Zweierlei Ethik: Unsere Pflicht gegenüber Gott und der Gesellschaft [Reprint 2019 ed.] 9783111536811, 9783111168708


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German Pages 78 [80] Year 1947

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INHALT
Vorwort
1. Kapitel. Hinleitung
2. Kapitel. Die Standesethik und ihre Pflichten oder die Ethik des'„Spiels nach Regeln"
3. Kapitel. Die Vollkommenheitsethik oder die Ethik der Gnade
4. Kapitel. Paulus' Lehre von der Sklaverei und ihre Bedeutung
5. Kapitel. Schlußbetrachtungen
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Zweierlei Ethik: Unsere Pflicht gegenüber Gott und der Gesellschaft [Reprint 2019 ed.]
 9783111536811, 9783111168708

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A D .

L I N D S A Y

/

Z W E I E R L E I

E T H I K

ZWEIERLEI ETHIK UNSERE

PFLICHT

GEGENÜBER G O T T UND DER

GESELLSCHAFT

VON

A. D. L I N D S A Y M. A. MASTER OF BALLIOL COLLEGE, O X F O R D

Mit e i n e r E i n f ü h r u n g von W i l l i a m E b o r , Erzbischof von York

WALTER DE GRUYTER & CO

/

BERLIN

vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / Karl J . Trübner / Veit & Comp. 1 9

4 7

Titel

der

englischen The Two

übersetzt

von

Originalausgabe: Moralities

Dr. H e l e n

Sdierer,

Berlin

A r c h i v Nr. 42 Ol 47 Druck:

F e l g e n t r e f f & Co., B e r l i n S W 3 9 , - R e g . - N r . 1 0 3

I N H A L T Vorwort

7

1. Kapitel

9

Hinleitung. 2. Kapitel

15

Die Standesethik und ihre Pflichten oder die Ethik des'„Spiels nach Regeln". 3

Kapitel Die Vollkommenheitsethik oder die Ethik der Gnade.

35

4

Kapitel Paulus' Lehre Bedeutung.

53 von

5. Kapitel. f Schlußbetrachtungen.

der

Sklaverei

und

ihre 66

V O R W O R T

zu d e r e n g l i s c h e n A u s g a b e Die in unserer Veranlagung vorhandenen unterschiedlichen Fähigkeiten gleichmäßig zu entwickeln, ist immer schwierig. Religiöses Erfülltsein und verstandesmäßiges Handeln sind nicht leicht in Einklang zu bringen. In besonderem Maße trifft das auf die heutige Zeit zu, in der die Probleme des Lebens noch verwickelter sind als sonst. Als Christen sind wir überzeugt, allein der christliche Glaube bringe die rechte Erleuchtung, dank derer wir Leben und Welt im richtigen Verhältnis sehen. Diese Einstellung verführt uns zu der Annahme, es genüge, dem christlichen Glauben im Denken und Handeln anzuhangen. Durch eine solche Einseitigkeit werden diejenigen unsicher, die wohl wissen, daß selbst das höchste Maß an Frömmigkeit die Verwirrung nicht beheben kann, in der sich die Welt befindet. Daher arbeiten von den Lauen nur wenige mit allen Kräften mit. Ein wesentlicher Zweck dieses Buchös ist es, nachdenkliche Christen in ihrem Glauben zu stärken und sie zu noch gründlicherem Nachdenken anzuregen. Diesen Plan kann niemand besser in Angriff nehmen als der Master des BALLIOLCollege. Er packt seine Aufgabe auch gleich an dem entscheidenden Punkte an: die Treue zu Christus und die Treue zum Staat werden so oft gleichgesetzt, als ob beide auf einer Höhe stünden und dadurch in Konflikt miteinander geraten könnten. Jeder Christ aber weiß, daß die Treue zu Christus jeder anderen Bindung vorangeht. Es kommt also darauf an, unsere Treue zu Christus durch unsere Einstellung zu der menschlichen Gesellschaft, dem Staate und den Herrschern der Welt zu erhärten. Die klaren Ausführungen aus der meisterlichen Feder Lindsay's geben dem Leser nicht nur Anregungen, sondern Lösungsmöglichkeiten für eine vordringliche Gewissensfrage jedes einzelnen. William Ebor. 7

VORWORT zu d e r d e u t s c h e n A u s g a b e Ich bin gebeten worden, der deutschen Uebersetzung eineEinleitung mitzugeben. Der Gegenstand im allgemeinen ist deutschen Gedankengängen vertraut. Das berühmte Werk von Ernst Troeltsch „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" erörtert eingehend die Formen, in denen die Frageder zweierlei Moral von den einzelnen Teilen der christlichen Kirche zu verschiedenen Zeiten behandelt wurde. Der zweite Band stellt die Lage im Protestantismus dar und vergleicht die Lösungen, die einerseits das Luthertum, andererseits Kalvinismus und andere protestantische Sekten fanden. Meine Stellungnahme als Schottischer Presbyterianer beruht natürlich auf den Grundsätzen des Kalvinismus, daher möchte ich über die Abweichung vom Luthertum nähere Ausführungen machen. Nach den Darlegungen von Troeltsch in seinem 1. Bande b e ruhte — wie bekannt — die mittelalterliche Stellungnahme auf der damals herrschenden Lehre vom Naturrecht und der anerkannten Autorität der katholischen Kirche in Moralfragen. Eine Beziehung zum Naturrecht findet sich in meinem Buche. Niemand wird behaupten wollen, Naturrecht und die Gedanken der Bergpredigt wären das gleiche. Es konnte aber gesagt werden, und wurde auch gesagt, daß das Naturrecht die Grundgesetze einer allgemeinen Gerechtigkeit enthält. Deshalb steht das Naturrecht in keinem Gegensatz zu den Lehren der Bergpredigt, wenn beide auch keineswegs identisch sind. Das Naturrecht kann nur den Rahmen für die in der Bergpredigt verkündeten Gnadenwerke abgeben. Dem Gesetz hat sich jeder zu beugen. Zu einem „Leben der Vollkommenheit- oder Gnade" sind jedoch nur die verpflichtet, die dazu besonders berufen sind. Wenn ihre Berufung stark genug ist, mögen sie in diesem oder jenem Orden ein der Pflege der Religion geweihtes Leben wählen. Das Naturrecht ist menschlichen Satzungen, auch allen Anordnungen der Herrscher dieser Welt übergeordnet. Es muß also einen Grad von allgemeiner Gerechtigkeit geben, dem sich alles menschliche Recht, auch die Gesetzgebung eines Landes und die Machtbefugnisse der Fürsten beugen müssen. A. D. Lindsay. 8

Erstes

Kapitel

Einleitung Der Titel meines Buches 6oll eine Herausforderung sein; und er wird gewißlich angegriffen werden. Denn einige Leser werden sagen: „Wie kann es zweierlei Ethik geben? Es gibt Recht und Unrecht. Von zweierlei Ethik sprechen heißt, unethischen Spitzfindigkeiten Tür und Tor öffnen". Ändere wiederum werden sagen: „Warum nur zweierlei Ethik? Ethik ist stets ein relativer Begriff. Es gibt nicht zweierlei, sondern hunderterlei Ethik." Ich habe den Titel gewählt, um meine Ueberzeugung darzutun, daß die meisten wirklich ethischen Fragen der Spannung zwischen zwei verschiedenen ethischen Prinzipien entspringen. Die eine nenne ich die „Standesethik und ihre Pflichten". Ueber den richtigen Namen der zweiten bin ich mir nicht im Klaren. Ich werde sie abwechselnd die Ethik der Vollkommenheitsforderung und die Gnadenethik nennen. Wir alle (wenn wir- in Gemeinschaft leben sollen) müssen die Autorität der „Standesethik und ihrer Pflichten" anerkennen. Sofern wir aber in einem Lande leben, das unter dem Einfluß des Christentums oder irgendeiner anderen hochstehenden Religion steht, wird den meisten von uns eine zweite Ethik mit ihrer Forderung bewußt, und wir werden gelegentlich zumindest durch diese Forderung in eine schwierige Lage gebracht. Wir finden häufig, daß die Standesethik uns- das eine auferlegt, die Vollkommenheitsethik aber das andere, und wir sind in einer Zwickmühle, weil wir nicht wissen, was wir tun sollen. Dieses Problem besteht .für alle. Einigen von uns ist seine geläufigste Form der Zwiespalt, der anscheinend zwischen den Forderungen der gewöhnlichen, d. h. der Standesethik, und denen der Bergpredigt besteht. Anhänger und Gegner des Pazifismus müssen sich weitgehend mit diesem Zwiespalt auseinandersetzen. Die gewöhnliche Alltagsethik hat naturgemäß ihre eigenen Probleme, wie es Probleme beim Schach und jedem andern, auch einfacheren Spiel gibt. Wir können kein Spiel spielen, wenn wir seine Regeln nicht kennen. Kennen wir sie, so wissen 9

wir aber noch lange nicht, wie wir diesen oder jenen Zug oder Gegenzug machen müssen. Wir mögen in ähnlicher Weise die Grundsätze der Standesethik begreifen und anerkennen und ihre Pflichten ü b e r n e h m e n d i e s Verstehen an sich hilft uns aber nicht bei unserm Verhalten in irgendeiner bestimmten Situation. Es mag z. B. zu unseren Grundsätzen gehören, daß wir ein Zehntel unseres Einkommens für wohltätige Zwecke verwenden. Dadurch wissen wir aber noch nicht, wie wir dies Zehntel unter all die verschiedenen Anwärter auf unsere Wohltätigkeit verteilen sollen. Die Lösung solch eines praktischen Problems hängt von unserm Urteilsvermögen ab. Es gibt keine unfehlbare Regel für die Entscheidung. Wenn wir auf unser Verhalten zurückblicken, so können wir häufig angesichts der tatsächlichen Ereignisse erkennen, daß wir einen Fehler gemacht haben. Wir sagen: „Das war dumm von mir; ich habe das eine getan und hätte das andere tun sollen". Genau wie wir sagen: „Natürlich, ich hätte den Bauern nicht ziehen sollen". Manchmal sehen wir, daß die Situation komplizierter war als wir annahmen, und sagen: „Ich hätte mehr darüber nachdenken sollen". Aber das ist eben der Lauf der Welt. Wir müssen das Spiel spielen, so gut wir können. Wir werden es niemals zur Vollkommenheit bringen, was wir auch tun mögen. Wir müssen handeln, und die Ereignisse lassen uns kaum Zeit zum Nachdenken. Es ist sehr einfach, übergenau zu sein und seine Zeit damit zu vergeuden, das Für und Wider einer Frage zu erörtern, wenn man weit besser täte, „die Sache anzupacken". Ich war einmal Zeuge, wie eine Gruppe von Moralphilosophen etwa eine Stunde lang folgende Frage erörterte: „Angenommen, ich hätte eine Konzertkarte, wüßte aber, daß X das Koiizert ebensosehr genießen würde wie ich, aber nicht mehr, sollte ich ihm dann die Karte geben oder selbst gehen?" Die Philosophen mögen theoretische Gründe für ihre Diskussion gehabt haben, ein vernünftiger Mensch diskutiert solche Frage nicht. Das Leben ist zu kurz, und wir haben zu viel zu tun. Wir müssen vorankommen und handeln und dürfen uns nicht zu viel Gedanken über unsere Fehler machen, wenn wir nur aus ihnen lernen können, das nächste Mal klüger zu sein. Die meisten von uns machen sich über'Probleme, die sich aus unserem normalen Verhalten ergeben, keine Gedanken. Und wenn wir es täten, wären wir nicht besser dran, sondern schlimmer. Wenn wir Rat in solchen Dingen brauchen, gehen wir — sofern wir vernünftig sind — zu einem guten Menschen, auf des10

sen Urteil wir etwas geben, und nicht zu den Moralphilosophen. Es ist nicht Aufgabe der Moralphilosophie, ethische Urteile zu fällen. Der Moralphilosoph hàt seine eigenen Probleme; sie sind theoretischer Art, und manche haben — vollkommen berechtigter Weise — nicht im entferntesten etwas mit der Praxis zu tun. Die Probleme der Moralphilosophen bieten dem gewöhnlichen Mann der Praxis oftmals keinerlei Schwierigkeiten. Der Moralphilosoph muß sich z. B. fragen, wie moralische Verantwortung und Naturgesetz miteinander in Einklang zu bringen sind, und dann behandelt er das Problem des freien Willens. Der Mann der Praxis denkt nicht darüber nach, ob er einen freien Willen hat oder nicht; er fährt fort zu handeln, in der Ueberzeugung, daß er zwischen verschiedenen Möglichkeiten eine Entscheidung treffen muß Wenn der Mann der Praxis natürlich sehr einfältig ist und sich mit schlechter Philosophie umnebelt, die ihm unter dem Titel „Was die moderne Wissenschaft" oder „Was die moderne Psychologie uns sagt" angeboten wird, so läßt er unter Umständen sein normales Verhalten durch diese schlechte Philosophie lahmlegen. Er sitzt herum, tut nichts und schiebt die Schuld auf seine Komplexe oder seine Drüsen oder die Wirtschaftsgesetze, während es seine Pflicht wäre zu handeln. Solche Art Geisteskrankheit, die durch schlechte Philosophie hervorgerufen ist, kann manchmal durch gute Philosophie geheilt werden,- und so können Theorien, mögen sie noch so metaphysisch sein, für das Verhalten im täglichen Leben wichtig werden. Insoweit aber die Moralphilosophie ein ethisches Verhalten als selbstverständlich voraussetzt, als etwas, das die Philosophie verstehen soll, aber nicht verändern oder umwandeln — und in manchen ihrer Diskussionen muß die Moralphilosophie dies tun — scheinen die Diskussionen der Moralphilosophie etwas lebensfern zu sein. Die Probleme, die durch den Zwiespalt zwischen der Standesethik und ihren Pflichten und der Ethik der Vollkommenheitsforderung aufgeworfen werden, sind ganz anderer Art. Der Mann der Praxis gerät, ob er es will oder nicht, in einen Zwiespalt der Grundsätze, — aber nicht nur mit der Frage, wie anerkannte Grundsätze im Einzelfall anzuwenden sind. Am Sonntag wird ihm das eine gepredigt, an den Wochentagen das andere, oder, was das Ganze noch verwirrender macht, seine geistigen Führer sind unter sich verschiedener Meinung. Er entdeckt, daß er in einer Gesellschaft lebt, die von Gesetzen, Grundsätzen 11

und Gebräuchen regiert wird, die nicht ideal sind, die sich auf die Unvollkommenheiten und Schlechtigkeiten der Menschen eingestellt haben ja, die Gewaltmittel, Heer, Polizei und Gefängnis benutzen und alle Arten von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten anzuerkennen und zu entschuldigen scheinen. Er ist ein Glied der menschlichen Gesellschaft und könnte nicht ohne sie leben; er nimmt ihre Vorteile wahr. Gegen ihre Ungerechtigkeiten mag er protestieren, so viel er will, aus den echten sozialen Errungenschaften der Gesellschaft, in der diese Uebelstände bestehen, wird er doch seinen Nutzen ziehen. Die Bergpredigt jedoch scheint solch eine relative Ethik, wie sie in den Grundsätzen unseres Verhaltens tatsächlich verkörpert ist, nicht in Betracht zu ziehen, und ruft uns zu einer Lebensweise auf, die durch und durch von der Liebe zu allen Menschen erfüllt ist. vKönnen wir dieser Forderung entsprechen und trotzdem mit der Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, einen Kompromiß schließen? Das ist die allgemeine Frage, die in den spezielleren enthalten ist wie z. B. der Frage: Kann ein Christ dem Ruf des Staates zum Militärdienst folgen? oder: Kann ein Christ sich heute in ein Geschäft einlassen? usw. Manche Menschen finden bestimmte und klare Lösungen. Gewisse Forderungen oder Grundsätze der Gesellschaft lehnen sie ab. Oder sie nehmen eine Stellung ein, die derjenigen sehr ähnlich ist, die manche deutschen Autoren deja Ur-Christen zuschreiben. Sie akzeptieren die gewöhnlichen Maßstäbe der Gesellschaft als „Interimsethik" und beantworten die Forderung der Vollkommenheitsethik damit, daß sie alle ihre Energie auf das Zustandekommen einer „Christlichen Gesellschaft" werfen. Wenn man sie aber fragt, was eine christliche Gesellschaft sei, so sind sie sich selbst nicht darüber im Klaren, und Wir werden sehen, daß' es in göwissem Sinne keine christliche Gesellschaft geben kann, wenn man die Vollkommenheitsforderung ernst nimmt. Es kann keine Gesellschaft geben, in der man sagen kann: „Das erleuchtende Werk des Geistes ist getan. Unsere Grundsätze und unser System sind jetzt vollkommen". Ganz gleich, ob die Lösungen, mit denen sich manche Leute zufrieden geben nun wirklich zufriedenstellend sind oder nicht, viele Menschen empfinden heute den Gegensatz zwischen der Standesethik und ihren Pflichten und der Ethik der Vollkommenheitsforderung und werden von ihm irregemacht. Wie oft hören wir heute den Vorwurf, die einzige Ethik, die in der Schule ge-, lehrt wird, sei die Ethik des „playing the game", die Ethik des 12

Spiels nach den Regeln, was nur ein anderer Name für die Standesethik und ihre, Pflichten ist. W i r erfahren aber nicht, welche Ethik statt dessen gelehrt werden sollte. Es gibt keine allgemein anerkannte Meinung darüber, und viele Menschen merken, daß sie nichts weiter tun können als auf die verschiedenste Weise — was aber nicht befriedigend ist — zu einem Kompromiß zu gelangen und sie sind sich darüber klar, daß sie nicht zur Ruhe kommen, bis sie irgendeine Erklärung für ihre Schwierigkeiten gefunden haben. Das Problem ist nicht neu. Es ist mindestens ebenso alt wie das Christentum, tatsächlich noch älter. Von Zeit zu Zeit wird diese oder jene Lösung des Problems gefunden und allgemein anerkannt, und die Menschen leben und handeln im Rahmen dieser Lösung. Eine handgreifliche Lösung war die, daß nur wenige berufen wären, dieses besondere Leben der Vollkommenheit zu führen, und daß sie dafür alles Weltliche aufgeben und in ein Kloster gehen oder einem Orden beitreten müßten. W i r werden einige dieser Lösungen später untersuchen. Von Zeit zu Zeit jedoch hört die Anerkennung solch einer Lösung auf, und dann werden die verschiedenen Grundsätze wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen emsthafter Menschen. In England war das 17. Jahrhundert eine solche Zeit; die ethischen Grundsätze, das Verhältnis der Forderungen der Evangelien zu den Forderungen der Gesetze wurde in allen möglichen Büchern und Flugschriften diskutiert. Wir leben heute wieder in einer solchen Zeit. Eine Standesethik, die zwar durch das Christentum bis zu einem gewissen Grade veredelt wird, allerdings nicht so sehr, daß sie durchführbar ist, befriedigt nicht mehr und wird weitgehend abgelehnt. Als Folge dies.er Ablehnung im wesentlichen sehen wir zweierlei gegensätzliche, aber gleichzeitige Entwicklungen — die Ablehnung der anerkannten Ethik führt zur Ablehnung aller ethischen Grundsätze überhaupt, während gleichzeitig die Vollkommenheitsforderung deutlicher und drängender zu vernehmen ist. Fragen, die sich aus dem Verhältnis der beiden Ethiken ergeben, werden heute wieder anhaltend und mit Eifer diskutjert. Alle möglichen Bücher und Broschüren über ethische Grundsätze werden geschrieben Die akademische Moraiphilosophie, wie sie auf den Hochschulen gelehrt wird, steht allerdings fern und abseits, als ob sie nie etwas von diesen tatsächlich vorhandenen ethischen Auseinandersetzungen gehört hätte. Dieses Abseitsstehen ist meiner Meinung nach unentschuldbar. 13

Philosophische Spekulation kann zwar nicht unmittelbar praktische Leitsätze liefern, aber sie könnte zumindest in der Lage sein, einen offensichtlichen Widerspruch zwischen Grundsätzen zu lösen. Das vorliegende Buch stellt einen solchen Lösungsversuch dar. Wir müssen natürlich zuerst versuchen klar zu legen, welcher Art der Konflikt ist. Der beste W e g wird der sein, zunächst die Standesethik mit ihren Pflichten so darzustellen, wie wir ihr in vielfacher Weise begegnen, und dann den Gegensatz zwischen ihr und der Vollkommenheitsforderung zu untersuchen.

14

Zweites

Kapitel

Die Standesethik und ihre Pflichten oder die Ethik des „Spiels nach den Regeln" Soviel heutzutage auch über ethische Fragen und den Zusammenbruch der ethischen Grundsätze diskutiert wird, so machen sich meiner Meinung nach die wenigsten von uns viel Gedanken darüber, was wir als Individuen tun sollten. Wir haben schließlich unsern Beruf, der die meiste Zeit in Anspruch nimmt. Wir haben eine anerkannte Stellung und bestimmte Aufgaben in der Gesellschaft. Unser Beruf und unsere Stellung in der Gesellschaft bringen Pflichten mit sich, deren Erfüllung man von uns erwartet und die wir normaler W e i s e auch übernehmen. W i e ein Arbeitgeber zu einem Mann, den er anstellt und dem er eine bestimmte Tätigkeit übertragen hat, sagt: „Wissen Sie jetzt, was Sie zu tun haben?", so wissen wir alle im großen und ganzen, welche Stellung wir innehaben und welches Verhalten sie von uns verlangt. W e n n wir z. B. überlegen, ob wir eine neue Beschäftigung annehmen sollen, so sagen wir uns: „Wir müssen uns also darauf einstellen, dies oder jenes zu tun", wie wir vielleicht von einem Mann, den wir für nachlässig halten, sagen: „Er hätte die Stellung nicht annehmen sollen, wenn er nicht die damit verbundene Verantwortung auf sich nehmen wollte". Diese Verantwortung gehört unserer Meinung nach zu dem Beruf oder ergibt sich aus ihm oder unserer Stellung in der Gesellschaft. Sie muß von jedem, der diese Stellung in der Gesellschaft einnimmt oder den Beruf ausübt, getragen werden: Pflichten des Ehemannes oder der Ehefrau, des Staatsbürgers oder Stadtverordneten, des Lehrers, Arztes, Arbeitgebers oder Handwerkers. Manchmal nennen wir diese Pflichten, wie ich schon sagte, Verantwortung. Ich werde gelegentlich um ein Gutachten über jemanden gebeten, indem man mir die Frage vorlegt: „Können Sie ihn für einen verantwortlichen Posten empfehlen?" Das klingt, als ob wir uns die notwendigen Aufgaben der Gemeinschaftsarbeit in der Gesellschaft teilten und jeder von uns 15

sagte: „Ich will mich um dies kümmern. Ich will hierfür die Verantwortung übernehmen, wenn jemand anders sie dafür übernimmt". Wir tun natürlich nichts derartiges in der allgemeinen Gesellschaftsordnung, nichts, was so bewußt und ausgeklügelt wäre, aber wir fühlen uns doch alle bei der Ausübung unserer Pflichten den andern gegenüber verantwortlich, wie wir sie uns gegenüber für verantwortlich halten. Wir können uns der Ausübung der Pflichten unseres Berufes zum Teil deswegen widmen, weil wir wissen, daß andere ihren Pflichten entsprechend nachkommen. Diese Ethik ist'eine Gesellschaftsethik und schließt gegenseitige Abhängigkeit und gegenseitige Verantwortung ein. Eine solche Haltung, die wir als verbindlich anerkennen, wird von uns erwartet. Von unserer frühesten Jugend an wird uns klar gemacht, daß es gewisse Grundsätze gibt, nach denen wir als Angehörige unseres Gesellschaftskreises unser Verhalten richten müssen. Wir werden sehen, daß ein gut Teil der Standesethik und ihrer Pflichten vernünftig ist, und wir möchten vielleicht geneigt sein, uns nach manchem davon zu richten, eben weil es vernünftig ist. Aber wir lernen das, was von uns erwartet wird, und die Begriffe „gut" und „schlecht", „pflichttreu" und „pflichtvergessen" viel leichter und einfacher — von klein auf durch die Billigung oder Mißbilligung seitens der älteren Generation und unserer Altersgenossen. Es gibt eine hübsche Geschichte von einer sehr modernen und fortschrittlich denkenden Mutter die zu ihrem Kinde sagte: „Du darfst nicht sagen, es ist falsch. Das ist ungezogen". So schwer ist es, die Gewohnheit der gesellschaftlichen Zustimmung oder Ablehnung abzulegen. Warum sollte man es auch tun? Im Gegenteil. Es ist für uns alle von der größten Wichtigkeit, daß die gesellschaftlichen Regeln beachtet werden; durch die Zustimmung oder Ablehnung muß uns normaler Weise beigebracht werden, wie gerund und vorteilhaft diese Regeln sind, die wir selbst später vielleicht schätzen lernen. Der Satz „Jeder tat, was ihm in seinen Augen richtig schien" schildert nicht einen Idealzustand, sondern die Anarchie. Die Behauptung, wir seien verantwortungsbewußte Persönlichkeiten, bedeutet demnach, wir erkennen unsere Verantwortung; das heißt, wir sind uns unserer Verpflichtungen bewußt und, da andere von unserem Verhalten abhängen, sir.d wir gebunden und können nicht frei gerade das tun, was uns paßt. Nun bedeutet Verantwortung aber, so paradox es klinct, 16

doch auch Freiheit. Wenn man sich darüber beklagt, es weigere sich jemand, uns als verantwortliche Persönlichkeit zu behandeln, oder er wollte uns „keine verantwortliche Stellung geben", so meint man damit, es werde einem nicht überlassen, nach eigenem Ermessen Entscheidungen zu treffen. Eine verantwortliche Stellung ist eine solche, in der man innerhalb gewisser Grenzen sein eigener Herr ist. Jemand, der Verantwortung hat, ist also gleichzeitig gebunden u n d frei. Das ist tatsächlich nicht so paradox, wie es klingt, aber es ist wichtig, die Beziehung zwischen Freiheit und Bindung zu kennen. Niemand kann frei und schöpferisch handeln, wenn er keine Ahnung hat, wie die Leute, deren Handlungen mit seinen eigenen verbunden sind, sich verhalten werden. Dies gilt auch für unsere Beziehung zu den Dingen. Keiner von uns könnte irgendetwas Vernünftiges anfangen, wenn die Dinge sich „beliebig" verhielten. Wir wissen alle, daß unsere Kenntnis der Naturgesetze unsere Macht über die Natur vergrößert hat. Dadurch, daß wir wissen, wie die Dinge sich verhalten, sind die Möglichkeiten unseres freien Handelns vermehrt. W e n n wir uns auf unsere Mitmenschen ebenso verlassen könnten wie auf die Dinge, deren Naturgesetze uns ganz klar sind, so hätten wir größere Macht, wenn auch vielleicht nicht größere Freiheit. In diesem Falle wurde unsere Macht aber auf Kosten anderer erworben sein, und wir allein wären frei. W e n n wir darüber nachdenken ist es aber klar, daß wir, um frei handeln zu können, nicht g e n a u zu wissen brauchen, wie unsere Umgebung, einschließlich unserer Mitmenschen, reagieren wird. Denken wir an ein Spiel. Ich bin überzeugt, daß wir das Spiel mit Recht für ein Gebiet halten, auf dem wir uns bis zu einem gewissen Grade frei und ungebunden bewegen können. Und doch ist es selbstverständlich, daß wir ein Spiel nicht ohne Regeln spielen können W e n n man einer Anzahl von Menschen sagen wurde, sie sollten ein bestimmtes Spiel spielen, es habe aber keine Regeln, so wurden sie nicht wissen, was sie tun sollten, weil der einzelne keine Ahnung hätte, was die andern zu tun beabsichtigen. Anarchie fuhrt immer zur Tyrannei,, weil Anarchie sich immer als vollkommen unmöglich erweist; und vor dem Unmöglichen fluchtet man zu dem Nächstmöglichen. Bei einem Spiel gibt es Freiheit, weil die Handlungen unserer Mitspieler Varianten innerhalb der Spielregeln sind und wir diesen Varianten vermöge unserer eigenen Varianten begegnen können. Man kann das erkennen, wenn man fragt, warum ein 17

Tennis-Einzel zwischen zwei gleichwertigen, aber mäßigen Spielern besser ist als ein Einzel zwischen einem sehr guten und einem mäßigen Spieler. Der viel größeren Variationsmöglichkeit des guten Spielers gegenüber kann der mäßige Spieler nicht entsprechend reagieren und hat daher keine Möglichkeit zu eigener Initiative. Selbst der überlegene Spieler — obwohl er, wie man sagt, „mit seinem Gegner machen kann, was er will" — hat nicht das Gefühl der Freiheit und Initiative, das er einem gleichwertigen Spieler gegenüber haben würde. Er besitzt mehr Variationsmöglichkeiten innerhalb der Spielregeln als durch die Varianten seines Gegners herausgefordert werden. Dies kleine Beispiel zeigt, daß auch die größte Aktivität Regeln verlangt und weiterhin eine ungefähre Gleichheit zwischen den in Frage kommenden Personen. W e n n Gesetz und Ethik die Freiheit fördern sollen, dürfen sie nicht nur Regeln enthalten, die für alle bindend sind; wenn sie auch nicht gleiche Begabungen voraussetzen können, so müssen sie doch gleiche Rechte bieten. Die Regeln sind für die Aufrechterhaltung der Rechte notwendig; und Rechte sind geschützte Freiheiten — die Möglichkeiten, die eigenen Handlungen zu variieren als Reaktion auf die jeweilige Situation und das Verhalten der Gegenseite innerhalb der Regeln. Wenn wir Verantwortung übernehmen und andere als verantwortliche Menschen behandeln sollen, müssen wir sowohl gebunden als auch frei sein. Wir müssen die Verpflichtungen der allgemeinen Regeln auf uns nehmen, und die Regeln müssen gleiche Rechte gewähren und auch aufrecht erhalten. Dann können wir unsere Handlungen und unsere Zusammenarbeit mit den andern richtig planen, in der Gewißheit, daß es Regeln gibt, die sie nicht durchbrechen werden, und daß es Möglichkeiten gibt, in denen wir uns bewegen können, ohne uns eigenmächtig in die Angelegenheiten anderer Leute zu mischen. Wir brauchen nicht gerade zu wissen, was der andere zu tun gedenkt, um mit ihm zusammenarbeiten zu können; wir müssen nur sicher sein, daß die Varianten in seinem Verhalten innerhalb der Grenzen der Regeln liegen. Wir können in der Praxis sogar noch etwas weiter gehen. Ich habe bisher vorausgesetzt, daß die Varianten im Verhalten unserer Mitmenschen, auf die wir mit Varianten in unserm eigenen Verhalten reagieren, innerhalb der Regeln und des Geistes der Regeln liegen. Aber wenn wir zu unserem Beispiel vom Spiel zurückkehren, so können wir bemerken, daß ein 18

Spiel nach den Regeln spielen nicht bloß eine Geschicklichkeitsfrage ist. Ein Spiel kann in anständigem, sportlichen Geist gespielt werden, dann nämlich, wenn sowohl der Geist als auch der Buchstabe der Regeln beachtet wird; oder es wird niederträchtig und unsportlich gespielt. Wenn wir gegen solche unsportlichen Gegner spielen, wird das Spiel zwar weniger angenehm, aber nicht unmöglich. W e n n die Spieler allerdings die Regeln überhaupt nicht beachten, dann kann das Spiel nicht durchgeführt werden; einem gewissen unsportlichen Verhalten kann man aber begegnen. Das Gleiche gilt von der Gesellschaft. Gesetze und ethische Grundsätze werden niemals vollkommen beachtet; bis zu einem gewissen Punkte werden wir mit unsern gegenseitigen Vergehen und Niederträchtigkeiten entweder einzeln oder durch verschiedene Formen der Gemeinschaftsaktionen fertig. Ein Gesellschaftsleben ist nur möglich, wenn ungefähr die Gewißheit besteht, daß die meisten Leute sich im allgemeinen an die Regeln halten werden. Mit Anarchie ist es tatsächlich gänzlich unvereinbar, aber von der vollkommenen Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln bis zur Anarchie ist es ein weiter Weg. Es hat immer drei Arten von Menschen in der Gesellschaft gegeben: solche, deren Handlungsweise besser ist als die Regeln, deren Glaube, Großmut und Idealismus das ethische Kapital der Gesellschaft vermehren; solche, die ihren Verbindlichkeiten nachkommen, die ihr Recht verlangen und ihre Pflicht erfüllen; und schließlich solche, die möglichst viel nehmen und möglichst wenig geben, die die Regeln nur deshalb beachten — sofern sie dies überhaupt tun —, weil die Gesellschaft sie dazu zwingt. J e d e normale Gesellschaft lebt von dem Kapital an gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verantwortlichkeit, das in der Vergangenheit durch die Pflichttreue zahlloser Männer und Frauen zusammengetragen wurde. J e d w e d e Gesellschaft vermehrt dies Kapital oder vergeudet es, je nachdem, ob die erste oder dritte Menschenart in ihr vorherrscht. Wahrscheinlich gehört bei den meisten Gesellschaften die Masse im wesentlichen zum Mittelstand; sie ist willens, denen, die ihr anständig gegenübertreten, ebenfalls anständig entgegenzukommen, die Regeln ordentlich und guten Mutes zu beachten, solange die andern das Gleiche tun. „Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?" 19

Weil das so ist, hängt auch die Standesethik vom Glauben und gegenseitigen Vertrauen ab. Es muß allgemein erwartet werden, daß wir die Regeln beachten und, wenn wir unsere Pflicht erfüllen, es auch die andern tun werden. Die Erkenntnis, daß die Menschen gegenseitig verantwortlich sind und dementsprechend handeln, wird leider nicht automatisch durch ihre Notwendigkeit erweckt. Wenn die Menschen voneinander abhängig werden, wird eine Zusammenarbeit nur möglich, wenn sie gegenseitig verantwortlich sind. Diese gegenseitige Verantwortung ist aber nicht automatisch eine Folge der Abhängigkeit. Gegenseitige Abhängigkeit kann unter Umständen Anarchie hervorrufen. Das ist in der heutigen Welt leider nur zu offenkundig. Durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung sind die Menschen in der ganzen Welt viel schneller von einander abhängig geworden als ihr Gefühl für gegenseitige Verantwortung sich entwickeln konnte. Außerdem hat diese Entwicklung einigen Menschen mehr Macht gegeben, andern aber nicht, und die Gleichheit der Rechte hat nicht die Ungleichheit der Macht überlebt. Wir leben in einer abhängigen und doch mißtrauischen, argwöhnischen Welt; die Folgen davou sind für uns alle schmerzlich offenbar. Die theoretische Ethik sagt uns zweifellos, daß wir nichts mit andern zu tun haben können, ohne dadurch ihnen gegenüber moralisch verpflichtet zu sein; und wenn die theoretische Ethik tatsächlich die herrschende wäre, so würden sich gegenseitige Abhängigkeit und das Gefühl für die moralische Verpflichtung entsprechen. Die Standesethik und ihre Pflichten schafft nun leider nicht eine Gesellschaft, von der man fest erwarten könnte, daß sie die Regeln beachtet, sie ist vielmehr nur von einer solchen Gesellschaft abhängig, nämlich von der Sitte, der gegenseitigen Bekanntschaft und Vertrautheit ihrer Glieder untereinander. Ihrer wahren Natur nach ist sie eine begrenzte und nicht eine offene Ethik. Sie hängt von Dingen ab wie dem Wissen um die „Art und Weise, wie sich Leute unserer Kreise bewegen", welches Benehmen man von einem „Gentleman" oder einem Engländer oder Amerikaner erwarten kann. Selbst wir, die seit Jahrhunderten unter dem Einfluß einer allumfassenden Religion, wie das Christentum sie ist, stehen, wissen, wie sehr wir geneigt sind, unsere moralischen Verpflichtungen auf unsere eigenen Leute zu beschränken. Bei primitiveren Ethiken, die von einer universalen Religion unberührt blieben, sind die moralischen Verpflichtungen fast ganz auf den eigenen Stamm beschränkt. 20

Der Fremde wird beinahe schon als Feind definiert. Unbekannten zu trauen, ist eine abenteuerliche und mutige Sache. Die Standesethik hat viel für sich, abenteuerlich ist sie nicht. Aus all dem folgt, daß eine Welt, in der es nur die Standesethik gibt, eine Welt abgeschlossener und oft feindseliger Gesellschaften ist, die miteinander im Widerstreit oder gar im Kriege liegen. In demselben Maße, in dem diese Gesellschaften durch den gemeinsamen Haß gegen die außerhalb ihrer Grenzpfähle lebenden beflügelt werden, scheint sich im Innern ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und ihre enge Zusammenarbeit zu verstärken. Ihre Einigkeit und ihr gegenseitiges Vertrauen werden von dem Bewußtsein genährt, daß sie etwas Einzigartiges, daß sie von besonderem Wert oder wertvollerem Blut sind, verglichen mit „niederen Rassen außerhalb des Gesetzes" oder mit Nichtariern oder Heiden. Diese Beschränktheit findet sich ?ast überall, wenn natürlich auch verschieden stark. W e n n w:r einigermaßen entsetzt sind, daß das lateinische Wort „hostis" unterschiedslos „Feind" und „Fremdling" bedeutet, so sollten wir daran denken, daß wir jemanden, den wir beschimpfen wollen, gelegentlich einen „Außenseiter" nennen. Die vielleicht vornehmste, sicherlich jedoch wesentlichste Abhandlung über die Standesethik ist Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts". Sie ist eine umfassende Würdigung der praktischen Ethik, wie sie sich in den Einrichtungen der Gesellschaft verkörpert und von der staatlichen Macht geschützt wird. Der Staat ist vermittels der Macht, die hinter dem Gesetz steht, in der Lage, die Standesethik für einen weit größeren Raum zu schützen als nur für eine Gemeinschaft, die nur von persönlichen Sympathien, Verwandtschaftsgefühlen und ähnlichen persönlichen Vertrauensbanden abhängig ist. Die Kehrseite ist allerdings die, daß es zwischen Staaten keine Ethik gibt und, wie Hegel sagt, „der negative Aspekt des Staates der Krieg ist". Wir können dies verallgemeinern und sagen: „Der Krieg ist der negative Aspekt der Standesethik, wenn diese begrenzte Ethik durch den allumfassenden Geist des Evangeliums nicht gemildert wird". Als Nächstes ist von der Standesethik festzustellen, daß sie notwendigerweise unvollkommen, relativ und unveränderlich ist. Das ergibt sich zwangsläufig aus dem Zweck, dem die Regeln dienen. Es ist äußerst wichtig, dies zu erkennen. Der Zweck aller ethischen Bräuche, Grundsätze und Gesetze für die Gesellschaft ist, wie wir gesehen haben, der, uns einen sicheren 21

Rückhalt für unsere Handlungen zu geben. Die meisten unserer Handlungen sind Gemeinschaftshandlungen, wenigstens in dem Sinne, daß sie das Verhalten der andern in Rechnung stellen und voraussetzen, daß dies Verhalten von einer bestimmten Art sein wird. Das Hauptziel der Regeln ist, das Recht aufrechtzuerhalten, d. h. uns die Gewißheit zu geben, daß wir und die andern innerhalb gewisser Handlungsrichtlinien vor willkürlichen Uebergriffen geschützt sind. Das Verhalten der andern ist notwendigerweise die Voraussetzung für unser eigenes Verhalten, wie dieses wiederum die Voraussetzung für das ihrige ist. Uns allen ist das so selbstverständlich, daß wir es kaum bemerken. W i r werden uns dessen möglicherweise nur bewußt, wenn wir von einer gesellschaftlichen Sphäre in eine andere hinüberwechseln. Wir leben vielleicht in einer Umgebung, deren sittliche Vorstellungen uns neu sind und von der wir etwa sagen: „Das ist ein fürchterlicher Ort. Man muß immer alles einschließen, sonst ist es weg", usw. usw., oder von der wir im Gegenteil sagen können: „Es ist wundervoll, mit solchen Leuten zu leben. J e d e r will helfen, es gibt keinen, der versucht, den andern übers Ohr zu hauen". Wir können uns vorstellen, wie das Leben in den Ländern geändert werden mußt, in denen man nie wissen kann, ob nicht jeder, den man trifft oder mit dem man spricht, ein Spion ist, der einen bei den Behörden anzuzeigen bereit ist. Nun ist es aber nicht nur so, daß die gesellschaftliche Umgebung, die durch die verschiedenartigen Sittengesetze geschaffen wird, einfach angenehm oder unangenehm ist. Sie zwingt uns vielmehr, verschieden zu handeln. Eine Handlungsweise, die in einer bestimmten Umgebung klug wäre, ist es in einer andern durchaus nicht. W e n n man weiß, daß die andern Menschen zu einer Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe bereit sind, handelt man auf eine bestimmte Weise; weiß man aber, daß sie nichts dergleichen tun, so handelt man ganz anders. Dies trifft sogar zu, wenn man seine eigene Absicht auf Grund der Handlungen oder Absichten der andern nicht ändert. Nur die Durchführung muß geändert werden. Es gibt Leute, von denen wir sagen: „Es ist ganz unmöglich, mit ihnen zu arbeiten. Man weiß nie, was sie im nächsten Augenblick tun". In dieser Form ist das gewöhnlich eine Uebertreibung, es drückt aber die Grundtatsache aus, die ich betonen möchte. Da wir nun einmal gesellschaftlich gebundene W e s e n sind, die voneinander abhängen und daher zusammenarbeiten müssen, können wir nur 22

erfolgreich und klug handeln, wenn wir die Regeln kennen, nach denen sich die Menschen richten. Ethische Regeln sind demnach, vom Standpunkt der Gesellschaft aus betrachtet, nicht etwa erstrebenswerte Ideale, nicht bloße Gebote, nicht Feststellungen, wie sich die Menschen nach unserer Meinung im Idealfalle verhalten sollten. Sie sind nutzlos, wenn sie nicht von a l l e n eingehalten werden. Daher muß das Verhalten, das sie vorschreiben, dem entsprechen, was sowohl Männer als Frauen im großen und ganzen zu tun bereit sind oder zu dessen Ausführung, wenn man es so fassen will, sie veranlaßt werden können. Will man erreichen, daß gewisse Sittengesetze so genau beachtet werden, daß eine Zusammenarbeit in der Gesellschaft daraus entsteht, dann ist ein gewisser gesellschaftlicher Zwang notwendig, der tatsächlich eine Rolle spielt, in all seinen verschiedenen Erscheinungsformen — von der Billigung und Mißbilligung des eigenen Kreises bis zur äußersten Strenge des Gesetzes. Der gesellschaftliche Zwang ist der Druck, der von der Mehrzahl der Menschen ausgeübt wird. Die Regeln, die widerspenstigen Mitgliedern der Gesellschaft aufgezwungen werden können, müssen derart sein, daß die Mehrzahl der Menschen sie billigt und im ganzen bereit ist, ihnen zu gehorchen. Natürlich werden selbst die Angesehensten und Ehrenhaftesten unter uns gelegentlich einmal Regeln durchbrechen, die wir im allgemeinen billigen. Wir mögen fest und aufrichtig an die Notwendigkeit der Höchstgeschwindigkeit glauben und doch versucht sein, sie gelegentlich zu überschreiten, und mögen andererseits auch vor der Versuchung durch die Angst vor der Geldstrafe bewahrt bleiben. Die meisten von uns brauchen gesellschaftlichen Zwang irgendwelcher Art, um auf der Höhe zu bleiben, obwohl wir selbst die Absicht haben, uns auf der Höhe zu halten und meist das besitzen, was man praktische ethische Grundsätze nennen könnte — d. h. es gibt gewisse Handlungen, die wir nach unserer Meinung tatsächlich ausführen, andere, die wir unterlassen sollten. W i r können uns im großen und ganzen auf dieser Höhe halten oder auf ihr gehalten werden. Die idealen ethischen Grundsätze sind nicht in gleicher Weise praktisch wirksam. „Ich weiß, daß wir unseren Feinden vergeben sollten", sagen wir nicht mit der gleichen Ueberzeugung, mit der wir sagen: „Du hättest diese Sachen nicht bestellen dürfen, wenn du keine Aussicht hast, sie bezahlen zu körinen". Dies letztere drückt etwas aus, das zu 23

unseren praktischen ethischen Grundsätzen gehört, das erstere etwas, das nicht dazu gehört. In Trollope's „Last Chronicle of Barset" gibt es eine- Stelle, die den Gegensatz zwischen idealen und praktischen ethischen Grundsätzen wunderbar zum Ausdruck bringt: „Lady Lufton hatte oft ihren Freund, den Archidiakonus, predigen hören, und sie kannte die hohen Töne gut, zu denen er sich versteigen konnte, wenn er über die Notwendigkeit sprach, im Interesse unseres wahren Glücks, unserer Hoffnung auf die Zukunft zu vertrauen. Und doch fühlte sie mit ihm, als er ihr erzählte, daß er ganz gebrochen sei, weil sein Sohn im Begriff wäre, einen Schritt zu unternehmen, der vielleicht sein weltliches Wohlergehen beeinträchtigen könnte. Hätte der Archidiakonus über die Ehe gepredigt, dann wurde er den jungen Männern empfohlen haben, sich nach gottesfürchtigen jungen Frauen umzuschauen. Wenn er aber über seine eigene Schwiegertochter sprach, so kam über diesen Punkt kein Wort über seine Lippen, und wenn er bis zum Einbruch der Nacht darüber gesprochen hätte. Wenn einer seiner Freunde, ganz gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, mit ihm eine solche Frage besprochen oder ihn in dieser Hinsicht um Rat gefragt und dabei die Gottesfurcht erwähnt hätte, so wäre ihm die Anspielung widerwärtig gewesen und hätte ihm nach Heuchelei geschmeckt. Lady Lufton nahm dies alles gut auf. Der Archidiakonus hatte nach seinem Herzen gesprochen und sein Herz erleichtert". Wir fühlen uns dem Archidiakonus vielleicht etwas überlegen, wenn wir das lesen, aber w i r wissen in u n s e r m Herzen, daß unsere wirklichen, praktischen Grundsätze eins und die idealen Grundsätze, zu denen wir uns vielleicht von Zeit zu, Zeit bekennen, etwas anderes sind. Wir kennen das Verhalten, das wir von gewöhnlichen anständigen Leuten unserer Art gewöhnt sind, d. h. das Verhalten, das wir von ihnen als eine Selbstverständlichkeit erwarten, und unsere Erwartungen werden im allgemeinen nicht enttäuscht. Wenn wir aber von uns oder andern ein ideales Verhalten erwarteten, so würden wir im allgemeinen enttäuscht werden. Ein Verhalten, auf das wir uns verlassen können, wie es diese wirklichen, praktischen Grundsätze sind, ist unvollkommen. Wir wissen, daß es so ist, wenn auch nur durch den Gegensatz zwischen ihnen und den idealen oder theoretischen Grundsätzen. Wir erkennen das an 24

uns selbst, an dem Gegensatz zwischen der normalen Handlungsweise, zu der wir uns gewöhnlich verstehen, und dem ganz verschiedenen Standpunkt unserer höchsten und heroischsten Augenblicke. Wir wissen es durch den Gegensatz zwischen dem Verhalten des anständigen Durchschnittsmenschen und dem Verhalten des Heiligen. Die Norm unseres Verhaltens, wie sie in ethischen Grundsätzen und Gesetzen verkörpert wird, kann niemals höher sein als das Verhalten, zu dem sich der anständige Durchschnittsmensch versteht. Heilige allerdings kummern sich nichc u n solche Begrenzungen. Wenn wir auf verschiedene Weise von den andern eine gewisse Höhe ihres Verhaltens fordern und erwarten und sogar duich verschiedene Arten gesellschaftlichen Druckes erzwingen, so heißt das nicht etwa, daß wir dadurch anstreben, selbst vollkommen zu werden. Wir wissen nur zu gut, daß wir begrenzte, fehlerhafte Wesen sind. Wir wissen, daß wir, verglichen mit der göttlichen Vollkommenheit, allzumal Sünder sind. Das sollte uns aber nicht hindern (und tut es auch nicht) zu erkennen, daß es gewisse Regeln für unser Verhalten gibt, die für die Zusammenarbeit m der Gesellschaft wesentlich sind und die wir erzwingen müssen. In der Praxis erkennen wir alle in großen Zügen eine gewisse Norm für das Verhalten in den verschiedenen Situationen und Lebenslagen an. Wir erkennen, wenn jemand unterhalb dieser Norm bleibt, und sehen, wie wertvoll ihre Aufrechterhaltung ist, wenn wir ihre Ergebnisse mit der Anarchie vergleichen, so unvollkommen auch diese Norm im Vergleich mit einer absoluten Norm sein mag. Die Norm der Standesethik beruht demnach auf der Frage, wie die Mehrzahl der Leute, auf die es ankommt, sich verhalten wollen. Die Antwort abzuschätzen ist eine Sache der Urteilskraft oder des Vertrauens f die Frage selbst bleibt aber eine Tatsache, eine Tatsache allerdings schwer faßbarer Ar* — keine bestimmte., genaue, durch wissenschaftliche Analyse bestimmbare Tatsache. Wir alle wissen aus unserer Erfahrung mit einer kleinen Gesellschaft, daß das, was ihre Mitglieder zu tun bereit sind, von dem abhängt, was man ihre „Hältung" nennt. Und diese Haltung kann durch tapfere, edelmütige Führer erhöht oder durch ihr Fehlen erniedrigt werden. Die meisten von uns haben sicherlich die Wirkung erlebt, die ein Redner auf einen Ausschuß, eine Versammlung oder irgendeine Gruppe ausübte, wenn er mit vertrauensvoller Sicherheit sagte: „Aber natürlich, wir wollen nach besten Kräf25

ten helfen", wie wir allerdings leider auch die gegenteilige W i r k u n g verspürten, wenn jemand sagte: „Ich sehe nicht ein, daß wir dazu da sind, irgendetwas zu tun. Wir müssen schließlich an uns denken". W a s von einer kleinen Gesellschaft gilt, gilt im gleichen Maße, wie wir wissen, von einem Volk. Seine „Haltung" kann und wird tatsächlich gehoben oder verschlechtert. Es reagiert auf Führertum; es wird ernüchtert und hart, wenn es fehlt. „ W a s die Leute zu tun bereit sind" ist demnach etwa das, was Plato „das Mehr oder Weniger" nennt. Es gibt da eine gewisse Variationsmöglichkeit. W e n n wir aber vernünftig sind, sehen wir, daß es zu jeder Zeit nur eine Möglichkeit innerhalb gewisser Grenzen gibt. Der Versuch, durch irgendwelchen gesellschaftlichen Druck eine ethische Norm zu erzwingen, die für gewöhnliche Menschen zu hoch ist (wie die sogenannten blauen Gesetze im frühen Massachusetts oder kürzlich die Prohibition), führt nur zu Ernüchterung, Heuchelei und Gesetzwidrigkeit. Unvollkommene Regeln, Grundsätze und Gesetze, die beachtet werden, sind bei weitem besser als die idealsten Gesetze, u m die sich keiner kümmert. Denn eine Regel, die nicht befolgt wird, hat ihren Sinn verloren. Da Regeln nun einmal unvollkommen sind, scheint ein Zwiespalt zu bestehen zwischen ihnen und dem Gebot der vollkommenen Liebe zu allen Menschen, wie wir es in der Bergpredigt finden. Daher meinen die Menschen, Regeln, soweit sie unter dieser Norm liegen, hätten keine Existenzberechtigung oder dürften in einer christlichen Gesellschaft keine Gültigkeit haben. Aber in der Gesellschaft, wie sie nun einmal ist — äußerst unvollkommen vom Christentum durchdrungen —, gibt es keine Waihl: entweder wir besitzen Regeln oder wir sind der gesetzlosen Anarchie ausgeliefert. W e n n wir unsere Brüder lieben, müssen wir um ihretwillen wünschen, daß es Regeln gibt und daß, wie wir gesagt haben, die Regeln echt und gegenwartsnah sind und in der Praxis beachtet werden. Daher sind wir im Namen der Liebe gezwungen, darauf zu sehen, daß die Regeln, zu deren Beachtung man die Menschen bestenfalls überreden kann, auch wirklich eingehalten werden, so unvollkommen sie auch sein mögen. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir die Beziehungen zwischen der Standesethik und der Ethik der Vollkommenheitsforderung behandeln. Die Standesethik ist demnach notwendigerweise unvollkommen. Sie ist notwendigerweise auch relativ. Dies ergibt sich 26

schon aus den stillschweigenden Folgerungen, die aus der Redensart „mein Stand und s e i n e Pflichten" gezogen werden. Andere Stände haben andere Pflichten. Die Bedingtheit dieser gewöhnlichen Ethik bedeutet aber nicht nur, daß Pflichten von dem Stand abhängen. Die Pflichten, die in irgendeiner Gesellschaft anerkannt werden, hängen von den geschichtlichen und sozialen Umständen der Gesellschaft ab. Da Sicherheit und Erhaltung der Gesellschaft der Zweck der Regeln ist, werden verschiedene Regeln in den verschiedenen Stadien der Zivilisation für wichtig gehalten. Die Anthropologen haben uns viel über dieses Thema zu sagen. Man kann es leichter feststellen, wenn man das Alte Testament oder Homer oder ein großes modernes Buch wie Doughty's „Arabia Deserta" kritisch liest. Wenn man irgendeines dieser drei Bücher ganz nüchtern durchsieht, wird man finden, daß die Handlungen, die z. B. von einem guten Menschen in einer primitiven Hirtengesellschaft erwartet werden, ganz andere sind als die, die man heutzutage von einem guten Menschen erwartet. Marx behauptet, daß das sittliche Verhalten jeder Gesellschaft nur der Ausdruck ihres Klassenaufbaus s?i, wie dieser der Ausdruck ihrer Produktionsmöglichkeit wäre. Das ist viel zu allgemein, um wahr zu sein, aber es enthält einen richtigen Kern. In verschiedenen Gesellschaften sind verschiedene Arten des Verhaltens für die Erhaltung der Gesellschaft wichtig und werden dementsprechend als die vorwiegend wichtigen Tugenden angesehen. Die Tugenden und Laster, die gesellschaftlich gebilligt oder mißbilligt werden, sind nicht die gleichen, wenn es sich um eine Gesellschaft von Jägern, Hirten oder Arbeitern handelt. Es ist z. B. bekannt, daß das, was im Verhalten der Geschlechter zu einander gebilligt oder mißbilligt wurde, von Zeit zu Zeit sehr gewechselt hat. Wir brauchen nicht zu den Wilden zu gehen, um dies festzustellen. Wenn jemand C. S. Lewis' berühmtes Werk „The Allegory of Love" liest, so findet er dort den Ursprung und die Entwicklung dessen beschrieben, was wir das Ideal einer christlichen Ehe nennen würden. Er wird erstaunt sein, wie spät in der Geschichte des Christentums dieses Ideal in der Form, in der wir es für selbstverständlich halten, auftaucht. In unserer Zeit haben wir in dem allgemeinen Rahmen des Glaubens an die christliche Ehe einen bemerkenswerten Wandel in dem wahrnehmen können, was man von dem Verhalten der Männer und Frauen zueinander erwartete. Das Nebenthema von Trollope's Roman „The Prime 27

Minister" (erschienen 1876) z. B. beruht auf der Annahme, daß kein anständiges junges Mädchen des englischen Mittelstandes den jungen Mann, mit dem sie verlobt war, fragen konnte, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Trollope erklärt sehr sorgfältig,- warum weder der Vater noch der Bruder des jungen Mädchens die notwendigen Auskünfte einzieht, wie es eigentlich ihre allgemein anerkannte Pflicht gewesen wäre. Aber es scheint ihm kaum in den Sinn gekommen zu sein, daß das junge Mädchen vielleicht ganz natürlich hätte darauf bestehen können, über diese praktischen Fragen unterrichtet zu werden. W e n n man dem nachgeht, wie dieser Wechsel in den Beziehungen zwischen Mann und Frau zustande gekommen ist, so ist ein Teil der Erklärung •— wenn auch nicht die ganze — wirt-' schaftlicher Art. Infolge der wirtschaftlichen Revolution werden viele Dinge, die man früher im Hause herstellte, jetzt in der Fabrik gemacht, und es klingt heute nicht mehr allzu überzeugend, wenn man behauptet, die Frau gehöre in das Haus. Auch wirtschaftliche Veränderungen haben also etwäs mit dem Wandel in der Standesethik zu tun. Die wirtschaftliche Erklärung, für sich selbst genommen, ist aber viel zu einfach. Der Wandel in der menschlichen Gesellschaft und der Ethik ist äußerst fein und durch allerlei miteinander eng verflochtene Einflüsse bedingt. Aber die Tatsache, - daß dieser Wandel vorhanden ist und daß er mit andern nichtethischen sozialen Veränderungen zusammenhängt, steht außer Zweifel. Es lohnt sich, ein Buch wie Lecky's ,,History of European Morals" oder Hobhouse' ,,Morals in Evolution" zu lesen, um ein wenig Verständnis dafür zu bekommen, wie die ethischen Grundsätze sich gewandelt haben, und wie diese Wandlungen zum Teil auf andere nichtethirche Veränderungen in der Beschaffenheit der Gesellschaft reagierten, d. h. wie sie mit ihnen verbunden waren. Man kann aber auch die Relativität der Standesethik leicht übertreiben. W e n n wir einen verständigen Bericht über das Leben in Gesellschaften, die von unserer eigenen sehr verschieden sind, sorgfältig lesen, so können wir Gut und Böse erkennen, so merkwürdig auch die Handlungen sein mögen, durch die Gut und Böse ausgedrückt werden. In meiner Kindheit pflegten wir Sonntags ein Spiel „Mann oder Frau?" zu spielen. Einer aus der Familie dachte an eine Person aus der Bibel, und die übrigen versuchten, diese Person zu erraten, indem sie Fragen stellten, die mit einem einfachen ,,Ja" oder „Nein" beantwortet wurden oder die Wahl zwischen zwei 28

Möglichkeiten ließen. Wir nannten es „Mann oder Frau?", weil das immer unsere erste Frage war. Die zweite war „Altes oder Neues Testament?" und die dritte war immer „gut oder schlecht?" Wir waren überzeugt, daß wir beim Lesen des Alten Testaments den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Menschen bezeichnen könnten. Diese Ueberzeugung war im ganzen gerechtfertigt, wenn wir auch sahen, wie groß der Unterschied war zwischen dem, was gute Männer des Alten Testaments taten, und dem, was sie heute tun würden. Als Kinder fühlten wir instinktiv, daß Jakobs gleichzeitige Heirat mit Leah und Rahel ohne Bedeutung für die Frage war, ob er gut oder schlecht sei, obwohl wir über jemanden, der in England Bigamie trieb, anders gedacht hätten. Aehnlich ist es, wenn wir jetzt in den isländischen Sagas von der Gesellschaft lesen, in der ein Mann wie der Stiefvater von Njals Sohn als ein Original angesehen wurde, weil ,,er kein Menschenmörder war". Und doch hindert uns das nicht, zwischen guten und schlechten, wie zwischen mitleidigen und grausamen Menschen in den Sagas zu unterscheiden. Gunnar und Njal in der NjalSaga waren, wie die meisten ihrer Sippe, immer zum Kampfe bereit, wenn von einem Mann Kampf erwartet wurde; sie betrachteten Seeräuberei und Piratentum offensichtlich als die Beschäftigung eines Gentleman, und sie waren nichtsdestoweniger prächtige, edle Männer. Wenn wir die Njal-Saga lesen, sehen wir das; wir hätten gerne ihre Bekannschaft gemacht. So sehen wir andererseits, um bei der gleichen Geschichte zu bleiben, daß Hallgerda ein schlechtes Weib war und daß die Sage in ihrer Beurteilung recht hat. Reisende, die unter Kannibalen gelebt haben, erzählen dasselbe: daß manche von ihnen „üble Burschen" sind, andere wieder ..sehr anständige Kerle", obwohl auch die letzteren, wenn sie auf unsere Gesellschaft losgelassen würden, ihr Verhalten beträchtlich ändern müßten, um als anständig zu gelten Denn ein Teil der Anständigkeit besteht in der Beachtung der allgemeinen Regeln der Gemeinschaft, nicht Dinge zu tun, „die man nicht tut". Aber der gewöhnliche Mensch — und das schließt die meisten von uns ein — macht sich keine Gedanken über die ethischen Voraussetzungen seiner Gesellschaft. Er erkennt sie an und hält sie für selbstverständlich, fast als ob sie Spielregeln wären und sonst nichts; aber etwas mehr als die Regeln unseres besonderen Spiels sind sie tatsächlich. Es ist nichts Ungewöhn29

liches, von einem Mann oder Jungen zu sagen, er hätte „die Spielregeln gelernt, d. h. er hätte gelernt, anständig zu sein. Dieses Lob jedoch mit der Frage beantworten: „Welches Spiel? Rugby oder Fußball?" hieße, das Lob mißzuverstehen. Das Lob besagt, daß der Betreffende — was auch immer die Regeln irgendeines Spiels sein mögen — sie niemals benutzt, um in niedriger Absicht Vorteile aus ihnen zu ziehen; er zeigt bei ihrer A n w e n d u n g immer eine gewisse geistige Großzügigkeit. So können wir, obwohl die Regeln der Rechtsprechung sich wandeln mögen und es ja auch tatsächlich tun, einen gerechten Richter loben, selbst wenn wir die Regeln, nach denen ex urteilt, barbarisch finden. Die Tugenden —• wenigstens einige von ihnen — scheinen seltsam unabhängig von den W a n d l u n g e n der Taten, die tugendhafte Leute für richtig halten. W e n n ethische Grundsätze sich bewähren sollen, müssen die Menschen bis zu einem gewissen Grade selbstlos, anständig, wahrheitsliebend und mutig sein. In den verschiedenen Gesellschaftsschichten weichen die Menschen sehr voneinander in Bezug auf die Kreise und Personen ab, denen gegenüber ihr ethisches Urteilsvermögen anspricht und in Kraft tritt. Sie sind vielleicht in den Fällen ehrlich und aufrichtig, in denen ein Gentleman anerkanntermaßen aufrichtig ist, und lügen wie gedruckt beim Pferdetausch, weil es ein stillschweigendes Abkommen ist, daß bei diesem Spiel keine Seite vorgibt, die Wahrheit zu sagen. Sie mögen der Ueberzeugung sein, daß einige Gruppen, Sklaven, Ausländer oder gewisse Klassen von Frauen ohne Belang sind, handeln aber denen gegenüber, die sie für ihresgleichen halten, mit Höflichkeit und Nachsicht. Aber trotz aller dieser willkürlichen Regeln wird ein anständiger Mensch sich in einer W e i s e verhalten, die — da sie den gleichen Geist zeigt — in den verschiedenartigsten Gesellschaften mit den verschiedenartigsten ethischen Grundsätzen anzuerkennen ist. Der Unterschied zwischen den verschiedenen ethischen Grundsätzen kann natürlich nicht so leicht von Tugend und Schlechtigkeit abgeleitet werden wie die Unterschiede der Regeln verschiedener Spiele von gutem oder schlechtem Sportsgeist. Die verschiedenen ethischen Grundsätze sind nicht einfach verschieden, wie Moden oder Spiele verschieden sind. Einige sind hochentwickelt, andere sind entartet. Es gibt so etwas wie ethischen Fortschritt und ethischen Rückschritt. W e n n die Grundsätze entartet sind, können die Tugenden nur schwer unter ihnen gedeihen. 30

Es lohnt sich auch zu beachten, daß die Erfahrung uns lehrt, daß Menschen, die man irgendwie aus einer ethischen Umgebung verpflanzt — die Norm dieser Umgebung sei noch so unvollkommen —, darunter leiden und moralisch verfallen, wenn sie nicht von einer anderen ethischen Umgebung gestützt werden. Die Zeugnisse der Missionsstationen zeigen in reichem Maße, daß Männer und Frauen, die ihr Leben lang unter niedrigen, entarteten ethischen Grundsätzen gelebt haben, sich zu einem christlichen Leben großer Höhe erheben können, wenn sie in einer christlichen Gemeinschaft mit der Unterstützung und unter dem guten Einfluß einer christlichen Gesellschaft leben. W e n n andererseits primitive Menschen nur aus ihrer primitiven Gesellschaft und Tradition herausgenommen werden, ohne daß man ihnen bessere ethische Grundsätze gibt, so gehen sie vielfach zu Grunde. Wer seine natürlichen Grundsätze und seine gesellschaftliche Umgebung verloren hat und nichts anderes an ihre Stelle setzen kann, hat im allgemeinen wenig oder gar keine Ethik. Dies trifft für jeden von uns in gewissem Grade zu. Der einzige Unterschied besteht darin, daß in primitiven Gesellschaften das Gemeinschaftsgefühl stärker und der Individualismus und die individuelle Verantwortlichkeit geringer sind als in der zivilisierten Gesellschaft. Der Angehörige einer primitiven Gesellschaft ist daher weniger in der Lage, auf sich allein gestellt zu bleiben, wenn ihm die ethische Stützung seiner Gesellschaft fehlt. Er unterliegt schneller. Aber wir hängen alle von der Stützung durch unsere Gesellschaft ab und lernen von ihrer Disziplin. Die Gnade der Ethik, die über die Standesethik hinausgeht, ist die Blüte einer bescheideneren Blume. Alle, selbst Heilige, müssen in die Schule der gewöhnlichen, unvollkommenen, relativen Ethik gehen, bevor sie lernen können, sich darüber zu erheben. Das Gesetz, sagt Paulus, ist ein Schulmeister, der uns zu Christus führt. W i e Originalität und Schöpferkraft in der Musik nicht von denen kommen, die schmähen, sondern von denen, die in die Schule der Konventionen, die sie dann hinter sich lassen, gegangen sind, so ist es ebenso mit dem ethischen Verhalten. Keiner von uns k a n n ohne die Standesethik auskommen — so unvollkommen und relativ diese Ethik auch sein mag. So viel über die Unvollkommenheit und Relativität der Standesethik. Daß sie Wandlungen unterworfen ist, haben wir schon bei der Besprechung ihrer Relativität festgestellt. W e n n wir aber dif Ethik relativ nennen, meinen wir, daß sie mit nicht31

ethischen Faktoren verbunden ist, z. B. mit wirtschaftlichen Faktoren- und Situationen. Da dies so ist, können sich die ethischen Normen oder Grundsätze einer Gesellschaft ändern, wenn sich die nicht-ethischen Faktoren ändern. Es gibt aber auch Wandlungen, die echt ethische Wandlungen sind. W i r haben sie schon angedeutet, als wir von dem wechselnden ethischen Ton der Gesellschaft sprachen. Einige große Wandlungen kommen von ethischen Persönlichkeiten — den Propheten oder Heiligen. Es gibt Menschen, die ethischen W e r t e n gegenüber empfänglicher sind als ihre Mitmenschen. Sie zeigen uns Dinge, denen gegenüber wir blind waren; Uebel, die wir nicht als solche empfanden; Möglichkeiten eines guten Lebens, an die wir nie dachten. Ihr Schicksal ist gewöhnlich Ablehnung, manchmal Martyrium, denn sie fordern uns auf, die gesamte Norm unseres Verhaltens zu heben. Der Satz „Eure Väter erschlugen die Propheten und ihr setzt ihnen Denksteine" ist nach wie vor wahr. Wir müssen über diese Art ethischen Fortschritts noch mehr sagen, wenn wir zu der Ethik der Vollkommenheitsforderung kommen. Es ist aber auch wahr, daß sich Normen und Grundsätze — was ich die Spielregeln nannte — wandeln und bessern, wenn die Mitglieder der Gesellschaft das Spiel gut spielen; wenn sie den Vorbildern unter ihnen nacheifern, ohne sich viel den Kopf darüber zu zerbrechen, wie gut ihre Vorbilder sind. Wir alle kennen Leute, die wir in unserer überlegenen Art konventionell zu nennen geneigt sind, die durch ihre Pflichttreue und Rechtschaffenheit die ethische Umgebung, in der sie sich bewegen, verschönern. Sie bedeuten keine Offenbarung für die andern. Sie sind keine Propheten oder Heilige, aber durch den Geist, in dem sie die Verpflichtungen ihres Standes und ihrer Gesellschaft erfüllen, verändern sie diese Verpflichtungen irgendwie in sich selbst; sie heben die Norm dadurch, daß sie ihr aufs höchste treu sind. Das ist nicht schwer zu erklären. Das getreue Einhalten der Regeln, wenn nötig ,,bis zum eigenen Schaden", schließt immer eine gewisse Selbstlosigkeit ein, eine gewisse Rücksicht auf die Rechte der andern. Gerechtigkeit, selbst in dem elementaren Sinne der Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln, ist das große Schutzmittel der Gesellschaft. Es schließt ein allgemeines Element ein: andere so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden-möchte. Aber die tatsäch-' liehen Regeln, wie sie in jeder Gesellschaft herrschen, sind niemals vollkommen gerecht; sie sind oft unfair, einseitig und .32

parteiisch. Die Gerechtigkeit wird in festen Regeln nur unvollkommen zum Ausdruck gebracht. Menschen, die an die unvollkommenen Regeln in einem Geist der Gerechtigkeit herangehen, gleichen aber gewöhnlich die Ungerechtigkeiten der Regeln bis zu einem gewissen Grade aus. Plato, der behauptet, daß sogar unvollkommene Gesellschaften durch Gerechtigkeit zusammengehalten würden, ist dabei der Meinung, daß, genau genommen, Gerechtigkeit nur in dem idealen Staate existiere, in dem die Menschen eine wahre Auffassung von dem Zweck der Gesellschaft hätten. Die Gerechtigkeit, die eine schlechte Gesellschaft nur unvollkommen zusammenhält, ist selbst unvollkommen und unzulänglich — nur ein Abbild oder eine Analogie währer Gerechtigkeit. Er würde also meinen, wenn wir mit der Gerechtigkeitsidee in einer unvollkommenen Gesellschaft den Anfang machten und restlos entschlossen wären, diese unvollkommene Gerechtigkeit in die Wirklichkeit umzusetzen, müßten wir bei diesem Vorgang die Gesellschaft überhaupt umwandeln. W e n n wir nichts weiter tun als uns vorzunehmen, gerecht zu sein, werden wir notwendigerweise unsere bestehende, unvollkommene Auffassung von Gerechtigkeit verbessern. Die Wahrheit dieser Behauptungen kann in der interessantesten W e i s e an der Entwicklung des römischen Rechts gezeigt werden. Die Größe des römischen Rechtssystems ist im wesentlichen der Tatsache zu verdanken, daß es aus dem Versuch der Römer hervorging, Rechtsprinzipien auszuarbeiten, die auf Völker verschiedener Länder anzuwenden waren, die alle ihr eigenes besonderes Heimatrecht hatten. Es war daher so umfassend, wie es das übliche Gewohnheitsrecht einer besonderen Gemeinschaft nie ist. Die Römer nannten dies umfassende Recht Völkerrecht. Von den Stoikern übernahmen sie außerdem den Begriff eines allgemeinen Elementarrechts, das die Beziehungen von Mensch zu Mensch regelte und durch den Verstand, der jedem eingepflanzt ist, festgestellt werden kann; dies nannten sie Naturrecht. Völkerrecht und Naturrecht waren mit einigen Ausnahmen angeblich gleich. Eine solche Ausnahme war die Sklaverei. Denn die römischen Rechtsgelehrten erkannten an, daß die Sklaverei eine Einrichtung aller Völker war, obwohl rie nach den allgemeinen Grundsätzen des Menschenrechts nicht gerechtfertigt werden konnte. Dies ist eine ausgezeichnete Erläuterung zu der Frage, wie weit das allgemeine Prinzip der Anständigkeit gehen kann, wie 33

es in den „Spielregeln" zum Ausdruck kommt und in dem W e r k guter Juristen ausführlicher ausgearbeitet ist. Es geht ziemlich weit, aber es beseitigt im allgemeinen nicht solche eingewurzelten Ungerechtigkeiten Und Unvollkommenheiten wie die Sklaverei in der Alten Welt. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist voller Widersprüche, die so offensichtlich sind wie die der verschiedenen Landesgesetze, denen das Römische Recht übergeordnet war. Sie ist weitgehend im Zerfall begriffen und lebt nicht einmal nach ihren eigenen unvollkommenen Bekenntnissen. Es gibt viele Dinge dabei, die das gewöhnliche, nicht aufgeklärte Gewissen entsetzen. Nehmen wir z. B. die Tatsache der weitverbreiteten Arbeitslosigkeit. W a s soll mit der Standesethik und ihren Pflichten werden, wenn es Hunderttausende gibt, die keinen Stand und keine Funktion in der Gesellschaft haben und daher vermutlich auch keine Pflichten? Für den gewöhnlichen, anständigen Menschen gibt es in unserer Gesellschaft mehr als genug zu tun, wenn er das „Spiel nach den Regeln" gelernt hat, obwohl er sich nicht den Kopf über Ideale zerbricht und die üblichen Vorstellungen von recht und unrecht hat. Er wird der gründlichen Ueberprüfung der Spielregeln zweifellos nicht ins Auge sehen, die die Vollkommenheitsforderung verlangt, und wird sich über diese Forderung daher vielleicht ärgern. W e n n er aber sein möglichstes tut, das Spiel, wie er es versteht, anständig spielen zu lassen, trägt er in der Praxis viel zur Wandlung der Regeln bei. „Das Spiel nach den Regeln" ist eine gottlose Ethik, aber es ist eine Ethik. W e n n sie anständig befolgt wird, trifft sie irgendwie mit der Vollkommenheitsforderung zusammen und muß sich mit ihr auseinandersetzen. Da sie aber, soweit es geht, wirklichkeitsnah und anständig ist, ist sie besser als die pseudo-christliche Ethik derer, die das Spiel überhaupt nicht spielen wollen, weil sie kein Spiel mit vollkommenen Regeln vorfinden.

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Drittes

Kapitel

Die Vollkommenheitsforderung oder die Gnadenethik Die Standesethik erstreckt sich für die meisten von uns auf den größten Teil unseres Lehens. Wir tun das, was man von uns erwartet; wir kommen den Verpflichtungen nach, die wir und andere ohne viel Nachdenken anerkennen, wir verbringen unsere Zeit, indem wir unserer Beschäftigung nachgehen; viel von dem, was wir unsere Religion nennen, wird oft gedankenlos von uns als Teil der Standesethik übernommen. An uns alle tritt die Ethik aber auch — gelegentlich wenigstens — auf andere Weise heran: als ein Ruf oder eine Aufforderung, an einem nsuen Kreuzzug teilzunehmen, an einem einmaligen Unternehmen. Dies ist die eindrucksvollste und augenfälligste Form, in welcher diese andere Ethik sich präsentiert, obwohl sie sich vielleicht ein wenig bereits dann zeigt, wenn Menschen mehr tun als die von ihnen zu erwartenden Pflichten ihres Standes, Wordsworth nennt es den besten Teil im Leben eines Menschen, dir- namenlosen, leicht vergess'nen Taten der Güte und der Liebe. Diese herausfordernde, revolutionäre Ethik nehmen wir nicht als selbstverständlich hin: wir verlangen sie nicht von andern, obwohl wir uns freuen, wenn wir ihr begegnen. Sie scheint wenig oder gar nichts mit unserem Stande und seinen Pflichten zu tun zu haben. Die Ausdrücke „Verpflichtung" und „Pflicht" passen zu ihr genau so schlecht wie sie gut zu der Ethik „unseres Standes" passen. Manchmal scheint es, als ob in die geschlossene Welt unserer gewöhnlichen, anerkannten Pflichten ein Ruf von draußen dringe mit der Forderung, ganz etwas anderes zu tun, als wir normaler Weise tun sollten. Die Quäker haben einen Ausdruck dafür, sie sprechen von dem „having a concern", von ihrer „Aufgabe". Die Aufgabe ist nicht eine Forderung der Gesellschaft an sie; sie werden dadurch vielleicht sogar getrieben, etwas zu tun, was die Gesellschaft verachtet oder fürchtet. 35

Plato definierte Gerechtigkeit als Pflichterfüllung. Die Ethik der „Aufforderung" scheint uns zu veranlassen, Dinge zu tun, die im gewöhnlichen Sinne nicht unsere Pflicht sind; manchmal müssen wir unsere Pflicht sogar vernachlässigen, um uns um diese Dinge kümmern zu können. Es scheint keine festen Regeln oder klaren Grundsätze zu geben, wann wir solchen Aufforderungen Folge leisten sollen. W i r bringen diese Vollkommenheitsethik naturgemäß mit dem Christentum in Verbindung, und tatsächlich finden wir ihre größte Darlegung in der Bergpredigt und in Gleichnissen wie dem vom Barmherzigen Samariter. In anderer Form finden wir sie im Buddhismus, in einigen Bestandteilen des Hinduismus, in der jüdischen Religion der Propheten und bis zu einem gewissem Grade in der griechischen Philosophie. Die christliche Lehre bringt sie mit der Gnade, im Gegensatz zum Gesetz, in Verbindung. Diese Gnadenethik oder Vollkommenheitsethik scheint zu der Standesethik zumindest in folgenden Punkten im Widerspruch zu stehen: 1. Sie wird nicht von uns erwartet. W i r sind andern gegenüber nicht zu ihr verpflichtet. W i r verlangen nicht, daß die andern uns gegenüber Gnadenakte tun, ebensowenig wie wir annehmen, daß andere Gnadenakte von uns fordern. Dr. Bosanquet beschreibt die gewöhnliche Ethik als die „Welt der Forderungen und Gegenforderungen". Das Verhalten, das von der Vollkommenheitsethik verlangt wird, liegt außerhalb dieser Welt. W e n n wir von uns sagen können, — wie es vielleicht möglich ist —, daß wir die Pflicht haben, auf Forderungen, die wir vernehmen, zu reagieren, so haben die andern aber nicht ein entsprechendes R e c h t auf eine solche Reaktion durch uns. Man kann in theoretischen W e r k e n über die Ethik oft lesen, daß Rechte und Pflichten in Wechselbeziehungen stehen; wo Pflichten sind, gäbe es Rechte, und wo Rechte sind, wären auch Pflichten. Diese Wechselbeziehung besteht meiner Meinung nach bei der Standesethik, aber nicht bei der Gnadenethik. W i r sehen das am deutlichsten bei der Frage der Vergebung von Unrecht. Es ist keineswegs unsinnig, wenn wir sagen, es w ä r e unsere Pflicht, denen zu vergeben, die uns Unrecht taten. Aber zu behaupten, daß sie ein Recht auf Vergebung hätten, bedeutet bestimmt, die N a t u r der Vergebung vollkommen mißzuverstehen. Wir wissen sehr wohl, daß wir weder, Recht noch Anspruch auf Vergebung haben, wenn wir 36

andern Unrecht taten. W e n n jemand zu uns käme und sagte: „Ich habe dem und dem Unrecht getan, aber er ist ein Christ, und es ist daher seine Pflicht, mir zu vergeben", so würden wir antworten: „Das kannst du doch wohl nicht behaupten". Dasselbe gilt für alle Gnadenakte. Liegt es nicht gerade in der Natur der Liebe, daß wir keinerlei Anspruch auf sie haben? Das bezieht sich nicht nur auf die Taten heroischer Liebe von Heiligen. Der gewöhnliche Verkehr der Menschen untereinander wird durch allerlei nette kleine Dinge angenehm gestaltet, die man sich gegenseitig antut und bei denen die Vorstellung der wechselseitigen Rechte und Pflichten geradezu Unsinn ist. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einem Moralphilosophen, der allen Ernstes behauptete, daß alle Pflichten Rechte einschlössen und alle Rechte Pflichten, und daß jeder jederzeit nur eine rechte Sache tun könne; die w ä r e seine Pflicht, während der andere ein Anrecht darauf hätte, daß diese Pflicht erfüllt wurde. Einer von uns hatte gesehen, daß dem Philosophen in der Hitze des Gefechts die Pfeife ausgegangen war; er gab ihm schweigend eine Schachtel Streichhölzer. W i r andern, die wir den netten, kleinen „Gnadenakt" sahen, sagten: ,,Na, hattest du ein Recht darauf, daß er das tat? Natürlich nicht!" Für den Augenblick wenigstens war er geschlagen. 2. W i r haben gesehen, daß die Standesethik mindestens die vernünftige Gewißheit voraussetzt, daß andere ebenso handeln wie wir, daß wir darin alle gegenseitig verantwortlich sind. Daher rührt in der Tat die Wechselbeziehung zwischen Rechten und Pflichten, daher die Verbindung zwischen den Garantien der Standesethik und ihren Regeln. Die Gnaden- oder Vollkommenheitsethik hat mit solcher Gewißheit oder Gegenseitigkeit nichts zu tun. „Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?" Bei Lukas lautet die Version des gleichen Ausspruches: „Was Dank (/aoic) habt ihr davon?" Canon Crum sagt über das Auftauchen des Wortes „grace" an dieser Stelle, „ein neues W o r t für einen neuen Begriff". Es möchte scheinen, als ob die Vollkommenheitsethik, d a sie nicht gegenseitig ist, nicht in gleicher W e i s e relativ ist wie die andere Ethik. Den ganzen Unterschied finden wir zwischen den Aussprüchen: „Und wie ihr w o l l t , daß euch die Leute tun sollten, also tut ihnen gleich auch ihr", und „Wie ihr g l a u b t , daß euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr." Da ist nichts von G n a d e im zweiten. Die 37

christliche Lehre erhielt durch das Beispiel und die Lehre Jesu den Begriff des Gebens, des freien, grenzenlosen Gebens, das sie als die erlösende Gnade Gottes beschrieb. Paulus sagte den Ephesern: „Seid aber untereinander freundlich, herzlich, und vergebet einer dem andern (yäQiCönevoi), gleich wie Gott euch vergeben hat in Christo". Es ist das gleiche Wort, Gnade, und der Gedanke geht zurück auf Matthäus Vers 45: „Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen für Gerechte und Ungerechte". W e n n der Begriff der Gnade — freies Geben ohne Rücksicht darauf, was die andern als Erwiderung tun — im Evangelium niedergelegt ist, so findet sich etwas Aehnliches m andern Darstellungen der Vollkommenheitsethik. Es findet sich in Piatos „Staat", wo er die Lehre „es ist recht, den Feinden zu schadea ' zurückweist, und sogar auch bei dem eingebildeten Helden des Aristoteles, dem Manne mit der großen Seele, der gerne Gutes tut, sich aber schämt, wenn ihm Gutes angetan wird. Der vernehme Stolz des Mannes, der sagt, „Mich geht es nichts en, was andere Leute tun. Anständiges Betragen ist das, was i:h mir selbst schuldig bin", bleibt weit hinter der Schönheit der Gnade zurück, wie sie das Evangelium beschreibt, lehnt allerdings auch gleichzeitig den Geist von Hobbes' Stellungnahne ab: „Wer bescheiden und folgsam ist und alle seine Versprechen auch dann hält, wenn niemand anders es tut, wird seihst eine Beute der andern und bereitet sich seinen eigenen sicheren Untergang, ganz im Gegensatz zu allen Naturgesetzen, die die Erhaltung der Natur anstreben". 3. Bei der Standesethik ergeben sich die Pflichten aus dem Stande und sind daher mehr oder weniger genau bestimmt und festgesetzt. Die Vollkommenheitsethik setzt voraus, daß wir mehr tun, als die Pflicht von uns verlangt, aber sie gibt u i s keinen Anhalt, wie viel mehr; sie sagt nicht, „hier siehst da, was nach der einen Ethik recht ist; wenn du einen gewissen Prozentsatz hinzufügst, ergibt sich, was nach dem Maßstab dir Vollkommenheitsethik recht ist". Die eine Ethik gibt der andern keine Vorgabe. W e n n der J ü n g e r fragt: „Wie oft muß ich dein meinem Bruder vergeben? Ist's genug siebenmal?" und zur Artwort erhält: „Siebenzig mal siebenmal", so bedeutet diese Artwort nicht, daß er beim 491. Male nicht zu vergeben brauchte. Es bedeutet, daß es keine Grenze gibt. Sollte jemand e i n w e i den: „Ja, aber es bedeutet doch auch, daß es immer ein rici38

tiges Verhalten gibt — nämlich zu vergeben", so lautet die Antwort, daß „Vergeben" nicht eine einfache, gleichförmige Handlung ist; es bedeutet, Liebe für Feindschaft geben, und es gibt keinen Maßstab für die Art und Weise, wie man sich Leuten, die man liebt, gegenüber verhält. W e n n wir überlegen, w a s wir jemandem, den wir gern haben, für ein Geschenk machen könnten, denken wir auch nicht, daß es nur ein richtiges Geschenk gibt und sonst nichts. Manchmal denken wir an eine Menge netter Dinge, die wir ihm oder ihr gerne geben würden. W i e sehr die Mutter am Weihnachtsmorgen auch jedem Kind gegenüber, das heimlich ein Geschenk für sie vorbereitet hat, betonen mag: ,,Es ist genau, was ich mir gewünscht habe", so wissen wir, daß es tatsächlich nicht so ist. Das einzige, was sie sich gewünscht hat, hat sie allerdings bekommen, — die Liebe ihres Kindes, das so eifrig und schön sein Geschenk ausgedacht hat; das Geschenk selbst spielt keine oder kaum eine Rolle. Jeder Lage muß man zumindest gerecht werden; wenn diese Bedingung aber erfüllt ist, gibt es keine Regel für die „opera supererogationis". Es gibt in jeder Situation natürlich eine r i c h t i g e Handlungsweise, sie ist aber vielleicht bar jeder Gnade oder nimmt unendliche Formen der Schönheit an. Die Gnadenethik schließt schöpferische Initiative und Phantasie ein. Bei der Gnadenethik k ö n n e n viele Handlungsweisen zur Auswahl stehen, die alle „richtig" sind. Es wäre ebenso unsinnig zu behaupten, es gäbe nur eins, was ein wirklich guter Mensch tun würde, wie zu sagen, daß ein Dichter in einer bestimmten Situation nur ein Gedicht machen könnte. Es gibt neunundsechzig Arten, Stammeslieder zu verfassen, und sie alle sind ganz richtig. Gnade ist nicht etwas, das man messen oder berechnen kann. Es liegt in ihr eine gewisse Verschwendung. Das ist sicherlich auch die Moral der Geschichte des Weibes mit dem „Gläs voll köstlicher Salbe". Unser höchstes sittliches Verhalten sollte einen Anflug von Unbekümmertheit und Sorglosigkeit haben, nicht berechnend sein. Die Gnadenethik k a n n nicht in Gesetze • gefaßt werden, sie hat immer einen Hauch des Unendlichen an sich. Das bedeutet nicht, daß wir uns nicht Gedanken darüber machen sollten, was wir bei der Erfüllung der Forderungen dieser schöpferischen Ethik andern gegenüber tun könnten. Die Behauptung, daß es nicht nur ein richtiges Gedicht für eine Situation gibt, sagt nicht, daß der Dichter nicht darüber nach39

denkt, wie er ein Gedicht in die richtige Form bringt. Wenn wir überlegen, was für ein Geschenk wir jemandem machen sollen, liegt uns natürlich daran, daß es dem besonderen Zweck auch angepaßt ist. Wenn wir uns verschiedene Dinge ausdenken für Menschen, die wir lieben und die in Not sind, wählen wir natürlich das, was ihnen am meisten hilft — wir haben aber gewöhnlich nicht die Empfindung, daß es gerade nur e i n s gibt, das wir tun können, wie nur eine Lösung für eine Addition existiert. Der Gegensatz zwischen den beiden Ethiken in dieser Frage ist ungefähr so: bei der Standesethik schreibt uns der Stand unsere Pflicht vor, und wir sagen „Ja" oder „Nein", ,,ich will" oder „ich will nicht". Wir wählen zwischen Gehorsam oder Ungehorsam dem Gebot gegenüber. Bei der Gnaden- oder Vollkommenheitsethik ist die Lage anders: „Hier ist ein Durcheinander, ein schreiendes Unrecht, Not! Was kannst du dabei tun"? Wir werden nicht aufgefordert „Ja" oder „Nein", „ich will" oder „ich will nicht" zu sagen, sondern erfinderisch, schöpferisch zu sein, etwas Neues zu entdecken. Der Unterschied zwischen gewöhnlichen Sterblichen und Heiligen besteht nicht darin, daß die Heiligen ihre alltäglichen Pflichten erfüllen, die der gewöhnliche Sterbliche vernachlässigt. Die Dinge, die die Heiligen tun, sind den gewöhnlichen Leuten im allgemeinen überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen; sie konnten nicht „Nein" oder „ich will nicht" zu solchen Handlungen sagen, da sie sie überhaupt nicht ins Auge gefaßt haben. Wenn wir an einen Hilferuf, auf den hin wir irgendetwas unternommen haben, zurückdenken, fällt uns manchmal etwas anderes ein, was wir hätten tun können, und wir sagen: „Ach, hätte ich doch daran gedacht". Aber wir fühlen uns normaler Weise nicht als ethische Sünder, weil wir nicht daran gedacht haben, wie wir es tun, wenn wir einer klaren Pflicht nicht nachgekommen sind. „Gnadenreiches" Verhalten ist so etwas wie das Werk eines Künstlers. Es erfordert Phantasie und freien Antrieb. Es hat nicht die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sondern muß etwas Neues schaffen. 4. Da die Standesethik die Erhaltung der Gesellschaft zum Ziele hat, ist es nicht immer leicht, sie von Klugheit und gesundem Egoismus zu unterscheiden. Die Gnaden- oder Vollkommenheitsethik ist anders, und zwar gerade weil sie außerhalb der Welt der Forderungen und Gegenforderungen liegt, außerhalb des Tuns, das sich nach dem richtet, was man von der Gegenseite erwartet. 40

5. Die Standesethik ist eine „geschlossene Ethik". Sie ist die Ethik einer bestimmten Gemeinschaft. Bei ihr handelt es sich um Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, ja, sie ergeben sich aus der Gemeinschaft. Für solch eine Ethik ist es charakteristisch, daß sie auf Leute außerhalb der Gemeinschaft keine Rücksicht nimmt oder sie gar als Feinde behandelt. Die Gnadenoder Vollkommenheitsethik kennt keine solchen Begrenzungen, sie hat mit dieser oder jener Gesellschaftsstruktur nichts zu tun. „Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? — Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat". Bei der Nachbarschaft handelt es sich nicht, wie das Wort es anzudeuten scheint, um die Stellung in einer Gemeinschaft, sondern um die Notwendigkeit der Hilfe auf der einen Seite und die Möglichkeit zu helfen auf der andern. Diese Ethik ist nicht „geschlossen", sondern „offen". Die Gemeinschaft, um die es sich bei ihr handelt, ist die Bruderschaft der Menschheit. 6. Die Gnaden- oder Vollkommenheitsethik befaßt sich weit mehr als die Standesethik mit dem Innenleben, viel mehr mit den Motiven für eine Handlung als mit ihrem äußeren Ablauf, mit dem, was ein Mensch ist, statt dem, was er tut. Das äußere Tun ist ihr wichtig als Ausdruck des Innenlebens. Dies ist natürlich an Stellen wie den Versen Matth. 5. 21 und 5. 27 der Bergpredigt besonders augenfällig, aber die gleiche Betonung des Innenlebens findet man in der griechischen Philosophie und in dem ethischen Wert, der z. B. im Buddhismus und Hinduismus der Kontemplation beigemessen wird. 7. Wie die Standesethik dazu neigt, das Individuum als Diener der Gesellschaft zu betrachten, so neigt die andere Ethik dazu, die Gesellschaft als Grundlage für die Vervollkommnung der Seelen der Individuen anzusehen. Ihre Allgemeingültigkeit und ihie Gleichheitslehre rühren von dem unendlichen Wert her, den sie der menschlichen Persönlichkeit beimißt. Sie neigt dazu, die Welt, nach Keats' Worten, als ein „Tal der Seelenbildung" zu betrachten. 8. Wenn diese Ethik von der andern auch das Gefühl des Zwanges übernehmen kann, so ist ihr erster Appell doch nicht an Pflicht und Zwang, sondern an Liebe und Bewunderung gerichtet. 9. Die Gnader.- oder Vollkommenheitsethik ist im allgemeinen, wenn auch nicht ausnahmslos, mit der Religion verbunden. Ihre Forderungen werden nicht als unsere Forderungen oder 41

die Forderungen der Gesellschaft betrachtet, sondern als Aufforderung Gottes. Wenn dies auch normaler W e i s e der Fall ist, so ist es nicht richtig zu behaupten, wie es Walter Lippman in seiner „Preface to Morals" zu machen scheint, daß die Anerkennung der Forderungen dieser Ethik von der vorhergegangenen Anerkennung theologischer Glaubenssätze abhängt. Die theologischen Glaubenssätze sind ebenso oft das Ergebnis der Anerkennung der ethischen Forderung wie die Anerkennung der ethischen Forderung das Ergebnis der religiösen Glaubenssätze ist. „So jemand will des Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei". Es ist möglich und tatsächlich auch notwendig, das ethische Problem, das in der Beziehung der beiden Ethiken zueinander liegt, zu diskutieren, ohne die Beziehung zwischen Ethik und Religion zu behandeln. Es gibt tatsächlich, wie Bergson ausgeführt hat, eine Form der Religion, die der geschlossenen Standesethik entspricht, wie es eine Form der Religion gibt, die dem entspricht, was Bergson „offene Ethik" nennt — was wir als Gnaden- oder Vollkommenheitsethik bezeichnen. Diese allgemeinen Kennzeichen unterscheiden diese Ethik von der Standesethik. W i r werden das Problem der Beziehung der beiden Ethiken aber wahrscheinlich besser verstehen, wenn wir die Forderungen dieser zweiten Ethik betrachten, wie sie ihren höchsten Ausdruck in der Bergpredikt gefunden haben. Die Forderungen der Bergpredigt sind meiner Meinung nach am nachdrücklichsten in den Versen 43 bis 48 des fünften Kapitels des Matthäus-Evangeliums zum Ausdruck gebracht. Es ist vielleicht angezeigt, sie hierher zu setzen: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist". 42

Einige dieser Forderungen sind ganz eindeutig klar. Wir sollen unser Verholten andern gegenüber nicht durch ihr Benehmen bestimmen lassen. Das Gebot „Liebet eure Feinde und tut wohl denen, die euch hassen" drückt dies auf die denkbar augenfälligste Weise aus. Die Wechselseitigkeit, die gerade für die Standesethik und ihre Pflichten charakteristisch ist, könnte nicht stärker zurückgewiesen werden. Unsere Pflicht, den Nächsten zu lieben, ist auf alle Menschen als Kinder Gottes ausgedehnt worden. Wenn w i r \ i u n aber fragen „Wie können wir denn alle Menschen lieben?", so erhalten wir die Antwort darauf in dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Wir sollen an die Not der Menschen denken und daran, wie weit es in unserer Macht steht, ihnen zu helfen. Wir sollen, ohne zu murren, helfen, wenn wir können, ganz gleich wie die, denen unsere Hilfe gilt, sich uns gegenüber benommen haben oder benehmen. Was heißt das aber, daß wir vollkommen sein sollen und daß das Vorbild unserer Vollkommenheit Gott ist, unser Vater im Himmel? Ist das nicht eine unmögliche Forderung und er ein unerreichbares Vorbild? Es gibt Leute, die glauben, daß Jesus' Gebot, wir sollten so vollkommen sein wie Gott, bedeute, daß wir schon hier auf Erden, wenn wir nur wollten, diese Vollkommenheit erlangen könnten. Wir müssen annehmen, daß Jesus nichts Unmögliches verlangt. Wenn das, was er verlangt, uns unmöglich erscheint, so darum, weil wir uns nur auf unsere eigene Kraft und unsere eigene moralische Einsicht verlassen. Wenn wir uns aber der Führung und Leitung Gottes anvertrauen, werden unsere Handlungen, nach ihrer Meinung, gleich jetzt notwendiger Weise vollkommen werden. Von Natur aus neigen wir zu einem Kompromiß, wir erfüllen den Willen Gottes bis zu einem gewissen Punkt, machen aber Vorbehalte und stellen Bedingungen. Zur Vollkommenheit benötigen wir die völlige Hingabe an den Willen Gottes. Wir können sie erreichen, wenn wir uns dafür entscheiden. Es liegt bei uns, es zu wollen. Wenn wir es tun, werden wir vollkommen sein. Dies setzt voraus, daß wir entweder in der Bergpredigt ein vollkommenes und absolutes Sittengesetz besitzen oder daß wir durch unsere Hingabe an Gott eine unfehlbare Führung zum vollkommenen Verhalten haben. Keine dieser Stellungnahmen läßt sich halten. Die Bergpredigt z. B. befiehlt uns, unsere Feinde zu lieben. Das ist eine verständliche Forderung. Aber sie bringt nicht zum Ausdruck, 43

welche Handlungen unsern Feinden gegenüber durch die Liebe diktiert würden. Wir alle sind so weit davon entfernt, tatsächlich unsere Feinde zu lieben, daß wir uns selten ernstlich fragen, wie wir ihnen gegenüber handeln sollten, wenn wir es wirklich täten. Es ist besser, einen einfacheren Fall zu nehmen. Wissen wir, wie wir Menschen gegenüber, die wir von Natur aus lieben, zu handeln haben? Jeder wird zugeben, daß die bloße Tatsache, daß eine Mutter ihre Kinder liebt, sie nicht automatisch lehrt, wie sie sie behandeln muß; zu einer weisen Behandlung braucht sie Verstand und Ueberlegung und all den Geist und die Phantasie, die ihr zur Verfügung stehen; und doch fühlt Sie, daß irgendetwas fehlt. Klug handeln gegenüber denen, die wir lieben, verlangt vielleicht mehr Verstand und Wissen, als wir besitzen. Es ist wahr, daß unsere Liebe uns hilft, jemanden zu verstehen, daß sie unsere Phantasie beflügelt und uns dadurch die Richtung weist, wie wir ihn klug behandeln können. Aber sie k a n n nicht mehr tun, als uns die Richtung anzugeben. Die Erfahrung lehrt uns, daß wir tatsächlich in unserem Verhalten andern gegenüber, klüger werden, wenn wir lieben, daß wir dabei zunehmen können an sittlichem Feingefühl und Verständnis; aber wir müssen voller Demut beginnen, denn wir wissen, daß wir in die Schule gehen und Lektionen über Gnadenethik lernen müssen. Kennen wir alle nicht Männer und Frauen von hervorragender sittlicher Einsicht, feinem sittlichem Takt, Menschen, auf deren Urteil in schwierigen sittlichen Fragen wir uns verlassen können? Kann irgendjemand leugnen daß solche Menschen an Weisheit und Gnade zunehmen? Zweifellos enthält die Bergpredigt in anderen Versen — insbesondere im 21. bis 42. Verse des fünften Kapitels Matthäi — genauere Verhaltungsmaßregeln. Und doch werden wir sehen, daß wir in schwere sittliche Konflikte geraten, wenn wir die Anweisungen, die an dieser Stelle als stets zu befolgende Gebote gegeben sind, als verbindlich annehmen; wir werden finden, daß wir Dinge tun, die nach unserer Meinung nicht von der Liebe zu unserem Nächsten oder zu unserem Feinde diktiert sind. Zeitweilig kommt es so, daß die W o r t e gelten: W e r seine Feinde liebt, verrät seine Freunde: So hat es Jesus bestimmt nicht gewollt. Außerdem betreffen diese bestimmten Gebote nur einen sehr kleinen Teil unseres Lebens und geben uns keine Anweisungen für den Rest. 44

Welche Gründe hindern uns übrigens, im Reich der Gnade unseren Verstand genau so zu benutzen wie im Reich der Gesetze? Wir sind es unseren Nächsten schuldig, daß wir ihnen genau so wie unsere besten Absichten auch unsere tiefsten Gedanken und schöpferischen Ueberlegungen widmen. Die Lehre, daß wir eine unfehlbare Richtschnur für unser Tun haben, wenn wir unsern Willen Gott unterwerfen, und dah e r sufort vollkommen darin werden, ist mit Gründen schwer zu widerlegen. Ich kann nur feststellen, daß Menschen, die nach diesem Grundsatz zu handeln behaupten, nach meinen Erfahrungen in Bezug auf ihre Ethik keineswegs auffallend einsichtig oder feinfühlig sind. Sie scheinen mir eher große Energie und Kraft für Dinge aufzubringen, die sie ohne Ueberlegung immer schon als recht empfanden. Da sie für ihr Verhalten die Notwendigkeit von geschulter Ueberlegung und Selbstkritik ausdrücklich ablehnen, ist ihr ethisches Gewissen im ganzen abgestumpfter und gefühlloser als das derer, die sich nicht unterworfen haben. Das Leben der Heiligen bezeugt, daß die Menschen, wenn sie alle einschränkenden Bedingungen aufgeben und voll und ganz bereit sind zu tun, was ihnen als recht offenbart wurde, erst sittliche Einsicht lernen und daran zunehmen müssen. Die Zunahme geht allmählich vor sich, die Einsicht schreitet fort. Wir tun getreulich unser Bestes, sehen aber doch dahinter immer etwas noch Besseres. Wir werden feinfühlig einem Verhalten gegenüber, das uns vorher nicht berührte. W e n n dem so ist, wie kann dann — wie es in dem Bibelvers geschieht — von uns verlangt werden, daß wir vollkommen seien wie Gott? W i r können zumindest verstehen, was es im negativen Sinne bedeutet. Der Maßstab, der uns gezeigt wurde, ist unendlich, wir können ihn weder erfassen noch erreichen, aber seine W i r k u n g ist positiv; er läßt uns vorwärtsstreben über jeden Zustand hinaus, den wir schon erreicht haben mögen, macht uns bereit, immer mehr zu lernen, bewahrt uns davor, uns endgültig niederzulassen. Das ist jedenfalls die Haltung, die wir auf der Suche nach der W a h r h e i t einnehmen. Es ist eine alte Geschichte, daß es beim Erwerb von Kenntnissen verhängnisvoll ist, zu sagen: „Jetzt ist das letzte Wort gesprochen. Hierbei k a n n ich nichts mehr lernen", usw. Die fruchtbare Haltung beim Erwerb von Kenntnissen ist die, die annimmt, daß das Wissen, welches uns erwartet, unendlich ist, daß immer wieder Neues gefunden 45

wird, daß wir unsere heutigen Ergebnisse immer wieder im Lichte der zukünftigen Entdeckungen und der besseren Einsichten korrigieren müssen, daß wir immer nur wissen, daß wir nichts wissen. Die vollkommene Haltung des Wissenschaftlers umschließt Demut und Glauben; er erkennt, wie wenig wir noch wissen, und besitzt den Glauben, daß wir immer mehr wissen werden, wenn wir fortfahren, wie wir begannen. Demut und Glauben sind ebenso wesentlich bei der Gnadenethik. Es wäre der letzte W e g zur Vollkommenheit, wenn man annehmen wollte, daß sie automatisch und auf Anhieb errungen werden könnte. Wir können unsere Schritte in ihre Richtung lenken. Das ist die einzige Art, wie wir das Gebot, ein unendliches Ziel zu erreichen, erfüllen können. Wenn unser Maßstab die Vollkommenheit Gottes sein soll, so ist er unendlich; durch sein beständiges, erfolgreiches Wirken in uns erkennen wir, daß wir niemals auf dem Erreichten ausruhen können, daß wir mehr Einsicht und sittliche Erleuchtung brauchen. Dies ist unweigerlich das Ergebnis, wenn wir ernsthaft an die Unendlichkeit Gottes und den unerschöpflichen Charakter der Unendlichkeit denken, wie wir es tun müssen. „Wir können Gott ahnen, aber nicht erfassen , wie v. Hügel so oft eindringlich betonte. W e n n Unendlichkeit unser Maß sein soll, so ist es ein Maß besonderer Art. Der Maßstab des Reiches Gottes ist Vollkommenheit, aber Jesus sagte, wir sollten die Menschen zwingen, in dieses Reich zu kommen, sollten darauf bestehen, es mit ihnen zu teilen, während wir sonst oft sittliche Maßstäbe als Mittel des Ausschlusses benutzen. So bei der Standesethik und ihren Pflichten. „ W e n n du dich nicht wie ein Gentleman benehmen kannst, kannst du nicht dem Klub angehören' . „Wenn du dich nicht nach gewissen festgelegten Vorschriften richtest, kannst du nicht die Vorrechte eines Bürgers genießen". Solch ein Maßstab verlangt nichts weiter als ein Mindestmaß. „Wenn du nicht zumindest deinen Glauben in den Glaubensartikeln bekennst, kannst du nicht ein Glied dieser Kirche sein". Aber diese Art Maßstäbe sind nicht Maßstäbe der Vollkommenheit. W e n n Gott das Maß der Vollkommenheit sein soll, dann kann es kein bestimmtes, festes, ein für allemal gültiges Muster geben. Es gibt keine obere Grenze der Vollkommenheit. W e n n der reiche Jüngling auf J e s u s gehört hätte, als er sagte: „Ems fehlt Dir noch", und hätte alles verkauft, was er besaß, und es den Armen gegeben, so w ä r e er deshalb doch nicht zu dem Schluß gekommen, daß nun nichts mehr zu tun 46

übrig geblieben wäre. Ebensowenig w ü r d e er aber deshalb zu Jesus zurückgekehrt sein, um ihm zu sagen: „Du hast mich getäuscht, als du sagtest, es fehlte nur noch eins. Ich tat dies eine und merke nun, daß noch tausenderlei zu tun ist". Eine neue Welt wäre ihm aufgegangen, in der seine ursprüngliche Frage gar nicht mehr gestellt wurde und derartige Antworten nicht mehr gegeben zu werden brauchten. Ein ganz neuer Maßstab wäre ihm bewußt geworden. W e r Jesus' Lehre von der Vollkommenheit anerkennt, kann sich nicht hinsetzen und sagen: „Ich bin jetzt gut, ich habe die Vollk'ommenheit erreicht". Dadurch entsteht sofort ein großer Unterschied zwischen dieser Lehre und der vieler anderer Moralsysteme. Es sind oft Versuche unternommen worden, das Verhalten des untadeligen Menschen vorzuschreiben: wenn du wirklich gut sein willst, mußt du dieses oder jenes tun, diese oder jene Verpflichtungen erfüllen. Wenn du genau auf die eine oder andere Art handelst, bist du gut. Derartige Ideale werden als schwierig, aber doch erreichbar hingestellt. W e n n unser Verhalten sich aber nach dem Maßstab der Vollkommenheit Gottes richten soll, so ist das etwas, was wir niemals erreichen können. „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott", sagte Jesus zu dem Jungling, der zumindest sechs Gebote von Jugend auf gehalten hatte. Christlich leben bedeutet nicht, eine vorgeschriebene Reihe hoher Pflichten zu erfüllen. Es verlangt eine bestimmte Einstellung, eine Bereitschaft zum steten Suchen, immer etwas mehr zu tun und etwas mehr zu erkennen. Die ideale christliche Lebensform kann nicht beschrieben werden, denn ein Christ ist ein Mensch, der sich stets bemüht, etwas besser zu sein als er ist. In gewissem Sinne ist kein Mensch ein Christ, — in dem paradoxen Sinne nämlich, daß ein Mensch nur dann ein Christ ist, wenn er zugibt, daß er kein vollkommener Christ ist. Aus diesem und aus andern Gründen kann es keine vollkommenen christlichen Gesetze oder Verhaltungsmaßregeln und keine vollkommen christliche Gesellschaft geben. Diese Erklärung der Bedeutung der Vollkommenheitsforderung steht in grundlegendem Gegensatz zu der andern, die wir verwarfen. Es lohnt sich deshalb, eine Stelle aus dem Philipperbrief anzusehen, in der Paulus das W o r t „vollkommen" so ge47

braucht, daß es die Interpretation, um die ich mich bemühe, bestätigt. Die Stelle steht Philipper III, 12—16: „Nicht, daß ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's auch ergreifen möchte, nach dem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich's ergriffen habe. Eines aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgestreckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu. Wieviel nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnet sein; und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott offenbaren; doch soferne, daß wir nach derselben Regel, darein wir gekommen sind, wandeln, und gleich gesinnet seien". Wir, die wir „vollkommen sind", sollen erkennen, daß wir .„nicht schon vollkommen seien", daß wir noch nicht alles verstanden haben, was zu verstehen ist, oder „ergriffen", was zu ergreifen ist. Wir sind in gewissem Sinne vollkommen, weil wir das einsehen und einen Maßstab haben, den wir zu erreichen suchen. W i r sind niemals „schon vollkommen", weil dieser Maßstab immer jenseits unserer Möglichkeiten ist. Inzwischen „wandeln wir nach derselben Regel, darein wir gekommen sind". Wir sollen nach der Erleuchtung, die wir besitzen, handeln und auf weitere Erleuchtung hoffen, immer bereit, nach dieser weiteren Erleuchtung zu handeln, wenn sie da ist. W i e paradox der Begriff der christlichen Vollkommenheit ist, sieht man daran, daß der gleiche Mann, der schrieb: „Wieviel nun unser vollkommen sind", auch sagte: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" W e r in dem Sinne „vollkommen" ist, daß er die Vollkommenheitsforderung erkennt und sich bemüht, sie zu erfüllen, ist sich viel stärker seiner Unvollkommenheit bewußt. W e r die Forderung des 22. Verses anerkennt, weiß, das er sich dessen schuldig macht, was am Mord sündhaft ist; wer den 28. Vers anerkennt, weiß, daß er des Ehebruchs schuldig ist. Es ist nicht charakteristisch für den christlichen Heiligen, daß er sich seiner eigenen Vollkommenheit bewußt ist. Gerade weil er die Forderung der göttlichen Vollkommenheit als verpflichtend anerkannt hat, ist ihm seine eigene Unvollkommenh e i t zutiefst bewußt. 48

W e n n dies also der tiefere Sinn der Gnadenethik ist, in welc h e r Beziehung steht sie dann zur Standesethik und deren Pflichten? Der Unterschied zwischen ihnen wird m den genannten Versen deutlich. Die Zöllner oder Heiden spielen ihre Rolle in der Standesethik. Sie muß, wie wir gesehen haben, darauf achten, was die andern tun. Die Gnadenethik sagt, daß wir uns um das, was andere uns antun, nicht kümmern sollen. Bedeutet dies nun, wie es scheinen könnte, daß die beiden Ethiken im Gegensatz zueinander stehen und daß die Gnadenethik bei denen, die sie annehmen, unbedingt die Oberhand haben sollte, weil sie der Standesethik widerspricht? Im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums stehen Verse, die dies anzudeuten scheinen. W e n n die Gebote in den Versen 34 bis 42 wörtlich genommen werden, als allgemeingültige Gebote, denen stets Folge geleistet werden muß, machen sie die Standesethik unmöglich. Meiner Meinung nach sind das die einzigen Verse in den Evangelien, die das Problem in dieser krassen Form aufzeigen. Niemand kann sich vorstellen, daß die Gebote in Vers 44: „Liebet eure Femde, segnet, die euch fluchen" usw. l e i c h t zu befolgen wären, aber sie rufen keinen tatsächlichen Konflikt mit der Ethik der menschlichen Gesellschaft als solcher hervor Das Gebot, nicht dem Uebel zu widerstreben, tut dies allerdings. Die bürgerliche Gesellschaft, die der Standesethik folgt, ist organisierter Widerstand gegen das Uebel. Dies wird deutlich, wenn wir über den tieferen Sinn des 40. Verses nachdenken: ,,Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel". W e n n dies auf lebendige, augenfällige Weise ausdrückt, daß wir nicht immer auf unseren gesetzlichen Rechten bestehen sollen, daß wir bereit sein sollen, uns über die Welt der Forderungen und Gegenforderungen zu erheben und besser zu sein, als man vernünftiger Weise von uns verlangen kann, so stimmt das mit den allgemeinen Lehren der Bergpredigt überein. W e n n es aber bedeutet, daß Widerstand gegen unberechtigte Forderungen Unrecht ist und daß Uebeltaten belohnt werden sollten, dann ist das gesamte Rechtswesen offensichtlich falsch, und wir sollten nichts damit zu tun haben. Aber wenn die Mehrzahl von uns auch bereit wäre, nicht an den persönlichen Vorteil zu denken, so könnte sie doch der Meinung sein, daß es unsere verfluchte Pflicht und Schuldigkeit wäre, gesetzlicher Erpressung entgegenzutreten und einer Anklage zuzustimmen, damit 49

die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann. Der Grund hierfür ist klar, wie gesagt. Wenn wir unsern Nächsten lieben oder, in diesem Falle, unsern Feind, so müssen wir verlangen, daß es Gesetze gibt und daß sie befolgt werden, und bereit sein, das Unsrige zu tun, sie aufrecht zu erhalten. Ich weiß nicht, wie wir dieser Schlußfolgerung ausweichen können. Wenn uns befohlen wird, „nicht dem Uebel zu widerstreben", und wir somit mit der Aufrechterhaltung der Gesetze, die dem Uebel widerstreben, nichts zu tun haben sollen, so wird uns damit etwas auferlegt, was mit der Nächstenliebe unvereinbar ist. Dies ist das strittige Problem für die, welche die besagten Verse wörtlich nehmen, und die andern, die es nicht tun. Die letzteren sagen, daß die Verse bei ihrer wörtlichen Auslegung sogar mit dem Gebot „Liebet eure Feinde" unvereinbar sind. Es ist nicht ein Zeichen größter Liebe, immer ganz wörtlich nach dem Gebot „Gib dem, der dich bittet" zu handeln. Gefühlvoll sein heißt im allgemeinen durchaus nicht selbstlos sein, es bedeutet eine Weigerung, dem andern sowohl den Verstand eis auch das Herz zu geben. Wahre Liebe muß manchmal hart sein, wie jeder sehen kann, der die Evangelien mit offenen Augen liest. Die Gnadenethik kann also die Standesethik und ihre Pflichten nicht einfach abschaffen oder ersetzen. .Man hat manchmal gesagt, die beiden Ethiken gehörten zu verschiedenen Menschengruppen. Die Gnadenethik wäre nur für die wenigen; für alle, die ihre Forderungen angenommen hätten —• für das Salz der Erde. Daraus wäre der Schluß zu ziehen, daß diese wenigen eine besondere Gemeinschaft bildeten und in dieser Gemeinschaft — der Kirche — die Gnadenethik pflegten. Ein möglicher Zusammenstoß zwischen den beiden Ethiken wäre durch die Trennung der beiden Gemeinschaften — Welt und Kirche — vermieden. Den Gedanken der Kirche als besondere ethische Gemeinschaft werden wir später verfolgen, wenn wir Paulus' Lehre von der Sklaverei untersuchen. Es ist aber wichtig, sofort festzustellen, daß die Trennung niemals so vollständig sein kann, daß dadurch jede Konfliktmöglichkeit zwischen den beiden Ethiken beseitigt wäre. Für die Urchristen war es natürlich, in Formen einer fast vollständigen Trennung zwischen sich und der übrigen Gesellschaft zu denken. Sie waren eine unbedeutende Minderheit in einer Gesellschaft, deren Gesetze auf ihre Ansichten keine Rücksicht nahmen, eine Gesellschaft, über die sie keine Macht hat50

ten und für die sie keine V e r a n t w o r t u n g trugen. Es w a r nicht ihre Sache, die Gesetze, die die Gesellschaft v o r der Anarchie bewahrten, aufrechtzuerhalten. Dafür sorgte das Römische Reich und seine Heere. Die Christen ertrugen geduldig seine Forderungen und erfreuten sich seines Schutzes. Ihre Pflichten ihm gegenüber sind in einer berühmten Stelle im Römerbrief XIII, 1 — 7 festgelegt, w o es heißt: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit. Denn es ist keine Obrigkeit ohne v o n Gott. W o aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet". A l s aber die Minderheit zur Mehrheit wurde und Christen als Christen für die Gesetze verantwortlich waren, die die Gesellschaft regierten und sie vor ihrer A u f l ö s u n g in Anarchie bewahrten, brach die A b trennung der ethischen V e r a n t w o r t u n g zusammen. A u c h die Kirche entwickelte dadurch, daß sie eine große und festgefügte Gemeinschaft wurde, ihre eigene auf sie bezogene N o r m der Standesethik und ihrer Pflichten; als Folge davon wurde die Gnadenforderung als ebenso große Herausforderung an diese Norm erkannt, die mit Hilfe der Kirche allen ihren Gliedern auferlegt worden war, w i e sie es für das g e w e s e n war, „ w a s die Heiden tun". Es liegt, w i e wir gesehen haben, in der Vollkommenheitsforderung begründet, daß keine Gemeinschaft vollkommene Regeln und Gesetze haben kann. Die Unterscheidung von Gemeinschaften, die durch verschiedene Normen gebunden waren, nahm innerhalb des Christentums eine neue Form an in der Unterscheidung zwischen denen, die sich in klösterlichen Gemeinschaften oder religiösen Orden der „Religion widmeten", und den Christen, die ein weltliches Leben führten. Der W e r t von Gemeinschaften und Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die eingestandenermaßen eine höhere Norm für ihr Handeln finden wollen als die Gesellschaft als ganzes sie hat, ist zweifellos. A b e r wir können das Problem der Beziehung der beiden Ethiken nicht einfach auf solche W e i s e lösen. Die wenigen, die die volle Forderung der Gnadenethik annehmen, dürfen nicht beten, v o n dieser W e l t genommen zu werden. Sie müssen in ihr leben. W e n n sie das Salz der Erde genannt werden, so müssen sie daran denken, daß Salz seine A u f g a b e nicht erfüllt, wenn es im Salzfaß liegt, sondern wenn es dem zugesetzt wird, w a s es salzen soll. Es stimmt natürlich, daß es in der Gesellschaft Gemeinschaften gibt und auch geben sollte, in denen die Gnadenethik sich freier b e w e g e n kann als in anderen, genau so w i e es Samenschulen und Laboratorien neben Feldern und Apotheken gibt. Die W e l t der Forderungen

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und Gegenforderungen sollte in der Familie nicht in Erscheinung treten. Für Freunde, die gemeinsame Neigungen haben, ist es nicht schwer, eine Gemeinschaft oder Gruppe zu bilden, in der Vorschriften den kleinsten, Freiheit und Ungezwungenheit den größten Raum einnehmen. Es gibt Gesellschaftsschichten, die in der glücklichen Lage sind, weniger unter Regelzwang zu stehen als andere. Eine akademische Gemeinschaft ist beispielsweise oft in solch einer günstigen Lage. Es ist reine Heuchelei seitens solcher Gemeinschaften oder Gruppen, wenn sie sich ihrer höheren Maßstäbe Rühmen1 und nicht eingestehen, daß ihre Freiheit und ihr besonderes Leben nur durch den Schutz möglich sind, den die Gesellschaft ihnen angedeihen läßt und der durch ein hohes Maß verantwortlicher und lebendiger Mitarbeit vergolten werden müßte. Wenn sie ein Leben führen können, das wenig mit dem gewaltsamen „Widerstreben gegen das Uebel" zu tun zu haben scheint, so nur deshalb, weil andere die gewöhnliche Arbeit der Gesellschaft leisten und die gewöhnlichen Pflichten erfüllen und dadurch sie und andere vor Gewalt und Anarchie bewahren. Wir können den Notwendigkeiten des Lebens in der Gesellschaft oder unserer Verantwortung für die Organisation der Gesellschaft nicht entgehen. W e n n wir die alltägliche Arbeit zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Befriedigung ihrer wirtschaftl.chen Bedürfnisse und Aufrechterhaltung und Durchführung ihrer Gesetze als moralische „Schmutzarbeit" bezeichnen, haben wir kein Recht, andere u n s e r e moralische Schmutzarbeit für uns machen zu lassen; und es i s t die uns zukommende Schmutzarbeit, wenn unsere glückliche Lage durch solche Arbeit ermöglicht wird. Es ist schön und gut, daß in jeder Gesellschaft Männer und Frauen je nach ihrer Begabung verschiedene Funktionen ausüben, aber es ist völlig unchristlich zu denken, daß eine dieser Funktionen auf einer ethisch höheren Stufe steht als die andere. Sobald ich z. B. Gefängnisse als notwendig erachte, verkünde ich damit gewissermaßen automatisch, daß der Beruf eines Gefängniswärters eine ebenso christliche Beschäftigung sein kann wie der eines Bischofs oder Philosophen. W e n n wir der Gesellschaft und den anerkannten Grundsätzen der Standesethik und ihrer Pflichten nicht entgehen können, was sollen wir dann tun? Sollen wir entsprechend den Grundsätzen der Standesethik anerkennen, was wir nach dem Grundsatz der Vollkommenheit ablehnen zu müssen scheinen? 52

Viertes

Kapitel

Paulus Lehre v o n der Sklaverei und ihre Bedeutung Der Konflikt zwischen den beiden Ethiken, der Standesethik und der Gnadenethik, wird besonders deutlich spürbar in dem Konflikt, in den gewisse Einrichtungen der Gesellschaft mit der Gnadenethik geraten können. „Wie kann ein Christ", so sagen heute manche Leute, „sich mit irgendetwas abgeben, das mit Krieg zu tun hat?" Andere sagen: „Wie kann ein Christ irgendetwas mit Kapitalismus zu tun haben?" Die Einrichtung der Sklaverei in der Antike rief diesen Konflikt offensichtlich in scharfer Form in der christlichen Kirche hervor, und es lohnt sich, Paulus' Stellung dazu zu untersuchen. Die Zivilisation des römischen Reiches war auf der Sklaverei aufgebaut. Es besteht kein Zweifel, daß die Sklaverei ein bedauerlicher sozialer Uebelstand war. Im vierten Bande von Mommsens „Römischer Geschichte" gibt es eine berühmte Stelle darüber: „Ueberall, wo das Kapitalistenregiment im Sklavenstait sich vollständig entwickelt, hat es Gottes schöne Welt in gleicher Weise verwüstet. Wie die Ströme in verschiedenen Farben spiegeln, die Kloake aber überall sich gleich bleibt, so gleicht auch das Italien der ciceronischen Epoche wesentlich dem Hellas des Polybios und bestimmter noch dem Karthago der Zeit Hannibals, wo in ganz ähnlicher Weise das allmächtig regierende Kapital den Mittelstand zugrunde gerichtet, den Handel und die Gutswirtschaft zur höchsten Blüte gesteigert und schließlich eine gleißend übertünchte sittliche und politische Verwesung der Nation herbeigeführt hatte. Alles was in der heutigen Welt das Kapital an argen Sünden gegen Nation und Zivilisation begangen hat, bleibt so tief unter den Greueln der alten Kapitalistenstaaten, wie der freie Mann, sei er auch noch so arm, über dem Sklaven bleibt; und erst wenn Nordamerikas Drachensaat reift", (Mommsen schrieb vor 1860) „wird die Welt wieder ähnliche Früchte zu ernten haben". Und an einer früheren Stelle sagt er: „Das Meer von Jammer und 53

Elend, das in diesem elendesten aller Proletariate sich vor unsern Augen auftut, mag ergründen, wer den Blick in solche Tiefen wagt; es ist leicht möglich, daß damit verglichen die Summe aller Negerleiden ein Tropfen ist". Denken wir nun einmal an die heute ständig erhobenen Forderungen, daß die Kirche gegen die offenkundigen sozialen Uebel Stellung nehmen soll, und halten wir dann neben das Zitat aus Mommsens Werk Paulus' Worte: „Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herrn •— als Christo . . . als die Knechto Christi: daß ihr solchen Willen Gottes tut von Herzen". Oder im Brief an die Kolosser: „Ihr Knechte, seid gehorsam in allen Dingen euren leiblichen Herrn, nicht mit Dienst vor Augen, als den Menschen zu gefallen, sondern mit Einfältigkeit des Herzens und mit Gottesfurcht . . . denn ihr dienet dem Herrn Christo. Ihr Herren, was recht und billig ist, das beweist den Knechten, und wisset, daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt." Oder in Timotheus: „Die Knechte, so unter dem Joch sind, sollen ihre Herren aller Ehre wert halten, auf daß nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde; welche aber gläubige Herren haben, sollen dieselben nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern sollen vielmehr dienstbar sein, dieweil sie gläubig und geliebt und der Wohltat teilhaftig sind". Wir besitzen auch einen Brief — an Philemon — mit dem ein entlaufener Sklave seinem Herrn zurückgeschickt wird: „Daß du ihn ewig wiederhättest, nun nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht, einen lieben Bruder, sonderlich mir, wieviel mehr aber dir, beide nach dem Fleisch und in dem Herrn". In all den Episteln findet sich aber keine Anklage gegen die Einrichtung als solche: keine Forderung, daß, wer Christ wird, keine Sklaven mehr halten sollte. Gerade das Gegenteil scheint nach der Stelle aus dem Brief an Timotheus der Fall zu sein. Während Paulus es offenbar als frevelhaft ansieht, wenn sich Christen vor nichtchristlichen Richtern verklagen, scheint er die Sklaverei für völlig selbstverständlich zu halten. Ist das nicht verwirrend? Was sollen wir aus dieser offensichtlichen Gleichgültigkeit gegenüber solch einem gewaltigen Uebelstand machen? Wir können natürlich zunächst einmal feststellen, daß die Christen zur Zeit des Paulus nicht die Verantwortung und auch nicht die Macht hatten, gesetzliche Ein54

richtungen ihrer Gesellschaft zu ändern, wie wir heute beides besitzen. Als Bürger eines demokratischen Staates mit voller gesetzgeberischer Gewalt sind wir wenigstens in gewissem Umfange für die Einrichtungen unserer Gesellschaft verantwortlich. Ich sage „in gewissem Umfange", weil man in der Tat darüber streiten kann, wie weit wir durch Gesetze diese Einrichtungen ändern könnten, um sie idealer zu machen. Es ist ganz sicher, daß wir nicht allein durch Gesetze christliche Einrichtungen schaffen können, aber es ist auch ebenso sicher, daß wir unsere Einrichtungen in gewissem Umfange zu bessern vermögen, daß wir es tatsächlich ständig tun. Daher ist uns, im Gegensatz zu den Christen des ersten Jahrhunderts, die moralische Verantwortung dafür auferlegt, die Einrichtungen, unter denen wir leben, einer ständigen Kritik zu unterziehen. Wir müssen uns fragen, ob wir sie nicht durch gemeinschaftliche Aktionen oder unser persönliches Verhalten verbessern können. Als Christen sind wir gezwungen, uns gegen die „unaufhörliche Dreistigkeit erwählter Personen" aufzulehnen. Daß wir gewisse Einrichtungen heute anders betrachten und ihre moralische Berechtigung in anderer Weise in Frage stellen, ist nicht dadurch bedingt, daß wir fortschrittlicher als Paulus sind oder uns grundlegend von ihm unterscheiden. Es ist ein gewöhnliches Beispiel für die verschiedenartige moralische Verantwortung, die sich aus den verschiedenartigen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situationen ergibt. Keiner denkt oder sollte wenigstens denken, er hätte die gleiche moralische Verantwortung für die Einrichtungen eines andern Landes wie für die seines eigenen. Es gibt gewisse offenkundige Pflichten für einen demokratischen Bürger, die in den Zeiten ohne Demokratie nicht existierten. Daß dies auf jeden Fall wenigstens teilweise die scheinbare Gleichgültigkeit des Neuen Testaments gegen Uebelstände bei sozialen Einrichtungen erklärt, wird dadurch bewiesen, daß sich in der griechischen Morallehre, ebenso wie in den Büchern der Propheten, mehr Kritik an diesen Einrichtungen findet als im Neuen Testament. Das sollten wir nach den veränderten sozialen und politischen Verhältnissen auch erwarten. Die griechischen Lehrer — ob Demokraten oder nicht — bezogen sich stets auf einen Stadtstaat, d£r, je nachdem, wie seine Einwohner, eine verhältnismäßig kleine Zahl von Leuten, bewußt handelten, zu dem gemacht wurde, was er war. Verfassungen, sagt Plato, sind nur •die äußere Widerspiegelung der inneren Werte der Menschen. 55

Das ist für ihn aber kein Grund, es abzulehnen, gewisse Einrichtungen zu untersuchen und sich nur mit Geist und Gemüt des Individuums zu befassen. Ihm war es selbstverständlich, daß die politische Betätigung das moralische Urteilsvermögen stärkte. J e d e Sinnesänderung sollte sich, so meinte er, in veränderten Einrichtungen widerspiegeln. In gleicher Weise geht Aristoteles, nachdem er in seiner ,,Ethik" erläutert hat, was glückseliges Leben bedeutet, in seiner „Politik" dazu über, die Einrichtungen zu betrachten, die helfen sollen, dieses Leben möglich zu machen. Die griechischen Denker jener Zeit, in der die Stadtstaaten noch bestanden, erhoben fast nie Einspruch gegen etwaige Uebelstände. Sie nahmen sie als ganz natürlich und selbstverständlich hin. Aristoteles' Einstellung zur Sklaverei z. B. ist nicht sehr fortschrittlich. Er schlägt vor, sie zu reformieren, aber nicht, sie abzuschaffen. Er verteidigt das Prinzip und beanstandet Einzelheiten. Aber er hat, im Gegensatz zu Paulus, etwas gegen die Sklaverei als bestehende Einrichtung zu sagen. Die Erklärung dafür ist sicherlich darin zu finden, daß Aristoteles mit denen, die für die Einrichtung als solche verantwortlich wartn, diskutieren oder sie wenigstens beeinflussen wollte, während Paulus das nicht beabsichtigte. Denn das Wachsen des Römischen Reiches brachte es mit sich, daß die Regierung etwas Fernes und Unnahbares wurde; etwas, das der Moralreformer als Tatsache hinnehmen und mit dem er so gut es geht fertig werden muß. Die Wirkung dieses Wandels ist in der sehr verschiedenen Einstellung sowohl der Stoiker als auch des Neuen Testaments zu sozialer Reform zu beobachten. Paulus greift die Sklaverei als Einrichtung nicht an und verteidigt sie auch nicht; er nimmt sie als selbstverständlich hin und setzt voraus, daß sich aus ihrer Existenz sittliche Pflichten ergeben. Der zweite Punkt, auf den ich kommen möchte, ergibt sich aus dem ersten. Wenn wir auch vielleicht in der Lage sind, die Einrichtungen in viel größerem Umfange zu verändern als es den Urchristen möglich war, so' können wir doch nicht alles ändern. Ein gewisser Teil muß als selbstverständlich hingenommen werden, als etwas, das für unsere Zwecke und für unsere Zeit unumgänglich notwendig ist: ein Rahmen, innerhalb dessen wir arbeiten müssen. Die Grenze zwischen dem Veränderlichen und dem Unabänderlichen ist natürlich nur schwer festzulegen. Die Menschen sind ständig verschiedener Meinung 56

über das, was versucht werden sollte und was nicht. Wir können zu den verschiedensten Rollen bei derartigen Unternehmen berufen sein. Einige besonders tollkühne Versuche zu ändern, was sich einer Aenderung widersetzt, haben vielleicht dazu beigetragen, die Aenderungen möglich zu machen. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß es unsere Pflicht ist, zwischen dem, was vernünftigerweise versucht werden kann und was nicht, zu unterscheiden: zwischen dem, was die Möglichkeit einer Reform erkennen läßt, und dem, was so, wie es ist, anerkannt werden muß. Diese Unterscheidungen fallen, wie ich sagte, bei verschiedenen Leuten verschieden aus. Einige befassen sich damit, die Menschen auf soziale Wahrheiten vorzubereiten, die für Generationen nicht Wirklichkeit werden, andere mit dem Aufbau einer Bewegung, was noch lange nicht Einfluß auf die Gesetzgebung bedeutet, wieder andere mit der Gesetzgebung selbst. Dies sind aber alles nur verschiedene Versuche, die besagen, daß nicht alles auf einmal geändert wird, daß es zunächst einmal einen Fragenkomplex gibt, mit dem wir irgendwie fertig werden, den wir als Individuen irgendwie anpacken müssen, aber nur in seinen Auswirkungen, weil wir uns mit ihm selbst noch nicht befassen können. Es gibt eine Reihe von Leuten, die das erst lernen müssen. Wir sind nämlich heutzutage so an die Auffassung gewöhnt, daß soziale Einrichtungen geändert werden können, daß manche glauben, das einzige, was zu tun sei, wäre, an der Aenderung des ganzen Systems von Grund auf zu arbeiten. Das bringt sie dazu, so zu handeln, als ob sie überhaupt keine Pflichten hätten außer einer kommenden Revolution gegenüber, keinerlei unmittelbare persönliche Beziehungen zu der Kunst, mit ihren Mitmenschen in der bestehenden unvollkommenen Welt zu leben, auch kein Bedürfnis danach, sondern nur eine Beziehung — die notwendigerweise unpersönlich ist — zu imaginären Zukunftsmenschen unter imaginären Zukunfsbedingungen. Sie sind wirklich so wie die Urchristen im Thessalonicher Brief. Einzelne von ihnen waren so von der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi erfüllt, daß sie alle Pflichten des täglichen Lebens vernachlässigten. Die Generationen der Urchristen hatten wie manche modernen Kommunisten und Pazifisten eine apokalyptische Weltanschauung, so verschieden auch ihre Auffassung von der zu erwartenden Apokalypse sein mochte. Aber sie mußten auch eine „Interimsethik" entwickeln. 57

Wenn es also stimmt, daß unsere Verantwortung als Christen für die Reform der Gesellschaft davon abhängt, daß wir die Macht haben, die Gesellschaft zu ändern, und daß es gewisse Seiten dieser Gesellschaft gibt, die wir unverändert hinnehmen müssen, während wir andere mit etwas Mut, Hoffnungsfreudigkeit und Gemeinsinn stärker zu einem Ausdruck des christlichen Geistes formen können, dann folgt daraus, daß ein Teil unserer Christenpflicht darin besteht, diese Dinge weise zu erkennen; daß wir unsere ganze Geisteskraft daran setzen, das zu verändern, was mit dieser Geisteskraft geändert werden kann. Mit dem Rest werden wir Geduld haben müssen. Das bedeutet aber nicht, daß wir ihm gegenüber passiv sein sollen. Staatsführung ist sicherlich eine christliche Pflicht. „Das Reich Gottes", sagte (wenn ich mich recht erinnere) Gregor von Nazianz, „ist nicht unbedingt auf die geistig Armfen beschränkt", und unterscheidendes Erkennen wird von uns verlangt. Wenn Menschen sagen, alle unsere sozialen Einrichtungen seien so erbärmlich, daß es keinen Sinn habe, sich mit irgendeiner von ihnen zu befassen, so geben sie sich einer höchst unchristlichen Verzweiflung hin. Wir wollen aber nicht verkennen, daß wir bei allen Unterschieden zwischen unserer politischen Lage und der des Paulus in Bezug auf einige unserer unvollkommenen sozialen Einrichtungen immer noch in der gleichen Lage sind wie die Leute, an die er sich wandte. Wir müssen uns daher klar darüber sein, daß wir in der unmittelbaren Gegenwart der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß es „Elendserscheinungen" gibt, deren starke Wirkung er ertragen muß, da ohne Macht er ist, um sie zu lindern; und wächst er über sich dann nicht hinaus, welch ein armselig Wesen ist der Mensch. Wir müssen uns also jederzeit klar darüber sein, daß das Aufbegehren eines einzelnen gegen gewisse soziale Bedrükkungen und Uebelstände als eine „tour de force" für ihn persönlich vielleicht Erfolg hat, die Masse aber in dem Elend läßt, in dem sie sich befindet. Daher besteht für uns die Wahl unter Umständen darin, entweder uns loszureißen und die andern ihrem unveränderten Schicksal zu überlassen oder mit ihnen zu leiden. Wenn wir das letztere wählen, müssen wir mit unserer persönlichen Verantwortung feststellen, welches bei den vorläufig unveränderten Zuständen und Gewohnheiten für uns die richtige Art zu leben ist. 58

Was schlägt nun Paulus in bezug auf die Sklaverei vor? Denn wenn er die Einrichtung als solche auch nicht öffentlich angreift, so macht er doch im Zusammenhang damit Vorschläge. Er sagt zweierlei: 1. daß die Christen sich in ihrem Verhalten voll und ganz über die Voraussetzungen der Sklaverei erheben sollten, 2. daß sie unter sich eine Gesellschaft bilden sollten, die diese Voraussetzungen ablehnt — so daß innerhalb dieses Kreises die Revolution schon stattfindet und ein Leben in neuem Geiste gelebt wird. Das Wesen der Sklaverei besteht nun darin, daß sie auf Gewalt gegründet ist, darauf, daß Recht und Persönlichkeit des Sklaven geleugnet werden, daß der Sklave gehorcht, weil er muß, und der Herr die Sklaven als lebendige Werkzeuge benutzt, aus denen er so viel herausholt, wie er kann. Paulus sagt aber, daß sowohl die Sklaven als auch die Herren diese Voraussetzungen nicht beachten sollen. Die Sklaven sollen ihren Herren dienen, als ob sie Christus dienten, der sie erlöste. „Seid gehorsam euren leiblichen Herren — als Christo". Welch ein erstaunlicher Ausspruch! Die Herren sollen nicht mehr drohen, sollen die Anwendung der Gewalt aufgeben, sollen daran denken, daß vor Gott alle Menschen gleich sind — daß sie und ihre Sklaven ihm gegenüber auf einer Stufe stehen. Sie sollen den Sklaven geben, was recht und billig ist, d. h. sie sollen sie als Wesen behandeln, die Rechte haben; Philemon soll Onesimus zurückhalten „nun nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht •—• einen lieben Bruder, beide nach dem Fleisch und in dem Herrn". Solch eine Handlung untergräbt die gesamte Einrichtung; sie tut es, indem sie die Einrichtung als solche anerkennt, die Voraussetzungen und Ansichten über die menschlichen Beziehungen, auf denen sie aufgebaut ist, aber als unwahr erweist. Für uns ergibt sich daraus, daß die beste Art, Einrichtungen zu reformieren, darin besteht, ihre Verpflichtungen anzuerkennen und gleichzeitig besser zu handeln als sie es fordern und verlangen, in der Hoffnung, daß dadurch, daß die Art, wie die Menschen übereinander denken und gegenseitig handeln wollen, gehoben wird, das „besser Handeln" so allgemein ist, daß die Einrichtung auf ein neues, höheres Niveau kommt. Viele Leute verhalten sich gerade entgegengesetzt, manche bewußt, die Mehrzahl aber unbewußt. Einige verbinden ihr öffentliches Eintreten für ein neues System, mit den Vorteilen, 59

die ihnen nach dem Gesetz aus dem alten System zustehen. Sie verlangen, daß wir alle dazu gebracht werden sollen, ein gemeinschaftliches Leben zu führen, weigern sich aber gleichzeitig selbst, zur Verwirklichung dieses Ideals auch nur einen Schritt zu tun. Solche Leute sind meiner Meinung nach entweder Heuchler oder Narren. Leute, die zwar selbst nicht so h a n d e l n , sagen aber gelegentlich, es ist wirklich gut, daß die Arbeitgeber Tyrannen sind, daß die Arbeiter ausgebeutet werden usw.; denn je unverhullter Kapitalismus oder Krieg m Erscheinung treten, um so schneller wird ihr Ende herbeigeführt. Marx tröstete sich bei semer Prophezeiung des zunehmenden Elends der Arbeiterklasse, das er für unvermeidlich hielt, mit dem Gedanken, daß nur durch dieses zunehmende Elend einzig und allein die soziale Revolution herbeigeführt werden könnte. Es ist nicht möglich, auf diesen Seiten alle strittigen Punkte in Bezug auf die beiden Ideale zu behandeln, aber dies eine muß ich sagen: die neuen Ideale, die neuen Auffassungen unseles sozialen Lebens, die neuen Grundsätze für die Beziehungen der Menschen untereinander kommen meiner Meinung nach aus der christlichen und nicht der andern Art. Nur ein leidenschaftlicher frommer Glaube daran, daß alle Menschen Bruder und Kinder e i n e s Vaters sind, em Glaube, der allem Gegenteiligen zum Trotz aufrecht erhalten wird, konnte die Menschen befähigen, eine Einrichtung wie die Sklaverei, die so allgemein verbreitet und anerkannt war, zu verdammen. Einrichtungen gehen auf die Einstellung der Menschen zueinander zurück. Solange wir diese Einstellung nicht irgendwie ändern können, können wir auch die Einrichtungen nicht ändern — was wir auch gesetzgeberisch tun mögen. Wenn wir den menschlichen Geist genügend wandeln könnten, brauchten wir keine r e v o l u t i o n ä r e A e n d e r u n g der Einrichtungen. W a s aber gewöhnlich eintritt, ist dies: der allmähliche, stille Wandel der Einstellung der Menschen zueinander geht so weit, daß den meisten Menschen der Bruch zwischen der Einrichtung und der besseren menschlichen Einsicht offenbar und die gesetzgeberische Reform der Einrichtungen praktisch möglich wird. Die Güte ist im menschlichen Gemüt nicht wirksam, wenn sie nicht erkannt wird. Menschliche Ideale müssen in Handlungen in Erscheinung treten, bevor die Menschen von ihnen berührt werden. „Und ich, w e n n ich e r h ö h e t werde *'on der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen", und wenn wir ernstlich an 60

soziale Reformen denken, an die Aenderung der Grundsätze der Standesethik und ihrer Pflichten, müssen wir die Ideale, die wir in den Grundsätzen verkörpert sehen wollen, vorleben. Das bringt uns zu der zweiten Anregung des Apostels bezüglich der Sklaverei. Er wünschte eine Gesellschaft — und kümmerte sich tatsächlich sehr darum —, in der die Ideale Jesu verwirklicht wurden. Bei Christus gibt es weder Sklaven noch Freie. Bruderschaft im Herrn sollte nicht eine bloße Sehnsucht oder fromme Phrase sein. Sie sollte die wirkliche Beziehung der Menschen untereinander in der Kirche darstellen, und diese Beziehung in der Kirche, die die Christen herstellen konnten, wenn sie wollten, sollte lebendiger und wichtiger in ihrem Leben werden als die rechtlichen Beziehungen. Der Gründer der Independenten im 17. Jahrhundert schrieb eine Flugschrift unter dem Titel „Reformation without Tarrying for A n y " (Reformation ohne Verzögerung),- solch eine Reformation ohne Verzögerung können wir jeder Zeit zustande bringen. W i r können — wenigstens in weitem Umfange — erreichen, daß für einige von uns die rechtlichen und wirtschaftlichen Dinge keine Rolle spielen. Wir können zumindest dafür sorgen, daß sich vor aller Augen eine Gesellschaft bildet, die uns zeigt, wie Menschen als Nachfolger Christi zusammen leben können. Es ist eine traurige Wahrheit, daß die Uebelstände, die wir in den Einrichtungen bedauern, sich als zu tief in uns verwurzelt erweisen, als daß die neue Gesellschaft ihrer Ansteckung entgehen könnte; die Kirche wird unter Umständen eine Einrichtung, die ebenso entartet ist wie andere. Es ist sehr oft so, daß die freiwillige Gesellschaft für nicht im entferntesten so lebendig und wichtig im Leben gehalten wird wie die gesetzmäßige Einrichtung. Das kommt daher, weil wir nicht glauben, daß gerade unsere Bruderschaft in Christo die H a u p t b e d e u t u n g in unserm Leben besitzt. Wenn Kirchen tatsächlich von dieser Art Verfall ergriffen werden, dann wäre es besser, ein Ende mit ihnen zu machen. Sie sind wertlos, wenn sie nicht zeigen können, daß die Menschen wirklich des Glaubens sind, sie seien Bürger des Himmelreichs. Dieser Weg, widerspenstigen Einrichtungen in die Flanke zu fallen, ist uns immer offen. Wir können Gesellschaften bilden, in denen wir christliche Beziehungen in die Wirklichkeit umsetzen; wir können die Kunst lernen, zusammen zu leben, als ob wir alle Brüder wären. Tun wir das, dann sind unsere sozialen Reformen und unsere Politik auf Realitäten gegründet, wenn 61

nicht, dann sind sie nicht viel mehr als Schein. „Es gibt eine wahre Kirche", sagt Ruskin, ,,in der sich Menschenhände hilfreich ineinander legen, und das ist die einzige heilige oder Mutterkirche, die immer war und immer sein wird". Wenn wir alles zusammenfassen, so haben wir als Christen den Einrichtungen gegenüber eine vierfache Pflicht: a) Als verantwortliche Glieder eines demokratischen Staates sind wir verpflichtet, alles zu tun, was in unserer Macht steht, damit unsere Institutionen mit all der Gerechtigkeit handeln, deren sie fähig sind, damit unser Staat — ein Staat in einer Welt von Staaten — gerecht handelt, damit unsere Gesetze gerecht verfügt und unparteiisch angewandt werden. Das ist unsere Zeugenpflicht: zu fordern, daß Menschen, die uns gegenüber verantwortlich sind, gemäß dem von ihnen angegebenen Niveau ihrer Einrichtungen leben und daß die Einrichtungen wirklich so gut sind, wie sie vorgeben. b) Wir haben die Pflicht, alles zu tun, um die Institutionen zu bessern; z. B. eine Welt von rivalisierenden Nationen in eine Welt von Nationen zu verwandeln, die normaler Weise vermittels des Völkerbundes oder einer ähnlichen Einrichtung handeln, oder ein Fabrikgesetz durchzubringen, das besser ist als die schon bestehenden, usw. All dies schließt, wie wir schon sagten, die Pflicht ein zu unterscheiden, was praktisch möglich ist und was nicht. c) Wenn diese offensichtlich politischen Pflichten aber erfüllt sind, sollen wir nach der Forderung des Evangeliums das Salz der Erde sein, sollen besser handeln als es die Einrichtungen von uns verlangen, sollen in unsern Taten zeigen, daß die Voraussetzungen der Einrichtungen, unter denen wir leben und die wir vorläufig als selbstverständlich hinnehmen müssen, fehlerhaft sind. Gesetze und Einrichtungen, die für jeden einzelnen von uns gelten, müssen davon abhängen, wie sich die Mehrzahl der Leute verhält. Wird das Verhalten schlechter, sinkt auch das Niveau der Einrichtungen; wird es besser, kann das Niveau gehoben werden. Es ist unsere Sache, das Niveau zu heben, es geht nicht an, daß wir alles bis auf den letzten Groschen, der uns nach dem Gesetz zusteht, nehmen und unsererseits gerade nur so viel geben, wie es vorschreibt. d) So viel über unsere Pflicht als Individuum. Wir können aber auch inmitten einer Welt, von der wir so viel als selbstverständlich hinnehmen müssen, Glieder einer Gesellschaft sein, die in den Beziehungen der Glieder zueinander zeigt, was 62

eine Gesellschaft als ganzes sein sollte. Wir können unsern Idealen in diesem Falle einen Gemeinschaftsausdruck verleihen. Eine solche Gesellschaft soll die Kirche sein; wir können gleichzeitig auch viel kleinere Gesellschaften bilden —• wahre Muster des sozialen Verhaltens, das wir predigen. Bischof Gore schrieb vor ungefähr 45 Jahren eine Broschüre „The Social Doctrine of the Sermon on the Mount" (Die Soziologie der Bergpredigt), von der ich einige Absätze als Abschluß dieses Kapitels anführen will. „Die christlichen Bemühungen um sozialen Fortschritt müssen ihre starke Stütze in der Wiedergeburt und Weihe des Einzelcharakters haben. Es gibt natürlich soziale Taten, die ohne Rücksicht darauf durchgeführt werden können. Als Lazarus von den Toten erweckt wurde, war es einzig und allein das lebenspendende Wort Christi, das neues Leben einflößen konnte; bevor es aber Zugang zu dem Grab fand, mußte der Stein entfernt werden. Dies ist eine Allegorie. Christus allein kann durch direkte belebende Gnade den einzelnen sittlich wieder gesund machen; zunächst aber müssen anfängliche Hindernisse, die seinem Einfluß entgegenstehen, aus dem Wege geräumt werden. Schlechte Wohnungen, unzureichende Löhne, unzureichende Erziehung, Unfähigkeit, die Freiheit sinnvoll zu verwenden — all dies sind Steine, die auf den Gräbern der geistig Toten liegen. Wir müssen die Steine entfernen. Wir werden aber nicht übertreiben, was nur durch eine äußere Reform zu erreichen ist. Das wirkliche Hindernis gegenüber dem sozialen Fortschritt ist Selbstsucht oder Sünde. Keine äußere Reform kann sie beseitigen. Nur die Abkehr der Seelen vom Selbst und Hinkehr zu Gott. Wahre soziale Reform geht demnach nicht von der Masse aus, sondern von kleinen Gruppen geweihter Menschen, wie den Aposteln, und das ist in Wahrheit das „Geheimnis Jesu". Unser Herr spricht hier zur Kirche und nicht zum Staat; Er gründet eine Gesellschaft, die durch sittliche und nicht materielle Bindungen bestehen soll. Wenn damit ein Sozialismus begründet wird, so ist es ein freiwilliger Sozialismus, nicht ein vom Staat erzwungener. Natürlich hat diese christliche Gesellschaft oder Bruderschaft einen ungeheuren Einfluß auf das Staatsleben haben müssen: sie mußte in den Staaten, in denen sie verbreitet war, notwendigerweise geradezu die Seele des Staates werden —• wie sich ja tatsächlich die Urchristen rühmten, sie wären die Seele des Imperiums. Sie mußte — wenn 63

aus keinem andern Grunde — schon deshalb dazu werden, weil die Gesetzgebung um so leichter wird, je größer die Zahl derer ist, die die Selbstsucht mit Füßen treten und das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen. W e n n alle Staatsbürger richtige Christen wären, würde die Gesetzgebung überhaupt aufhören können, denn zum Himmel würde, W o Liebe ein unfehlbar Licht, Und Freud' sich selber sicher ist. So groß auch notwendigerweise der Einfluß des Christentums auf den Staat und die Verpflichtung der Christen dem Staat gegenüber gewesen sein müssen, so ist es nichtsdestoweniger wahr, daß Christus der Gesetzgeber für eine bestimmte Gesellschaft ist; nicht für die Menschheit an sich, sondern für die erlöste Menschheit, die „Bruderschaft", die Kirche. Der Grund ist klar genug. Tatsache ist, daß die Menschheit, da sie durch Sünde verderbt ist, von einem neuen Zentrum aus, eben Jesus Christus, dem zweiten Adam, neu anfangen muß. Die Kirche, in der d^e Menschen in Wahrheit Söhne und Brüder sind, soll eine umhegte und abgetrennte Welt sein, in der verwirklicht wird, was das menschliche Leben sein soll und was es, wenn es richtig behandelt wird, werden kann. Das Ergebnis soll ein doppeltes sein. Einmal sollen die Christen aus der Bruderliebe", d. h. der Liebe in der kleineren und erwählten Gesellschaft, die umfassendere Menschenliebe lernen — wie Petrus es ausdrückt (2 Petrus 1,7) „in Gottseligkeit brüderliche Liebe und in der brüderlichen Liebe gemeine Liebe"; andererseits soll die Welt in der Kirche „eine Stadt auf einen Hügel gestellt" erkennen, ein „Licht", das zeigen soll, was menschliches Leben wirklich sein kann, ein „Salz", das sie frei von Verderbtheit hält. Daß die Kirche nicht der Staat ist und der Staat nicht die Kirche, ist eine Wahrheit, die wir nicht deutlich genug herausstellen können. Die Kirche k a n n ihre Pflicht als Salz oder Licht dem Staat gegenüber nur erfüllen, wenn ihre eigentümliche Stellung klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Falsche Verschmelzungsmethoden — Versuche, wie unser anglikanischer, die Kirche im Staat aufgehen zu lassen — haben unberechenbaren Schaden angerichtet. Wir müssen uns an das biblische Prinzip halten •— welches, wie ich einfügen kann, mit einer kirchlichen Einrichtung durchaus vereinbar ist, obwohl es durch einige besondere Formen dieser Einrichtung etwas gefährdet ist — wir müssen die grundle64

gende Sonderstellung der Kirche als eine allgemeine Wahrheit stark betonen. Wir müssen dieses biblische Prinzip in einzelnen Gemeinden und Bezirken des menschlichen Lebens anwenden, indem wir uns bemühen, das kirchliche Gefühl zu konzentrieren und seine sittliche Bedeutung und moralischen Erfordernisse zu betonen; wir müssen das „Streben nach Ausbreitung korrigieren", wenn die Ausbreitung auf Kosten der Stärke erfolgt. „Ihr seid das Salz der Erde" — ein Salz, das durch seine charakteristische Eigentümlichkeit reinigt, durch Verscihiedenartigkeit beeinflußt, durch starke Würze gesund erhält. Ich möchte danach streben, daß die Kirche in ihren Gemeinden nicht diese oder jene Zahl von Anhängern aufweist, sondern die sittlich Besten, seien es wenige oder viele, aus jeder Klasse, oder, um es richtiger zu formulieren, diejenigen, die ehrlich nach sittlicher Vortrefflichkeit streben und dafür bereit sind, Opfer zu bringen. Die Kirche soll nicht die öffentliche Meinung vertreten, sondern das Heim für das sittliche Gewissen der Gemeinschaft sein".

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Fünftes

Kapitel

Schlußbetrachtungen Können wir jetzt die Ergebnisse der Diskussion über die beiden Ethiken, die Standesethik und die Vollkommenheitsforderung, zusammenfassen und fragen, ob tatsächlich ein Konflikt zwischen ihnen besteht? Wir haben gesehen, daß wir den Forderungen der Standesethik und ihrer Pflichten nicht entgehen könnten, selbst wenn wir es wollten. Wir sind alle Glieder der Gesellschaft, einer bestimmten, besonderen, historisch bedingten Gesellschaft. Damit sie wirklich eine Gesellschaft ist, muß sie Verhaltungsmaßregeln besitzen und aufrechterhalten, muß sie irgendwie ^organisiert sein, bestimmte Einrichtungen schaffen und sich selbst in Gang halten. Diese Maßregeln und Einrichtungen sind nicht vollkommen. Wenn sie in gewissem Umfange auch die Anständigkeit, Gemeinnützigkeit und den Mut derer zum Ausdruck bringen, die sie aufstellten, und derer,- die sie aufrechterhalten, so sind sie aber auch in gewissem Umfange der Ausdruck ihrer Selbstsucht und Gefühllosigkeit, ihrer Aengstiichkeit und Dummheit. Wir mögen sehr wohl der Meinung sein, daß Gesetze und Einrichtungen verbessert werden könnten, wir mögen sogar darum kämpfen, sie in dieser oder jener Richtung zu verbessern, sie sind nichtsdestoweniger immer mit ihren Vorzügen und Mängeln vorhanden, und wir müssen die Gesetze mehr oder weniger hinnehmen, wie wir sie finden. Unsere eigene Gesellschaft ist weitgehend von den Lehren der zweiten Ethik beeinflußt Sie erkennt — wenn auch sehr unvollkommen —, daß sie ihre Einrichtungen im Lichte der Vollkommenheitsforderung kritisieren muß. Der Einfluß der Forderungen des Christentums auf unsere sozialen Einrichtungen ist ungleichmäßig und nicht vollkommen. Wir sind zeitweilig geneigt, unserer unvollkommenen Gesellschaft das Ideal einer christlichen Gesellschaft gegenüberzustellen, die durch den Geist des Evangeliums durch und durch verwandelt ist. Wir schmeicheln uns in der Annahme, daß dies schnell erreicht werden kann, und wir behaupten, wenn es erreicht ist, werde

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es nur Gesetze geben, die wir freudig und aus Vollem Herzen befolgen — aber nur dann, nicht vorher. Auf Grund dieser Ansicht steht es uns frei, für diese unvollkommene Gesellschaft, wenn überhaupt, nur eine widerwillige, unvollkommene Ergebenheit zu empfinden und ihren Verpflichtungen zu entgehen, w e n n wir können. W e n n wir aber die Forderung des Evangeliums, daß wir vollkommen sein sollen gleich wie unser Vater im Himmel, richtig verstehen, müssen wir erkennen, daß sie nichts als Selbstschmeichelei ist. Denn selbst wenn wir unsere bestehende Gesellschaft nach unserem augenblicklichen Verstehen der Vollkommenheitsforderung umwandeln könnten — wie wir es tatsächlich nicht können oder, auf jeden Fall, nicht tun —, so würde gerade die Umwandlung uns neue Möglichkeiten für unser Verhalten enthüllen, die wir jetzt noch nicht voll und ganz verstehen, und wir würden dann gewahr werden, daß das lang ersehnte Ideal unvollkommen ist. Die Spannung zwischen der Gesellschaft, wie sie ist, und dei, wie sie sein könnte, wird immer bleiben. W e n n diese Spannung je aufhören sollte, so wäre das nicht ein Zeichen dafür, daß die Gesellschaft durch und durch christlich geworden wäre, sondern daß sie überhaupt aufgehört hätte, christlich zu sein, selbst wenn sie auf wunderbare Weise eine nach unserer Auffassung völlige Verkörperung der Vollkommenheit fertig gebracht hätte. Das heißt also, die Spannung besteht nicht zwischen dem unbedingt Bösen und dem absolut Guten. Sie ist das Ergebnis unserer Unzufriedenheit mit einer bestimmten, unvollkommenen Situation, die, wie wir wissen, besser sein könnte als sie durch uns ist, und der Unzufriedenheit mit unserer eigenen Vorstellung von Vollkommenheit. Wir können den Forderungen der konkreten, wenn auch unvollkommenen Standesethik nicht entgehen, noch können wir wagen, taub zu sein gegenüber der Forderung, der Vollkommenheit nachzustreben. Wir sind Bürger einer bestimmten, geschichtlich gebundenen Gesellschaft, aber es ist ebenso wahr, wie Paulus an die Philipper schreibt, daß unser Reich im Himmel ist. Als Burger jenes Reiches haben wir ebenso gut Pflichten wie als Bürger unserer irdischen Heimat, und wir müssen die Beziehungen zwischen diesen beiden Forderungen entwirren. Für die meisten von uns liegen die Forderungen der beiden Ethiken im allgemeinen nicht im Widerstreit, sondern ergänzen 67

einander. Nehmen wir zwei Stellen aus dem Neuen Testament: „Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und sprach: „Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?" Jesus aber sprach zu ihm: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andre aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten." Es ist interessant, daß der parallelen, wenn auch ein wenig verschiedenen Version dieses Ausspruches bei Lukas unmittelbar das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter folgt — d a s Gleichnis der Gnadenethik, das die Enge der Standesethik und ihrer Pflichten austilgt. Die vollkommene und eigentliche Erfüllung des Gesetzes besteht also darin, auch auf die Forderungen der Gnade zu hören und ihnen zu gehorchen. Im 13. Kapitel des Römerbriefes gibt Paulus sozusagen einen Kommentar zu diesem Ausspruch Jesu. Nachdem er den Christen in Rom gesagt hat, sie sollen der Obrigkeit Untertan sein, schreibt er: „Darum ist's not, Untertan zu sein, nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen. Derhalben müsset ihr auch Schoß geben; denn sie sind Gottes Diener, die solchen Schutz sollen handhaben. So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid: Schoß, dem der Schoß gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt." Er fährt dann fort: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den anderen liebet, hat das Gesetz erfüllet. Denn das da gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nichts gelüsten; und so ein andres Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort zusammengefasset: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst." Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung." Wir sollen überlegen, was diese Worte bedeuten, und sehen, was man dagegen sagen kann. Liebe ist des Gesetzes Erfüllung bedeutet nicht, daß wir durch die Erfüllung der in dem Gesetz vorgeschriebenen Pflichten die Liebe zum Ausdruck bringen. Es bedeutet, daß, um dem größeren und umfassenderen Zweck des Gesetzes voll und ganz zu entsprechen, wir uns nicht damit begnügen dürfen, die Verpflichtungen des Gesetzes oder 68

die Pflichten unseres Standes einfach zu erfüllen, sondern daß wir sie in Liebe erfüllen müssen, daß wir alles, was die Liebe verlangt oder nahelegt, der einfachen Erfüllung hinzuzufügen haben. Wir müssen das tun, was das Gesetz verlangt, und noch mehr. Wir haben dasselbe schon einmal in einem früheren Kapitel hervorgehoben, als wir sagten, daß, wenn wir unsern Nächsten lieben, wir wünschen müssen, daß er, genau wie wir, von der Gewalt und dem Uebelstand der Anarchie befreit würde: wir müßten daher wünschen, daß es Gesetze gäbe. Es ist also die Forderung der Vollkommenheitsethik, daß es Gesetze gibt und daß sie aufrechterhalten werden. Die Vollkommenheitsethik kann von denen, die ihre Forderungen anerkennen, nicht verlangen, daß sie ein vollkommenes Gesetz aufrechterhalten — denn ein vollkommenes Gesetz kann nicht aufrechterhalten werden, es kann nicht einmal ersonnen werden. Wie wir sehen, muß ein Gesetz, um wirklich ein Gesetz zu sein, befolgt werden; es kann aber nur befolgt werden, wenn die Mehrzahl der Leute bereit ist, es zu halten. Es kann sich daher nicht wesentlich über die durchschnittlichen sittlichen Grundsätze der Gesellschaft erheben: also muß es unvollkommen sein. Wenn daher die Vollkommenheitsethik fordert, daß wir Gesetze verlangen sollen und bereit sein, sie zu befolgen, so fordert sie, daß wir etwas verlangen und aufrechterhalten, das von Natur aus unvollkommen sein muß. Wir verlangen nicht eine Unvollkommenheit. Im Gegenteil, wir müssen unser möglichstes tun, sie zu beseitigen. Aber wir können keine Gesetze oder Regeln erhalten, die nicht unvollkommen sind, und doch, wenn wir andern helfen und das soziale Leben aufrechterhalten sollen, müssen wir Gesetze und Regeln haben. Dabei sind Regeln, Gesetze und Grundsätze nicht etwa Ausdruck dessen, was die meisten vollkommenes Verhalten nennen. Es ist nicht das Ziel des Gesetzes, auch nur das, was der gewöhnliche Durchschnittsmensch für vollkommenes Verhalten ansieht, zu erzwingen. Es soll das Recht aufrechterhalten, die Menschen gegen willkürliche Einmischungen schützen, einen sicheren, sittlichen Hintergrund oder Untergrund schaffen, vor oder auf dem Männer oder Frauen sich frei bewegen können. Es „verhindert Verhinderungen" des guten Lebens und schafft den Rahmen für unabhängiges Handeln. Es schreibt ein notwendiges Minimum, nicht ein Maximum des Verhaltens vor. Das gleiche gilt, wie wir sahen, für die Spielregeln. Uns mit 69

dem Einhalten der Regeln zufrieden zu geben und anzunehmen, daß das alles wäre, was die Ethik verlangt, hieße, die Mittel mit dem Ziel verwechseln. Regeln ermöglichen es, ein Spiel zu spielen, aber bloßes Einhalten der Regeln ist noch kein Spielen. W e n n die Regeln dem genannten Zweck dienen sollen, müssen ihm auch eigener Antrieb, Schöpferkraft und Freiheit, die innerhalb der Regeln möglich sind, dienen. Daher ist Liebe die Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz bietet den Rahmen, den die Liebe ausfüllt, es ist das Knochengerüst, dem die Liebe den Odem einhaucht. Unsere Handlungen in der Gesellschaft haben immer zwei Seiten. Indem wir auf eine bestimmte Weise handeln, helfen wir, den sicheren Hintergrund für die Handlungen anderer aufzubauen; außerdem liefern wir unsern eigenen positiven Beitrag. W a s die erste Seite anbetrifft, so haben wir Pflichten den andern gegenüber, und die andern haben Forderungen oder Rechte uns gegenüber, daß wir auf bestimmte Weise handeln sollten. Das sind die Pflichten unseres Standes. Die andern verlassen sich darauf, daß wir gewisse Dinge tun, wie wir uns umgekehrt auf sie verlassen. Es gibt aber fast immer viele Möglichkeiten, diesen Verpflichtungen nachzukommen Aus dem Stande ergibt sich, unter welchen Bedingungen man seinen positiven Beitrag liefern kann. Solange ich diese Bedingungen beachte, das Notwendige tue, um den andern den nötigen Hintergrund für ihre Freiheit aufzubauen, habe ich die Pflicht meines Standes erfüllt,- ich habe aber nicht dem Ruf der Vollkommenheit Folge geleistet Als Glied einer besonderen menschlichen Gemeinschaft tue ich vielleicht gerade das, was von mir verlangt wird, wenn ich aber auf meine doppelte Mitgliedschaft Anspruch erhebe, muß ich ein groß Teil mehr tun, und zwar bereitwillig und ohne zu murren. Die Gnadenethik kann sich — wie im dritten Kapitel angedeutet wurde — zeigen in Dem besten Teil im Leben eines Menschen, Den namenlosen, leicht vergeß'nen Taten Der Güte und der Liebe. Hier besteht kein Konflikt zwischen den beiden Ethiken, wohl aber ein Gegensatz. Die Standesethik ist verhältnismäßig konstant, unveränderlich, bestimmbar. Sie ist nicht unserer eigenen Initiative überlassen. Die andern haben Ansprüche 70

an uns, und diese Ansprüche sind, wenigstens in der Theorie, durch jemand drittes bestimmbar, der zu uns sagen könnte: ,,Du hättest dies tun oder jenes lassen sollen." Im Vergleich mit diesen festgelegten Pflichten sind die Forderungen der Gnadenethik freiwillig, fließend, unbestimmbar. Da sie freien Antrieb und schöpferische Initiative brauchen, werden sie von verschiedenen Leuten verschieden aufgefaßt und verschieden erfüllt. Wir können sagen: „Der Mensch muß großherzig sein," wenn wir meinen, daß er mehr als seine bloße Pflicht tun sollte. Man k ö n n t e leicht jemandem sagen: „Natürlich, du hast alles getan, worauf er Anspruch hatte, du hättest aber wirklich ein wenig freundlicher und entgegenkommender dabei sein können." W e n n jemand uns um Rat fragt, was er tun solle, antworten wir ihm gewöhnlich: „Du mußt mindestens dies oder jenes tun," oder „Du hast kein Recht, dieser oder jener Verpflichtung nicht nachzukommen." Darüber hinausgehen hieße vielleicht Dinge anregen, die zu tun zwar großzügig wäre, die wir aber nach unserem Gefühl nicht dem andern vorschlagen dürften. W a s er an solchen opera supererogationis tut, ist seine eigene Angelegenheit. „Gibt es also keine Regeln für die Gnadenethik?" Die Antwort lautet: „Es ist genau so wie mit den Regeln für Dichtung und Malerei." Wir müssen unsere Phantasie walten lassen; wir müssen unser Gefühl und unsere Beobachtungsgabe schulen. Wir müssen Lebensregeln annehmen, die uns empfindlich und erfinderisch erhalten. Denn es gibt Zeiten und Stimmungen, in denen wir stumpf, unaufmerksam, gefühllos sind, wie wir uns zu andern sittlich wach und schöpferisch fühlen. Das besagt aber nur, daß es Regeln gibt, deren Einhaltung die Freiwilligkeit unserer Handlungen unterstützt; für die Freiwilligkeit selbst gibt es aber der Natur der Sache nach keine Regeln. Soweit gibt es keinerlei Anzeichen für einen Konflikt zwischen den beiden Ethiken. Wenn wir aber über die Pflichterfüllung des Standes hinausgehen und auf F o r d e r u r g e n der Vollkommenheitsethik stoßen, die mit den menschlichen Forderungen der Standesethik in Widerspruch stehen, dann ergeben sich Konflikte. W e n n wir unsere Ohren für Hilferufe offen halten, ganz gleich, woher sie kommen, dann können wir uns vielleicht berufen fühlen, die unmittelbaren Pflichten unseres Standes im Stiche zu lassen, aufzugeben, was unser eigentliches Geschäft zu sein scheint, und dem neuen Ruf zu folgen. Daß wir zeitweilig bereit sein müssen, etwas der71

artiges zu tun, ist klar. George Merediths „Fair Ladies in Revolt" hören von den Heimen aus, in denen Schutz zu suchen man sie beschworen hat, die Schreie der schutzlosen Frauen, die sie aus ihren sicheren Zufluchtsstätten herausholen wollen. Konflikte gibt es schon. „So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein." Hüten wir uns aber davor, den wahren Widerhall dieser alles beherrschenden Forderung der Vollkommenheit und die bloße Schaukelethik durcheinander zu bringen, die sich abwechselnd auf das Nahe und das Ferne konzentriert, ohne zu versuchen, den Konflikt zwischen beiden zu lösen. Dickens' Mrs. Jellyby war kein edles Weib. Sie vernachlässigte ihren Mann und ihre Familie um der Eingeborenen von Borrioboolagha willen, ohne Konflikt und Gewissensbisse, und ohne die Tragödie in ihrem Hause zu bemerken. Der Konflikt zwischen den verschiedenen Forderungen besteht heute als dringendes Problem für die Mehrzahl von uns. Denn mit der Zunahme der Verbindungs- und Nachrichtenmöglichkeiten in der ganzen Welt erreichen uns täglich neue Forderungen — Forderungen mitleiderregender Not. Was sollen wir da tun? Sollen wir in unserer Arbeit fortfahren und unser Ohr den Hilferufen verschließen? Oder sollen wir unsere Arbeit und die Forderungen derer, die mit uns durch natürliche Bande verbunden sind, vernachlässigen, um den Forderungen der größeren Not, die aus der Ferne zu uns dringen, Folge zu leisten? Gibt es eine Regel für solche Konflikte, und kann Liebe in solchen Fällen die Erfüllung des Gesetzes sein? Es kann keine Regel geben, nach der man die einzelnen Fälle entscheiden kann. Vielleicht eine Regel, daß wir unsere Sorgen und Mühen nicht auf die Pflichten unseres Standes beschränken, sondern daß wir es als unsere Aufgabe ansehen, ein weiterreichendes Interesse auch für die Dinge jenseits unserer unmittelbaren Pflichten aufzubringen. Die Redewendung „Die Wohltätigkeit beginnt zu Hause" wird von den Leuten mißbraucht, die meinen, daß sie auf jeden Fall dort enden sollte. Wenn es wirkliche W o h l t ä t i g k e i t ist, die zu Hause beginnt, dann kann sie dort unmöglich zu Ende sein. Wenn wir bei der Erfüllung der Pflichten unseres Standes Barmherzigkeit walten lassen, bringen wir etwas hinein, das seiner Natur nach die Grenzen sprengen muß; wir sind auf das Aeußerste bereit, auf die Rufe von draußen 72

zu hören, während wir Herz und Gemüt auf die unmittelbar vor uns liegenden Pflichten richten. W i r brauchen dabei wie immer Demut und Glauben. Unsere Pflicht ist es, unserem Geschäft nachzugehen, die Arbeit zu tun, die uns obliegt, dabei aber bereitwillig auf jeden Ruf zu hören, der an unser Ohr dringt. Denn an diejenigen, welche die heldenhaftesten, abenteuerlichsten und fruchtbringendsten Dinge tun, treten diese Forderungen, die sie zwingen, ihre gewöhnlichen Pflichten zeitweilig zu vernachlässigen, als Ruf oder „Aufgabe" heran. Diese Leute kümmern sich im allgemeinen nicht um den Konflikt zwischen den beiden Grundsätzen. So weit war es nicht sehr schwierig, die Wahrheit von Paulus' Ausspruch, daß „die Liebe die Erfüllung des Gesetzes ist," zu erkennen. Das Gesetz an sich ist starr, eng, unzulänglich — ein Rahmen, der ausgefüllt werden muß. Wenn nun der Rahmen sogar als Rahmen schlecht wäre, wenn er das „Liebe deinen Nächsten" unmöglich machen würde? " S o ein andres Gebot mehr ist", sagt Paulus, „das wird in diesem Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst". Paßt das zu Leviticus XXIV, 20: „Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun?" Als dieses Gesetz gemacht wurde, war es wahrscheinlich ein hartes Gesetz für ein noch härteres Volk. Aber Gesetze und Bräuche und Grundsätze sind in zwei verschiedenen Richtungen wirksam. Ihr eigentlicher Zweck besteht darin, die besseren Elemente der Gesellschaft vor dem Angriff der schlechteren zu schützen, uns zu helfen, „die Höhen zu halten, die die Seele zu erklimmen fähig ist". Aber sie schützen vielleicht auch die Bräuche und Grundsätze gegen die Kritik der besseren Elemente. Der Schutz von Gesetz und Brauch kann jedoch leicht zum Schutz von Mißständen werden. In jeder Gesellschaft gibt es aber Bräuche, Einrichtungen, Arten des Verhaltens, die die meisten Leute anerkennen, als selbstverständlich hinnehmen, sogar verteidigen, obwohl die nachfolgende Generation mit entrüsteter Selbstgerechtigkeit ihre Stimme dagegen erheben wird. Sie wird wahrscheinlich Gott danken, daß sie nicht wie andere Generationen ist. Sie kann nicht einsehen, daß ihre Nachfolger wiederum ebenso verachtungsvoll sein werden, weil sie verschiedenen Mängeln gegenüber blind war. 73

Der Fortschritt in den Grundsätzen wird durch die sittlich Feinfühligen unter uns bewirkt, die Propheten, Heiligen, Dichter ihrer Generation. Diese Männer und Frauen zeigen uns neue sittliche Werte, neue Möglichkeiten des sozialen Verhaltens; oder sie weisen uns Uebelstände in unseren ehrwürdigsten Einrichtungen nach, denen gegenüber wir gleichgültig oder blind sind. Sie selbst empfinden die Uebelstände bei Bräuchen oder Einrichtungen so stark, daß sie das Gefühl haben, sie könnten nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Das kann manchmal ohne großen Konflikt vor sich gehen. In den meisten Gesellschaften, und besonders in einer demokratischen Gesellschaft, gibt es eine gewisse Elastizität, ein Geben und Nehmen. Wir genießen oft die allgemeinen Vorteile der Gesellschaft, während wir es ablehnen, uns mit manchen Grundsätzen und Regeln einverstanden zu erklären. Einige Einrichtungen sind so sehr mit der gesamten Gesellschaftsstruktur verflochten, daß wir zwangsläufig mit ihnen verbunden bleiben, solange wir Glieder dieser Gesellschaft sind. Die Sklaverei war in der Antike eine derartige Einrichtung; ähnlich ist es mit dem Kastenwesen der Hindus. Krieg ist in Kriegszeiten ein weiteres Beispiel dafür. Wenn der Prophet überzeugt ist, daß er die Aufgabe hat, seine Mitmenschen die Uebelstände, denen gegenüber sie blind sind, erkennen zu lassen, muß er fast notgedrungen mit der Standesethik in Konflikt geraten. Ich halte es für unvernünftig, von ihm zu verlangen, daß er „vernünftig" handelt. Wir können ihm vor Augen führen, daß, wenn jeder die Gesellschaft oder ihre grundlegenden Einrichtungen ablehnen würde, weil er den einen oder andern der damit verbundenen Uebelstände verabscheut, die Gesellschaft unmöglich werden würde und die Anarchie, die unendlich viel schlimmer ist, an ihre Stelle träte. Seine Antwort würde lauten: „Alle die verschiedenen Unvollkommenheiten der Gesellschaft interessieren mich nicht. Ich muß Zeugnis ablegen gegen diesen besonderen, ungeheuerlichen Uebelstand. W a s andere Leute tun oder nicht tun, geht mich nichts an. Ich habe nicht teil daran". Wir können versuchen, ihm klar zu machen, daß er wenigstens indirekt mit einer so grundlegenden Einrichtung immer verbunden sein wird. Wenn er vernünftig ist, wird er es zugeben, aber gleichzeitig sagen, daß er dagegen protestieren und Zeugnis ablegen müsse, und die besondere Art von Nicht-Zusammenarbeit oder Protest, die er für sich erwählt hat, scheint ihm die wirksamste zu sein. Das Zeugnis, das er ablegt, muß meiner Meinung nach auf 74

einem außergewöhnlichen W e g e wirken: die n e u e Erleuchtung wird an einzelne Vertreter der Gesellschaft herangebracht, nicht an die Gesellschaft als ganzes. Sie nehmen sie auf, weil sie sittlich feiner empfinden als andere Menschen. Sie können andererseits nicht verlangen, daß andere mit ihnen übereinstimmen, nur weil sie heftig und beharrlich sind. Die andern müssen inzwischen nach ihrem inneren Licht handeln. So können wir leicht zu einem Konflikt zwischen guten, anständigen, aufrichtigen Leuten auf beiden Seiten kommen. Der Prophet sieht vielleicht nichts als den Uebelstand, gegen den er Zeugnis ablegen will. Die für die Gesellschaft Verantwortlichen wiederum sehen nicht, wie sie die Gesellschaft vor dem Untergang retten sollen, wenn sie auf den Propheten hören oder ihm erlauben, andere zur Nicht-Zusammenarbeit zu überreden. Dr. Johnson antwortete einst, als Boswell ihn nach der Verfolgung der Urchristen fragte: „Der Staat hatte das Recht, die Urchristen zu martern, und sie hatten das Recht, Märtyrer zu werden". Die Bemerkung ist echter Johnson, aber richtig in ihrem Kern. Die Menschen müssen nach ihrem inneren Licht handeln, und da der Fortschritt in sittlicher Einsicht ungleichmäßig ist — „wie der Wind blaset, wohin er will" — muß es Meinungsverschiedenheiten darüber geben, was wir oder die Gesellschaft tun sollten. Oft ist es unmöglich, den Menschen zu erlauben, ihre eigenen W e g e zu gehen. Vieles ist Gemeinschaftsarbeit und muß so sein. Wenn wir der Meinung sind, daß Erleuchtung und Fortschritt auf diese unregelmäßige, unvorherbestimmbare Weise zu uns kommen, richten wir es kluger Weise so ein, daß für Meinungsverschiedenheiten so viel Platz wie möglich bleibt. Wir sind aber gleichermaßen gezwungen, darauf zu achten, daß es Regeln gibt, Regeln, die den anerkannten Zielen der Gesellschaft am besten dienen, und daß sie eingehalten werden. Dabei gibt es m reichern Maße Spannung und sogar Tragik, aber ich sehe keine Möglichkeit, sie zu vermeiden. Es gibt kein W a c h s t u m ohne Spannungen, und Spannung bedeutet oftmals Tragik. Die Spannung kommt nicht nur daher, weil außergewöhnliche sittliche Einsicht nur wenigen gegeben ist. Sie rührt zum Teil von der verschiedenen, naturbedingten Einstellung des Propheten und des Beamten her. Es gibt ein bemerkenswertes Stück von Björnstjerne Björnson, „Ueber unsere Kraft". Held und Heldin sind ein norwegischer Pfarrer und seine Frau. Der Pfarrer ist ein Heiliger und ein wunderbarer Gesundbeter. Die Tra75

gik seines Lebens besteht darin, daß seine Frau ans Bett gefesselt ist und all sein Glaube sie nicht heilen kann. Im ersten Akt erklärt die Frau, warum ihr Mann bei ihr erfolglos ist. Sie beschreibt seine Begeisterung und Güte; einer müsse aber den Haushalt führen, nach den Kindern sehen, die Rechnungen bezahlen,- wenn sie die Begeisterung und den einfältigen Glauben ihres Mannes hätte, würde alles in die Brüche gehen. Sie müsse vernünftig und nüchtern bleiben um seinetwillen und für alle die andern; und wenn das bedeute, daß sie ans Bett gefesselt bliebe, so würde sie nicht klagen. Es liegt viel Wahrheit in der Feststellung der Frau. Die geistigen Eigenschaften des Beamten oder Richters sind sehr verschieden von denen des Propheten; beide sind nötig. Neue Ideen und neue Offenbarungen sind störend und häufig sehr lästig. Ihre Anerkennung kann bedeuten, daß bewährte wertvolle Einrichtungen über Bord geworfen werden,- die Menschen, die für die Einrichtungen verantwortlich sind, müssen die neuen Offenbarungen mit Vorsicht betrachten, und man kann nicht erwarten, daß sie sie ohne Mißtrauen ansehen. Die Spannung zwischen dem Beamten und dem Propheten ist so alt wie die christliche Kirche selbst, und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die Schuld mehr auf Seiten des Beamten als auf der des Propheten liegt, oder umgekehrt. Die Ansicht, der man heute zeitweilig begegnet, daß kein Christ konservativ sein kann, ist ebenso verrückt wie die seinerzeit populäre Ansicht, daß kein Christ zu den Radikalen gehören könne. Es ist von allem etwas nötig, um das Reich Gottes aufzubauen, genau wie bei der Schöpfung der Welt. Es ist charakteristisch für Paulus' Weisheit, daß er seine große Hymne auf die Liebe unmittelbar hinter seine Bemerkungen über die Verschiedenheit der geistigen Gaben setzte. Es fällt uns schwer zu glauben, daß Liebe die Erfüllung desGesetzes ist, wenn wir hören, daß der Prophet gegen die Standesethik Einspruch erhebt; das kommt aber nur daher, weil wir unbedingt eine sentimentale Ansicht von der Liebe haben w o l l e n . Es ist die schwerste Sache von der Welt, die Lehre vom Kreuz anzunehmen. Da es im wesentlichen die Aufgabe der Kirche ist, den Grundsatz der Vollkommenheit für die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist — wie uns manchmal gesagt wird — Zeugnis und Einspruch gegen die Mängel der Standesethik die prophetische Funktion der Kirche, wobei stillschweigend die Auffassung mit 76

eingeschlossen ist, daß es nicht eine Funktion der Einzelwesen ist. Dies scheint mir ein grundlegender Irrtum zu sein. Es ist die Aufgabe der Kirche, wie wir im letzten Kapitel sahen, eine Gemeinschaft zu bilden, die eine Brüderschaft ist, in der die Menschen in Beziehungen zusammen leben können, die von höheren Grundsätzen beherrscht werden als in der Gesellschaft im grossen und ganzen; die Kirche soll an dem Beispiel des Gemeinschaftslebens zeigen, daß die Tatsache, daß die Menschen alle Kinder eines Vaters sind, wesentlicher ist als alle Unterschiede in Bezug auf Fähigkeiten, Reichtum und Stand. Das Leben in der Kirche sollte ein lebendiges, wirksames, schöpferisches Zeugnis gegen die Uebelstände und Mängel der Gesellschaft sein. Es ist auch die Aufgabe der Kirche, Propheten hervorzubringen, und der Beweis ihrer Lebenskraft wird die Tatsache sein, daß sie eine Schule der Propheten ist; daß die Männer und Frauen, die uns zeigen, was die Gesellschaft tun könnte, und die unsere Blindheit und Gleichgültigkeit gegenüber den Uebelständen richtig stellen, von der kirchlichen Gemeinschaft beseelt sind. Die Kirche sollte alles dran setzen, die Freiheit des Prophezeiens zu ermutigen, sie sollte bereit sein, all dem dadurch aufkommenden Skandal gegenüberzutreten. Für das Prophezeien selbst ist aber der einzelne verantwortlich. Der Prophet spricht im Namen Gottes, der ihm seine persönliche Botschaft eingibt. Er darf erwarten und hoffen, daß die Kirche ihn hört und unterstützt. Wie sehr er seine Eingebung auch aus der Kirche zieht und ziehen sollte, er selbst und nicht die allumfassende Kirche muß die Botschaft bringen. Auf irgend etwas anderes zu hoffen oder darum zu bitten, hieße die Aufgaben der Kirche als Einrichtung und in Bezug auf die Prophezeiung verwechseln. Zu hoffen, daß innerhalb der Kirche keine Spannungen entstehen, wenn es auch Spannungen zwischen Kirche und Staat geben kann, ist eine vergebliche und falsche Hoffnung, denn wenn die Untersuchungen in diesem Buch einen Wert haben, so müssen sie zeigen, daß der Konflikt zwischen den beiden Ethiken ein Zeichen von Lebenskraft und Gesundheit ist. Ich sagte oben, wenn er aus der Gesellschaft verschwände, würde die Gesellschaft nicht mehr christlich sein. Es ist ebenso wahr, daß eine Kirche, in der es derartige Spannungen und Konflikte nicht mehr gäbe, aufhörte, eine Kirche zu sein. Wir müssen vor allem das charakteristische Merkmal christlichen Handelns im Gedächtnis behalten, für das Paulus' Ein77

Stellung zur Sklaverei ein Beispiel ist. Das herausfordernde, revolutionäre Werk des wahren Christentums erscheint zuerst als eine lebendige, wirkliche Umformung des Lebens. Es zeigt sich als neues Leben, das das alte durchbricht, das ausgedient hat und bereit ist abzusterben. Sein Beginn bringt nicht vernichtende Vertilgung, hohle Formen, sondern das frische grüne Blatt, das Wiedergeburt bedeutet, Erneuerung des Geistes des Lebens und der Liebe. Ich schließe mit einer bemerkenswerten Stelle aus einem Briefe v. Hügels, wo er spricht von der „durch Züchtigung immer von neuem eroberten Einigkeit, einer Einigkeit, die immer neu erworben werden muß durch das Dunkel und die Muhe der Tat und die schöne und tiefe Askese des schöpferischen Denkens und Seins, welches das Kreuz überall aufpflanzt und welches durch gewollten und geliebten Widerstreit immer und überall Früchte trägt", und fortfährt, „Religion kann nur ihr eigenes Wesen erlangen, wenn sie nicht nur die Liebe zum Kreuz in anderen Bereichen bewirkt, sondern das Kreuz selbst auf s i c h nimmt. Und dann werden alle Dinge einen solchen Glauben nähren, und er wird Grundlage und Verklärer aller Dinge werden."

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