die darin anwesenden anderen Personen auf allen Ebenen als reine Verhandlungssa-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

149

che, mit denen zwar gemäß der rechtlichen Vorgaben verfahren wird, aber eben nicht verantwortungsvoll. Denn auf diese Weise werden alle Mitarbeiter als Personen negiert. Wie sehr diese Kritik berechtigt ist, entnehmen wir etwa der Gestaltung unserer persönlichen Beziehungen. Denn diese betrachten wir eben nicht als das bloße Vorhandensein eines Regelbetriebes, dem keine Bewandtnis zukäme. Demgegenüber belehrt uns die Haltung der Verantwortung, dass eine Bewandtnis immer in eine personengemäße Wahrnehmung und Handlungsweise führt. Ersichtlich wird hier also, dass Verantwortung eine zweifache Ausrichtung hat, nämlich ein Wovor und ein Wofür. Das Wovor unserer Verantwortung beinhaltet zwei bzw. drei Bereiche: Die Verantwortung vor uns selbst, die Verantwortung vor den anderen, uns begegnenden Personen, und in christlicher Perspektive die Verantwortung vor Gott. Das Wofür unserer Verantwortung beinhaltet zwei Bereiche: Die Verantwortung für unsere Handlungen, die Verantwortung für unser soziales Umfeld, inklusive unseres Arbeitsplatzes. Jede Form der Verantwortung wird unwirklich, wenn man sich selbst absichtsvoll blind macht und das Wovor der Verantwortung etwa zugunsten methodologischer oder technischer Intelligenz von Experten aufgibt. Ethisches Denken wird hier nämlich unter der Hand ersetzt durch methodische oder technische Normen. Indem man aber an diese Experten die Verantwortung für sich selbst, für die anderen Personen und gemäß der christlichen Erkenntnistheorie vor Gott abgibt, man sich also auf das Expertenwissen beruft und somit selbst „mit reinem Gewissen“ handelt, wird die persönliche Verantwortung durch eine universale Nutzenfunktion ersetzt. Eine universale Nutzenfunktion ist aber weder denkbar noch lebbar, denn niemand kann all die Folgen und Nebenfolgen seines Handelns wissentlich überblicken. Jeder Streit unter Experten über ein bestimmtes Thema lehrt uns das. Die Aufnahme der universalen Nutzenfunktion entmündigt in ethischer Hinsicht jede Person, also auch jede Führungsperson, selbst und delegiert ihre Verantwortung an Ideologen und Technokraten. So wird für jede Führungsperson alles Begegnende, alles Geschehen in einer Organisation, Institution oder auch in einem Unternehmen zu einer bloßen Umwelt, die nur in der Bedeutung erscheint, die es für ihre Selbstdarstellung braucht. Damit aber definiert sich jede Person und Führungsperson nicht mehr über die Wahrnehmung ihrer eigenen Innerlichkeit, nicht mehr über die Wahrnehmung der fremden Innerlichkeit der jeweils begegnenden Personen, geschweige denn über die innere göttliche Stimme des Gewissens, kurz: nicht mehr über ihre Würde, sondern über eine universale Nutzen-Kosten-Rechnung, die nur den sachlogischen Wert der Umwelt als Verantwortungsgröße kennt. Das aber ist ethisch verantwortungslos, weil es die Umwelt als bloß vorhandene sachliche Größe verrech-

150

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

net. Jede Umwelt aber erbaut sich vor allem über die in ihr anwesenden Personen, erst diese machen die Umwelt zu einer lebendigen Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft gilt es nach bestem Wissen und Gewissen gut zu führen, indem man den Geist einer Umwelt so zu gestalten sucht, dass ersichtlich wird, dass das jeweilige Handeln und Arbeiten zu etwas gut ist. Handeln und Arbeiten sind aber dann zu etwas gut, wenn sie zur Führung eines guten Lebens im Rahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten dienen. Das ist das Kennzeichen der Verantwortung Wovor. Zugleich ist es für jede Führungskraft von Bedeutung, Verantwortung auch auf der Ebene des Wofür zu durchdenken. Zweifelsohne gehört es zu den Pflichten der Führungsperson, die jeweilige Umwelt, also etwa die Unternehmenswelt zu fördern. Jede Führungsperson wäre fehl am Platze, wenn sie sich dieser Aufgabe nicht zu stellen weiß. Verantwortung zeigt eine Führungsperson dann, wenn sie persönlich für ihre Handlungen verantwortlich zeichnet, also bereit ist, gegenüber jedem von ihrem Handeln Betroffenen hierüber prinzipiell Rechenschaft abzulegen. Hierzu kann und muss auch die Kenntnis und die Sachlage der jeweiligen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Situation, etwa die eines Unternehmens, herangezogen werden. Zur Verdeutlichung dieser Situation kann dann auch das Wissen von Experten herangezogen werden. Denn kein Unternehmen kann ökonomisch als Wohlfahrtsveranstaltung geführt werden. Aber dieses Wissen muss ethisch bedacht und in Beziehung zur persönlichen Verantwortung gestellt werden. Gewissenhaftes Handeln muss sich daher dadurch auszeichnen, dass es für etwas gut ist und dass die davon Betroffenen eben diesen Sinn erkennen. Gut sein und einen Sinn erkennen bedeutet vor allem, dass die Handlungen einsichtig und ethisch bejahenswert sind. Es bedeutet aber nicht unbedingt, dass Einzelinteressen oder Gruppeninteressen dabei bedient werden müssen. Hier steht das Gesamtwohl höher als das Einzelwohl. Dieses Gesamtwohl hat die Erhaltung und Beförderung der jeweiligen Institutionen, Organisationen oder auch Unternehmen zum Inhalt, und zwar unter der Perspektive, dass keine solche Unternehmung in ethischer Hinsicht einen Selbstzweck darstellt. Dies wird allein schon an der ökonomischen Tatsache klar, dass beispielsweise jedes Unternehmen seine Produkte bzw. seine Dienstleistungen auf dem Markt anbieten muss, um zu überleben. Das Wofür der Verantwortung ist darum eine nach außen gerichtete Größe. Eine Einsicht zum Thema Verantwortung soll noch kurz benannt werden. Bedingt durch den Utilitarismus - also die philosophische Lehre, die allein im Nützlichen die Grundlage für ethisches Denken und Handeln sieht und darum ideale Werte nur anerkennt, wenn sie dem Einzelnen oder der Gemeinschaft nützen - hat sich ein universeller Verantwortungsbegriff in unse-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

151

rer Kultur breitgemacht. Dahinter steckt die Vorstellung, dass jeder verpflichtet ist, die beste aller Welten zu erschaffen und dass jeder ein Recht auf Glück hat. Nun ist es nicht in Abrede zu stellen, dass Glück und eine beste Welt, an sich gesehen, hohe Ideale sind. Nur ist damit nicht die Frage beantwortet, was denn Glück sei und wie die beste Welt beschaffen sein soll. Da diese Frage immer nur annäherungsweise und zugleich sehr unterschiedlich beantwortet wird, ist die Frage der Verständigung hierüber bis heute nicht geklärt. Als Konsequenz daraus hat sich allerdings eine politisierte oder gar ideologisierte Lebensbetrachtung eingestellt, die jeden Lebensvollzug, jede Handlung mit einem universellen Verantwortungsbegriff bemisst. Auf diese Weise werden Verantwortungszusammenhänge hergestellt, die manchmal geradezu absurd sind, und zwar deswegen, weil menschliches Leben und Handeln immer wieder auch schlicht banal ist. Diese Banalität wird aber durch die ideologisierte Lebensbetrachtung geradezu existentiell hochstilisiert. So etwa, wenn der „einfache Mann auf der Straße“ für politische oder ökonomische Gegebenheiten in der sogenannten „dritten Welt“ mitverantwortlich gemacht wird. Ihm begegnen dann immer wieder moralische Appelle, sich politisch korrekt zu verhalten, moralische Appelle, die aber stets ins Leere laufen. Und zwar deswegen, weil kein Mensch einem universellen Verantwortungsbegriff je gerecht werden kann. Das trifft selbstverständlich auch auf jede Führungsperson zu. Christliches Reden von Verantwortung geht darum immer von einer menschlichen und darum begrenzten Verantwortung aus. Ein Mensch ist verantwortlich für sein Leben und dessen Lebensvollzüge, ist verantwortlich für sein Handeln und die daraus folgenden Konsequenzen. Damit dies freilich nicht in eine egozentrische Haltung mündet, bedarf es hier immer der Schulung durch die Personenethik und durch das Gewissen. Allerdings gilt hier dann auch: Je mehr Macht und Einfluss jemand innehat, desto größer und weitreichender ist auch seine Verantwortung. Das gilt vor allem für Führungspersonen. Aber kein Mensch ist für alles Leben und Handeln in der Welt verantwortlich, dementsprechend ist jeder Mensch begrenzt verantwortlich für das politische, ökonomische oder eben auch unternehmerische Leben. Absolute Verantwortung kann kein Mensch tragen. Verantwortung, richtig verstanden, ist immer begrenzte Verantwortung im Rahmen menschenmöglicher Einflussmöglichkeiten. Hierfür muss jeder persönlich durch seine Person einstehen. Ethik in der Führung gelingt daher nur, wenn Macht, Vertrauen, Gewissen und Verantwortung darin übereinkommen, das ethisch als gut Erkannte für die handelnden Personen zu suchen und handlungsleitend, etwa für die öffentliche Positionierung eines Unternehmens, auch zu wollen.

152

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

4. 6. Das Lachen und das Heilige Ethik in der Führung lebt vom erkannten Guten, das dann willentlich von den handelnden Personen mit persönlichen Einsatz und Charme, mit Klarheit und Augenmaß anzugehen ist. Dennoch aber erleben wir in unserem Leben oder Berufsalltag Situationen, in denen wir an die Grenze dessen stoßen, was wir selbst meistern und bewerkstelligen können. Wir erleben, dass wir das als gut Erkannte verfehlen, obwohl wir mit bestem Wissen und Gewissen entschieden und gehandelt haben. Und wir erleben darüber hinaus, dass der Druck des Berufes zur Last werden kann. Die Rede ist vom „Burn-out-Syndrom.“ Dieses ereilt uns dann langsam, aber stetig, wenn wir uns den Ernst des Lebens und des Berufes zu sehr zu Herzen nehmen und den inneren Abstand zum Ganzen des Lebens oder des Berufes verlieren. Wenn uns also, wie man sagt, das „Lachen im Halse stecken bleibt.“ Kinder lachen bekanntlich viel, aber je älter wir werden, desto mehr laufen wir Gefahr, das Lachen zu verlernen. Wer aber das Lachen verlernt, der erfährt auch kaum mehr dessen befreiende Wirkung. Das miteinander geübte herzhafte Lachen verweist uns nämlich auf eine andere Ordnung der Dinge und des Lebens, als wir mit rationalen Gründen je erschließen können. In aller Regel ist unser Bewusstsein durch die Ordnung der Dinge und des Lebens befangen. Im Lachen aber verliert diese bewusste Ordnung ihr starres Gehäuse, so dass man sogar sagen kann: Lachen befreit. Indem wir etwa - im wahrsten Sinne des Wortes - ins gemeinsame Lachen ausbrechen, geben wir zu erkennen, dass wir für die Zeit des Lachens alle uns vorgegebenen Vernunftordnungen durchbrechen und zugleich dessen einsichtig werden, dass wir niemals unser Leben komplett beherrschen können. Diese Einsicht befreit und stellt den gesunden Abstand zum Leben und zum Beruf wieder her und wehrt auf diese Weise dem „Burn-out-Syndrom“. Deswegen reden wir sogar vom erlösenden Lachen. Solange wir aber an der vollkommenen Machbarkeit unseres Lebens, unseres Berufes und unserer Verantwortlichkeit gedanklich festhalten, so notwendig alle ernsthaften Bemühungen darum sind, wird unser eigenes Gemüt starr und unbeweglich. Und in Folge finden der Humor und das herzhafte, fröhliche Lachen keinen Platz und keine Zeit mehr in unserem Leben. Vielmehr wird unser gesamtes Leben als todernste Angelegenheit betrachtet und einer, wie immer gearteten, Versachlichung unterzogen bis hin zur politisierten Ideologie. Das aber ist eine humorlose Angelegenheit und bringt das Ende der Lebensfreude mit sich. Denn ohne Humor und Lachen lässt sich nicht befreit leben. Wir alle spüren dies, wenn wir an humorvollen und herzhaft lachenden Menschen wie von selbst Gefallen finden. Der Mensch ist eben das einzige Lebewesen, das die Gabe des Lachens besitzt und zum Leben braucht. Lachen ent-

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

153

springt der einfachen und alltäglichen Erfahrung, dass etwas oder jemand aus der Vernunftordnung der Dinge oder des Lebens herausfällt. Das Gleiche gilt übrigens auch für das Weinen. Unter anthropologischer Perspektive hat Helmuth Plessner die Phänomene von Lachen und Weinen untersucht (Lachen und Weinen, 201 - 387). Uns interessiert hier freilich nur das Phänomen des Lachens. Lachen entsteht dann, so ist Plessner zu verstehen, wenn unser Ordnungssinn der Vernunft in eine Grenzlage gerät, in der zwei gegensinnige Erfahrungen auf einmal einem Menschen widerfahren und dadurch eine durch Vernunft nicht zu lösende Situation entsteht: „Nur solche Grenzlagen reizen zum Lachen, die ...durch ihre Nichtbeantwortbarkeit es dem Menschen zugleich verwehren, ihrer Herr zu werden und mit ihnen etwas anzufangen“ (ebd., 328). Lachen ist das Widerfahrnis eines vernünftig nicht aufzulösenden, erlebten „...Antagonismus zwischen anschaulicher Eindeutigkeit und sinnhafter Mehrdeutigkeit, zwischen Sinn und Sinn...“ (ebd., 329), der ins Lachen führt. Lachen erlöst hierbei den Menschen aus seiner gedanklichen Ratlosigkeit und verweist den Menschen darauf, dass allein mit Vernunftgründen die Vielfalt von Lebenserfahrungen und die gedankliche Unverrechenbarkeit von überraschenden Lebenssituationen nicht zu meistern ist. Im darin ausbrechenden Lachen findet denn auch das Komische seinen Grund. Darum ist das Lachen mehr als nur eine menschliche Fähigkeit, Lachen ist zugleich ein Gabe Gottes, die, so überraschend dies klingen mag, zum Heiligen führt. Darum lautet eine Seligpreisung Jesu auch: Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen (Lukas 6, 21b). Lachen hat einen erlösend-göttlichen Charakter. Denn sowohl das Komische als auch das Heilige neigt dazu, in unwahrscheinlichste Situationen von außerhalb in die Wirklichkeit einzubrechen, die nur im befreienden Lachen ihre Lösung finden. Der Soziologe Peter L. Berger berichtet zur Veranschaulichung des Gesagten von einem Erlebnis des Theologen und Pfarrers Helmut Thielicke gegen Ende des zweiten Weltkrieges, als dieser in einer Dorfkirche bei Stuttgart predigte: „Plötzlich begann ohne Vorwarnung ein Bombenangriff, und ein furchterregender Lärm von angreifenden Flugzeugen, Maschinengewehren und feuernder Flak entstand. Thielicke rief von der Kanzel: ,Alles hinlegen! Wir singen 'Jesu, meine Freude'!’ Organist und Gemeinde folgten dieser Anweisung. Thielicke konnte von der Kanzel aus niemanden mehr sehen, da alle zwischen den Bänken kauerten und sangen. Trotz des ungeheuerlichen Lärms und der großen Gefahr erschien die Situation nun als durchaus komisch. Er begann laut zu lachen. In der Rückschau dachte er, dass dies gewiss ein gottgefälliges Gelächter war“ (Berger, erlösendes Lachen, 240). Der Zusammenhang zwischen dem Lachen und der Situation ist offensichtlich. Das Lachen bricht in die vernünftig erschlossene Ordnung des Lebens, in die bestimmende, dichte und zwin-

154

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

gende Wirklichkeit ein und befreit gerade diese Wirklichkeit hin zu einem anderen Sinnbereich, zu einer entlastenden Gegenwelt. So führt das Lachen und das darin verwurzelte Komische an die Grenze der Vernunft, die nur durch das Lachen zu ihrer Vernunftordnung der Dinge und des Lebens zurückgeführt werden kann. Lachen befreit, indem es die Vernunft aus ihrer Erstarrung erlöst und so wieder in ihre Beweglichkeit zurückführt. Das ist das Wesen der „lachenden Vernunft“, die jeden Menschen, jede Führungsperson befähigt, unlösbare Situationen so anzunehmen, dass man dabei als lachender Mensch sozusagen wieder heil herauskommt. Denn Humor ist das fröhliche Eingeständnis der Begrenztheit unserer Macht und unseres Ordnungsdenkens. Und diese „lachende Vernunft“ ist zugleich dem Heiligen, der Transzendenz, ja Gott selbst nahe. Ist doch das Heilige, ist doch Gott für den Menschen vornehmlich als ein Sinnbereich erlebbar, der zwar rationales Denken übersteigt, aber - die Vernunft ansprechend und leitend - vernehmbar ins Leben hineinragt. Hierin haben das Lachen und das Komische ihren Berührungspunkt mit dem Heiligen. „Der Vergleich mit dem komischen Erlebnis ist instruktiv. Beide Erfahrungen haben gewisse Grundzüge mit allen anderen „geschlossenen Sinnbereichen“ [wie etwa dem Traum, der Ästhetik, der menschlichen Geschlechtlichkeit, F.R.] gemeinsam - separate Realitätsstrukturen, eigene Raum-Zeitlichkeit, „Schwellen“-Empfindungen beim Betreten und Verlassen der Inselwelt, spezifische Wahrnehmung anderer Menschen und spezifische Eigenwahrnehmung“ (ebd., 242). Die Welt der Komödie und die Welt des Heiligen leben von dem vernünftig nicht mehr zu klärenden Empfinden, in eine andere Ordnung der Dinge und des Lebens einzutauchen, die im Verhältnis zur vorfindbaren Wirklichkeit einen befreienden Charakter hat. Die Erfahrung des Heiligen, die Erfahrung Gottes, hat darüber hinaus noch die Qualität „...einer vollkommenen Andersheit, eine Ambiguität von Schrecken und Faszination ... und eine Haltung der Ehrfurcht“ (ebd., 243). Es ist übrigens die alttestamentliche Erzählung der Geburt Isaaks, die dieses heilige Lachen im Form einer biblischen Komödie anschaulich erzählt: „Und der Herr suchte Sara heim, wie er gesagt hatte, und tat an ihr, wie er geredet hatte. Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter einen Sohn um die Zeit, von der Gott zu ihm geredet hatte. Und Abraham nannte seinen Sohn, der ihm geboren war, Isaak, den ihm Sara gebar, und beschnitt ihn am achten Tage, wie Gott ihm geboten hatte. Hundert Jahre war Abraham alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde. Und Sara sprach: Gott hat mir ein Lachen zugerichtet; denn wer es hören wird, der wird über mich lachen. Und sie sprach: Wer hätte wohl von Abraham gesagt, daß Sara Kinder stille! Und doch habe ich ihm einen Sohn geboren in seinem Alter“ (1. Mose 21, 1 - 7).

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

155

Auch hier treffen wieder der Ernst der Lage und das Lachen aufeinander: Denn sowohl Abraham als auch Sara sind aufgrund ihres biblischen Alters nach menschlichem Ermessen nicht mehr in der Lage, Eltern eines leiblichen Sohnes zu werden. Doch wie wird dieser schiere Lebensernst überwunden? Durch das göttlich gestiftete Lachen. Nicht nur Sara lacht und findet darin ihre gewünschte Befreiung, sondern das neugeborene Kind selbst wird mit dem Lachen gleichgesetzt: Der Name des neugeborenen Kindes ist „Isaak“, welches ins Deutsche übersetzt „er lacht“ bedeutet. Der Name Isaak bezeichnet also das gemeinsame fröhliche, herzhafte und schallende Lachen, welches darüber hinaus auch noch die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau beschreibt. Zudem kann der Name „Isaak“ zwei unterschiedlichen Subjekten zugeordnet werden: Er kann heißen: Er, also der Vater (Abraham), lacht, oder es, das Kind (Isaak), lacht. Im Namen Isaak ist also schon das lachende Beziehungsgeschehen angegeben, in dem Menschen miteinander in ein befreiendes, fröhliches Lachen ausbrechen können. Das Lachen, die darin begründete Komik und das Heilige eröffnen also dem Menschen eine Gegenwelt, die befreiend auf den Ernst unseres Lebens und des Berufsalltags einwirken will. Darum sollten wir bei aller Ernsthaftigkeit des Lebens die befreiende Dimension des Lachens uns selbst und den anderen wieder zugestehen. Darum lautet eine Volksweisheit auch: „Lachen ist gesund.“ Allein beim Lachen, gar beim heiligen Lachen stehen zu bleiben, ist aber zu kurz gegriffen. Denn die uns im Lachen eröffnete Gegenwelt ist auch gefährlich, und zwar deswegen, weil damit das vernünftige Geschäft des Lebens entwertet zu werden droht. Denn sowohl die Komik als auch das Heilige haben die Tendenz in sich, das gesamte Leben zu transzendieren. Im Transzendenten aber kann der Mensch auf Erden nicht leben, es sei denn um den Preis des Wirklichkeitsverlustes, der sich religiös in Schwärmerei, gesellschaftspolitisch in Ideologie niederschlägt. Darum bedarf menschliches Leben immer auch der Handlungsrationalität, aber eben einer solchen, die um die Erfahrungsdimension der transzendierenden Komik und des transzendierenden Heiligen weiß. Es bedarf also im Leben der Menschen einer Balance zwischen dem Alltags- bzw. Berufsleben auf der einen, dem Komischen und dem Heiligen auf der anderen Seite. Um dies zu gewährleisten, wurden in unserer Kultur sowohl das Komische als auch das Heilige auf bestimmte Orte und Zeiten begrenzt. Das Komische wurde etwa durch die Höflichkeit und den Anstand begrenzt bzw. in Form des Kabaretts institutionalisiert. Und das Heilige wurde in seiner gesellschaftspolitischen Funktion durch die Institutionen der Kirchen gleichsam domestiziert. Dieses gelingende Wechselspiel zwischen Handlungsrationalität und dem Heiligen aber kann nur über die Brücke der „lachenden Vernunft“ gewahrt bleiben. Denn diese ist über die Handlungsrationalität hinaus offen für den fließen-

156

Ein wahrhaftiger Weg: Führung im Geiste christlicher Ethik

den Charakter des Lebens und Zusammenlebens der Menschen, weiß diese doch, dass der Mensch immer, an allen Orten und zu allen Zeiten ein vernünftiges und zugleich lachendes Wesen ist und bleiben wird. Martin Luther hat in seiner Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus den Glauben als Zuversicht und Vertrauen zu Gott beschrieben (Vgl. Bekenntnisschriften, 560ff.). Damit meint Luther, über alle Handlungsrationalität hinaus, das kindliche Vertrauen des erlöst lachenden Menschen als Lebensweise des Menschen. Denn das kindliche Vertrauen geht davon aus, dass etwa beim Kasperletheater der Kasper - bei allen Bedrohungen durch den Teufel - als strahlender Sieger auf der Bühne bleibt, oder dass die für kurze Zeit verschwundene Mutter wieder auftaucht, sich dem Kind wieder zuwendet und so das Kind wieder lachen kann. Wenn Luther nun den Glauben als Urvertrauen des Menschen gegenüber Gott beschreibt, dann meint Luther hier, dass der Mensch immer wieder Grund zum Lachen in seinem Leben findet, ein Lachen freilich, das in der höheren Erfahrung mit dem Heiligen Gottes gegründet ist. Der lachende Mensch aber nimmt dies fröhlich und zuversichtlich wahr und kann daher einen Wirklichkeitsblick erschließen, der in schier unlösbaren Situationen alle Beteiligten dazu einlädt, miteinander zu lachen. Und die miteinander Lachenden gewähren auch dem Anderen, etwa dem Konkurrenten, dem Gegenspieler, dem Unterlegenen, sein Gesicht wahren zu können. Lachen ist darum auch ein Ausdruck einer gelingenden Personenethik. Wenn aber gewährleistet ist, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können, dann können auch schwierige Situationen wieder in die Ordnung des Denkens und des Lebens überführt und ethisch sinnvoll bedacht werden. Und erst dann, wenn wir Menschen wieder an uns und miteinander die herzhafte Gabe des gemeinsamen Lachens entdecken, werden wir eine Gesellschaft gestalten können, die in der Lage sein wird, auch schwierige Situationen gelassener zu meistern. Darum bedürfen alle Menschen der Wiederentdeckung des Lachen. Und es wird sich zudem zeigen, dass sich Führung auf einfache Weise verbessern wird. Dazu bedarf es freilich keiner teueren Lachseminare, es genügt schon das erwachte Bewusstsein im Sinne des kindlichen Vertrauens zu Gott. Das nämlich gewährt die Sicherheit und Zuversicht im Lachen und im Leben. Diese befreiende Kraft des vertrauensvollen Lachens vor Augen, eröffnet sich auch der wahre Sinn des Jesuswortes: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen (Matthäus 18, 2). Kinder, so ergab eine Untersuchung, lachen am Tag durchschnittlich 400 mal, während Erwachsene dies im Schnitt nur 15 mal täglich tun. Im befreienden Lachen sollten wir es den Kindern wieder gleichtun. So gesehen, können Kinder Vorbilder sein für alle Erwachsenen, dementsprechend auch für alle Verantwortlichen in leitender Position.

Kapitel VI. Haltung als Maß Die Überlegungen zur Persönlichkeit und Führung im Geiste christlicher Ethik leben von der Anerkenntnis der Begegnung der Menschen als Personen. Unter dem Stichwort der Herzensbildung kommt das Grundlegende einer Persönlichkeitsbildung zum Vorschein, die wiederum unter Beherzigung der Tugenden lebensdienlich zum Tragen kommt. Herzensbildung und Tugendhaltung aber kommen in der Frömmigkeit gemeinsam zum Ausdruck. Diese beherzigt und gelebt, stellt, kurz gefasst, eine Persönlichkeit dar. Der Alltag des Berufs und des Lebens aber erweist die Bewährungskraft jeder Führungspersönlichkeit. Wenn sich aber eine Führungspersönlichkeit unsere gedanklichen Empfehlungen zu eigen macht, wird sie in der modernen Welt, vor allem in der Ökonomie, wohl auf Skepsis stoßen. Dieser Einwand kann dahingehend zusammengefasst werden, dass die moderne Welt zu vielfältig, dass gar die Welt der Politik und der Ökonomie zu groß, zu eigenmächtig und zu selbstläufig sei. Wie nun mit dieser Skepsis sinnvoll umgegangen werden kann, wollen nachfolgende Überlegungen darlegen. Denn diese Skepsis übergeht einfach und argumentationslos die Tatsache, dass jede Lebenswelt der Menschen, damit auch die Lebenswelt der gesamtem Ökonomie oder auch der Politik, eine menschengemachte, und darum willentlich gestaltete Lebenswelt ist. Hier gilt der einfache wahre Satz: Wer will, kann auch immer anders wollen. Willentliches Gestalten aber setzt immer eine geistige Einstellung voraus, die wir Haltung nennen. Haltung ist aber immer Ausdruck einer Persönlichkeit. Will man also seine Führung im Geiste der vorgelegten christlichen Ethik besorgen, muss eine Haltung zum Leben und zum Beruf eingenommen werden, die sich am Maß der Personenethik orientiert. Dies gelingt nur, wenn man sich kritisch und nachdenklich zu scheinbar Selbstverständlichem ins Verhältnis setzt. Wir fragen darum nach dem Normalen, befragen den Pragmatismus und hinterfragen das Wissen. Und wir bedenken in erkenntnistheoretischer Hinsicht das Wesen des christlichen Glaubens und der Hoffnung, um schließlich die Ordnung der Liebe zu empfehlen. Dies alles zusammen zeichnet eine Haltung als Maß für menschliche und darum persönliche Lebensvollzüge aus.

158

Haltung als Maß

1. Das Normale Wie immer wir auch unser Leben führen, jedes Leben bedarf einer geistigen Einstellung, die den Anforderungen des Lebens gerecht wird. Dies zeigt sich in der Haltung, die dem Leben und Handeln ein Maß gibt. Unter dem Begriff „Haltung“ verstehen wir in Anlehnung an Karl Jaspers das Bewusstsein der Geborgenheit, das über die alltäglichen Gewohnheiten und Handlungsformen hinaus Sicherheit stiftet. Ohne Geborgenheit und Sicherheit kann kein Mensch gut leben, weil er immer auch mit der objektiven Möglichkeit des Scheiterns im eigenen Leben konfrontiert wird. Jedes menschliche Leben und Handeln hat nämlich immer ein Ziel, das freilich auch verfehlt werden kann. Darum gehört es zum Normalen menschlichen Lebens, Sinnzusammenhänge zu suchen, die ihm das Bewusstsein der Geborgenheit eröffnen und darum Sicherheit stiften. Dieses normale Geschehen zeigt sich in der Haltung des Menschen zum Leben und Handeln. Und normal ist diese Haltung, wenn sie sich in dem Bewusstsein der Geborgenheit vollzieht, also so, dass der Mensch sich seiner selbst sicher ist und darum maßvoll leben kann, auch wenn er an bestimmten Lebensaufgaben scheitert. Um zu dieser Haltung zu kommen, bedarf es einer wirklichkeitsnahen Selbsteinschätzung über die eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Zugleich aber bedarf es der christlich begründeten Einsicht, dass jeder Mensch als Person ein qualitätsfreies Wesen ist, also nicht in seinem Handeln aufgeht. Diese Einsicht befördert nämlich sowohl die Haltung der Gelassenheit als auch die Freude am Leben. Normal ist es nämlich, gerne zu leben. Wir sahen schon, dass jeder Mensch als geistiges Wesen gefordert ist, sein Leben zu führen. Sich als geistiges Wesen zu erkennen, setzt ein teleologisches Weltbildes voraus, also die Einsicht, dass unser gesamtes Leben einer Vollendung außerhalb unserer selbst entgegenläuft. Wir haben diese Einsicht noch in den Wendungen aufbewahrt: Ein Leben führen, einen Lebensweg gehen. Ein Weg ist aber sowohl durch seinen Anfang als auch durch sein Ziel bestimmt. Und nur von diesem Gedanken des Zieles her können wir das Vollendete des Lebens erkennen sowie ebenso das Unvollendete, das Bruchstückhafte, das Begrenzte unseres Lebens. Das geistige Ziel des Menschen ist in seiner Wesensvollendung zu finden. Darum haben wir ein Bild in uns von dem, wie gelingendes, vollendetes Leben aussehen könnte, ersichtlich etwa darin, dass wir geliebte Menschen gerne als „Engel“ titulieren. Dieses Bild vom gelingenden Leben wird biblisch mit den Stichwort vom „Paradies“, vom „Himmel“, vom „Reich Gottes“ umschrie, ben, also mit gedanklichen Größen, die vollkommen außerhalb unserer Möglichkeiten liegen. Da diese Bilder an die Erfahrung des Heiligen rühren

Haltung als Maß

159

ist deren Möglichkeit allein in Gott begründet. Für diese bildhafte Sprache der Wahrheitserschließung hat die säkulare Gegenwart trotz großer Anstrengungen keine anderen Bilder oder Verheißungen setzen können, die annähernd des Menschen Gestimmtsein zur Wahrheit so wirkmächtig aufgreifen wie diese. Die bisweilen hierfür als weltlicher Ersatz angebotenen Bilder wie „Volk“, „Nation“, „Weltbürgertum“ oder „Kosmopolit“ haben sich im Laufe der Geschichte als nicht tauglich erwiesen. Normal ist es also, mit religiösen Bildern der Hoffnung seine eigene Wesensvollendung gedanklich vorwegzunehmen. Darum bezeichnet man diese Bilder in der christlichen Erkenntnistheorie als eschatologisch, also als die „letzten Dinge“ betreffend, die dem Handeln des Menschen entzogen sind. Dieses Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es hinter der rein materiell gegebenen Welt, hinter den alltäglich gegebenen Lebensvollzügen, eine sinnerfüllte „Gegenwelt“ wahrnimmt, die der Wahrheit Gottes entspringt. Klassisch wird diese „Gegenwelt“ mit dem Begriff „Metaphysik“ umschreiben. Das Gestimmtsein des Menschen zur Wahrheit ist dessen konkrete Lebensäußerung. Im Lachen, so sahen wir, erleben wir einen alltäglichen Anklang an diese „Gegenwelt“. Normal ist es aber auch, dass wir immer wieder an uns selber scheitern und das Bewusstsein der Geborgenheit fraglich wird. Denn kein Mensch kann sich selbst vervollkommnen. Diese Einsicht verbirgt sich, wie wir schon sahen, hinter dem vor allem in unserer Zeit so missverstandenen Begriff Sünde. Sünde ist keine moralische Kategorie, sondern eine Wesensbeschreibung des Menschen: Die immer und bei allen Möglichkeiten der Entscheidung gegebene Disposition, sich selbst als geistiges Wesen zu verfehlen. Wird freilich nun das teleologische Weltbild aufgegeben zugunsten des Höhlendaseins, kann man im ethischen Sinne nicht mehr von einer möglichen Verfehlung des Lebens oder gar von Schuld sprechen. Damit verlöre auch die Vorstellung des Bösen, etwa des Krieges, des Mordes, des Missbrauchs, der Vergewaltigung seinen bösen Charakter, denn übrig blieben nur schuldunfähige Menschen, die nur das in ihnen angelegte „Programm“ leben. Ohne das teleologische Weltbild kommt es zu der trotzigen Selbstrechtfertigung des Menschen: „So bin ich eben“. Verantwortung kann dann nicht mehr benannt, Ethik nicht mehr gedacht und gelebt werden. Allerdings ist diese Haltung nicht geeignet, ein Zusammenleben zu befrieden, heraus käme nur eine Vielzahl von abgeschlossenen Individuen, die gemäß ihrer eigenen Veranlagungen den Kampf ums Überleben führen. Das aber ist nicht normal, zeigt doch das kulturelle Leben der Menschen auf, dass jeder Mensch ein auf Gemeinschaft und Verständigung bezogenes Wesen ist, das sich im Rahmen dieser Gemeinschaft eben immer wieder selbst relativiert und in Beziehung zu anderen Menschen setzt. Normal ist es eben, Gemeinschaft zu suchen und zu pflegen. Schon der Ursprung jedes

160

Haltung als Maß

menschlichen Lebens entsteht in der Gemeinschaft von Mann und Frau. Insofern kommt die teleologische Weltsicht darin überein, dass sowohl der Ursprung als auch das Ziel des menschlichen Lebens außerhalb der jeweiligen Person liegt. Daher ist es berechtigt zu sagen, dass der Mensch immer mehr ist, als er sich je vorfindbar zeigt. Das Normale des menschlichen Lebens ist es daher, angesichts der Möglichkeiten des eigenen Scheitern im Leben die Haltung des Bewusstseins der Geborgenheit zu suchen und gedanklich zu durchdringen. Dies aber geschieht normalerweise mit der Haltung des Glaubens und nicht mit pragmatischen Überlegungen.

2. Pragmatismus Jede Führungsperson wird immer wieder in ihrer Leistung und ihrer Handlungskompetenz mit Zielangaben konfrontiert und muss dann hierzu eine persönliche Haltung einnehmen. Sei es im politischen Leben die Parteienoder die Staatsräson, sei es im ökonomischen Bereich der Vorstand, die Geschäftsleitung, der Aufsichtsrat, sei es die Aktionärsversammlung, sei es die Gesellschafterversammlung: Immer werden die Führungskräfte hierbei primär an den systemimmanenten Zielvorgaben gemessen und beurteilt. Im ökonomischen Bereich setzen sich diese Zielvorgaben in letzter Zeit vor allem aus Effizienz und Cashflow zusammen. Und jede Führungspersönlichkeit wird darum unter Anwendung dieser Zielgrößen beurteilt und dementsprechend bezahlt oder eben entlassen. Der Geist dieser in unserer Gesellschaft mehr und mehr um sich greifenden Haltung wird Pragmatismus genannt. Darunter versteht man eine bestimmte Erkenntnistheorie us-amerikanischer Herkunft, welche die Haltung zu Handlungsentscheidungen nicht an ethischen Prinzipien oder langfristigen Zielsetzungen ausrichtet, sondern am erwarteten Nutzen der vermuteten (kurzfristigen) Handlungsfolgen. Dadurch aber wird ethisches Denken neutralisiert, und der Pragmatismus läuft auf eine Reduzierung von Wahrheit auf Nützlichkeit hinaus: Wahr ist, was nützlich ist. Zwar kann jede in Verantwortung stehende Person, seien es Unternehmensführung oder Politiker, nach dieser Vorstellung leben. Aber die Konsequenz aus dieser Geisteshaltung ist es, dass die davon betroffenen Menschen selbst nur zu einem Mittel der Nützlichkeit werden und somit ihre Würde verlieren. Das gilt in reflexiver Hinsicht selbstredend auch für alle Personen, die sich den Pragmatismus als Haltung selbst zu eigen machen und nach dieser Erkenntnistheorie sowohl den geschäftlichen als auch den privaten Umgang organisieren. Denn diese Personen werden dann ihrerseits nach dem Nützlichkeitsdenken beurteilt und bewertet. Dadurch aber

Haltung als Maß

161

werden Menschen im Laufe der Zeit überflüssig, und zwar dann, wenn sie keine Nützlichkeit etwa für Gesellschaft oder Ökonomie bringen. Die immer wiederkehrende Diskussion um die Euthanasie ist solch eine Diskussion, die vom Geist des Pragmatismus beherrscht wird. Im Rahmen einer als Fürsorge titulierten Anteilnahme wird hier den Betroffenen das täuschend echte Gefühl vermittelt, dass deren Leben nicht mehr lebenswert sei, so dass diese den Wunsch verspüren, den Anderen doch nicht zur Last fallen, also lieber sterben zu wollen. „Ist indessen die Krankheit nicht nur unheilbar, sondern dazu noch dauernd qualvoll und schmerzhaft, dann reden Priester und Behörden dem Kranken zu, da er doch allen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen, den Mitmenschen zur Last, sich selber unerträglich, seinen eigenen Tod bereits überlebe, solle er nicht darauf bestehen, die unheilvolle Seuche noch länger zu nähren, und nicht zögern zu sterben, zumal das Leben doch nur eine Qual sei; er solle sich also getrost und hoffnungsvoll aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen; daran werde er klug tun, da ja der Tod keinen Freuden, sondern nur Martern ein Ende mache, und zudem werde er fromm und gottesfürchtig handeln, da er damit dem Rat der Priester, das heißt der Deuter des göttlichen Willens gehorche“ (Morus, Utopia, Kapitel 21: Krankenpflege). An diesem Text wird in beeindruckender Weise der Geist des Hedonismus ersichtlich, der im Pragmatismus als Nützlichkeitsorientierung seine Spitze findet. Nur solange das Leben des Einzelnen für die Gesamtheit von Nutzen ist, so lange sei das einzelne Leben auch lebenswert und wertvoll. Wird dieses Kriterium nicht mehr erfüllt, dann ist der Tod dem verbleibenden Leben vorzuziehen. Kurz gesagt: Töten ist einfacher, pragmatischer und zudem billiger als Trösten. Das aber ist eine der perfidesten Denkformen der Geisteshaltung des Pragmatismus. Werden Leben und Handeln allein nach den Regel des Pragmatismus geordnet und bewertet, so werden Leben und Handeln ihrerseits selbst entwirklicht, weil in ihnen nur noch die politische, ökonomische oder gesellschaftliche Nützlichkeit als Sinnträger aufscheint. Auf diese Weise aber tauscht der Pragmatismus die Würde des Menschen gegen seinen Wert ein. Dagegen aber geht der Mensch von sich aus an, indem sich jeder Mensch auf Dauer dieser einseitigen Leben- und Handlungsbetrachtung entzieht und eine andere Lebensbetrachtung sucht: Der Mensch etabliert der Nützlichkeitserwägung entgegenstehende Lebensräume, die ihm die nützlichkeitsfreie Erfahrung von Lebenssinn eröffnen. So etwa sind die Erfahrung von Kunst und Musik, ihrem Selbstverständnis nach, solche nützlichkeitsfreien Lebensräume, die dem Schönen des Lebens zugeordnet sind. Noch mehr gilt dies für die Erfahrungen von Liebe und Vertrauen, von Frieden und Geborgenheit, von Treue, Verlässlichkeit und

162

Haltung als Maß

Trost, die als allen Menschen gemeinsame Wahrheitsbezeugungen zu verstehen sind. Daran aber wird ersichtlich, dass der Pragmatismus eine ihm gegenüberstehende, ursprünglichere Welt als Entlastung braucht, um selbst bestehen zu können. Insofern lebt der Pragmatismus von geistigen Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, auf die er aber notwendigerweise angewiesen ist. Selbst im ökonomischen Bereich wird ersichtlich, dass jedes Unternehmen einen Schatz von ethischen Einsichten notwendigerweise braucht, auf dem es seine Unternehmenspolitik gedanklich aufbaut. Deutlich wird dies u.a. auch daran, dass große Konzerne ihre eigene Geschichte pflegen und in Form von Museen oder von kulturellen Aktivitäten öffentlich darstellen. Damit aber geben sie selbst zu erkennen, dass der Pragmatismus als handlungsleitendes Interesse in keiner Weise hinreichend ist. Andernfalls würde jede Form des Zusammenlebens in ein zeitlich je begrenztes und jederzeit wechselndes Nützlichkeitsforum verwandelt werden, welches den Kampf aller gegen alle radikal befördern würde. Dieser Kampf aber ist als Prinzip des menschlichen Miteinanders schlicht nicht lebbar, jeder gesunde Menschenverstand erkennt dies. Dennoch aber erfreut sich der Pragmatismus gerade im ökonomischen Geschehen großer Beliebtheit. Der Grund hierfür ist in der einfachen Tatsache zu finden, dass aufgrund unserer hochtechnisierten Entwicklung mehr arbeitssuchende Menschen „auf den Markt drängen“ als hierfür Arbeitsplätze oder auch Führungsaufgaben zur Verfügung stehen. Deswegen aber können die jeweiligen Vorstände, die jeweiligen Führungspersonen im Prinzip jederzeit durch andere, ebenso nützliche Personen ersetzt werden, solange der Pragmatismus das Denken der Ökonomie bestimmt. Und neue Vorstände, neue Führungskräfte sehen sich aufgrund des Pragmatismus dazu verpflichtet, vieles in Fragen der Unternehmensführung besser, d.h. hier anders als die Vorgänger zu machen und zu organisieren. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass dies unter Umständen nötig ist, aber der entscheidende Aspekt hier ist der, dass das Denken des Pragmatismus diese Umstrukturierungen und Neuerungen ethisch neutralisiert und deswegen Folgen nach sich zieht, die ethisch nicht zu verantworten sind, so etwa, wenn börsennotierte Unternehmen an Wert gewinnen, wenn Personal abgebaut wird. Dies kann zwar aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt sein, aber wird dies primär im Geist des Pragmatismus vollzogen, dann wird die Haltung der Verantwortung sinnentleert, so dass eben die ethische Ausweispflicht für diese Entscheidung fehlt. Das aber befördert das immer wieder öffentlich vernehmbare Unbehagen über solche Entscheidungen. Gerade deswegen aber ist es, auch zum Wohle der Gesellschaften im weltweiten Verbunde, notwendig, derethischen Verantwortungslosigkeit des Pragmatismus zu widersprechen und allen Anhängern des Pragmatismus die geistigen Voraussetzungen mensch-

Haltung als Maß

163

lichen Zusammenlebens klar vor Augen zu stellen. Denn auf Dauer gesehen steht zu befürchten, dass der Pragmatismus auch diese geistigen Voraussetzungen zerstört, indem diese ihrerseits allein nach dem Kosten-NutzenEffekt beurteilt werden. Insofern macht der Pragmatismus blind für die geistigen Voraussetzungen menschlichen Lebens. Um dem zu wehren, bedarf es einer geistigen Schulung, welche den Menschen jederzeit und an jedem Ort im Status der Würde verwurzelt begreift. So sucht eine personenethisch begründete Haltung als Maß zum einen praktische Lösungen, die auch um die Kosten-Nutzen-Relation wissen. Zum anderen sucht die Haltung als Maß darüber hinaus Lösungen, die in den geistigen Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens begründet sind. Darum verweigert sich die Haltung als Maß einem maßlosen Profitstreben und bedenkt die Sozialpflichtigkeit unternehmerischen oder auch politischen Handelns. Jeder vernünftig denkende Mensch weiß das.

3. Wissen Wissen zählt in unserer Kultur zu deren Grundpfeilern. Lange Zeit auf dem denkerischen Erbe der griechischen Philosophie aufruhend, galt die Anschauung der Wirklichkeit, die Theoria, als das Maß einer alle Lebensbereiche einschließenden Wissenschaft. Dementsprechend unterscheidet Aristoteles die einzelnen Bereiche des Wissen 1. nach theoretischem Wissen, für das er die Theologie, die Mathematik, die Physik setzt, 2. nach praktischem Wissen, für das er die Politik, die Ökonomie, die Ethik setzt, und 3. nach poietischem Wissen, für das er die Kunstfertigkeit, das Können setzt. Ergebnis dieser Wissensdefinition war eine umfassende Weltdeutung, die im Denken von Vernunft als anschauender Größe, von Verstand als praktischer Größe und von Urteilskraft als alltäglicher Größe sprach und ihr Wissen im Sinne einer Kenntnis von allem, was erkennbar der Fall ist, zu formulieren verstand. Daher war Wissen immer eingebettet in eine Anschauung von Welt, Natur und des hinter der Natur Seienden, Meta-Physik genannt. Das alles wurde im Begriff der Theoria zusammengefasst, den wir heute in den Begriff „Theorie“ verkürzt haben. Das christliche Denken nahm sich - allgemein gesprochen - dieses Wissensverständnisses an und verband dieses mit dem biblisch bezeugten Auftrag an den Menschen, die Welt in ihrer Wirklichkeit zu gestalten und zu einer Kultur zu formen. Dieses Wissen wurde darum zum Anwalt der Beförderung eines guten Lebens für alle. Wissen und das Mandat, Gottes Mitarbeiter zu sein, beförderten darum Forschung und Lehre. Wissen war daher über die Gott vernehmende Größe

164

Haltung als Maß

der Vernunft immer eingebunden in ein verantwortliches, ethisches Handlungsmodell von Verstand und Urteilskraft. Vor allem durch das Entdecken der Freiheit im Denken durch die Reformation entwickelte sich im Kulturkreis des Protestantismus eine bis heute nachweisbare wissensorientierte Kulturprägung. So ist ein Großteil der kulturprägenden Persönlichkeiten Europas der evangelischen Denktradition zuzurechnen: Sei es Kant, Hegel, Fichte, Schleiermacher oder Nietzsche, sei es Bach, Telemann oder Händel, sei es Peugeot, Merck oder Bosch, sei es Goethe oder Schiller - immer wieder ist deren Denken von der durch den evangelischen Geist errungenen Freiheit bestimmt gewesen, einer Freiheit, die sich in konkreten Wissensvollzügen gesellschaftsrelevant niedergeschlagen hat. Nicht umsonst hat sich in der europäischen Kulturtradition das Wissen als Ausdruck der freien, vernünftig erschlossenen Weltbetrachtung und Welterschließung manifestiert, und zwar so, dass dadurch auch eine bestimmte Weltdeutung mit einherging. Ein weiterer Grund für die Wissenskonzentration in Europa liegt in der neuzeitlichen Wissenschaftstheorie, die, wie wir schon wissen, nach dem verum-factum-Prinzip eine bis heute bestimmende Weltdeutung vorgelegt hat: Wahr ist nur das, was der Mensch selbst gemacht hat. Die induktive Methode des Experiments ist seither der Schlüssel zur Wissenserhebung und beherrscht vor allem den naturwissenschaftlich-technischen Bereich maßgeblich. Das empirische Wissen, aufbauend auf den Verstand und der logischen Konzeption, entstand und wurde mehr und mehr zur bedeutendsten Form der Wissensgewinnung. Alles andere hat, so gesehen, eine nachgeordnete Bedeutung der Weltdeutung für ein vernünftiges Leben. Nur so ist der berühmt gewordene Satz von Francis Bacon zu verstehen: Wissen ist Macht. Auf diese Weise aber wurde sowohl das aristotelische als auch das christliche Wissensdenken aufgegeben, Wissen war fortan nicht mehr eingebunden in die allumfassende Denkordnung nach Vernunft, Verstand und Urteilskraft. Wissen war keine systematische Anschauung mehr von „Gott und Welt“, sondern wurde zur analytische Größe einer sachlogischtheoretischen Welterklärung. Damit aber verarmte das Wissen. Dieses Denken aufgreifend, allerdings in einem gebührenden Abstand und ohne die Gewissenhaftigkeit des Denkens von damals, erschallt in unserer Zeit der Ruf nach der sogenannten Wissensgesellschaft. Gemeint ist damit ein Leitbild für die gesellschaftliche Entwicklung, „in der Wissen immer zentraler wird als Voraussetzung für die Verständigung auf gemeinsame Ziele, für die Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung sowie für das soziale Handeln und die gesellschaftliche Position des Einzelnen“ (Delphi-Befragung 1998, 9). Es ist unbestreitbar, dass Forschungseinrichtungen, Institute, jedes Unternehmen immer auch in einem Wissenswettbewerb mit

Haltung als Maß

165

anderen Konkurrenten stehen. Ebenso unbestreitbar ist es, dass für alle Forschungseinrichtungen und Institute, für jedes Unternehmen Wissen und seine Anwendung bzw. Umsetzung eine unverzichtbare Größe zur jeweiligen Betriebssicherung ist. Forschung und Entwicklung sind in unserer Zeit u.a. tragende Säulen unserer Gesellschaft, und diese braucht notwendigerweise fachbezogenes Wissen. Unbestritten ist außerdem die Notwendigkeit, dass jedes Unternehmen gleich welcher Ausrichtung auf allen Führungsebenen über ein umfangreiches sachbezogenes Wissen verfügen muss, um sich öffentlich entsprechend gut zu positionieren. Damit aber ist die Rolle des Wissens schon hinreichend umschrieben, denn es handelt sich hierbei um analytisches Fachwissen. Dieses Fachwissen allein reicht aber nicht aus, um das Zusammenleben und Arbeiten der Menschen zum Guten hin zu gestalten. Denn die neuzeitliche Wissenstheorie des Rationalismus ist kein hinreichendes Instrumentarium zur Erfassung des menschlichen Lebens. Denn Leben in all seiner Lebendigkeit und Beweglichkeit ist immer mehr als die analytisch gewonnene Summe aller Teile. Wissen braucht, so es lebensdienlich sein soll, immer auch eine vernünftig-vernehmende Weltdeutung, kurz gefasst: Wissen bedarf der Wiedergewinnung einer Theoria, die christlich sich als Haltung des Glaubens zeigt. Anders ausgedrückt: Um wissen zu können, was etwas ist, muss man erst begriffen haben, was es sein soll. Darum zeugt es von einer Blindheit des Denkens, dem neuzeitlichen Wissensverständnis eine immer zentraler werdende Rolle bei der Gestaltung von Politik, Gesellschaft und Ökonomie zuschreiben zu wollen, sofern damit eine Verständigung über politische, gesellschaftliche oder ökonomische Ziele verbunden ist. Der Begriff Wissensgesellschaft setzt eine stehende Größe von Politik, Gesellschaft und Ökonomie voraus, die es aber einfach nicht gibt. Denn jedes Gemeinwesen, jede Gesellschaft und jedes Unternehmen erbaut sich aus Personengemeinschaften, die aufgrund ihrer lebendigen Begegnungswelten sich jeder Wissensverrechnung entziehen. Man nennt dies auch allgemein Emergenzgeschehen. Wäre dem nicht so, bräuchte es keine sozialpolitische und ökonomische Forschung und Lehre. Denn diese reagiert primär auf gesellschaftliche oder auch ökonomische Entwicklungen, unbeschadet von sekundär entgegenlaufenden Tendenzen. Damit aber bekunden selbst diese wissenschaftlichen Disziplinen die methodisch und wissensorientierte nicht einholbare Größe von Politik, Gesellschaft und auch Ökonomie. In der Diskussion um die Wissensgesellschaft wird zudem immer wieder die These aufgestellt, dass Wissen zugleich das soziale Handeln konditioniere. Und weil dem so sei, redet man von der „Wissensproduktion“, vom Wissen als „Ressource“ für eine Gesellschaft, verbunden mit der Vision einer sozialgeschichtlichen Reifung der Men-

166

Haltung als Maß

schen. Übersehen wird hierbei freilich zweierlei: Zum einen sind Menschen immer auch affektgebundene und irrational handelnde Wesen, Menschen handeln oft wider besseres Wissen, und zwar deswegen, weil menschliches Wissen auch durch den menschlichen Willen gestaltet und beeinflusst wird. Sowohl die aristotelische als auch die christliche Wissenskonzeption wissen dieses noch. Zum anderen hat Wissen immer auch einen unverfügbaren, einen nicht erzwingbaren Charakter. Es ist der Philosoph Karl Popper gewesen, der die nicht widerlegbare Einsicht formuliert hat, dass man nicht weiß, was man wissen wird. Darum sind alle Planungen von Politik, Gesellschaft und Ökonomie bis hin zur Unternehmensführung immer nur Vermutungen und Annahmen, aber keine gesichertes Wissen. Harry Collins und Trevor Pinch haben in ihren Büchern: „Der Golem der Forschung“ und „Der Golem der Technologie“ zudem noch auf die Brüchigkeit und Vorläufigkeit von wissenschaftlichem Wissen hingewiesen. Dies vorausgesetzt, zeigt sich die Blindheit der bekundeten Wissensoption darin, der Wissensgesellschaft solch eine zentrale und damit sinnstiftende Größe für Politik, Gesellschaft und auch Ökonomie zuzusprechen. Denn die postulierte Gleichsetzung von Wissen und Handeln lässt sich nicht beweisen, jedoch jederzeit widerlegen. Und jede ehrliche Führungsperson wird im Blick auf das alltägliche Arbeitsleben dieser Wissenskritik zustimmen. In den Worten des Apostels Paulus formuliert, heißt das: „Denn unser Wissen ist Stückwerk“ (1. Korinther, 13, 9). Darum muss Wissen als vorläufige Größe verstanden werden. Wissen ist darum letztlich nur Gewusstes. Wie deutlich menschliches Wissen immer den Charakter des Vorläufigen hat, zeigt auch die ursprüngliche Bedeutung des Verbums „wissen“, nämlich: „erblicken, sehen, erkennen“. Wissen gründet also auf Erblicktes, Gesehenes, Erkanntes. Damit hat Wissen aber einen vergangenheitsbezogenen Charakter, den der Mensch dann zur Grundlage seiner weiteren Orientierungen heranzieht. Hieraus erst baut der denkende Mensch seine Wissenssetzungen, seine Axiome auf. Da der Mensch aber als endliches Wesen nur begrenzt erblicken, sehen und erkennen kann, ist sein Wissen naturgemäß bruchstückhaft, eben Stückwerk. Insofern ist jedes Wissen, so logisch es auch in sich konstruiert und organisiert sein mag, letztlich immer nur eine Art Hilfsmittel, eine Art „Prothese“ zur Beschreibung und Erfassung der uns begegnenden Wirklichkeit. Denn jegliches Wissen, auch in Zahlen oder Formeln ausgedrückt, hat immer einen die Wirklichkeit abbildenden Charakter. Wissen ist daher immer weniger als die Wirklichkeit selbst. Den die Wirklichkeit abbildenden Charakter von Wissen erkennen wir deutlich an unserem Zahlengebrauch. Denn auch Zahlen sind ihrerseits logische Setzungen zur Abbildung von Wirklichkeit, sind aber selbst nicht diese Wirklichkeit. So bezeichnen die Zahlen arabisch 1, römisch I, das Zahlwort „eins“ zwar genau

Haltung als Maß

167

die eine Wirklichkeit der „Einsheit“, stellen also auf unterschiedliche Weise exakt dieselbe Wirklichkeit dar, sind aber nicht diese Wirklichkeit. Unser Wissen ist daher immer nur eine Abbildung der erkannten Wirklichkeit und kann darum nicht die Wirklichkeit selbst sein. Deswegen aber ist unser Wissen immer eine begrenzte und zugleich gesetzte Übereinkunft menschlicher Erkenntnis. Und deswegen kann es kein Wissen im absoluten Sinne geben. Freilich verschleiert unser modernes Wissensverständnis diesen Zusammenhang und erhebt gar den Anspruch der absoluten Lebens- und Welterklärung. Dies aber ist hybride. Wissen ist und bleibt Stückwerk. Erkennbar wird dies auch daran, dass gebildete Menschen zu der Einsicht gelangen: Je mehr ich weiß, desto weniger weiß ich. Deswegen bleibt jede Art von Wissen notwendigerweise immer verwiesen auf eine dem Wissen vorangestellte, höherrangige Form der Welt- und Lebensdeutung, die aus der rezeptiven Vernunft kommt. Diese Haltung als Maß nennen wir Glauben.

4. Glaube Der Glaube führt in ein erwachtes Selbstsein. Denn Glaube ist die vernehmend-vernünftige Erkenntnis, dass es gutes Sein jenseits dessen gibt, was sich uns zeigt und darstellt. Dieses gute Sein nennen wir Gott. In der Haltung des Glaubens wird - im Gegensatz zum Wissen - eine Theoria, eine Erkenntnistheorie eröffnet und eingenommen, die auf das Ganze des Seins, also auf Gott als Ursprung und Vollender allen Seins, gerichtet ist. Der Glaube erschließt darum eine allumfassende Welt- und Lebensdeutung, die über die vernehmende Vernunft als einleuchtend begriffen wird. Der entsprechende Begriff hierfür heißt Offenbarung. Darum unterscheidet der Glaube grundsätzlich zwischen der Wahrheit als Wesensbezeugung Gottes und der Wirklichkeit als Auswirkung Gottes. In der Theoria des Glaubens werden nun Wahrheit und Wirklichkeit so zusammengedacht, dass beide im Gottesgedanken präsent sind. Nicht der Mensch erschafft sich die Wirklichkeit, nicht der Mensch denkt erschaffend die Wahrheit, sondern der Mensch erkennt über die Schule des Glaubens Schritt für Schritt die Wirklichkeit, indem er über die Wahrheit in seiner Vernunft angesprochen wird. Darum sind Wahrheit und Wirklichkeit so aufeinander bezogen, dass die Wirklichkeit erst durch die Wahrheit erkannt wird und nicht umgekehrt. Wirklichkeit und Wahrheit kommen aber darin überein, dass beide - in je unterschiedlicher Weise der Erfahrung - auf Gottes Sein verweisen. Und unser Denkvermögen erfährt in diesem Zusammenhang zugleich, dass Gottes Sein unvordenklich ist. Deswegen kann man Gottes Sein nur über den Weg des

168

Haltung als Maß

Nach-Denkens erkennen. Gott als der Unvordenkliche kann darum durch das menschliche Denkvermögen niemals „eingeholt“ werden, menschliches Denken über Gott ist im wahrsten Sinne des Wortes immer Nach-Denken. Menschliches Denkvermögen führt aber immer durch die Sprache. Darum ist der Glaube notwendig an die Sprache verwiesen, die sich kulturgeschichtlich ihrerseits meist in der Schriftform niedergeschlagen hat. Jede Schrift aber verweist notwendig auf den der Schrift zugrundeliegenden Geist, der in der jeweiligen Sprache anwesend ist. Jeder Sprachenkundige und Übersetzer weiß das. Darum bedarf es zum Verstehen der Schrift immer Personen, die den Geist der jeweiligen Schriftsprache verstehen und für das Leben bedeutsam machen können. Das aber war seit jeher die Größe bedeutender Menschheitslehrer. So ereignet sich die Verkündigung Jesu Christi in Form der Sprache, die in ihrer Grundaussage das Nach-Denken über Gottes Auswirkungen in der Wirklichkeit zum Inhalt hat: Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen (Matthäus 4, 17). Der wörtliche und eigentliche Sinn des griechischen Wortes für Buße heißt: Nach-Denken. Glaube ereignet sich also in Form des Nach-Denkens über die Bezogenheit von Gottes Sein als Wahrheit auf die Wirklichkeit. Und das Denken hat seinen Grund im Vernehmen der Wahrheit von Gottes Sein. Wäre dem nicht so, gäbe es kein gutes Sein jenseits dessen, was es gibt und was je der Fall ist, dann wäre alles genau das, als was es sich zeigt und was je der Fall ist. Nicht mehr. Ein blanker und kruder Materialismus wäre schlicht vorhanden. Das wäre alles. Auch dieser Text wäre nur eine Ansammlung von Druckerschwärze auf einem Papier, ohne vernehmbaren Geist und Sinn. Die Konsequenz daraus wäre, dass jede Reflexion, jedes Nachdenken und Erkennen leer und nichtig, sinnlos wäre. Jedes Denken würde sich selbst denken und wäre daher beziehungslos, unsinnig und absurd. Denken wäre nur ein funktionslogisches, monistisches und bedeutungsloses Ereignis von nichts und niemand. Glaube hingegen ist das aus der drohenden Sinnlosigkeit heraus erwachte Selbstsein des Menschen, das sich in seinem denkenden Gestimmtsein der Unvordenklichkeit von Gottes Sein bewusst wird und darum zum Bewusstsein der eigenen Person kommt. Zum Bewusstsein der eigenen Person zu kommen heißt, sich seiner eigenen Lebendigkeit sinnerfüllt innezuwerden. In der Sprache des Neuen Testaments werden darum die Glaubenden als „Kinder Gottes“ bezeichnet, die um die Fürsorge des „himmlischen Vaters“ wissen. Dieses Vertrauen ist der Hintergrund des Vaterunsers (vgl. Matthäus 6, 5 - 13), welches das Grundgebet der Christenheit ist. Glaube ist also das verlässliche Vernehmen von Gottes Bezogenheit auf die Wirklichkeit. Und das Gebet ist des Menschen Antwort hierauf. Schon die sprachliche Bedeutung der Wörter „Gott“ und „Mensch“ bezeugen dies. Gott bedeutet

Haltung als Maß

169

ursprünglich: das angerufene, dauerhafte Wesen (vgl. Grimm, Bd. 8, 1017ff.). Und Mensch bedeutet ursprünglich das nachdenkende Wesen (vgl. Grimm, Bd.12, 2021ff., bes. 2026f.), dem keine Dauer beschieden ist und das dem dauerhaften Wesen Gottes auf die Spur kommen will. Glaube als erwachtes Selbstsein eröffnet also eine fünffache Erkenntnis: 1. Zum einen die Einsicht in die eigene Begrenztheit und Vergänglichkeit; 2. dann die notwendige gedankliche Orientierung an Gottes Sein als dem Unvordenklichen; 3. des Weiteren die zuordnende Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit; 4. schließlich das Innewerden der eigenen persönlichen Lebendigkeit und 5. das Vernehmen eines Sinns angesichts und gegenüber der Wirklichkeit. Darum aber findet der Glaube in der Religion seine Gestalt, seine Theoria, also in der bestimmten Anerkennung und der Verehrung Gottes als den Ursprung und Vollender allen Lebens. Im Alten Testament nennt man diese Haltung Gottesfurcht, die als Anfang aller Weisheit und Erkenntnis gilt: Die Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis (Sprüche 1,7). Und im Neuen Testament bezeichnet Paulus diese Haltung prägnant als vernünftigen Gottesdienst (vgl. Römer 12, 1). Es ist diese Denkkraft des Glaubens in der Religion, die den Philosophen Jürgen Habermas zur Einsicht gebracht hat, dass auch die kritische Vernunft der gegenwärtigen Philosophie, dass alle moderne säkulare Rationalität sich gegenüber der Religion lernbereit zeigen soll: „Auch säkulare oder andersgläubige Bürger können unter Umständen aus religiösen Beiträgen etwas lernen, was z. B. dann der Fall ist, wenn sie in den normativen Wahrheitsgehalten einer religiösen Äußerung eigene, manchmal verschüttete Intuitionen wiedererkennen. Religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft. Dieses Potential macht die religiöse Rede bei entsprechenden politischen Fragen zu einem ernsthaften Kandidaten für mögliche Wahrheitsgehalte“ (Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 137). Eine höhere Form der Anerkennung der Denkleistung des Glaubens in der Religion aus dem Munde eines religionskritisch Denkenden lässt sich kaum formulieren. Nun reden wir hier vom christlichen Glauben, also von der bestimmten Form des Glaubens an die Person Jesus Christus. Wir sahen schon, dass diese bestimmte Form des Glaubens sich im Bekenntnis zur Trinität niedergeschlagen hat. Damit verbunden ist die Einsicht, dass christlicher Glaube einen ganz bestimmten und nicht austauschbaren Inhalt hat. Die Zusammenfassung dessen begegnet uns im apostolischen Glaubensbekenntnis, das in der Kirche seit dem 2. Jahrhundert formuliert und im 6. Jahrhundert durch die Franken verbreitet wurde. Dieses Bekenntnis ist geschichtlich gewordene Sprachwirklichkeit des Nachdenkens über Gottes

170

Haltung als Maß

Sein als Wahrheit. Dementsprechend führt das christliche Denken durch den Weg der Sprache des apostolischen Glaubensbekenntnisses zur Wahrheit Gottes hin. Darum ist es bis heute ratsam, vor allem auf den Weg zu achten und nicht an einzelnen Sätzen oder Formulierungen hängen zu bleiben. Denn auch für die Sprache gilt, dass sie nur einen abbildenden Charakter hat. Das apostolische Glaubensbekenntnis durchschreitet und umkreist zugleich die vernommene Wahrheit von Gottes Sein. Diese wird in dreifacher Weise zur Sprache gebracht: Im ersten Artikel von Gott, dem Vater, dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, also in der Erkenntnis von Gottes Schöpfung. Im zweiten Artikel von Jesus Christus, seinem eingeborenen Sohn, unserem Herrn, dessen wesentliches Wirken als Erlösung des Menschen kurz zusammengefasst wird. Im dritten Artikel vom Heiligen Geist, dessen zeitübergreifendes Wirken als Heiligung des Menschen bestimmt wird. Es ist Martin Luther gewesen, der den Sprachweg des apostolischen Glaubensbekenntnisses in ein persönliches Verstehen des Glaubens für den Einzelnen weitergegangen ist. In seinem Kleinen Katechismus aus dem Jahre 1529 zeigt Luther, wie das apostolische Glaubensbekenntnis in die Haltung des erwachten Selbstseins als Glauben führen kann. Erwachtes Selbstsein ist für Luther das bejahende und dankbare Bewusstsein der eigenen Herkunft. So schreibt Luther zum ersten Artikel: Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält. Das Erkennen des eigenen Ursprungs in Gott stellt den Menschen erwacht und klar orientiert in die Freiheit des Leben. Dem Menschen jedoch ist es im Laufe seines Lebens eigen, diese Freiheit zu verspielen, ob er dies will oder nicht. Die Stichworte „Schuld“ und „Sünde“ umreißen diese menschliche Grunderfahrung. Über Schuld und Sünde verliert der Mensch seine Freiheit, wird befangen in sich selbst und ist darum auf Erlösung angewiesen. Anhand dieses Lebenszusammenhangs wird besonders die Verwiesenheit von der Wirklichkeit auf die Wahrheit offensichtlich. Denn nur die Wahrheit hat, wie wir bereits sahen, die Kraft und das Vermögen in sich, Verlässlichkeit zu stiften. Und diese Verlässlichkeit findet Luther in der persönlichen Erkenntnis von Jesus Christus. So schreibt Luther zum zweiten Artikel: Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott...und wahrhaftiger Mensch..., sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden. Diese Verlässlichkeit der Wahrheit hat aber gestalterische Folgen für das persönliche Leben, denn es ist immer das Denken und die Macht der Gedanken, die das Leben der Menschen gestalten. Denn alle menschlichen Verhältnisse sind immer zuerst und vor allem Auswirkungen von Gedanken. Damit dies zum

Haltung als Maß

171

gemeinsamen Guten hin sich formt, der Mensch also sich in seinem Nachdenken nicht in Einsamkeit verliert, sondern sich als berufenes Gemeinschaftswesen erkennt, bedarf es der gedanklichen Führung des Geistes des Menschen. Diese Führung schreibt Luther dem Wirken des Heiligen Geistes zu und nennt dieses „Heiligung“. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass der Mensch immer gedanklich auf die Unvordenklichkeit Gottes verwiesen ist. So schreibt Luther zum dritten Artikel: Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben. Damit ist in der gebotenen Kürze der Inhalt des christlichen Glaubens, als erwachtes Selbstsein umschrieben, kurz zusammengefasst in den Stichworten: „Schöpfung“, „Erlösung“, „Heiligung“. Den im Geiste der modernen Vernunftorientierung sich bewegenden Menschen mag diese Haltung des Glaubens fremd anmuten, aber - und dies sollte bei allen Einwänden stets bedacht werden - Hoffnung angesichts der erfahrbaren Wirklichkeit mit ihren pathologischen Schattenseiten des Lebens lässt sich nur aus der Wahrheit heraus gewinnen. Und zur Wahrheit gehört die Einsicht, dass es dem Menschen aus eigener Kraft nicht möglich ist, die Haltung der Geborgenheit und Sicherheit, die Erfahrung von bleibendem Sinn und Lebensgewissheit angesichts von Krankheit und Tod, von Scheitern und Versagen zu finden. Versucht freilich wurde dies immer wieder mit der umfassenden Planungsenergie eines sich gottlos gebenden Vernunftoptimismus’, Utopie genannt. Die Utopie aber, ein westliches Spielmaterial zur Neugestaltung der Welt und des Lebens, scheiterte immer an ihrer eigenen Denkordnung, welche die Wirklichkeit der Welt und des Lebens ohne die Wahrheit Gottes zu denken suchte (vgl. Seibt, Die Begründung Europas, 2003, 384 - 392; Richert, Der endlose Weg der Utopie, 2001). Wirklichkeit lässt sich nicht ohne Wahrheit denken. Wahrheit aber führt über den Weg des Nach-Denkens zu einer Theoria, christlich gesprochen in den Glauben. Denn die Gedankenkraft des Glaubens vernimmt über die Wirklichkeit hinaus einen Gesamtsinn für das Leben, der in der Sprache von der Schöpfung, Erlösung und Heiligung seinen christlichen Denkweg ausschreitet. Glaube ist also eine Haltung als Maß, die eine umfassende Orientierung im Denken ermöglicht.

172

Haltung als Maß

5. Hoffnung Wir Menschen sind Gestalten der Zeit, damit dem Vergehen unterworfen. Des Menschen Form von Zeit ist somit seine begrenzte Zeitlichkeit. Zugleich greifen wir Menschen auf das Kommende in der Zeit aus, sind somit auf die Zukunft hin ausgerichtet. Wir können diese Lebenseinstellung so lange einüben, bis wir an die, wie Ernst Jünger sagte, Zeitmauer stoßen, die wir Tod nennen. Solange wir aber leben und handeln können, sind wir über unsere Gegenwart hinaus - auf die Zukunft hin ausgerichtet und tun dies entweder in Bedenken und Furcht oder in Unbekümmertheit, Freude und Hoffnung. Aber den Zeitraum der Gegenwart können wir nicht verlassen, wenngleich wir durch die Kraft unseres Geistes im Gedanken unsere Gegenwart zumindest etwas relativieren können. Träume oder Visionen leben von dieser begrenzten menschlichen Fähigkeit. Dennoch aber bewegen wir uns immer nur im Zeitraum der Gegenwart und stoßen doch an seinen Grenzen, an die anderen Zeiträume der Vergangenheit und der Zukunft, ohne dass wir unsere Gegenwart je verlassen könnten. Damit wird deutlich, dass Zeit entgegen allen gegenwärtigen Ansichten nicht objektivierbar ist, sondern als erlebte Zeitlichkeit das persönliche Äußerlichwerden des eigenen Lebens ist. Nur unter dieser Voraussetzung von Leben können wir mit den anderen Lebewesen in Beziehung treten. Weil wir Menschen ausschließlich Gestalten der Gegenwartszeit sind, wissen wir zugleich um die Unverrechenbarkeit von allem, was sich in der zukünftigen Zeit ereignen wird. Denn im Kern können wir die Zukunft nicht beherrschen, höchsten uns darauf gedanklich oder präventiv vorbereiten. Darum wünschen wir uns auch als Ausdruck von Höflichkeit etwa einen guten Tag, eine gute Nacht, eine gute Woche, am Jahresanfang gar ein gutes Jahr. Die kirchliche Form dieses Wunsches ist der Segen, der als performatives Geschehen verstanden werden will. Im Segen kommt die religiös begründete Erkenntnis zur Sprache, dass der Wirklichkeitszeitraum des Menschen im metaphysischen Sinne von Gottes zeitloser Wahrheit raum- und ortlos im positiven Sinne entgrenzt wird. Segen ist daher der performative Zuspruch, dass die Zeitlichkeit an sich nicht einem Nichts entgegenläuft, sondern teleologisch der Wahrheit zugeführt wird. Die performative Segenshandlung greift somit die grundmenschliche Erkenntnis auf, dass das Kommende in der Zeit immer wieder jeder Planungsenergie entzogen ist. Diese Erkenntnis ist allen denkenden Menschen gleich und gipfelt in dem sichern Wissen um den je eignen Tod. Wir wissen sogar, dass wir einmal gewesen sein werden. Darum ist das Wissen um den eigenen Tod das sicherste Ereignis in einem jeden Menschenleben. Und deswegen ist unsere

Haltung als Maß

173

Erwartung an die kommende Zeit immer ambivalent. Die christliche Antwort auf diese Ambivalenz ist die Haltung der Hoffnung. Hoffnung aber muss ihrem Begriff nach begründet sein. Wir sahen schon, dass unser modernes Wissen hierfür nicht geeignet ist. Denn keine Planungsenergie, kein säkularer Vernunftoptimismus vermag Hoffnung auf die eigene Bewahrung angesichts der eigenen tödlichen Zukunft zu stiften. Darum sind auch alle materiell begründeten Verheißungen auf ein hoffnungsvolles Leben - etwa der Besitz von Waren und Produkten - nur materieller Schein, der nicht hält, was er meist durch die Werbung zu geben verspricht, sondern mit dem Tod verfliegt. Zwar sind Besitz, Wohlstand und sogar Reichtum an sich nicht schlecht, aber eine ungebildete Person verwechselt leicht das Haben mit dem Sein. Dinge haben und brauchen wir, aber dadurch sind wir nicht bei uns selbst. Das meint die Warnung Jesu vor dem Reichtum: Wahrlich, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme (Matthäus 19, 23 - 24). Wer also meint, mit seinem Haben von Dingen bei sich selbst zu sein, der lebt nur im Schein des Lebens und ist nicht im erwachten Selbstsein zentriert. Nur im Schein des Lebens zu leben heißt aber, sein Leben der Wahrheit zu entziehen und sich damit selbst zu negieren. Alle großen Denker der Menschheit haben dies gewusst und gelehrt. Christliche Hoffnung unterscheidet daher immer zwischen Schein und Sein. Der Schein des Lebens ist der Wirklichkeit zuzuordnen, während das Sein des Lebens der Wahrheit angehört. Jeder Mensch lebt freilich aus beidem: Wir alle brauchen den Schein des Lebens, um unsere Lebensrolle darin zu spielen. Dazu gehören etwa Anstand und Höflichkeit, Benehmen und Gesittung. Im gegenseitigen Miteinander, im Alltag und Beruf, gehört dieser Schein als gutes Erscheinen notwendigerweise mit hinzu. Das bekannte Sprichwort: Kleider machen Leute nimmt dieses Erscheinen vielsagend auf. Aber wir können dieses Erscheinen nur dann gut darstellen, wenn wir zugleich unser Sein erkennen: Geschaffene Wesen mit einer geliehenen Zeitlichkeit zu sein. Erkennen wir dieses Sein aus der Wahrheit, dann erkennen wir auch den zwar notwendigen, aber eben vordergründigen Schein der Wirklichkeit. Und wir erkennen, dass alle Geschäfte in unserer Lebenswirklichkeit letztlich nur Schein-Geschäfte sind, notwendige zwar, aber eben nur vordergründige. Das gilt auch für alle gesellschaftlichen, politischen oder auch ökonomischen Geschäfte. Dem Charakter der Scheingeschäfte aber kann sich niemand entziehen. Und kein redlicher Denker wird das Gegenteil behaupten können. Aber erkennen kann diesen Charakter jeder Mensch, und zwar dann, wenn er um sein eigenes Sein weiß, also zum erwachten Selbstsein gekommen ist. Auch der säkular sich bewegenden

174

Haltung als Maß

Person kann dies erkenntnistheoretisch einleuchten, auch wenn sie die gedanklichen Konsequenzen in christlicher Perspektive sich nicht zu eigen machen will. Genau an diesem Punkt setzt die christliche Hoffnung an. So verstanden, ist Hoffnung die Haltung des Vertrauens in Gottes zeitlose Wahrheit angesichts des vergänglichen Scheins der Wirklichkeit. Diese Hoffnungsqualität ist des näheren darin bestimmt, dass Gott der Ursprung und Vollender allen Lebens ist und darum die persönliche Gefährdung des Menschen im Sterben und im Tod in das Sein der Wahrheit stellt. Anerkannt wird diese Hoffnung freilich nur in der Haltung des Glaubens. Hoffnung hat also den konkreten Inhalt der Bewahrung des gefährdeten Lebens angesichts seiner Vergänglichkeit. Hoffnung ist das Erleben von Gottes Wahrheit, die eine persönliche Anteilhabe an Gottes Zeitunabhängigkeit als Durchbrechung der Zeitmauer eröffnet. Hoffnung ist die erleichternde Anerkenntnis, dass Gott selbst in seinem guten Sein das wirkliche Leben der Menschen zum wahren Sein der Menschen überführen wird. Der entsprechende Terminus hierfür ist das Wort „Heil“. Wie sehr dieses Wort ein lebensnotwendiges Wort ist, zeigt deutlich seine säkular gewendete Form des Therapierens an, welches nichts anderes als heilen bedeutet. Dieser Erkenntnis wird übrigens in der oft verkannten theologischen Rede vom jüngsten Gericht Rechnung getragen. Denn richten heißt, recht verstanden, „zurechtbringen“, die gute Gerechtigkeit aufrichten. Richten im theologischen Sinne heißt, dass der Mensch als Person sich selbst entnommen ist, indem jede Person ihrem Sein zur Wahrheit zugeführt wird. Im Gericht Gottes, so die christliche Interpretation, begegnet der Mensch seinem wirklichen Leben und seiner gebrochenen Lebensgeschichte angesichts der Wahrheit Gottes, aber eben als versöhnter und geheilter Lebensgeschichte, die nun in das Sein aus Gottes Wahrheit gewandelt wird. Das ist der Kern aller christlichen Hoffnung. Christlich verstandene Hoffnung ist somit die Einsicht, dass der Mensch von der Wirklichkeit des Scheins zur Wahrheit des Seins unterwegs ist. Darum schreibt der Apostel Paulus: Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, daß ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes (Römer 15, 13). Mit diesem Hoffnungsverständnis erschließen sich dann leichter alle anderen menschlichen Hoffnungsformen, wie dass eine Handlung oder Entscheidung gelingen möge, dass sich ein gutes Leben einstelle und führen lasse, dass das Miteinander sich gedeihlich entwickle. Diese recht verstandene Hoffnung verdeutlich im erkenntnisleitenden Interesse, dass des Menschen Kraft und Planungsenergie begrenzt ist. Hoffnung bringt darum auch die Haltung der rechten Selbsteinschätzung mit sich, nämlich das zu tun, was man vermag, das letztliche Gelingen aber aus Gottes Wahrheit zu

Haltung als Maß

175

empfangen. Dieser Haltung wird in der alten Christenweisheit des „ora et labora“, des „bete und arbeite“, handlungsleitend entsprochen. Wird aber die christliche Hoffnung aufgegeben und durch menschliche Allgemeinplätze wie die „Natur“, die „Menschheit“, die „Geschichte“, der „Fortschritt“, die „Politik“, die „Ökonomie“ ersetzt, wandelt sich nach christlicher Erkenntnis die Hoffnung an sich in ein Trugbild der Wirklichkeit, weil diese dann keinem wahrhaftigen Sein mehr gegenübersteht. Und diese menschliche Planungsenergie arbeitet sich an diesem Trugbild der Wirklichkeit vergeblich ab. Dadurch aber wird der Mensch überfordert, denn kein Mensch kann angesichts der Begrenztheit des Lebens anderen Menschen wahrhaftige Hoffnung stiften. Jeder Mensch merkt dies sehr deutlich an den Grenzen des Lebens, etwa bei schweren Krankheiten und beim Tod. Darum sind diese Grenzen der Probierstein für die rechte Hoffnung. Hierin zeigt sich, ob die Hoffnung aus dem Sein der Wahrheit oder aus dem Schein der Wirklichkeit kommt. Sein und Schein finden aber in der Liebe am besten zueinander.

6. Die Ordnung der Liebe Menschen leben immer unter der Bedingung ihrer Endlichkeit. Und diese Endlichkeit zwingt uns, mit unseren Gütern an Zeit und Kraft, an Aufmerksamkeit oder auch mit materiellen Gütern überlegt und vernünftig umzugehen. Wir nehmen und geben stets in einem wechselseitigen Verhältnis. Ganz so, wie es die alte Formel des „do ut des“, also „ich gebe, damit du gibst“ vernünftigerweise umschreibt. Im Nehmen und Geben bewegen wir uns daher immer zugleich im ethischen Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit, also von Sein und Schein. Unser Handeln ist dann ethisch gut, wenn dieses sich unter der Maßgabe der Personenethik vollzieht, denn eine gelebte Personenethik verleiht der Wirklichkeit einen guten Schein. Ein guter Schein trügt nicht und weist damit zugleich über sich selbst hinaus auf die Wahrheit. Gerechtigkeit ist darum die Form des Handelns, die der menschlichen Endlichkeit entspricht. Dennoch aber geht kein menschliches Leben in diesem endlichen Schein der Wirklichkeit auf. Unter den Bedingungen der Personenethik werden wir zwar der Endlichkeit des Leben gerecht, aber die angewandte Personenethik erfüllt nicht das Leben nach allen Seiten hin. Denn die Personenethik erhebt nicht aus dem Normalen und dem Alltäglichen. Demgegenüber verspüren wir Menschen die Sehnsucht und das Gestimmtsein, als je besonders durch die Anderen wahrgenommen zu werden. Dieses je Besondere übersteigt die Personenethik und drängt zur

176

Haltung als Maß

Erfüllung in der Liebe hin. Als erfüllt erfahren wir daher das Leben, wenn es von der Liebe durchwirkt und gestaltet wird. Denn die Liebe verbindet die je persönliche Wirklichkeit so mit der allgemein zu erschließenden Wahrheit, dass darin der Schein des Lebens in das wahre Sein des Lebens überführt wird. Darum wird Liebe von allen Religionen und Weltanschauungen fraglos als die gelingendste Lebensform des Menschen anerkannt. Denn in und durch die Liebe erfährt der Mensch, dass er aus der Wirklichkeit des Lebens so herausgehoben wird, dass er sich als wirklich erkannt wahrgenommen weiß. Und das heißt, dass der geliebte Mensch in den Augen des Liebenden ein „Mehr an Wirklichkeit“ repräsentiert, als es sich ihm über sein aktuales Selbstbewusstsein erschließt. Dieses „Mehr an Wirklichkeit“ gründet sich aber in der Wahrheit, also in der Erkenntnis, dass der Mensch - über seine Endlichkeit hinaus - zum Sein berufen ist. Darum will Liebe sich immer in der Wahrheit gründen, mit der wir eine bleibende Gestalt unseres Seins verbinden. Wahre Liebe ist darum das Einwohnen des Seins in der Wirklichkeit. Schmerzlich erkennbar wird diese Einsicht, wenn Liebe enttäuscht wird, wenn also Menschen nicht halten, was sie in ihrer Erscheinung einander gegenseitig versprechen zu sein. Die Enttäuschung besteht darin, dass in Wahrheit das gegenseitige Sein, das die wechselseitigen Liebesbekundungen beteuern, nur in der Wirklichkeit des Scheins verbleibt. Damit aber wird Liebe nur simuliert. Wahre Liebe jedoch gründet sich in der Wahrheit und nicht in der Wirklichkeit. Bleibt aber Liebe nur im Schein der Wirklichkeit, bleibt diese Liebe letztlich unerfüllt und wird enttäuscht. Diese Enttäuschung und der darüber empfundene tiefe Schmerz aber sind ein Beleg dafür, dass jeder Mensch in wahrhaftiger Liebe leben, also durch die Liebe in die Wahrheit des Seins gestellt sein will. Darum wird am Phänomen der Liebe dem nachdenklichen Menschen deutlich, dass jeder Mensch ein Repräsentant der Wahrheit sein soll, und da jeder Mensch geliebt werden will, letztlich auch ein Repräsentant der Wahrheit sein will. Ein Repräsentant der Wahrheit zu sein bedeutet, dass jeder Mensch durch die Liebe sich seiner Würde, Ehre und Einzigartigkeit bewusst wird. Er erwacht auf diese Weise, so können wir sagen, zum Selbstsein und wird sich seiner als Person bewusst. Wahrheit und Liebe zentrieren darum jede Person auf das Sein. Nun ist es aber für keinen Menschen möglich, solch wahrhaftige Liebe zu und mit allen Menschen zu leben. Wer etwa sagt: Ich liebe euch alle, der weiß entweder nicht, was Liebe ist, oder aber er ist ein Lügner oder ein Taktiker. Denn unser gesunder Menschenverstand lässt uns erkennen, dass uns die vielen Anderen nicht so wichtig sein können, wie die Menschen, die wir lieben und mit denen wir also in Freundschaft verbunden sind. Wahre Liebe und wahre Freundschaft, verstanden als höchste Form von Wohlwollen, ist immer nur zu einer kleinen Anzahl von Personen leb-

Haltung als Maß

177

bar, denn Liebe und Freundschaft sind keine Sache von Gerechtigkeitserwägungen. Diese ganz bestimmte Art von Zuwendung entzieht sich jeder Form von Rechtfertigungspflichten. Denn es gibt kein einklagbares Recht auf jemandes Freundschaft oder Liebe, wohl aber das Recht auf Treue in Liebe und Freundschaft. Diese Treue aber kann nur solange aufrechterhalten werden, als sich die davon Betroffenen im gegenseitigen Einverständnis darüber im Klaren sind, dass die Treue zueinander das jeweils Gute füreinander ist. Darum muss die Erfahrung der Liebe und der Freundschaft auch gepflegt werden. Und Treue ist die Haltung in der Liebe und der Freundschaft, die den Menschen in Gegenseitigkeit um des anderen willen sich selbst soweit zurücknimmt, dass Dankbarkeit entsteht. Darum hat Leibniz die Liebe als „Freude an Glück des anderen“ definiert. Die menschliche Antwort hierauf ist aber Dankbarkeit. Jede menschliche Liebe und Freundschaft ist darum vom Charakter der Dankbarkeit erfüllt. Umgekehrt erfahren wir, dass Liebe und Dankbarkeit dort nicht vorhanden sind, wo Menschen berechnend miteinander umgehen. Denn Berechnung als Form des Miteinanders ist die bewusste Entscheidung, das eigene Leben ganz im Schein der Wirklichkeit aufgehen zu lassen. Darum lehnen wir intuitiv eine berechnende Lebenshaltung als Vordergründige auch ab. Liebe und Freundschaft zeichnen sich demgegenüber durch Treue und Dankbarkeit aus, Haltungen, die jenseits der Gerechtigkeit zum Tragen kommen. Das Leben scheint sich, so gesehen, nur zwischen den Polen von Liebe und Freundschaft zu wenigen Menschen einerseits und von Gerechtigkeit gegenüber den Anderen andererseits zu ereignen. So aber lebt kein Mensch. Denn jeder Mensch hat seine Vorlieben, Sympathien und Zuneigungen ebenso wie seine Abneigungen und Antipathien anderen gegenüber. Zwar ist hier Gerechtigkeit walten zu lassen, für das menschliche Miteinander eine notwendige Bedingung, aber Gerechtigkeit allein ist zu wenig. Denn unser aller Leben vollzieht sich immer auch in der Sphäre von zwischenmenschlichen Begegnungen, die sich nicht nur mit Gerechtigkeitskriterien verrechnen lassen. Darum bedarf es darüber hinaus noch einer bestimmten Einstellung und Haltung zueinander, die wir „Ordnung der Liebe“ nennen. Es ist eine Einsicht der christlichen Theologie, dass Gerechtigkeit allein nicht ausreicht, um ein Gemeinwesen gut zu gestalten, dass aber zugleich die wahre Form der Liebe und der Freundschaft immer nur in einem begrenzten Personenkreis gelebt werden kann. Dies vorausgesetzt, formulierte das christliche Denken eine Ordnung der Liebe, einen ordo amoris, der vermittelnd zwischen Gerechtigkeit und Liebe zum Stehen kommt. Inhaltlich kann diese Ordnung mit Wohlwollen umschreiben werden, also dass der menschliche Wille der Wohlgestalt der verschiedenen menschlichen Begegnung verpflichtet ist. Darum ist das Organ dieses Wohlwollens der Wille

178

Haltung als Maß

des Menschen. Wohlwollend bedeutet, den anderen Menschen mit der Haltung der entgegenkommenden Prüfung seiner Interessen zu begegnen. Wohlwollen ist die Haltung, niemand als ein „Etwas“ sachlich zu verrechnen, uns begegnende Menschen nur als einen Niemand zu betrachten. Zu Recht schreibt darum Robert Spaemann: „Die Universalität der Vernunft lässt uns selbst realisieren, dass wir nicht jedem so wichtig sein können, wie wir es uns selbst sind. Und eben weil jeder Mensch das weiß, hat jeder Mensch einen Anspruch darauf, niemandem als ein Niemand zu gelten“ (Glück und Wohlwollen, 145). Daraus folgt die praktische Haltung, dass die Ordnung der Liebe jedem das entsprechende Maß von Liebe als Wohlwollen zukommen lässt, dass also auch jemand etwas zuliebe getan oder unterlassen wird. Diese Ordnung der Liebe bedeutet demnach eine gestufte Rangordnung von „zuliebe“, dessen grundlegendste Formen freilich Frieden und Gerechtigkeit sind. Jemanden etwas „zuliebe zu tun“ bedeutet nicht, dem Anderen willfährig zu begegnen, sondern es bedeutet, den Anderen immer als „Person für mich“ anzuerkennen und das Gute in Bezug auf die Gerechtigkeit zu befördern. So bedeutet diese Ordnung der Liebe etwa für den Führungsalltag, dafür Sorge zu tragen, dass die organisatorischen und betrieblichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass alle darin Beschäftigten so etwas wie „Heimat“ und Anerkennung erfahren. Und es bedeutet weiterhin, dass ein beliebig anderer jederzeit jedem anderen ein Nächster werden kann, der im berechtigten Augenblick der Aufmerksamkeit bedarf oder auf Zuwendung angewiesen ist. Ordo amoris bedeutet, diese Aufmerksamkeit und Zuwendung persönlich zu gewähren. Darum widerspricht die Ordnung der Liebe der gängigen Haltung, das Allgemeine der menschlichen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung etwa den Funktionsträgeren gesellschaftlicher Sozialarbeit oder auch den Kirchen zu überlassen und dabei die eigenen Augen vor persönlich erlebten Situationen menschlicher Angewiesenheit zu verschließen. Ordo amoris bedeutet, durch mein persönliches Erscheinen die Haltung des Wohlwollens anderen gegenüber einzunehmen und in „Herzenswärme“ und Aufmerksamkeit als Person greifbar zu werden. Die Haltung des Wohlwollens ist ein notwendiges Korrelat zu aller ebenso notwendigen Sachlogik des Handelns. Ordo amoris heißt demnach, sich selbst als Repräsentant der Wahrheit zu erkennen und im anderen ebenso diese Repräsentation wiederzuerkennen. Damit ist keinem sozialen Aktionismus das Wort geredet. Vielmehr greift die Erkenntnis von der Ordnung der Liebe die schlichte Tatsache auf, dass das Herz des Menschen im Grunde von seinem Willen geführt wird. Der Wille des Menschen ist aber, vereinfacht gesprochen, entweder nur von Liebe und Wohlwollen oder von Hass und Verachtung bestimmt und geleitet. Die Ordnung der Liebe ist darum darauf aus,

Haltung als Maß

179

dass unser menschliches Wollen insgesamt von Wohlwollen und Aufmerksamkeit geführt wird. Die höchste Form hiervon ist aber die Liebe. Denn die Liebe ist, wie wir sahen, die einzig gelingende Form, in der das Sein der Wahrheit und der Schein der Wirklichkeit in einem guten Sinne für alle zusammenkommen. Darum führt wahre Liebe zur Haltung des Wohlwollens. Diese Haltung ist ein untrügliches Kennzeichen eines erwachten Selbstseins. Die Ordnung der Liebe ist darum die adäquateste Haltung einer Person als Maß ihrer Persönlichkeit. Solche Persönlichkeiten denken und führen wegweisend.

Kapitel VII. Literaturverzeichnis Verwendete und weiterführende Literatur Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 5: Metaphysik, Hamburg 1995. Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 3: Nikomachische Ethik, Hamburg 1995. Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 4: Politik, Hamburg 1995. Augustinus: Bekenntnisse, Frankfurt/M. 1987. Biblia: Die Luther-Bibel von 1534, vollst. Nachdruck, o. Orts- und Jahresangabe. Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 1977. Die Bibel: nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1999. Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen, Berlin, New York 1998. Boethius: Trost der Philosophie, Darmstadt 1990. Bürgerliches Gesetzbuch, München 200455. Chrismon: Das evangelische Magazin 02/2005. Collins, Harry/Pinch, Trevor: Der Golem der Forschung, Berlin 1999. Collins, Harry/Pinch ,Trevor: Der Golem der Technologie, Berlin 2000. Delphi-Befragung, München, Basel 1998. Di Fabio, Udo: Die Kultur der Freiheit, München 2005. Doppler, Klaus/Lauterburger, Christoph: Change Management, New York, Frankfurt/M., 20009. Felderer, Brigitte/Macho, Thomas (Hrsg.): Höflichkeit, München 2002. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 19906. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1; Bd. 4; Bd. 5; Bd. 8; Bd. 12, Nachdruck der Erstausgabe 1897, München 1984. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 2004. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1992. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt/M. 1988. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt/M. 2001. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M. 2005. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke in 20 Bänden: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, Frankfurt/M. 19933.

Literaturverzeichnis

181

Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 200210. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 199317. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, München, Wien 19984. Illich, Ivan: Genus, o. Ortsangabe1983. Innovationen für die Wissensgesellschaft, Bonn 1998. James, William: Pragmatismus, Darmstadt 2001. Jaspers, Karl: Was ist Philosophie?, München 1980. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Was ist Aufklärung, Bd. 9, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Zum ewigen Frieden, Bd. 9, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 6, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Kritik der Urteilskraft. Erster Teil: Kritik der ästhetischen Urteilskraft, Bd. 8, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil, Bd. 3, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Logik, Einleitung, Bd. 5, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Werke in 10 Bänden: Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Bd. 7, Darmstadt 1983. Küenzlen, Gottfried: Die Wiederkehr der Religion, München 2003. Locke, John: An Essay concerning Human Understanding, Oxford 1975. Luther, Martin: Der große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 19798. Luther, Martin: Der kleine Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 19798. Luther, Martin: Ausgewählte Schriften: Rede auf dem Reichstag zu Worms 1521, Bd. 1, Frankfurt/M. 1982. Luther, Martin: Ausgewählte Schriften: Acht Sermone D. Martin Luthers, Bd. 1, Frankfurt/M. 1982. Luther, Martin: De servo arbitrio - Vom unfreien Willensvermögen, in: ders., Bd. 1: Der Mensch vor Gott, Leipzig 2006. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München 19892. Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003. Morus, Thomas: Utopia, in: der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960. Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit, München 200438. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden: Also sprach Zarathustra, zweiter Band, Darmstadt 1997.

182

Literaturverzeichnis

Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden: Zur Genealogie der Moral, zweiter Band, Darmstadt 1997. Novum Testamentum Graece: Stuttgart 199327. Parfit, David: Reasons and Persons, Oxford 1984. Platon: Euthyphron oder über das Fromme, Stuttgart 1978. Platon: Phaidros, Theaitetos:, Sämtliche Werke, Band. VI, Frankfurt/M. und Leipzig 1991. Platon: Der Staat, Hamburg 197910. Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften VII: Lachen und Weinen, Frankfurt/M. 1982 und 2003. Pörksen, Uwe: Plastikwörter, Stuttgart 19893. Pörksen, Uwe: Weltmarkt der Bilder, Stuttgart 1997. Rapp, Friedrich: Fortschritt, Darmstadt 1992. Richert, Friedemann: Der endlose Weg der Utopie, Darmstadt 2001. Richert, Friedemann: Erwägungen zur Eschatologie, in: Deutsches Pfarrerblatt, 101. Jahrgang, Heft 11, 2001. Richert, Friedemann: Neuer Wein in alten Schläuchen, in: Theologie im Plural, Frankfurt/M. 2001. Richert, Friedemann: Das Normale und die Gesundheit, in: Deutsches Pfarrerblatt, 102. Jahrgang, Heft 33, 2002. Roth, Gerhard: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt/M. 2003. Seibt, Ferdinand: Die Begründung Europas, Frankfurt/M. 20034. Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen, Stuttgart 19933. Spaemann, Robert: Grenzen, Stuttgart 2001. Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, München 19945. Spaemann, Robert/Reinhard Löw: Natürliche Ziele, Stuttgart 2005. Spaemann, Robert: Personen, Stuttgart 1996. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1984. Tibi, Basam: Fundamentalismus im Islam, Darmstadt 20023. Whitrow, Gerald J.: Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991.