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German Pages 366 [367] Year 2003
Aldo Venturelli Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 47
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche Quellenkritische Untersuchungen
von
Aldo Venturelli
Übersetzt aus dem Italienischen von Leonie Schröder Redaktionelle Zusammenarbeit von Silke Richter
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6–7, D-17487 Greifswald
Redaktion: Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017757-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satz: Selignow Verlagsservice, Berlin
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Der musiktreibende Sokrates. Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche Kapitel 1 Ästhetik und Erkenntnistragödie. Zur Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Kapitel 2 Das Labyrinth der Wahrheit. Sprachkritik und Naturwissenschaft nach der Vollendung der Geburt der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Kapitel 3 Zarathustra und der Geist des Aphorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil Die Spannung des Bogens. Bausteine für ein neues geschichtliches Bewusstsein Kapitel 4 Nietzsches Renaissance-Bild zwischen Erasmus und Cesare Borgia 127 Kapitel 5 Aufgeklärte Geister und libres penseurs. Nietzsches Auffassung der Aufklärung zwischen Geschichte und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
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Kapitel 6 Das Klassische als Vollendung des Modernen. Nietzsche als Leser des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Dritter Teil Nietzsches Denken in der Konstellation der Moderne Kapitel 7 Das Erhabene und das Komische. Nietzsche und die nachhegelsche Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Kapitel 8 Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Kapitel 9 Genealogie und Evolution. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Anti-Darwin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Darwin zwischen Strauss und Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Der physische und der moralische Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Höhere Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Vierter Teil Das Engagement des Denkens. Nietzsche und die Konstruktion des europäischen Intellektuellen Kapitel 10 Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
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Kapitel 11 Die Enttäuschung der Macht. Zu Kesslers Nietzsche-Bild . . . . . . . . . . . 291 Kapitel 12 Nietzsche in der rue d’Ulm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Benutzte Ausgabe der Werke und Briefe Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Einleitung Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmal ausgieng – die „Geburt der Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft ... (KSA 6, S. 160)
Mit diesen Worten beschloss Nietzsche die Götzen-Dämmerung. In der Rückkehr zu Dionysos sah er den Höhepunkt seiner eigenen Philosophie und theoretischen Ausarbeitung, die – im Rahmen der im Herbst 1888 konzipierten Werke – in der Götzen-Dämmerung ihre definitive Formulierung fanden. Die hellenische Gottheit wird hier als Philosoph präsentiert. Bereits in Jenseits von Gut und Böse hatte Nietzsche die Aufmerksamkeit auf die erstaunliche Neuheit gelenkt, „dass also auch Götter philosophiren“ (KSA 5, S. 238). Dieser Philosoph Dionysos, in dem Aphorismus 295 von Jenseits von Gut und Böse, den Nietzsche für das höchste Beispiel seines psychologischen Scharfblicks hielt, glänzend dargestellt als „das Genie des Herzens“ (KSA 5, S. 237), unterscheidet sich wesentlich von der Gottheit des Rausches und der universellen Harmonie, die auf den Anfangsseiten der Geburt der Tragödie evoziert worden war. In einigen seiner Züge, seinem „Forscher- und Entdecker-Muthe“, seiner „gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit“ (KSA 5, S. 238), erscheint dieser Dionysos fast wie die ideale Transposition der höchsten Eigenschaften, durch die sich der Freie Geist und der Gute Europäer auszeichnen sollten. Allerdings fügt Nietzsche gleich hinzu, dass diese Definitionen nur einen veralteten Menschenbrauch betreffen, denn der Philosoph Dionysos habe keinerlei Scheu, sich unmittelbar in seiner göttlichen Blöße zu zeigen. Die fehlende Scham des hellenischen Gottes wird für Nietzsche zum Symbol eines nackten Daseins, das allein die gründliche experimentelle Untersuchung des Freien Geistes in seinen konstitutiven Mechanismen hat zu Tage fördern können, und zwar ohne Blendwerk oder überflüssige Beschönigungen. Die Rekonstruktion einiger bedeutender Momente dieser Rückkehr zu Dionysos bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Seit Beginn seiner Reflexion hatte Nietzsche einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen ästhetischer Tragödie und der Ausarbeitung einer tragischen Philosophie hergestellt, wobei die Erforschung möglicher Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft eine grundlegende Rolle spiel-
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te. In der Geburt der Tragödie ging es nicht einfach darum, der sokratischen Rationalität die Wiedergeburt einer neuen Mythologie entgegenzusetzen, sondern ein Umschlagen der Wissenschaft in Kunst in Aussicht zu stellen. Dieses Umschlagen besaß sicher noch keine klaren Konturen, erwies sich jedoch am Ende als authentischster, fruchtbarster Kern des ersten Werks des Philosophen, auf den er in seiner Reflexion wie auf ein Ausstrahlungszentrum für stets neue Gedanken und Perspektiven immer wieder zurückkam. Dank einer Untersuchung der nachgelassenen Fragmente, einer Rekonstruktion der Gedankenkette, die Fragmente, Lektüren und definitive Texte verbindet, lässt sich diese Beziehung zwischen ästhetischer Tragödie und tragischer Philosophie genauer begreifen und ihr Ursprung in der Situation der Philosophie nach Schopenhauer ausmachen, die auf induktiver Grundlage zur Formulierung einer neuen Metaphysik zu gelangen suchte. Insbesondere kann eine solche Analyse die umfassendere Konstellation verdeutlichen, in der bestimmte Thematiken Nietzsches betrachtet werden müssen: Die Geburt der Tragödie stellt sich aus dieser Interpretationsperspektive zum Beispiel als vorläufiges Ergebnis innerhalb eines weiteren Experimentierfeldes dar, mit dem Nietzsche sich rastlos auf stets neue Weise auseinander setzte. Dieses Experimentierfeld bildet auch den Kontext, in dem die extreme Sprache der Geburt der Tragödie ihre wesentliche Fragilität zeigt: Was in ihr wie eine Gewissheit ausgesprochen zu sein scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Illusion, was Anspruch auf Ewigkeit erhebt, enthüllt sich als momentanes Ergebnis einer vergänglichen Hoffnung. Seltsamerweise spricht der Philosoph Dionysos in Jenseits von Gut und Böse „mit halber Stimme“ (KSA 5, S. 238); alles an seinem Genie des Herzens ist Zierlichkeit, Zögern, Stille, Flüstern, und dies sind gewiss nicht die Tonalitäten, die wir gewöhnlich Dionysos, dem Gott des Rausches und der irrationalen Lebensfülle zuschreiben. Entsprechend ist auch der Stil seines treu ergebenen „Jüngers“ Nietzsche gewöhnlich von einem übertriebenen Pathos, einem hochtönenden Triumphalismus, einer hohlen Kraftprotzerei durchzogen, die nicht selten an ein exaltiertes Prophetentum grenzt. Doch hat Nietzsche selbst uns aufgefordert, sogar in Also sprach Zarathustra den halkyionischen Ton geflüsterter, süßer Worte zu suchen, die Tropfen für Tropfen eine unendliche Glückstiefe verströmen: Hier redet kein „Prophet“, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. (...) Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht „gepredigt“, hier wird nicht Glauben verlangt (KSA 6, S. 259–260).
Einleitung
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Eine Lesart, die sich der geduldigen Rekonstruktion der langen, Fragmente, Lektüren, Zitate und endgültige Texte verbindenden Gedankenkette widmet, kann nützliche Instrumente liefern, um den notwendigen Verfremdungseffekt zu erzeugen, der uns von tief verwurzelten Gewohnheiten der Nietzsche-Rezeption Abstand zu nehmen erlaubt und uns statt dessen dazu befähigt, diesem Nietzsche zuzuhören, der „mit halber Stimme“ zu sprechen trachtet. Seine Sprache erweist sich dann als Sprache, die keine Gewissheiten mitzuteilen hat, sondern einer allgemeineren Tragödie der Erkenntnis Ausdruck geben will. Vor allem nach Abschluss der Geburt der Tragödie rückte die Ausarbeitung dieser tragischen Philosophie immer mehr in den Mittelpunkt von Nietzsches Reflexion. Um zu begreifen, auf welche Weise die spätere Rückkehr zu Dionysos erfolgen konnte, ist daher eine Untersuchung der nach Abschluss der Geburt der Tragödie und parallel zur Arbeit an den Unzeitgemäßen Betrachtungen entwickelten Reflexion in ihrer Gesamtheit unerlässlich. Die wichtigsten Texte, die von dieser Reflexion Zeugnis ablegen, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn und Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, waren vom Autor nicht zur Veröffentlichung bestimmt, doch verdeutlichen die Fragmente jener Zeit und die damaligen Lektüren Nietzsches den engen Zusammenhang dieser beiden Texte mit dem Grundthema von Nietzsches Forschung in jenen Jahren: dem Thema der ausgebliebenen Reform des Griechentums, der unvollendet gebliebenen Möglichkeit eines höheren philosophischen Lebens. Diese Reflexion, die Nietzsche Schritt für Schritt zur Abwendung von der Artisten-Metaphysik der Geburt der Tragödie und zur Neuformulierung der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft auf neuen Grundlagen führte, brach im Frühjahr 1873 ab; verschiedene Themen, die darin angeklungen waren, wurden jedoch später in einigen entscheidenden Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches wieder aufgegriffen und folglich in den neuen philosophischen Kontext eingebunden, dessen Ausdruck das genannte Werk ist. Im Vordergrund von Menschliches, Allzumenschliches stand erneut die Perspektive der Erkenntnistragödie als Folge einer Philosophie der logischen Weltverneinung, die Nietzsche als einzig mögliches Ergebnis einer kohärenten Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft ansah: Nur ein intensiver Dialog zwischen Denken und Dichtung, ein gewagtes Gleichgewicht zwischen philosophischem Nihilismus und einer höheren Behauptung der Lebensfreude schienen ihm damals einen Ausweg aus einer andernfalls ausweglosen Situation darzustellen. Dieser Dialog zwischen Denken und Dichtung bildet den ureigensten Horizont der Entstehung von Also sprach Zarathustra. Das Werk präsen-
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tiert sich fast buchstäblich als Tragödie der Erkenntnis: Eine auf der vollständigen Einverleibung der wissenschaftlichen Erkenntnis fußende Philosophie der Gleichgültigkeit war ihre notwendige Voraussetzung. Allein durch diese Philosophie der Gleichgültigkeit wird einsichtig, wie Nietzsche damals zu einer neuen Auffassung der Persönlichkeit gelangte, die über die Grenzen und Fehler des Individualismus und die traditionellen Unterscheidungen zwischen Egoismus und Altruismus hinausführte. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen aphoristischem Stil und den neuen in Also sprach Zarathustra erprobten Ausdrucksformen vermag einen weiteren Aspekt dieser Einverleibung der wissenschaftlichen Erkenntnis in eine neue Kunstsprache zu erhellen. Tatsächlich fand der Mensch der Erkenntnis in dieser Sprache die einzige Möglichkeit, um seine radikale Erfahrung der Selbstvernichtung ins Positive zu wenden. Er konnte sein Streben nach dem Untergang und der Überwindung der eigenen begrenzten Individualität als Ausdruck einer höheren ‚schenkenden Tugend‘ begreifen. Die Entstehung von Also sprach Zarathustra fällt mit einer neuerlichen Reflexion über die Hauptthesen der Geburt der Tragödie zusammen, die von dem Moment an zu einem dauerhaften, beständigen Element von Nietzsches Denken werden sollte, bis hin zu den letzten unter Qualen entstandenen Werken von 1888. Das vorliegende Buch verfolgt diesen weiteren Schritt auf dem komplexen Weg der Rückkehr zu Dionysos nicht systematisch, spielt jedoch mehrfach darauf an. So lässt die Untersuchung der Gedankenkette, die Fragmente, Lektüren, Zitate und definitive Texte miteinander verbindet, das feine Gewebe hervortreten, das die verschiedenen, scheinbar so gegensätzlichen Werke Nietzsches zusammenhält. Jenseits einiger tiefer Wendepunkte in Nietzsches Philosophie zeichnet sich sein Denken folglich durch eine wesentliche Einheitlichkeit, eine innere Gedankenstrenge, die Entfaltung einer einzigen, kohärenten philosophischen Befragung aus. Diese Einheitlichkeit und Gedankenstrenge lassen sich auch anhand der Untersuchung von Nietzsches Bibliothek und Lektüre verdeutlichen. Die häufig in seinen Fragmenten und Texten aufzufindenden Lektürespuren machen nicht allein deutlich, dass er sich mit bestimmten Autoren oder Themen – man denke etwa an Afrikan Spir, der in diesem Buch wiederholt auftaucht – auf oft überraschende Weise in unterschiedlichen Phasen seines Denkens auseinandersetzte, sondern sie fordern auch zu einer genaueren Berücksichtigung des ‚historischen Zusammenhangs‘ auf, der sein Denken – ohne direkte Abhängigkeitsbeziehungen – an grundlegende Momente der abendländischen Philosophie bindet. Sehr häufig erfolgt Nietzsches Auseinandersetzung mit diesen Momenten nicht auf dem Weg
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einer eigenen Lektüre der großen sie repräsentierenden Texte, sondern in der Vermittlung durch wenigstens scheinbar zweitrangige Autoren. Aus den Hinweisen, die Nietzsche aus der Lektüre dieser Autoren schöpfte, zog er oft allgemeine Schlussfolgerungen, indem er sie mit der Intuition zentraler Prozesse der Philosophiegeschichte verknüpfte. So reicht es, will man beispielsweise Nietzsches Beziehung zu Kant, Schelling oder Hegel rekonstruieren, nicht aus, sich auf seine direkte Auseinandersetzung mit diesen Denkern zu beschränken, sondern es gilt mit viel Geduld die Steinchen eines vielgestaltigen Mosaiks mit Materialien von oft geringem Wert zusammenzusetzen, die Formen ihrer Ineinanderschachtelungen nachzuvollziehen und von diesem Mosaik auf die großen Themen von Nietzsches Auseinandersetzung mit der Tradition der abendländischen Metaphysik zurückzugehen. Neben Friedrich Albert Lange erweist sich so Afrikan Spir als entscheidende Quelle und konstanter Bezugspunkt für die Herausbildung von Nietzsches Einstellung zu Kants Philosophie. Hinter der scharfen Polemik mit Eduard von Hartmann scheinen einige zentrale Probleme des Schellingschen Denkens auf, insbesondere die Forderung nach angemesseneren Methodologien, um ein fruchtbareres Verhältnis zwischen induktivem Denken und metaphysischer Spekulation herzustellen. Die Auseinandersetzung mit Friedrich Theodor Vischers nachhegelscher Ästhetik liefert schließlich eine erhellende Spur, um Nietzsches Beziehung zu Hegels Geschichtsphilosophie genauer zu untersuchen. Auf diese Weise erscheint es – wie ich zu zeigen versucht habe – weniger erstaunlich, dass Nietzsche die Geburt der Tragödie als Fortsetzung der ‚grandiosen Initiative‘ interpretierte, die durch die Hegelsche Dialektik eingeleitet wurde. In dem Moment, da man die Erkenntnistragödie als eigentlichen Kern der Geburt der Tragödie betrachtet und die Analyse der nachgelassenen Fragmente und der Lektüren die große Ausstrahlungskraft dieses Kerns auf spätere Momente von Nietzsches Denken verdeutlicht – dabei seine grundsätzliche Einheitlichkeit und Kohärenz jenseits aller Wendepunkte zu Tage fördernd – tritt ein weiterer Aspekt seines Denkens mit Nachdruck hervor: Das Griechentum verliert, sei es als ästhetische, sei es als historische Kategorie, den normativen Charakter, auf dem die gesamte Querelle des anciens et des modernes bis zu ihren ferneren Ausläufern in der Weimarer Klassik und darüber hinaus beruht hatte. Diese Überwindung ist um so folgenschwerer, als Nietzsches Denken stets von einer fast verzweifelten Befragung hinsichtlich der tatsächlichen Möglichkeiten, den normativen Charakter des Griechentums als Fundament jeder authentischen Kultur zu bewahren, durchzogen war. Die Befragung bewegt sich daher in eine zweifache Richtung. Einerseits ist sie wesentlich in der
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Moderne, der Erforschung ihrer labyrinthischen Wege und verborgensten Tendenzen verwurzelt, andererseits führt das Bewusstsein der Moderne zur Betrachtung der verhüllteren Grundlagen der griechischen Kultur aus neuen Blickwinkeln und zur Beeinträchtigung jedes oberflächlichen, rein dekorativen Bildes dieser Kultur. Die Überwindung des normativen Charakters des Griechentums als ästhetische Kategorie hat tiefe Auswirkungen auf die Geschichtsauffassung: Das Werden ist jeder teleologischen Betrachtung entzogen, wird nicht länger als Rückkehr – mit Hilfe des Bewusstseins und der Vernunft – zu einer ursprünglichen Kultur von außergewöhnlicher Schönheit und vollendeter Harmonie konzipiert. Nietzsche unterzog jede lineare Auffassung der Geschichte als fortschreitende Entwicklung des Geistes einer scharfen Kritik, denn der Fortschrittsglaube erschien ihm wie ein nach wie vor überlebendes, tief verwurzeltes Vertrauen in eine höhere Vorsehung, das eine wesentliche Verantwortungslosigkeit des Menschen im Verhältnis zu seiner Aufgabe einer aktiven Bestimmung der historischen Realität nach sich zog. Besonders scharfsinnig enthüllte Nietzsche das Fortleben theologischer Überreste in den Denkgrundlagen der Moderne. Seines Erachtens war der Mensch noch nicht fähig, die Wahrheit selbst als Problem, als Interpretationsergebnis zu betrachten. Aus diesem Blickwinkel konnte die Geschichte nicht länger als Entwicklung des Geistes betrachtet werden, der sein Erkenntnisnetz immer weiter ausbreitet und immer weitere Bereiche der Wahrheit erfasst. Nietzsches Kritik an einer so gearteten linearen Geschichtsauffassung barg indes keine Flucht vor der historischen Wirklichkeit. Die fast trostlose Konzeption eines jeder Möglichkeit einer höheren Erklärung entzogenen Werdens präsentierte sich als Resultat eines weiteren Entwicklungsschubs der Modernisierung und des mit ihr verknüpften kritischen Bewusstseins, das schließlich zu einer radikalen Hinterfragung der eigenen Grundlagen gelangt war. Dieser weitere Modernisierungsschritt ging bisweilen fast unmerklich mit einer pragmatischen Haltung gegenüber der Geschichte einher, das heißt, das Werden wurde als Chaos gegensätzlicher Kräfte und Tendenzen konzipiert, das es zu organisieren galt, um die in ihnen enthaltenen Energien möglichst zweckmäßig zu nutzen. Freilich verlieh Nietzsche dieser Formel einer Organisation des Chaos keine unmittelbar politische oder ökonomische Bedeutung; dennoch sollte seine Umwertung, die die Realität konzipiert, „wie sie ist“ (vgl. KSA 6, S. 370), einen Gegenentwurf zu dem „schauerlichen Leichtsinn“ (KSA 6, S. 374) darstellen, mit dem man bislang an alle Dinge, „die Ernst im Leben verdienen“ (ebd.), herangegangen war. Zu diesen Dingen zählten nach Nietzsches Ansicht eine ganze Reihe von Mikro-
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strukturen, die unser Leben tief gehend beeinflussen, etwa die Fragen von „Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Setter“ (ebd.). Diese Aufzählung mag willkürlich und seltsam erscheinen und könnte leicht durch andere Hinweise ersetzt werden, doch spiegelt sich darin eine ‚operative‘ Tendenz wider, die der von Nietzsche vertretenen Geschichtsauffassung nicht gänzlich abgesprochen werden darf: Die Überwindung der Selbstbespiegelung der Vernunft als bestimmendes Element des Fortschritts implizierte nämlich eine betontere Aufmerksamkeit für all jene Bereiche der Mikrogeschichte, die bis dahin verächtlich als nebensächliche Elemente im Geschichtsverlauf angesehen worden waren. Sicherlich ist diese pragmatische Tendenz nicht die entscheidende innerhalb von Nietzsches Geschichtsauffassung, die ihr eigentliches Fundament vor allem im Verhältnis zwischen Werden und Nihilismus fand: Ein Werden ohne jegliche ordnende Regel erscheint als Aufeinanderfolge gleichbedeutender Momente; in seinem Inneren wirken widerstreitende Kräfte und Möglichkeiten, die neue Gleichgewichte finden müssen. Das Problem der Geschichte führte so zur Idee einer Ewigen Wiederkunft, das heißt zur Fähigkeit des Menschen, in seinen Handlungen und Verhaltensweisen auch die gesamte Vergangenheit neu zu durchleben; die Verantwortung für eine Handlung erstreckt sich daher nicht nur auf ihre Folgen, sondern die ganze Last der vergangenen Geschichte ruht auf ihr. Von ihrer leeren Sinnlosigkeit kann diese Last nur durch die Schaffung jener höheren Geschichte „als alle Geschichte bisher war“ (KSA 5, S. 481) befreit werden, die der tolle Mensch als Folge des Todes Gottes imaginiert hatte. Im vorliegenden Band wurde dieses Verhältnis zwischen neuer Geschichtsauffassung und dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr nicht direkt analysiert, dafür jedoch Nietzsches Wahrnehmung einiger großer Epochen der Geschichte untersucht: seine Einstellung zur Renaissance, zur Aufklärung sowie zu einigen Aspekten der Weimarer Klassik. Diese Untersuchung lässt die Gedankenkette hervortreten, die Nietzsche mühsam konstruierte, um schließlich erneut im Griechentum einige Triebkräfte des historischen Werdens zu erblicken, die er in ihrer ursprünglichen Reinheit und wesentlichen Authentizität zu erfassen suchte. Der von Nietzsche beschrittene Weg kann wie ein rückwärts gerichteter Weg erscheinen, doch konnte er de facto nur durch die volle Entfaltung der Triebkräfte der Moderne zu seiner Idee der Klassik gelangen; insbesondere machte dieser scheinbar rückwärts gerichtete Weg einen Wendepunkt deutlich, der nach Nietzsches Ansicht eine wahre historische Zäsur darstellte, nämlich die ausgebliebene Reform des Griechentums, die nicht verwirklichte Möglichkeit eines höheren philosophischen Lebens, von denen ich bereits sprach. In der Perspektive einer möglichen Überwindung dieser tiefen Zä-
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sur wurden Renaissance und Aufklärung von Nietzsche als interdependente Momente aufgefasst, durch den Versuch miteinander verbunden, jene höhere Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft, Kultur und Leben, die die Vorsokratiker intuiert hatten, in neuen Formen zu gestalten. Innerhalb dieser umfassenderen historischen Konstellation, die Nietzsche entwirft, wird die wesentliche Umwandlung seiner Idee der Aufklärung und der Freien Geister verständlich, die sich nach 1883 vollzog, wie auch die – gemäß einer treffenden Definition von Giuliano Campioni – „konzeptionell relevanten“ Figuren wie Cesare Borgia, in denen Nietzsche bisweilen seine komplexe Geschichtsauffassung in der Gedrängtheit eines Symbols zu resümieren suchte, klarere Konturen erlangen. Durch diese Transformation des historischen Bewusstseins lässt sich Nietzsches Standort im philosophischen Diskurs der Moderne genauer bestimmen. In seinem Denken vollzieht sich kein Übergang von einer demaskierenden Vernunftkritik zu einer Dimension des Mythos oder zum Anderen der Vernunft. Eher wird gerade die Vernunft so weit auf die Spitze getrieben, dass sie schließlich sich selbst und ihre Erkenntnismodalitäten zu problematisieren vermag; diese Problematisierung vollzieht sich in erster Linie durch die Auslotung der Sprache und ihres Ausdrucksvermögens. In den Zusammenhang dieser Untersuchung gehört auch der Mythos, den Nietzsche an einigen Stellen als Potenzierung der Sprache interpretierte – eine Potenzierung, die das geheime, von Wörtern und Ausdrucksformen im labyrinthischen, dynamischen Spiel ihrer Wechselbeziehungen geflochtene Gewebe hervorscheinen lässt. Aus dieser Perspektive besehen bildet Nietzsches Denken ein exemplarisches Zeugnis jener weiteren Konstellation „Hegel und die Griechen“, in der – nach Heidegger – Anfang und Vollendung der Philosophie sich treffen. Vollendung der Philosophie bedeutet keineswegs das Ende des Denkens, sondern das Bewusstsein, dass das Denken selbst auf dem Spiel steht, wenn die Einheit der Philosophie in selbstständige Forschungsbezirke zu zerfallen droht, die zunehmend den Entwicklungsanforderungen der technischen Welt unterstellt sind. Ich verzichte im vorliegenden Band auf eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Formen, in denen sich dieses Denken am Ende der Philosophie äußern kann, was im Falle Nietzsches vor allem erfordern würde, die verschiedenen Formen eines komplexen Prozesses der Selbstüberwindung sowie der ‚Denkfiguren‘, in denen er seinen Niederschlag findet – der Übermensch, der Tod Gottes, der Wille zur Macht, die Umwertung, die ewige Wiederkunft –, eingehend zu analysieren. Auch in diesem Fall hat sich die in dem Band verfolgte historische Interpretationsmethode auf wenig beschrittene Nebenwege gerichtet, von denen sich, aus
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der Distanz, mögliche Vergleiche zwischen Nietzsche und anderen großen ‚Namen‘ der Moderne wie Marx, Darwin oder Freud ziehen lassen. Mit diesen Vergleichen wird keinerlei systematisches Anliegen verfolgt, doch gestattet das feine Filigran der Geschichte, das die Untersuchung dieser Nebenwege ans Licht bringt, eine genauere Inblicknahme der für Nietzsches Denken prägenden ständigen Überlagerung von historischer Kontingenz und Vollendung der Metaphysik. Nietzsches Denken und intellektuelle Biographie verwandeln sich dergestalt in ein Prisma, in dem vielgestaltige Bestrebungen anderer kultureller und politischer Tendenzen seiner Zeit zusammenlaufen: die Wagner-Kreise und ihr Streben nach einer Neudefinition der Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, die jungen Wiener Studenten des Pernerstorfer Kreises und ihre Auseinandersetzung mit der Krise des Liberalismus, Franz Overbeck und seine Überwindung der nachhegelschen Theologie, Malwida von Meysenbug und ihre Freundschaften zu den Hauptvertretern der Revolutionsbewegungen von 1848 sowie zur frühen Frauenbewegung, die schüchternen Keime einer geistigen Bohème, die in Berlin um Paul Rée und Lou Salomé entstand, die zweideutige Verflechtung von Kolonialismus, Sozialismus und Antisemitismus bei Bernhard Förster, die Überwindung des Realismus und die kosmopolitische Öffnung von Georg Brandes. Diese Aufzählung könnte lange fortgesetzt werden; herauszustellen ist aber vor allem, dass sich dank der sorgfältigen Rekonstruktion dieser oder anderer Mikrogeschichten Nietzsches ‚Abstand‘ zu der jeweiligen historischen Kontingenz, mit der er sich befasst, genauer abmessen lässt. Mit Hilfe der historischen Analyse kann also diejenige Dimension seines Denkens genauer umschrieben werden, die über die Geschichte selbst hinausgeht bzw. ihre Kategorien so sehr ausweitet, bis Nietzsche darin unmerklich die Momente einer allgemeineren Vollendung der Metaphysik aufspürt. Dies betrifft in erster Linie die Idee der Umwertung in ihrer ganzen Komplexität, denn die Umwertung wird von Nietzsche als Resultat eines schwierigen Prozesses der Selbstüberwindung konzipiert, der sich mittels der vollen Entfaltung der ethischen Spannung und vernunftmäßigen Erkenntnis vollzieht. Jede Tugend verwirklicht sich erst, wenn sie sich selbst und ihre eigenen Ursprünge zu hinterfragen vermag; an diesem Punkt ist sie zu einer so eingefleischten Gewohnheit in der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt geworden, dass sie wie ein automatisches, fast instinktives Verhalten verinnerlicht und gespeichert werden kann. In diesem Sinne kann sie aber – wie alles Gute und Fruchtbare – unterdrückt werden, weil sie ihre höchsten Instanzen verwirklicht und dadurch neue Energien freigesetzt, ein reicheres, freieres, spontaneres Leben ermöglicht hat. Auf vergleichbare Weise gelingt es der
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Vernunft nach Nietzsche, die Wirklichkeit in ihrer Tatsächlichkeit zu denken, ohne sich ihr entfremden zu müssen. Die Umwertung stellt sich in diesem Fall als Umschreibungsprozess der traditionellen Begriffe dar, in dem der gleiche Zeichenausdruck verwendet, gleichzeitig jedoch die innere Problematik dieser Begriffe enthüllt wird. Das Endergebnis dieser Umschreibung ist letztlich der Konstruktionscharakter der Wahrheit als Schaffen. Aus der Perspektive einer so gedeuteten Umwertung erlangt selbst der Wille zur Macht eine andere Bedeutung innerhalb von Nietzsches Denken. Insbesondere erscheint seine Behauptung engstens mit der vollen Verwirklichung der asketischen Ideale verknüpft, über die Nietzsche stetig nachgedacht hat. Dank des Asketentums ist es möglich, ein Gesamtbewusstsein der Menschheit zu erreichen und die Grenzen des Egoismus zu überwinden, wobei diese Überwindung mit der Reinheit des Herzens zusammenfällt, die aus der Erlösung aus dem Geist der Rache entspringt. Diese Erlösung ist zugleich das Ergebnis einer vollkommenen Einverleibung der Erkenntnis, der es nun gelingt, die Wahrheit selbst als Resultat eines Willens zur Macht zu problematisieren. Allerdings darf diese Macht keinesfalls mit dem Herrschen verwechselt werden, was einfach ein „Schächern und Markten um Macht – mit dem Gesindel“ ist (KSA 4, S. 125). Die Macht, an die Nietzsche denkt, ist durchaus kein Ausdruck eines Herrschaftsapparats oder eines Apparates der Sozialkontrolle, sie wird nicht in einem politischen oder sozialen Sinn verstanden, sondern deckt sich mit dem „Gesetz der notwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ (KSA 5, S. 410), das gerade die asketischen Ideale ans Licht gebracht haben. Die unauflösbare Verbindung zwischen Asketentum und Willen zur Macht spiegelt sich in Nietzsches Auffassung des Individuums wider. Auch in diesem Fall wird die Unterscheidung zwischen den Individuen, ihre ‚Hierarchie‘, nicht in gesellschaftlichem Sinne verstanden. Der Unterschied entspringt im Wesentlichen der Fähigkeit, den Gedanken der Ewigen Wiederkehr zu ertragen bzw. jene Philosophie der Gleichgültigkeit zu verinnerlichen, die mit der vollen Entfaltung der Erkenntnis zusammenfällt. Letztlich bemisst sich die Überlegenheit eines Individuums also nach seinem spezifischen Verhältnis zu den asketischen Idealen: Nietzsche predigt keinen neuen Kult der Stärke und Macht als Eigenschaften eines außergewöhnlichen Individuums, sondern steckt die Existenzmöglichkeiten für ein Individuum, das sein Leben als Experiment verfasst, ab. Dieses höhere Individuum, Resultat einer langen, komplexen Geschichte von Selbstüberwindungen, welche die europäische Kultur und die abendländische Metaphysik im Verlauf ihrer jahrtausendelangen
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Geschichte vollzogen, zeichnet sich durch eine tiefe Fragilität aus, schwebt in ständiger Gefahr des inneren Zusammenbruchs. Dieses höhere Individuum ist nach Nietzsches Ansicht also deshalb ein solches, weil es sich – mit einem Verfahren der Selbst-Dekonstruktion, die nur Kafka mit ähnlicher Intensität zu durchleben verstand – auf einen Schatten zu reduzieren versteht; der Schatten, der mit halber Stimme und mit den stillsten Worten spricht, formuliert „Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen“ (KSA 4, S. 189), um die sich die Welt „unhörbar“ dreht (KSA 4, S. 169). Die im vorliegenden Band geleistete Rekonstruktion einiger Momente der frühen Nietzsche-Rezeption will zum Verständnis dieses feinen Filigrans der Geschichte beitragen, das sich unhörbar hinter den ‚großen Ereignissen‘ der „Erfinder von neuem Lärme“ (ebd.) verbirgt. Die biographischen Erlebnisse – die Krankheitserfahrung – und die verwickelte Editionsgeschichte seiner letzten Werke von 1888 trugen mächtig dazu bei, Nietzsche selbst in einen hohlen „Erfinder von neuem Lärme“ zu verwandeln, bis Hellsichtigkeit und Halluzination im Jahre 1888 schließlich in einem unentwirrbaren Geflecht verschwammen. Genau zu dem Zeitpunkt entwickelte Nietzsche – mit der Vorausahnung einer allgemeinen Krise der Gleichgewichte in Europa aufgrund des von Bismarck auferlegten bewaffneten Friedens, mit der Voraussicht eines jeglichem Experiment feindlich gesonnenen geistigen Klimas und der verschwommenen Wahrnehmung neuer Horizonte für eine künftige geistige Aristokratie, die erst noch entstehen musste – eine beängstigende Sensibilität für die bevorstehende, unumkehrbare historische Krise des alten Europas. Diese Sensibilität wurde jedoch durch den Willen überlagert, eine entscheidende Wende in der Vollendung der Metaphysik herbeizuführen, und viele der unheilvollen Missverständnisse, die über Nietzsches Denken hereinbrachen, wurden durch eben diese konfuse Überlagerung zwischen Geschichte der Metaphysik und einer begrenzten, klar umschriebenen historischen Kontingenz verursacht. Die Analyse einiger Momente der frühen Nietzsche-Rezeption, in denen eine begrenzte intellektuelle Elite durch die Auseinandersetzung mit den Werken des Philosophen, der damals dem breiten Publikum noch unbekannt war, die eigenen Horizonte und Perspektiven abzustecken suchte, gestattet es, Nietzsche selber außerhalb dieser konfusen Überlagerung und dieser unheilvollen Missverständnisse neu zu lesen. Die Begegnung der jungen Wiener Intellektuellen mit Nietzsche fiel mit einer entscheidenden Wende in seinem Denken und der Überwindung seines jugendlichen Wagnerianismus zusammen. Der scharfe Gegensatz zwischen dem europäischen Kosmopolitismus des Freigeistes und dem pangermanischen Nationalismus von Siegfried Lipiner und seinen Freunden lässt in
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nuce entscheidende Kontraste der kulturellen und politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervortreten. Betrachtet man die schwierige Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive der lebhaften Debatten, die damals innerhalb jenes eng begrenzten Wiener Studentenzirkels geführt wurden, so scheint sie sich fast auf einen unschuldigen Streit zwischen verschiedenen Fraktionen der Studentenschaft zu reduzieren, stets bereit, sich zu spalten oder neue, unvorhersehbare Verbindungen einzugehen. Nicht anders verhält es sich diesbezüglich mit der Geschichte der um die École Normale versammelten jungen Protagonisten, die mit Nachdruck die Revision des Dreyfus-Prozesses forderten. Auch in diesem Fall gingen aus den verschiedenen Fraktionen, die innerhalb der anfänglich unter ein und demselben Zeichen geeinten Studentenbewegung aufeinander prallten, unheilbare politische und ideologische Gegensätze mit nicht selten tragischem Ausgang hervor. Die Geschichte von Kessler nahm ebenfalls kein grundsätzlich anderes Ende: Die geistigen Energien, die der jugendlichen Begegnung mit Nietzsches Ideen entsprungen waren, wirkten als lebendiges Ferment in der Darstellung des tragischen politischen und intellektuellen Werdegangs von Walter Rathenau fort, dessen Biographie Kessler verfasste. In seiner teilnahmsvollen Darstellung von Rathenaus Leben, in dem er einige charakteristische Züge seiner eigenen Biographie reflektierte, schuf der Autor mit großem Scharfsinn eine repräsentative Geschichte der Weimarer Republik, dabei – nicht zuletzt durch eine indirekte Auseinandersetzung mit Nietzsche – die künftige Entwicklung neuer politischer und gesellschaftlicher Horizonte vorausahnend. Diese künftigen Entwicklungen blieben angesichts der Krise der zerbrechlichen Weimarer Republik jedoch im Stadium vager Projekte und vermochten in keiner Weise jener Trübung und Verunreinigung von Nietzsches Gedanken Einhalt zu gebieten, die, wie Kessler mit tiefer Bitterkeit beobachtete, vor Hitlers Machtantritt in den Bayreuther Kreisen und im Nietzsche-Archiv um sich griffen. Die genaue Betrachtung dieser Mikrogeschichten der Nietzsche-Rezeption führt uns somit dazu, den schwierigen, doppeldeutigen Prozess der Umformung von Nietzsches Denken in eine konkrete geschichtliche Erfahrung mit großer Vorsicht zu deuten: Fraglos verweist der Horizont von Nietzsches Denken letztlich auf die volle Behauptung der Geschichte und des Werdens, doch vermag dieses Denken im konkreten Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der menschlichen Erfahrung keine tatsächlich gehbaren Wege aufzuzeigen. Diese tiefe Kluft zwischen Denken und Geschichte verweist unmittelbar auf unsere Verantwortung als Intellektuelle; ihre Überwindung bleibt – über Nietzsche hinaus – unsere Aufgabe.
Erster Teil Der musiktreibende Sokrates. Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche
Kapitel 1 Ästhetik und Erkenntnistragödie. Zur Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie In einem Fragment aus dem Jahre 1881, das nach der mit Menschliches, Allzumenschliches vollzogenen Wende in verschiedener Hinsicht eine langwährende Reflexion über Die Geburt der Tragödie einleitet, verwehrt Nietzsche sich nachdrücklich gegen jede Interpretation, die seine geistige Entwicklung einfach als eine Aufeinanderfolge gegensätzlicher, miteinander unvereinbarer Positionen darstellt. Zugleich lässt er hier etwas von den inneren Qualen durchscheinen, die die schwierige Entstehung seines ersten Werkes begleitet hatten und seines Erachtens tiefe Spuren in dessen Struktur und Sprache hinterlassen haben. Sie machen’s sich leicht und suchen mich aus dem Übergange in’s andere Extrem zu verstehen – sie merken nichts von dem fortgesetzten Kampfe und den gelegentlichen wonnevollen Ruhepausen im Kampfe, merken nicht, daß diese früheren Schriften solchen entzückten Stillen, wo der Kampf zu Ende schien, entsprungen sind und wo man über ihn schon nachzudenken und sich zu beruhigen begann. Es war eine Täuschung. Der Kampf ging weiter. Die extreme Sprache verräth die Aufregung, die kurz vorher tobte und die Gewaltsamkeit, mit der man die Täuschung festzuhalten suchte. (KSA 9, S. 432)
Dieses Fragment stellt eine der ausdrücklichsten Äußerungen Nietzsches über den Entstehungsprozess seiner frühen Werke dar, insbesondere der Geburt der Tragödie. Unter der bisweilen regelrecht begeisterten Emphase, mit der er seinen scheinbar über jeden Zweifel erhabenen Überzeugungen Ausdruck verlieh, verbarg sich in Wahrheit ein tiefer innerer Konflikt und ein verzweifelter Wille zur Selbsttäuschung. Was die Sprache von Die Geburt der Tragödie enthüllt, ist lediglich der äußere Niederschlag einer fortgesetzten Reflexion, die sich in je unterschiedliche, ja entgegengesetzte Richtungen bewegte. Sie ist folglich das vorläufige Resultat eines zerbrechlichen momentanen Gleichgewichts, das immer wieder in Frage gestellt wurde. Die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte Kritische Gesamtausgabe hat diesen vielschichtigen, polyvalenten Charakter von Nietzsches Denken durch die Rekonstruktion jener ‚Kette‘, die Werke, vorbereitende Fragmente und Vorlesungen untereinander verbindet, zu Tage gefördert. Sie hat neue Interpretationsperspektiven eröffnet, indem
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sie die unzähligen Facetten seines Denkens sichtbar gemacht und den allgemeinen Kontext erhellt hat, in dem die einzelnen Werke sich als vorläufige Ergebnisse eines unablässigen Reflexionsprozesses ansiedeln. Die vielfältigen Schichten sich wechselseitig überlappender Motive und Themenkomplexe werden hier zugänglich gemacht. Neben den vollendeten Werken mit ihren je eigentümlichen, eindeutig festgelegten Merkmalen tritt ein dichtes Geflecht von Querverbindungen und Verweisen zwischen Texten und Fragmenten hervor. Dieser ‚Extratext‘ ist bisweilen kaum merklich als Feld latenter Spannungen, als dynamisches Spiel gegensätzlicher Kräfte, als fließende Bedeutungsordnung gegeben. Die Geburt der Tragödie ist in dieser Hinsicht beispielhaft: Der Echoeffekt, der zwischen Fragmenten, Vorlesungen, Vorträgen oder vorbereitenden Schriften und dem endgültigen Text entsteht, bringt das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Themensträngen des Buches in Bewegung und lässt sein fein gestricktes Gewebe hervortreten. Bereits die äußere Entstehungsgeschichte des Werkes macht deutlich, welchen Schwierigkeiten der Autor bei seinem Versuch begegnen musste, drei unterschiedliche Themenblöcke, die Entstehung der griechischen Tragödie aus dem Chor, das Problem des Sokrates und die Anregungen durch Wagners Musik, in einem einzigen Werk zu verschmelzen. Sucht man diesen Weg nachzuvollziehen, so treten häufig Probleme in den Vordergrund, die bei einer ersten Lektüre zweitrangig erscheinen, so etwa die Bestimmung der lyrischen Dichtkunst, die Charakterisierung des dionysischen Dithyrambus oder das Verhältnis zwischen Dissonanz und ästhetischer Rechtfertigung der Welt. Schließlich ist der Versuch, die Idee einer Umwandlung der Wissenschaft in Kunst mit der Perspektive der Wiedergeburt einer neuen Mythologie dank der belebenden Wirkung von Wagners Musik zu verknüpfen, ausgesprochen gewagt und komplex. Schenkt man diesen Kontrasten die gebührende Aufmerksamkeit, so wird verständlich, wie die verschiedenen Motive der Geburt der Tragödie sich wieder voneinander lösen und durch die Überlagerungen und das Aufeinandertreffen mit Gedanken, die anderen Quellen oder Erfahrungen entspringen, neue thematische Verbindungen eingehen. Der lange Weg der Rückkehr zu Dionysos, der schließlich in Ecce homo gipfelt, verliert dergestalt den willkürlichen oder paradoxen Charakter eines Schwankens zwischen entgegengesetzten Polen und verweist statt dessen auf eine tiefere Einheit sowie einen wesentlicheren Zusammenhang des Problemhorizonts von Nietzsches Denken und seiner vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten. Die unerbittliche Strenge und leidenschaftliche Suche, denen die Geburt der Tragödie entspringt, werden sichtbar: Durch die Annäherung weit auseinander liegender Fachgebiete, eine außergewöhnliche Fä-
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higkeit, Erkenntnisinteressen und innere Erfahrungen zu verbinden, und eine große geistige Offenheit und Empfänglichkeit für die Intensität neuer künstlerischer Botschaften gelingt es Nietzsche, die ästhetischen und begrifflichen Kategorien, bei denen seine Reflexion ihren Ausgang genommen hatte, von Grund auf zu erneuern. Die beiden am 18. Januar und am 1. Februar in Basel gehaltenen Vorträge über Das griechische Musikdrama und Sokrates und die Tragödie bilden für den jungen Philologen die erste Gelegenheit zu einer Systematisierung der Ideen über die griechische Tragödie und das Drama der Zukunft, die ihn bereits im Winter 1868–69 in Leipzig, unter dem Eindruck der Begegnung mit Wagner vom 9. November 1868, beschäftigt hatten 1. In diesen Vorträgen findet sich noch keine explizite Theoretisierung des Kontrasts zwischen Apollinischem und Dionysischem, mit dem in emphatischen, fesselnden Tönen Die Geburt der Tragödie anhebt; erst in der Schrift Die dionysische Weltanschauung vom Sommer 1870 wird dieser Kontrast zum ersten Mal formuliert. Zwischen den beiden Vorträgen und dieser nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schrift – der Autor eignete lediglich Cosima Wagner ein Exemplar zu 2 – findet eine sehr bedeutende geistige Entwicklung statt, in der sich eine grundlegende Charakteristik der Geburt der Tragödie bereits andeutet. Die philologische Rekonstruktion der möglichen Ursprünge der griechischen Tragödie verbindet sich aufs engste sowohl mit den Anregungen, die Nietzsche durch Wagners Unterscheidung von Oper und Drama erhält, als auch mit der Vertiefung einer „auf Schopenhauers Bahnen wandelnden Philosophie“ (KSA 1, S. 572). Eine unauflösbare Verbindung von Kunst, Philosophie und Wissenschaft kennzeichnet Nietzsches Denken von Anfang an. Die Erforschung der griechischen Tragödie wird ihm zum Anlass, um ein mögliches 1
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Vgl. dazu den Brief von Heinrich Romundt an Nietzsche vom 4. Mai 1869 (vgl. KSA 15, S. 10), worin Romundt erwähnt, dass Nietzsches Gedanken über das Drama der Zukunft und das Verhältnis zwischen Musik und Philosophie unter den jungen Leipziger Philologen großen Widerhall gefunden hatten. Nietzsche hatte diese Gedanken bereits vor seiner Abfahrt nach Basel im Herbst 1868 dargelegt. Im übrigen verweisen die beispielsweise im Fragment 2 (16) vom Winter 1869–70 vorgetragenen Ideen über die „kleine Gemeinde dieser in allen Jahrhunderten zerstreuten und doch sich treulich die Hände reichenden Genien“ (KSA 7, S. 50) explizit auf eines der Hauptthemen des jungen Philologiestudenten aus Leipzig. Diese Gedanken werden zwar weiter ausgearbeitet und in einen neuen Zusammenhang gestellt, bilden jedoch auch während der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie weiterhin ein wichtiges Ferment. Unter dem Titel Die Geburt des tragischen Gedankens schenkte Nietzsche Cosima Wagner 1870 zu Weihnachten eine zweite Fassung der Dionysischen Weltanschauung, in der der vierte Abschnitt fehlt (vgl. KSA 15, S. 27). Im Winter 1870–71 beabsichtigte Nietzsche Die dionysische Weltanschauung als erstes Kapitel der geplanten Abhandlung Ursprung und Ziel der Tragödie zu benutzen und versuchte eine neue Einteilung in sieben Paragraphen. (vgl. KSA 14, S. 101; KGW III 5/1, S. 142 ff.)
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‚tragisches Denken‘ zu umreißen, das sich parallel zur großen hellenischen Kunst entwickelt habe und das es nun als fruchtbaren Vergleichsmaßstab für die zeitgenössische philosophische Debatte wiederzuentdecken gelte. So schlägt Nietzsche einen komplexen hermeneutischen Weg vor, um ‚das Urbild‘ der griechischen Tragödie in seinen tatsächlichen Zügen zu erraten, denn die Unterscheidung von Oper und Drama könne ein suggestives ‚Phantasiebild‘ hervorbringen. Dieses müsse jedoch dann sorgfältig untersucht und, seinen einzelnen Theilen nach, mit der Tradition des Alterthums zusammengehalten werden, damit wir nicht etwa das Hellenische überhellenisiren und ein Kunstwerk uns ausdenken, das nirgends in aller Welt eine Heimat hat (KSA 1, S. 518).
Den langen Prozess der Rezeption und Entstellung der ursprünglichen Tragödie nachzuvollziehen, bedeutet zwangsläufig auch, die hauptsächlichen ästhetischen Kategorien und die ihnen zugrunde liegenden allgemeinen philosophischen Auffassungen neu zu durchdenken. Das Problem der Tragödie ist daher von Anfang an engstens mit der erkenntnistheoretischen Wende verknüpft, die zur Durchsetzung der sokratischen Philosophie führte. Einerseits werden durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie folglich „die Wurzeln einer unbewußten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst“ (KSA 1, S. 516) wiederentdeckt, die durch das Vorherrschen der gelehrten literarischen Gattungen abgeschnitten waren; andererseits führt das Ende der Tragödie, das durch den bei Euripides überwiegenden sokratischen Rationalismus bedingt war, zur Wiederentdeckung einer ursprünglichen „Weisheit“ (vgl. KSA 1, S. 542), in der der Instinkt seine schöpferische Kraft nicht im Überhandnehmen einer abstrakten logischen Erkenntnis verliert. Die nachgelassenen Fragmente vom Herbst 1869 zeugen von dem großen Einfluss, den die Lektüre von Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten in dieser ersten Entstehungsphase der Geburt der Tragödie ausgeübt hat 3. Das Motto dieses Hartmannschen Werkes – „Speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode“ 4 – erlaubt es, zum einen den allgemeinen 3
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Zu Nietzsches Hartmann-Rezeption vgl. F. Gerratana, Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869–1874), in: „Nietzsche-Studien“ 17 (1988). Für die Ermittlung der Quellen in den Fragmenten der Jahre 1869–74 verweise ich zudem auf den bedeutenden von Mario Carpitella und Federico Gerratana besorgten Anmerkungsapparat zur italienischen Ausgabe der Opere di Friedrich Nietzsche, Bd. 3/3, Mailand, Adelphi, 1989–92. In diesem Apparat werden auch die von der italienischen Forschungsgruppe zur Nietzsche-Bibliothek und -Lektüre gesammelten Beiträge zur Quellenforschung systematisch berücksichtigt. E. von Hartmann, Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin, Carl Duncker’s, 1869, S. 10. Es verdient erwähnt zu werden, dass die Interpretation des
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Kontext zu verstehen, in dem der junge Nietzsche sich den Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Philosophie und Wissenschaft zuwandte, zum anderen seinen geistigen Ort innerhalb der nach-schopenhauerschen Philosophie genau zu bestimmen. In seinem Buch Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit hat Ernst Cassirer diese Situation sehr treffend dargestellt: Wenn Schopenhauer einerseits eine Metaphysik neu begründet habe, so habe er sie andererseits durch rein wissenschaftliche, vorwiegend psycho-physiologische Begründungen auf neue Grundlagen gestellt 5. Hartmanns philosophische Spekulation zielte auf einen Brückenschlag zwischen den allgemeinen Grundsätzen der philosophischen Auffassungen Schellings, Hegels und Schopenhauers und den bedeutendsten Ergebnissen der zeitgenössischen exakten Wissenschaften. Die Strenge der „inductiven exacten Methode“ sollte die „bisher bloß subjectiven Überzeugungen“ der großen idealistischen Tradition „zur objectiven Wahrheit“ erheben. 6 Anknüpfend an Hartmann gelingt es Nietzsche, die von Wagner erhaltenen Anregungen, seine Treue zu Schopenhauer und seine philologischen Kenntnisse auf originelle Weise fruchtbar zu machen für jenen Versuch der Verschmelzung von Philosophie und Wissenschaft, der eines der wichtigsten Kennzeichen der zeitgenössischen philosophischen Debatte bildete. Gleich auf der ersten Seite der Geburt der Tragödie werden das Apollinische und das Dionysische bezeichnenderweise als präzise „physiologische Erscheinungen“ bezeichnet. (vgl. KSA 1, S. 26) Eine besonders interessante Spur der Lektüre von Die Philosophie des Unbewussten findet sich in dem Fragment 1 (25) vom Herbst 1869. Darin beschreibt Nietzsche die durch den Sokratismus bewirkte Auflösung der tragischen Form als „Vernichtung der Form durch den Inhalt: richtiger der künstlerischen Arabeske durch die gerade Linie“ (KSA 7, S. 17). Mit denselben Worten hatte Hartmann die belebende Wirkung der Phantasie auf die einzelnen Elemente der sinnlichen Wahrnehmung beschrieben, aus denen das künstlerische Gebilde besteht. Auch die verwickeltsten Arabesken, auch „die wildesten Ausgeburten orientalischer Überschwenglichkeit“ könnten zergliedert und auf die „bekannten Elemente der gerade[n] Linie, des Kreises, der Elipse und anderer bekannte[r]n
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Dämonion des Sokrates als Projektion des Unbewussten, die sich zum Beispiel im Fragment 1 (43) vom Herbst 1869 findet (vgl. KSA 7, S. 21), bereits bei Hartmann vorkommt (vgl. a. a. O., S. 282). Vgl. dazu E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3, Die nachkantischen Systeme, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, S. 413–447. Vgl. E. von Hartmann, a. a. O., S. 10.
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Krümmungen“ 7 zurückgeführt werden. Nietzsche hatte das fünfte Kapitel des zweiten Teils von Hartmanns Buch, mit dem Titel Das Unbewusste im ästhetischen Urtheil und die künstlerische Production, offenbar aufmerksam studiert. Hartmann bezieht sich darin auf die ästhetischen Konzeptionen, die Schelling in den Schlussfolgerungen seines Systems des transcendentalen Idealismus formuliert hatte, und unterscheidet zwischen „handwerksmässiger“ und „künstlerischer“ Leistung. Während die erste durch eine bewusste, verständige Auswahl unterschiedlicher künstlerischer Elemente zustande komme, zeichne die zweite sich durch einen ‚Totaleindruck‘ aus, den nur die ‚Conception des Genies‘ als ‚göttlicher Wahnsinn‘, als ‚belebender Hauch des Unbewussten‘ hervorzubringen vermöge. Um diese Besonderheit des Genies, das als „müheloses Geschenk der Götter das Ganze aus Einem Guss“ 8 empfängt, näher zu bestimmen, verweist Hartmann auf Schellings Auffassung von der höheren Objektivität des Kunstwerks, die der Künstler ohne bewusste Intentionalität erreiche. Aus Fragment 1 (47) geht klar hervor, wie Nietzsche diese von Hartmann und indirekt von Schelling übernommenen Konzeptionen reflektiert, um Schopenhauers ästhetische Auffassung zu vertiefen und zu einer stärker persönlich geprägten Kunstauffassung zu gelangen. Was ist Kunst? Die Fähigkeit die Welt des Willens zu erzeugen ohne Willen? Nein. Die Welt des Willens wieder zu erzeugen, ohne daß das Produkt wieder w i l l . Also es gilt Erzeugung des Willenlosen durch Willen und i n s t i n k t i v . Mit Bewußtsein nennt man dies Handwerk. Dagegen leuchtet die Verwandtschaft mit der Zeugung ein, nur daß hier das Willensvolle wieder entsteht. (KSA 1, S. 23)
Nietzsche übernimmt von Hartmann die Unterscheidung von Handwerk und Kunst. Die Kunst entsteht demnach instinktiv, ohne Beteiligung des Bewusstseins; zugleich erreicht sie aber ihren höchsten Ausdruck, wenn es einem instinktiven Willen gelingt, ein Produkt hervorzubringen, das die Reproduktion des Willens ausschließt. In seinem Schelling und 7 8
Ebd., S. 216. Ebd., S. 217. Hartmann führte diese Auffassung der künstlerischen Objektivität explizit auf Schelling zurück (vgl. ebd., S. 218), während er die von Schopenhauer vertretene Theorie von der Negativität der Lust und seine Auffassung der Kunst als schmerzlose Freude des willenfreien Intellekts (vgl. ebd., S.540–543) ausdrücklich kritisierte. Interessanterweise implizierte diese Vorstellung des Verhältnisses zwischen Kunst und Unbewusstem eine andere Bewertung der Funktion von Enthusiasmus und Erstaunen für die Erkenntnis als sie in jenen Jahren Gustav Teichmüller vertrat. Diesbezüglich verweise ich auf meine Betrachtungen in Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, hg. von T. Borsche, F. Gerratana und A. Venturelli, Berlin/New York, de Gruyter, 1994; vgl. insbes. S. 298–301.
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Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches hat John Elbert Wilson die Hypothese aufgestellt, es bestehe ein direkter Zusammenhang zwischen einigen sprachphilosophischen Auffassungen, die Nietzsche im ersten Teil seiner im Wintersemester 1869–70 gehaltenen Vorlesungen über lateinische Sprache darlegte, und einer wichtigen Behauptung Schellings: „Die Natur fängt bewußtlos an, und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig, wohl aber das Produkt“9. Auch das zitierte Fragment über die Kunst enthält Anklänge an die schellingsche Unterscheidung von Produktion und Produkt. Jedenfalls aber weist es auf eine wichtige Forschungsrichtung des jungen Nietzsche im Bereich der Ästhetik hin, die schließlich in der Ablehnung einer naiven Auffassung der epischen Dichtung Homers gipfelte. Die Ausdruckskraft der griechischen Tragödie führt seines Erachtens nicht zu einer archetypischen Welt ursprünglicher Reinheit zurück, sondern ist das Resultat einer komplexen Brechung widerstreitender Triebe, die den Eindruck einer höheren, den krampfartigen Impulsen des Willens entzogenen Perfektion hervorrufen. Ein weiterer Gedanke taucht in den Fragmenten vom Herbst 1869 im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Philosophie des Unbewussten häufig auf, und zwar die – zumeist kritische – Anspielung auf den Weltprozess (vgl. KSA 7, S. 17; 21). Die Entwicklung, die von der ursprünglichen attischen Tragödie bis zu ihrem durch das Vorherrschen des sokratischen Rationalismus vorzeitig herbeigeführten Ende verläuft, stellt nach Nietzsche trotz ihrer zeitlichen Begrenztheit einen in sich abgeschlossenen historischen Prozess dar. In diesem historischen Prozess spiegele sich der allgemeine Weltprozess wider, den die abendländische Kultur und Zivilisation in ihrer tausendjährigen Geschichte durchlaufen hätten und der sich nunmehr erneut einem Endpunkt, einer unumkehrbaren Krise nähere, deren sichtbarstes Symptom die Vorherrschaft einer abstrakten logischen Erkenntnis sei. (vgl. KSA 7, S. 62) Bereits vor der Abfassung des neunten Kapitels seines Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, worin Nietzsche die von Hartmann geforderte „volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß“ 9
Vgl. J. E. Wilson, Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches, Berlin/New York, de Gruyter, S. 109. In seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik behauptete Nietzsche u. a., in Übereinstimmung mit Schelling: „Dies ist das eigentliche Problem der Philosophie, die unendliche Zweckmäßigkeit der Organismen und die Bewußtlosigkeit bei ihrem Entstehen“. Zu den Beziehungen zwischen Nietzsche und Schelling außerdem: Ernst Behler, Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Bd. 2, Paderborn/München/Wien/Zürich, Schöningh, 1993, S. 12–14, und Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 3 1991, S. 110–115.
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aufs schärfste angreift und als Paradebeispiel für jedes „Uebermaass von Historie“ (KSA 1, S. 323) hinstellt, hält er diese Hingabe für „eben so dumm als die individuelle Willensverneinung“ (KSA 7, S. 59). Obwohl er Hartmanns Anliegen, das Problem des Pessimismus neu zu betrachten, teilt, stellt diese Ablehnung der abschließenden Perspektive von Die Philosophie des Unbewussten eine wichtige Tendenz seiner Auseinandersetzung mit Hartmann dar, die sich zwischen Winter und Frühjahr 1870 herauskristallisiert. Beispielsweise weist die hellenische Religiosität Nietzsche zufolge eine Dimension des Lebens auf, die jenseits von Pessimismus und Optimismus liegt (vgl. KSA 7, S. 72). Mit großer Aufmerksamkeit spürt er der Eigentümlichkeit dieser Religiosität im zweiten Abschnitt von Die dionysische Weltanschauung nach. Zweifellos führt die fortschreitende Intellektualisierung der Welt und die gleichzeitige Verarmung der Instinkte zu jener Auflösung jeglicher Illusion, die in der Feststellung der Eitelkeit allen Geschehens gipfelt. „Alles ist eitel“: Was Hartmann als unvermeidlicher Endpunkt des Weltprozesses erschien 10, wird für Nietzsche dagegen zum Ausgangspunkt, von dem aus die griechische Tragödie eine höhere Rechtfertigung des Lebens zu entwickeln vermochte. Die Tragödie habe ein außerordentliches Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Schönheit erreicht, so dass die Schönheit über die Weltvernichtung triumphieren konnte, zu der die logische Erkenntnis und das nachfolgende Ende jeder Illusion unvermeidlich führten. Damit ihr dies gelingen konnte, habe sie ihre Ausdruckskraft dergestalt ausweiten müssen, dass ihre Symbolwelt erneut in die Sphäre des Unbewussten und Instinktiven zurückgeführt wurde. Um diese ungewöhnliche Möglichkeit der Schönheit näher bestimmen zu können, beginnt Nietzsche, eingehend über die künstlerische Sprache nachzudenken, wobei er auf der Grundlage der von Hartmann untersuchten unbewussten Übertragungsmechanismen zwischen Gefühlen und Gedanken Themen Wagners und Schopenhauers neu formuliert. Im vierten und letzten Abschnitt der Dionysischen Weltanschauung verbindet er die dem Hartmann’schen Werk entnommenen Betrachtungen über die Äußerung des Unbewussten in den Gefühlen zu einem organischen Ganzen. Hartmann hatte, etwa im Zusammenhang der Erforschung des Sehvermögens, zu zeigen versucht, dass sie zwar aus einer Reihe physiologischer Phänomene bestehe, sich jedoch nicht in der physischen Materialität dieser Phänomene erschöpfe; man müsse also von einem geistigen Grund oder einer Form des Willens ausgehen, die sich von dem bewussten Handeln eines Individuums unterscheidet. Seines Erachtens galt es die klare Unterscheidung zwischen Willen und Vorstellung 10
Vgl. E. von Hartmann, a. a. O., S. 539.
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zu überwinden, die Schopenhauers Philosophie gekennzeichnet hatte. Die Annahme eines unbewussten Willens, der beispielsweise in komplexen physiologischen Phänomenen wie der Wahrnehmung eine Rolle spiele, oder die Annahme instinktiver, der Sphäre des Bewusstseins entzogener Vorstellungen, erlaube es, so Hartmann, die beiden unterschiedenen Welten des Willens und der Vorstellung zusammenzuführen und die starre Trennung zwischen Geist und Materie aufzuheben. 11 Die Erforschung der Gefühle macht diese Verflechtung von Willen und unbewussten Vorstellungen besonders deutlich. Nietzsche folgt Hartmann in der Reduktion jeglichen Unterschieds zwischen Lust und Unlust auf eine rein „quantitative Verschiedenheit“ (KSA 1, S. 572), die sich auf eine breite Skala von Abstufungen stützt, entfernt sich jedoch von ihm, wenn er auf dem grundsätzlichen Unterschied zwischen einem einzigen Willen und einer „Unzahl begleitender Vorstellungen“ (ebd.) beharrt. Gerade dank dieser Radikalisierung des Hartmann’schen Gedankens vermag er jene lineare, eindeutige Übersetzung der Gefühls- in die Gedankenwelt in Frage zu stellen, die Hartmann zufolge die unverzichtbare Voraussetzung bildet, damit die Gefühle mitgeteilt werden können. Die Gedanken oder bewussten Vorstellungen kommunizieren nur einen Bruchteil des Gefühls; das Ausdrucksvermögen der Sprache und der logischen Begriffswelt erscheint Nietzsche klar begrenzt. Nachdrücklich unterstreicht er, dass auch auf dem Gebiet der begleitenden Vorstellungen ‚ein unauflösbarer Rest‘ des Gefühls unausgesprochen bleibe, und gerade auf diesen unübersetzbaren Rest gründet er die tragende Struktur seiner ästhetischen Konzeption. So stellt Nietzsche der von Hartmann ermittelten instinktiven Gebärdensprache auch eine Tonsprache zur Seite und konzentriert seine Aufmerksamkeit zugleich auf die Übertragungsmodalitäten, durch die das Unbewusste sich in den Gebärden äußern kann. Zum einen vertieft er die Analyse des psycho-physischen Substrats jeglichen Kommunikationsmechanismus: Die Gebärden seien durch „Reflexbewegungen“ bestimmt (ebd.), und die rein visuelle Kommunikation, die sie bedingten, beruhe auf einer Reihe von Nervenreaktionen, die beim Sehenden ausgelöst würden. Zum anderen erlaubt ihm diese physiologische Interpretation der Gebärdensprache, ihre potenzielle ästhetische Bedeutung herauszuarbeiten. Die Gebärden vermitteln nach Nietzsches Ansicht Symbole, 11
Ebd. Vgl. vor allem die Analyse der Materie (S. 424) und der Beziehung zwischen Wille und Vorstellung in Bezug zu derjenigen zwischen Geist und Materie (S. 31). Nietzsche hat insbesondere das Kapitel „Das Unbewusste im Gefühle“ berücksichtigt, auf das er sich explizit in den Fragmenten 3 (18), 3 (19) und 3 (20) von 1870 (vgl. KSA 7, S. 65 f.) bezieht, die dann im vierten Abschnitt von Die dionysische Weltanschauung wiederaufgegriffen und fortentwickelt wurden.
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sie bieten „ein ganz unvollkommnes, stückweises Abbild, ein andeutendes Zeichen“ (ebd.) jenes unübersetzbaren Restes des Gefühls, der in der gesprochenen Sprache und in der Begriffswelt nicht zum Ausdruck gelangt. So steckt Nietzsche durch die Neuinterpretation der Gebärdensprache einen grundlegenden Kommunikationsbereich ab, der ihm zufolge gänzlich instinktiv bleibt und sich der Herrschaft des Bewusstseins und des logischen Denkens entzieht. In dem Moment, da er im Vergleich zu Hartmann die Sphäre der ‚begleitenden Vorstellungen‘ ausweitet, die das psycho-physische Substrat jedes Lust- und Schmerzempfindens und jeder Gefühlsäußerung bilden, ermittelt er die Möglichkeit einer Sprache, in der der Wille sich in seiner Reinheit manifestiert und den Auflösungstendenzen der logischen Erkenntnis entgeht. Während die Gebärden die begleitenden Vorstellungen des Gefühls symbolisierten, sei der Ton „die instinktive Vermittelung“ (KSA 1, S. 574) des Willens selbst. Von der Rhythmik über die Dynamik bis hin zur Harmonie reinige sich der Wille von jeder Verschmelzung mit dem Schein, bis er das eigentliche Wesen des Willens symbolisiere. Die Musik bietet folglich die höchste Möglichkeit, um der Sprache ihre größtmögliche Ausdruckskraft zu verleihen und zugleich das begriffliche Universum in den Bereich des Instinkts zurückzuführen. So heißt es etwa in dem Fragment 3 (20), das den vierten Abschnitt von Die dionysische Weltanschauung vorbereitet: Symbol die Übertragung eines Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere. In der Musik fortwährender Übereinkommungsprozeß über die neue Symbolik: immerfort wird dieserwieder u n b e w u ß t (KSA 7, S. 66).
Dank dieser Interpretation der Ton- und Gebärdensprache gelangt Nietzsche zu seiner ästhetischen Konzeption, die auf der Unterscheidung des Apollinischen – als Prinzip der bildenden Kunst – und des Dionysischen – als Prinzip der Musik – beruht. Eine Sprachphilosophie, welche die Fähigkeit der Sprache, eine logisch begründete Wahrheit auszudrücken, in Frage stellt, ist in dieser ästhetischen Auffassung im Kern bereits angelegt. Die Sprache entstehe nämlich aus der fortschreitenden Versteinerung der lebendigen Einheit von Bild und Ton, welche die höchsten Äußerungen der Kunst kennzeichne. Die Begriffswelt könne nur dann Gestalt annehmen, wenn „bei dem Festhalten im Gedächtniß der Ton ganz verklingt“ (KSA 1, S. 576). Deshalb kann der Begriff das Wesen des Willens nicht ausdrücken, sondern beschränkt sich darauf, „das Symbol der begleitenden Vorstellung“ zu wahren (ebd.). 12 Diese ästhetische Konzeption ermöglicht nicht nur die Definition eines Ausdrucksbereichs, in dem der Begriff „ganz unmächtig“ (KSA 1,
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S. 575) ist, sondern sie beinhaltet zugleich eine höchst originelle Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Pessimismus und Optimismus, in Abgrenzung sowohl gegen Hartmann wie gegen Schopenhauer. Das Problem der Mitteilung des Gefühls impliziert die Erforschung der engen Beziehung zwischen Lust und Unlust, zwischen denen Nietzsche, wie gesagt, eine „nur quantitative Verschiedenheit“ sieht. Dadurch dass er jedoch eine Sphäre ausmacht, in der der Wille sich erneut instinktiv in seinem Wesen ausdrückt, zeigt er eine Möglichkeit auf, die Tendenz der Zerstörung jeder Illusion durch die logische Erkenntnis, die den Weltprozess unweigerlich dem Pessimismus eines universellen Ekels entgegenführt, umzukehren. Die Tragödie sei aus dem Kampf des hellenischen Willens „gegen das dem künstlerischen correlative Talent, zum L e i d e n und zur Weisheit des Leidens“ (KSA 1, S. 562) entstanden; der tragische Künstler sei dem Heiligen verwandt, denn „beide haben gemein, daß sie bei der hellsten Erkenntniß von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben können, ohne in ihrer Weltanschauung einen Riß zu spüren“ (KSA 1, S. 570). Das in der Tragödie zwischen Musik, Bild und Sprache hergestellte Verhältnis sichert dem Willen die Möglichkeit, den nihilistischen Folgen der Erkenntnis zu entgehen und eine höhere Rechtfertigung des Daseins zu behaupten, denn die Verschmelzung der Kunstmittel führt die logische Wahrheit zur ursprünglichen Sprache des Instinkts zurück und verwirklicht ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Schein. Die Neuinterpretation des Dionysischen, die aus dieser Auffassung der Tragödie folgt, macht deutlich, wie weit Nietzsche sich von dem naiven Vertrauen in die „Wurzeln einer unbewußten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst“ (KSA 1, S. 516) entfernt hat, das sich noch wenige Monate zuvor in Das griechische Musikdrama ausgesprochen hatte: 12 Wie in das apollinische Leben das dionysische Element eingedrungen ist, wie sich der Schein als Grenze auch hier festgesetzt hat, so ist auch die dionysischtragische Kunst nicht mehr „Wahrheit“. Nicht mehr ist jenes Singen und Tanzen instinktiver Naturrausch: nicht mehr ist die dionysisch erregte Chormasse die unbewußt vom Frühlingstrieb gepackte Volksmasse. Die Wahrheit wird
12
Diese Sprachphilosophie hängt mit der wichtigen Auffassung von der künstlerrischen Eingebung und der durch den Sprechgesang erreichten Steigerung des Gefühls zusammen, die Nietzsche am Ende von Die dionysische Weltanschauung darlegt. (vgl. KSA 7, S. 576 f.) In dieser Auffassung spiegelt sich eine Teleologie wider, die Nietzsche indirekt, über Hartmann, von Schelling übernimmt. Der Wille erreiche demnach seinen authentischsten Zweck durch das unbewusste Netz von Illusionen, in dem die Individuen befangen seien. Hartmann bezieht sich in diesem Punkt gerade am Anfang des Kapitels „Das Unbewusste in der Entstehung der Sprache“ (vgl. a. a. O., S. 227 ff.), das Nietzsche aufmerksam las, auf Schelling. Zum möglichen schellingschen Ursprung einiger Aspekte von Nietzsches Sprachphilosophie vgl. J. E. Wilson, a. a. O., S. 109–111.
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jetzt s y m b o l i s i r t , sie bedient sich des Scheines, sie kann und muß darum auch die Künste des Scheins gebrauchen. (KSA 1, S. 571)
Dank dieser Konzeption des besonderen Verhältnisses zwischen Wahrheit und Schönheit nimmt Nietzsche von der Vorstellung eines „erstrebenswerthen Nirwana“ Abstand und erblickt in der Kunst eine höhere Fortführung der Aufgabe, die der Wissenschaft „als Zerstörerin der Illusion“ eigne: Sie eröffne dem Willen durch „das b e w u ß t e Wollen des Lebens im Individuum“ (KSA 7, S. 69) eine neue Seinsmöglichkeit. 13 Die dionysische Weltanschauung stellt eine entscheidende Stufe bei der Entstehung jenes Werks über das Problem der Tragödie dar, das Nietzsche seit September 1870 in Form von „Gedanken zu ‚die Tragoedie und die Freigeister‘“ (KSA 7, S. 93) ausdrücklich ins Auge zu fassen beginnt. 14 Auch das Problem des Sokrates erlangt durch die Formulierung des Kontrasts zwischen Apollinischem und Dionysischem eine neue Bedeutung, denn mit dem Ende der Tragödie tritt an die Stelle des Kontrasts zwischen den beiden ästhetischen Prinzipien, aus denen sie entstanden war, derjenige zwischen Dionysischem und Sokratismus, zwischen dem zu einem Mysterienkult verkommenen mystischen Rausch und dem abstrakt-logischen Schematismus. Zu ihrer endgültigen Form findet Die Geburt der Tragödie bekanntlich im Verlauf des Jahres 1871, zum einen durch die Ausarbeitung der beiden Themenblöcke des Kontrasts zwischen Apollinischem und Dionysischem als Motor der Tragödie und ihres durch den Sokratismus bewirkten Endes, zum anderen durch eine Ausweitung, die die Möglichkeit eines ‚allmählichen Erwachens des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt‘ (vgl. KSA 1, S. 127) durch Wagners Gesamtkunst zu verdeutlichen sucht. In der Endfassung seines ersten Werks gelingt Nietzsche die Verknüpfung der historisch-philologischen und der ästhetisch-philosophischen Analyse, womit er sich jenem „Vorbild einer philologisch-philosophischen Betrachtung“ (KSA 7, S. 331) annähert, das er einmal in einer Untersuchung über Äschylos zu verwirklichen gehofft 13
14
In demselben Fragment 3 (33) spricht Nietzsche von unbedingter Unterwerfung „unter die Olympischen aus entsetzlichster Erkenntniß“ (KSA 7, S. 69). Das Fragment bereitet die bedeutende in Die dionysische Weltanschauung dargelegte Auffassung der Frömmigkeit vor (vgl. KSA 1, S. 570). Diese Auffassung macht die zutiefst christlichen Wurzeln der Enthüllung des Dionysischen als andere Ursprungsreligion des Schmerzes und der Lebensbehauptung deutlich. Außerdem geht die erkenntnistheoretische Vertiefung, zu der Nietzsche im Verlauf der Ausarbeitung von Die dionysische Weltanschauung gelangt, mit einer neuen Zeitauffassung einher. In Fragment 3 (10) erscheint die Erkenntnis zum Beispiel als „eine Schraube ohne Ende“, mit der jedes Mal eine neue Unendlichkeit beginne (vgl. KSA 7, S. 62). Für eine Beschreibung des komplexen Entstehungsprozesses der Geburt der Tragödie verweise ich auf den „Kommentar“ der KSA (vgl. Bd. 14, S. 41–43); vgl. zudem KGW III 5/1, S. 1441–1444.
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hatte. Diese Verschmelzung von Philologie und Philosophie wird durch eine präzise hermeneutische Strategie ermöglicht. Am Anfang steht eine komplexe Dekonstruktionsarbeit, ein ‚Stein um Stein Abtragen‘ (vgl. KSA 1, S. 34) der Entstellungen des ursprünglichen tragischen Phänomens, zu denen die lange Rezeptionsgeschichte der Tragödie und der von ihr abgeleiteten literarischen Gattungen geführt hatte. Diese historische Arbeit führt zu einer klaren „logischen Einsicht“ (KSA 1, S. 25) in das betrachtete ästhetische Phänomen. Von dieser Stufe der kritischen Untersuchung gilt es schließlich „zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung“ (ebd.) zu gelangen 15. Die Verknüpfung dieser drei unterschiedlichen Interpretationsdimensionen verläuft in verschiedener Hinsicht parallel zu der Umkehrung der Wissenschaft in Kunst und der Formulierung einer Auffassung der Kunst als „ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft“ (KSA 1, S. 96), die Nietzsche in der Figur des ‚musiktreibenden Sokrates‘ theoretisiert. Dieses Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst bringt uns zu jener „Metaphysik der Kunst“ (vgl. KSA 1, S. 152), die Nietzsche als eigentliche Begründung für das Entstehen des tragischen Phänomens ansieht. Die Fragmente vom Herbst 1870 und vom Winter 1871, insbesondere die in den Heften U I 3–3 a und U I 2 b gesammelten, erlauben genau zu verfolgen, welche Schwierigkeiten Nietzsche die Formulierung dieser Metaphysik bereitete, welche Probleme und Fragen er durch sie zu lösen hoffte, aber auch, welche Fragen offen blieben oder sich immer wieder aufs Neue stellten. Sie bieten folglich einen wichtigen Einblick in den ‚fortgesetzten Kampf‘, der nur durch ‚gelegentliche, wonnevolle Ruhepausen‘ unterbrochen wurde und nach Nietzsches oben zitierter Äußerung die mühselige Geburt seines ersten Werkes begleitet hatte. Den Ausgangspunkt von Nietzsches geistiger Entwicklung während der Abfassung der Geburt der Tragödie bildet die Vertiefung des Verhältnisses zwischen Instinkt und Bewusstsein sowie eine eingehendere Analyse der Übertragungsmechanismen zwischen Gefühlen und Gedanken. Nur durch „Wahnvorstellungen“ (vgl. KSA 7, S. 98), durch die der Wille seine eigentlichen Ziele verberge und das bewusste Wissen sich vortäusche, die Welt zu erkennen, lasse sich dieser Übergang vom Unbewussten zur logischen Erkenntnis erklären. Freigeist – in der ersten Bedeutung, in der Nietzsche den Begriff in dieser Zeit verwendet – sei derjenige, der Wesen und Entstehung solcher Wahnvorstellungen, die unweigerlich alle Aspekte des Lebens beherrschten, durchschaue. (Vgl. ebd.) Selbst die 15
Mit dem Verhältnis von Nietzsches Idee der intellektuellen Anschauung zu Schellings und Schopenhauers Philosophie beschäftigt sich J. E. Wilson, a. a. O., S. 68–74.
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Kunst führe zu Wahnvorstellungen zurück, denn in ihr stelle die Welt sich illusorischerweise als notwendig dar. (Vgl. ebd.) Doch sind die Wahnvorstellungen das Symptom eines allgemeineren Problems: des Problems der Verbindung von Wille und Vorstellung. Dessen Untersuchung wirft eine Reihe weiterer Fragen auf, wie die der individuatio, des Verhältnisses von Vielheit und Einheit, des Übergangs vom Sein zum Werden und der Zeitund Raumvorstellungen. Bei dem Versuch, diese Probleme genauer zu fassen, übernimmt Nietzsche von Hartmann die Idee eines Ureinen oder Urintellekts und vertieft sie auf seine Weise. Die monistische Auffassung des Ureinen, die sich in der Philosophie des Unbewussten ausdrückt, teilt er nicht, sondern macht statt dessen einige Überlegungen Hartmanns für die radikale Infragestellung der Souveränität der Vernunft und des Bewusstseins fruchtbar. Die Vorstellung vom Vorrang des Ichs und des bewussten Subjekts hatte Hartmann bereits durch die Hypothese eines einzigen Unbewussten, eines „alles umfassenden Individuums“ relativiert, denn ein jeder kenne nur „die an sich unbekannte psychische Ursache seines Bewusstseins“16. Durch solche Ursachen enthülle sich das Unbewusste indirekt; das Ich sei in gewissem Sinne nur das Produkt einer Vorherrschaft des praktischen Instinkts, der das wahre Verhältnis zwischen Wesen und Erscheinungswelt verberge. So gehört das Bewusstsein nach Hartmann nur zur Erscheinung; die Vielheit des Bewusstseins ist also nur eine Vielheit der Erscheinung des Einen. 17 Raum und Zeit gehören in den Bereich der Vorstellung der Erscheinungen, während das Unbewusste dieser Vorstellung entzogen ist, obgleich es ihre Voraussetzung bildet. Es gibt folglich keine Dinge an sich, „sondern nur Ding an sich im Singular“, „da alle Vielheit erst durch Raum und Zeit entsteht“ 18. Bezeichnenderweise bezieht sich Hartmann auf den späten Schelling und seine Kritik der Negativität von Hegels Philosophie, um diese Idee eines „unvordenklichen Seins“, eines „ausser und unabhängig vom Denken Seienden“ 19 zu begründen. Das Denken, die Idee, das Bewusstsein verlieren ihren Vorrang, erscheinen eng an das Subjekt gebunden, das sie denkt und setzt. Hartmann zufolge hat Schelling „die Existenz für das wahrhaft Uebervernünftige, was als Wirklichkeit nun und nimmermehr in der Vernunft, sondern nur in der Erfahrung sein kann“ 20, erklärt; die Natur und die Erfahrung erschienen Schelling daher als „das der Vernunft Fremdartige“ 21.
16 17 18 19
E. von Hartmann, a. a. O., S. 451. Vgl. ebd., S. 453. Vgl. ebd., S. 457. Vgl. ebd., S. 460.
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Diese Kritik am Vorrang der Vernunft und des Ichs, dieses Verhältnis zwischen einem ‚unvordenklichen Sein‘ und den Kategorien der Individuation und Vorstellung arbeitet Nietzsche weiter aus und macht sie zur Grundlage einer klaren Ablehnung des kantisch-schopenhauerschen 20 21 Idealismus: Die individuatio ist nun jedenfalls nicht das Werk des bewußten Erkennens, sondern jenes Urintellekts. Dies haben die kantisch-schopenhauerischen Idealisten nicht erkannt. Unser Intellekt führt uns n i e weiter als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch intellektueller Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen. Über diesen trägt kein Pfeil hinaus. (KSA 7, S. 111)
Wenn es aber wichtig ist zu verstehen, „daß die Individuation n i c h t die Geburt des bewußten Geistes ist“ (ebd.), so erscheint Nietzsche das Problem der Verbindung von Wille und Vorstellung doch nicht einfach durch die Hypothese einer direkten Übertragung des Unbewussten in unsere Gedanken- und Gefühlswelt lösbar. Der Täuschungscharakter der Vorstellung, ihr falscher Vorrang bei der Bestimmung unserer Erkenntnisfähigkeiten, der ihm als „ein naiver Anthropomorphismus“ (ebd.) erscheint, bewegen ihn dazu, für die Begründung einer möglichen Verbindung von Wille und Vorstellung erneut die Bedeutung der Symbole zu unterstreichen: Was ist das Bewußtwerden einer Willensregung? Ein immer deutlicher werdendes Symbolisiren. Die Sprache, das Wort nichts als Symbol. Denken d. h. bewußtes Vorstellen ist nichts als die Vergegenwärtigung Verknüpfung von den Sprachsymbolen. Der Urintellekt ist darin etwas ganz Verschiednes: er ist wesentlich Zweckvorstellung, das Denken ist Symbolerinnerung. Wie die Spiele des Sehorgans bei geschlossenen Augen, die auch die erlebte Wirklichkeit im bunten Wechsel durcheinander reproduziren, so verhält sich das Denken zur erlebten Wirklichkeit: es ist ein stückweises Wiederkäuen (KSA 7, S. 113).
Diese Entdeckung des Symbolcharakters der Sprache ist fraglos die fruchtbarste und folgenreichste für die weitere Entwicklung von Nietzsches Denken, doch vermag sie das Problem der Verbindung von Wille und Vorstellung nicht angemessen zu lösen, verschärft es vielmehr in verschiedener Hinsicht noch. Wenn nämlich die Vorstellung trügerisch ist, dann ist es kaum möglich, die Absichten und Ziele des Willens zu verstehen. Die Idee, auch den Willen auf eine Gesamtheit von Vorstellungen zurückzuführen, steht Nietzsches Reflexion noch fern. Dagegen denkt er bisweilen 20 21
Vgl. ebd., S. 459. Ebd. vgl. zudem die Auffassung der Materie und der Zeit, die Hartmann in demselben Werk darlegt. (S. 461).
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sehr scharfsinnig über die grundsätzliche Schwierigkeit nach, das Wesen des Willens genau von der Erscheinungswelt der Vorstellungen zu unterscheiden. Die uns mögliche Wahrnehmungsweise der Willensregung sei „nichts als eine reproduzirte Vergangenheit“ (ebd.); jedes Streben des Seins reduziere sich auf einen bloßen Schein, und die Zwecke des Willens selbst könnten sich im Individuum allein „als eine Reproduktion, ein Wiederkäuen des Erlebten im bewußten Denken“ (KSA 7, S. 114) manifestieren. Das macht es noch schwerer, von der unendlichen Vielheit der Vorstellungen zur Einheit des Willens zu gelangen: „die Vielheit liegt in den Dingen, weil der Intellekt in ihnen ist. Vielheit und Einheit dasselbe – ein undenkbarer Gedanke“ (KSA 7, S. 111). Auf einer allgemeineren Ebene stellt sich die Schwierigkeit, das Verhältnis zwischen Vielheit und Einheit angemessen zu denken, erneut, wenn Nietzsche z. B. versucht, das Verhältnis zwischen Werden und Sein zu erfassen; ähnliche Schwierigkeiten stellen sich in der Bestimmung der nicht willkürlichen und zufälligen Formen, in denen das Ziel des Willens in die ‚That‘ sich manifestiert. Im Fragment 5 (80) vom Herbst 1870 werden diese letzten Fragen, zu denen Nietzsche ausgehend von seiner Auffassung der Wahnvorstellungen und des Symbolcharakters der Sprache gelangt, in gedrängter Form zusammengefasst: Im Willen giebt es Vielheit, Bewegung nur durch die Vorstellung: ein ewiges Sein wird erst durch die Vorstellung zum Werden, zum Willen, d. h. das Werden, der Wille selbst als Wirkender ist ein Schein. Es giebt nur ewige Ruhe, reines Sein. Aber woher die Vorstellung? Dies ist das Räthsel. Natürlich ebenfalls von Anbeginn, es kann ja niemals entstanden sein. Nicht zu verwechseln ist der Vorstellungsmechanismus im sensiblen Wesen. Wenn aber Vorstellung bloß Symbol ist, so ist die ewige Bewegung, alles Streben des Seins nur S c h e i n . Dann giebt es ein Vorstellendes: dies kann nicht das Sein selbst sein. Dann steht neben dem ewigen Sein eine andre ganz passive Macht, die des Scheins - - Mysterion! (KSA, 7, S. 113–114)
Auf diese letzten Fragen über das Verhältnis zwischen Sein und Werden, Wille und Schein scheint nur die Kunst als „instinktive Erkenntniß vom Wesen jenes Leidens und Wahns“ (KSA 7, S. 120) eine Antwort geben zu können. Die Kunst als die „eigentlich metaphysische Thätigkeit“ (KSA 1, S. 24) des Lebens findet genau in der Konzeption des Ureinen und seiner Äußerungen in den Wahnvorstellungen und im Symbolismus der Sprache ihr Fundament. Um die mit der Verbindung von Wille und Vorstellung verknüpften Schwierigkeiten zu lösen, geht Nietzsche von komplexen Spiegelungen aus, durch die das Ureine sich in der Vision des künstlerischen Genius manifestiere. Er greift die Idee eines ‚Indifferenzpunktes‘ zwischen Lust und Unlust auf, die Hartmann in seiner Philoso-
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phie des Unbewussten formuliert hatte 22, und vertieft sie als möglichen Ursprung der künstlerischen Vorstellung. Die schmerzlose Verzückung des gemarterten Heiligen, die einen häufigen Reflexionsgegenstand in den Fragmenten vom Winter 1871 darstellt und die anregende Interpretation von Raffaels Transfiguration im vierten Abschnitt der Geburt der Tragödie vorbereitet, bietet das prägnanteste Beispiel für diesen Indifferenzpunkt, in dem der Schmerz durch die künstlerische Intuition aufgehoben wird. Der Schmerz geht in die Vision über, so dass der Gemarterte die ihm auferlegten Schmerzen nur als Visionsbilder empfindet. (vgl. KSA 7, S. 164; 215–216) Die Aufhebung des Schmerzes im Märtyrer bewegt Nietzsche zur Annahme einer allgemeineren Richtung der Kunst im Verhältnis zur Dissonanz, denn „die aus dem Indifferenzpunkte entstandene Welt des Schönen“ ziele darauf, „die Dissonanz als das an sich Störende mit in das Kunstwerk hinüberzuziehn“ (vgl. KSA 7, S. 166). Damit diese Richtung der Kunst sich voll entfalten kann, muss vor allen Dingen die Vision des Schmerzes selbst als Traumprodukt aufgefasst werden. Die Kritik an der Souveränität des Subjekts und des bewussten Individuums stützt diese Auffassung des Traums, auf die in der Geburt der Tragödie die gesamte Sphäre des Apollinischen zurückgeführt wird. So stellt Nietzsche fest: „Die Subjektivität der Welt ist nicht eine anthropomorphische Subjektivität, sondern eine mundane: wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die errathen wie er träumt“ (KSA 7, S. 165). Gleichzeitig erlaubt es das Verhältnis des künstlerischen Genius zum Ureinen, die Übersetzung des Willens in die künstlerische Vorstellung und die darin angelegte Möglichkeit der Überwindung des Schmerzes genauer zu fassen. Im Übergang vom Willen zur Vorstellung erzeuge der Wille „als höchster Schmerz“ (KSA 7, S. 166) aus sich eine Verzückung, die mit der höchsten Verzückung des reinen Anschauens und des Kunstwerks identisch sei. Im Verhältnis des Genius zum Ureinen findet die Spiegelung des Willens in der künstlerischen Vorstellung ihre vollendetste Ausdrucksform. Darin sind das Ureine und der Wille zugleich „höchster Schmerz und höchste Lust“ (KSA 7, S. 199). Der Wille vermag den Schmerz in dem Moment aufzuheben, da er eine ekstatische Vorstellung erzeugt, die den Widerspruch und den Schmerz von außen anschaut. Das Verhältnis zwischen dem künstlerischen Genius und dem Ureinen stellt zudem die angemessenste Verbindung von Wille und Vorstellung dar. Diesen Prozess beschreibt Nietzsche in dem bedeutenden Fragment 7(157) folgendermaßen:
22
Vgl. ebd., S. 192.
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Die Erscheinung als w e r d e n d e . Das U r e i n e schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als Erscheinung sieht: dies ist die Verzückungsspitze der Welt. Insofern aber der Genius selbst nur Erscheinung ist, muß er w e r d e n : insofern er anschauen soll, muß die Vielheit der Erscheinungen vorhanden sein. Insofern er eine adäquate Spiegelung des Ureinen ist, ist er das Bild des Widerspruchs und das Bild des Schmerzes. Jede Erscheinung ist nun zugleich das Ureine selbst: alles Leiden Empfinden ist U r l e i d e n , nur durch die Erscheinung gesehen, lokalisirt, im Netz der Zeit. U n s e r S c h m e r z ist e i n v o r g e s t e l l t e r : unsre Vorstellung bleibt immer bei der Vorstellung hängen. Unser Leben ist ein v o r g e s t e l l t e s Leben. Wir kommen keinen Schritt weiter. (...) Also ist auch das Schaffen des Genius Vorstellung. (...) Das S e i n b e f r i e d i g t s i c h i m v o l l k o m m e n e n S c h e i n . (KSA 7, S. 199–200)
In dieser ‚Verzückungsspitze der Welt‘ scheinen alle mit dem Übergang vom Willen zur Vorstellung, vom Sein zum Werden, von der Einheit zur Vielheit und vom Wesen zum Schein verbundenen Probleme eine mögliche Lösung zu finden. Nietzsche ist sich jedoch durchaus bewusst, dass diese Lösung viele andere Fragen aufwirft und in ihren Begründungen und Fundamenten recht unsicher bleibt. Dennoch hält er sich bei dem Entwurf der allgemeinen ästhetischen Auffassung, in deren Rahmen seine Erklärung des tragischen Phänomens sich am besten einordnen lässt, an diese Lösung. Sie stellt folglich einen – wenn auch nur vorläufigen – Endpunkt seiner philosophischen Ausarbeitung der Jahre 1869–1871 dar. Mehrfach wird in der Geburt der Tragödie auf sie Bezug genommen, vor allem in den gewagtesten und originellsten Passagen, in denen die neuartigen philologischen Perspektiven sich besonders eng mit allgemeineren erkenntnistheoretischen und philosophischen Themen verbinden.23 In diesem theoretischen Rahmen findet auch Nietzsches Behauptung, er habe mit seiner Philosophie eine Umdrehung des Platonismus vollzogen (vgl. KSA 7, S. 199), ihre Rechtfertigung. Das Ziel dieser Umdrehung wird in der Tat definiert als „Leben im Schein“ (ebd.); die Spiegelung des Ureinen in der Vision des Genius bedeutet, wie gesagt, die Befriedigung des Seins im vollkommenen Schein. Das Kunstwerk stellt sich so als „das wahrhaft Nichtseiende“ (KSA 7, S. 200) dar, worin jene ‚reinere, schönere, bessere Dimension des Daseins‘ verwirklicht ist, in der die Distanz vom „wahrhaft Seienden“ (vgl. KSA 7, S. 199) am größten ist. Nur die Kunst erlaubt es, die tiefsten Geheimnisse der Natur und des Seins zu erahnen, die Nietzsche in einer bedeutenden Folge von Annäherungen zu definieren 23
Vgl. z. B. die Beschreibung der Erlösung des Ureinen durch den Schein zu Beginn des vierten Kapitels (KSA 1, S. 38–40); das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Lyrikers und dem Abgrund des Seins (KSA 1, S. 43–45; 47–48); den Kontrast zwischen dem Kern der Dinge und der Erscheinungswelt (KSA 1, S. 58–59); die Beschreibung der Zerstückelung des Dionysos in der Vielheit der Gestalten des tragischen Helden (KSA 1, S. 72–73); die durch die dionysische Kunst ausgedrückte ewige Lust des Daseins. (KSA 1, S. 109)
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sucht als: den „Kern der Natur, das wahrhaft Seiende, das Sein an sich, das wahrhaft Anonyme, den Ball des ewigen Seins, das unnahbare Eine und Ewige, einen Abgrund des wahren Seins“ (KSA 7, S. 198). Das Verhältnis des Genius zu dem Ureinen ermöglicht schließlich eine „Lösung des Schopenhauerischen Problems: die Sehnsucht in’s N i c h t s “ (KSA 7, S. 207). So gelingt es dem Genius in seiner Vision, die Anschauung des Leidens des Ureinen mit der Aufhebung dieses Schmerzes zu verschmelzen, der sich einfach auf ein zur vollen Erreichung des Lustziels des Willens geschaffenes Spiel der Spiegelungen und des Scheins reduziert.24 In den Fragmenten vom Frühjahr 1871 verhehlt Nietzsche jedoch nicht, dass dieses Verhältnis zwischen Genius und Ureinem verschiedene Fragen offen lässt. Auf welche Weise der Schmerz, etwa in der Vision des gemarterten Heiligen, aufgehoben werden kann, bleibt am Ende „ein Räthsel“ (KSA 7, S. 216). Schmerz und Lust einzig als Resultate einer Vorstellung und somit als bloßen Schein zu betrachten, bietet keine befriedigende Erklärung dieser Phänomene; und schließlich unterstreicht Nietzsche mehrfach, welch große Schwierigkeiten eine genaue Untersuchung der physiologischen Mechanismen bereitet, die in dieser ekstatischen Aufhebung des Schmerzes in der Vision des Genius aktiviert werden: Das nervliche Substrat, die Zellempfindungen, die Kontakte zwischen unterschiedlichen Fasern und Nerven unseres Denkvermögens, das heißt die Gesamtheit der psycho-physischen Reaktionen, die bei der Erzeugung und Rezeption des Kunstwerks eine Rolle spielen, bleiben im Dunkeln oder bilden jedenfalls ein noch offenes Untersuchungsfeld25. Diese Schwierigkeit einer erschöpfenden wissenschaftlichen Erklärung des künstlerischen Prozesses verweist auf die nicht bewältigte Spannung, die weiterhin hinsichtlich der Übertragungsmechanismen vom Willen zur Vorstellung besteht. Nachdem das höchste Ziel des Willens als seine vollständige Vernichtung im Schein dargestellt wurde, bleibt die Bestimmung seines Wesens ein ungelöstes Problem. Abgesehen von diesen offenen Fragen beinhaltet die Idee der in der Vision des Genius erreichten höchsten Verzückung eine äußerst innovative Zeitauffassung, in der sich die mit der Ewigen Wiederkehr verbundene Problematik bereits andeutet. Die höchste Verzückung ist tatsächlich der Urprozess, „aus dem die Welt entstanden ist, gleichsam ein Wellenring in 24
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Für eine Interpretation des Verhältnisses zwischen der Vision des Abgrunds des Seins und der Umdrehung des Platonismus in dieser Phase von Nietzsches Denken verweise ich auf mein Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele, a. a. O., S. 301–304. Vgl. zudem die Interpretation der Umdrehung des Platonismus bei J.E. Wilson, a. a. O., S. 199–206. Zu dieser physiologischen Problematik vgl. beispielsweise die Fragmente 7 (117), 7 (168), 7 (201) und 7 (204) (vgl. KSA 7, S. 166; 204–5; 214–17).
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der Welle“ (KSA 7, S. 166). Nicht nur leide der Wille in diesem Urprozess, sondern er „gebiert den Schein in jedem kleinsten Moment“ (KSA 7, S. 204). Der Wille schaue sich selbst „als Welt“, „als Erscheinung“ (vgl. ebd.), und diese Selbstanschauung des Willens steht außerhalb der traditionellen Kategorien von Raum und Zeit. Sie ist zeitlos: in jedem k l e i n s t e n Zeitpunkt Anschauung der Welt: wäre die Zeit wirklich, so gäbe es keine Folge. Wäre der Raum wirklich, so keine Folge. Unwirklichkeit des Raums und der Zeit. Kein Werden. Oder: das Werden ist Schein (ebd.).
Dieser Übergang vom Sein zum Werden, vom Willen zum Schein muss sich jedoch unendlich wiederholen, und diese Wiederholung stellt die tiefe Einheit des Willens selbst radikal in Frage. Um das Werden erklären zu können, ist Nietzsche tatsächlich gezwungen, von ‚unendlichen Willen‘ auszugehen; jeder von ihnen „projicirt sich in jedem Momente und bleibt sich ewig gleich“ (ebd.). Für jeden Willen gebe es daher eine verschiedene Zeit, was zu erklären erlaube, warum die gesamte Welt des Scheins weder Leere noch Zwischenraum zulässt. Aus dieser wiederholten, schmerzvollen Selbstanschauung des Willens wird eine einzigartige atomistische Auffassung abgeleitet: Das Leben als ein fortwährender, Erscheinungen projicirender und dies mit Lust thuender Krampf. Das Atom als Punkt, inhaltslos, rein Erscheinung, in jedem kleinsten Momente werdend, n i e s e i e n d . So ist der ganze Wille Erscheinung geworden und schaut sich selbst an. (KSA, 7, S. 216–217)
Durch eine konsequente Fortentwicklung des von Hartmann theorisierten Verhältnisses von Spekulation und Induktion gelangt Nietzsche zur Annahme einer anderen als der auf mechanische Weise in der Philosophie des Unbewussten hergestellten Verbindung von Wille und Vorstellung. Die ekstatische Vision, in der der Wille den Widerspruch und den Schmerz aufhebt, begründet die Vorstellung einer ziellosen Welt (vgl. KSA 7, S. 204), die aus einer unendlichen Zahl ständig werdender Atome besteht, von denen ein jedes in ebenso unendlichen Variationen den Urprozess der Hervorbringung des Scheins durch den Willen wiederholt. Die Welt erscheint so als „ein ungeheurer sich selbst gebärender und erhaltender Organismus“, in dem „der Begriff des Individuums aufgehoben ist“ (KSA 7, S. 111); sie reduziert sich auf eine sinnlose „Unsumme ineinander geschachtelter Individuen“ (ebd.). Diese paradoxe Konvergenz von ästhetischer und atomistischer Auffassung macht deutlich, wie eng Nietzsche das Verhältnis von Drama und tragischem Denken, Kunst und Wissenschaft denkt, das während der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie in seiner Reflexion immer wichtiger wird.
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Bis zur Wende von Menschliches, Allzumenschliches sollte diese Konzeption sein Denken nachhaltig prägen. In der Geburt der Tragödie gewinnt sie in der utopischen Figur des ‚musiktreibenden Sokrates‘ Gestalt. Auf den ersten Blick scheint es, als spielte sie im Vergleich zu der eindrücklichen Evokation des dionysischen Übermaßes und seines unausschöpflichen Ausdruckspotentials eine untergeordnete Rolle. Dagegen zeigt die Eindringlichkeit, mit der Nietzsche in dem Versuch einer Selbstkritik und davor bereits in einem der Anfangskapitel des Zarathustra an seine Jugendidee eines ‚Künstler-Gottes‘ (KSA 1, S. 17) erinnert, der Welten schafft, um sich von seinen Widersprüchen zu befreien, dass diese Konzeption in Wahrheit die tragende Struktur oder den geheimen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Themen seines ersten Werkes darstellt: Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt. Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich Unzufriednen. Gut und böse und Lust und Leid und Ich und Du – farbiger Rauch dünkte mich’s vor schöpferischen Augen. Wegsehn wollte der Schöpfer von sich, – da schuf er die Welt. (...) Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild und unvollkommnes Abbild – eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen Schöpfer: – also dünkte mich einst die Welt. (KSA 4, S. 35)
„Die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen“ (KSA 1, S. 35) taucht beispielsweise in der Geburt der Tragödie auf, um die Idee jener ‚Steigerung‘ (vgl. KSA 7, S. 206) der Begriffe des Naiven und Sentimentalischen zu stützen, die Nietzsche in den Fragmenten vom Winter 1871 als Konsequenz seiner Auffassung des Verhältnisses zwischen Genius und Willen betrachtet hatte. Dann geht aus dieser Steigerung die neue Interpretation der epischen Dichtung Homers und der lyrischen Dichtung des Archilochus als ersten Konkretisierungen der ursprünglichen „aus der Natur selbst“ (KSA 1, S. 30) hervorbrechenden künstlerischen Mächte durch die „Vermittelung des menschlichen Künstlers“ (ebd.) hervor. Nietzsche zufolge ist Homers Naivität keineswegs ein einfacher Zustand, den man sich als idyllisches Paradies der Menschheit am Anbeginn jeder Kultur vorstellen kann; sie setzt vielmehr den graduellen Übergang vom Schrecken der titanischen Götterordnung zur Schönheit und Freude des apollinischen Triebs und der olympischen Welt voraus. Durch diesen Übergang habe der apollinische Schein die schreckliche Tiefe und die reizbare Leidensfähigkeit überwunden, welche die hellenische Natur seit jeher gekennzeichnet hätten. Das Naive wird so jeder Rousseau’schen Nostalgie nach einem ursprünglichen, „am Herzen der Natur erzogenen“ Künstler (vgl. KSA 1, S. 37) entkleidet. Statt dessen er-
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scheint es als Produkt einer komplexen ästhetischen Sensibilität, in der „eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein“ (vgl. KSA 1, S. 38) stets aufs Neue dazu bewegt, die Wirklichkeit einzig durch einen Traumschleier wahrzunehmen. Die Schönheit dieses Traums vermag den jede Lebensäußerung begleitenden Schmerz zu besiegen. Eben als Denkmal dieses Sieges „steht Homer vor uns, der naive Künstler“ (ebd.), der es verstanden habe, ganz und gar in seine Traumbilder einzutauchen, bis er sich fast mit ihnen identifizierte und jeden Abstand zwischen Schein und Wirklichkeit überwand. Dieses Spiel feiner Brechungen, das die Vorstellung der Imitation als Grundlage jedes künstlerischen Phänomens von Grund auf verändert, wiederholt sich noch nuancenreicher hinsichtlich der Interpretation der lyrischen Dichtung und der Archilochus-Interpretation. Es handelt sich um eine Auslegung im Geiste Schopenhauers, die dessen Philosophie einen Tribut zollen will (vgl. KSA 1, S. 46), zugleich aber entschieden auf Distanz geht zu der Charakterisierung der lyrischen Dichtung „als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst“ (KSA 1, S. 47) in Die Welt als Wille und Vorstellung. Im Allgemeinen erachtet Nietzsche den ganzen „Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, den des Subjectiven und des Objectiven“ (ebd.), als unhaltbar. Er betrachtet ihn als der Ästhetik völlig fremd, „da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann“ (ebd.). Im Zusammenhang mit der Interpretation der lyrischen Dichtung wendet Nietzsche sich also jener Überwindung des Subjekts und des Individuums, die bereits in den Fragmenten aus den Jahren 1870–71 angeklungen war, ausdrücklich zu. Das Ich des Lyrikers sei nicht das Ich „des wachen, empirisch-realen Menschen“ (KSA 1, S. 45), sondern es entstehe aus der Vision und dem Einswerden mit dem Ureinen. Tatsächlich sieht Nietzsche in der Identität des Lyrikers mit dem Musiker eines der bedeutsamsten Phänomene der griechischen Literatur. Seine Erklärung der lyrischen Dichtung führt somit zu dem Verhältnis zwischen Musik und Sprache zurück, das eines der zentralen Themen seiner Untersuchung in den Fragmenten und in Die dionysische Weltanschauung gewesen war. So liefert der Lyriker in der Geburt der Tragödie das erste Beispiel für die Vereinigung von Apollinischem und Dionysischem, die in den Visionen des tragischen Chores ihren Höhepunkt erreicht hat. Als dionysischer Künstler sei der Lyriker zuerst „gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch“ (KSA 1, S. 43) eins geworden; seine musikalische Stimmung habe dadurch ein „Abbild dieses Ur-Einen“ (KSA 1, S. 44) geschaffen und ihn von jeder
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an seine konkrete Individualität gebundenen empirischen Kontingenz entfernt. In einem zweiten Moment erzeuge die Musik unter dem apollinischen Einfluss ein Traumbild. Die Sprache des Lyrikers spiegelt dergestalt jene lebendige Spannung zwischen Bild und Ton wider, die jedes authentische künstlerische Phänomen auszeichnet. In den Wirkungen dieser Vereinigung von Apollinischem und Dionysischem, wie sie in der Lyrik erreicht wird, spricht sich erneut die in den Fragmenten von 1871 vorgenommene Bestimmung des künstlerischen Urprozesses und des Verhältnisses zwischen Genius und Ureinem aus: Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das „Ich“ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine „Subjectivität“ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. (KSA 1, S. 44)
Der Lyriker tauche in einen dionysischen Selbstentäußerungs- und Einheitszustand ein und erfahre auf diese Weise „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit“ (KSA, 1, S. 45). Die Subjektivität, von der Nietzsche spricht, verwandelt sich folglich in ein Symbol des Ureinen: Archilochus, „der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch“ (ebd.), sei unmittelbar „eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht“ (ebd.). Dank dieser Auffassung der Lyrik, die wir erst im definitiven Text von Die Geburt der Musik wiederfinden, überwindet Nietzsche demnach entschieden jede subjektiv begründete Ästhetik. Gleichzeitig wird die Kunst in seiner Auffassung nicht mehr aus einem einzigen Prinzip hergeleitet, sondern beruht auf dem unaufhebbaren Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Instinkten. Dieser Konflikt kann nur vorübergehend in einem prekären Gleichgewicht aufgelöst werden, das durch ein unausschöpfliches Spiel flüchtiger Brechungen von Mal zu Mal in immer neuen Konfigurationen wieder hergestellt werden muss. Die Interpretation der Lyrik veranschaulicht darüber hinaus auf beeindruckende Weise, wie fein Nietzsche in seinem ersten Werk Philosophie und Philologie ineinander webt. Im Vergleich zu den Fragmenten scheint die Auffassung des Ureinen und des Übergangs vom Willen zum Schein hier zugunsten der genaueren Inblicknahme eines historisch-literarischen Problems, nämlich der Frage des Ursprungs der Lyrik und ihrer Rolle für
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die Entwicklung der hellenischen Literatur, in den Hintergrund zu treten. Die Interpretation dieses Problems setzt die Klärung einiger grundlegender philosophischer Kategorien voraus, die jedoch in der Geburt der Tragödie nur in dem Maße vorgenommen wird, in dem sie der Behandlung des zur Debatte stehenden ästhetischen Phänomens dient. Nietzsche verhüllt gewissermaßen die letzten Ergebnisse seiner philosophischen Ausarbeitung, verschweigt die beunruhigendsten Fragen, die sich dagegen mit aller Macht in den zeitgleichen Fragmenten aussprechen. Er beruft sich auf Schopenhauer und stellt sich als dessen treuer Anhänger dar, der „in seinem Geiste und zu seiner Ehre“ (KSA 1, S. 46) wirke. Doch ist er sich durchaus bewusst, dass „die sonderbare Metaphysik der Kunst“ (KSB 3, S. 216), die den Hintergrund seines Werkes ausmacht, sein ganz besonderes ‚Eigenthum‘ ist. Wie er in seinem Brief an Erwin Rohde vom 4. August 1871 darlegt, ist dieses Eigenthum seines Erachtens allerdings noch ein ‚Grundbesitz‘, der bisher nicht in ein ‚mobiles, kursives, gemünztes Eigenthum‘ umgewandelt wurde (vgl. ebd.). Die Folge lautet: Solange er seine besondere ästhetische Konzeption nicht in Bargeld umzuformen und in einer angemessenen Sprache auszudrücken vermag, greift er daher weiterhin auf Schopenhauers Begrifflichkeit und Stil zurück. Auf diese doppelte Dimension der Geburt der Tragödie führt Nietzsche die „purpurne Dunkelheit“ 26, den ‚mystischen Dampf‘ des Werkes zurück (vgl. ebd.). Wie bereits im Fall der Streichung des vierten Abschnitts von Die dionysische Weltanschauung in dem Cosima Wagner zugeeigneten Manuskript, kann die Verschleierung des originellsten Kerns der eigenen philosophischen Errungenschaften unter einer orthodoxen schopenhauerschen Begrifflichkeit auch in diesem Fall wenigstens zum Teil durch taktische Erwägungen des jungen Philologen erklärt werden. Mit Sicherheit war er darum bemüht, die Sensibilität seiner potenziellen Leser, allen voran Cosima und Richard Wagners, denen Entstehung und Konzeption des Werkes sehr viel schuldeten, nicht zu verletzen. Daneben drängen sich aber zwei weitere Überlegungen auf. Zum einen ist die ‚Dunkelheit‘ des Werks Zeichen einer allgemeineren philosophischen Unsicherheit, die erst in der Folgezeit durch einen schwierigen und langwierigen Reflexionsprozess überwunden werden konnte; zum anderen belegt sie, mit welch aufrichtiger Anstrengung Nietzsche „der Entstehung der räthselhaftesten Dinge“ (KSB 3, S. 215–216) näher zu kommen sucht. Das tragische Phänomen in all seiner verwickelten Komplexität bildet den tatsächlichen Horizont seiner Reflexion und wird nicht einfach 26
Für eine Interpretation des Ausdrucks ‚purpurne Dunkelheit‘ vgl. Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele, a. a. O., S. 304–305.
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als Vorwand für eine indirekte Darlegung der eigenen philosophischen Konzeption gewählt. Wie Nietzsche in einem wichtigen, kurz nach Vollendung des Werks verfassten Fragment äußert, bestand sein Hauptanliegen darin, „zu einer reinen und ursprünglichen Empfindung zu gelangen, die wirklich die Tragödie als Kunstwerk berührt, zu einer Empfindung, die ich vor allem ‚ehrlich‘ nennen möchte“ (KSA 7, S. 565). Um zu einer solchen Empfindung zu gelangen, war es natürlich notwendig, sich von der langen historischen Tradition freizumachen, die die ursprüngliche Tragödie so oft entstellt hatte: Um so fremden Dingen näher zu kommen, „brauchen [wir] Brücken, Erfahrungen, Erlebnisse: dann wiederum brauchen wir Menschen, die sie uns deuten, die sie aussprechen“ (KSA 7, S. 566). Wagner und Schopenhauer seien solche Menschen, die der Moderne analoge künstlerische bzw. philosophische Erfahrungen böten wie das Griechentum. Sie könnten uns daher dabei helfen, den schwierigen Weg zurückzulegen, der von dem vollen Eingeständnis jenes „Defektes“ (vgl. ebd.) der Modernen im Verhältnis zur Antike bis zur „unmittelbaren Sicherheit der Anschauung“ (KSA 1, S. 25) des ursprünglichen tragischen Phänomens führt. Mit der Konzeption der Spiegelung des Willens im Schein, der Musik in der Sprache, wie sie die Lyrik auszeichne, entfernt Nietzsche sich nicht nur von jeglichem starren Subjekt-Objekt-Gegensatz, sondern auch von der Idee der Vernichtung des Willens, wie Schopenhauer sie vertritt. Tatsächlich bildet die Interpretation der Lyrik als literarischer Gattung in Die Geburt der Tragödie eine der ersten Gelegenheiten, um den Gedanken der Rechtfertigung des Daseins und der Welt als ästhetisches Phänomen (vgl. KSA 1, S. 47) in Grundzügen zu entwickeln. Im Kunstwerk spiegele sich der ‚ewige Genuß‘ (vgl. KSA 1, S. 47) des Urkünstlers der Welt wider. Durch die ekstatische Vernichtung in der Vision und im Schein befreit dieser sich von dem Schmerz und Widerspruch, die dem Willen inne wohnen. In dieser Vision vermag der im menschlichen Körper verkörperte Genius der Schöpfungskraft des Urkünstlers teilhaftig zu werden. Die Wirklichkeit und die Menschen kommen in diesem unendlichen Spiel der Brechungen und Spiegelungen lediglich als „Bilder und künstlerische Projectionen“ (ebd.) des wahren Schöpfers vor, der sich ihrer bedient, um den Schmerz in die erneuerte Lust der künstlerischen Schöpfung umzukehren. Der Mensch und der Künstler fänden darin, Projektionen des Ureinen zu sein, ihre „höchste Würde“ (ebd.) und könnten den „verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss“ (KSA 1, S. 40) überwinden, auf dem ihr Dasein ruhe. So nimmt Nietzsche die Interpretation der Lyrik zum Anlass, um die in den Fragmenten von 1870–71 erarbeitete Konzeption des künstleri-
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schen Urprozesses in Die Geburt der Tragödie erstmals auf differenzierte Weise darzustellen. Gleichzeitig liefert sie den Faden, „um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir d e n U r s p r u n g d e r g r i e c h i s c h e n T r a g ö d i e bezeichnen müssen“ (KSA 1, S. 52). Die Entstehung der Tragödie aus dem Chor wird von Nietzsche als Ausstrahlung des künstlerischen Urphänomens in einer Reihe aufeinanderfolgender „Entladungen“ (vgl. KSA 1, S. 62) erklärt. Zunächst habe sich eine Scheidung zwischen den dionysischen Zuschauern und dem Chor vollzogen, durch die der dionysische Grieche sich „zum Satyr verzaubert“ (KSA 1, S. 59) sah. Diese durch die dionysische Erregung und die Verzauberung des Publikums im Chor bewirkte Verwandlung sei „das d r a m a t i s c h e Urphänomen“ (KSA 1, S. 61). Jeder künstlerische Prozess muss Nietzsche zufolge auf seine ursprüngliche Einfachheit zurückgeführt werden, als der Dichter sich als solcher empfand, weil er sich von Gestalten umgeben und verwandelt fühlte, „die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt“ (KSA 1, S. 60). Durch die Doppelung des Publikums im Chor wurde diese künstlerische Begabung nach Nietzsches Ansicht der Masse der Zuschauer mitgeteilt, der es dann möglich war, „sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre“ (KSA 1, S. 61). Diese Verwandlung erlaubt es, die Bedeutung der Satyrn als „wiederhergestellte Naturgenien“ (KSA 1, S. 59) genauer zu verstehen. Denn besonders deutlich spiegelt sie Nietzsches philosophische Ausarbeitung wider, die zwischen Schopenhauer und Hartmann ihren Weg sucht und auf die Definition eines ‚wahrhaftigeren, wirklicheren, vollständigeren‘ Abbilds des Daseins, einen ‚ungeschminkten Ausdruck der Wahrheit‘ (vgl. KSA 1, S. 58) abzielt. Zum einen präsentiere sich der Satyr als „Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe“ (KSA 1, S. 63), wie das Tragödienpublikum sich in eine „Gemeinde von unbewussten Schauspielern“ (KSA 1, S. 61) verwandele; er sei folglich kein Produkt der ‚phantastischen Unmöglichkeit eines Dichterhirns‘ (vgl. KSA 1, S. 58), sondern spreche „aus der tiefsten Brust der Natur“ (ebd.) und enthülle ohne Lüge den unbewussten, instinktiven Grund der Welt und der Natur. Zum anderen mache gerade seine Authentizität, im Gegensatz zur Konventionalität des Kulturmenschen, den Satyr zum idealen Vermittler des ‚ewigen Kerns der Dinge‘ (vgl. KSA 1, S. 59), den Nietzsche bezeichnenderweise, Hartmanns Korrektur an Kant wortgetreu aufgreifend 27, im Singular als „Ding an sich“ (ebd.) bestimmt. So spreche die Symbolik des Satyrchors in ei27
Vgl. E. von Hartmann, a. a. O., S. 457.
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nem Gleichnis das „Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung“ (ebd.) aus. Die Charakteristika des Satyrs ermöglichen ein eingehenderes Verständnis der rätselhaften Entstehung der Tragödie aus dem Chor. Das auf der Bühne Dargestellte, die dramatische Handlung, wird von Nietzsche als Produkt einer „Vision“ (KSA 1, S. 62) des Chores interpretiert, der „seinen Herrn und Meister Dionysus“ (KSA 1, S. 63) schaue. In der allerältesten Periode der Tragödie sei Dionysos – als „Mittelpunkt der Vision“ (KSA 1, S. 63) – nicht wahrhaft auf der Bühne vorhanden, „sondern wird nur als vorhanden vorgestellt“ (ebd.). Das Drama im engeren Sinne beginne erst mit dem späteren Versuch, „den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen“ (ebd.). Dionysos verwandele sich so in den kämpfenden, tragischen Helden und zerfalle in eine Vielheit von Gestalten. Durch die von dem Satyrchor bewirkte Verzauberung gelangten die Zuschauer zur instinktiven Überzeugung, in dem „unförmlich maskirten“ (ebd.) Schauspieler „das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes“ (KSA 1, S. 64) zu erblicken. Diese Übereinanderlagerung gleichzeitiger Visionen – des Zuschauers, des Chores, Gottes – vermag nach Nietzsches Ansicht den rätselhaften Ursprung des tragischen Phänomens vollständig zu erklären: Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, u n d a l s S a t y r w i e d e r u m s c h a u t e r d e n G o t t d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. (KSA 1, S. 61–62)
Die wichtige Bezugnahme auf die „platonische Unterscheidung und Werthabschätzung der ‚Idee‘ im Gegensatze zum ‚Idol‘, zum Abbild“ (KSA 1, S. 71–72), mit der das 10. Kapitel der Geburt der Tragödie beginnt – und mehr noch eine Variante in der ursprünglichen Fassung dieses Abschnitts (vgl. KSA 14, S. 50) –, belegt eindeutig, dass die komplexe philosophische Ausarbeitung, von der die Fragmente aus den Jahren 1870–71 Zeugnis ablegen, den Hintergrund und hauptsächlichen Bezugsrahmen dieser historisch-philologischen Interpretation des Ursprungs der Tragödie bildet. Die Entstehung der Tragödie aus dem Chor verweist auf zwei allgemeinere Probleme: auf den abhängigen Charakter jeglicher Handlung, also auch der dramatischen Handlung, der sich aus dem rätselhaften Übergang vom Sein des Ureinen zum Werden des Scheins ergibt, und auf die Entstehung der Sprache aus dem Zusammentreffen zwischen Tönen und Gesten, welches die mit der Begriffsbildung einhergehende Verarmung des Ausdrucks verdeutlicht. Der Übergang von der Einheit des
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Willens zur Vielheit der Vorstellung hängt Nietzsche zufolge mit der Zerstückelung der einen Gestalt des leidenden Gottes in den zahlreichen Masken der tragischen Helden zusammen. Seine Verstrickung „in das Netz des Einzelwillens“ (KSA 1, S. 72) habe zum Verlust der ursprünglichen Ganzheit und zur Beschränktheit der Individuation geführt. In der früheren Variante dieses Anfangs von Kapitel 10 sucht Nietzsche die tragische Maske als paradoxes „Abbild z w e i e r Ideen“ (KSA 14, S. 50) zu definieren; sie bringe ein Zwischending „zwischen einer empirischen Wirklichkeit und einer idealen d. h. im platonischen Sinn allein realen Wirklichkeit“ (ebd.) hervor. Denn durch das Verhältnis zwischen Dionysischem und Apollinischem werden die Ekelgedanken verscheucht, die aus dem Verlust des wahrhaft Seienden in der Vielheit der Elemente und Kategorien entstehen. Dank seines Vermögens, „die Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen“ (KSA 7, S. 206) anzuschauen, entgeht der künstlerische Genius der Gefahr, die Realität „als das vorgestellte Seiende“ (ebd.) darzustellen und hebt dergestalt den Schmerz und Widerspruch, die dem „absoluten Sein“ (ebd.) wesenhaft eignen, in der Lust der Kunstschöpfung auf. In Die Geburt der Tragödie erscheint die ‚Umdrehung des Platonismus‘ somit nicht als Folge eines neuen Verhältnisses zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, sondern bezieht sich auf das Spiel symbolischer Brechungen, durch das sich der Gegensatz Apollinisches/Dionysisches ausdrücken kann. 28 Das Einswerden des dionysischen Chores mit der Vision des leidenden Gottes werde durch die volle Entfaltung der „Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes“ (KSA 1, S. 63) erreicht; der Satyr sei also „Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person“ (ebd.). Ihren Höhepunkt erreiche diese Steigerung des Ausdrucks jedoch in der Objektivierung und Verdichtung jener Kräfte, in denen der Satyr die Nähe des Gottes spürte, in der „Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung“ (KSA 1, S. 64). In der Verflechtung von Apollinischem und Dionysischem ist der ursprüngliche Ausdrucksreichtum der Töne und Gesten folglich noch aufgehoben. Er geht nicht in der schematischen Abstraktheit der konventionellen Sprache und der Begriffswelt verloren. Das Wort bewahrt hier noch das Echo einer ursprünglichen Musikalität, hallt vom wechselnden Wogen der Lebenskräfte wider, und die Vision zeigt sich mit plastischer Deutlichkeit und erreicht im suggestiven Wechsel von Licht und Schatten eine einzigartige Intensität, so dass sich „eine neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender (...) und doch schattengleicher (...) unserem Auge neu gebiert“ (ebd.). Allein durch diese Steige28
Vgl. dazu Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele, a. a. O., S. 304.
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rung des Ausdrucks hätten sich die orientalischen dionysischen Feste mit ihrer abscheulichen „Mischung von Wollust und Grausamkeit“ (KSA 1, S. 32) in Griechenland in ein „künstlerisches Phänomen“ (KSA 1, S. 33) verwandeln und „die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen“ (KSA 1, S. 32) erlangen können. Die Überschneidung von Musik und plastischer Deutlichkeit, von Mimik und Sprache, wie sie durch das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem in der griechischen Tragödie verwirklicht war, hat Nietzsche einen „Abgrund künstlerischer Kräfte“ (KSA 7, S. 569) offenbart, den selbst Wagner nur habe streifen können, ohne ihn indes in seiner Tiefe zu beherrschen. Wagners Musik könne jedoch eine mögliche Brücke zum besseren Verständnis der Tragödie des Äschylos sein. In dem Fragment 25 (1), das im Winter 1872–73, also nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie, entstand, wird beispielsweise die Aufführung von Tristan und Isolde erwähnt, die im Juni desselben Jahres unter Leitung von Hans Bülow in München stattgefunden und der Nietzsche zusammen mit Carl von Gersdorff und Malwida von Meysenbug beigewohnt hatte. Sie war, so Nietzsche, ein denkwürdiges Beispiel für das Verhältnis zwischen Musik und plastischer Komposition, das die Tragödie des Äschylos in ihrer lebendigen Nähe zu dem auf den Chor und dessen Mimik gegründeten tragischen Urphänomen ausgezeichnet haben musste. Die Aufführung des Tristan hatte den jungen Philologen in seiner bereits in einem Fragment vom Vorjahr geäußerten Überzeugung bekräftigt: „Wir müssen erst wieder den Mimus haben, um zum Drama zu kommen“ (KSA 7, S. 277). Diese Überzeugung war jedoch von einer einschränkenden Bewertung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks begleitet, von der im definitiven Text der Geburt der Tragödie keine Spur mehr zu finden ist. Tatsächlich hat Wagner nach Nietzsches Ansicht nur „die Urtendenz der Oper, die i d y l l i s c h e , bis zu ihren Consequenzen geführt“ (KSA 7, S. 329), seine Musik sei nur eine Imitation der Urmusik, aber unfähig, das Drama hervorzubringen. 29 Das heißt, Wagner zeigt eine Veränderungsmöglichkeit auf, eröffnet die Perspektive einer Überwindung der Opernkultur auf der Suche nach der authentischen Bedeutung der Tragödie, gelangt jedoch nicht zur tatsächlichen Wiederherstellung der Tragödie in ihrer ursprünglichen Reinheit. Namentlich der Tristan habe diese Überwindung des „Urübels der Oper“ (KSA 7, S. 323) in Aussicht gestellt, obwohl Wagner ihn noch „als r a d i k a l e r I d y l l i k e r “ (KSA 7, S. 324) komponiert 29
Das Fragment 9 (149) aus dem Jahre 1871 (vgl. KSA 7, S. 329–331), worin Nietzsche diese Gedanken über Wagner äußert, ist ein wichtiger Ausdruck der kritischen Distanz gegenüber Wagners Musik, die sich bereits während der Abfassung von Die Geburt der Tragödie ankündigt.
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habe. Hier habe der Musiker die größte Anstrengung unternommen, sich dem Ursprung der Tragödie zu nähern: „Das Drama, das das Wort braucht: das Orchester als Nachahmung der menschlichen Stimme“ (KSA 7, S. 276). Der Tristan kann somit idealerweise als neuer Dithyrambus aufgefasst werden, in dem „die a l l e r g r ö ß t e S y m p h o n i e “ geschaffen werde, „deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch eine Handlung versinnlicht werden kann“ (KSA 7, S. 324). Nietzsche zögert nicht, sich vorzustellen, dass auf den Sänger, der seines Erachtens „ein Unding“ (KSA 7, S. 276) ist, verzichtet werden oder er direkt ins Orchester eingebunden werden könnte, um so eine Situation zu schaffen, die der des tragischen Chores ähnelt. Die titanische Kraft, mit der Wagner versucht habe, die ‚Operntendenz zu verrücken‘ (vgl. ebd.), ermutigt Nietzsche dazu, sich folgenden weiteren Schritt in Richtung auf eine mögliche Wiederherstellung des tragischen Urphänomens vorzustellen: Eine solche Auffassung wie die meine, ist fast aus Wagner’s Tristan zu entnehmen. Wir müssen erst wieder den Mimus haben, um zum Drama zu kommen. Der Sänger ist nicht zu entbehren, weil er den seelenvollsten Ton hat. Das Orchester reicht nicht aus. Wir brauchen also den Chor: den C h o r , d e r e i n e V i s i o n h a t u n d b e g e i s t e r t b e s c h r e i b t w a s e r s c h a u t ! (KSA 7, S. 277)
In den letzten Kapiteln der Geburt der Tragödie beschäftigt Nietzsche sich wesentlich mit den Empfindungen, die der Tristan bei dem ästhetischen Zuschauer hervorrufe. Außerdem sei der Tristan das anschaulichste Beispiel für das Verhältnis zwischen Musik und Mythos, aus dem die Tragödie entstanden sei. Im Griechenland des 5. Jahrhunderts sei es tatsächlich allein der Musik gelungen, „den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit“ (KSA 1, S. 74) auszustatten und ihn vor einer drohenden Krise zu retten. Die zwischenzeitlich verblassten Mythen der homerischen Welt seien so neu belebt worden, denn die Tragödie habe sie als Symbolik der dionysischen Wahrheit übernommen und „zum Vehikel dionysischer Weisheit“ (KSA 1, S. 73) umgewandelt. Der Mythos entging dadurch der Gefahr, „allmählich in die Enge einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden“ (KSA 7, S. 74). Nietzsche zufolge steht der Mythos ganz und gar außerhalb der historischen Dimension, er kann keineswegs als „eine historischpragmatische J u g e n d g e s c h i c h t e “ (ebd.) aufgefasst werden; sonst würde er unweigerlich der Sphäre der nihilistischen Tendenz der Weltgeschichte zugehören. Die systematische Sammlung und dogmatische
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Überprüfung der vermeintlichen historischen Fundiertheit des Mythos, die mühsame Verteidigung seiner Glaubwürdigkeit, beraubten ihn jeder Möglichkeit des ‚natürlichen Weiterlebens und Weiterwucherns‘. Nur in seinem Verhältnis zur Musik könne er diesem Schicksal entgehen. Wie Nietzsche sich bemüht hatte, einen Bereich abzustecken, in dem der Wille nicht ganz in der Vorstellung aufgeht, so unternimmt er jetzt im Hinblick auf den Mythos eine ähnliche Anstrengung. Indem er bei der Übertragung der Gefühle in Gedanken von einem unauflösbaren Rest des Gefühls ausging, hatte er die einzige Möglichkeit ermittelt, um das Verhältnis zwischen Instinkt und logischer Erkenntnis auf neue Weise zu bestimmen. Um den Mythos vor seinem unvermeidlichen Niedergang im historischen Bewusstsein zu retten, muss er ihn notwendigerweise im Rahmen jener symbolischen Steigerung ansiedeln, die durch das Spiel unendlicher Brechungen zwischen Apollinischem und Dionysischem, Bildern und Musik zustande kommt. Nachdem Nietzsche den Mythos zunächst von jeder übereilten Hoffnung auf ein eingebildetes deutsches Wesen gelöst (vgl. KSA 1, S. 20) und seiner Reinheit zurückgegeben hat, konzipiert er ihn gerade als die größtmögliche Steigerung der Ausdrucks- und Symbolkraft der Sprache in ihrem Verhältnis zur Musik. Denn seines Erachtens hat die musikalische Tragödie in ihrem Verhältnis zum Wort diese Charakteristik: „Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen“ (KSA 1, S. 138). Das Erfassen des unausschöpflichen Bedeutungsreichtums der Sprache führt gleichzeitig zu einer unmittelbaren, durchaus nicht abstrakten Wahrnehmung des dichten Beziehungsgeflechts, das die plastische Bewegung der dargestellten Personen und den Zauber der Orchestertöne auf der Bühne zu einer einzigen suggestiven Totalität verschmilzt. Die musikalische Tragödie überwinde den „populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper“ (KSA 1, S. 139), der Nietzsche zufolge das Verhältnis zwischen Musik und Drama nicht angemessen darstellt. Dadurch realisiere sie eine perfekte Verschmelzung der lebendigen Innerlichkeit des Tones, worin der ‚ungedämmte Erguß des unbewussten Willens‘ (vgl. KSA 1, S. 137) sich verströme, mit der Äußerlichkeit der plastischen und sprachlichen Darstellung, die durch ein Gleichnisbild die Anschauung der Weltidee ermögliche. Die Musik rufe „die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein“ (KSA 1, S. 155); der Mythos erzeuge einen neuen Verklärungsschein, „um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten“ (ebd.).
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Dieses Verhältnis zwischen Musik und Mythos, das Nietzsche zufolge die beste Erklärung für die Entstehung des tragischen Phänomens liefert, wird nach seiner Ansicht vor allem in Tristan und Isolde realisiert. In dieser Oper gelinge es Wagners Musik, „das rasende Begehren zum Dasein“ (KSA 1, S. 135) und „den Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe“ (ebd.) in ihrer ganzen spannungsreichen Intensität einzufangen. Die Darstellung des Mythos und des tragischen Helden rufe hier die Illusion hervor, dass nur das Schicksal Tristans und Isoldes und nicht mehr das „Urleiden der Welt“ (KSA 1, S. 137) dargestellt werde. Die Vernichtung des Individuums kann dergestalt zum Gegenstand einer höheren ästhetischen Lust werden. Mit der Deutlichkeit einer ‚percipirten Wirklichkeit‘ könne sie uns das Streben ins Unendliche, den „Flügelschlag der Sehnsucht“ (KSA 1, S. 153) offenbaren. Auf diese Weise kommt der Abgrund des Seins in seiner Ganzheit zum Ausdruck, ohne sich in der Zersplitterung des principium individuationis zu verlieren. Dank des Mythos könne die Musik sich „unbedenklich einem orgiastischen Gefühle der Freiheit hingeben“ (KSA 1, S. 134); dafür erlange der Mythos durch die Musik eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche. (ebd.)
In dieser wechselseitigen Durchdringung von Mythos und Musik drückt sich am deutlichsten eine ästhetische Auffassung aus, die die Kunst nicht als einfache „Nachahmung der Naturwirklichkeit“, sondern als ihr „metaphysisches Supplement“ (KSA 1, S. 151) begreift. Die musikalische Dissonanz, deren mitreißende Wirkung uns in ihren Bann zieht und uns gleichzeitig dazu bewegt, ‚uns über das Hören hinauszusehnen‘, kann dieses Urphänomen der dionysischen Kunst zugänglich machen. Es offenbare uns „das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust“, ähnlich wie wenn Heraklit die „weltbildende Kraft“ der höheren Unschuld eines Kindes vergleicht, das „spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“ (KSA 1, S. 153). Die höchste Schönheit, die die neue Mythologie aus dem Innern der modernen Dichtkunst und aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausarbeiten muss, war für Friedrich Schlegel nichts anderes als die des Chaos, „welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten“ 30. Ausgesprochen scharfsinnig versteht Nietzsche es, die zentrale Idee der Frühromantik von einem aus dem
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Chaos der Moderne selbst entsprungenen und vom unbestimmbaren Hauch einer unbändigen Liebe durchdrungenen Mythos mit neuem Leben zu füllen. Keine Restauration einer untergegangenen Vergangenheit kann den Mythos wiedererwecken. Dieser kann nur dann wieder aufleben, wenn die volle Entfaltung der ästhetischen Moderne, wie sie auf beeindruckende Weise im Tristan erreicht ist, Hand in Hand geht mit einer genaueren Durchdringung des Ursprungs jeglichen ästhetischen Phänomens, das über den menschlichen Künstler selbst hinausgeht, um in den beiden Trieben des Traumes und des Rausches die physiologische Grund30 lage der Naturkunst wiederzufinden. Diese Zusammenführung von Moderne und Archaik ist jedoch keine Folge einer „demaskierenden Vernunftkritik, die sich selbst außerhalb des Horizonts der Vernunft stellt“ 31. Sie versucht vielmehr, eine Antwort auf das Problem der Wechselbeziehung zwischen Sokratismus und Dionysischem zu geben, das der Untergang der Tragödie und das Vorherrschen der logischen Erkenntnis Nietzsche zufolge offen gelassen haben. Die Idee eines „künstlerischen Sokrates“ (KSA 1, S. 96), eines wissenschaftlich-logischen Denkens, das in seiner Unendlichkeit die Voraussetzungen für eine in ihrem „metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne“ (KSA 1, S. 97) verstandene Kunst stets aufs Neue schafft, lasse an ein ‚Umschlagen‘ (vgl. KSA 1, S. 99) der Wissenschaft selbst in Kunst denken. Dieses „über das Dasein gebreitete Netz der Kunst“ werde jedoch auch „unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft“ (KSA 1, S. 102) geflochten. Die so verstandene Kunst setzt in der Tat eine neue Form der Erkenntnis, nämlich die ‚tragische Erkenntnis‘ (vgl. KSA 1, S. 101) voraus, die nur aus der Problematisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem radikalen Überdenken der abendländischen metaphysischen Tradition erwachsen kann. Die Kritik an der sokratischen Logik enthüllt folglich 30
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Vgl. F. Schlegel, Rede über die Mythologie, in: F. Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hg. von E. Behler und H. Eichner, Paderborn/ München/Wien/Zürich, Schöningh, 1988, S. 201. Auf die Abstammung einiger Nietzsche-Konzepte von Schlegels Rede über die Metaphysik hat Ernst Behler wiederholt hingewiesen. Vgl. insbesondere „Friedrich Nietzsche und die frühromantische Theorie“, in: E. Behler, Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Bd. 2, a. a. O., S. 207–226, sowie allgemein die hier gesammelten Nietzsche-Studien. Vgl. auch J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, a. a. O. Abgesehen von wahrscheinlichen direkten Einflüssen Friedrich Schlegels und Schellings auf den jungen Nietzsche ist jedenfalls unbestreitbar, dass Nietzsche sich mit erstaunlichem Weitblick auf den originellsten Kern des philosophischen Kontexts bezieht, in dem Schlegels Rede über die Mythologie entstand. Für eine geistreiche Rekonstruktion dieses Kontexts Michele Cometa, Iduna. Mitologie della ragione, Palermo, Novecento ed., 1984. So J. Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, a. a. O., S. 119.
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nicht einfach ein ‚von der Vernunft Verschiedenes‘, das dem ‚verzehrenden Haschen nach Weltmacht und Weltehre‘ entgeht, um sich in ein ‚ekstatisches Brüten‘ (vgl. KSA 1, S. 133) zu flüchten. Nietzsche will das neue dionysische Ausdruckspotenzial nicht in einer Unterwelt, in seiner „Entartung zum Geheimcult“ (KSA 1, S. 114; vgl. auch S. 111) verlieren. Apoll, Dionysos und Sokrates sind die drei Leitideen, mit denen die hellenische Kultur die philosophische und ästhetische Entwicklung des Abendlands bestimmte. Aufgabe der tragischen Kultur ist es, sie in einer neuen Einheit zusammenzuführen und ein fruchtbares Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen. Der originellste Aspekt der Reflexion des jungen Nietzsche besteht gerade in dem Versuch, die versteckten symbolischen Werte des Denkens, die der Sprache die Fülle ihrer Ausdruckskraft und ihres inneren Widerhalls verleihen, in einer lebendigen Totalität zugänglich zu machen. Die Wiedergeburt der Tragödie müsste sich aus der erneuerten Fähigkeit speisen, die Ausdrucksintensität dieses dichten Netzes symbolischer Verweise und Brechungen zu ‚inszenieren‘, das der Wahrheit den abstrakten Charakter eines logischen Begriffes nimmt und sie zu einem Ereignis werden lässt, in dem ein unausschöpfliches Spiel von Enthüllungen und Verhüllungen das Urerstaunen einer geheimen Konvergenz von Gedanken und Gefühl neu erzeugt.
Kapitel 2 Das Labyrinth der Wahrheit. Sprachkritik und Naturwissenschaft nach der Vollendung der Geburt der Tragödie Denn daß ein Wort nicht einfach gelte, Das mußte sich wohl von selbst verstehn. Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben Blicken ein Paar schöne Augen hervor. Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor, Er verdeckt mir zwar das Gesicht, Aber das Mädchen verbirgt er nicht, Weil das Schönste, was sie besitzt, Das Auge, mir ins Auge blitzt. 32
Sehr eindrücklich veranschaulichen diese Verse aus dem West-östlichen Divan den unausschöpflichen Wandlungsprozess, auf dem – dem Nietzsche von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn zufolge – jede Ausdrucksmöglichkeit unserer Sprache und allgemeiner: jede Form der Erkenntnis beruht. Darüber hinaus bieten sie ein besonders lebendiges Bild für die vielschichtige Polyvalenz, die das feine Gewebe eines Großteils von Nietzsches Texten auszeichnet. Für sich stehend erschöpft kein Wort seine möglichen Bedeutungen; es weist unweigerlich über sich hinaus, erzeugt fast unmerklich geheime Echoeffekte, die viele andere Botschaften mitschwingen lassen. So ähnelt das Wort den dichten Falten eines Fächers, die die Schönheit eines Gesichtes zwar verdecken, sie aber zugleich um so intensiver aufscheinen lassen. Rekonstruiert man die ‚Kette‘, die in Nietzsches Werk die Endfassung eines Textes mit den vorbereitenden Fragmenten verbindet, und spürt den oft versteckten Zitaten aus früheren Lektüren oder den Erinnerungen an vergangene Erfahrungen nach, so gelangen die vielschichtigen Ablagerungen dieses Textes in den Blick, ein faszinierendes Netz von Verweisen und Querverbindungen zu anderen Texten wird sichtbar, der Text erscheint eingebunden in ein fluktuierendes Spiel, das immer neue Ordnungen und Gleichgewichte entstehen lässt. Häufig zerbrechen diese plötzlich, scheinen unter dem Ansturm neuer Probleme und Interessen verloren zu gehen, um dann aber neue Re32
J. W. Goethe, West-Östlicher Divan, Buch Hafis, Wink, in: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 2, hg. von E. Trunz, München, dtv, 1982, S. 25.
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flexionen und Gedanken zu erzeugen, die bisweilen gänzlich unvorhersehbar in anscheinend weit voneinander entfernten Begriffskonstellationen wieder auftauchen. Die Untersuchung dieses vielschichtigen Charakters von Nietzsches Texten, dieses Spiels von Konstruktionen und Dekonstruktionen, aus dem sie hervorgehen, dieses Netzes von Verweisen, durch das ihre Bedeutungsmöglichkeiten sich erweitern, bildet fraglos ein besonders fruchtbares Forschungsfeld, das die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte Kritische Gesamtausgabe seiner Werke der Nietzsche-Forschung erschlossen hat. Anhand eines eher marginalen Beispiels lässt sich aufzeigen, wie einige in der Geburt der Tragödie formulierte und dann scheinbar beiseite geschobene Gedanken auf gewundenen Wegen neue Gedankengänge erzeugen, die erst in Menschliches, Allzumenschliches einen angemessenen Ausdruck finden. Dieser Rekonstruktionsversuch darf freilich nicht dazu verleiten, die ‚große Loslösung‘ (KSA 2, S. 15) zu vergessen, aus der dieses Werk entstanden ist. Vielmehr geht es darum, jenes ‚Zurückdatieren‘ von Nietzsches Werken zu verdeutlichen, von dem der Autor selbst gesprochen hat, sich insbesondere auf die Unzeitgemäßen Betrachtungen beziehend. Nietzsche zufolge reden seine Werke „immer von einem ‚Hinter mir‘“ (vgl. KSA 2, S. 369). Besonders die Themen, mit denen er sich in den vier Betrachtungen beschäftigt hat, gehen seines Erachtens auf eine Zeit noch vor der Geburt der Tragödie zurück. Sicher ist gegenüber dieser Behauptung des Autors eine gewisse Zurückhaltung geboten, sie belegt aber, dass Nietzsches Denken sich nicht zwangsläufig linear entwickelt. Frühere Gedanken und Problemkreise tauchen vielmehr bisweilen wie Wellen aus einer fernen, vergessenen Vergangenheit auf, brechen erneut kraftvoll hervor und gehen neue, unvorhersehbare Gedankenverbindungen ein. Das hier ausgewählte Beispiel betrifft ein Fragment vom Winter 1872–73, worin Nietzsche – ohne Quellenangabe – ein langes Zitat aus Goethes Materialien zur Geschichte der Farbenlehre wiedergibt. Dieses Zitat führt zu dem Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft zurück, um das in der Geburt der Tragödie Gestalt und Perspektive des ‚musiktreibenden Sokrates‘ kreisten. Als Kern des Fragments kann folgender Passus gelten, den Nietzsche nahezu wörtlich von Goethe übernimmt: Erfordernisse zu einem wissenschaftlichen Kunstwerke: man müßte keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Thätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche, sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks,
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wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sey, entstehen kann. (KSA 7, S. 561 f.)
Das Zitat entstammt Goethes Beschreibung der frühesten Formen wissenschaftlicher Erkenntnis bei den Griechen, mit der er seine Analyse der ersten Formulierung einer Farbenlehre bei den alten Griechen und Römern abschloss. Seine Aufzählung der verschiedenen für die Entstehung eines Kunstwerks sowie für eine fruchtbare naturwissenschaftliche Beobachtung notwendigen Eigenschaften musste Nietzsches besonderes Interesse wecken, denn nebeneinander erscheinen hier die Ausdrücke der vernünftigen Genauigkeit, der wichtigsten Kräfte der Phantasie und der Anschauung. Nietzsche versuchte in jener Zeit, eine noch nicht in abstrakten Begriffen erstarrte Wahrheit zu umreißen, wie die vorsokratische Philosophie sie ausgedrückt hatte. Diese nicht abstrakte Wahrheit war ihm gleichbedeutend mit einer anderen Zeitwahrnehmung, die sich gerade dadurch auszeichnen sollte, die besondere Intensität jeden Augenblicks erfassen zu können. An Bedeutung gewinnt das Zitat vom Winter 1872–1873 nicht allein im Lichte anderer gleichzeitiger Zitate aus Goethes Werk, sondern vor allem angesichts von Nietzsches allmählich erwachendem Interesse an der Farbenlehre. Er zitiert die Materialien erstmals an einer entscheidenden Stelle der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, zu Beginn des achten Kapitels, wo er sich auf Goethes ‚Charakteristik Newtons‘ bezieht. Hier greift er ein von Goethe in der Persönlichkeit Newtons entdecktes Rätsel auf, um seinerseits das Paradoxon zu beschreiben, das seines Erachtens darin liegt, dass die Ausbreitung der historischen Kultur der Moderne mit einem ironischen Bewusstsein, mit der Vorahnung eines Endes einhergehe: Ein ähnliches Räthsel in Betreff einzelner Persönlichkeiten hat uns Goethe durch seine merkwürdige Charakteristik Newtons hingestellt: er findet im Grunde (oder richtiger: in der Höhe) seines Wesens „eine trübe Ahnung seines Unrechtes“, gleichsam als den in einzelnen Augenblicken bemerkbaren Ausdruck eines überlegenen richtenden Bewusstseins, das über die nothwendige ihm innewohnende Natur eine gewisse ironische Uebersicht erlangt habe. (KSA 1, S. 303)
Zwar ist das wörtliche Goethe-Zitat sehr kurz, doch steht es im Originalkontext am Schluss einiger grundlegender Seiten der Materialien, auf denen Goethe zur genaueren Charakterisierung Newtons einige allgemeine Überlegungen über die Beziehung zwischen Charakter, Wahrheit und Irrtum anstellt und seine Theorie des Irrens präzisiert.33 33
Auf die Bedeutung dieser Goethe-Passagen machte u.a. Paul Requadt aufmerksam: Goethes ‚Faust I‘. Leitmotivik und Architektur, München 1972, S. 52 ff.
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Nach diesem Zitat zu urteilen, scheint es, als stimme Nietzsche in Goethes Polemik gegen Newton ein, die er später als typisches Beispiel für die deutsche Aufklärungsfeindlichkeit ansah. Dieses Urteil wird jedoch fragwürdig, wenn man den Brief an Gersdorff vom 12. Dezember 1870 heranzieht: Einen großen Triumph erlebte ich jüngst, als ich in den Berichten der Wiener Akademie der Wissenschaften einen Aufsatz des Prof. Czermak fand über Schopenhauers Farbenlehre. Dieser constatiert, daß Sch. selbständig und auf originellem Wege zu der Erkenntniß gekommen ist, die man jetzt als die Young-Helmholtzsche Farbentheorie bezeichnet: zwischen ihr und der Schopenhauerschen ist die wunderbarste, bis in die Bruchzahlen genaue Übereinstimmung. Der ganze Ausgangspunkt, daß die Farbe zunächst ein physiologisches Erzeugniß der Augen ist, sei zu allererst von Sch. dargelegt worden. Sehr bedauert wird, daß Sch. sich nicht von dem ‚wissenschaftlich unsinnigen‘ Goetheschen Theorem und seinem furor Anti-Newtonianus habe losmachen können. (KSB 3, S. 161 f.)
Die Bezugnahme auf den Aufsatz des Physiologen Czermak über Schopenhauers Farbenlehre belegt, dass Nietzsche schon damals wusste, wie unbegründet Goethes furor antinewtonianus war, und dass ihm die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Farbenlehre (Young und Helmholtz) bekannt waren. 34 Die Tatsache, dass Nietzsche bereits vor der Abfassung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung um die wissenschaftliche Unhaltbarkeit von Goethes Farbenlehre wusste, erlaubt es, das achte Kapitel dieses Werks aufmerksamer zu lesen. Wie gesagt, weitet er darin die Bedeutung von Goethes Analyse der Persönlichkeit Newtons so sehr aus, bis sie zu einer Charakterisierung der ironischen Existenz der Moderne wird. Diese ironische Existenz und die unbestimmte Vorahnung eines Endes sind nicht einfach Folgen einer Hypertrophie des historischen Sinnes, die durch die Wiederherstellung der Atmosphäre oder Illusion einer unhistorischen, ‚reichen‘ und ‚lebensvollen‘ Bildung vermieden werden könnten. Im Gegenteil. Der Nietzsche, der so scharfsinnig über eine der wichtigsten Stellen dieses oft vernachlässigten Goethe-Werks nachdenkt und sich zugleich 34
Der Aufsatz von Czermak „Ueber Schopenhauer’s Theorie der Farbe. Ein Beitrag zur Geschichte der Farbenlehre“ erschien im Jahr 1870 in Band LXII der Wiener akademischen Sitzungsberichte und wurde in den Gesammelten Schriften in zwei Bänden (Leipzig 1879) wiederabgedruckt (vgl. Bd. I/2, S. 803–819). Zu Czermaks akademischer und wissenschaftlicher Tätigkeit vgl. A. Springer, „Johann Nepomuk Czermak. Eine biographische Skizze“ im zweiten Band der oben genannten Gesammelten Schriften. Zu Nietzsches Lektüre von Czermaks Aufsatz vgl. A. Orsucci, Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen. Über Nietzsches Verhältnis zu Karl Friedrich Zöllner und Gustav Gerber, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O., S. 193–207.
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der Unhaltbarkeit der Polemik gegen Newton bewusst ist, fühlt sich selbst als moderner Mensch und hat die möglichen Negativfolgen dieser ironischen Existenz, die mit der Entwicklung der historischen und wissenschaftlichen Bildung einhergeht, offensichtlich an sich selbst erfahren. Nietzsche muss darüber hinaus gründlich über die Bedeutung der Beziehung zwischen Streben und Irren, zwischen dem Wachsen der Wahrheit und Moral und der Ausweitung von Lüge und Irrtum nachgedacht haben, die Goethe in sehr dichter Form auf diesen Seiten umreißt. Wahrscheinlich hatte er diese Beziehung schon während der Abfassung von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne vor Augen. Betrachtet man das achte Kapitel der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung unter diesem Blickwinkel, so erscheint nicht mehr die Auseinandersetzung mit der historischen Krankheit der Moderne als dessen Hauptthema und ursprünglicher Kern. In den Mittelpunkt rückt vielmehr die dringende Notwendigkeit, dass die historische Bildung sich selbst in Frage stellt, ihre Ursprünge historisch prüft und sich selbst zum Problem wird. Die mögliche Rückkehr zum ursprünglichen griechischen Modell einer unhistorischen Bildung hängt Nietzsche zufolge davon ab, ob es gelingt, das Erkenntnispotential der wissenschaftlich-kritischen, alexandrinisch-römischen Bildung durch die Historie selbst zu Ende zu entwickeln; nur so sei es möglich, den Sprung zurück zu einem ursprünglichen Griechentum ohne Willkür zu machen. (vgl. KSA 1, S. 306 f.) Berücksichtigt man diese problemreiche Spannung, die den Hintergrund des Zitats in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung bildet, so wird Nietzsches spätere Reflexion über Goethes Auseinandersetzung mit Newton zwar veränderte Wertakzente aufweisen, zugleich aber wird deutlich, dass zwischen den beiden Phasen von Nietzsches Denken enge Verbindungen bestehen. Bei dieser späteren Reflexion findet Nietzsche keine Gelegenheit mehr für ein ausdrückliches Zitat aus den Materialien, aber er hat Goethes Charakteristik Newtons wahrscheinlich nicht ganz vergessen. Seit der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches wird seine Kritik an den naturwissenschaftlichen Theorien Goethes, deren Unhaltbarkeit er schon vorher kannte, immer ausdrücklicher. Er stellt sie mit Schopenhauers Metaphysik und Naturphilosophie gleich und betrachtet sie als Beispiel für jene deutsche Aufklärungsfeindlichkeit, gegen die er sich jetzt wendet. Seiner Meinung nach sind diese Theorien das Ergebnis jenes „alten Pathos, dass man die Wahrheit habe“, welche durch das neue „freilich mildere[ ] und klanglose[ ] Pathos des Wahrheit-Suchens“ (KSA 2, S. 359) überwunden werden müsse. Doch benutzt Nietzsche in dem Moment, da er dieses unterschiedliche Pathos der Wahrheit und diese neue Form von Aufklärung umreißt, ähn-
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liche Bilder und Ausdrücke, wie er sie schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung verwendet hatte. Wenn Nietzsche in diesem Werk über das Wissen sagt, dass es sich trotz seiner mächtigsten Flügelschläge nicht ins Freie habe losreißen können (vgl. KSA 1, S. 304), so sind es in Morgenröthe die alten Geister der Vergangenheit, die nun mit viel breiteren Flügeln fliegen und zum neuen Genie der Aufklärung werden (vgl. KSA 3, S. 172). Ohne sie unzulässig zu verallgemeinern, deuten auch diese stilistischen Ähnlichkeiten darauf, dass die Suche nach einem aus dem memento mori der Weltgeschichte befreiten Wissen und die Äußerungen über eine neue Aufklärung nicht als gegensätzliche Polaritäten, sondern als Widerspiegelungen einer einheitlichen Fragestellung in immer veränderten Formen aufzufassen sind. Als Ergebnis einer ähnlichen Widerspiegelung erscheint der Aphorismus 227 aus den Vermischten Meinungen und Sprüchen. Wie sein Titel besagt, ist er „Goethes Irrungen“ gewidmet. Gerade durch seine Irrungen, so Nietzsche, habe Goethe zum einzigen deutschen Dichter werden können, der „eine[ ] rein litterarische[ ] Stellung zur Poesie“ (vgl. KSA 2, S. 483) überwunden habe. Nietzsche sah bei Goethe vor allem zwei Grundirrtümer: seine Leidenschaft für die darstellende Kunst, welcher er sich in der ersten Lebenshälfte mehr verbunden fühlte als seinem Dichtertum; seine Überzeugung, „einer der größten wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu sein“ (ebd., S. 482), von der er dagegen in seiner zweiten Lebenshälfte durchdrungen gewesen sei. Nach Nietzsche bestand die Grundvoraussetzung für Goethes höchste Dichtkunst somit in der inneren Notwendigkeit, diese Grundirrtümer restlos zu überwinden. Er bemerkt dazu u. a.: Die schmerzlich schneidende und wühlende Ueberzeugung, es sei nöthig, Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem „gesteigerten Werther“, liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich Einer sagt: „nun ist es aus – nach diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!“ (KSA 2, S. 482)
Zwar bezieht Nietzsche sich in diesem Aphorismus nicht direkt auf die Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, aber bei seinen Ausführungen über Goethes Irrtümer und Täuschungen im Hinblick auf die naturwissenschaftlichen Theorien scheint ihm jenes Verhältnis zwischen Wahrheit und Irrtum vorzuschweben, mit dem Goethe den Hauptzug von Newtons Persönlichkeit meisterhaft charakterisiert hatte. Jenen Gegensatz zwischen den tiefsten Leidenschaften des eigenen Willens und der eigenen Natur und den leisen Vorahnungen eines höheren Bewusstseins, in dem die geheimnisvolle, unbestimmbare Seite jedes großen Charakters bestehe, überträgt Nietzsche auf Goethe selbst. Gleichzeitig reflektiert er
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ohne Zweifel seine eigene Situation nach dem Bruch mit Wagner, wenn er in diesem Aphorismus vom quälenden Abschied Goethes von sich selbst in der Mitte seines Lebens spricht. Das Verhältnis des Charakters zu Wahrheit und Lüge, das Goethe in den Materialien untersuchte, wird so zur Analyse der ‚Umschweife des Irrtums‘, durch die Goethe er selbst geworden sei und in denen Nietzsche seine eigene, tiefere Erfahrung widergespiegelt sieht. Die Ausstrahlungskraft des zuvor erwähnten Fragments vom Winter 1872–73 legt eine mögliche Lesart von Nietzsches allgemeiner philosophischer Entwicklung nach der Vollendung der Geburt der Tragödie nahe. Die wichtigsten, eng miteinander verknüpften Texte, die diese Entwicklung dokumentieren – Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn und Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen –, ließ Nietzsche nicht veröffentlichen. Von der eingehenden Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie, die das grundlegende Thema der nachgelassenen Fragmente aus den Jahren 1872 und 1873 bildet und der Nietzsche zwischen 1872 und 1876 drei Seminare an der Universität Basel widmete, legt der lange Aphorismus 261 aus Menschliches, Allzumenschliches beredtes Zeugnis ab. Darin tauchen einige bereits in einem Fragment vom Frühjahr-Sommer 1875 formulierte Gedanken wieder auf. Nach Vollendung der ersten drei Unzeitgemäßen Betrachtungen hatte Nietzsche sich zu jenem Zeitpunkt, anknüpfend an die Überlegungen zur vorsokratischen Philosophie, die er im Frühjahr 1873 unterbrochen hatte, erneut der griechischen Kultur insgesamt sowie ihrer bestimmenden Rolle für die Entwicklung der modernen Kultur zugewandt. In dem Aphorismus werden zunächst einige Kennzeichen der philosophischen Entwicklung bis zu Sokrates und Plato herausgearbeitet und dann verschiedene Aspekte untersucht, die der gesamten griechischen Kultur eigneten. Nach Nietzsches Ansicht hat der allzu rasche, von der Langsamkeit jeglichen ‚natürlichen Verlaufs‘ (vgl. KSA 2, S. 216) weit entfernte Gang der griechischen Geschichte mit dem Sokrates-Schüler Plato zu dem unwiederbringlichen Verlust „einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s “ (KSA 2, S. 217) geführt. Es sei so zu „eine[r] Lücke, ein[em] Bruch in der Entwickelung“ gekommen; was damals tatsächlich geschehen sei, „ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben“. (ebd.) Es ist keineswegs willkürlich, aus diesem Aphorismus einige Kennzeichen von Nietzsches philosophischer Entwicklung nach Abschluss der Geburt der Tragödie herzuleiten, denn für ihn ging die Untersuchung zu den Vorsokratikern stets mit dem Versuch Hand in Hand, einem Bereich näher zu kommen, der für den rätselhaften ‚letzten Philosophen‘ (vgl.
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KSA 7, S. 460), in dem er sich wiedererkannte, noch offen war. Diese Untersuchung zielte also nicht auf eine bloße historische Rekonstruktion. Durch die genaue Analyse der philosophischen und wissenschaftlichen Probleme, die die vorsokratische Philosophie intuiert und vorweggenommen hatte, wollte sie vielmehr einen neuen, außergewöhnlichen philosophischen Horizont, insbesondere ein neues Verhältnis zwischen theoretischer Reflexion und ihrer tatsächlichen Verkörperung in der alltäglichen Lebensführung des ‚letzten Philosophen‘ entwerfen. Die Ausarbeitung dieser neuen philosophischen Möglichkeit bleibt bei Nietzsche jedoch fragmentarisch, und der plötzliche Abbruch seiner Reflexion über die Vorsokratiker ist sozusagen ein Geheimnis seiner geistigen Werkstatt. Die Lektüre der nachgelassenen Fragmente aus den Jahren 1872–75 ermöglicht uns inzwischen verschiedene Einblicke in dieses Geheimnis. Insbesondere lässt sich heute besser nachvollziehen, dass der ‚Bruch‘ des Jahres 1873 bis hin zur Entstehung einiger entscheidender Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches nachwirkt. Nietzsches Interesse für die vorsokratische Philosophie entsteht im Zusammenhang mit seiner Konzeption der griechischen Tragödie 35. Tatsächlich ist es nichts anderes als die Betrachtung der Geburt der Tragödie „von einer anderen Seite“ (vgl. KSA 7, S. 548); sie lasse sich so „aus der Philosophie ihrer Zeitgenossen“ (ebd.) bestätigen. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit der vorsokratischen Philosophie unmittelbar mit dem Anliegen, eine noch praktikable Philosophie zu definieren, und folglich mit der Aufgabe verknüpft, den Bereich einer tragischen Erkenntnis abzustecken, die Nietzsche stets mit der Perspektive einer Wiedergeburt der Tragödie durch Wagners Musik zusammengedacht hatte. Bereits zwischen 1870 und 1871 hatte er es als „Aufgabe unserer Zeit“ bezeichnet, „ d i e K u l t u r z u u n s e r e r M u s i k z u f i n d e n “ (KSA 7, S. 194). Das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie und dessen wesentliche Funktion für die Wiederherstellung einer lebendigen Einheit der Kultur steht somit im Mittelpunkt von Nietzsches Reflexion nach der Geburt der Tragödie. Die Idee eines Philosophen-Künstlers, der die von Kant eingeleitete Krise der Metaphysik überwindet und zu den Ursprüngen des abendländischen Denkens sowie zu einem nicht abstrakten Verhältnis zwischen Natur und Erkenntnis zurückfindet, bildet einen der Angelpunkte dieser Reflexion. Ein grundlegendes Schwanken kennzeichnet dieses Konzept des Philosophen-Künstlers: Einerseits will Nietzsche 35
Einen ersten Entwurf zu einer Untersuchung über die vorplatonischen Philosophen und den weisen Menschen bei den Griechen findet sich bereits in dem Fragment 3 (84) von 1869–70 (vgl. KSA 7, S. 82–83).
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den zügellosen Erkenntnisdrang der zeitgenössischen Wissenschaft bändigen 36, um einer neuen Kultur den Boden zu bereiten; andererseits setzt er die bereits während der Abfassung von Die Geburt der Tragödie begonnene radikale Erkenntniskritik fort, bis hin zur Auffassung jeglicher Erkenntnisform als wesentlich ästhetisches Verhältnis. Dieses Schwanken prägt die Entwicklung seines Denkens nach Vollendung der Geburt der Tragödie. Im Sommer 1873 nimmt er wenigstens zeitweise von der bis zum Äußersten getriebenen Erkenntniskritik Abstand, während die Schaffung der neuen Kultur zum zentralen Thema der vier Unzeitgemäßen Betrachtungen wird. Die Möglichkeit, einem höheren Typus von Philosoph-Künstler neue Horizonte zu erschließen, wird folglich in den zwischen 1873 und 1878 veröffentlichten Schriften nicht weiter verfolgt, sondern nur im Rahmen der freien Experimente der Fragmente und Manuskripte vertieft, die zum Teil sowohl gedanklich als auch stilistisch sehr eindrucksvoll sind. Bei seiner Reflexion über das Verhältnis von Philosophie und Kunst drängt sich Nietzsche zunächst die Frage auf, was den bleibenden Wert eines philosophischen Systems ausmacht, nachdem es sich hinsichtlich seines wissenschaftlichen Fundaments als hinfällig erwiesen hat. Da jede philosophische Auffassung als Wissenschaft dazu bestimmt sei, entkräftet zu werden, sei das entscheidende Element jeder Philosophie „die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion“. Sie werde folglich „als Kunst beurtheilt“ (KSA 7, S. 434). In der Einleitung zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen reduziert Nietzsche diesen ästhetischen Aspekt jedes philosophischen Systems auf eine „persönliche Stimmung, Farbe“ (KSA 1, S. 801), die die Persönlichkeit und das besondere Bild eines jeden Philosophen kennzeichne. Die allgemeine erkenntnistheoretische Reflexion, die er in den Fragmenten anstellt, tritt im endgültigen Text hinter einer konventionelleren, fast biographischen Sicht der Persönlichkeit und des Temperaments des Philosophen zurück. Das Problem des ästhetischen Wertes der Philosophie betrifft nicht allein die Vergangenheit: Nietzsche ist sich in der Tat wohl bewusst, dass Schopenhauers Metaphysik wahrscheinlich unhaltbar ist, doch erscheint sie ihm als Ergebnis eines „Simplificirens“ (vgl. KSA 7, S. 540) im Dienste einer Kultur und als solche nur künstlerisch möglich. Der ästhetische Charakter der Philosophie führt zu ihrem wesensmäßigen Verhältnis zur Sprache zurück. Die Erforschung der vorsokrati36
Diesen Aspekt der Kunst als Bändigung der Wissenschaft betont besonders Thomas Böning in seinem Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York, de Gruyter, 1988.
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schen Philosophie stellt sich bereits als genealogische Untersuchung über den Ursprung der Philosophie dar. Sicherlich ist Nietzsche nicht einfach an den Anfängen einer philosophischen Betrachtung interessiert, denn die Anfänge bergen seines Erachtens stets „das Rohe, Ungeformte, Leere und Hässliche“ (KSA 1, S. 806). Wie das Dionysische erst in dem Moment bedeutsam wurde, als es der griechischen Tragödie gelungen war, ein tendenziell barbarisches ursprüngliches Element in ein künstlerisches Phänomen umzuformen, so erhalten die Anfänge der Philosophie erst dann einen Wert, wenn sie in einer bestimmten Denkart Gestalt annehmen, die für die nachfolgende philosophische Entwicklung bestimmend bleibt. Gleichzeitig müsse man es bei der Rekonstruktion der vorsokratischen Philosophie aber vermeiden, den „viel späteren Standpunkt, erst den Systematiker gelten zu lassen“ (KSA 7, S. 386), an sie heranzuführen, denn diese Perspektive stamme „aus der platonisch-aristotelischen Sphäre“. Die vorsokratische Philosophie dürfe nicht mit der Herausbildung eines Gelehrtenstandes verwechselt werden. Sie spiegele das Leben in seinen machtvollsten Formen und Trieben wider, sei aus einem reinen „Trieb der Erkenntniß“ erwachsen, der noch nicht „durch Sündhaftigkeit und Lebensnoth angestachelt“ gewesen sei (vgl. KSA 7, S. 387). Eben deshalb muss sie in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Sie liefert dergestalt reiches Anschauungsmaterial, um den Ursprung jeder philosophischen Betrachtung in seinem wesensmäßigen Zusammenhang mit der Entstehung der Sprache zu rekonstruieren, bevor diese durch die kalte begriffliche Abstraktion zu einem versteinerten, von der Wahrnehmung einer lebendigen Unmittelbarkeit weit entfernten System erstarrte. In diesem Rahmen richtet sich Nietzsches Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen den Bildern, die jeder Wahrnehmung und Sprache vorausgehen, und den Formen, in denen diese Bilder sich in logische Einheiten gliedern. Phantasie und Gedächtnis regeln ihm zufolge dieses Verhältnis zwischen Bildern und Formen. Unter diesem Blickwinkel wird jede Modalität des Denkens zu einem ästhetischen Verhältnis: „Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählende“ (KSA 7, S. 445). Die „außerordentliche Produktivität des Intellekts“ (ebd.) besteht in der Intensität des Bilderlebens, das die Grundlage jedes Denkens bildet: Es ist viel mehr von Bilderreihen im Gehirn, als zum Denken verbraucht wird: der Intellekt wählt schnell ähnliche Bilder: das Gewählte erzeugt wieder eine ganze Fülle von Bildern: schnell aber wählt er wieder eines davon usw. Das bewußte Denken ist nur ein Herauswählen von Vorstellungen. Es ist ein langer Weg bis zur Abstraktion.
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Die Kraft, die die Bilderfülle erzeugt 2) die Kraft, welche das Ähnliche auswählt und betont. (KSA 7, S. 445)
Die Erzeugung dieses unausschöpflichen Bilderlebens ist Nietzsche zufolge durch physiologische Prozesse bestimmt: Die Bilder entstünden als „die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche“ (KSA 7, S. 446), seien die Folge kaum wahrnehmbarer unendlicher Schwingungen. Jede Empfindung ist von einer intellektuellen Tätigkeit durchdrungen, besteht aus einem feinen, von unserem Gehirn gewobenen Geflecht. Die Phantasie stellt die Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den vielfältigen vom Nervensystem produzierten Bildern her, während das Gedächtnis die Bilder nach bereits bekannten Formen archiviert. Auf diese Weise vollzieht sich Schritt für Schritt der Prozess der Auswahl und Zuordnung der Bilder, der die Grundlage jeder intellektuellen Tätigkeit und jedes bewussten Denkens bildet. Der Selektionsprozess, den die Phantasie und das Gedächtnis leisten, ist ästhetischer Art, jedoch keineswegs das willkürliche Produkt eines ganz freien Erfindens. Nach Nietzsches Ansicht ist der künstlerische Prozess physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht. (KSA 7, S. 446)
Diese physiologische Bestimmtheit unserer Wahrnehmung und unseres Denkens löst jeden prinzipiellen Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft auf, denn die Denkform, die beide bestimmt, ist die gleiche (vgl. KSA 7, S. 443–444). Nietzsche greift in diesem Zusammenhang auf die Reduktion jeder qualitativen Differenz auf einfache Unterschiede der „Grade und Quantitäten“ (KSA 7, S. 446) zurück, die er schon früher aus Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten übernommen hatte. Doch stellt er jetzt den Begriff des Instinkts selbst radikal in Frage. Der unbewusste Finalismus, der die Funktion der Impulse in den Lebensmechanismen bestimme, erscheint ihm als willkürliche Vereinfachung, die das Entstehen des Denkens nicht zu erklären vermag – und nicht einmal die Reproduktion der Natur. Auch die Vorstellung des Instinkts wird so auf eine Form von Anthropomorphismus zurückgeführt. Tatsächlich tue der Mensch nichts anderes als die Urkräfte der Natur so zu denken wie das ist, was in sein Bewußtsein kommt. Er nimmt die W i r k u n g e n d e r c o m p l i c i r t e s t e n M e c h a n i s m e n , des Gehirns, an, als seien die Wirkungen seit Uranfang gleicher Art. Weil dieser complicirte Mechanismus etwas Verständiges in kurzer Zeit her-
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vorbringt, nimmt er das Dasein der Welt für sehr jung: es kann dem Schöpfer nicht so viel Zeit gekostet haben, meint er. So glaubt er mit dem Wort „Instinkt“ irgendetwas erklärt und er überträgt wohl gar die unbewußten Zweckhandlungen auf das Urwerden der Dinge. (KSA 7, S. 457–458)
Der Instinkt ist folglich keine dem Universum der Vorstellung entzogene Willensäußerung, sondern seinerseits das Resultat einer Vorstellung, einer Vereinfachung des komplexen Nerven- und Sinnesapparats, der seine Grundlage bildet. Der Instinkt präsentiert sich Nietzsche somit als „das Erzeugniß endlos lang fortgesetzter Prozesse“ (KSA 7, S. 461). Diese Kritik des Instinkts betrifft unmittelbar auch die Idee des Willens selbst: „Auch dieser Wille ist ein höchst complicirtes Letztes in der Natur. N e r v e n vorausgesetzt“ (ebd.). Die Mechanismen der Objektivierung des Willens, auf die Nietzsche das Verhältnis zwischen Sprache und Musik zu gründen und letztere als Willensäußerung in ihrer ursprünglichen Reinheit zu interpretieren gesucht hatte, erscheinen ihm jetzt nicht mehr „adäquat“ (vgl. ebd.). Die Grundlagen der komplexen Metaphysik der Kunst, die er in der Geburt der Tragödie ausgearbeitet hatte, werden immer problematischer. Das Einswerden des künstlerischen Genius mit dem Ureinen in dessen schöpferischer Vision vermag die höhere Sprache des Willens nicht mehr auszudrücken. Auch der Wille reduziert sich auf das ihm zugrunde liegende physiologische Substrat. Das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie und die Betonung des ästhetischen Charakters jeder Erkenntnisform findet in den Fragmenten von 1872–73 andere Begründungen als die ästhetische Rechtfertigung der Welt, die Nietzsche in Die Geburt der Tragödie vertreten hatte. Die Neubestimmung dieses Verhältnisses steht im Zusammenhang einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der Krise der Metaphysik, die durch die Philosophie Kants eingeleitet wurde. Seine Haltung Kant gegenüber, auf den Nietzsche sich nun mehrfach direkt, ohne die Vermittlung über Schopenhauer bezieht, spiegelt jene Ambivalenz des Philosophen-Künstlers wider, von der zuvor die Rede war. Einerseits bezieht Nietzsche sich nämlich auf das von Kant in der zweiten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft theoretisierte Verhältnis zwischen Glauben und Wissen 37, um ein dem Wissen entzogenes Gebiet umreißen zu können. Darin werde der Erkenntnistrieb gebändigt, und „alles Höchste[ ] und Tiefste[ ], Kunst und Ethik“ (KSA 7, S. 427) wurzelten darin. In dieser 37
Eine erste unmittelbare Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen bei Kant – ein Thema, das Nietzsche lange Zeit beschäftigen sollte – findet sich beispielsweise in dem Fragment 19 (34) von 1872–73.
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Hinsicht erscheint Kant Nietzsche folglich als großer Vorläufer bei der Schaffung einer neuen künstlerischen Kultur, die sich dem unaufhaltsamen Vorwärtsdringen der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegenstellt oder sie höheren Zielen zuführt. Andererseits ist aber nach Nietzsches Ansicht die Krise der Metaphysik als Wissenschaft, in der eine tiefere tragische Konzeption der Erkenntnis und der Philosophie wurzeln müsse, durch Kant unumstößlich geworden. Der Philosoph der tragischen Erkenntnis ist sich darüber bewusst, dass der Boden der Metaphysik ‚weggezogen‘ ist: Kants Kritik hat gezeigt, dass jede Metaphysik letztendlich auf eine anthropomorphische Sublimierung unserer Erkenntnismodalitäten zurückführbar ist. Diese Kritik muss sogar fortgeführt werden, bis sie auf ein Dilemma stößt, das durch die zeitgenössische Entwicklung der Naturwissenschaften immer mehr in den Vordergrund gerückt ist: Wenn die Naturwissenschaften Recht hätten, dann würden die Grundlagen von Kants Denken immer ungewisser. Die einzige Möglichkeit, um diese Ungewissheit zu überwinden, bestehe in dem Bewusstsein von einer neuen Perspektive: „Gegen Kant ist dann immer noch einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle M ö g l i c h k e i t bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint.“ (KSA 7, S. 459) Sogar das Ding an sich könne einfach als eine „Erscheinung des Seienden“ (KSA 7, S. 466) aufgefasst und daher radikal von dem „wahre[n] Wesen der Dinge der B u d d h i s t e n “ (ebd.) unterschieden werden, die den Schein als Nichtsein konzipierten. Die Tragik der Erkenntnis besteht genau in diesem Bewusstsein vom illusorischen Charakter jeder Äußerung des menschlichen Geistes, bei der gleichzeitigen Überzeugung, die Illusion sogar wollen zu müssen. (vgl. KSA 7, S. 428) Der Philosoph-Künstler, der Nietzsche vorschwebt, steht in dieser von Kant aufgerissenen Kluft zwischen Glauben und Wissen. Nietzsche ist sich jetzt der extremen Schwierigkeit bewusst, ein mythisches Gebäude neu zu errichten, um in dem durch Kants Kritik der reinen Vernunft gelassenen Vakuum einen neuen Glauben zu beleben: Dagegen kann ich mir eine ganz neue Art des P h i l o s o p h e n - K ü n s t l e r s imaginiren, der ein K u n s t w e r k hinein in die Lücke stellt, mit ästhetischem Werthe. (KSA 7, S. 431)
Dieser Philosoph-Künstler hat ein Bewusstsein von dem „tragische[n] Problem Kants“ (KSA 7, S. 453–454), das darin besteht, in einer lügenhaften Natur ganz wahrhaftig sein zu wollen. Gerade diese Spannung zwischen Pathos der Wahrheit und anthropomorphischem, illusorischem Charakter der Erkenntnis verleiht der Kunst „eine ganz n e u e Würde“ (ebd.). Der Philosoph, wie Nietzsche ihn sich vorstellt, führt das Bedürf-
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nis nach Wahrhaftigkeit bis zu seinen extremen Konsequenzen, bis hin zur Infragestellung der Erkenntnis selbst. So enthüllt er den lügenhaften Charakter der Logik und der „optimistischen Metaphysik“, die deren Herrschaft garantiert (vgl. KSA 7, S. 453). Aus dieser Entdeckung des ästhetischen Charakters jeder Erkenntnisform muss dann ein neues Kunstwerk entstehen, auch wenn Art und Grundlagen dieses ästhetischen Produkts vorerst noch unbestimmt bleiben. Die komplexe Metaphysik der Kunst, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie ausgearbeitet hatte, wird in dem Moment ihrer Grundlagen beraubt, da der Wille selbst auf sein materielles Substrat zurückgeführt und das Ding an sich wesentlich an die Vorstellungsweisen gebunden wird, in denen es sich ausdrücken kann. In den Fragmenten aus den Jahren 1872–73 formuliert Nietzsche jedoch weder eine explizite Kritik an den in seinem ersten Werk vertretenen Auffassungen noch schreitet er zur Neudefinition der besonderen Merkmale des Kunstwerks, in das er nach wie vor all seine Hoffnungen für die Überwindung der tragischen Konflikte setzt, die aus der Krise der Metaphysik entstanden sind. Er stellt den inneren Konflikt des Philosoph-Künstlers heraus, dessen Trieb zur Optimierung der Logik und rationalen Erkenntnis ein anderes Wahrheitsgefühl gegenüberstehe, das „aus der Liebe“ stamme (vgl. ebd.). Auf unterschiedliche Weise drängten Rationalität und Liebe beide zur Mitteilung und zum Ausdruck, und aus ihrer fruchtbaren Wechselbeziehung könnten neue Formen der philosophischen Kommunikation entstehen, in denen Denken und Dichtung in einer höheren, originelleren ästhetischen Dimension zusammengehen. Diese ästhetische Dimension müsse die Philosophie wieder zur Einfachheit einer reinen Sprache der Natur zurückführen, wie es diejenige der großen vorsokratischen Denker gewesen sei. Die durch Kant eingeleitete Krise der Metaphysik kann nach Nietzsches Meinung nur dann ein fruchtbarer Experimentierboden sein, wenn es gelingt, sich auf die unnachahmlichen Vorbilder für eine noch nicht im abstrakten Dogmatismus einer angenommenen Systematik erstarrten Reflexion zu beziehen. Ohne die Griechen bliebe seines Erachtens die Möglichkeit der Überwindung des Skeptizismus durch ein außerordentliches Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst unweigerlich chimärisch. 38 Der Abstand, der in dieser Zeit die Entwürfe und Projekte der Fragmente von den unveröffentlichten oder unvollendeten Werken wie Über 38
Tatsächlich behauptet Nietzsche im Fragment 19 (36) von 1872–73, die Griechen hätten gezeigt, welches die höchste Aufgabe und Würde der Kunst seien; ohne die Griechen bliebe der Glaube an die Kunst und den ästhetischen Charakter der Erkenntnis nach seiner Ansicht ohne Fundament (vgl. KSA 7, S. 428–29).
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Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn und Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bzw. den veröffentlichten Schriften wie den vier Unzeitgemäßen Betrachtungen trennt, verdeutlicht, dass Nietzsche sich auf der Suche nach einer neuen Sprache und Kommunikationsform im Vergleich zur Geburt der Tragödie befindet, auch wenn sie von jeder endgültigen Realisierung noch weit entfernt ist. Vorerst sticht das Bedürfnis nach einer kühleren Objektivität und distanzierteren Unpersönlichkeit ins Auge, das sich – in klarem Kontrast zur vehementen, leidenschaftlichen Sprache der Betrachtungen – in den Fragmenten ausdrückt. 39 Unter den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Texten ist wohl Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn derjenige, in dem diese Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten wenigstens vorläufig eine bedeutende Umsetzung erfährt. Die eingehende Reflexion über den Ursprung der Sprache und den anthropomorphischen Charakter der Erkenntnis findet in diesem kurzen Text in den suggestiven Tönen einer philosophischen Fabel ihren Ausdruck. Aus immensem Abstand wird das beunruhigende, oft willkürliche Spiel unseres Intellekts hier betrachtet. Auf den dichten Seiten dieser Schrift arbeitet Nietzsche nüchtern und gedrängt die in den Fragmenten der Jahre 1872–73 aufgestellten erkenntnistheoretischen Hypothesen aus, entwickelt aus der sachlichen Darlegung seiner Gedanken die bestürzenden Fragen über die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, verschmilzt philosophische Erörterung und essayistische Betrachtungen zu einem stilistischen Ganzen. Er treibt seine Auffassung vom metaphorischen und künstlerischen Charakter jeder Erkenntnis bis zum Äußersten, scheint erneut ein Loblied auf den intuitiven, ästhetischen Menschen zu singen, der in Griechenland jeden Aspekt des Lebens beherrscht habe, führt aber zugleich, gewissermaßen im Hintergrund, das neue Bild des Philosophen-Wanderers, des rationalen, besonnenen Freigeistes ein, der seinen Weg geht, ohne sich angesichts des Schmerzes zu verirren. Genau dieser Wanderer, der in einem denkwürdigen Aphorismus am Ende des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches dargestellt wird (vgl. KSA 2, S. 362–363), scheint in Über Wahrheit und Lüge als versteckter Richter des bunten und reizvollen Traums angerufen zu werden, der in Die Geburt der Tragödie gestaltet worden war. Über Wahrheit und Lüge ist die kohärenteste Darlegung des ästhetischen Charakters jeder Erkenntnisform und zugleich der vollendetste Realisierungsversuch jenes Umschlagens der Wissenschaft in Kunst, das 39
Vgl. z. B. das Fragment 19 (65), wo Nietzsche sich selbst empfiehlt: „Durchaus unpersönlich und kalt zu schreiben. Kein ‚ich‘ und ‚wir‘“ (KSA 7, S. 440).
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in der Geburt der Tragödie in Gestalt des musiktreibenden Sokrates formuliert worden war. Allein „ein ä s t h e t i s c h e s Verhalten“, „eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache“ (KSA 1, S. 884) prägt Nietzsche zufolge die Subjekt-Objekt-Beziehung. Der Anthropomorphismus unserer Erkenntnis entstehe genau in dem Augenblick, in dem man die Dinge „als reine Objekte“ (KSA 1, S. 883) vor sich zu haben vermeint. Darüber versäume man es, die durch die Betrachtung eines Objekts ausgelöste flüchtige, vielgestaltige Komplexität der Empfindungen genauer zu untersuchen. Jede Wahrnehmung ist nach Nietzsches Ansicht von der „künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder“ (KSA 1, S. 882) begleitet. Unsere Beziehung zur Außenwelt sei durch eine Bildermasse gesteuert, die „in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie“ (KSA 1, S. 883) hervorströme. Die Phantasie, unterstützt durch die Erinnerung an frühere analoge Empfindungen, selektiere diese Bilder und führe sie auf die Wahrnehmung bestimmter Objekte zurück. In diesem Sinne greife bei jeder menschlichen Wahrnehmung ein „künstlerisch schaffendes Subjekt“ ein, das die „originalen Anschauungsmetaphern“ (ebd.) erzeuge. Die Erkenntnis entstehe durch die Verfestigung dieser Metaphern, ihre Katalogisierung in einem System konventioneller Zuordnungen, bis der Mensch die Ausgangsmetapher vergesse und sie als die Dinge selbst nehme. Es ist wichtig, dass Nietzsche seine Auffassung vom ästhetischen Charakter der Erkenntnis dank einer außergewöhnlichen Erforschung der Naturgesetze, die mit ihrer strengen Unfehlbarkeit schwerlich auf ein bloßes Phantasieerzeugnis zurückgeführt werden können, gegen jeglichen Idealismus abgrenzt. Tatsächlich entsteht die Erkenntnis Nietzsche zufolge nicht aus den reinen, der Empfindung entspringenden Metaphern, sondern aus ihrer Gegebenheit in den Formen von Raum und Zeit: Dabei ergiebt sich allerdings, dass jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe constituirt werden sollte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der ZeitRaum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern. (KSA 1, S. 886)
Diese Raum- und Zeitformen, die die Empfindung und ihre Umsetzung in Metaphern bedingen, finden jedoch ihr Fundament nicht mehr a priori in irgendeinem Ding an sich; „das räthselhafte X des Dings an sich“ nehme sich nämlich „einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut“ (KSA 1, S. 879) aus. Die Auffassung vom ästhetischen Charakter der Erkenntnis unterstreicht folglich, dass die Erkenntnis letztendlich
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eine Modalität unserer Sprache ist, welche die Empfindungen und Reize unseres Nerven- und Wahrnehmungsapparats ordnet. Gleichzeitig projiziert sie aber eine bestimmte Sprachauffassung in den weiteren Bereich einer radikalen Wahrheitsfrage. Auf welche Weise das bewegliche „Heer von Metaphern, Metonymien, Antropomorphismen“ (KSA 1, S. 880) sich in Raum- und Zeitkategorien gliedert, wie die Eigenschaften sich herausbilden, die Objekten und Gefühlen zugeschrieben werden, auf welche Weise der ‚Bau der Begriffe‘ auf einem dauerhaften, feststehenden, wenngleich seinem Ursprung nach rätselhaften Wesen gründet und auf welche Weise dieses Wesen schließlich seinerseits als Netz aus Beziehungen und Metaphern dekonstruiert werden kann: Dies sind einige der impliziten Fragen in Über Wahrheit und Lüge, die, im Lichte der zeitgenössischen Fragmente gelesen, für das feine konzeptionelle Gerüst dieser kurzen Schrift entscheidend zu sein scheinen. 40 Gerade die zweifache Dimension von Sprachphilosophie und Wahrheitsfrage verleiht dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, wie es in Über Wahrheit und Lüge theoretisiert wird, eine besondere Tiefe. Die Verherrlichung der Kunst im zweiten Abschnitt der Schrift erwächst nicht mehr aus jener höheren metaphysischen Rechtfertigung, die in der Geburt der Tragödie durch das Einswerden des Genius mit dem Ureinen und dem Willen möglich war. Hier kann sich die Kunst nicht mehr im Rahmen einer der rationalen Wahrnehmung entzogenen reinen Sprache des Instinkts und des Unbewussten äußern. Zwischen Kunst und Wissenschaft besteht kein wesentlicher Unterschied, weil beide der Ausdruck einer gemeinsamen Sprache sind, einer einzigen Symbolwelt der Zeichen und Konventionen angehören. Die Kunstauffassung, die sich in Über Wahrheit und Lüge abzuzeichnen beginnt, setzt das abstrakte Begriffsgebäude, das die wissenschaftliche Erkenntnis geduldig errichtet hat, in verschiedener Hinsicht sogar voraus. Die Kunst führt den scheinbar im Begriffsgebäude der 40
Zum Verständnis des engen Verhältnisses zwischen Sprachfrage und Wahrheitsfrage in dieser Schrift ist die von Günter Abel in seinem Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1995, entwickelte Position interessant. Abel stellt unter anderem fest: „Wahrheit kann nicht als eine trans-interpretative Invariante und auch nicht als eine essentialistische und zeitlose Eigenschaft von Aussagen verstanden werden, die diese niemals und in keinem Interpretationssystem verlieren können. (...) Interpretationistisch wird die Wahrheitsfrage so behandelt, daß sie jenseits der Entgegensetzungen sowohl von Absolutismus und Relativismus als auch von Essentialismus und Naturalismus steht“ (a. a. O., S. 360). Abgesehen von Abels Position ist jedenfalls hervorzuheben, dass Nietzsche das Problem der Sprache zum Problem der Wahrheit selbst macht und nach einer Wahrheitsauffassung jenseits von Absolutismus und Relativismus sucht. Für eine allgemeine Diskussion der abelschen Positionen vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen, Bd. 2, Über Freiheit und Chaos, Berlin/New York, de Gruyter, 1999, S. 269–290.
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Wissenschaft unterdrückten ursprünglichen „Trieb zur Metapherbildung“ (KSA 1, S. 887) in einen neuen Bereich seines Wirkens. Folgendermaßen beschreibt Nietzsche diese regenerierende Wirkung des künstlerischen Triebes auf die erstarrten Abstraktionen der rationalen Erkenntnis: Fortwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist. (KSA 1, S. 887)
Die Kunst wird so zum bevorzugten Aktionsfeld eines freigewordenen Intellekts, der das „ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe“ nur als „ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke“ (KSA 1, S. 888) benutzt. Die Kunst vermag die scheinbare Starre der wissenschaftlichen Kategorien folglich aufzulösen, sie zu ihrem metaphorischen Ursprung zurückzuführen, bedient sich der Begriffsgebäude der Wissenschaft aber zugleich, um ihr schöpferisches Spiel frei entfalten zu können. Diesem Spiel eignet auch eine ironische Note, die Nietzsches Denken bisher völlig abging. Der künstlerische Trieb zerschlage die alten Begriffsschranken und werfe sie durcheinander, schaffe neue, außergewöhnliche Wechselbeziehungen zwischen ihnen, setze sie aber auch ironisch wieder zusammen (vgl. KSA 1, S. 888). Dieser ironische Wert verweist auf eine neue Interpretation des dem ästhetischen Genuss zugrunde liegenden Verhältnisses von Lust und Schmerz. In Die Geburt der Tragödie konnte der durch die Individuation erzeugte Schmerz nur deshalb aufgehoben werden, weil er als eine Vision des künstlerischen Genius geschaut wurde. Diese Anschauung der Vision verwandelte den existenziellen Schmerz in eine höhere Anschauung des Wechsels von Werden und Zerfall, wie er jedem Lebensprozess eigen ist. So konnte in der Kunst das Hervorbrechen einer machtvollen Urlust erahnt werden, die jeglicher Veränderung widerstand. Jetzt wohnt das durch die Kunst hervorgerufene Glück dagegen diesem ironischen Spiel der Konstruktion und Dekonstruktion inne. Die Kunst lebe in dem Bewusstsein vom illusorischen Charakter dieses Glückes, doch gerade die Entäußerung ihrer unbändigen Kreativität ermögliche ihr „ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung“ (KSA 1, S. 889). Die Kenntnis des Schmerzes sei dem rationalen Menschen vorbehalten, der jedoch durch die Erfahrung belehrt und durch die Begriffe vor jeder momentanen Empfindung der Verirrung und Unruhe geschützt sei, so dass er mit distanzierter Kälte und Undurchdringlichkeit auf den Schmerz reagieren könne. Ist das Glück des
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Künstlers eine Illusion, so ist indes auch die von dem rationalen Menschen bewerkstelligte Überwindung des Schmerzes nur ein „Meisterstück der Verstellung“ (KSA 1, S. 890) und eine Maske. Ironie und Haltung scheinen für Nietzsche jetzt jede höhere intellektuelle oder geistige Tätigkeit auszuzeichnen, sei es dass sie sich als Kunst, sei es dass sie sich als rationale Erkenntnis darstellt. Am Ende von Über Wahrheit und Lüge nimmt Nietzsche direkter als in der Geburt der Tragödie Bezug auf die Moderne, während das Griechentum ein geringeres Gewicht in seiner Reflexion hat. Er beschränkt sich darauf, festzustellen, dass es Zeitalter gebe, „in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraction“ (KSA 1, S. 889). Kunst und Wissenschaft müssten auf irgendeine Weise zusammenleben, und die Moderne könne nur mit ironischer Nostalgie auf jene „Herrschaft der Kunst über das Leben“ (ebd.) zurückblicken, die im Griechenland der Antike auf denkwürdige Weise erreicht worden sei; dabei aber dürfe sie nicht vergessen, dass auch diese Herrschaft nur das Produkt einer Fiktion, eines verzauberten Traumes gewesen sei, in dem die Natur als eine „Maskerade der Götter“ (KSA 1, S. 888) erschien. Die jüngere Nietzsche-Forschung hat mehrfach betont, dass Über Wahrheit und Lüge im Verhältnis zu den ästhetischen Auffassungen der Geburt der Tragödie eine Wende darstellt, und hat das dichte Netz von Bezugnahmen untersucht, aus denen diese kurze Schrift vom Sommer 1873 besteht. 41 Besonders wichtig für die Ausarbeitung der darin entwi41
Das neue Interesse für Nietzsches Sprachphilosophie und für Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn wurde bekanntlich durch den Aufsatz von Philippe LacoueLabarthe, Le détour (Nietzsche et la rhétorique), in „Poétique“, 5 (1971), S. 53–76, angeregt, der in deutscher Übersetzung in Nietzsche aus Frankreich, hg. von W. Hamacher, Frankfurt/Main/Berlin 1986, S. 75–110, erschien. Die Beziehungen zu Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst wurden analysiert von Anthonie Meijers und Martin Stingelin in ihrem Beitrag Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber „Die Sprache als Kunst“ (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, in: „Nietzsche-Studien“, 17 (1988), S. 350–368. Vgl. auch C. Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, Berlin/New York, de Gruyter, 1988. Wiederholt hat zudem Ernst Behler Nietzsches Sprachphilosophie seine Aufmerksamkeit zugewandt; hier sei erinnert an Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O., S. 99–111, sowie an das Nietzsche gewidmete Kapitel in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hg. von T. Borsche, München, Beck, 1996. Zu anderen Aspekten von Nietzsches Sprachphilosophie vgl. außerdem T. Borsche, Natur-Sprache: HerderHumboldt-Nietzsche, und A. Orsucci, Unbewußte Schlüsse. Anticipationen, Übertragungen. Über Nietzsches Verhältnis zu Karl Friedrich Zöllner und Gustav Gerber, beide in: „Centauren-Geburten“, a. a. O., S. 112–130 und 193–207.
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ckelten erkenntnistheoretischen Perspektiven sind zwei Vorlesungen: Die Sprache als Kunst von Gustav Gerber und Über die Natur der Kometen von Johann Karl Friedrich Zöllner. Von Zöllner übernimmt Nietzsche die Idee der ‚unbewußten Schlüsse‘, die er auf der Grundlage der Übertragungsmechanismen, auf deren Bedeutung bei der Entstehung der Sprache Gerber hingewiesen hatte, umarbeitet und neu formuliert.42 Nietzsche hat wiederholt Bedenken hinsichtlich des Konzepts der unbewussten Schlüsse geäußert, die bei der Wahrnehmung eine Rolle spielten und sie in eine komplizierte intellektuelle Operation verwandelten. Gleichzeitig hat er es aber als Möglichkeit entdeckt, um eine Verbindung zwischen den verschiedenen durch die Nervenreize erzeugten Bildern herzustellen, so dass diese Bilder selektiert und auf einer differenzierteren Ebene wahrgenommen werden können, bis hin zu ihrer Verfestigung in abstrakten Begriffen. Es gebe ein Übergehen von Bild zu Bild, wobei das letzte Bild als „Reiz und Motiv“ (vgl. KSA 7, S. 454) für neue Bilder und für ihre Untergliederung in einem logischen Verfahren wirke. Das „alles aufbewahrende Gedächtniß“ (vgl. KSA 7, S. 465) greift bei der Systematisierung dieser Bilder ein und vergleicht sie mit Erfahrungen paralleler Art, um sie benennen und sie gemäß der Erinnerung an frühere Empfindungen einordnen zu können. Gerade die ständige Hervorhebung der Bedeutung der Bildermasse bei jeder unserer Wahrnehmungen oder Begriffsbildungen erlaubt Nietzsche die Zurückführung der unbewussten Schlüsse auf die metaphorischen Verfahren, die für die Sprache konstitutiv sind und die Gerber besonders eingehend erforscht hatte: Tropen sind’s, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificiren – irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß. Das G e d ä c h t n i ß lebt von dieser Thätigkeit und übt sich fortwährend. Die V e r w e c h s l u n g ist das Urphänomen. (KSA 7, S. 487)
Indem Nietzsche dieses ursprüngliche metaphorische Verfahren vertieft und dank verschiedener Übertragungsmechanismen von der Ausgangssphäre der Empfindung und der Sprache auf andere Bereiche der Erkenntnis und menschlichen Tätigkeit ausweitet, gelangt er zu jener Definition der Wahrheit als ‚eines beweglichen Heeres von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen‘ (vgl. KSA 1, S. 880), die den Themenkern 42
Vgl. dazu A. Orsucci, Unbewußte Schlüsse. Anticipationen, Übertragungen. Über Nietzsches Verhältnis zu Karl Friedrich Zöllner und Gustav Gerber, a. a. O. Zu Nietzsches Verhältnis zu Zöllner vgl. auch Robin Small, Nietzsche in Context, Burlington, Ashgate, 2001, S. 59–81; Hubert Thuring, Geschichte des Gedächtnisses. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert, München, Fink, 2001, S. 295–298.
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von Über Wahrheit und Lüge ausmacht. Die jüngere Nietzsche-Forschung hat sich insbesondere mit der Gerberschen Abstammung der Auffassung vom metaphorischen Charakter der Sprache und Erkenntnis befasst, die in der Interpretation dieser Schrift von 1873 und ihrer Bedeutung für die philosophische Entwicklung des jungen Nietzsche inzwischen unumstritten ist. 43 Ohne die Bedeutung der Lektüre von Gerbers Werk im Geringsten in Abrede stellen zu wollen, ist unseres Erachtens jedoch ein weiterer Faktor entscheidend für die Umformung eines Prozesses der Sprachentstehung in das allgemeinere Problem der logischen Fundierung der Wahrheit selbst, nämlich die eingehende philosophische Reflexion, die die Lektüre von Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit begleitet, dessen Erstausgabe 1872 erschien. 44 Dem möglichen Einfluss Spirs auf die in Über Wahrheit und Lüge vertretenen Konzeptionen nachzuforschen, bedeutet zugleich, diese Schrift im allgemeineren Zusammenhang der Entwürfe des Jahres 1873 zu verorten. Ursprünglich war Über Wahrheit und Lüge in der Tat als Einleitung zu Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen geplant, und zu demselben Komplex sollte auch die Schrift gehören, die Nietzsche dem ‚letzten Philosophen‘ widmen wollte. Außerdem gehören die Gedankengänge hierhin, die in dem fundamentalen Heft 26 vom Frühjahr 1873 ihren Niederschlag finden und wahrscheinlich das Gerüst der Schlusskapitel von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bilden sollten. Diese Kapitel, die von Empedokles, Demokrit und dem Bruch in der philosophischen Entwicklung Griechenlands handeln sollten, der mit Sokrates stattgefunden hatte, blieben im Entwurfsstadium. Betrachtet man die mit Über Wahrheit und Lüge vollzogene Wende im Rahmen dieser komplexen philosophischen Ausarbeitung der Jahre 1872–1873, so lassen sich zudem die feinen Verbindungslinien zwischen dieser auf die Geburt der Tragödie folgenden Reflexion und der Herausbildung einiger Thematiken von Menschliches, Allzumenschliches genauer erforschen. Bekanntlich ist etwa die Auseinandersetzung mit 43
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Für die Analyse der Beziehungen zu Gustav Gerber sei auf die bibliographischen Angaben in Fußnote 10 verwiesen. Wichtig erscheint es, an dieser Stelle an das Fragment 19 (217) von 1872–73 (vgl. KSA 7, S. 487) zu erinnern, worin Nietzsche das Problem der Tropen und Metaphern mit der Frage verknüpft, wie es zur Wahrnehmung der Außenwelt kommt. Er erklärt dies durch das Zusammentreffen zweier Empfindungen, von denen eine durch das Tastgefühl, die andere durch das Gesichtsbild erzeugt werde; beide würden sich dann im Gedächtnis verbinden. Das Verhältnis zwischen beiden Wahrnehmungen sei genau metaphorischer Art. Hier wird deutlich, wie Nietzsche das von Eduard von Hartmann aufgegriffene Problem der Entstehung der Wahrnehmung aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Gerber und Zöllner neu stellt. Vgl. A. Spir, Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie, Bd. 1, Leipzig, Findel, 1873, S. 16 ff.
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Spir grundlegend für die Determinierung der neuen erkenntnistheoretischen Perspektiven dieses Werks. Explizit zitiert Nietzsche Afrikan Spirs Werk erstmals in einem langen Abschnitt von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Während er das Thema der Ontologie bei Parmenides diskutiert (vgl. KSA 1, S. 845) und ihm die Einwände ‚von der bewegten Vernunft‘ und ‚von dem Ursprung des Scheins‘ (vgl. KSA 1, S. 851) entgegenhält, erinnert er an das Problem der Bewegung als unbestreitbare „Succession unserer Vorstellungen im Denken“ (vgl. KSA 1, S. 853), das Anaxagoras dem starren Sein des Parmenides entgegengesetzt hatte. In diesem Zusammenhang wird das Problem der Zeit als a-priori-Kategorie der Erkenntnis aufgeworfen und der von Spir gegen dieses Konzept Kants gerichtete Einwand als entscheidendes Argument bezeichnet, um die von Parmenides vertretene Seinsauffassung zu widerlegen. Nietzsche zitiert diesen Einwand ausführlich und führt das Zitat mit einem weiteren wichtigen Argument ein, das er von Spir übernimmt, nämlich mit der Unterscheidung zwischen einem zeitlosen ‚reinen Denken‘ und „dem Bewußtsein von diesem Denken“ (vgl. KSA 1, S. 857). Spir zufolge hatte Kant die vom Bewusstsein ausgeübte Funktion bei der Vereinigung des Mannigfaltigen unserer Anschauungen mit den allgemeinen Vorstellungen selbst verwechselt, die uns die Wirklichkeit im Denken zugänglich machen. Kant sei so dazu gelangt, von einer ‚transcendentalen Einheit der Apperception‘ auszugehen, die auf der Einheit des Selbstbewusstseins gründe, und dieses Selbstbewusstsein von einem empirischen Bewusstsein zu unterscheiden, welches nur vorübergehende, wechselnde Zustände und Empfindungen wahrnehme. Diese Unterscheidung spiegele sich in der Auffassung der Zeit und der Veränderung wider, deren Realität Kant geleugnet habe. In dem Passus, der in Die Philosophie im tragischen Zeitalter wiedergegeben wird, unterscheidet Spir folglich zwischen der Vorstellung der Sukzession, die in unserem Bewusstsein stattfinde, und der „Succession unserer Vorstellungen“ (ebd.). Kant hatte seines Erachtens die „unzweifelhaft objektive Realität“ (KSA 1, S. 858) der Sukzession abgestritten und Zeit und Sukzession nur als „eine dem Subjecte allein angehörende und anhängende Form der Anschauung, oder der Receptivität, oder auch des ‚inneren Sinnes‘“ 45 aufgefasst. Die Heranziehung dieses Passus aus Denken und Wirklichkeit gegen die Seinstheorie des Parmenides dient Nietzsche dazu, die objektive Realität der Bewegung und Veränderung zu unterstreichen. Der Passus spielte folglich eine sehr wichtige Rolle bei dem Versuch, eine Denkform zu gewinnen, die sich den erstarrten Abstraktionen eines un45
A. Spir, a. a. O., S. 263.
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veränderlichen Seins entzieht und den Vorrang der Sinne bei der Wahrnehmung der vielgestaltigen Wirklichkeit und ihrer unaufhaltsamen Bewegung behauptet. Dieses Anliegen bildet die zentrale Achse der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 46, wie es auch einige grundlegende Fragmente vom Frühjahr 1873 beseelt, auf deren Bedeutung für das Verständnis der philosophischen Entwicklung des jungen Nietzsche bereits Karl Schlechta und Anni Anders hingewiesen hatten. 47 Offensichtlich handelt es sich bei diesen Fragmenten um vorbereitende Arbeiten für die mutmaßlichen Schlusskapitel der Schrift über die vorsokratische Philosophie, in deren Lichte das zuvor erwähnte Spir-Zitat weitere Bedeutungen erlangt. So 46
47
Vgl. insbesondere die Kapitel 14–19, in denen Nietzsche die Position des Anaxagoras und seine Einwände gegen Parmenides analysiert. Die Einwände gegen Parmenides wären durch die Analyse von Empedokles und Demokrit, die in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen unvollendet blieb, weiter bekräftigt worden. Auf den Zusammenhang zwischen dieser Nietzsche-Schrift und der Lektüre von Afrikan Spir hat Paolo D’Iorio hingewiesen in L’image des philosophes préplatoniciens chez le jeune Nietzsche, in: „Centaueren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O., S. 383–417. Die Debatte unter den vorsokratischen Philosophen wirkte sich nach Nietzsches Ansicht auf die tiefe Wende aus, die mit dem Übergang zu Sokrates und Plato in der griechischen Philosophie stattfand. Besonders Plato hatte nach Nietzsches Meinung ein Doppelgesicht, führte einerseits das Denken des Demokrit fort, war andererseits Sokrates-Schüler. Ein Plato, der von der Sokratischen Lektion unberührt geblieben wäre, hätte für Nietzsche jener Reformator des Griechentums sein können, auf den er besonders nachdrücklich und häufig in einigen Fragmenten aus dem Jahre 1875 zu sprechen kommt. Zu dieser Plato-Lesart Nietzsches vgl. z. B. die Fragmente 23 (27), 23 (35) und 23 (40) vom Winter 1872–73 (KSA 7, S. 549–557); 6 (18) und 6 (28) vom Sommer 1875 (KSA 8, S. 104–109). Der Beziehung Nietzsches zu Afrikan Spir hat Paolo D’Iorio sowohl in seinem Band La linea e il circolo. Cosmologia e filosofia dell’eterno ritorno in Nietzsche, Genova, Pantograf, 1995, als auch in anderen Beiträgen große Aufmerksamkeit geschenkt; vgl. insbesondere den umfänglichen Aufsatz La superstition des philosophes critiques. Nietzsche et Afrikan Spir, in: „Nietzsche-Studien“, 22 (1993), S. 257–294. Einige Hinweise auf die Beziehung Nietzsche – Spir finden sich zudem in folgenden Arbeiten von Hubert Treiber: Zur Genealogie einer „science positive de la morale en Allemagne“. Die Geburt der „r(é)alistischen Moralwissenschaft“ aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption, in: „Nietzsche-Studien“, 22 (1993), S.165–221; Zur „Logik des Traums“ bei Nietzsche, in: „Nietzsche-Studien“, 23 (1994), S. 1–41; Nietzsches Kloster für Freiere Geister. Nietzsche und Weber als Erzieher, in: Die Religion von Oberschichten, hg. von P. Antes und D. Pahnke, Marburg 1989, S. 117–161. Für den allgemeineren Kontext des Vergleichs zwischen Nietzsche und anderen zeitgenössischen philosophischen und intellektuellen Entwürfen sei auf den wichtigen Band von Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht 1992, verwiesen. Vgl. außerdem das Kapitel Nietzsche, Spir and Time im Buch von Robin Small, Nietzsche in Context, a. a. O., S. 1–20; Michael Steven Green, Nietzsche and the Transcendental Tradition, Urbana/Chicago, University of Illinois Press, 2002, S. 46–68. Vgl. K. Schlechta, Anders, A., Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann, 1962. Auch hier findet sich bereits ein Hinweis auf die Bedeutung der Spir-Lektüre; vgl. S. 119–122.
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enthält eines der fraglichen Fragmente eine Zusammenfassung der hauptsächlichen philosophischen Thesen, die Nietzsche Spirs Denken und Wirklichkeit entnimmt. Darüber hinaus finden sich einige Gedanken von Nietzsche selbst darin, die ihm offenkundig durch die Lektüre von Spirs Werk klarer geworden waren oder eine Bestätigung erfahren hatten. In diesem Fragment 26 (11) wird mehrfach der Vorrang der Empfindungen und Vorstellungen als Grundlage jeglicher Erkenntnis hervorgehoben, wie Empfindung und Vorstellung auch die Raum- und Zeitwahrnehmung bedingten, die nie rein „ohne das Empfindende und Vorstellende“ (KSA 7, S. 574) gegeben sei. Diese Zurückführung der Erkenntnis auf Empfindung und Vorstellung impliziert demnach eine Kritik an der Idealität der Raum- und Zeitkategorien und gleichzeitig die Überwindung der Vorstellung vom Ding an sich. In dieser Hinsicht hat die Lektüre von Spirs Werk die antimetaphysische Wende in Nietzsches Denken, die in den Fragmenten und Manuskripten dieser Zeit zu Tage tritt, entscheidend mitbedingt. 48 Wenn jede Wahrnehmung und Erkenntnis auf Vorstellungen zurückgeführt wird und es nicht möglich ist, zwischen einem empirischen, in der kontingenten Wahrnehmung flüchtiger, unbeständiger Elemente befangenen Bewusstsein und der Reinheit eines auf der festen Einheit unseres Selbstbewusstseins beruhenden Denkens a priori zu unterscheiden, dann verliert freilich auch Kants Konzeption der „Dinge an sich, welche ganz unabhängig von der Vorstellung existiren“ 49, jedes Fundament. Diese Kritik, die Spir gegen Kant vorbringt, beinhaltet nicht automatisch eine Zurückweisung des Dings an sich; ihre Gültigkeit beschränkt sich auf die Art und Weise, in der sich die Vorstellung in unserem Bewusstsein herausbildet und eine logische Form erlangt. Die Gesetze der Logik hätten also keinen objektiven Wert, sondern bildeten eine Gesamtheit von Beziehungen, durch die unser Bewusstsein die äußere Wirklichkeit wahrnehme. Jedes absolute Element sei nicht in der objektiven Wirklichkeit solches, sondern in der Weise, in der es in unserer Vorstellung vorkomme; seinem Wesen nach sei es daher eigentlich ein Geschehen. Jedes Geschehen sei „nothwendig bedingt“, aber umgekehrt sei auch „alles Bedingte nothwendig ein blosses Geschehen“ oder könne „nur in der Form des Geschehens“ 50 existieren. So ist das Sein bei genauer Betrachtung für Spir eigentlich nur „ein blosses Geschehen“51. 48
49 50 51
Im letzten Kapitel des ersten Buches seines Werks umriss Spir die „Selbstaufhebung“ der Metaphysik, die seines Erachtens die Philosophien Schellings, Hegels und Schopenhauers kennzeichnete (vgl. A. Spir, a. a. O., Bd. 1, S. 461–469). A. Spir, a. a. O., Bd. 1, S. 266; vgl. auch S. 360. A. Spir, a. a. O., S. 315. A. Spir, a. a. O., S. 320.
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Die Überwindung des Dings an sich verdeutlicht also, dass die Gesetze der Logik ein System von Beziehungen und Verbindungen sind, durch die die Erscheinungen der objektiven Welt in unserem Bewusstsein abgebildet werden. Einige grundlegende Errungenschaften seines Denkens zusammenfassend, stellt Spir beispielsweise fest: Die Erscheinungswelt ist aus einem Guss, ist in allen ihren Theilen homogen, nämlich durch keine Uebergriffe des Dinges an sich verquickt. Alles in dieser Welt steht und fällt nach Gesetzen des Zusammenhangs, welche den Erscheinungen selbst inhäriren. Das wahre Ding an sich auf irgend eine Weise selbst unter diese Gesetze bringen heisst, dasselbe zu einem empirischen Gegenstande machen, also seinen Begriff verleugnen oder aufgeben. Gibt man aber diesen Begriff auf, dann hat man keinen Grund mehr, ausser dem Gegebenen noch irgend etwas anzunehmen. 52
In Über Wahrheit und Lüge führt Nietzsche diese Konzeption der Erkenntnis als Beziehungssystem bis zum Äußersten. Die Wahrheit selbst wird in dieser Schrift betrachtet als „eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken“ (KSA 1, S. 880). Die Gedanken, die Nietzsche von Gerber übernimmt, führen ihn zu einer Auffassung dieses Beziehungssystems als Gesamtheit von Metaphern, die durch Übertragungsmechanismen unsere Wahrnehmung bedingten. Doch ohne die aus Denken und Wirklichkeit entnommenen Anregungen hätte sich Nietzsches Sprachauffassung schwerlich so sehr ausweiten können, dass sie zu einer allgemeinen Befragung über die Wahrheit und die Grundlagen der Erkenntnis wird. Spirs Einfluss ist beispielsweise in der Weise erkennbar, in der Nietzsche das Problem der Erscheinung und des ‚Causalitätsverhältnisses‘ (vgl. KSA 1, S. 884) stellt, vor allem aber in der Auffassung der Naturgesetze und ihrer Gültigkeit. Denn Nietzsche zufolge ist jedes Naturgesetz uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen d. h. in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich daran bekannt. (KSA 1, S. 885)
Alles reduziert sich demnach auf ein System von Relationen, die auf andere Relationen verweisen. Die Materie selbst kann, wie jede Form von Körper, nur gekannt werden aufgrund ihrer Wirkungen auf andere Gegenstände und aufgrund der Empfindungen, durch die ein Subjekt sie 52
A. Spir, a. a. O., Bd. 1, S. 382.
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wahrzunehmen vermag. Die Realität der Körper besteht nach Spir „aus lauter Relationen“ 53: Tatsächlich existiere jeder Körper nur in unserer Wahrnehmung, die nicht durch ihn verursacht werde. Deshalb seien die Körper „nur eine Vorstellungsart, also eine Erscheinungsart der Empfindungen“ 54. In dem bereits erwähnten Fragment 26 (11) gibt Nietzsche diese Auffassung Spirs getreulich wieder, wenn er festhält: „Die Materie selbst ist nur als Empfindung gegeben. Jeder Schluß hinter sie ist unerlaubt.“ (KSA 7, S. 575) In klarem Kontrast zu dieser streng relationalen Auffassung der Erkenntnis scheint die Annahme eines gleichbleibenden, unwandelbaren Charakters des Vorstellenden zu stehen. So heißt es etwa in Fragment 26 (11): „Das Vorstellende kann sich nicht als geworden denken, noch als vergehend“ (ebd.). Noch stärker wird dieser gleichbleibende Charakter des Vorstellenden in dem „Satz eines ausgezeichneten Logikers“ (KSA 2, S. 38) unterstrichen, den Nietzsche im Aphorismus 18 von Menschliches, Allzumenschliches über die „Grundfragen der Metaphysik“ aus Denken und Wirklichkeit zitiert: Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen. (KSA 2, S. 38–39)
Es ist folglich eine Grundvoraussetzung jeder Erkenntnis, dass die Gegenstände sich als in ihrer Unwandelbarkeit erkennbare Substanzen präsentieren. Nur so kann die wechselseitige Bedingung von Subjekt und Objekt des Erkennens zustande kommen, die einen engen Zusammenhang zwischen ihnen schafft. 55 In dieser Hervorhebung des gleichbleibenden Charakters des Vorstellenden tritt ein entscheidender Aspekt von Spirs Denken hervor. Tatsächlich will er an Kants Erkenntniskritik anknüpfen und sie in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen überprüfen, gelangt dann aber zu dem Schluss, dass sie „unter ganz anderen Voraussetzungen aufgenommen und auf eine ganz andere Basis gestellt werden“ 56 müsse. Aus seiner Perspektive muss die Vorstellung vom Ding an sich überwunden werden – und folglich auch die Idee des Subjekts als Vermittler eines Dings an sich, das wie ein empirisches Objekt außerhalb von uns konzipiert wird. Das Ding an sich gehöre stattdessen zu der Wei53 54 55
56
A. Spir, a. a. O., Bd. 2, S. 81. A. Spir, a. a. O., Bd. 2, S. 69. Dieser Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt war von Spir analysiert worden. Vgl. a. a. O., Bd. 1, S. 356–357. A. Spir, a. a. O., S. 20.
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se, in der die Gegenstände in unserer Vorstellung vorkommen, und so sei es auch notwendig, von einem gleichbleibenden Subjekt auszugehen und die Gegenstände als Substanzen zu begreifen, damit jene Reihe von Wirkungen und Zusammenhängen, welche die Grundlage jeder Erkenntnis bildeten, aktiviert werden könne. Die Bedeutung, die Nietzsche der in Menschliches, Allzumenschliches wiedergegebenen Behauptung Spirs beimisst, weist auf eine wichtige Richtung seines Denkens hin. Das jeder Erkenntnis zugrunde liegende ästhetische Verhältnis zu betonen – wie in Über Wahrheit und Lüge – oder das ‚historische Philosophiren‘, wie es in Menschliches, Allzumenschliches theoretisiert wird, zu praktizieren, bedeutet in der Tat keineswegs, dass der objektive Charakter der Logik und der Erkenntnis automatisch geleugnet würde. Im Gegenteil: Gerade die rigorose Neubestimmung der Gesetze der Logik, wie Afrikan Spir sie nach Nietzsches Ansicht beispielhaft unternommen hat, bildet die unabdingbare Voraussetzung, damit das Problem ihres objektiven Fundaments gestellt werden kann. Nur wenn der vorwiegend relationale Charakter der Logik enthüllt wird, ist es möglich, die Gesamtheit von Relationen als Zeichensystem oder als Resultat eines langen historischen Prozesses aufzufassen.57 Nietzsche ist folglich weit davon entfernt, Kants Kategorien auf simplizistische Weise abzulehnen. Durch Spir wurde er vielmehr dazu angeregt, die wesentlichen Ergebnisse von Kants Erkenntniskritik genau zu überdenken, und dies war ein unverzichtbarer Schritt, um seine eigenen Hypothesen über den ästhetischen Charakter jeder Erkenntnisform und über den langen historischen Prozess zu entwickeln, durch den die ursprünglichen Gesetze der Logik ihre Evidenz erlangen konnten. 58 Die durch Spir angeregte Auseinandersetzung mit der Idealität der Zeit-Kategorie verleiht dem Fragment 26 (12) vom Frühjahr 1873 seine besondere Tiefe. Im Mittelpunkt des Fragments steht die Neudefinition der Kategorien von Raum und Zeit. Nietzsche geht von Spirs Interpreta57
58
Nietzsche hat verschiedentlich unterstrichen, dass das pathos des Kämpfens, worin verschiedene Wahrheitsauffassungen gegeneinander stehen, notwendig sei, damit ein logisches Wahrheitsbeweisen stattfindet: Die „‚Wahrheiten‘ beweisen sich durch ihre Wirkungen, nicht durch logische Beweise, Beweise der Kraft. Das Wahre und das Wirkende gilt für identisch, man beugt sich der Gewalt auch hier.“ (KSA 7, S. 433) In dem Fragment 19 (216) von 1872–73 wird der Gedanke dieses Kampfes zwischen unterschiedlichen Philosophien oder religiösen Systemen und des Pathos, das ihn begleitet, vertieft, bis die Wahrhaftigkeit bei Sokrates „in den Besitz der Logik“ kam. (vgl. KSA 7, S. 486–87) Nietzsches Auseinandersetzung mit Kants Erkenntniskritik auf den Spuren von Spir betrifft insbesondere Spirs Analyse der Kant’schen Raum- und Zeitvorstellung, die dieser in der Hauptsache in den beiden Anfangskapiteln des zweiten Bandes, Die Vorstellung der Zeit und Die Vorstellung des Raumes, vornimmt. Vgl. A. Spir, a. a. O., Bd. 2, S. 3–47.
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tion der Sukzession aus, um zu untersuchen, auf welche Weise die Bewegung in der Zeit wirkt. Da das Verhältnis zwischen zwei Raumpunkten sich als wechselseitige Wirkung darstelle, könne die Bewegung nur dann konzipiert werden, wenn diese Raumpunkte nicht mehr als unterschiedene Teile der Materie oder als von unserer Vorstellung unabhängige objektive Körper gedacht würden. Das vorherrschende Element wird folglich ihre wechselseitige Wirkung, das heißt die Kraft, die diese Wirkung hervorruft. Diese Zurückführung der Raum- und Zeitkategorien auf ein Kräfteverhältnis wirft jedoch einige entscheidende Probleme hinsichtlich ihrer Konzeption und der Erklärung der Bewegung auf: Nehmen wir das Wirkende in der Z e i t , so ist das in jedem kleinsten Zeitmomente Wirkende ein Verschiedenes. Das heißt: die Zeit beweist das a b s o l u t e N i c h t b e h a r r e n einer Kraft. Alle Raumgesetze sind also z e i t l o s gedacht, das heißt müssen gleichzeitig und sofort sein. Die ganze Welt in einem Schlage. Dann aber giebt es keine B e w e g u n g . Die Bewegung laborirt an dem Widerspruch, daß sie nach Raumgesetzen construirt und durch Annahme einer Zeit wieder diese Gesetze unmöglich macht: d. h. zugleich ist und nicht ist. (KSA 7, S. 575–576)
Um die Probleme lösen zu können, die diese eigentümliche Konvergenz von Zeit und Raum aufgibt, wenn diese Kategorien in Instrumente für die Messung von Kräfteverhältnissen verwandelt werden, geht Nietzsche mit Spir von Zeitpunkten aus 59, die jedes Mal von einem einzigen Raumpunkt besetzt werden. Dieser einzige Raumpunkt könne dann unendlich viele Male in bestimmten Zwischenräumen gesetzt werden. So denkt Nietzsche an eine mögliche „Übersetzung aller Bewegungsgesetze in Zeitproportionen“ (KSA 7, S. 577): Man müßte sich somit als Wesen eines Körpers Z e i t p u n k t e d i s t i n k t denken, d. h. den einen Punkt in bestimmten Zwischenräumen gesetzt. Zwischen jedem Zeitzwischenraum haben noch unendliche Zeitpunkte Platz: also könnte man sich eine ganze Körperwelt denken, alle aus einem Punkte bestritten, aber so, daß wir Körper in unterbrochene Zeitlinien auflösen. (KSA 7, S. 576) 59
Spir stellte beispielsweise fest: „Im Raume und in der Zeit liegen die realen Punkte so ausser einander, dass die Existenz des einen die der anderen nicht implicirt, vielmehr von diesen unabhängig ist. Bei der Succession leuchtet dies unmittelbar ein. Denn in einer successiven Reihe existirt in jedem Augenblick nur ein Punkt, während die anderen Punkte entweder schon aufgehört oder noch nicht angefangen haben, da zu sein.“ (a. a. O., Bd. 2, S. 3–4) Nietzsches ‚Zeitpunkt-Auffassung‘ mag auch durch den Biologen von Baer mitbeeinflusst gewesen sein, wie Andrea Orsucci in seinem Dalla biologia cellulare alle scienze dello spirito. Aspetti del dibattito sull’individualità nell’Ottocento tedesco, Bologna, Il Mulino, 1992, S. 203–219, vertritt.
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Löst sich die Materie in diesem Netz von Raum-Zeit-Verhältnissen auf, so muss man sich jedoch notwendigerweise „ein reproduzirendes Wesen“ (KSA 7, S. 577) vorstellen, das diese Verhältnisse gemäß den logischen Gesetzen der Vorstellung wahrnimmt, die Spir mit großer Kohärenz im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Kants Erkenntnistheorie analysiert hat. Das Ergebnis von Nietzsches Untersuchung in diesem Fragment vom Frühjahr 1873 ist die Annahme einer punktuellen Raumatomistik, deren Gesetze letztendlich auf eine dynamische Zeitatomistik zurückzuführen sind (vgl. KSA 7, S. 579). In einer so gearteten Atomistik ist alles aufgrund von aufeinander wirkenden Kräfteverhältnissen erklärbar: Wir hätten dann eine punktuelle Kraft, welche zu jedem späteren Zeitmomente ihrer Existenz eine Relation hätte, d. h. deren Kräfte in jenen Figuren und Relationen bestünden. In jedem kleinsten Moment müßte die Kraft verschieden sein: aber die Aufeinanderfolge wäre in irgendwelchen Proportionen und die vorhandene Welt bestünde in der S i c h t b a r w e r d u n g d i e s e r K r a f t P r o p o r t i o n e n , d. h. Übersetzung ins Räumliche. (KSA 7, S. 577–578)
Diese Zurückführung der Welt und der Materie auf Kräfteverhältnisse hat zwei wesentliche Konsequenzen: Zum einen fällt die Zeitatomistik nach Nietzsches Ansicht mit einer Empfindungslehre zusammen. Die Empfindung führt letztlich wieder zu jenem Universum der Symbole und Zeichen, das es erlaubt, die Kräfteverhältnisse in unserer Vorstellung wahrzunehmen und zu interpretieren. Seine eigentliche Begründung findet der ästhetische Charakter der Wahrheit und der Erkenntnis folglich darin, dass hier eine Welt bewegter Kräfte an die Stelle der Wahrheit tritt. 60 Zum anderen wird die Zeitauffassung selbst radikal überdacht. Nietzsche zufolge kann man nicht mehr von Zeit im eigentlichen Sinne des Wortes sprechen, sondern nur von aufeinander wirkenden Zeitpunkten.61 Das Fragment 26 (12) vom Frühjahr 1873 stellt fraglos den Höhepunkt der philosophischen und wissenschaftlichen Reflexion während der Ausarbeitung der Philosophie im tragischen Zeitalter dar. Mit extremer Kohärenz wird darin das Projekt der Entmaterialisierung (vgl. KSA 7, S. 540) umgesetzt, das Nietzsche als das bedeutendste Resultat der zeitgenössi60
61
Obgleich Nietzsche sich bei der Ausarbeitung seiner Position in dem genannten Fragment 26 (12) in verschiedener Hinsicht gegen Spir abgrenzt – etwa in der Kritik an der Zeit als Kontinuum (vgl. KSA 7, S. 579) –, sollten dessen Auffassungen der Kraft und der Bewegung doch nicht außer Acht gelassen werden. Spir interpretiert die Kraft erstens als abhängig vom Geschehen (vgl. a. a. O., S. 111), zweitens als Funktion der Bewegung, nicht der Körper. Daraus folgt seines Erachtens, „dass keine Kraft entstehen oder verloren gehen kann“. (vgl. a. a. O., S. 109) Ausdrücklich äußert er in dem besagten Fragment: „Es ist nur von Zeitpunkten zu reden, nicht mehr von Zeit. Der Zeitpunkt wirkt auf einen anderen Zeitpunkt, also dynamische Eigenschaften vorauszusetzen“. (KSA 7, S. 579)
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schen wissenschaftlichen Forschung ansieht. In dem Fragment kommen die Probleme zur Sprache, die am Schluss der Schrift über die vorsokratische Philosophie hätten behandelt werden sollen, um der abstrakten Ontologie des Parmenides eine andere, auf einem fruchtbaren Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie, wissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Reflexion beruhende Philosophieauffassung entgegensetzen zu können. Die Formulierung dieser Philosophie hätte auch einen Rückgriff auf die lebendigsten, faszinierendsten Themen der griechischen Kultur impliziert, die dann nach Nietzsches Ansicht durch die von Sokrates eingeleitete und von Plato und die aristotelische Tradition konsolidierte Wende verlorengegangen waren. 62 Der Rückgriff auf diese Themen fällt folglich mit der Vorstellung von einer ausgebliebenen Reform des Griechentums zusammen, über die Nietzsche in zahlreichen Fragmenten von 1875 nachdenkt. Die Krise der metaphysischen Grundlagen der ästhetischen Rechtfertigung der Welt, wie sie in der Geburt der Tragödie erarbeitet worden war, spiegelt sich in der Tat in dem geringeren Gewicht des Griechentums als hauptsächlichem Bezugspunkt für eine Moderne wider, die sich nicht in der Betrachtung des eigenen Epigonentums verschließen, sondern einer neuen Vision der Kunst und Kultur öffnen will. Es mag paradox erscheinen, dass eine so intensive Reflexion wie die durch die Fragmente von 1873 bezeugte ohne direkte Auswirkungen auf die Schriften bleibt, die Nietzsche sich zwischen 1873 und 1875 zu veröffentlichen anschickt. Zwischen den drei Unzeitgemäßen Betrachtungen zu Strauss, Schopenhauer und der Historie und den in den Fragmenten von 1872–73 untersuchten Problemen scheint sich eine abgrundtiefe Kluft aufzutun. Diese scheinbare Kluft zwischen Fragmenten und vollendeten Texten ist jedoch mit Vorsicht zu bewerten. Sicherlich verdeutlicht sie die Verzweiflung, aus der nach Nietzsches Äußerung die Unzeitgemäßen Betrachtungen entsprungen sind 63; sie unterstreicht aber auch, dass die Ergebnisse der Ausarbeitungen in den Fragmenten nicht überbewertet werden dürfen, denn sie stellen vorläufige Etappen einer komplexen geistigen Experimentierphase dar. Obgleich sie uns als überraschende Lichtblicke erscheinen mögen und zentrale Thematiken von Nietzsches späterem Denken vorwegzunehmen scheinen, sind es doch vor allen Dingen Hypo62
63
Für diese Analyse der durch Sokrates und Plato bedingten Wende gegenüber der ‚Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ sei auf die in Fußnote 18 angeführten Fragmente verwiesen. Das Thema der ausgebliebenen Reform des Griechentums entwickelt Nietzsche vor allem im Heft 6 vom Sommer 1875. (vgl. KSA 8, S. 97–120) Vgl. z. B. Nietzsches Äußerung in dem Fragment 5 (98) von 1875 über die Entstehung der Unzeitgemäßen Betrachtungen aus der „Desperation wegen Bayreuth“. (KSA 8, S. 66)
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thesen, die folgerichtig aus bestimmten Prämissen hergeleitet werden. Das „metaphysische Bedürfniss“, das dem Denker das Herz schwer macht (vgl. KSA 2, S. 145) und von dem Nietzsche noch in einem der am stärksten autobiographisch geprägten Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches spricht, haben diese Hypothesen indes noch nicht besiegt. Noch in den Fragmenten von 1875, in denen sich die Anzeichen einer kurz bevorstehenden, schmerzlichen Wende im eigenen Denken häufen 64, ist Nietzsche weit von einer endgültigen Loslösung von dem metaphysischen Gerüst entfernt, auf dem die denkwürdige Konstruktion der Geburt der Tragödie beruhte und dessen theoretische Unhaltbarkeit ihm nun qualvoll bewusst zu werden beginnt. Noch in den langen, sorgfältigen Exzerpten aus dem Werth des Lebens von Eugen Dühring verteidigt er im Sommer 1875 mit tiefer Überzeugung den ‚praktischen Idealismus Schopenhauers‘ gegen die Angriffe, die Dühring gegen ihn geführt hatte. Die „Schluss-Betrachtung“, mit der diese Exzerpte aus Das Werth des Lebens enden (vgl. KSA 8, S. 178–181), hat Nietzsche ohne bedeutende Abänderungen in die beiden grundlegenden Aphorismen 31 und 32 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches eingearbeitet 65, die besonders gut die zwischen der Entstehung dieses ersten aphoristischen Werks Nietzsches und der früheren Phase seiner philosophischen Ausarbeitung bestehenden Verbindungen veranschaulichen. Sieht man sich das erste Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches genau an, so erkennt man, dass es sich bei diesen Verbindungen um eben diejenigen Probleme handelt, die während der intensiven, durch die Fragmente von 1872–73 bezeugten Reflexionsphase nach Abschluss der Geburt der Tragödie ungelöst geblieben waren. Nicht zufällig bindet der erste Aphorismus des Werkes das neue Projekt einer historischen Philosophie, „welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist“ (KSA, 2, S. 23), ausdrücklich an die Problematik zurück, welche die vorsokratische Philosophie vor jener Wende zu einer metaphysisch begründeten Ontologie aufgeworfen hatte, die dann die nachfolgende Entwicklung der gesamten abendländischen Kultur bestimmen sollte. So stellt Nietzsche fest: 64
65
Bereits in dem Fragment 5 (90) von 1875 drückt sich Nietzsches Bewusstsein von einer bevorstehenden Wende in seinem Denken aus: „Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als s c h m ä l i c h für den g e l t e n , welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr –“ (KSA 8, S. 94). Vor allem in Aphorismus 32 greift Nietzsche die Themen der Schluss-Betrachtung wieder auf, während der Aphorismus 31, dem das Fragment 17 (2) vom Frühjahr-Sommer 1876 vorausgeht (vgl. KSA 8, S. 296), einige der im nachfolgenden Aphorismus behandelten Probleme lediglich antizipiert.
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Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? (ebd.)
Dieselben Themen, denen Nietzsche sich bereits in dem unvollendet gebliebenen Projekt der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zugewandt hatte, treten jetzt erneut in den Vordergrund und bestimmen den Horizont dieser alles hinterfragenden Philosophie, die aus der Krise der Kant’schen Metaphysik entstanden ist. Ebenso verdichten sich die Themen von Über Wahrheit und Lüge in dem Aphorismus 11 über „Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft“, während andere Passagen aus dieser unveröffentlicht gebliebenen Schrift, auf die der Autor im übrigen in einem der vorbereitenden Fragmente zu Menschliches, Allzumenschliches ausdrücklich verweist 66, ohne nennenswerte Änderungen in den Aphorismus 4 mit dem bedeutsamen Titel „Astrologie und Verwandtes“ eingehen. Darin kritisiert Nietzsche den stolzen Anthropomorphismus der Erkenntnis, über den er bereits in den Fragmenten von 1872–73 nachgedacht hatte. Vor diesem Hintergrund mögen die Bezugnahmen auf Spir in den Aphorismen 16 und 18 weniger zufällig erscheinen und sich auf eine kontinuierliche Reflexion zurückführen lassen, die eben in den Fragmenten von 1872–73 ihren Ausgangspunkt hatte. Vor allem aber denkt Nietzsche in Aphorismus 19, in dem – in enger Auseinandersetzung mit Denken und Wirklichkeit – die Befreiung von der metaphysischen Struktur unseres Denkens bis zu ihren extremen Konsequenzen geführt wird, erneut über die Raum- und Zeitkategorien und das Problem der Bewegung nach – in Fortführung der Überlegungen, die er bereits in dem langen Fragment 26 (12) vom Frühjahr 1873 dargelegt hatte. In diesem Aphorismus, in dem auch die schon in Über Wahrheit und Lüge entwickelten Gedanken über die vermeintliche Regelmäßigkeit der Naturgesetze wieder auftauchen, wird gerade die Atomlehre als offenkundigstes Beispiel für die Fehler und Widersprüche angeführt, in die die Naturwissenschaften sich aufgrund ihres naiven Vertrauens in die Materialität der Umwelt und die Konstanz unserer Zeit- und Raumempfindungen verstricken. Einige Überlegungen von Menschliches, Allzumenschliches auf die unabgeschlossen gebliebene philosophische Ausarbeitung vom FrühjahrSommer 1873 rückzudatieren 67, bedeutet keineswegs, die Tragweite der 66 67
Vgl. das Fragment 22 (74) von 1877 (KSA 8, S. 391). Wie herausgearbeitet wurde, kommt Nietzsche auf einige der Themen, die ihn bei seiner Ausarbeitung des Jahres 1873 beschäftigt hatten, etwa das Thema der ausgebliebenen Re-
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Wende, die Nietzsche mit seinem ersten aphoristischen Werk vollzog, unterzubewerten oder zu verringern. Menschliches, Allzumenschliches stellt in jeder Hinsicht die nicht zufällige Gestalt dar, die das Denken eines Autors in einem entscheidenden Moment seines Lebens und seiner Reflexion annimmt. 68 Das Erstaunen, mit dem etwa Paul Rée das Werk gleich nach seiner Veröffentlichung aufnahm 69, ist ein wichtiger Hinweis auf die Tiefe und Komplexität jenes schwierigen Prozesses der Befreiung des Geistes, der erst mit der Endfassung von Menschliches, Allzumenschliches ganz zum Ausdruck gelangt. Wie tief diese Wende in Nietzsches Denken war, tritt jedoch noch klarer hervor, wenn man sie auf ihre fernen Ursprünge zurückführt. Spürt man den objektiven Verbindungen nach, die zwischen unterschiedlichen Momenten von Nietzsches Reflexion bestehen, so wird man sich darüber bewusst, welch außergewöhnlich rigoroses Denken ihn zu der schwierigen Wende von Menschliches, Allzumenschliches führte und wie implikationsreich sie war. Die historische Philosophie, wie sie in diesem ersten aphoristischen Werk entworfen wird, ist keineswegs das Zufallsprodukt eines besonderen Moments, der durch die biographische Situation des Autors nach seiner Loslösung von Wagner und die unwiderrufliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands bestimmt war. Sie ist vielmehr untrennbar geknüpft an die eingehende Auseinandersetzung mit den fernsten Ankündigungen einer ontologischen Betrachtungsweise, die Nietzsche bereits in der vorsokratischen Philosophie gewahrt. Einen ebenso maßgeblichen Stellenwert hat das Überdenken der hauptsächlichen Kant-Kategorien auf der Grundlage der Anregungen, die er Afrikan Spirs Werk entnimmt. Die historische Philosophie hat folglich ihre innere Notwendigkeit als Versuch, eine Antwort auf die Krise der Metaphysik zu finden, die Nietzsche in den Fragmenten von 1872 bewusst zu werden begann. In diesem implikationsreichen Zusammenhang erlangt auch Nietzsches Interesse für einige Tendenzen der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Forschung eine weiter reichende Bedeutung. Dieses Interesse hatte sich bereits während der Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten angedeutet und während der Verfassung der Schrift über die vorsokratische Philosophie im ständigen Wech-
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form des Griechentums, im Sommer 1875 wieder zurück. Diese Reflexionen des Jahres 1875 bilden in vielen Fällen den Ausgangspunkt für die Ausarbeitung von Gedanken und Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches. „Die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt“ – dies ist nach Robert Musil die Essenz des Essayismus; vgl. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, in: R. Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. von A. Frisé, Hamburg, Rowohlt, 1978, S. 253. Vgl. den Brief von Paul Rée an Nietzsche vom 10. Mai 1878 in KGB II/6, S. 852.
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selbezug zwischen einigen Fragestellungen dieser Philosophie und den verblüffendsten Ergebnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaften voll entfaltet. Die Analyse der Fragmente vom Frühjahr 1873 hat bereits verdeutlicht, wie eng die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und die Ausarbeitung einer mit dem Problem der Wahrheit und ihrer Fundamente selbst zusammenfallenden Sprachphilosophie verknüpft sind. Die in Menschliches, Allzumenschliches entworfene historische Philosophie unterbricht den schon in dem feinen Begriffsgerüst von Die Geburt der Tragödie hergestellten fruchtbaren Dialog zwischen Philosophie, Kunst und Wissenschaft nicht. Das bedeutsamste Ergebnis der reinen Erkenntnis, die aus dieser historischen Philosophie hervorgeht, ist in der Tat eine „Philosophie der l o g i s c h e n W e l t v e r n e i n u n g “ (KSA 2, S. 50); das heißt, die Philosophie erscheint in der Form eines neuen tragischen Konfliktes, der jeder Lebens- und Erkenntnisform innezuwohnen scheint. „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie?“ (KSA 2, S. 53) Als ureigenster Horizont der neuen historischen Philosophie scheint diese Frage immer wieder in Menschliches, Allzumenschliches auf. Innerhalb dieser Erkenntnistragödie erlangt die Kunst neue Ausdrucksmöglichkeiten. Gewiss hat sie die metaphysische Grundlage, die Nietzsche noch in der Geburt der Tragödie geschickt zu retten vermochte, eingebüßt. Nicht einmal die Kunst kann sich der distanzierten wissenschaftlichen Untersuchung entziehen, die die Täuschungsmechanismen, auf denen jeder Effekt einer vermeintlichen künstlerischen Improvisation fußt, schonungslos enthüllt. Die Kunst erlaubt es nicht mehr, einen den Gesetzen der Logik und der Erkenntnis entzogenen Bereich zu definieren, denn jede ästhetische Empfindung kann letztendlich auch auf „Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects“ (KSA 2, S. 141) zurückgeführt werden. Dennoch scheint die einzige praktikable Antwort auf die tragische Philosophie, die das Endergebnis von Menschliches, Allzumenschliches ist, eine erst noch zu erfindende Kunst zu sein, die frei ist von jedem metaphysischen Bezug, ihre eigenen höheren Ausdrucksmöglichkeiten ironisch zu betrachten vermag und sich der intellektuellen Kombinationsspiele bewusst ist, auf denen ihre vermeintliche Kreativität beruht. Die unauslöschliche Notwendigkeit des Irrtums für jede Lebensund Erkenntnisform wird wiederholt als Wesen dieser tragischen Philosophie selbst bezeichnet: Die bis zum Äußersten geführte Erkenntnis kann nichts anderes zu Tage fördern als die wesentliche Ziellosigkeit der Menschen. Die reinste Form des Denkens, die Logik ohne irgendeinen Rest von Gefühl oder konfuser Empfindung, gipfele in einem „Gefühl über alle Gefühle“ (KSA 2, S. 53) der unvermeidlichen Vergeudung, nicht nur als Individuen, sondern als Menschheit in ihrer Allgemeinheit und in
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jeder Form von Geschichte. Gerade dieses Gefühl über alle Gefühle verweist auf eine neue Konstellation, in der Denken und Dichtung noch nicht erprobte dialogische Verbindungen eingehen können. Zu einem solchen Gefühl kann nämlich nach Nietzsches Ansicht nur ein Dichter fähig sein, „und Dichter“, fügt er mit einem Anflug bitterer Ironie hinzu, „wissen sich immer zu trösten“ (ebd.). Es gibt folglich eine Ausübung und einen Bereich der Kunst, die nach Nietzsche weiterhin fruchtbare Anstöße für einen reicheren Dialog zwischen Philosophie und Wissenschaft liefern. Denn die Kunst kann noch eine unmittelbare Erfahrung der schweren Last von Empfindungen und Gefühlen vermitteln, die die Menschheit der Gegenwart aus einer langen Geschichte geistiger Irrtümer geerbt hat. Gerade aufgrund dieser Erfahrung kann sie der Erleichterung des von Empfindungen überladenen Gemüts dienen, an dem die Moderne als Ergebnis einer tausendjährigen ethisch-religiösen Qual trägt. In dieser Hinsicht kommt der Kunst eine unersetzbare Funktion beim Übergang in eine „wirklich befreiende philosophische Wissenschaft“ (KSA 2, S. 48) zu. Doch schreibt Nietzsche der Kunst einer nachmetaphysischen Epoche eine noch folgenschwerere Aufgabe zu: die Verwandlung des wissenschaftlichen Menschen der Zukunft in eine einfache „Weiterentwickelung des künstlerischen“ (KSA 2, S. 186). Darüber denkt er in dem wichtigen Aphorismus 222 von Menschliches, Allzumenschliches mit dem bedeutsamen Titel „Was von der Kunst übrig bleibt“ ausführlich nach: Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth (...) Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen: „wie es auch sei, das Leben, es ist gut.“ Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, – diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Erkennens wieder an’s Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. (KSA 2, S. 185–186)
Die menschheitsgeschichtlich lange Gewohnheit der Verinnerlichung der künstlerischen Illusion und ihrer Gleichsetzung mit der Lust am Da-
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sein und an der Natur hat die Kunst selbst gewissermaßen in eine Art Instinkt verwandelt, der wesentlich an die tiefsten Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Daseins gebunden erscheint. Die Idee eines musiktreibenden Sokrates, einer Umkehrung der Wissenschaft in Kunst, die in Die Geburt der Tragödie als ästhetische Rechtfertigung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks theoretisiert worden war, scheint so in Menschliches, Allzumenschliches wieder auf. Sie ist nunmehr jeder Bezugnahme auf Wagner entkleidet, befruchtet aber eine neue Modalität des Dialogs zwischen Denken und Dichtung, zwischen Erkenntnistragödie und einer höheren Behauptung der Lebensfreude. In der komplexen geistigen Entwicklung, die Nietzsche auf dem Weg der Loslösung von seinem ersten Werk und der Suche nach einem neuen Denkhorizont durchläuft, nimmt die Verknüpfung von Kunst, Philosophie und Wissenschaft immer neue Formen an, fast als bilde sie den geheimen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Momenten seiner Reflexion.
Kapitel 3 Zarathustra und der Geist des Aphorismus Im Frühjahr 1883, gleich nach Beendigung des ersten Teils von Also sprach Zarathustra, entwirft Nietzsche einige Reden an meine Freunde, in denen er die Hauptetappen seines Denkens im Zeichen einer Demonstration der „Unschuld des Werdens“ (KSA 10, S. 237 f.) interpretiert. Wer das Bewusstsein von dieser Unschuld erlangt habe, verspüre eine große Unabhängigkeit „von Lob und Tadel, von allem Heute und Ehedem: um Ziele zu verfolgen, die sich auf die Zukunft der Menschheit beziehen“ (KSA 10, S. 238). Obgleich Nietzsche drei verschiedene Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Unschuld des Werdens unterscheidet, konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf die ästhetische Rechtfertigung des Daseins und interpretiert einige zentrale Momente der Geburt der Tragödie als beste Vorbereitung auf die neue Aufgabe, das Werden von jeglicher moralischen Wertung zu befreien. Diese Aufgabe bildet in jener Zeit einen zentralen Gegenstand seiner Reflexion. 70 Die Bezugnahme auf sein erstes Werk in dem Fragment 7 (7) von 1883 kann als Beginn der ‚Rückkehr zu Dionysos‘ gedeutet werden, die fünf Jahre später in der Götzendämmerung gipfeln sollte. In jedem Fall bildet das Fragment den Ausgangspunkt für die wichtigen Neuinterpretationen 70
Die Reden an meine Freunde stehen wahrscheinlich im Rahmen einer geplanten Moral für Moralisten, der Nietzsche sich im Sommer 1883 zuzuwenden gedachte. Zur Vorbereitung dieses Projekts hatte Nietzsche zahlreiche Werke gelesen, worunter die Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins von Eduard von Hartmann, die Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa von W. E. H. Lecky, Der Kampf der Theile im Organismus von Wilhelm Roux, das Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie von J. J. Baumann, Die Philosophie der Erlösung von Philip Mainländer, Die tierischen Gesellschaften von Alfred Espinas und die Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis von Albert Hermann Post. Im Rahmen dieser Lektüren schenkt Nietzsche der Ethik der alten Griechen von Leopold Schmidt, das 1882 in Berlin in zwei Bänden erschien, besondere Aufmerksamkeit: Die Fragmente 7 (22), 7 (51), 7 (84), 7 (147), 7 (160), 7 (163), 7 (164), 7 (165), 7 (168), 7 (180), 7 (183), 7 (184), 7 (185), 7 (187), 7 (188) und 7 (189) bezeugen, wie intensiv er sich in dieser Zeit mit Schmidts Werk befasst hat (vgl. KSA 14, S. 686, und vor allem die Notizie e note von Mazzino Montinari zur italienischen Ausgabe der nachgelassenen Fragmente 1882–1884 in Opere di Friedrich Nietzsche, a. a. O., Bd. 7/1–1, S. 378–383). Einige der in den Exzerpten aus Schmidts Werk behandelten Themen sollten in Nietzsches späterem Denken, insbesondere in Jenseits von Gut und Böse und in Zur Genealogie der Moral, große Bedeutung erlangen.
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der Geburt der Tragödie, die Nietzsche erst mit dem Versuch einer Selbstkritik, den er der Neuauflage des Werks im Jahre 1886 als Einleitung voranstellte, und dann mit dem entsprechenden seinem ersten Werk gewidmeten Kapitel von Ecce homo vorlegt. In dem Fragment von 1883 beschäftigt er sich namentlich mit den möglichen Konsequenzen einiger der bedeutendsten Thesen der Geburt der Tragödie für eine allgemeinere Bewertung der Moral. So wird die Ethik als eine der trügerischen Erkenntnis- und Verhaltensformen interpretiert, die durch die Individuation hervorgebracht würden und die es erlaubten, „nicht in das Urleiden zurückverschlungen zu werden“ (ebd.). Der Trost, den die Tragödie spenden kann, wird folglich als entschiedener „Protest gegen den Pessimismus“ ausgelegt und das Wesen des Griechentums nun hauptsächlich darin gesehen, dass es dem Schmerz und dem Leiden zu widerstehen vermochte. Diese Definition des Griechentums war beeinflusst von der neuerlichen – durch die Lektüre von Leopold Schmidts Werk über die griechische Moral angeregten – Reflexion über das Verhältnis zwischen Griechentum und Moral. Die Vorstellung vom ‚Pessimismus der Stärke‘ bei den Griechen führt Nietzsche dazu, das Thema des Umschlagens der Wissenschaft in Kunst noch mehr als eigentlichen Gedankenkern seines ersten Werkes herauszustellen, denn die Kunst sei darin als „abhängig von der Entwicklung der Erkenntnis“ dargestellt worden. Folgendermaßen fährt er in der Neuauslegung der Geburt der Tragödie in dem besagten Fragment 7 (7) von 1883 fort: die Selbstvernichtung der E r k e n n t n i ß und Einsicht in ihre letzten Grenzen war das, was mich für Kant und Schopenhauer begeisterte. Aus dieser Unbefriedigung glaubte ich an die K u n s t . Ich meinte, ein neues Zeitalter f ü r d i e K u n s t s e i g e k o m m e n . Ich empfand das Resultat der Philosophie als ein t r a g i s c h e s E r e i g n i ß : wie aushalten! (KSA 10, S. 239)
Das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst und folglich von tragischer Erkenntnis und ästhetischer Rechtfertigung des Daseins tritt in diesem Fragment also erneut in den Vordergrund. Auch in einigen Fragmenten aus dem Jahre 1881 war es wiederholt zur Sprache gekommen, so dass es durchaus gerechtfertigt erscheint zu fragen, welche Bedeutung dem Thema der tragischen Erkenntnis und der Umkehrung der Wissenschaft in Kunst bei der Entstehung von Also sprach Zarathustra zukommt. Betrachtet man einige Momente dieser Entstehung näher, so kann das Werk in der Tat wie eine fast wortgetreue Realisierung der ‚Tragödie der Erkenntnis‘ erscheinen, die bereits in Die Geburt der Tragödie theorisiert
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worden war. 71 Im Zarathustra wird diese Tragödie durch das Zusammenspiel von zwei Elementen verwirklicht: Zum einen durch die bis zum Äußersten getriebene Erkenntnisarbeit, zum anderen durch eine ideelle Abkürzung dieser Arbeit, die ihre experimentelle Verinnerlichung ermöglicht und neue dichterische Energien freisetzt. Um die Entstehung des Zarathustra in dieser Perspektive zu untersuchen, gilt es zunächst den langwierigen, komplexen Prozess der Überwindung der aphoristischen Form und ihrer Umwandlung in die schwer definierbare stilistische Mischform des neuen Werks genau zu verfolgen. Wie schwierig es auch sein mag, die Verbindungen zwischen den vorbereitenden Entwürfen und der Endfassung herauszuarbeiten, ist doch unbestreitbar auch die nur dem „Dichter starker Zeitalter“ (KSA 6, S. 339) eigene plötzliche Inspiration, welcher der Zarathustra – der Behauptung des Autors in Ecce homo zufolge – fast unerwartet entsprang, das Resultat einer langen ‚Anhäufung des Capitals‘, das „nicht auf einmal vom Himmel gefallen“ ist (KSA 2, S. 147). Die nachgelassenen Fragmente der Jahre 1881–1883, die durch die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Kritische Gesamtausgabe jetzt in streng chronologischer Abfolge zugänglich sind, erlauben es, die Entstehung des Zarathustra Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Außerdem machen sie einige unzweifelhafte Wechselbeziehungen zwischen diesem Werk und den anderen früheren und späteren aphoristischen Werken deutlich. Bekanntlich wird der letzte Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft mit dem bezeichnenden Titel „Incipit tragoedia“ zu Beginn von Also sprach Zarathustra vollständig wiedergegeben. Die Verbindung zwischen den beiden Werken wird jedoch noch klarer, wenn man bedenkt, dass der Grundgedanke des Zarathustra, das heißt der Gedanke der Ewigen Wiederkehr, auf den August 1881, also ein Jahr vor der Veröffentlichung der Fröhlichen Wissenschaft, zurückgeht. Danach wird die Figur des Zarathustra in zwei Heften vom Herbst 1881 zum Protagonisten von Sentenzen und Anekdoten 72. Es handelt sich um vorbereitende Entwürfe und Erstfassungen einiger Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft, worunter dem Aphorismus 125 besondere Bedeutung zukommt: Der tolle Mensch, 71
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Für eine Analyse dieser ‚Tragödie der Erkenntnis‘ verweise ich auf Kapitel 1, Teil 2, insbesondere S. 56 ff. Als Tragödie hatte bereits Martin Heidegger den Zarathustra charakterisiert: „Mit dem Denken des Wiederkunftsgedankens wird das Tragische als solches zum Grundgedanken des Seienden“ (vgl. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, in Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 6.1, hg. von B. Schillbach, Frankfurt/Main, Klostermann, 1996, S. 247). Es handelt sich um die Hefte N V 7 und M III 4, die in der Ausgabe der Nachgelassenen Fragmente 1880–1882 entsprechend als Heft 12 (vgl. KSA 9, S. 576–617) und als Heft 15 (in Auszügen: KSA 9, S. 633–658) wiederabgedruckt wurden.
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der darin den Tod Gottes verkündet, war anfänglich Zarathustra. Als Mörder Gottes erschien Zarathustra außerdem in einer Variante des Kapitels „Vom Gesicht und Räthsel“ aus dem dritten Teil des Zarathustra, die eine der ersten Darlegungen des Gedankens der Ewigen Wiederkehr enthält. 73 Bereits in den Heften vom Herbst 1881 wird das Thema des Todes Gottes in zahlreichen Fragmenten mit dem Thema der Ewigen Wiederkehr verknüpft. In vierlerlei Hinsicht bildet es den ursprünglichen konzeptionellen Kern des Zarathustra. Doch damit sind längst noch nicht alle Querverbindungen genannt. Anfang 1882 sammelte Nietzsche in dem Heft M III 7 einige Auszüge aus Ralph Waldo Emersons Versuchen, einem Werk, das er in der Entstehungszeit des Zarathustra wiederholt mit großer Aufmerksamkeit las. Einer Hypothese Montinaris zufolge ist gerade ein Passus aus den Versuchen als nächste Quelle anzusehen, an der Nietzsche sich für die Figur des Zarathustra inspirierte. 74 Die Untersuchung der Motive, die in den Manuskripten von 1881–82 vorkommen und dann sowohl in der Fröhlichen Wissenschaft als auch im Zarathustra aufgegriffen werden, könnte freilich noch erweitert werden. Nicht weniger bedeutsam sind die Verbindungen zwischen dem Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse, von denen Nietzsche selbst uns in dem geplanten Vorwort von 1886 zu einem zweiten, letztlich nicht realisierten Band dieses Werkes eine genaue Vorstellung vermittelt: Was ihm zu Grunde liegt, Gedanken, erste Niederschriften und Hinwürfe aller Art, das gehört meiner Vergangenheit an: nämlich jener räthselreichen Zeit, in der „Also sprach Zarathustra“ entstand: es dürfte schon um dieser Gleichzeitigkeit willen nützliche Fingerzeige zum Verständniss des eben genannten schwerverständlichen Werkes abgeben. Namentlich auch zum Verständnisse seiner Entstehung: mit der es etwas auf sich hat. Damals dienten mir solcherlei Gedanken sei es zur Erholung, sei es als Selbstverhör und Selbstrechtfertigung inmitten eines unbegrenzt gewagten und verantwortlichen Unterfangens: möge man sich des aus ihnen erwachsenen Buches zu einem ähnlichen Zwecke bedienen! Oder auch als eines vielverschlungenen Fußwegs, der immer wieder unvermerkt zu jenem gefährlichen und vulkanischen Boden hinlockt, aus dem das eben genannte Zarathustra-Evangelium entsprungen. So gewiß auch dies „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes 73
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Diese Variante des Kapitels „Vom Gesicht und Räthsel“ wird im Kommentar zur kritischen Ausgabe wiedergegeben. (Vgl. KSA 14, S. 309) Diese Hypothese formulierte Montinari im Kommentar zur kritischen Ausgabe (KSA 14, S. 279). Was Nietzsches Beziehungen zu Ralph Waldo Emerson angeht, verweise ich insbesondere auf V. Vivarelli, L’immagine rovesciata. Le letture di Nietzsche, Genova, Marietti, 1992.
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Buchs – eines Ereignisses ohne Vorbild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur – irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind. (KSA 14, S. 345)
Die Manuskripte bekräftigen diese Wechselbeziehungen zwischen den genannten Werken nachdrücklich. Insbesondere entstammen die „Sprüche und Zwischenspiele“, die das vierte Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse bilden, fast allesamt dem Sentenzen-Buch, das Nietzsche zwischen Herbst 1882 und Winter 1883 geschrieben und aus der er auch bei der Abfassung des ersten Teils des Zarathustra mit vollen Händen geschöpft hatte. Zieht man Nietzsches Notizbücher heran, dann erscheint Also sprach Zarathustra demnach als von zwei aphoristischen Werken umschlossener und mit ihnen eng verbundener Text. Die Feststellung enger Beziehungen zwischen den aphoristischen Werken und dem Zarathustra zieht nun die Frage ihrer Bewertung nach sich. Sind die Verbindungen rein äußerlicher Art oder bilden sie nicht vielmehr ein wesentliches Moment der umfassenden Konstellation immer neuer Wechselbeziehungen zwischen ästhetischer Dimension, philosophischer Reflexion und wissenschaftlicher Erkenntnis? Eine solche Konstellation lässt sich den Seiten von Also sprach Zarathustra vielfach entnehmen. Die intensiv lyrischen Momente und die tänzerische Form des Werks ließen sich außerhalb jenes ständigen Spiels zwischen Leben und Weisheit schwerlich begreifen – einem vielgestaltigen Leben flüchtiger Perspektiven und einer Weisheit, die diesen unausschöpflichen Reichtum, der beispielsweise in den beiden „Tanzliedern“ seinen Ausdruck findet, beständig einzufangen und in sich widerzuspiegeln sucht. Auf welche Weise Kunst und Erkenntnis miteinander verbunden sind, wird besonders dann einsichtig, wenn man die Geschichte des Zarathustra von dem Moment an verfolgt, an dem Nietzsche selbst in Ecce homo ihren Beginn ansetzt, dem Zeitpunkt nämlich, da er im August 1881 die Grundidee des Werkes, das Thema der Wiederkunft des Gleichen, konzipiert, mit dem Beisatz: „6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen!“ (KSA 9, S. 494) Dieses Fragment, in dem der Gedanke der „Wiederkunft des Gleichen“ erstmals formuliert wird, stellt sich gleichzeitig als Entwurf zu einem in fünf Punkte untergliederten Werk dar. Damit „das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen“, Thema des letzten Punktes, denkbar wird, muss die Einverleibung der gesamten mit Menschliches, Allzumenschliches begonnenen Arbeit der Kritik und Erkenntnis, mit der die ersten drei Punkte sich befassen, vorausgesetzt werden. Die „Leidenschaft der Erkenntnis“ wird dergestalt bis zum Äußersten geführt und als einziges Ziel des Daseins vorgestellt. Thema des vierten Punktes ist so der
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„Übergang“, den eine experimentelle Auffassung des Individuums hinsichtlich der Denkstrukturen und Lebensweisen bewirkt (vgl. ebd.). Gleichzeitig überzeugt Nietzsche sich davon, dass dieses Werk eine andere Form haben müsse als die vorangegangenen, denn wie er bemerkt, müssen „die verschiedenen e r h a b e n e n Z u s t ä n d e , die ich hatte, als Grundlagen der verschiedenen C a p i t e l und deren Materien – als Regulator des in jedem Capitel waltenden Ausdrucks, Vortrags, Pathos“ (KSA 9, S. 495 f.) angesehen werden. So sei „eine Abbildung meines Ideals“ „gleichsam durch Addition“ (ebd.) zu gewinnen. In einem wenig späteren Fragment, in dem nun auch die Gestalt des Zarathustra auftaucht, wird dieser Entwurf weiterentwickelt (vgl. KSA 9, S. 519). Auch hier wird unter dem Titel Mittag und Ewigkeit eine Gliederung in vier Büchern skizziert. Sie folgen der fortschreitenden Einverleibung der Erfahrungen und Erkenntnisse, welche die Voraussetzung für die volle Offenbarung der Individualität bildet, in dem Moment, da „das vollkommene ego“, das letzte „Glück des Einsamen“ seinen Höhepunkt erreicht. Dieser Höhepunkt besteht in dem dionysischen Gefühl, „A n n u l u s a e t e r n i t a t i s “ zu sein (KSA 9, S. 520), durch die „Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben“ (ebd.) 75. Die Schlussfolgerungen des dritten Teils von Also sprach Zarathustra beginnen sich demnach bereits in diesem Fragment von 1881 abzuzeichnen. Um den radikalen Umschwung von einer auf der vollen Entfaltung der Leidenschaft der Erkenntnis beruhenden experimentellen Auffassung des Individuums zu der lyrisch-dionysischen Behauptung eines höheren Lebensglücks zu begreifen, gilt es die „Philosophie der Gleichgültigkeit“ näher zu untersuchen, mit der Nietzsche sich in dem zuvor erwähnten Fragment 11 (141) über die Wiederkunft des Gleichen unter Punkt vier ausführlich befasst 76. Hier wird die Bedeutung der „Philosophie der Gleichgültigkeit“ nicht nur eingehend dargelegt, sondern auch innerlich problematisiert. Gerade diese Problematisierung bereitet die radikale Verwandlung vor, welche die Leidenschaft der Erkenntnis erfährt, wenn sie zum Werkzeug der ‚schwersten Erkenntnis‘ (vgl. KSA 9, S. 495), das heißt der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘, wird. So ist die Gleichgültigkeit 75
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Eine eingehende Analyse dieser Fragmente vom Sommer 1881 hat Mazzino Montinari mit Zarathustra vor ‚Also sprach Zarathustra‘ vorgelegt (in: Nietzsche lesen, Berlin/New York, de Gruyter, 1982, S. 79–91). Die besondere Wichtigkeit dieses Abschnitts des Fragmentes hat Wolfgang Müller-Lauter an mehreren Orten unterstrichen (vgl. z. B. Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York, de Gruyter, 1999, S. 250 ff.); eingehend untersucht wurde er zudem von Marco Brusotti in seinem Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von ‚Morgenröthe‘ bis ‚Also sprach Zarathustra‘, Berlin/New York, de Gruyter, 1997.
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Nietzsche zufolge „ein Fundament des wissenschaftlichen Geistes“; dadurch habe die ‚unparteiliche Erkenntnis‘ der Welt immer mehr zugenommen, „welche allmählich ein G e s c h m a c k wurde und endlich eine Leidenschaft w i r d “ (KSA 9, S. 480). Diese „L e i d e n s c h a f t f ü r d a s trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem ‚Angenehmen‘ und Unangenehmen ‚W a h r e ‘ “ zielt auf das Erkennen der „Dinge, wie sie sind“, „ohne menschliche Beziehungen“. Durch die Überwindung des „Menschen-Größenwahn[s]“, der antropomorphischen Sicht der Natur nämlich, die vor allem in der Furcht ihren Ursprung habe, müsse man sich darin üben, zu einem „neutralen sachlichen Sehen“ zu gelangen (vgl. KSA 9, S. 443 f.). Die Anstrengung, unsere Wahrnehmungen wissenschaftlich genauer zu bestimmen, enthüllt jedoch deren unvermeidliche Unbestimmtheit. So entdecken wir, dass das Bemühen um die größtmögliche Genauigkeit bei der Beobachtung der Natur nicht zu einer Erkenntnis der objektiven Wahrheit führt. Die Überwindung der Vorstellung vom objektiven Charakter der Wahrheit bildet folglich einen weiteren Aspekt der Leidenschaft der Erkenntnis; sie ermöglicht eine Verinnerlichung der durch die Leidenschaft der Erkenntnis gezeitigten Ergebnisse und bereitet einer neuen Freisetzung künstlerischer Energien den Boden. Wird die Liebe zur Wissenschaft nämlich praktiziert, „ohne an ihren Nutzen zu denken“, so kann sie nach Nietzsches Ansicht ein Mittel werden, „den Menschen in einem unerhörten Sinne zum Künstler zu machen“ (KSA 9, S. 451). Die Betrachtung der wissenschaftlichen Tätigkeit in ihrer Reinheit, die sich von ihrer praktischen Anwendung als Technologie oder anderer Transformationsprozess klar unterscheidet, ist grundlegend, denn auf ihr beruht die von Nietzsche eingeführte Unterscheidung zwischen einer unpersönlichen Auffassung der wissenschaftlichen Arbeit und einer vollständigen Hingabe an die Erkenntnis als Leidenschaft, als tiefe persönliche Erfahrung. Einerseits gebe es „jene Naturen, welche nur vergleichen, was Andere Einzelne schon phantasirt haben“. Diese redeten von der „Kälte der Wissenschaft“, es seien die „Unproduktiven, eine wichtige Classe Menschen, da sie den A u s t a u s c h zwischen den Producenten herstellen“ (KSA 9, S. 484). Andererseits aber gebe es neben ihnen die eigentlich ‚produktiven‘ Naturen, bei denen zu der Kälte noch eine wichtige Fähigkeit hinzukomme: „den Genuß an allen den verworfenen Phantasmen, das Schauspiel ihres Kampfes usw. zu haben – d i e N a t u r d a r i n s e h e n “ (ebd.). Die Unterscheidung zwischen einer ‚kalten‘ und einer ‚warmen‘ Auffassung der Wissenschaft beruht folglich auf dem Bewusstsein vom konjekturalen, hypothetischen Charakter jeder Erkenntnis und will auf expe-
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rimentellem Wege einen Konflikt zwischen vielfältigen Möglichkeiten befördern, um zu einer genaueren, gründlicheren Untersuchung der verschiedenen natürlichen und anthropologischen Phänomene zu gelangen. Außerdem bereitet diese Unterscheidung einer tieferen Erkenntnis der Komplexität den Boden. Bisher hat es Nietzsche zufolge eine Wissenschaft der einfacheren Systeme gegeben; diese Wissenszweige, wie beispielsweise die Mathematik, hätten eine klarere, befriedigendere Strukturierung erfahren. Im Falle der komplexeren Systeme hingegen, namentlich „überall, wo Liebe Haß usw. möglich sind, war die Wissenschaft noch ganz falsch“ (KSA 9, S. 466). Dort, wo die treibenden Kräfte am größten seien, sei das Wahrscheinlichste immer noch, dass es nicht zu einer neuen, verständnisvolleren Wissenschaft komme, sondern zu einem „gänzliche[n] Verirren und Wildwerden und Aufschießen in Unkraut (Religion und Mystik)“. Hier „sind die ‚Unpersönlichen‘ o h n e Augen für die wirklichen Phänomene, und die starken Naturen sehen nur s i c h und messen alles nach s i c h “ (ebd.). Um also zu einer gültigen, genauen Erkenntnis der komplexeren psychologischen und anthropologischen Phänomene zu gelangen, gilt es nicht allein eine rein mechanische Auffassung der Wissenschaft zu überwinden, sondern auch den Rückfall in den verbreiteten Egoismus der kreativen, leidenschaftlichen Persönlichkeiten zu meiden. Diese Persönlichkeiten „werden erst spät für das Erkennen erobert (urbar gemacht usw.)“ (ebd.). Damit der Weg der Erkenntnis rasch und sicher auf den unwegsamen Pfaden der Leidenschaften und Gefühle beschritten werden kann, „müssen sich n e u e Wesen bilden“ (ebd.). Diese neuen Wesen erleben ihre Existenz jenseits der traditionellen Unterscheidung von Egoismus und Altruismus. Marco Brusotti hat die mit der Philosophie der Gleichgültigkeit verknüpfte Überwindung des Egoismus, den Versuch, sich von dem Fehler des Individualismus zu befreien, und den Prozess der Verfeinerung, der über das besitzende Subjekt hinausführt, sorgfältig analysiert. 77 Diese Überwindung stellt einen grundlegenden Übergang dar, der häufig unbeachtet zu bleiben droht, weil er paradoxerweise bei Nietzsche mit einer scheinbaren neuen Ausrufung des Ideals einer starken individualisierten Persönlichkeit einhergeht. Doch kann diese Persönlichkeit sich nur dann entfalten, wenn die engen Grenzen aufgelöst werden, die dem Wahrnehmungsfeld des Einzelnen gesetzt sind. Aus dieser Perspektive stellt sich auch die Philosophie der Gleichgültigkeit in einem anderen Licht dar, denn um zu einem „neutralen sachlichen Sehen“ zu gelangen und die Dinge zu erkennen, „wie sie sind“, braucht man nicht „das Unpersönliche zu betonen“, sondern muss 77
Vgl. M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O.
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vielmehr „aus hundert Augen auf sie sehen können, aus v i e l e n Personen“ (KSA 9, S. 466). Wenn nämlich die Wissenschaft keine einfache Widerspiegelung einer objektiven Wahrheit ist, sondern die Konstruktion eines Bildes, durch das sie sich der Wirklichkeit bemächtigt, dann ist das Experiment eines Individuums von Bedeutung, das versucht, mannigfaltige und verschiedenartige Bilder in sich aufleben zu lassen: Je mehr Individuen einer in sich hat, um so mehr wird er allein Aussicht haben, eine Wahrheit zu finden – dann ist der Kampf i n ihm: und a l l e Kräfte muß er dem einzelnen Phantasma zu Gebote stellen und später wieder einem anderen entgegengesetzten: große Schwungkraft, großen Widerwillen am Einerlei, vielen und plötzlichen Ekel muß er haben. (KSA 9, S. 483–484)
Gerade weil dieses Individuum den Kampf zwischen den vielen möglichen Wahrheiten erlebt, gelingt es ihm immer mehr, den schöpferischen Charakter der Wissenschaft und der Wahrheit zu erkennen und zu merken, dass die Genauigkeit unserer Empfindungen oder Begriffe die Unsicherheit und das Chaos verbirgt, aus denen sie stammen. Unsere Begriffe sind „Versteinerungen des Gefühls“, „Überreste[ ] der Empfindungen unserer Urahnen“, die „gedichtet und phantasirt“ haben (KSA 9, S. 537). So wird ein zweifaches Resultat erreicht: einerseits die „Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ‚Natur‘ gewonnen hat“ (KSA 9, S. 525) – auf diese Weise erlangen die Natur und der Mensch ihre Unschuld wieder. Andererseits wird „alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen“ verliehen haben, „als E i g e n t h u m u n d E r z e u g n i ß d e s M e n s c h e n “ zurückgefordert: „Es sind die D i c h t u n g e n und G e m ä l d e der U r menschheit, diese ‚wirklichen‘ Naturscenen – damals wußte man noch nicht anders zu dichten und zu malen, als indem man in die Dinge etwas h i n e i n s a h . Und d i e s e E r b s c h a f t haben wir gemacht“ (KSA 9, S. 582). So entdeckt die Philosophie der Gleichgültigkeit eine neue Grundlage für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Kunst besitzt die Fähigkeit, jedem Begriff und jeder Erkenntnisform eine lebendige und gefühlvolle Spannung zu verleihen, auch jede Wahrnehmung der Natur als menschliche Schöpfung zu erleben und dabei alles in ein Schauspiel zu verwandeln, das wir genießen. Aber es gibt noch eine höhere Funktion der Kunst, die die Philosophie der Gleichgültigkeit entdeckt. Wenn sich das Individuum nämlich „von den Dingen besitzen“ lässt und sich in ein reines „A c k e r l a n d für die Dinge“ verwandelt, muß es abwarten, bis auf diesem Boden neue „B i l d e r d e s D a s e i n s “ wachsen: „Die Bilder des Daseins sind das W i c h t i g s t e bisher gewesen – sie herrschen über die Menschheit“ (KSA 9, S. 451). Nur die Kunst, und zwar eine Kunst, die sich des wissen-
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schaftlichen Materials bedient, kann diese Idealbilder schaffen, welche den Verlauf der Geschichte des Menschen und der Menschheit größtenteils bestimmen: Die Wissenschaft kann sie nicht schaffen, aber die Wissenschaft ist eine Hauptn a h r u n g für diesen Trieb: wir scheuen auf die Dauer alles Unsichere Erlogene, diese Furcht und dieser Ekel fördern die Wissenschaft. Jener dichterische Trieb soll e r r a t h e n , nicht phantasiren, aus wirklichen Elementen etwas Unbekanntes errathen: er braucht die Wissenschaft d. h. die Summe des Sicheren und Wahrscheinlichen, um mit diesem Material dichten zu können. (KSA 9, S. 448)
Diese Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst führt zu der Einverleibung von Wissen und Wahrheit zurück, mit der Nietzsche sich in seiner Darlegung der Philosophie der Gleichgültigkeit in dem Fragment 11 (141), worin erstmals auch die Lehre der Wiederkunft des Gleichen formuliert wird, eingehend beschäftigt hat. Die Einverleibung reproduziert die paradoxe Konvergenz zwischen der Leidenschaft der Erkenntnis, die zu einer Überwindung des Individuums führt, und der experimentellen Entdeckung einer neuen Form von Persönlichkeit, die sich der Wissenschaft hinzugeben vermag, obgleich sie um ihre Fehlerhaftigkeit weiß. Sie ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, in dessen Verlauf die Menschheit die Angst und den Ernst des Daseins dank der Erkenntnis in ein ästhetisches Spiel zu verwandeln wusste, das nunmehr mit ironischer Distanz betrachtet werden kann. So entdeckt die neue Persönlichkeit, die in ihrem individuellen Dasein diese lange, schwierige Erkenntnisarbeit in ihrer höchsten und reinsten Form verinnerlicht hat, einen anderen Ernst und eine andere geistige Bewusstheit, die genau darin besteht, alles als werdend zu verstehen, uns als Individuum zu verleugnen, möglichst aus v i e l e n Augen in die Welt sehen, l e b e n i n Trieben und Beschäftigungen, um damit sich Augen zu machen, z e i t w e i l i g sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen: die Triebe u n t e r h a l t e n als Fundament alles Erkennens, aber wissen, wo sie Gegner des Erkennens werden. (KSA 9, S. 494–495)
Bewirkt die Leidenschaft der Erkenntnis also eine Umwandlung des Menschen, so setzt dies für Nietzsche voraus, „die Quellen und Mächte der Erkenntniß, die Irrthümer und Leidensch(aften) auch zu erhalten, aus deren K a m p f e nimmt sie ihre erhaltende Kraft“ (ebd.). Nur innerhalb jener tragischen Dimension, für die bereits das Symbol des musiktreibenden Sokrates in der Geburt der Tragödie stand, kann sie sich demnach äußern. Die komplexe Entstehung von Also sprach Zarathustra führt diese Tragödie der Erkenntnis in einer höheren Form vor, in der die verschie-
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denen Themen von Nietzsches Reflexion zusammenlaufen und sich wechselseitig überlappen. Es ist wichtig festzuhalten, dass in dieser weiteren Ausarbeitung der Tragödie der Erkenntnis, die 1881 die ersten Formulierungen des Gedankens der ewigen Wiederkunft begleitet, bisweilen Themen auftauchen, mit denen Nietzsche sich bereits in früheren Phasen seines Denkens intensiv beschäftigt hatte. In dem Fragment 11 (13) vom Frühjahr-Herbst 1881, das den Aphorismus 192 von Jenseits von Gut und Böse detailliert vorbereitet, kehrt beispielsweise das Problem des Unbewussten und der unbewussten Schlüsse wieder, das seit geraumer Zeit beiseite gelegt zu sein schien. Nietzsche ist jetzt der Ansicht, dass weniger von einem unbewussten Fundament unserer Vorstellungen als vielmehr von einer vorrangigen Funktion der Phantasie bei der Erzeugung der Bilder auszugehen sei, die aus den Sinneseindrücken entstehen: Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir k e n n e n ; unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: – der größte Theil des Bildes ist nicht Sinneneindruck, sondern P h a n t a s i e - E r z e u g n i ß . Es werden nur kleine Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird dann ausgedichtet. Die P h a n t a s i e ist an Stelle des „U n b e w u ß t e n “ zu setzen: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr h i n g e w o r f e n e M ö g l i c h k e i t e n , welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in Reliefs für den Betrachter umschlagen). (KSA 9, S. 446)
Bei Wiederaufnahme der Themen dieses Fragments in dem besagten Aphorismus 192 von Jenseits von Gut und Böse stellt Nietzsche fest: „man ist viel mehr Künstler als man weiss“. (KSA 5, S. 114) In den Fragmenten aus dem Jahre 1881 bildet die Ersetzung des Unbewussten durch die Phantasie die Voraussetzung für die radikale, verallgemeinerte Behauptung des ästhetischen Charakters jeder Erkenntnis. Dass jede unserer Empfindungen und Wahrnehmungen den Entwurf eines freien Bildes voraussetze, welches ein Erzeugnis der Phantasie sei, beweise den „Umfang der d i c h t e r i s c h e n Kraft“ (vgl. KSA 9, S. 448). Mit fast formelartiger Prägnanz bringt Nietzsche die allgemeinen erkenntnistheoretischen Konsequenzen auf den Punkt, zu denen die mit der Philosophie der Gleichgültigkeit einhergehende neutrale Beobachtung führt: „Sobald wir die absolute Wahrheit l e u g n e n , müssen wir alles a b s o l u t e F o r d e r n aufgeben und uns auf a e s t h e t i s c h e U r t h e i l e zurückziehen“ (KSA 9, S. 471). Die wichtigsten Ergebnisse der Tragödie der Erkenntnis, wie sie aus der Philosophie der Gleichgültigkeit entsteht, sind jedoch vor allem durch Nietzsches persönliche Ausarbeitung einiger grundlegender Motive bestimmt, die er Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit entnimmt. Es
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ist Paolo D’Iorios Verdienst, diese Spuren der Lektüre von Spirs Werk in den Fragmenten aus Heft 11 ermittelt zu haben, die dann mit großem Scharfsinn von Federico Gerratana in seinem Kommentar zu der italienischen Ausgabe dieses Heftes ausgewertet wurden.78 Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, hatten drei Hauptthemen Nietzsches Aufmerksamkeit während der Abfassung von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und Menschliches, Allzumenschliches besonders gefesselt: das Problem der Sukzession und der Vorstellung der Sukzession, der Zusammenhang zwischen einer unbedingten metaphysischen Welt und der uns bekannten Welt sowie der beharrende Charakter des erkennenden Subjekts als ursprüngliches allgemeines Gesetz der Erkenntnis. In den Fragmenten des Heftes 11 kommen diese drei Themen mehrfach zur Sprache und verflechten sich mit den neuen Problemen, die Nietzsche in diesem entscheidenden Moment seiner Reflexion im Jahre 1881 beschäftigen: das Problem der Energie und der Kraft sowie die Anregungen, die er aus Mayers Mechanik der Wärme und Vogts Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung aufgreift, die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, namentlich mit Herbert Spencers Die Thatsachen der Ethik, sowie die Vorstellung vom Kampf der Zellen und Organismen, die er aus Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre übernimmt 79. Diese neuen Themenhorizonte vertiefen und erweitern den bereits in Menschliches, Allzumenschliches nachdrücklich formulierten Gedanken der Notwendigkeit einer Entstehungsgeschichte des Denkens, die aufzeigt, dass auch die ursprünglichen logischen Gesetze geworden sind, sich in einem langsamen, schrittweisen Konstruktionsprozess herausgebildet haben. Vor allem durch die Auseinandersetzung mit Roux gelangt Nietzsche zur Annahme einer „S t u f e d e r E r k e n n t n i ß , welche noch viel älter ist als die Stufe der Sprach-Erfindung“ (KSA 9, S. 567). Zu diesem Zeitpunkt wird der ästhetische Charakter der Erkenntnis folglich nicht mehr allein aus der metaphorischen Konstruktion jeder Sprache hergeleitet, sondern auf fernere tierische Ursprünge in der Ordnung der 78
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Vgl. die Notizie e note zur zweiten Auflage von Band 5/2 der Opere di Friedrich Nietzsche. Edizione italiana condotta sul testo critico stabilito da Giorgio Colli e Mazzino Montinari, Mailand, Adelphi, 1991. Den Apparat zu dieser Ausgabe bearbeiteten Mario Carpitella und Federico Gerratana. Für die Hinweise zu Afrikan Spir vgl. S.663–667. Einer allgemeinen Bewertung unterzieht Paolo d’Iorio das Verhältnis zu Spir in dieser Phase von Nietzsches Denken in La linea e il circolo. Cosmologia e filosofia dell’eterno ritorno in Nietzsche, a. a. O. Mit Nietzsches Lektüre von Roux’ Werk hat sich vor allem Wolfgang Müller-Lauter in Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York, de Gruyter, 1999, S. 97–140, befasst.
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lebenden Organismen und ihrer Durchsetzung im Kampf um den Erhalt der Gattung zurückgeführt. Zwar kann nur eine genaue Untersuchung der Wechselbeziehungen und Überlappungen zwischen diesen Themen der Wende, die Nietzsche 1881 mit der Intuition einer Ewigen Wiederkunft des Gleichen vollzog, in ihrer ganzen Komplexität gerecht werden. Doch ist die weitere Auseinandersetzung mit Afrikan Spir sicherlich grundlegend für das Verständnis der neuen Bedeutung der Tragödie der Erkenntnis in dieser Phase von Nietzsches Denken, wie sie auch erlaubt, die feinen Kontinuitätslinien besser zu erfassen, die Menschliches, Allzumenschliches und den Zarathustra verbinden. Das Fragment 11 (80) fasst beispielsweise die beiden zentralen Einsichten knapp zusammen, die Nietzsche durch die Auseinandersetzung mit Spirs Philosophie gewann: Die Erkenntniß hat den Werth 1) die „absolute Erkenntniß“ zu widerlegen 2) die objektive zählbare Welt der nothwendigen Aufeinanderfolge zu entdekken. (KSA 9, S. 471)
Dank seiner rigorosen Logik habe Spir, wie Nietzsche bereits in Menschliches, Allzumenschliches vertreten hatte, den Beziehungscharakter jeder Erkenntnis verdeutlicht und folglich auch das ‚Ding an sich‘ auf die Gesamtheit der Beziehungen zurückgeführt, die das erkennende Subjekt mit dem empirischen Objekt verbinden. Hat man der wissenschaftlichen Erkenntnis erst einmal jeden absoluten Wert abgesprochen, so bleibt es ihre Aufgabe, die Reihe der empirisch nachweisbaren Sukzessionen festzustellen, ohne die Zeitkategorien auf eine transzendentale Einheit der Apperzeption zurückzuführen. Das Thema der Sukzession, des „N a c h e i n a n d e r [s] der Dinge in ihrem Verlaufe“ (vgl. KSA 9, S. 538), wird in den Fragmenten von 1881 weiter ausgearbeitet und vertieft. Einerseits führt gerade der Beziehungscharakter der Erkenntnis Nietzsche dazu, ihre fruchtbare Wirksamkeit zu unterstreichen und ihre Funktion wesentlich dahingehend neu zu interpretieren, dass der Mensch durch sie Macht über die Natur ausüben kann. Dieses Verhältnis zwischen einer Wissenschaft, die sich der Erkenntnis der Sukzessionen zuwendet, und der Erlangung von Macht über die Natur wird zum Beispiel in dem Fragment 11 (255) erhellt: Die Wissenschaft hat immer mehr das N a c h e i n a n d e r der Dinge in ihrem Verlaufe festzustellen, so daß die Vorgänge für uns p r a k t i k a b e l werden (z. B. wie sie in der Maschine praktikabel sind) Die E i n s i c h t in Ursache und Wirkung ist damit nicht geschaffen, aber eine M a c h t ü b e r d i e N a t u r läßt sich so gewinnen. Der Nachweis hat bald sein Ende, und eine weitere Verfeinerung hätte keinen Nutzen für den Menschen. – Bis jetzt war dies die große Errungenschaft des Menschen, in vielen Dingen die i h m m ö g l i c h e
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Genauigkeit in der Beobachtung des Nacheinander zu erreichen und so für seine Zwecke nachahmen zu können. (KSA 9, S. 538)
Andererseits führt die Reflexion über das Verhältnis zwischen Sukzession und Zeitvorstellung direkt zu dem Problem der unausschöpflichen, stets gleichbleibenden Kraft, die das Werden bewegt. So verbindet sich das Problem der Sukzession mit einem zentralen Thema der angenommenen Wiederkunft des Gleichen. Auch im Rahmen dieser Reflexion tritt eine der bedeutendsten Hinsichten der Tragödie der Erkenntnis hervor: Der ununterbrochene Fluss des Geschehens, die Komplexität der Lebenssysteme, das Kontinuum einer Kraft, die unablässig die Bewegung des Werdens bestimmt, können nur wahrgenommen und untersucht werden, indem man ein System aus Gegensätzen schafft, die es dem erkennenden Subjekt erlauben, durch Vergleich eine Reihe von Sukzessionen abzustecken. Folgendermaßen werden diese Beziehungen zwischen Sukzession und Konzeption der Kraft in dem Fragment 11 (281) entwickelt: Erst das Nacheinander bringt die Z e i t vorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn die Bewegung des Werdens besteht n i c h t aus r u h e n d e n Punkten, aus gleichen Ruhestrecken. (...) Im absoluten Werden kann die Kraft nie ruhen, n i e Unkraft sein: „langsame und schnelle Bewegung derselben“ mißt sich n i c h t an einer Einheit, welche da fehlt. Ein continuum von Kraft ist o h n e N a c h e i n a n d e r und o h n e N e b e n e i n a n d e r (auch dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). Ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander giebt es für uns kein Werden, keine Vielheit – wir k ö n n t e n nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche G e g e n s a t z . (KSA 9, S. 549)
Bereits in der Analyse der Sukzession scheint ein weiteres zentrales Thema der Fragmente von 1881 auf, das Nietzsche von Spir übernimmt. Der Satz aus Denken und Wirklichkeit, den er am Anfang des bedeutenden Aphorismus 18 von Menschliches, Allzumenschliches über die „Grundfragen der Metaphysik“ ausdrücklich zitiert hatte, betraf gerade den gleichbleibenden und unwandelbaren Charakter jedes Erkenntnisgegenstands in seinem Verhältnis zu dem erkennenden Subjekt. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Fragmente des entscheidenden Heftes 11 aus dem Jahre 1881 erst recht als weitere Ausarbeitung und Vertiefung jener Entstehungsgeschichte des Denkens, deren Notwendigkeit Nietzsche bereits in Menschliches, Allzumenschliches im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Spir unterstrichen hatte. Das beharrende Verhältnis, das den Menschen notwendigerweise an die Dinge binden muss, damit der unaufhörliche Fluss des Werdens Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis
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werden kann, hat in Nietzsches Reflexion dieser Zeit einen großen Stellenwert inne. Das lange Fragment 11 (156) verknüpft das Problem des Beharrenden beispielsweise mit einer – in Menschliches, Allzumenschliches noch nicht vorhandenen – allgemeineren Sicht der Evolution und des Kontrasts zwischen Masse und Individuum, der nach Nietzsches Ansicht eine entscheidende Rolle in der Evolutionsgeschichte spielte. So habe die Wissenschaft nach und nach jede Form von Willkür einzelner Individuen oder begrenzter Gruppen ausgeschaltet, ein Phantom oder Bild von allgemeiner Gültigkeit schaffend, das immer mehr eine einzige Empfindungsund Wahrnehmungsform bedingt habe. Das beharrende Verhältnis, das der Wissenschaft zugrunde liege, könne daher keineswegs zur Bestimmung der Wahrheit führen. Es beschränke sich vielmehr darauf, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, damit der Mensch an jene Wirklichkeit glauben kann, die er gemäß vorgegebener Schemata wahrnehme. Die mit großer Freiheit aus Denken und Wirklichkeit aufgegriffenen Themen werden in den allgemeineren Rahmen der Frage gestellt, welche Funktion die Erkenntnis möglicherweise in der Evolutionsgeschichte gespielt hat: Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur f o r t , der das Wesen der Gattung c o n s t i t u i r t hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ä h n l i c h k e i t der Empfindung (über den Raum, oder das Zeitgefühl oder das Groß- und Kleingefühl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. (KSA 9, S. 501)
Die Frage der Ähnlichkeit und des Beharrenden als Existenzbedingung des erkennenden Subjekts, das im fortwährenden Wechsel durch ein Neben- und Nacheinander das Objekt der Erkenntnis wie in einem Spiegel festhält, wird erneut in Fragment 11 (268) behandelt. Bei dem Versuch, das Problem zu lösen, das er für das wesentliche Geheimnis in der Genealogie jeder Erkenntnisform hält – „wie kam das Organische zum Urtheil des Gleichen und Ähnlichen und Beharrenden?“ (KSA 9, S. 544) –, greift Nietzsche in diesem Fragment auf einige Argumentationen zurück, die er dem Kampf der Theile im Organismus von Wilhelm Roux entnommen hatte. Er sucht die fernsten Ursprünge der Entstehung eines beharrenden Subjekts, das sich dem Fluss des Werdens entgegenstellt, in einem der Entstehung der Sprache oder des Selbstbewusstseins vorausgehenden Urstadium der organischen Welt. Er nimmt an, dass die Entstehungsgeschichte des Denkens, die seines Erachtens mit jener Determinierung eines beharrenden Charakters in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt begonnen hatte, in der Spir scharfsinnig das Urgesetz der Logik ausmachte, letztendlich auf diesen biologischen Urprozess zurückzuführen sei:
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Nun aber glaube ich: das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrthum des Gleichen entsteht z. B. wenn ein Protoplasma von verschiedenen Kräften (Licht Elektricität Druck) immer nur Einen Reiz empfängt und nach dem Einen Reiz auf Gleichheit der Ursachen schließt: oder überhaupt n u r E i n e s R e i z e s f ä h i g i s t und A l l e s A n d e r e a l s G l e i c h e m p f i n d e t – und so muß es wohl im Organischen der tiefsten Stufe zugehen. Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit a u ß e r u n s – und später erst fassen wir u n s s e l b e r nach der ungeheuren Einübung am Außer-uns als ein B e h a r r e n d e s u n d S i c h - s e l b e r - G l e i c h e s , als Unbedingtes auf. Der G l a u b e (das Urtheil) müßte also entstanden sein vor dem Selbst-Bewußtsein: in dem Prozeß der A s s i m i l a t i o n des Organischen ist dieser Glaube schon da – d. h. dieser I r r t h u m ! (KSA 9, S. 543–544)
In diesem Reflexionsprozess, in dessen Verlauf Nietzsche die von Afrikan Spir übernommenen Thesen umarbeitet und sowohl mit seinen neuen Interessen als auch mit einigen seiner früheren Themen verbindet80, wird das Problem der Tragödie der Erkenntnis letztlich auf der Grundlage eines radikalen Kontrasts zwischen Vorstellung und Sein neu interpretiert. Wie er in einer Art abschließender Zusammenfassung der Ergebnisse seiner philosophischen Ausarbeitung des Jahres 1881 in dem wichtigen Fragment 11 (330) festhält, bildet dieser Kontrast seine persönliche „Grundgewißheit“. Die Tragödie der Erkenntnis, deren wesentliche theoretische Grundlagen in dieser entscheidenden Phase von Nietzsches Denken ich nachzuzeichen gesucht habe, wurde jedoch bereits in dem Fragment 11 (162) in ihren Kernpunkten erforscht. Das Fragment beginnt erneut mit der Behauptung vom zutiefst irrtümlichen Charakter jeder logischen Erkenntnis und jeder Bewusstseinsform, die aus dem klaren Gegensatz zwischen einer Scheinwelt unwandelbarer, auf dem Glauben an Beharrendes fußender Wahrheiten und dem absoluten Fluss eines in ständiger Veränderung begriffenen Werdens herrührt: Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums – entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch aum absoluten Flusse entstanden war, konnte a u f d i e s e r G r u n d l a g e etwas e r k a n n t w e r d e n – ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen) – doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet 80
Das zentrale von Spir aufgegriffenem Thema betrifft den beharrenden Charakter der objektiven Welt, die das Subjekt außer sich wahrnimmt. Dies erscheint Nietzsche als ursprünglicher Irrtum des Gleichen; Die Problematik des Protoplasmas und des Assimilationsprozesses stammt hauptsächlich aus der Lektüre von Roux; sie wurde sorgsam erforscht von Wolfgang Müller-Lauter in Über Werden und Chaos, a. a. O. Zu dieser Fragestellung verweise ich auch auf das Kapitel 9 dieses Buches.
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werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht, unsere Organe (zum L e b e n ) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der W i d e r s p r u c h d e s L e b e n s und seiner letzten Entscheidungen; sein T r i e b zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung. (KSA 9, S. 503–504)
Das Problem der Einverleibung der Endergebnisse der Philosophie der Gleichgültigkeit, das bereits im Zusammenhang mit der Hypothese von der Wiederkunft des Gleichen in Fragment 11 (142) entwickelt wurde, wird folglich auf diesen Grundirrtum jeder Erkenntnisform zurückgeführt, der auf ein der Entstehung der Sprache und des Bewusstseins vorausgehendes Frühstadium im Entwicklungsprozess der Lebenssysteme verweist. Im zweiten Teil des Fragments erklärt diese ausschlaggebende Funktion des Irrtums die Verwandlung der Leidenschaft der Erkenntnis, die in verschiedener Hinsicht auch als paradoxe Übereinstimmung zwischen der Leidenschaft der Erkenntnis und der neuen Bedeutung der Kunst und der ästhetischen Dimension betrachtet werden könnte. Denn folgendermaßen fährt Nietzsche fort: Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres! Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes – unser Cultus. Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m m e h r e n , ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß. (ebd.)
Die Funktion des Irrtums in der Genealogie der Erkenntnis scheint Nietzsche dazu zu bewegen, erneut über jene Wahnvorstellungen nachzudenken, mit denen er sich während der komplexen Entstehung der Geburt der Tragödie mehrfach beschäftigt hatte. Tatsächlich erscheint ihm ein Kult des Wahns notwendig, um die Erkenntnisarbeit in ihrem engen Zusammenhang mit einer größeren Lebensintensität fortsetzen zu können. Zudem scheint jener unbedingten Leidenschaft der Erkenntnis, die auch in Menschliches, Allzumenschliches die Abkehr des Philosophen von der Begriffswelt seiner Jugendüberzeugungen bedingt hatte, am Ende eine neue, jeder Bezugnahme auf Schopenhauer entkleidete und auf gänzlich andere theoretische Grundlagen gestellte Metaphysik der Kunst zu entspringen. Die Tragödie der Erkenntnis entfaltet sich demnach auf ebenso gewundenen Wegen, wie sie der junge Nietzsche bereits hatte beschreiten müssen, um die Vernichtung des tragischen Helden in eine höhere Daseinsbe-
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hauptung verwandeln zu können. Einerseits kann der Irrtumscharakter der Erkenntnis zu einem extremen Nihilismus führen, der auf der bitteren Feststellung der tiefen Unsinnigkeit jeglicher Lebensäußerung fußt; andererseits aber kann er sich in der bewussten Akzeptanz der wesensmäßigen Grenzen der Erkenntnis auflösen und folglich ihre fruchtbare Wirksamkeit für eine immer durchgreifendere Zukunftsgestaltung der im Fluss des Werdens tätigen Energie unterstreichen. Gerade diese zweite Möglichkeit setzt ein neues Verhältnis zwischen Kunst, Wissenschaft und Leben voraus, denn allein die Kunst vermag auf angemessene Weise jene Lebenslust zu fördern, durch die eine immer ausgedehntere und differenziertere Zeichenwelt geschaffen wurde, welche es der Wissenschaft wiederum erlaubt hat, die Wirklichkeit zu gliedern und zugänglich zu machen. Dergestalt gelingt es der Kunst, die tragischen Folgen der Enthüllung des trügerischen, irrtümlichen Charakters aller Wahrheit und Werte in eine neue Förderung der Erkenntnis und des Lebens zu verkehren. Dieses prekäre Gleichgewicht zwischen den Gründen der Erkenntnis und denen des Lebens, das allein die Kunst herstellen kann, stellt sich Nietzsche als Element jener ständigen Reproduktion der Bedingungen des Werdens dar, die durch die Wiederkunft des Gleichen behauptet wird. Folgendermaßen endet in der Tat das Fragment 11 (162): So entdecken wir auch hier eine Nacht und einen Tag als Lebensbedingung für u n s : Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht e i n e s absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und z u g l e i c h d i e F ä h i g k e i t . (ebd.)
Das neuerliche Hervorgehen einer ästhetischen Dimension aus der vollen Äußerung der Leidenschaft der Erkenntnis und der kohärenten Umsetzung der Philosophie der Gleichgültigkeit ist folglich identisch mit jener schwersten Erkenntnis, von der im Zusammenhang mit der Ankündigung der Wiederkunft des Gleichen in Fragment 11 (141) die Rede ist. Das Erkenntnispathos bereitet dieses extreme Stadium der Erkenntnis vor, das die Voraussetzung der distanzierten Beobachtung der Wirklichkeit, die gleichwohl die Grundlage jeder wissenschaftlichen Untersuchung bildet, radikal umzustürzen scheint. In diesem extremen Stadium muss das Wissen um die Vorläufigkeit und Ungewissheit der Grundlagen jeder objektiven Wahrheit für Nietzsche nämlich notwendigerweise mit der Entfaltung einer höheren ästhetischen Lust einhergehen, welche die nihilistischen Tendenzen der Wissenschaft auszugleichen vermag. Die schwerste Erkenntnis ist folglich ein weiterer Aspekt jener Tragödie der Erkenntnis, die wiederum ein fragiles Gleichgewicht zwischen den Notwendigkeiten des Lebens und denen der Wissenschaft herstellt, wobei
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sich die Modalitäten nicht allzu sehr von denjenigen unterscheiden, die bereits in der Geburt der Tragödie hinsichtlich der in der Tragödie durch die Vernichtung des Helden erzeugten höheren Lust theoretisiert wurden. Folgendermaßen beschreibt Nietzsche dieses Stadium der Erkenntnis in dem besagten Fragment: Nun kommt aber die schwerste Erkenntniß und macht alle Arten Lebens furchtbar bedenkenreich: ein absoluter Überschuß von Lust muß nachzuweisen sein, sonst ist die Vernichtung unser selbst in Hinsicht auf die Menschheit als Mittel der Vernichtung der Menschheit zu wählen. Schon dies: wir haben die Vergangenheit, unsere und die aller Menschheit, auf die Wage zu setzen und a u c h zu überwiegen – nein! dieses Stück Menschheitsgeschichte w i r d und muß sich ewig wiederholen, d a s dürfen wir aus der Rechnung lassen, darauf haben wir keinen Einfluß: ob es gleich unser Mitgefühl beschwert und gegen das Leben überhaupt einnimmt. (...) Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch. Auch das Elend der zukünftigen Menschheit soll uns nichts angehn. Aber ob w i r noch l e b e n w o l l e n , ist die Frage: und wie! (KSA 9, S. 495)
Auf dieser Erkenntnisstufe manifestiert sich auch die zuvor bereits untersuchte paradoxe Konvergenz zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Auffassungen des Individuums, ohne die der Übergang von Menschliches, Allzumenschliches zum Zarathustra kaum zu verstehen ist. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Philosophie der Gleichgültigkeit zählt in der Tat die entschiedene Überwindung jeder Ich- oder Subjektauffassung. Ausgehend von der Ausarbeitung einer bereits in Menschliches, Allzumenschliches vielfach erwähnten grundlegenden These aus Denken und Wirklichkeit, nämlich der Kritik an der Metaphysik „als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten“ (vgl. KSA 10, S. 342), gelangt Nietzsche in einem Fragment vom Sommer 1883, das sich thematisch eng an die im Jahr 1881 behandelten Probleme anlehnt, zu einer radikalen Kritik des fiktiven Charakters jeder Ich-Vorstellung: Zur Natur des Denkens gehört es, daß es zu dem Bedingten das Unbedingte h i n z u d e n k t , hinzuerfindet: wie es das „Ich“ zur Vielheit seiner Vorgänge hinzudenkt, hinzuerfindet: es mißt die Welt an lauter von ihm selbst gesetzten Größen: an seinen Grund-Fiktionen wie „Unbedingtes“, „Zweck und Mittel“, Dinge, „Substanzen“, an logischen Gesetzen, an Zahlen und Gestalten. (ebd.)
Rekonstruiert man die Verbindungslinien zwischen diesem Fragment 8 (25), anderen Fragmenten des Jahres 1885 und einigen grundlegenden Aphorismen von Jenseits von Gut und Böse, in denen im Übrigen die bereits in dem Zarathustra-Kapitel „Von den Verächtern des Leibes“ formulierte Vorstellung eines Verhältnisses zwischen „Selbst“ und „Ich“
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wiederaufgegriffen wird 81, so wird die entscheidende Bedeutung dieser Kritik der Ich-Vorstellung deutlich. In der „Vorrede“ zu Jenseits von Gut und Böse wird der „Subjekt-und-Ich-Aberglaube“, Grundlage für jedes „Dogmatisiren in der Philosophie“, in den weiteren Zusammenhang der Überwindung des Platonismus in Europa gestellt (vgl. KSA 5, S. 11–12). Interessanterweise denkt Nietzsche im Zuge dieser Reflexion an die Geburt der Tragödie als „einen neuen wenngleich sehr vorläufigen Ausdruck“ für die „Möglichkeit einer S c h e i n e x i s t e n z des ‚Subjekts‘“ (vgl. KSA 11, S. 636) zurück. In diesem Kontext liefert die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Sokrates und dem Verhältnis zwischen Christentum und Platonismus, die sich in der „Vorrede“ zu Jenseits von Gut und Böse ankündigt, einen wichtigen Hinweis darauf, in welcher Form Nietzsche nach Vollendung des Zarathustra einige grundlegende Probleme seines ersten Werkes unter gänzlich anderen theoretischen Vorzeichen neu durchdenkt. 82 Die Kritik am fiktiven Charakters der Subjekt-Vorstellung, deren Ursprünge nach Nietzsches Ansicht in einer allgemeineren Evolutionsgeschichte verortet werden können, geht indes Hand in Hand mit der Enthüllung neuer Möglichkeiten, die sich dem Individuum eröffnen, wenn es sich des zutiefst problematischen Charakters der eigenen Wahrnehmungen bewusst ist. Nietzsche zufolge hat sich die auf der Analogie der Empfindung und dem beharrenden Verhältnis beruhende Kategorie des Subjekts im Rahmen der Evolution nämlich herausgebildet, nachdem die Masse vorherrschend geworden war. So stellt er in dem Fragment 11 (156) von 1881 fest: Es ist der M a s s e n instinkt, der auch in der Erkenntniß waltet: ihre Existenzbedingungen will sie immer besser erkennen, um immer länger zu leben. U n i f o r m i t ä t d e r E m p f i n d u n g , ehemals durch Gesellschaft Religion erstrebt, wird jetzt durch die Wissenschaft erstrebt: der N o r m a l g e s c h m a c k an allen Dingen festgestellt, die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienste der g r ö b e r e n Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idio81
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In dem Kapitel „Von den Verächtern des Leibes“ denkt Nietzsche über das Ich des erkennenden Subjekts als abstammend von der großen Vernunft des Leibes nach: „die sagt nicht Ich, aber thut Ich“ (KSA 4, S. 39). Von dieser großen Vernunft sind Sinn und Geist „Werk- und Spielzeuge“ (ebd.). Der bewusste Teil der Wahrnehmung des erkennenden Subjekts, der durch den Geist und die Sinne entsteht, bildet nur einen Aspekt der Erkenntnis und Empfindung, denn das Ich lebt in ständiger Spannung mit dem Selbst, von dem Nietzsche in eben diesem Kapitel spricht. Das Thema des lyrischen Ichs als Projektion eines Urgrunds und der Projektion der Empfindungen dieses Ichs im künstlerischen Genius durch einen Auflösungsprozess der falschen subjektiven Wahrnehmungen wird von Nietzsche nun a posteriori als erster Moment dieser Kritik an dem platonischen Ich-Aberglauben interpretiert.
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syncrasischen G e s c h m a c k ausscheiden und tödten – sie arbeitet gegen die I n d i v i d u a l i s i r u n g , den Geschmack, der nur für E i n e n Lebensbedingung ist. – Die Gattung ist der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt s p ä t e r . (KSA 9, S. 501)
Der Kontrast zwischen der Masse als Resultat der Evolution und dem Individuum ist ein wiederkehrendes Thema in dem Heft 11 von 1881, das Nietzsche vor allem in Frontstellung gegen Herbert Spencers Die Thatsachen der Ethik entwickelt. Er ist sich jedoch wohl bewusst, dass die neue Dimension des Individuums all das, was die Evolution auf der Ebene der Stärkung der gesellschaftlichen Struktur und Kohäsion der Masse mit sich gebracht hat, als notwendige Existenzbedingung voraussetzt. Das Individuum, das Nietzsche vorschwebt, meidet nicht einfach mit überheblicher Verachtung die Vorurteile und Verhaltensweisen der herrschenden Masse. Die vermasste Gesellschaft ist gewissermaßen das notwendige Ergebnis der vollen Entfaltung einer wissenschaftlichen Erkenntnis, die als Technologie immer wirksamer und zweckdienlicher für eine effizientere Gestaltung der Zukunft geworden ist. Ohne zu weit zu gehen, könnte man behaupten, dass die Masse dem Endresultat einer Gesellschaft entspricht, die sich wissenschaftlich zu organisieren versteht. Damit ist sie nicht weit entfernt von dem Ergebnis, zu dem auf anderer Ebene die Philosophie der Gleichgültigkeit führt. Nietzsches jetzige Auffassung des Individuums entspricht folglich demselben zuvor analysierten Prozess der Umwandlung der Philosophie der Gleichgültigkeit in die Behauptung einer neuen ästhetischen Dimension. Das Individuum, wie Nietzsche es konzipiert, geht nicht einfach aus einer Neubehauptung der Rechte des Subjekts gegenüber den Anforderungen der vermassten Gesellschaft hervor. Seine Existenzbedingungen rechtfertigt es vielmehr allein aus der eigenen Fähigkeit, zu der schwersten Erkenntnis zu gelangen, indem es den komplexen Einverleibungsprozess der Ergebnisse der Leidenschaft der Erkenntnis durchläuft. Die individuelle Dimension, die Nietzsche neu zu bestimmen sucht, stellt demnach keine paradoxe Rückkehr zu der Ich-Auffassung dar, wie die dogmatische Philosophie sie vertritt, sondern präsentiert sich als schwieriges Ergebnis der tiefen Umwandlung des Menschen, die sich vollzieht, „wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen“. (vgl. KSA 9, S. 495) Das Fragment 11 (156) schließt mit der Beschreibung dieses Individuums, das, statt sich den Bedingungen des Erhalts der Gattung passiv anzupassen, für seine Existenz, für seinen neuen Geschmack, für seine relativ e i n z i g e Stellung zu allen Dingen [kämpft] – es hält diese für besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will h e r r s c h e n . Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit sei-
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ner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der u n e n d l i c h k l e i n e A u g e n b l i c k ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. So lernt es: wie alle g e n i e ß e n d e Erkenntniß auf dem groben Irrthum der Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks beruht. (KSA 9, S. 501–502)
Die Sprache des Zarathustra will die angemessene Ausdrucksform dieses besonderen Individuums sein, das in seinen unendlich kleinen schöpferischen Augenblicken einige Blitzbilder aus dem ewigen Flusse in seinem Werk einzufangen und festzuhalten hofft. So zwingt die bis zum Äußersten getriebene Erkenntnis den freien Geist zu einer tiefen Wende in seinem Denken und Leben, zu einer neuen Überwindung seiner selbst. In einem der ersten Fragmente aus dem Jahre 1881, in denen die Gestalt des Zarathustra auftaucht, hat er „das Leben des Einsamen, Freien durchschaut“ (KSA 9, S. 478) und sich selbst neuerlich den Weg dazu durch sein Erkennen verschlossen. Gerade dieser versperrte Weg der Erkenntnis führt zur Entdeckung neuer Möglichkeiten der ästhetischen Kommunikation, die sich dem Erkennenden eröffnen, wenn er an einen neuen Wendepunkt seines Denkens gelangt und die tieferen Verbindungen zwischen den verschiedenen Momenten seines Lebens und seiner Suche aufspüren muss. Es gibt „eine höhere Kunst“, die sich von der traditionellen „Kunst der Kunstwerke“ (vgl. KSA 9, S. 506) radikal unterscheidet, der gegenüber Nietzsche weiterhin die in Menschliches, Allzumenschliches definierte kritische Haltung einnimmt. Die Kunst verkommt Nietzsche zufolge zu einer „Conventions-münze“ (vgl. KSA 9, S. 520), wenn sie einer abstrakten „großen Form“ nachstrebt, die keinerlei Entsprechung in der „gestaltenden Kraft“ im Charakter eines ehrlichen Künstlers (ebd.) findet. Die Ehrlichkeit des Erkennenden ist die Voraussetzung für eine Kunst, die nicht in die „Attitüden-Musik“ eines Wagner verfallen will. Durch diese Ehrlichkeit kann der zum Künstler gewordene Erkennende sein Leben so gestalten, „daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat“ (KSA 9, S. 505). In dieser Kunst, die die vollendetste Gestaltung der Tragödie der Erkenntnis ist, wirft derjenige, der zur schwersten Erkenntnis gelangt ist, sich selbst in die Erfahrung einer abgrundtiefen Verzweiflung, die der bitteren Feststellung entspringt, dass Werte, Identitätsformen und wissenschaftliche Errungenschaften hoffnungslos vergänglich und radikal irrtümlich sind. Gleichzeitig aber versucht er, gerade aus dieser Verzweiflung die möglichen Umrisse eines neuen ästhetischen Geschmacks des Lebens zu gewinnen. Die Lebensintensität, die aus vielen
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Seiten des Zarathustra spricht, ist in der Tat das paradoxe Ergebnis dieses Zerstörungstriebs, den die Erkenntnis nach Nietzsche unweigerlich mit sich bringt. Das Problem der „Visionsgestalt des gefolterten Heiligen“ (vgl. KSA 7, S. 215), das während der Abfassung der Geburt der Tragödie eine zentrale Rolle gespielt hatte, ist nunmehr fern, denn der Erkennende selbst verwandelt die Erfahrung seiner möglichen Selbstauflösung direkt, ohne Vermittlungen, in die Vision eines höheren, durch Zarathustra repräsentierten Lebens. Die Selbstüberwindung, die kein linearer Wachstumsprozess ist, sondern in der Fähigkeit besteht, gegensätzliche Pole im prekären Gleichgewicht des poetischen Textes koexistieren zu lassen, wird so zur Voraussetzung einer neuen ästhetischen Dimension. Dem Abgrund eine Stimme zu verleihen und ihn dabei so leicht zu machen wie den „Athem einer freien leichten spielenden Luft“ (vgl. KSA 6, S. 276) – die Gleichzeitigkeit dieser beiden scheinbar unvereinbaren Absichten bildet in verschiedener Hinsicht das Geheimnis von Also sprach Zarathustra. Deshalb scheint er fast einer plötzlichen Offenbarung, einer machtvollen dichterischen Eingebung zu entspringen, die unerwartet aus ferner Zeit und langer Vergessenheit hervorbricht. So beschreibt Nietzsche in Ecce homo den Schöpfungsdrang, aus dem dieses Werk entstanden ist: Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas s i c h t b a r , hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. (...) Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ... (KSA 6, S. 339–340)
Die hier geschilderte Idee der Eingebung führt die Dichtkunst zu einer ursprünglichen Dimension zurück, in der sie frei ist von jeder Konvention, von jedem formalen Zwang. Der Künstler hat noch nicht die Rolle des ersten und einzigen schöpferischen Subjekts übernommen, sondern präsentiert sich als einfaches Sprachrohr einer unausschöpflichen Symbolkraft der Sprache, die außerhalb seiner selbst Töne und Bilder verbindet. Eugen Fink hat zu Recht herausgestellt, dass diese Idee der Eingebung nicht einfach eine psychologische Beschreibung des schöpferischen Zustands vor dem Zarathustra ist: Für Nietzsche ist der Poet derjenige, dem POIESIS auf die ursprüngliche Wahrheit, auf den Ausgang eines neuen Weltverständnisses geht. D. h. der Dichter ist bereits in die Nähe des Denkers gerückt; ihre Nachbarschaft in der
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ursprünglichen Einwirkung einer neuen Offenbarkeit des Seienden im ganzen ist es, die vor Nietzsches Blick steht. 83
Also sprach Zarathustra nimmt somit eine Zwischenposition zwischen Denken und Dichtung ein, und diese Zwischenposition ist zugleich Folge einer radikalen Problematisierung der Seinskonstruktion der abendländischen Metaphysik und Suche nach einer neuen Sprache. Der begriffliche Ausdruck und die logische Strenge werden aufgegeben, weil auch sie, trotz ihrer objektiven, unpersönlichen Abstraktheit, als Interpretationsformen erscheinen, als Zeichensysteme, welche die Kontrolle und Manipulation der Wirklichkeit ermöglichen. Diese „digitale“, das heißt rationale und nicht nachahmende Sprache, verwandelt sich wieder in eine „analogische“ Sprache, welche die Wirklichkeit mittels Symbolen und Metaphern darstellt und durch eine lebendige emotionale Spannung dynamisiert. 84 In dieser Rückkehr zu einer ursprünglichen Ausdrucksmodalität spürt Zarathustra die Enthüllung einer vollkommenen Ganzheit: Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen. (KSA 4, S. 232)
Die Sprache ist die erste und zugleich höchste schöpferische Form, mit ihr „tanzt der Mensch über alle Dinge“ (vgl. KSA 4, S. 272). Die Zwischenposition, die Also sprach Zarathustra einnimmt, ist das Ergebnis einer extremen Verinnerlichung und Einverleibung der Erkenntnis, bis diese sich in einen grenzenlosen Schöpfungsprozess verwandelt. Diese neue, aus der Einverleibung der Erkenntnis entstehende sprachliche Schöpfungskraft kann anhand der Untersuchung einer spezifischen stilistischen Frage verdeutlicht werden: Auf welche Weise werden einige formale Merkmale des Aphorismus verdichtet und gleichzeitig erweitert, bis die der Sprache des Zarathustra eigene Musikalität erreicht wird? 83
84
Vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart, Kohlhammer, 1960, S. 61–62. Für Untersuchungen zu Einzelaspekten des Zarathustra und zu den stilistischen Entscheidungen Nietzsches vgl. unter anderem: A. Pieper, „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem „Zarathustra“, Stuttgart, Metzler, 1990; Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, hg. von P. Villwock, Basel, Schwabe, 2001; Also sprach Zarathustra, hg. von V. Gerhardt, Berlin, Akademie, 2000; C. Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“, Würzburg, Königshausen-Neumann, 2000; A. Nehamas, Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen, Steidl, 1991; B. Thönges, Das Genie des Herzens; über das Verhältnis von aphoristischem Stil und dionysischer Philosophie in Nietzsches Werken, Stuttgart, M und P, Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1993; E. Strobel, Das „Pathos der Distanz“: Nietzsches Entscheidung für den Aphorismenstil, Würzburg, Königshausen-Neumann, 1998. Für die theoretische Fundierung dieser Unterscheidung von analogischer und digitaler Sprache vgl. Max Bense, Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Hamburg, Rowohlt, 1960, S. 96–97.
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Oberflächlich betrachtet scheint ein unüberwindbarer Kontrast zwischen dem aphoristischen Stil und dem Stil des Zarathustra zu bestehen; nimmt man indes den neunten Abschnitt von Richard Wagner in Bayreuth in den Blick, den Nietzsche selbst als die beste Beschreibung des Stils seines Zarathustra ansah, so erscheint die Frage in einem anderen Licht. Nietzsche denkt dort über Wagner als ‚Dichter und Sprachbildner‘ nach und hebt einerseits dessen Fähigkeit hervor, „die tonvolle Kraft“ der Wurzeln der deutschen Sprache zu empfinden, „in welchen er (...) eine wunderbare Neigung und Vorbereitung zur Musik ahnte“; andererseits verbinde Wagner diese Fähigkeit mit einer Wortsprache, zu deren vorrangigen Eigenschaften „die verwegene Gedrängtheit“ und „eine mitunter ganz rein sprudelnde (...) Spruchwörtlichkeit“ zählten (KSA 1, S. 487). Außerdem ist erwähnenswert, dass Nietzsche am Ende dieses Abschnitts Wagner mit Demosthenes vergleicht, dessen Stil in einem Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches in gewisser Hinsicht als nachahmenswertes Modell für den Aphorismus betrachtet wird (vgl. KSA 2, S. 165). Zu den vorrangigen Merkmalen der Ausdrucksform des Aphorismus, die jene „höhere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (...) der Erkenntnis stellt“ vorbereitet und die exzessiv gefühlsbeladene Spannung aller modernen Schriften überwindet, zählt Nietzsche erneut „eine starke Concentration aller Worte“ und eine „strenge Überlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit“ (ebd.). Die Gedrängtheit ist demnach sowohl ein besonderes Merkmal des Aphorismus als auch eine notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Musikalität der dithyrambischen Kunst Wagners, die Nietzsche selbst als eine Vorwegnahme des Stils des Zarathustra ansieht. Von dieser Beziehung zwischen der Gedrängtheit des Aphorismus, die in den Sentenzen zum Äußersten getrieben wird – in denen, wie man in Abwandlung einer Definition Nietzsches sagen könnte, die durch den Aphorismus erlangten Erkenntnisse einen solchen Kondensationspunkt erreichen, dass sie in Formeln ausgedrückt werden können (vgl. KSA 6, S. 333) –, und der dem Lied eigenen Musikalität spricht Nietzsche in einem kurzen Gedicht vom Frühjahr 1882, das offensichtlich als Vorwort zu einer geplanten Sammlung von Liedern und Sinnsprüchen entstand: Takt als Anfang, Reim als Endung Und als Seele stets Musik: Solch ein göttliches Gequiek Nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung, Lied heißt: „Worte als Musik“. Sinnspruch hat ein neu Gebiet: Er kann spotten, schwärmen, springen,
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Niemals kann der Sinnspruch singen; Sinnspruch heißt: „Sinn ohne Lied“. Darf ich euch von Beidem bringen? (KSA 9, S. 679)
Eine genaue Untersuchung der nachgelassenen Fragmente aus den Jahren 1881–1883 lässt eine Tendenz deutlich werden, aus der sich schließlich die stilistische Form von Also sprach Zarathustra herauskristallisierte. Nietzsche fand offensichtlich zum Stil und zur Form dieses Werkes, als er die beiden unterschiedlichen Bereiche des Liedes und des Sinnspruches zu verschmelzen vermochte, so dass – wie er in Ecce homo sagt – „die Sentenz von Leidenschaft“ zittert und die „Beredsamkeit Musik“ wird (KSA 6, S. 343–344). Die Verschmelzung dieser beiden Bereiche ist die erste Stufe, auf der aufbauend es Nietzsche gelingt, jenen „Umfang an Raum“, jene „Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten“ zu konstruieren, die ihren angemessenen Ausdruck in dem Stil des Zarathustra und in der „Sprache des D i t h y r a m b u s “ findet (vgl. KSA 6, S. 344–345). Diese Spannung zwischen Sinnspruch und Lied spiegelt genau jene Konvergenz zwischen der bis zu ihrer letzten Konsequenz durchdachten Erkenntnisarbeit einerseits und ihrer experimentellen Verinnerlichung andererseits wider, die kennzeichnend ist für die Erkenntnistragödie, aus der der Zarathustra entstand. Das zuvor wiedergegebene kurze Gedicht wurde wahrscheinlich als Vorwort zu jenem Narren-Buch konzipiert, worin Nietzsche im Sommer 1882 Lieder und Sinnsprüche zu sammeln plante (vgl. KSA 9, S. 680). Die Idee zu dieser Sammlung ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Nietzsche sich zum Zeitpunkt der Vollendung der Fröhlichen Wissenschaft noch nicht sicher war, welche Form das Zarathustra gewidmete Werk haben sollte. Wie bereits erwähnt, war die Figur des Zarathustra Ende August ’81 erstmals in Nietzsches Fragmenten aufgetaucht, zusammen mit der Idee zu einem Werk in vier Büchern, worin die Einverleibung der Erfahrungen das letzte Glück des Einsamen und die dithyrambische Schlusshymne an den „Annulus aeternitatis“ (vgl. KSA 9, S. 519–520) vorbereiten sollte. Die Manuskripte aus dieser Zeit geben aber keinen Aufschluss über die Entstehung der literarischen Form des zukünftigen Zarathustra. Wie ebenfalls bereits gesagt, erscheint die Figur lediglich in zwei Heften aus dem Herbst 1881 85, die Vorstufen zu einigen Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft bilden, als Protagonist von Sentenzen und Anekdoten. Nach dem Zeugnis des Autors in Ecce homo (vgl. KSA 6, S. 337) fiel der ganze erste Zarathustra ihm erst im Januar 1883 während seines Aufenthalts in 85
Wie gesagt, handelt es sich um die Hefte N V 7 und M III 4; vgl. Fußn. 72.
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Rapallo ein. Auf diese Zeit gehen die Hefte N V und N VI, die in der Kritischen Gesamtausgabe unter der Nummer 4 geführt werden, und das Heft Z 1 zurück, das in derselben Ausgabe die Nummer 5 trägt. Die beiden Hefte wurden von Nietzsche parallel benutzt, und der Autor greift darin häufig auf die zwischen Sommer und Herbst 1882 verfasste Sprüchesammlung zurück, die in einem anderen Teil von Heft Z 1 wiedergegeben und in der besagten Ausgabe mit 3 beziffert ist. In diesen drei Heften sind Fragmente gesammelt, die, wenngleich sehr bruchstückhaft 86, Zeugnis von der Entstehung des ersten Teils von Also sprach Zarathustra ablegen. In Heft 4 kommen erstmals Ausdrucksmodalitäten vor, die einige spezifische Merkmale des Zarathustra vorausahnen lassen; der erste, längere Teil von Heft 5 vertieft bzw. entwickelt neue oder bereits in Heft 4 angeschnittene Themen in Form von Sentenzen. Dieses vierte Heft steht folglich zwischen zwei Heften, die ausschließlich oder vorwiegend einer umfassenden Sammlung von Sentenzen gewidmet sind. Betrachtet man die Entstehung des ersten Teils des Zarathustra aus der Perspektive dieser drei Hefte mit Fragmenten, so lassen sich drei Hauptphasen unterscheiden: Die erste besteht in der Niederschrift der Gedanken in Notizbüchern, die zweite in der Ausarbeitung dieser Aufzeichnungen in Form von Sentenzen, die dritte in der Weiterverwendung und Zusammenstellung dieser Sentenzen in den verschiedenen Kapiteln von Also sprach Zarathustra. Es ist wichtig, dass Nietzsche – und dies betrifft auch die Abfassung der nachfolgenden Teile des Werks – die verschiedenen Sentenzen oder anderen Gedankensplitter sammelt, ohne ursprünglich an ihren endgültigen Platz in den unterschiedlichen Kapiteln zu denken. Die Anordnung des vorbereitenden Materials innerhalb der verschiedenen Kapitel stellt im allgemeinen die letzte Phase in der Komposition des Werkes dar 87. Vor allem wurden die Sentenzen unabhängig von ihrem Ort in 86
87
Zu dem ersten Teil von Also sprach Zarathustra schreibt Montinari: „Die handschriftliche Überlieferung ist lückenhaft; es fehlen die meisten Vorstufen, und nur zu einem Teil der Vorrede ist die Reinschrift vorhanden. Der Verlust an Manuskripten läßt sich durch den Bruch Ns mit Paul Rée, Lou von Salomé und seinen Angehörigen erklären“ (vgl. Kommentar zur Kritischen Studienausgabe, KSA 14, S. 281). Für eine genauere Analyse der Entstehung des Zarathustra vgl. M. Montinari, Zarathustra vor „Also sprach Zarathustra“, in ders., Nietzsche lesen, a. a. O., S. 79–91. Zu dem Kompositionsverfahren, das für alle vier Teile des Zarathustra gilt, schreibt Montinari: „N. trug ständig, beinahe täglich (...), seine Aufzeichnungen in Notizbücher ein; er schrieb sie dann in größere Hefte ab (...), ohne sich zunächst an einem bestimmten Plan zu orientieren, bzw. nach einer Disposition seines Materials suchend oder schon umrissene Anordnungen ändernd. Wenn er dann zur Abfassung eines Teils von Also sprach Zarathustra schritt, so konnte er ihn deshalb so rasch vollenden, weil er sich darauf vorbereitet hatte, ohne den literarischen Ausgang seiner Arbeit im voraus zu wissen“ (Kommentar zur Kritischen Studienausgabe, KSA 14, S. 280).
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den einzelnen Kapiteln konzipiert und in den Sammlungen der beiden Hefte in einer völlig anderen als der endgültigen Abfolge angeordnet, in der oft weit auseinander liegende Sentenzen zusammengefügt werden. Will man einige Charakteristika dieser Kompositionsweise verallgemeinern, so lässt sie sich als unvermittelte Montage bezeichnen, in der jegliche lineare „narrative“ Ordnung eine gänzlich untergeordnete Rolle spielt. Wie schon mehrfach betont, neigt Nietzsche in Ecce homo dazu, seinen Zarathustra als Produkt eines plötzlichen Ausbruchs, als Resultat einer unerwarteten, unwillentlichen Offenbarung zu präsentieren; das Werk erscheint also nicht als Ergebnis einer bewussten Komposition, sondern als etwas, was Nietzsche, in seinen Grundzügen bereits vollendet, quasi außerhalb seiner selbst vorfinden konnte (vgl. KSA 6, S. 341). Auch wenn sich aus der Analyse der Fragmente ergibt, dass die Abfassung der verschiedenen Teile durchaus nicht so rasch vonstatten ging, so steht doch außer Zweifel, dass die endgültige Konzeption des ersten Teils des Werkes auf der Basis der zuvor entwickelten Gedanken nur wenige Monate in Anspruch nahm. Auf einer rein biographischen Ebene stellt der erste Teil des Zarathustra fraglos „das Alchemisten-Kunststück“ dar, aus dem der „Kothe“ der beendeten Beziehungen zu Lou Salomé und Paul Rée in „Gold“ verwandelt werden konnte – so drückt Nietzsche sich, ohne dabei im Geringsten auf den Zarathustra Bezug zu nehmen, in dem dramatischen Brief an Franz Overbeck von Weihnachten 1882 aus, der eines der bedeutsamsten Zeugnisse der tiefen Existenzkrise jener Zeit darstellt (vgl. KSB 6, S. 311–312). Die Suche nach einer neuen Einsamkeit, die Bitterkeit aufgrund der „schauerliche[n] Stille“, welche die „rancune des Grossen“ – von der der Autor in Ecce homo als dem vorherrschenden Gemütszustand während der Abfassung des Zarathustra spricht (vgl. KSA 6, S. 342) – pausenlos umgibt, die tiefe Enttäuschung über die Freunde, von denen er am meisten geglaubt hatte, sie seien geneigt, ihm auf den noch nicht beschrittenen unwegsamen Pfaden seines Denkens zu folgen – all dies klingt, quasi wie eine Art verborgenes Leitmotiv, im ersten Teil des Werkes mehrfach an. 88 88
Im Gespräch mit dem Jüngling in dem Kapitel „Vom Baum am Berge“ (erster Teil des Zarathustra) wird der Edle, der die höchsten Hoffnungen vergisst, auf eine Weise charakterisiert, die sehr an Nietzsches Urteil über Paul Rée erinnert. So stellt Nietzsche beispielsweise fest: „Aber nicht das ist die Gefahr des Edlen, dass er ein Guter werde, sondern ein Frecher, ein Höhnender, ein Vernichter. Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre höchste Hoffnung. Und nun verleumdeten sie alle hohen Hoffnungen. Nun lebten sie frech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele.“ (KSA 4, S. 53) Dies ist nur ein einziges Beispiel für die Enttäuschung über Paul Rée und Lou Salomé, die sich in dem Werk ausspricht. Zu den Reminiszenzen an die Tautenburger Hefte in einigen Kapiteln des Zarathustra vgl. den letzten Teil dieses Kapitels.
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Einen direkten Zusammenhang zwischen der biographischen Erfahrung vom Herbst 1882 und der intellektuellen Erfahrung herzustellen, die Nietzsche schließlich zur Abfassung des Werkes trieb, ist indes nicht allein reduktiv, sondern kann auch zu grundsätzlichen Missverständnissen führen. Die Existenzkrise vom Herbst 1882 bereitet lediglich den Boden, auf dem Nietzsche sich bewogen sieht, die Hypothese von der Wiederkunft des Gleichen zu Ende zu durchdenken und die angemessene Form zu suchen, um ihr Ausdruck zu verleihen. Aus der absoluten Verzweiflung, die ihn zu jenem Zeitpunkt erfüllte, aus der Gefahr der Selbstzerstörung und -vernichtung, die damals eine reale Perspektive und keineswegs eine einfache Attitüde oder Pose darstellte, suchte Nietzsche dank einer neuen, höheren Selbstüberwindung einen Ausweg. Der Gedanke des Übermenschen, der in dem bereits erwähnten Heft 4 Gestalt anzunehmen begann, reifte durch dieses Bedürfnis nach einer tiefen Überwindung der trostlosen menschlichen Misere heran, die sich dem Philosophen als vorherrschendes Element der eigenen persönlichen Erfahrung aufdrängte. Diese Selbstüberwindung wurde nicht zuletzt durch die Vereinigung von drei verschiedenen Daseinsweisen möglich: Danach musste der Erkennende als Schöpfer der Wahrheit sich mit dem Künstler und dessen Fähigkeit, sich durch eine höhere Vereinfachung mitzuteilen, verbinden, während diese Vereinfachung als Akt der Liebe erschien, der auf eine gestärkte Einheit des gesamten Seins zielte: „wahr sein, sich mittheilen wollen und können und mitwissend sein“ (vgl. KSA 10, S. 115) – diese drei Eigenschaften sind es, durch die die Selbstaufhebung und Selbstüberwindung der Menschheit möglich wird. Die Vereinigung dieser drei Eigenschaften bedeutet auch eine Rückkehr zu dem vorsokratischen Ideal des Dichters als Philosoph und seiner „uralte[n] Spruchweisheit“ (vgl. KSA 7, S. 386). Auch in dieser Hinsicht wurde der Begriff ‚dionysisch‘ in Also sprach Zarathustra „h ö c h s t e T h a t “ (KSA 6, S. 343). In der Überwindung der begrifflichen Sprache und in der „Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“ (KSA 6, S. 344) wird eine neue Form von Wahrheit geschaffen, die sich durch die Verdeutlichung der konstitutiven Elemente der Sprache selbst manifestiert. Die der Erkenntnisarbeit entspringende Kritik des trügerischen Charakters der Zeichenwelt erzeugt nämlich eine andere Ausdrucksform, die der Sprache ihren ursprünglichen Symbolcharakter belässt. Nur innerhalb dieses sprachlichen Spiels und dieser Art von Offenbarung der Wahrheit kann die Überwindung des Menschen sich äußern und der Begriff ‚Übermensch‘ „höchste Realität“ werden (ebd.). Der Prozess, der zu Beginn des Jahres 1883 zur Endfassung des ersten Teils des Zarathustra führt, zeugt von diesem plötzlichen Umschwung, diesem uner-
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warteten Sprung, der damals in Nietzsches Denken und Mitteilungsformen stattfand. Freilich läuft jeder Versuch, diesen Prozess anhand der Untersuchung der nachgelassenen Fragmente zu rekonstruieren, unweigerlich Gefahr, die Reichweite des ungestümen schöpferischen Ausbruchs, aus dem das Werk entstand, zu reduzieren. Gleichzeitig liefert aber gerade eine solche Untersuchung wertvolle Instrumente, um die Formen zu erfassen, in denen dieser plötzliche Erguss der geistigen und künstlerischen Arbeit des Philosophen sich verwirklichte. Was in den Fragmenten in der Tat fast völlig fehlt, in der Endfassung dagegen gegeben ist, ist vor allem der „Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfniss nach einem w e i t g e s p a n n t e n Rhythmus“, den Nietzsche in Ecce homo als das eigentliche Wesen seiner Auffassung der Inspiration betrachtete (vgl. KSA 6, S. 339). Im Vergleich zu der noch recht vagen Vorstellung von den Ausdrucksmodalitäten des ersten Teils von Also sprach Zarathustra, wie die Fragmente von Heft 4 sie erkennen lassen, stellt das Fragment 5 (17) eine bedeutende Annäherung an die endgültige Form des Werkes dar und verdeutlicht zudem, dass diese Form durch die Weiterverwendung der in Heft 3 und im ersten Teil von Heft 5 gesammelten Sentenzen sowie der Entwürfe von Heft 4 erreicht wird. Dieses Fragment wird mit einigen Abänderungen fast vollständig im vierten Abschnitt von „Zarathustra’s Vorrede“ wiedergegeben. Im Vergleich zu den Sentenzen und den besagten Fragmenten findet in diesem Fragment eine wichtige Veränderung statt. Die einzelnen Sentenzen oder Bruchstücke werden unter ständiger Wiederholung der bereits in Fragment 4 (228) verwendeten Formel „Ich liebe den“ an jedem Versanfang zusammengefügt. Dies verleiht ihnen einen einheitlichen Charakter und erzeugt zugleich, dank der Wiederholung ein und desselben Motivs, einen poetischen Rhythmus. Außerdem wird durch die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person ein ‚subjektives‘ Element im Text eingeführt, im Gegensatz zu dem ‚objektiven‘ Charakter der in den Sentenzen und Fragmenten formulierten Aussagen. In der Endfassung des vierten Abschnitts der Vorrede kommen weitere Elemente hinzu, die diesen Prozess der Weiterverwendung und Ausarbeitung der Sentenzen und Fragmente verstärken. Der Text des Fragments 5 (17) wird zum Mittelstück der zweiten Rede des Zarathustra, die er, nachdem er von den Bergen herabgestiegen ist, an die auf dem Markt der nahe gelegenen Stadt versammelte Menge richtet. Als entscheidende Veränderung gegenüber der Form der Sentenz erscheint folglich die Gestaltung des Textes in dialogischer Form. Im allgemeinen fungiert der nar-
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rative Rahmen 89, der den Hintergrund der verschiedenen Kapitel des Zarathustra bildet, als Voraussetzung, um Dialoge mit einem oft imaginären Gesprächspartner zu inszenieren. Im ersten Teil des Zarathustra, den Nietzsche – das sollte nicht vergessen werden – 1883 ohne irgendeinen Hinweis auf eine mögliche Fortsetzung veröffentlichte90, besteht dieser narrative Rahmen, der bereits im Aphorismus 342 der Fröhlichen Wissenschaft erprobt worden war, aus wenigen Elementen. Mit Ausnahme der „Vorrede“ worin einige symbolische Gestalten und andere Elemente erscheinen, beschränkt der Protagonist sich tatsächlich darauf, zwischen den Bergen und der nahe gelegenen Stadt mit Namen „die bunte Kuh“ umherzuwandern, wobei er von Zeit zu Zeit einer Person – dem Weisen in „Von den Lehrstühlen der Tugend“, dem Jüngling in „Vom Baum am Berge“ und dem alten Weiblein in „Von alten und jungen Weiblein“ 91 – oder symbolischen Tiergestalten wie der Natter in „Vom Biss der Natter“ begegnet. Die Begegnung mit diesen Gestalten bietet Zarathustra die Gelegenheit, um seine Gedanken und Meinungen zu bestimmten Themen darzulegen. Obwohl sie im allgemeinen nicht mit ihm sprechen, sondern sich auf die Rolle passiver Zuhörer beschränken, ist der gesamte erste Teil des Zarathustra, ebenso wie die meisten nachfolgenden Teile, wie ein Dialog, ein Appell, eine Gesamtheit von Reden aufgebaut. In den meisten Kapiteln wendet sich der Protagonist an jene ‚Brüder‘ oder ‚Freunde‘, die mal als Gesamtheit, mal als Einzelne angesprochen werden, weshalb er häufig von der zweiten Person Plural zur zweiten Person Singular übergeht. Im letzten Kapitel enthüllen sich diese Freunde und Brüder als Jünger, die er während seiner Predigten versammelt hat und nun erneut verlassen will, um in seine Einsamkeit zurückzukehren. Die zweite Person Plural, die 89
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In den Notizie e note zur Composizione di „Così parlò Zarathustra“ (in: Opere di Friedrich Nietzsche, a. a. O., Bd. 6/1, S. 415) fasste Montinari die hauptsächlichen Strukturmerkmale des Werkes folgendermaßen zusammen: „Obwohl die Struktur jedes Teils des Zarathustra besondere Merkmale aufweist, läßt sich für alle festhalten, daß sie 1. einen narrativen Rahmen, 2. belehrende, sentenziöse, doktrinäre Teile 3. lyrische Teile enthalten“. Für die Untersuchung des Übergangs von der Sentenz zum Stil des ersten Teils des Zarathustra habe ich an diese klare Aufgliederung Montinaris angeknüpft. Bekanntlich wurde der erste Teil des Werks Ende April 1883 einfach mit dem Titel Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen veröffentlicht. „Der erste Teil von Also sprach Zarathustra wurde erst zum ‚ersten Teil‘ (dieser Hinweis fehlte auf dem eben zitierten Titelblatt), als der zweite erschien“ (M. Montinari, Kommentar zur Kritischen Studienausgabe, KSA 14, S. 281). Die Figur des alten Weibleins taucht in den Fragmenten jedoch mehrfach auch in anderen Zusammenhängen als in dem Kapitel „Vom alten und jungen Weiblein“ auf, was als Symptom für die tiefe Verwurzelung dieser Gestalt und der mit ihr verknüpften Themen in Nietzsches Psychologie und Lebenserfahrung gewertet werden kann. Die Erinnerung an die Erlebnisse mit Lou Salomé und Paul Rée und die geistigen Spuren, die sie hinterlassen haben, spielen diesbezüglich fraglos eine wichtige Rolle.
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Zarathustra in seinen Reden verwendet, dient jedoch oft auch der Hervorhebung eines Gegensatzes: Der Protagonist wendet sich gerade deshalb an imaginäre Gesprächspartner, um seine radikale Distanz gegenüber der herrschenden Meinung hervorzuheben. Manchmal, etwa im Fall der Richter in „Vom bleichen Verbrecher“, haben diese Gesprächspartner ein Gesicht und eine Identität; meistens aber bleiben sie anonym. Dieses ‚Ihr‘ meint fraglos die „letzten Menschen“, allgemeiner jedoch bezieht es sich auf die lange Geschichte der abendländischen Metaphysik in ihren verschiedenen Äußerungen auf der Ebene der Ethik und Erkenntnistheorie, gegen die Nietzsche sich nachdrücklich abgrenzen will. Neben diesem dialogischen Aspekt kehrt ein weiteres Element, das in dem Fragment 5 (17) noch nicht vorhanden war, im definitiven Text der „Vorrede“ fortlaufend wieder: der Gedanke des Untergangs, der Wille, zu Grunde zu gehen, die Sehnsucht danach, sich vollkommen hinzugeben, ohne irgendetwas von sich selbst zu bewahren. Dieser Untergang ist die notwendige Voraussetzung für das Überschreiten der Brücke. Die Anfangs- und Schlussverse, die in dem Fragment noch fehlen, unterstreichen diesen Gedanken dank einer metaphernreicheren Sprache und eines betonteren, rascheren Rhythmus. Die Größe des Menschen besteht genau darin, eine Brücke zu sein und durch seinen Untergang den ‚Blitz‘ des ‚Übermenschen‘ vorzubereiten. Mit der Bekräftigung dieses Gedankens schließt im übrigen der erste Teil des Zarathustra, denn dort verbindet Nietzsche das Unter- oder Hinübergehen direkt und ausdrücklich mit der ‚Sonne‘ der Erkenntnis. Diese Sonne hat die materielle Substanz und die tierische Seite jeder höheren ethischen und erkenntnismäßigen Äußerung des Menschen enthüllt, weshalb der Mensch der Erkenntnis von der unüberwindlichen Empfindung eines ihn umgebenden Abgrunds durchdrungen ist und seine Auflösung, seinen Drang ins Nichts als unvermeidlich begreift. Nur diese Tragödie der Erkenntnis, die aus der Einverleibung und Verinnerlichung der fortschrittlichsten wissenschaftlichen Errungenschaften folgt, erlaubt es, dem Leben neue Horizonte zu erschließen. Zarathustra schaut die Unvermeidlichkeit des Untergangs nicht allein, sondern es verlangt ihn danach als höchstem Ausdruck seiner Erkenntnis und seines ethischen Strebens. Bereits in der „Vorrede“ wird dieser Untergang als ‚schenkende Tugend‘ dargestellt, und das Schenken wird unmittelbar mit der Wirkung der Erkenntnis verknüpft. Die Größe des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, keinen ‚Tropfen Geist für sich zurückzubehalten‘ und den ‚Reichtum seiner Seele zu verschwenden‘ (vgl. KSA 4, S. 17). Sich ganz und gar in Geist zu verwandeln, bedeutet, den Prozess der Intellektualisierung, den Nietzsche in den Fragmenten von 1881 als Philosophie der Gleichgültigkeit bezeichnet hatte, bis zum Letz-
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ten fortzuführen. Seine höchste Erfüllung erreicht der Erkennende folglich in diesem Streben, sich immer zu schenken und sich nicht zu bewahren (vgl. ebd.). In der dichterischen Sprache des Zarathustra findet der Erkennende die einzig mögliche Form, um seine radikale Auflösungsund Vernichtungserfahrung in eine positive Dimension zu wenden. Allein innerhalb dieser Sprache und nicht in einer heroischen, historisch bestimmbaren Zukunft erlangt die Idee des Übermenschen „als die h ö c h s t e A r t a l l e s S e i e n d e n “ Realität, wie Nietzsche explizit in Ecce homo äußert (vgl. KSA 6, S. 344). Die Fortentwicklung des Stils von der Sentenz zu den Ausdrucksmodalitäten des Zarathustra unterstreicht den Charakter dieses Werks als Tragödie der Erkenntnis. Besonders der erste Teil scheint nicht weit von der Idee einer Sprüche- und Liedsammlung entfernt zu sein, an die Nietzsche noch in einem Fragment des bereits erwähnten Heftes 4 dachte, worin er seinen Protagonisten wie folgt darstellte: „So oft ihn sein Geist trieb, gieng Zarathustra auf einen Berg und schrieb unterwegs seine Sprüche auf“ (KSA 10, S. 168). In dem Moment, da die verschiedenen Sprüche zusammengebaut und durch die Wiederholung bestimmter Formeln oder Gedanken verbunden, in einen erzählerischen Zusammenhang gestellt und in Momente eines imaginären Dialogs verwandelt werden, ermöglichen sie dem Autor eine weitere Verfeinerung seines Stils, durch die sein „Instinkt rhythmischer Verhältnisse“, sein „grosser Stil der Periodik“ (vgl. KSA 6, S. 339; 305) sich voll zu entfalten vermag – durch die Schaffung von Gleichklängen, die Umkehrung und Mischung von Tönen, Wörtern und Begriffen, das dialektische Paradox, die Schöpfung eines „tempo[s] der Zeichen“ (ebd., S. 304). Auf diese Weise erlangt die Sprache ihre besondere Plastizität, verwandelt sich in eine „Kunst der Gebärde“, um „eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen“ mitzutheilen (ebd.) Diese Kunst der Gebärde war teilweise schon in der Beschreibung der „großen Form der Leidenschaft“ in Richard Wagner in Bayreuth vorweggenommen worden. Ein Werk vermag, so hatte Nietzsche damals behauptet, „den grossen geschwungenen Bogen einer Leidenschaft wiederzugeben“, wenn „die einzelne[n] Puncte ihrer Flugbahn“ „mit der grössten Bestimmtheit“ angedeutet werden, „um aus ihnen dann die ganze Linie [...] errathen zu lassen“ (vgl. KSA 1, S. 492). Eine ständige „Spannung der Theile gegen einander“ (KSA 1, S. 493) ist also die Voraussetzung für den großen Stil. In Also sprach Zarathustra wirken die Sentenzen als die mit größter Bestimmtheit angedeuteten Punkte, von denen aus sich dann das Lied der intensivsten Leidenschaft entwickelt. So stellen die Sentenzen die stilistische Grundeinheit des Zarathustra dar, das Instrument,
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durch das die in den aphoristischen Werken geleistete Erkenntnisarbeit einverleibt wird, bis sie jene Überfülle des Lebens produziert, aus der die Kunst neue Visionen hervorzubringen weiß. Nur so kann die Kunst ihren lügnerischen Charakter überwinden und spricht nicht mehr von den Grenzen der Erkenntnis, sondern von der Zukunft des Menschen (vgl. z. B. KSA 10, S. 134, 146, 183). Die Kapitel des ersten Teils des Zarathustra, in denen der Rückgriff auf die in den Heften 3 und 5 formulierten Sentenzen besonders häufig ist, bestätigen diese Funktion der Spruchform für die Schaffung der spezifischen poetischen Sprache des Werkes. Vor allem in den Kapiteln „Vom Lesen und Schreiben“, „Vom Krieg und Kriegsvolke“, „Von alten und jungen Weiblein“ und „Vom Biss der Natter“ ist die Ableitung von den Sentenzen der beiden Hefte besonders deutlich. In den letzten beiden erwähnten Kapiteln wird eine Gruppe von Sentenzen in einen durch den narrativen Rahmen gestalteten Dialog eingebunden, und zwar gemäß den Modalitäten, die bereits in Bezug auf den vierten Abschnitt von „Zarathustra’s Vorrede“ analysiert wurden; in den ersten beiden richtet sich die Rede des Protagonisten dagegen entweder allgemein an eine zweite Person Plural oder an die „Brüder im Kriege“. Die Kapitel „Vom Lesen und Schreiben“ und „Von alten und jungen Weiblein“ bestehen fast vollständig aus einer geschickten Montage früher formulierter Sentenzen; nur eine sehr begrenzte Zahl von Versen, die der Verknüpfung der verschiedenen Sentenzen dienen, sowie der narrative Rahmen des Kapitels zur Frauenproblematik werden im Moment der Endredaktion verfasst. Interessanterweise haben die beiden in diesen Kapiteln behandelten Themen ihren Ursprung in den Tautenburg-Aphorismen, die Nietzsche im Sommer 1882 Lou Salomé widmete, sowie in Gesprächen mit Lou von demselben Sommer. Die Gestalt des ‚alten Weibleins‘, dem Zarathustra seine Ansichten über die Frau darlegt, kommt außerdem in einigen Fragmenten von Heft 4 vor, etwa dem Fragment 4 (85). In einem weiteren rätselhaften Fragment, 4 (131), scheint sich fast eine Art Prozessverhandlung zwischen Zarathustra und einer Frau, die ihn geliebt hatte, vor zwei Richtern abzuspielen, die glauben, der Protagonist sei dem Wahnsinn verfallen, und ihn dazu bewegen, in seine Einsamkeit zu den Tieren zurückzukehren. Der auslösende Grund für diese geistige Verwirrung führt zum Thema des Mitleids als Hölle hin, das mehrfach im Zarathustra wiederkehrt und nicht selten von Nietzsche mit der ‚Erfahrung Lou‘ verbunden wird (vgl. KSA 10, S. 151 f.). Durch die Montage ändern sich jedoch die Form der Sentenz bzw. die aus den vorbereitenden Fragmenten zu gewinnenden Interpretationshypothesen. Betrachten wir beispielsweise die Verse 11–27 des Kapitels
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„Vom Lesen und Schreiben“ (vgl. KSA 4, S. 49), die in der Endfassung eine leicht zu ermittelnde und vom Rest des Kapitels zu unterscheidende thematische Einheit zu bilden scheinen: Dort wendet Zarathustra sich an eine zweite Person Plural – in Fragment 4 (73) seine „Brüder und Schwestern“ (KSA 10, S. 134) –, erinnert sie daran, dass ihres Erachtens das Leben schwer zu tragen sei und beschwört sie, nicht durch unstete, flatterhafte Gefühle davor zu fliehen. In diesen Versen verwendet Nietzsche zunächst die Fragmente 4 (72) und 4 (73), die später in die Sentenzen 21 und 22 des ersten Teils von Heft 5 umgewandelt wurden, nimmt dann die Sentenz 32 aus Heft 3 auf und entwickelt schließlich durch den Rückgriff auf die Sentenz 42 aus Heft 3 und unter geschickter Einfügung eines Zitats aus Shakespeares Hamlet in den Versen 20–21 einen einheitlichen Gedankengang. Um hier einige charakteristische Elemente hervorzuheben, die aus diesem raffinierten Spiel der Ineinanderschachtelung von Textstücken und früheren Versionen die spezifische poetische Sprache des Zarathustra entstehen lassen, sei zunächst die anfängliche Ansprache an ein ‚Ihr‘ herausgestellt, dem die Meinung über das ‚schwere Leben‘ zugeschrieben wird, gegen die der Protagonist sich mit der Kraft seiner Argumentationen wendet; sodann die kurzen an dieses ‚Ihr‘ gerichteten Fragesätze, entsprechend einem schon in dem Fragment 5 (23) angewandten Verfahren; die Unterteilung der früher entwickelten Argumentationen in mehrere klar voneinander abgehobene kleine Verse, wodurch der Rhythmus der Aussagen sich ändert und eine größere Intensität erlangt; der Gebrauch verstärkender Formeln wie „Es ist wahr“ in Vers 18 zur Einführung der Sentenz 32 aus Heft 3; und schließlich das Spiel aus Gleichklängen durch die Wiederholung oder chiastische Anordnung von Wörtern oder Sequenzen. Dass es Nietzsche gelingt, seinem Text durch diese außergewöhnliche stilistische Arbeit eine wachsende poetische Kraft zu verleihen, die reich an metaphorischen Bezügen und lyrisch-subjektiven Ausdrucksformen ist, beweisen die Schlussverse des Kapitels, in dem Zarathustras Leichtigkeit mit dem dionysischen Tanz eines Gottes verschmilzt. Die unmittelbar vorausgehenden Verse, in denen erstmals das Motiv des Fliegens auftaucht, sind das Ergebnis einer gelungenen Synthese der Sentenzen 297 und 298 aus Heft 3. Interessanterweise hatte der Autor in der voranstehenden Sentenz 296 einige Grundforderungen seiner Theorie des Stils – Gegenstand eben dieses Kapitels des Zarathustra – zusammengefasst. In diesen beiden mit Titeln versehenen Sentenzen heißt es: 297. G a n g u n d G a n g a r t . – Ich habe gehen g e l e r n t : seitdem lasse ich mich laufen.
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298. D e r f r e i e G e i s t . – Wer fliegen kann, weiß daß er sich zum Fortfliegen nicht erst s t o ß e n lassen muß; wie alle ihr festgesessenen Geister es nöthig habt, um überhaupt „fort zu kommen“. (KSA 10, S. 89)
In den beiden entsprechenden Versen der Endfassung des Zarathustra entfallen selbstverständlich die beiden Titel. Was in der Sentenz auf eine unbestimmte dritte Person Singular bezogen war, spricht der Protagonist nun in Ich-Form aus. Zudem wird der entspanntere, langsamere Rhythmus der Sentenz 298 durch schärfer entgegengesetzte rhythmische Einheiten ersetzt. Das Endergebnis klingt dann so: Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe fliegen gelernt: seitdem will ich nicht erst gestossen sein, um von der Stelle zu kommen: (KSA 4, S. 49–50)
Das Bedürfnis nach Zuspitzung und Eindringlichkeit – oft durch die Wiederholung bestimmter Wörter – kann eine pathetische Wirkung erzeugen, die in den Ohren des Lesers bisweilen gezwungen oder gekünstelt klingen mag. Dies lässt sich anhand der Änderungen zeigen, die der Autor an den Anfangsversen des Kapitels im Vergleich zur Form der Sentenz 15 im ersten Teil von Heft 5 anbringt. Dort hatte Nietzsche geschrieben: Von allem Geschriebenen liebe ich nur das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Darin liebe ich das Buch. (KSA 10, S. 189)
In dieser Aussage erscheint der Begriff Blut wie eine unbestimmte metaphorische Bezugnahme auf den fast körperlichen Eindruck und die gefühlsmäßige Intensität, die eine wirkungsvolle Schreibweise hervorrufen. Die Bezugnahme auf das so geschriebene und deshalb vom Autor geliebte Buch scheint die anfängliche Erwähnung des Blutes abzuschwächen. In der Endfassung des Zarathustra fällt jede Bezugnahme auf das Buch fort und der Begriff Blut wird fast obsessiv wiederholt. In solchem Fall kann es sich als nützlich erweisen, auf die dem Text vorausgegangenen Sentenzen zurückzugehen, um die Aussagen der Endfassung aus dem Zusammenhang zu lösen, sie in ein weites Netz von Verweisen einzubinden und die innere Stratifikation sowie die daraus sich ergebenden unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten zu verstehen. Es kann sinnvoll sein, die Schicht eines fast hochtrabend und hohl klingenden Pathos, eines falschen und verbitterten prophetischen Tons abzutragen, um den Text mit mehr Abstand neu zu lesen und seinen geheimen, verborgenen Tönen nachzuhorchen. Verfolgt man beispielsweise die verschiedenen Behauptungen zur Frauenproblematik, die das Kapitel „Von alten und jungen Weiblein“ ent-
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hält, von ihrer Entstehung in den Tautenburg-Dialogen an und rekonstruiert das dichte Verweisgeflecht, in das sie eingebunden sind, so erwecken die vielfältigen Bedeutungsschichten dieses Kapitels einen durchaus anderen Eindruck als den eines konventionellen, hohlen Männlichkeitswahns, wie er nach einer ersten Lektüre entsteht. Als Beispiel lässt sich der poetische Ton anführen, der die Charakterisierung der Frau als „Spielzeug“ begleitet und ihr eine weiter reichende Bedeutung verleiht: Ein Spielzeug sei das Weib, rein und fein, dem Edelsteine gleich, bestrahlt von den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist. (KSA 4, S. 85)
Den Gedanken von Tugenden einer künftigen Welt hatte Nietzsche bereits in der Sentenz 146 von Heft 5 geäußert. Dort war er in Ich-Form formuliert worden. Es ist also anzunehmen, dass sich darin eine vom Autor selbst tief empfundene und geteilte Auffassung widerspiegelt, auch wenn die Tatsache, dass die Sentenz in Anführungszeichen gesetzt ist, diese Hypothese einzuschränken scheint. Die Sentenz könnte auch als Ausdruck eines von einem Gesprächspartner des Autors oder von Zarathustra vertretenen Gedankens konzipiert worden sein, von dem der Autor oder seine Person sich hätten distanzieren wollen. Da aber im endgültigen Text des Zarathustra die auf die zuvor zitierten Verse folgenden Zeilen das Gesagte in einem Crescendo der Töne und Argumente fortentwickeln, erscheint diese reduktive Lesart ungerechtfertigt. Der Autor schreibt der Frau folglich eine Auffassung der künftigen Tugend zu, die in der Sentenz 146 dagegen als integraler Bestandteil seiner eigenen Lebensführung erschien: „So will ich leben, bestrahlt von den Tugenden einer Welt, die noch nie da ist“. (KSA 10, S. 203)
In der Endfassung des Zarathustra taucht die Perspektive einer künftigen Welt das über Mann und Frau und ihre Beziehungen zueinander Gesagte demnach in ein anderes Licht. Eine höhere Liebe soll sich darin aussprechen, jene „Liebe zur leidenden Gottheit“ (vgl. ebd., S. 21), von der Nietzsche mit Lou Salomé während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Tautenburg gesprochen hatte. Weit entfernt von überholten Konventionen, soll diese Liebe neue existenzielle Möglichkeiten vorbereiten, in denen eine wechselseitige, tiefere Freiheit sich durch die Fähigkeit verwirklicht, einander im gemeinsamen Spiel mit dem dionysischen Element wiederzufinden. Sie setzt einen gemeinsamen Prozess der Selbstüberwindung voraus, durch den Mann und Frau zu ihrer ursprünglichen Natur zurückfinden und sie jenseits jeglicher Konditionierung durch überlieferte Werte erleben. In dieser Auffassung der Liebe erscheint die Frau durchaus nicht
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als einfaches passives Objekt des männlichen Willens, wie es nach einer ersten Lektüre des Kapitels „Von alten und jungen Weiblein“ scheinen könnte. Die Wechselbeziehungen zwischen der Endfassung und den ihr vorausgehenden Sentenzen helfen in diesem Fall, die vielfältigen Nuancen jener Selbstüberwindung, die auch Nietzsches Auffassung der Liebe und der Geschlechterbeziehungen bedingt, besser zu verstehen. Von einer „Liebe mit sehenden Augen“, die „nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld“ trägt (vgl. ebd., S. 54), muss nach Nietzsches Meinung auch die Gerechtigkeit als ‚Tugend einer Welt, die noch nie da ist‘ durchdrungen sein. Diese Auffassung der Gerechtigkeit hat er in Also sprach Zarathustra an verschiedenen Stellen zu formulieren gesucht. In der ersten Sentenz von Heft 3 hatte er ihr – gemäß einem stilistischen Verfahren, das in Nietzsches Aphorismen häufig vorkommt – in Form eines Dialogs zwischen zwei anonymen Gesprächspartnern Ausdruck verliehen: A: Was bedeutet die Gerechtigkeit? B: Meine Gerechtigkeit ist Liebe mit sehenden Augen. A: Aber bedenke, was du sagst: diese Gerechtigkeit spricht Jeden frei, ausgenommen den Richtenden! Diese Liebe trägt nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld! B: So soll es sein! (ebd.)
In dem Kapitel „Vom Biss der Natter“ formuliert Nietzsche diesen Dialog in einer Reihe sich überstürzender Fragen, die an die Brüder, zugleich aber an jene zweite Person Plural gerichtet sind, die, wie gesagt, auf einen allgemeineren Gegensatz zwischen dem Protagonisten und den unterschiedlichen Formen der abendländischen Metaphysik und Moral anspielt. An die Stelle des maßvollen Dialogs zwischen den beiden Gesprächspartnern in der zuvor zitierten Sentenz tritt diese Reihe kurzer, herausfordernder Verse, wobei der Wechsel zwischen Frage- und Ausrufesätzen einen betont raschen Rhythmus erzeugt. Aus diesen dialektischen Entgegensetzungen entsteht die Idee einer anderen Gerechtigkeit. Sie drückt sich nicht in einer eindeutig dargelegten Auffassung, sondern durch ständig wiederholte Paradoxe aus, die den Eindruck einer fortlaufenden Bewegung der Überwindung der vorangegangenen Feststellungen erweckt. Die aphoristische Form verwandelt sich so in die pathetische, beschwörende Sprache von Zarathustras Rede: Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen. Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist? So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt! So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden! (KSA 4, S. 88)
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Die Projektion des verhaltenen Dialogs zwischen den beiden imaginären Gesprächspartnern in den weiter gespannten Rahmen einer Rede, die sich an eine unbestimmte Zuhörerschaft möglicher Schüler oder Gegner richtet, enthüllt einen weiteren Aspekt des Zarathustra: Was sich in diesem Werk als Reihe von Dialogen darstellt, ist im Grunde nichts anderes als die riesige Inszenierung eines unablässigen Monologs, der sich in ständigen imaginären Entgegensetzungen und unendlichen Spiegelungen vollzieht. Die Doppelung des Wanderers und seines Schattens weitet sich aus in diejenige des Autors und seiner erdichteten Figur Zarathustra. Die Verdichtung der aphoristischen Form in der trockenen, knappen Sprache der Sentenzen und ihre paradoxe Möglichkeit, „das Unvergängliche inmitten des Wechselnden“ auszudrücken (vgl. KSA 2, S. 446), stellen einen wichtigen Übergang dar, in dem der eigentümliche Pathos von Also sprach Zarathustra sich herauszukristallisieren beginnt. In dem Kapitel „Vom Lesen und Schreiben“ wird die Verwendung der Sprüche im übrigen ausdrücklich als besonderes Stilmerkmal theorisiert. Nietzsche stellt darin einen bezeichnenden Vergleich zwischen Sprüchen und Gipfeln an: Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein. (KSA 4, S. 48)
Das Bild vom Berg ist bekanntlich eine der wiederkehrenden Metaphern des Zarathustra. So heißt es zum Beispiel in dem Kapitel „Von alten und neuen Tafeln“: „Ich schliesse Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge, – ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen“ (ebd., S. 260). Aber diese immer höheren Berge, die Zarathustra etwa zu Beginn des dritten Teils des Werkes besteigt, um zu einer vollen Verwirklichung seiner selbst und seines Schicksals zu gelangen, werden ausgehend von den Sprüchen oder Sentenzen gebaut. Durch die Ineinanderschachtelung und gekonnte Montage der Sprüche wird die besondere Sprache des Werkes „durch Addition“ (vgl. KSA 9, S. 496) konstruiert. Dieses additive Verfahren ist sicherlich eines der bedeutendsten Merkmale, durch das die Struktur des Zarathustra Gestalt annimmt. So wie in diesem Werk ausdrücklich eine Aufeinanderfolge der verschiedenen Momente des Gehens, Tanzens und Fliegens festgelegt wird, gibt es darin auch eine Aufeinanderfolge von Wort und Gesang. Erst am Ende des dritten Teils, in gewissem Sinn als krönender Abschluss des Werkes, kann Zarathustra seiner Seele befehlen zu singen (vgl. KSA 4, S. 280), und nur durch das Singen kann er dem Gedanken der Ewigen Wiederkunft Ausdruck verleihen (vgl. ebd., S. 275). Der so angestimmte Gesang wird der der „umfänglichsten Seele“ sein, der „Seele
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nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann“ (ebd., S. 261). Das Verhältnis zwischen der dithyrambischen Kunst des Zarathustra und der Form der Sentenz und des Aphorismus zu erforschen, bedeutet unweigerlich, nur die erste Stufe dieser langen Leiter zu erklimmen, ohne die poetische Sprache des Werks bis zu ihrer vollständigen Entfaltung zu verfolgen. „Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ‚gepredigt‘, hier wird nicht G l a u b e n verlangt“ (KSA 6, S. 260): Diese Mahnung formulierte Nietzsche in Ecce homo mehrfach im Hinblick auf den Zarathustra. Insbesondere forderte er dazu auf, den „halkyonischen Ton“ des Werks richtig zu hören (vgl. ebd., S. 259). Ein „smaragdenes Glück“, eine „göttliche Zärtlichkeit“ bildeten seines Erachtens das bestimmende Merkmal dieses dionysischen Dithyrambus. In diesem Glück und dieser Zärtlichkeit gipfelten der „Umfang an Raum“ und die „Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten“ (vgl. ebd., S. 344), durch die Zarathustra sich „als die höchste Art alles Seienden“ (ebd.) habe präsentieren können. Dank dieses Glücks und dieses Umfangs habe auch „das Alltäglichste [...] von unerhörten Dingen“ gesprochen (vgl. ebd., S. 343). Nur wenn man über den Eindruck eines überspannten Prophetentums als Ergebnis einer schauerlichen Mischung aus „Krankheit und Willen zur Macht“ (vgl. ebd., S. 259) hinausgeht, kann man also zu begreifen suchen, was Zarathustra w i l l : diese Art Mensch, die er concipirt, concipirt die Realität, w i e s i e i s t : sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist s i e s e l b s t , sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, d a m i t e r s t k a n n d e r M e n s c h G r ö s s e h a b e n . (ebd., S. 370)
Mit diesen Worten gelangt Nietzsche auf den letzten Seiten von Ecce homo ein weiteres Mal zu einer Neubestimmung der Bedeutung seines Denkens und der Gründe, warum es ein Schicksal ist. Erneut kommt hier die Philosophie der Gleichgültigkeit zum Ausdruck – jener Wille, die Dinge zu sehen, wie sie sind, der den zentralen Kern der Tragödie der Erkenntnis bildet, die im Zarathustra Gestalt annimmt. Die Untersuchung der Stilschichten dieses Werks, ausgehend von der Verdichtung der aphoristischen Form in der Form der Sentenz, bedeutet demnach zugleich eine Erforschung der Modalitäten, durch die die Leidenschaft der Erkenntnis zu ihren äußersten Konsequenzen getrieben wird, bis hin zu ihrer Einverleibung als Voraussetzung für jedes Gefühl und jeden Wert. Aus dieser Einverleibung entsteht die neue Sprache, die gerade durch die Form der Sentenz in ihrer flüchtigen Eigentümlichkeit und ihrer labyrinthartigen Polyvalenz wahrnehmbar wird.
Zweiter Teil Die Spannung des Bogens. Bausteine für ein neues geschichtliches Bewusstsein
Kapitel 4 Nietzsches Renaissance-Bild zwischen Erasmus und Cesare Borgia In einem Brief vom Januar 1896 an Ludwig Pastor, der festgestellt hatte, dass immer häufiger Nietzsches „Übermensch“ und der „Gewaltmensch“ der Renaissance durcheinander gebracht wurden, antwortete Jacob Burckhardt unter anderem: Nun ist der Name Nietzsche gegenwärtig nicht bloss an sich eine Art von Macht, sondern ein publicistisches Geschäft, welches Besprechung und Erklärungen pro und contra wünschen muss. Wer jedoch, wie ich, seine Studien begonnen hat, als Hegel in vollem Glanz stand, konnte seither den Auf- und Niedergang von sehr Verschiedenen erleben und sich in die Hinfälligkeit auch des Glänzenden schicken lernen. Da ich ferner keine philosophische Ader in mir habe, erkannte ich von Nietzsche’s hiesiger Berufung an, dass mein Verkehr ihm in seinem Sinne nichts gewähren könne, und so blieb es bei nicht häufigen, aber ernsthaften und friedlichen Discursen. Über den Gewaltmenschen habe ich nie mit ihm verkehrt, weiss auch nicht einmal, ob er dieser Idee schon anhing, als ich ihn noch öfter sah; von dem Anfang seiner Krankheiten an jedoch sah ich ihn überhaupt nur noch sehr selten.92
Diese Aussage Burckhardts kann uns einen ersten Anhaltspunkt für die Deutung der komplexen Beziehung zwischen Nietzsche und der Renaissance liefern: Der authentischste Kern dieser Beziehung besteht gerade in einer idealen Fortsetzung jener ‚ernsthaften und friedlichen Diskurse‘, an die sich der Baseler Historiker trotz der langen dazwischen liegenden Zeit noch lebhaft erinnert. Das bedeutet erstens, dass Nietzsches Vorstellung von der Renaissance unmittelbar von derjenigen Burckhardts abhängt, auch wenn sie sich radikal von ihr zu entfernen scheint. Zweitens erschöpft sich die Apotheose Cesare Borgias, die für die Endphase von Nietzsches Denken kennzeichnend ist, nicht in einem einfachen Kult der Stärke und der Gewalt. Es handelt sich vielmehr um eine gewagte Hypothese, die ihren Ort innerhalb einer weiteren, komplexen Geschichtsauffassung hat, deren Formulierung nicht selten durch Ideen Burckhardts angeregt worden war. 92
Vgl. Burckhardts Brief an Ludwig Pastor vom 13. Januar 1896, in J. Burckhardt, Briefe, Bd. 10, hg. von M. Burckhardt, Basel/Stuttgart, Schwabe, 1986, S. 263–264.
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Um die Entwicklung dieses idealen Dialogs zwischen dem großen Historiker und dem jüngeren Philologen zu verstehen, muss man von der ersten Spur der Lektüre der Kultur der Renaissance in Italien in Nietzsches Texten ausgehen. Die erste und einzige ausdrückliche Erwähnung dieses Werks findet sich im dritten Kapitel der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in dem Nietzsche mit tiefer Anteilnahme und fast autobiographischen Zügen den historischen Sinn beschreibt, der den antiquarischen Menschen leitet. Dieser blickt mit Treue und Liebe auf seine Ursprünge zurück, bringt die Traditionen seines Volkes in den Besitz seiner Seele, wittert „auf fast verlöschten Spuren“, entziffert instinktiv die „noch so überschriebene Vergangenheit“ und versteht die „Palimpseste, ja Polyseste“ der Geschichte. Neben dem jungen Goethe und seinem Von deutscher Baukunst führt Nietzsche die italienischen Dichter der Renaissance als bedeutendste Beispiele für diese antiquarische Art der Historie an. Dabei steht ihm die sorgfältige Rekonstruktion der neulateinischen Dichtung vor Augen, die Burckhardt im dritten, der „Wiedererweckung des Altertums“ gewidmeten Teil seines Werkes leistete. Nietzsche ist besonders von einer – von ihm zitierten – Formulierung Burckhardts beeindruckt, wonach die Italiener der Renaissance „den antiken italienischen Genius von Neuem zu einem ‚wundersamen Weiterklingen des uralten Saitenspiels‘“ erweckten (vgl. KSA 1, S. 66). Schon zwei Jahre vorher hatte Nietzsche diese Stelle aus der Kultur der Renaissance zitiert und auf die Seiten verwiesen, die Burckhardt der neulateinischen mythologisch-bukolischen Dichtung gewidmet hatte. Das Zitat findet sich in einem Fragment aus dem Jahre 1871, einem Entwurf des langen 19. Kapitels der Geburt der Tragödie, in dem Nietzsche den Ursprung der „Cultur der Oper“ als Hauptform der „sokratischen Cultur“ untersucht. Die Darstellung des Musiklebens in der italienischen Renaissance, die charakteristische Virtuosität des Gesangs und der Instrumente, die der Entstehung der Oper vorausgeht, der gelehrsame Dilettantismus der gebildeten Kreise, in denen die Musik das Wort überwiegt und die mächtigen Harmonien Palestrinas vergessen schienen – dies sind einige Elemente, die Nietzsche von Burckhardt übernimmt, um die Entstehung des Rezitativs nachzuzeichnen. In dem Vorherrschen des „stilo rappresentativo“ erkennt Nietzsche eine „Sehnsucht zum Idyll“, eine „idyllische Tendenz der Oper“, die Wagner zur Vollendung geführt und zugleich überwunden habe. In dem besagten Fragment aus dem Jahre 1871 gelangt er, ausgehend von der Beschreibung der Wiedererweckung des Altertums in Die Kultur der Renaissance, zu einigen Betrachtungen allgemeiner Natur über die Beziehung zwischen Kultur der Antike und germanischer Welt:
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Die Römer als Künstler sind für alle Nachwelt bis jetzt bestimmend gewesen. Nur der urgermanische Geist in Shakespeare, Bach usw. hat sich von ihnen emancipiert. Ihr Humanismus ist das Gegengewicht gegen ihre Kunst.93
Das tiefste Wesen des deutschen Geistes, das zuerst durch die Choralbücher Luthers wiederbelebt worden sei und dann von Bach bis Beethoven und Wagner die deutsche Musik beeinflusst habe, stellt für den Nietzsche der Geburt der Tragödie die einzige Möglichkeit dar, um die vom Humanismus ererbte klassizistische Tradition zu überwinden und direkt an die ursprünglichen Quellen anzuknüpfen, aus denen die große attische Tragödie des 5. Jahrhunderts hervorgegangen war. Diese Auffassung scheint sich dem Wagner-Enthusiasmus zu verdanken, der Nietzsches Denken in dieser frühen Phase prägt; man darf jedoch nicht vergessen, dass schon in dieser Zeit die volle Übereinstimmung mit den Bayreuther Idealen mit einer Vertiefung und Erweiterung der von Wagner formulierten ästhetischen Perspektiven einherging. In der Tat behauptet Nietzsche, dass die Überwindung der Oper durch das neue Gesamtkunstwerk keine dauerhaften und bedeutenden Ergebnisse zeitigen könne, wenn man nicht gleichzeitig einen rigorosen Kampf gegen die alexandrinische Kultur führe, die seiner Ansicht nach in der Renaissance das moderne musikalische Genre schlechthin, nämlich die Oper, hervorgebracht hat. Diese Horizonterweiterung gegenüber Wagner ist grundlegend, um die spätere Änderung der Positionen Nietzsches zu verstehen: Insbesondere erscheint seine Auffassung der Renaissance von Anfang an eng an eine bestimmte Bewertung der Lutherischen Reformation und der Möglichkeiten einer direkten Verbindung der deutschen mit der griechischen Kultur geknüpft. Die veränderte Beurteilung der historischen Rolle der Reformation und die Verwerfung der Idee von einer besonderen Mission der deutschen Kultur und Musik mussten daher in Nietzsches Denken unweigerlich eine andere Bewertung der Renaissance hervorrufen. Mit aller Deutlichkeit wird diese Neubewertung in Menschliches, Allzumenschliches sichtbar, doch deutet sie sich in gewisser Weise schon da93
Vgl. KSA 7, S. 627. Das genannte Fragment aus dem Jahr 1871 steht in engem Zusammenhang mit der Lektüre von Burckhardts Kultur der Renaissance, die Nietzsche im selben Jahr bei der Vorbereitung seiner Universitätsvorlesungen heranzog. Vgl. dazu G. Campioni, „Il Rinascimento in Wagner e nel giovane Nietzsche“, in Rinascimento, zweite Folge, Bd. XXXVIII, Florenz 1998, S. 81–121. In seinem Les lectures françaises de Nietzsche, Paris, Presses Universitaires de France, 2001, hat Campioni Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Renaissance-Bild in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts besondere Bedeutung beigemessen. Außerdem hat er diese Auseinandersetzung als entscheidendes Moment für Nietzsches Befreiung von Wagners Ideal und für seine Zuwendung zur französischen Literatur und Kultur herausgestellt.
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rin an, dass Nietzsche einem weiteren grundlegenden Aspekt des dritten Teils der Kultur der Renaissance, nämlich der Beschreibung der Humanisten als „Philologen-Poeten“, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Er wendet sich dieser Beschreibung im Jahre 1875 im Rahmen des Entwurfs einer fünften Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel „Wir Philologen“ zu. Obwohl die humanistischen Philologen die Griechen verkannt hätten (vgl. KSA 8, S. 19) und ihr Untergang zum Großteil ihrer „persönlichen Verderbnis“ (KSA 8, S. 44) geschuldet gewesen sei – auch hierin folgt Nietzsche Burckhardt –, hätten sie doch die größte und edelste Anstrengung unternommen, um zu den authentischen Wurzeln der großen klassischen Tradition zurückzukehren. Die Kategorie der „PhilologenPoeten“ erlangt folglich eine positive Bedeutung, etwa wenn Nietzsche in Goethe und Leopardi die höchsten Beispiele dieser Philologie ausmacht, die sich von einer rein gelehrten Ausübung dieser Disziplin grundsätzlich unterscheidet (vgl. ebd.). Er erkennt sich also in den Anstrengungen der „Philologen-Poeten“ wieder und sieht in ihnen – in ihrem Bestreben, Antike und Moderne auf eigenständige Art und Weise zu verschmelzen – seine idealen Vorläufer, auch wenn seine eigene Auffassung der griechischen Kultur sich deutlich von derjenigen der Humanisten unterscheidet. Der Aphorismus 237 von Menschliches, Allzumenschliches, der den Höhepunkt von Nietzsches Reflexion über die Renaissance bildet, beginnt mit einer einzigartig gedrängten Darstellung der wichtigsten Thesen der Kultur der Renaissance. Im Winter des Jahres 1877, den Nietzsche mit Malwida von Meysenbug und Paul Rée in Sorrent verbrachte, hatte er das Manuskript von Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen – in der Abschrift von Louis Kelterborn, einem Schüler Nietzsches – aufmerksam gelesen und diskutiert. Wahrscheinlich hatte diese Lektüre ihn dazu angeregt, mit erneuter Aufmerksamkeit über die von dem großen Baseler Historiker vorgelegte Rekonstruktion der italienischen Renaissance nachzudenken. Die Befreiung des Gedankens, die Missachtung der Autoritäten, die Entfesselung des Individuums, die Begeisterung für die Wissenschaft und die Wahrhaftigkeit, das heißt all jene Elemente, die Burckhardt als Errungenschaften der Renaissance hervorgehoben hatte, werden in diesem Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches als die großen „positiven Gewalten“ bezeichnet, „welchen man die moderne Cultur verdankt“ (vgl. KSA 2, S. 199). Dazu zählt Nietzsche auch den „Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft“: Burckhardt hatte nämlich den Werteverlust der Aristokratie und die Entstehung einer neuen gebildeten Klasse durch die Verschmelzung der Klassen im modernen Sinne als Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in der Renaissance herausgestellt. Das Zusammenleben von Adligen und Bürgern in derselben Stadt und die
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häufigen Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen Adligen, Bürgern und Bauern hatten Burckhardt zufolge die soziale Dynamik der italienischen Renaissance gekennzeichnet und eine wichtige Voraussetzung für die volle Entfaltung eines intensiven kulturellen Lebens dargestellt. Der hervorragende italienische Burckhardt-Forscher Maurizio Ghelardi hat in seinem schönen Buch La scoperta del Rinascimento. „L’età di Raffaello“ di Jakob Burckhardt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Widmung an Luigi Picchioni bei der Entstehung der Kultur der Renaissance gelenkt. Diese Widmung ist nämlich symptomatisch für einige Tendenzen und Perspektiven in Burckhardts Werk, die vor allem auf seine Entstehung einen Einfluss ausübten: Der Verkehr mit den demokratischmazzinischen Emigranten in Zürich, zu denen auch Picchioni gehörte, hatte Burckhardt eine direktere Kenntnis der italienischen Wirklichkeit ermöglicht. Die Kultur der Renaissance entsteht Ghelardi zufolge also auch als Tribut an die Ideale seiner Freunde im Augenblick ihrer Niederlage, als sich die savoyisch-Cavoursche Lösung und das strategische Bündnis mit dem Cäsarismus Napoleons III. im italienischen Risorgimento als siegreich erwiesen. Burckhardt hatte sich stets geweigert, diese Lösung als positiv anzuerkennen; er stellte dagegen in seiner pessimistischen Geschichtsauffassung erschreckende Parallelen zwischen der vergangenen Niederlage des republikanischen Florenz vor den Medici und der gegenwärtigen Niederlage der Mazzini-Anhänger vor dem Bonapartismus fest. 94 Bei seiner Charakterisierung der Renaissance in Menschliches, Allzumenschliches stellt Nietzsche außerdem die Überwindung der Aristokratie und die soziale Dynamik als Voraussetzung für ein höheres kulturelles Leben dar; er schließt sich also der liberal-demokratischen Tradition an, die Burckhardt hatte ehren wollen und deren Niederlage seinen bitteren historischen Pessimismus genährt hatte. Es mag paradox erscheinen, doch sollte gerade die Erinnerung an diese historischen Wechselfälle den Leser Nietzsches zur Vorsicht mahnen: Es wäre zum Beispiel oberflächlich, seine Theorie einer hierarchischen Organisation in unmittelbar sozialem und politischem Sinne zu deuten. Vielmehr wird Burckhardts Interpretation der italienischen Renaissance durch die neue Auffassung der Beziehung zwischen Antike und Moderne, die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches ausarbeitet, bekräftigt und vertieft. Die Renaissance habe – „wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird“ (KSA 2, S. 47) – die Voraussetzung für jene neue Aufklärung dargestellt, der Nietzsche sich unter dem Banner der drei Na94
Vgl. M. Ghelardi, La scoperta del Rinascimento. „L’Età di Raffaello“ di Jacob Burckhardt, Torino, Einaudi, 1991, S. 215–222.
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men Petrarca, Erasmus, Voltaire anschließen will. Die Freiheit des Geistes, das Erwachen der Wissenschaften, „das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes“ (KSA 2, S. 199) blieben eine zerbrechliche, zeitweilige Errungenschaft, welche die energische Verteidigung der Weltanschauung des Mittelalters durch Luther und die deutsche Reformation, die einen Rückschritt und eine Verzögerung der historischen Entwicklung verursachten, sogleich wieder zunichte machte. So schwand – vor allem unter dem Gewicht der Gegenreformation – „das heisst ein[em] katholische[n] Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes“ (ebd.) – die Möglichkeit einer vorzeitigen Entstehung der Aufklärung, deren Morgenröthe sonst vielleicht „mit schönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können“, aufgegangen wäre (ebd.). Die Apotheose Cesare Borgias, die in den letzten Werken des Jahres 1888 vorherrscht, scheint von dieser in Menschliches, Allzumenschliches vertretenen Auffassung der Renaissance weit entfernt zu sein; keine Beziehung, kein Übergang scheint sich zwischen der nüchternen Gelassenheit dieses aphoristischen Werks und der überschwänglichen Faszination durch grausame Tyrannen herstellen zu lassen, mit der Der Antichrist abschließt. Und doch hat Nietzsche Die Kultur der Renaissance von Jacob Burckhardt nicht vergessen. Im Oktober 1883 lässt er sich zum Beispiel von Franz Overbeck eine Ausgabe der Discorsi della vita sobria von Luigi Cornaro schicken, dem der Baseler Historiker große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Von dieser Lektüre und der Nüchternheit, die Cornaro in seinem Werk anempfahl, spricht er auch im darauf folgenden Jahr, vor allem in einem der wichtigsten Aphorismen der Götzen-Dämmerung. Die von Burckhardt erarbeitete Auffassung der Renaissance stellt also weiterhin einen der geheimen Bezugspunkte in den Überlegungen Nietzsches dar, und in diesem Rahmen tritt das Interesse für Cesare Borgia erneut hervor, das erstmals in dem durch ein Fragment des Frühjahrs 1884 (vgl. KSA 11, S. 21) vorbereiteten Aphorismus 197 von Jenseits von Gut und Böse (1886) seinen Ausdruck gefunden hatte. Im Juli 1884 war Nietzsche Burckhardt in Basel begegnet, doch hatte er bereits im vorangehenden Frühjahr, nach Abschluss des dritten Teils von Also sprach Zarathustra, verschiedentlich Gelegenheit gefunden, auf die Renaissance und die Gewaltmenschen, die sie hervorgebracht hatte, zurückzukommen. Schon in dieser Phase tauchen viele der Themen auf, die Nietzsche im Jahre 1888 intensiv beschäftigen sollten, und in diesem Zusammenhang tritt auch die Figur Borgias in Erscheinung. Sie ist mit dem Problem einer höheren Art der Menschheit als Folge des Gedankens der Ewigen Wiederkehr verbunden. Das höhere Individuum
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birgt eine Vielzahl möglicher Existenzformen in sich, hat gelernt, die jedem menschlichen Verhalten angeborene Umkehrung der Werte zu erkennen, bis es vor seiner eigenen Heuchelei und Verlogenheit zurückschaudert: Verglichen mit dieser Heuchelei kann die Figur eines Borgia sogar als gesunde Behauptung der objektiven Grausamkeit der Existenz erscheinen. In dem Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse wird Borgia bezeichnenderweise aus einer doppelten Perspektive betrachtet. Er ist das typische Beispiel eines „Raubmenschen“, der jeden Instinkt der Natur ohne moralistische Verfälschungen ganz und gar ausgelebt hat. Aber seine Stärke wird auch zum Symbol einer inneren Auseinandersetzung; unter diesem Gesichtspunkt ist der höhere Mensch vor allem derjenige, der bis zur Selbst-Marterung gelangt ist. Er hat die eigene Seele und den eigenen Geist in eine ‚ihm eingeborene Hölle‘ (vgl. KSA 5, S. 117) verwandelt und die Erforschung seiner selbst und seiner eigenen Motivationen so weit getrieben, dass er an die Grenze eines grausamen Prozesses der Selbstvernichtung und Selbstquälerei stößt. Diese bedeutende Verinnerlichung der Figur Borgias darf bei der Lektüre der Werke aus dem Jahre 1888, in denen der Mythos Borgias das Ergebnis einer äußersten Härte gegen sich selbst und gegen die Ideale der eigenen Zeit ist, nicht übersehen werden. Borgia ist tatsächlich der genaue Gegenspieler zu Parzifal, wie Nietzsche in Ecce homo und in dem bitteren Brief an Malwida von Meysenbug vom Oktober 1888 behauptet;95 Borgia ist das Symbol einer imaginären Vollendung der Renaissance – wie er in dem Brief an Georg Brandes im November desselben Jahres schreibt –, aus der kein Luther hervorgegangen wäre. Dieser Luther als Gegenpart Borgias habe eine Form des Christentums wiederhergestellt, die Nietzsche auf den letzten Seiten des Antichrist nicht nur als „die unsauberste“, sondern auch als „die unwiderlegbarste“ (KSA 6, S. 252) bezeichnet: Fast scheint es, als sei Nietzsche gerade im Moment seines äußersten Angriffs auf das Christentum zu einer Kapitulation vor dem religiösen Glauben der Epoche gezwungen. 95
Vgl. Nietzsches Brief an Georg Brandes vom 20. November 1888 und seinen Brief an Malwida von Meysenbug vom 20. Oktober desselben Jahres in KSB 8, S. 483, 458. Wichtige Betrachtungen zur Gestalt Cesare Borgias finden sich bei Giuliano Campioni, Les lectures françaises de Nietzsche, a. a. O.; zum Antichristen vgl. A. U. Sommer, F. Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel, Schwabe, 2000. Die von mir vorgeschlagene Interpretation von Nietzsches Verhältnis zur Renaissance distanziert sich von den Auffassungen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten; über diese Auslegungen dachten u. a. Konrad Burdach in seinem Über den Ursprung des Humanismus, köngl. Akad. d. Wiss. 1903, und Aby Warburg nach (vgl. E. H. Gombrich, Aby Warburg: eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main, Europ. Verl.-Anst., 1981).
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Die Beschwörung Borgias auf den letzten Seiten des Antichrist darf jedenfalls nicht von dieser äußersten geistigen Spannung abgelöst werden, die nicht erlaubt, das ganze Werk als oberflächlichen Heldenkult, welcher in Ecce homo noch ausdrücklich abgelehnt wird, oder als provokatorische Behauptung einer grenzenlosen und skrupellosen Machtausübung zu interpretieren. Die scheinbare Apotheose Borgias geht mit einer erneuten nachdrücklichen Behauptung der Werte der Renaissance einher: „es gab bisher keine entscheidendere Fragestellung als die der Renaissance, – m e i n e Frage ist ihre Frage“ (vgl. KSA 6, S. 250). Die Hypothese einer Papstwürde Cesare Borgias war von Burckhardt als historische Möglichkeit formuliert worden, die einen Abgrund aufgetan hätte. Die in der Kultur der Renaissance umrissene Figur Borgias hatte keinerlei positive Seite, sie erschien vielmehr als die unsinnige Entfesselung eines diabolischen Irrationalismus, dem kaum historisch bedeutende Taten hätten entspringen können. Natürlich versäumte Burckhardt es nicht, an die geheime Sympathie Machiavellis für den ‚großen Verbrecher‘ zu erinnern, der gezwungen gewesen sei, den Kirchenstaat zu säkularisieren, um seine Macht zu erhalten. Aber bei Nietzsche wird diese Säkularisierung auf einen Bereich ausgedehnt, der jede rein politische Dimension übersteigt. Er ist sich bewusst, dass er eine einfache historische Hypothese beschwört, aber er ist entschlossen, in jenen Abgrund der Phantasie hinabzusteigen, vor dem Burckhardt fast mit Grauen zurückgeschreckt war. Diese Hypothese existiert nur als ästhetisches Spiel, das nicht frei von Ironie und Zweifeln ist. In der Tat bereitet Nietzsche die Anspielung auf die mögliche Besteigung des päpstlichen Throns durch Cesare Borgia auf stilistisch subtile Art und Weise vor: Ich sehe eine M ö g l i c h k e i t vor mir von einem vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz: – es scheint mir, dass sie in allen Schaudern raffinirter Schönheit erglänzt, dass eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmässig-göttlich, dass man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – C e s a r e B o r g i a a l s P a p s t . . . Versteht man mich? (KSA 6, S. 251)
Die ironische Schwingung, die Inszenierung eines fiktiven satirischen Schauspiels, die der Erwähnung Borgias vorausgehen, bringen nicht allein eine Relativierung dessen mit sich, was Nietzsche an dieser Stelle behauptet, sondern veranlassen zu einer vorsichtigeren Lektüre. Die scheinbare Apotheose Borgias führt noch einmal zu dem Gegensatz zwischen der dionysischen und der christlichen Lebensauffassung, der nach Nietzsches Ansicht vor allem auf einer unterschiedlichen Beziehung zum Leiden
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fußt. Die Figur Borgias kann also nicht losgelöst vom Gesamtzusammenhang des Antichristen betrachtet werden, in dem beispielsweise die Kritik am Christentum auf einer radikalen Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Botschaft der evangelischen Bergpredigt und ihrem wesentlichen Missverständnis in der Kirchengeschichte beruht. Auch spielt in diesem Werk nach wie vor die wissenschaftliche Haltung eine Rolle, die den freien Geist in Menschliches, Allzumenschliches gekennzeichnet hatte. Die Philosophie des freien Geistes lebt mit außerordentlicher Intensität in Gestalt der Hyperboreer nochmals auf, von denen im ersten Abschnitt des Werks die Rede ist. So scheint es zunächst, als führe Nietzsches Auffassung der Renaissance in ein unentwirrbares Geflecht aus flüchtigen Widersprüchen und Spiegelungen, als zerfalle jede Interpretationsmöglichkeit in einem ergebnislosen Spiel steriler Hypothesen und gewagter Perspektiven. Bei genauerer Inblicknahme der Probleme kann seine Auffassung der Renaissance dagegen als erster Versuch betrachtet werden, der Geschichte jenseits des Humanismus, wie Heidegger sie in dem Brief über den Humanismus umrissen hat, 96 den Weg zu ebnen. Nietzsche erinnert uns daran, dass diese Geschichte jedoch nur durch eine unermüdliche Treue zum „studium humanitatis“ geschrieben werden kann, das Burckhardt in seiner Rekonstruktion der Kultur der Renaissance mit so großer Anteilnahme dargestellt hatte.
96
Vgl. M. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Wegmarken, Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 9, hg. von F.W. von Herrmann, Frankfurt/Main, Klostermann, 1976, S.323 ff.
Kapitel 5 Aufgeklärte Geister und libres penseurs. Nietzsches Auffassung der Aufklärung zwischen Geschichte und Hermeneutik Will man Nietzsches Verhältnis zur Aufklärung erforschen, so setzt dies in erster Linie eine Untersuchung der Entwicklung dieses Verhältnisses im Gesamtverlauf seines Denkens voraus. Insbesondere gilt es dabei die Kontinuitäten und Veränderungen seiner Konzeption zu erfassen, denn im Hinblick auf dieses Verhältnis einfach von einer vermeintlichen aufklärerischen Phase von Nietzsches Denken auszugehen, die von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft reichte, bedeutet unweigerlich eine Reduktion und Verarmung der komplexen Stratifikation und Polyvalenz von Nietzsches besonderer Konzeption der Aufklärung. Aus der Rückschau betrachtet Nietzsche in einem Fragment vom Sommer 1885 selbst den „extremen Pessimismus“ (KSA 11, S. 571, 36 [49]) der Geburt der Tragödie als Konsequenz der Aufklärung. Seines Erachtens führt die Überwindung moralischer und religiöser Vorstellungen zwangsläufig zu einer radikalen Infragestellung jedes Aspekts der Existenz und Erkenntnis, die leicht der „Verdüsterung“ (ebd.) zuneigt und eine „pessimistische Färbung“ (ebd.) annimmt. Sicher verdankt sich diese Zurückführung seines jugendlichen Pessimismus auf eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung einer späteren Auslegung seines ersten Werkes, doch sollte man sie nicht unterbewerten. Immerhin zeugt sie von der verborgenen Präsenz einer aufklärerischen Traditionslinie innerhalb des vorwiegend von spätromantischen Auffassungen geprägten Denkens, wie es nicht allein für die Geburt der Tragödie, sondern für das Frühwerk des Philosophen allgemein kennzeichnend ist. Beispielsweise hat Nietzsche stets zwischen Schopenhauer als ‚Erzieher‘ und Fortführer einer Voltaire’schen Tradition und Schopenhauer als Schöpfer einer systematischen, wissenschaftlich unhaltbaren Philosophieauffassung unterschieden. 97 In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung treffen wir zudem auf 97
Vgl. dazu Nietzsches Feststellung im Fragment 27 [43] von 1877: „Der lebendige Schopenhauer hat mit den Metaphysiken nichts zu thun. Er ist Voltairianer im Wesentlichen, das 4. ‚Buch‘ ihm fremd.“ (KSA 8, S. 495) Dieses Verhaltensmodell der ‚Person‘ Scho-
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eine ebenso ungewöhnliche wie aufklärerische Beschreibung des dunklen Mittelalters und des Fortlebens einer alten christlich-theologischen Konzeption: Sie stellten sich nach wie vor dem „mächtigsten Flügelschlag“ der Wissenschaft entgegen, die ungehindert sich in die freien Höhen des modernen Geistes aufzuschwingen strebe (vgl. KSA 1, S. 304). Ähnliche Ausdrücke verwendet Nietzsche später in dem für seine Konzeption der Aufklärung besonders wichtigen Aphorismus 197 der Morgenröthe, wenn er die neuen ‚aufklärerischen‘ Tendenzen eines historischen Sinnes beschreibt, der sich von jedem obskurantistischen Bezug auf eine tote Vergangenheit befreit habe und nun bereit sei, sich „mit breiteren Flügeln“ aufzuschwingen (KSA 3, S. 172). 98 Die Baseler Jahre und der nahe Elsass hatten dem jungen Nietzsche außerdem wiederholt Gelegenheit zu vertieften Kontakten mit der französischen Kultur und Literatur geboten. Bereits im April 1876, also noch vor seiner seit den ersten Bayreuther Festspielen Ende Juli desselben Jahres begonnenen Loslösung von Wagner, hatte er während eines Aufenthalts in Genf als Hommage an Voltaire dessen Wohnsitz in Ferney besucht. 99 Nietzsches Auffassung der Aufklärung, die er besonders nachdrücklich im Aphorismus 256 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches vertritt, reift also nicht plötzlich heran, sondern ist das Ergebnis eines lang währenden Prozesses der Befreiung des Geistes, der sich Montinari zufolge bereits in den zwischen 1872 und 1876 verfassten Fragmenten abzuzeichnen begann. 100 Zusammen mit dem besagten Aphoris-
98
99
100
penhauer hat Nietzsche zufolge zur „Skepsis gegen alles Verehrte“ (KSA 8, S. 500, 27 [80]) geführt und auch für seinen eigenen Prozess geistiger Befreiung eine Hauptantriebsfeder dargestellt. Von dieser Voltaire’schen Gesinnung, die im Gegensatz zu dem philosophischen ‚System‘ des vierten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung steht, spricht Nietzsche auch im nachfolgenden Fragment 30 [9]. (Vgl. KSA 8, S. 523 f.) Für eine eingehendere Analyse dieses Bildes vom ‚Flügelschlag‘ verweise ich auf meinen Beitrag „Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele“, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O., S. 295 f. Außer durch den Besuch in Ferney lernte Nietzsche in den ersten Jahren seiner Lehre in Basel einige grundlegende Momente der französischen Kultur durch eine Reihe möglicher Vermittler kennen. Insbesondere ist hier an die Freundschaft mit Fritz und Ida Overbeck zu erinnern. Overbeck bezieht sich in seinen Schriften sehr häufig auf Pascal, während sich seine Frau 1879 der Übersetzung von Saint-Beuves Causeries du Lundi widmete. Vielfältige Anregungen der französischen Kultur empfing Nietzsche auch durch die tiefe Freundschaft mit Marie Baumgartner in den Jahren zwischen 1874 und 1879, und schließlich sollte die Begegnung mit Louise Ott bei den ersten Bayreuther Festspielen nicht vergessen werden. Vgl. zu diesen Episoden C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München/Wien, 1978–1979. Vgl. auch E. Behler, Venturelli, A., Friedrich Nietzsche, Rom, Salerno, 1994. Vgl. Montinaris Ausführungen in der „Einleitung“ zur Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches in der Piccola Biblioteca Adelphi (1979), die bis heute eine der gründ-
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mus aus Menschliches, Allzumenschliches zeugt auch der bereits erwähnte Aphorismus 197 aus der Morgenröthe von Nietzsches Vorstellung von der historischen Funktion der Aufklärung. In beiden Fällen erscheint ihm der Rückgriff auf die Lektion der Aufklärung nur dann möglich, wenn sie zuvor durch die Reaktion, die sie ausgelöst hatte, gefiltert wurde. Dieser Filter bildet die notwendige Voraussetzung, damit die Aufklärung erneut als Fortschritt betrachtet werden und einen bedeutenden Sprung auf dem Weg zu einer tieferen historischen Gerechtigkeit darstellen kann. Dieses Leitmotiv von Nietzsches Interpretation bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte: die Beziehung zwischen Aufklärung und Französischer Revolution und die Einstellung zum Christentum. Nach dem ersten Eindruck, den man aus der Lektüre seiner Texte gewinnen kann, scheint es, als halte der Philosoph einen Rückgriff auf die Aufklärung nur unter der Bedingung für möglich, dass sie zuvor all jener Elemente entkleidet wurde, die aus ihr einen ausschlaggebenden ideologischen Faktor in dem revolutionären Prozess seit 1789 machten. In Wahrheit lehnt Nietzsche die Französische Revolution nicht einfach ab, sondern fällt ein weitaus differenzierteres, komplexeres Urteil. Wie aus einem einige Jahre später entstandenen Fragment hervorgeht, 101 stellte sich seines Erachtens das durch die historischen Ereignisse von 1789 aufgeworfene Problem folgendermaßen dar: Es gab besondere gesellschaftliche Voraussetzungen, eine besondere Konstellation, die einen entscheidenden Wendepunkt für die Schaffung einer neuen, fast utopisch anmutenden Ordnung hätte darstellen können. Die aufklärerischen Ideen, von denen ein bedeutender Teil des Adels und der Mittelschicht durchdrungen war, hätten leicht verwirklicht werden können, wären sie mit zwei Faktoren zusammengetroffen: einer Monarchie, die zum Verzicht auf jede willkürliche Machtausübung bereit gewesen wäre, und einer Bevölkerung, die geduldig auf einen von oben gesteuerten langsamen Fortschritt vertraut hätte. (Vgl. KSA 11, S. 39 f.)
101
lichsten Analysen von Nietzsches Verhältnis zur Aufklärung darstellt: „Das Ziel der Befreiung des Geistes ist folglich ein Prozess, der für den Nietzsche des Jahres 1878 in einer Art Lehrzeit stattgefunden haben musste, an deren Anfang die Memoiren einer Idealistin (1872–76) von Malwida von Meysenbug standen und den Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) von Paul Rée beschloss. Zwischen beiden scheinbar unvereinbaren Werken vollzieht sich eine Entwicklung, die für die geistige Situation einer bedeutenden Gruppe Intellektueller des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der auch Nietzsche angehört, durchaus typisch ist.“ Zu dem Prozess der Befreiung des Geistes bei Nietzsche auch M. Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin/New York, de Gruyter, 1991. Ich beziehe mich hier auf das Fragment 25 (109) vom Frühjahr 1884, das aus der Lektüre einer noch nicht ermittelten Quelle hervorging (vgl. KSA 11, S. 39 f.). Für eine eingehende Analyse von Nietzsches Rezeption der Aufklärung vgl. die umfänglichen Materialien in Nietzsche Illuminismo Modernità, a. a. O.
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Doch dies war nicht der Fall. Wie es den „Menschen ‚des guten Willens‘“ nach Nietzsches Interpretation beim Übergang von der evangelischen Botschaft Christi zu ihrer darauf folgenden kirchlichen Institutionalisierung nicht gelungen war, „Herren der Dinge der Erde“ zu werden, so gelang es ihnen auch dieses Mal nicht. Bezeichnenderweise macht Nietzsche eine grundsätzliche Willensschwäche, die auf die ein oder andere Weise allen Protagonisten der großen Revolution eigen gewesen sei, für die ausgebliebene Verwirklichung der aufklärerischen Ideale verantwortlich. Sie habe das bedingt, was er an anderer Stelle als die grausame und groteske Farce der Revolution bezeichnet. Weder in Menschliches, Allzumenschliches noch in der Morgenröthe geht es Nietzsche um eine vertiefende historische Durchleuchtung der revolutionären Ereignisse. Vielmehr ist es ihm um die Definition einer maßvollen, ausgewogenen ethisch-geistigen Haltung zu tun, der jeder Fanatismus und jede rhetorische Übertreibung fremd sind und in der die individuelle Befreiung des Geistes mit dem Rückgriff auf das historische Erbe des aufklärerischen Zeitalters zusammenfällt. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich bereits jene Entgegensetzung von Voltaire und Rousseau ab, die für Nietzsches gesamtes Denken bestimmend bleiben und 1888, im abschließenden Moment seiner Reflexion, besonders deutlich hervortreten sollte. 102 Auch in diesem Fall verbirgt sich indes hinter der unmissverständlichen Ablehnung Rousseaus eine komplexere Haltung, denn einerseits ist sich Nietzsche durchaus bewusst, wie viel die Kultur der deutschen Romantik, in der er herangewachsen ist und der er zutiefst verbunden bleibt, diesem schuldet, andererseits hat Rousseau eine neue, tiefere Natur- und Landschaftsauffassung inspiriert, die bis in die verborgensten Schichten von Nietzsches literarischer und poetischer Sprache nachwirkt. 103 Auffällig ist beispielsweise, 102
103
Im Fragment 9 [185] vom Herbst 1887 führt Nietzsche unter den erneut von ihm gestellten „unerledigten Problemen“ „das P r o b l e m d e r C i v i l i s a t i o n , de[n] Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760“ (KSA 12, S. 449) an, mit dem er sich in dem vorangehenden Fragment ausführlich befasst hatte (vgl. ebd., S.447–449). In dem langen Register von Anfang 1888, in dem Nietzsche seine Fragmente und Aufzeichnungen für ein geplantes Werk über den Willen zur Macht ordnete, sollte der Gegensatz zwischen Voltaire und Rousseau vor allem in den Aphorismen 83 und 134 behandelt werden. (Vgl. KSA 13, 198–200) Über Nietzsches Verhältnis zur französischen Revolution vgl. U. Marti, „Der große Pöbel und Sklavenaufstand“. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart/Weimar, Metzler, 1993. Die französischen Wurzeln der deutschen Romantik und die Bedeutung Rousseaus für ihre Entstehung unterstreicht Nietzsche insbesondere in dem wichtigen Aphorismus 216 von Der Wanderer und sein Schatten. (Vgl. KSA 2, S. 651–52) Zu Rousseaus Einfluss auf die moderne Landschaftsauffassung vgl. den Aphorimus 427 der Morgenröthe (KSA 3, S. 263).
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dass wir Rousseau in dem abschließenden Aphorismus 408 der Vermischten Meinungen und Sprüche an der Seite Epikurs, Platos, Montaignes, Pascals, Spinozas, Goethes und Schopenhauers als Beispiel für jene Geister wiederfinden, mit denen der Philosoph sich besonders intensiv immer wieder neu auseinandersetzen zu müssen meint, um daraus in einer Bewegung „ewige[r] Lebendigkeit“ (KSA 2, S. 533–34) Lehren und Antworten auf seine geheimsten, verwirrendsten Fragen zu beziehen. Jedenfalls hat in Nietzsches Augen gerade Rousseau der Aufklärung, die andernfalls „still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden“ (KSA 2, S. 654), den Stempel der revolutionären Wende voll Sentimentalität und Trunkenheit aufgedrückt, die ihre emanzipatorische, erhellende Wirkung von Grund auf untergrub. Von dieser Trübung, dieser gefährlichen Mischung aus Fanatismus und Erkenntnis, muss die Aufklärung befreit und geläutert werden, damit sie erneut als fruchtbarer Faktor einer weiter reichenden kritischen Erkenntnis und einer Transformation von größerem Ausmaß wirken kann. Ein ähnliches Werk der Reinigung muss Nietzsche zufolge jedoch bezogen auf das Verhältnis der Aufklärung zum Christentum unternommen werden, das fraglos das zentrale Problem seiner Reflexion bildet. Im Aphorismus 20 von Menschliches, Allzumenschliches erforscht er es vor dem Hintergrund des allgemeineren Kontrasts zwischen der Durchsetzung des wissenschaftlichen Geistes und der Rückkehr zu früheren Phasen der Menschheitsentwicklung, der in seinen Augen die gesamte Geschichte der Moderne zu kennzeichnen scheint. Die Reformation fegte die schüchternen Anfänge eines neuen Geistes hinweg, die Renaissance blieb ein bald wieder weggeschneiter „erster Frühling“ (vgl. KSA 2, S. 46–47), der deutsche Idealismus und Historismus machten die aufklärerische Rationalität unwirksam. Den Gipfel dieses allgemeinen historischen Schwankens scheint für Nietzsche schließlich Schopenhauers Philosophie darzustellen, in die wiederum „viel Wissenschaft“ hineinklinge, die aber nicht sie, sondern „das alte wohlbekannte ‚metaphysische Bedürfnis‘“ (ebd.) beherrsche. Durch diesen Rückschritt von Schopenhauers Denken habe man jedoch „ältere, mächtige Betrachtungsarten“ wiederentdecken können, so dass es möglich wurde, „dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ (ebd.). Auch in der von Nietzsche vertretenen neuen aufklärerischen Auffassung bleibt Schopenhauer folglich ein wesentlicher Bezugspunkt. So klingt die im Aphorismus 20 von Menschliches, Allzumenschliches getroffene Feststellung fast wie eine programmatische Erklärung:
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Erst nach diesem grossen E r f o l g e d e r G e r e c h t i g k e i t , erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen. (Ebd.)
Ähnliche Überlegungen stellt Nietzsche im Aphorismus 197 der Morgenröthe an, obwohl hier nicht unmittelbar das Christentum, sondern die gesamte klassisch-romantische Kultur Deutschlands Thema ist, die Nietzsche in ihren verschiedenen Aspekten der idealistischen Philosophie, des Historismus, der literarischen und musikalischen Romantik und einer organischen Naturauffassung interpretiert. Erneut sei ein Kultus des Gefühls an Stelle des Kultus der Vernunft aufgerichtet worden. Nietzsche hält diese Gefahr einer „Hinabdrückung“ der Vernunft unter das Gefühl und somit unter den Glauben inzwischen für gebannt und meint, gerade die bedeutendsten Errungenschaften der Romantik, nämlich „die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss“, könnten jetzt von „hülfreiche[n] Gesellen des verdunkelnden, schwärmerischen, zurückbildenden Geistes“ zu „stärkere[n] Genien e b e n j e n e r A u f k l ä r u n g [werden], wider welche sie beschworen waren“ (KSA 3, S. 172). Die von Nietzsche verkündete Aufklärung steht folglich nicht im Gegensatz zum Christentum, zu Schopenhauers Philosophie bzw. zur Kultur der Romantik allgemein. 104 Seines Erachtens hat sich ein Fortschritt innerhalb des freien Denkens selbst vollzogen, weshalb die Aufklärung des 18. Jahrhunderts – selbst in ihren höchsten Äußerungen, wie Voltaire – im Verhältnis zu späteren Errungenschaften im Bereich der Kritik der Metaphysik und der moralischen und religiösen Werte oft naiv erschien. 105 Die Unterscheidung zwischen Freigeisterei und libres penseurs, ohne die sich die spätere Entwicklung von Nietzsches Konzeption der Aufklärung schwerlich begreifen ließe, gewinnt so allmählich klarere 104
105
Im Fragment 22 [17] vom Frühjahr-Sommer 1877 spricht er bedeutsamerweise von einem „kleinen Bogen“ in der Kulturentwicklung, den die Aufklärung repräsentiere und der dem „grossen Bogen“ der Romantik am nächsten komme (vgl. KSA 8, S. 382). Dieses Schwanken zwischen Aufklärung und Romantik taucht auch viele Jahre später noch in seinen Schriften auf, beispielsweise im Aphorismus 380 im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, worin der Wanderer und gute Europäer durch seine Fähigkeit zur Selbstüberwindung und seinen Widerwillen gegen die Zeit charakterisiert wird, die Nietzsche mit seiner Romantik gleichsetzt (vgl. KSA 3, S. 633). Vgl. etwa den vierten Aphorismus der Vermischten Meinungen und Sprüche mit dem Titel „Fortschritt der Freigeisterei“, worin ein Satz Voltaires Nietzsche „unfreiwillig naiv“ erscheint. (KSA 2, S. 382)
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Konturen. Besonders deutlich wird sie beispielsweise in Ecce homo, wenn Nietzsche aus der Rückschau die erste Unzeitgemäße Betrachtung als Ursprung seiner eigenen geistigen Befreiung darstellt, die sich gerade seiner damaligen heftigen Polemik gegen den „ersten deutschen Freigeist“ David Friedrich Strauss verdankte. Er schreibt: In der That, eine ganz n e u e Art Freigeisterei kam damit zum Ausdruck: bis heute ist mir Nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und amerikanische Species von ‚libres penseurs‘. Mit ihnen als mit unverbesserlichen Flachköpfen und Hanswürsten der ‚modernen Ideen‘ befinde ich mich sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit Irgendwem von ihren Gegnern. (KSA 6, 319)
In dem fortschrittlichen, demokratischen Freigeist erblickt Nietzsche in der Tat die Fortführung und Vollendung eines oberflächlichen Idealismus, der die psychologischen Mechanismen, die historischen Faktoren und Erkenntnisprozesse, welche die labyrinthartige, keineswegs lineare Menschheitsentwicklung bestimmt haben, nicht angemessen zu begreifen vermag. Wie aus den gedrängten Überlegungen in den Schlussparagraphen der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral über die Bedeutung der asketischen Ideale hervorgeht, ist der Freigeist vor allem nicht zu jenem Erkenntnisstadium vorgedrungen, in dem die radikale Infragestellung der Gottheit dazu zwingt, sich über den Wert der Wahrheit zu befragen. Um es mit der bereits in Menschliches, Allzumenschliches verwendeten Begrifflichkeit zu sagen: Der Freigeist ist noch ein gebundener Geist, er bleibt – wenn dieser Rückgriff auf eine Heideggersche Terminologie gestattet ist – noch ganz und gar in der Geschichte der abendländischen Metaphysik befangen. Das heißt, er hat noch nicht das Erkenntnisstadium erreicht, das Nietzsche in der Genealogie der Moral folgendermaßen beschreibt: Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, g i e b t e s a u c h e i n n e u e s P r o b l e m : das vom Werthe der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal in F r a g e z u s t e l l e n . (KSA 5, S. 401)
Diese Problematisierung der Wahrheit schlug sich bereits früher in einer neuen Konzeption des Geschichtsprozesses nieder. Dass Nietzsche die Namen Petrarca, Erasmus und Voltaire in einem Atemzug nannte, verdeutlicht seine besondere Auffassung der Aufklärung, insbesondere den von ihm hergestellten engen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Renaissance. Durch die großen ‚europäischen Bücher‘, die das Zeitalter der Aufklärung vorbereiteten, sei, so Nietzsche im Aphorismus 124
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von Der Wanderer und sein Schatten, „der G e i s t d e r l e t z t e n J a h r h u n d e r t e der a l t e n Zeitrechnung wieder erstanden, – sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der grossen noch fortlaufenden Kette der Renaissance“ (KSA 2, S. 646). 106 Im Aphorismus 197 der Morgenröthe hatte er bemerkt, die Geschichte sei die „wahrhaft grosse[ ] Fluth, in welcher wir treiben und treiben wollen“ (KSA 3, S. 172), während Revolution und Reaktion im Vergleich dazu lediglich als „Wellenspiele“ (ebd.) erschienen. Die Kritik der moralischen und religiösen Werte, wie sie Nietzsches neue Aufklärung kennzeichnet, bekräftigt diese Idee eines großen Stromes, in dem alles in Bewegung ist. Der Mut des freien Geistes besteht daher in seiner Fähigkeit, diesem Strom die Stirn zu bieten, ohne sich dem Gefühl von Verirrung oder Angst hinzugeben. Auch wenn jeder einzelne Moment der Geschichte seine besonderen Merkmale bewahrt, müssen sie nach Nietzsches Ansicht doch alle als Elemente dieser großen Flut interpretiert werden. Sie verweisen dergestalt auf eine weiter reichende Verkettung, die sie übersteigt. Letztendlich führt diese Verkettung zum Schicksal und zur Geschichte der abendländlischen Metaphysik, wie der Philosoph sie interpretiert. Den Angelpunkt dieser Geschichte bildet die ausgebliebene Reform des Griechentums, die er als Merkmal der im Aphorismus 261 von Menschliches, Allzumenschliches exemplarisch resümierten Entwicklung der gesamten vorsokratischen Philosophie ausgemacht hatte. Was mit Sokrates unwiederbringlich verloren ging, war nach Nietzsches Meinung die Verheißung „eines noch höheren Typus des philosophischen Menschen“, „einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s “ (KSA 2, S. 216 und 217). Dieser Verlust habe zunächst eine fortschreitende Aushöhlung der hellenischen Kultur und Geschichte bewirkt und dann zum Untergang der gesamten klassischen Kultur geführt, als das Römische Reich in seiner tiefen ethisch-politischen Krise der Durchsetzung des Frühchristentums keinerlei Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Im Verhältnis zu diesem historischen Schicksal sind Renaissance und Aufklärung Beispiele für die von Nietzsche in den letzten Jahren seiner Reflexion sogenannten ‚Gegenbewegungen‘, denen es 106
In dem bedeutenden Aphorismus 237 von Menschliches, Allzumenschliches stellt Nietzsche die Renaissance als „Morgenröthe der Aufklärung“ dar, während die Durchsetzung ihrer Errungenschaften durch die Reformation verzögert worden sei (vgl. KSA 2, S. 199–200); im nachfolgenden Aphorismus 244 wird die kritische Tendenz der neuen Aufklärung zur Verminderung der romantischen „Spannung des Gefühls“ mit der Möglichkeit einer „neuen Renaissance“ gleichgesetzt (ebd., S. 204). Zur Auffassung der Geschichte im Allgemeinen vgl. Aldo Lanfranconi, Nietzsches historische Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 2000.
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gelungen sei, die fehlenden Glieder einer langen Kette einzufügen, so dass eine tiefe Umkehrung der Geschichte herbeigeführt und die von den Vorsokratikern intuierte höhere Möglichkeit des philosophischen Lebens wiederentdeckt werden konnte. 107 Dies ist das Schema des von Nietzsche rekonstruierten Geschichtsverlaufs, das – wenngleich mit zahlreichen Abwandlungen und zum Teil sehr feinen Verschiebungen – letztlich den gesamten Horizont seines Werkes bestimmt. Innerhalb dieser Geschichtsauffassung ist ein weiteres Element zu nennen, das mit der Konzeption der Idee der ewigen Wiederkehr eine wachsende Bedeutung erlangt. Wenn alles in Bewegung ist, so muss innerhalb dieser großen Bewegung jede Handlung und jede Veränderung unweigerlich Auswirkungen auf all ihre Momente oder Bestandteile haben. Die Verantwortung der in der Geschichte Handelnden hat eine universelle Reichweite, die unmittelbar die ganze Vergangenheit und jede mögliche künftige Verkettung betrifft. Die verschiedenen Ereignisse, Persönlichkeiten und historischen Epochen treten in ein dichtes Netz wechselseitiger Verweise und können jenseits jedes linearen Zeitverlaufs und jenseits aller gewohnten räumlichen Konnotationen miteinander verglichen werden. In der Reflexion des späten Nietzsche wird diese Geschichtsauffassung vorherrschend und erweckt nicht selten den Eindruck einer bestürzenden Halluzination, auch wenn man nicht vergessen sollte, dass dieses fortwährende Spiel von Verweisen und Vergleichen keineswegs das Resultat einer willkürlichen Improvisation, sondern die allmähliche, aus einer unablässigen Reflexion und ständigen Hinterfragung hervorgegangene Destillation von Problemen ist. 108 Das heißt nicht, dass präzisere historische Bestimmungen der Aufklärung fehlten, auch wenn es in dieser Hinsicht überraschen mag, dass 107
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Der Gedanke der Gegenbewegungen taucht vor allem in den Fragmenten vom Frühjahr 1888 häufig auf. In dem in dieser Zeit entstandenen Fragment 14 [138] äußert Nietzsche beispielsweise die Absicht, sich der Geschichte der Gegenbewegungen zuzuwenden, zu denen er die Renaissance, die Revolution und die Emanzipation der Wissenschaft zählt. (Vgl. KSA 13, S. 323) Im Fragment 15 [20] stellt er sich die Frage, warum die Gegenbewegungen immer „unterlegen sind“ (ebd., S.418). In vielen weiteren Fragmenten aus dieser Zeit kehrt der Gedanke der Gegenbewegungen wieder. Im Fragment 25 [358] vom Frühjahr 1884 hält er beispielsweise fest: „NB. Grundsatz: j e d e s Erlebniß, in seine Ursprünge zurückverfolgt, setzt die ganze Vergangenheit der Welt voraus. – Ein factum g u t heißen, heißt A l l e s billigen! Aber indem man Alles billigt, billigt man auch alle vorhandenen und gewesenen B i l l i g u n g e n und V e r w e r f u n g e n !“ (KSA 11, S. 107). Auch auf Grund dieses Prinzips werden die verschiedenen historischen Personen, um die Nietzsches Reflexion kreist – insbesondere ihre Erfahrungen –, nicht selten nahezu austauschbar. Jedenfalls ist ihre Funktion nicht allein in Bezug auf ihre spezifische historische Epoche, sondern auch in Bezug auf die enge Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu messen, wie sie der Vorstellung von der ewigen Wiederkehr innewohnt.
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Nietzsche die Enzyklopädisten so gut wie nicht beachtete. Er wandte sich dem Materialismus von Helvetius einerseits und der moralistischen Tradition andererseits zu, die seines Erachtens mit Voltaire ihren Höhepunkt erreichte – ohne schließlich sein Interesse für eine Gestalt wie den Abbé Galiani zu vergessen. 109 Die moralistische Tradition war zweifellos das, was den Philosophen am meisten faszinierte. Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich der Aphorismus 192 der Morgenröthe, wo in der großen Blüte des religiösen und christlichen Denkens im Frankreich des 17. Jahrhunderts – von Pascal zu Madame de Guyon, von den Hugenotten zu Port-Royal – der eigentliche Ursprung der Aufklärung und des freien Geistes ausgemacht wird. (Vgl. KSA 3, S. 165–66) Diese Interpretation der Aufklärung unterstreicht erneut, dass ihr zentraler Kern für Nietzsche in der Befreiung vom Christentum bzw. allgemein in der Befreiung von absoluten, bedingungslos ohne vorgängige Überprüfung übernommenen moralischen Normen bestand. Nach der eindeutigen Charakterisierung, die Nietzsche in einem Fragment vom Frühjahr 1885 liefert, ist ein Moralist [...] das Gegenstück eines Moral-Predigers: nämlich ein Denker, welcher die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt. Ich bedaure hinzufügen zu müssen, daß der Moralist, eben deshalb, selber zu den fragwürdigen Wesen gehört. (KSA 11, S. 509) 110
Wenn wir einen Blick auf Nietzsches Lektüre des 1873 in deutscher Ausgabe erschienenen, von dem Philosophen allerdings erst 1881 erstandenen 111 Werkes von William Edward Hartpole Lecky Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa werfen, so sehen wir, dass die Aufklärung darin in erster Linie als Mentalität, als allgemeine Geisteshaltung interpretiert wird, die sich im Verlauf der Geschichte mehrfach der 109
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Nietzsche bezieht sich sehr selten direkt auf Diderot und D’Alembert. Im Allgemeinen handelt es sich um indirekte, über Lessing, Goethe oder andere Autoren wie die Goncourt vermittelte Bezugnahmen. Dagegen bildet Voltaire einen ständigen Bezugspunkt für ihn, der in gewisser Hinsicht manchmal fast bis zur Identifizierung reicht. Das Interesse für Helvetius spiegelt sich insbesondere in dem wichtigen Aphorismus 216 aus Der Wanderer und sein Schatten wider (vgl. KSA 2, S. 652), während er sich sehr oft auf Galiani bezieht, den er im Aphorismus 26 von Jenseits von Gut und Böse als „tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts“ bezeichnet (KSA 5, S. 45). Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche in diesem Fragment eine Gedrängtheit und Knappheit der Darstellung erreicht, die sich ohne Übertreibung mit einigen Formulierungen Brechts vergleichen lässt. Das Kaufdatum geht aus der Bestellung bei Schmeitzner in dem Brief vom 19. März 1881 hervor (vgl. BFN 6, 71). Die Fundstellen der Zitate, die Nietzsche diesem Werk Leckys entnahm, ermittelte Wolfert von Rahden in: Nachweis aus Lecky, Aufklärung in Europa, in: „Nietzsche-Studien“, 31 (2002), S. 320.
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Ausbreitung der Magie, Inquisition und religiösen Verfolgung entgegengestellt habe. Ehe die Aufklärung im 18. Jahrhundert gipfelte, fiel sie mit dem langsamen Prozess der Säkularisierung und Befreiung von einer häufig zum Aberglauben verkommenen Religion zusammen. Dieser Prozess stellte jedoch nach Meinung von Lecky – u. a. Verfasser einer Geschichte des Methodismus, die Nietzsche ebenfalls gelesen hatte – auch eine Befreiung des ursprünglichen Geistes des Christentums von seinen späteren Entstellungen und historischen Verkrustungen dar, das heißt, er bedeutete auch eine Rückkehr zum tieferen, authentischen Kern der christlichen Ethik. Sicher hat die Lektüre von Leckys Werk keinerlei bestimmenden Einfluss auf Nietzsches Auffassung der Aufklärung gehabt. Sie macht lediglich deutlich, dass Nietzsche mit seiner Interpretation der Aufklärung als eines entscheidenden Moments radikaler Befreiung von einer langen ethisch-religiösen Tradition, die ihrer ursprünglichen Grundlagen nunmehr verlustig gegangen war, nicht allein stand. Aufklärung meint also vor allem eine Haltung, ein entscheidendes Moment individueller Befreiung des eigenen intellektuellen Gewissens, im Gegensatz zu einer Haltung passiver Akzeptanz überlieferter und nie in Frage gestellter Werte und Normen. Die Aphorismen 225 und 226 von Menschliches, Allzumenschliches machen diesen Gegensatz zwischen ‚freiem Geist‘ und ‚gebundenem Geist‘, der für Nietzsches weiteres Denken bestimmend bleiben sollte, besonders anschaulich: Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; [...] Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben. (KSA 2, S. 189–90)
Der Gegensatz zwischen der Vernunft als Suche und dem Glauben als Gewohnheit wird in der spiegelbildlichen Beschreibung des ‚gebundenen Geistes‘ im nachfolgenden Aphorismus noch stärker betont: Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. [...] Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben. (Ebd.)
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Die ungestüme Dynamik dieses Prozesses der Befreiung des Geistes und dieser Problematisierung der moralischen und religiösen Werte kennzeichnet Nietzsches Verhältnis zur Aufklärung in zunehmendem Maße. Man beachte etwa, wie sehr sich der Ton eines Fragments vom Frühjahr 1884, das also nach dem Bruch mit Paul Rée und Lou Salomé und den wachsenden Spannungen in der Beziehung zu seiner Schwester entstand, von demjenigen in den zitierten Aphorismen unterscheidet: Es hat mich f r e i e r gemacht – jede tiefe Verunglimpfung, jede Verkennung: immer weniger will ich von den Menschen: immer mehr kann ich ihnen geben. Das Abschneiden jedes einzelnen Bandes ist h a r t , aber ein Flügel wächst mir statt des Bandes. (KSA 11, S. 144, 25 [498])
Die ‚Wege der Freiheit‘, die von der eigenen Vergangenheit fortführen, sind unwegsam, steinig und müssen in immer undurchdringlicherer Einsamkeit und Vereinzelung beschritten werden. Um auf diesen Wegen zu überleben, muss der freie Geist „unbedingt in seinem Rechte sein“ (ebd.), jedes Gefühl der Teilnahme am Schicksal des Nächsten von sich entfernen und das Mitleid, das ihm wesensmäßig eignet, unterdrücken. Der Versuch, zu neuen Bewertungen zu gelangen, setzt ein immer destruktiveres Denken voraus: Allein daraus kann eine höhere Achtung für Lebensdrang und Lebensreichtum erwachsen. Die Befreiung des Geistes geht folglich mit einer „Schadenfreude in großem Stile“ (KSA 11, S. 141, [25/484]) einher, der jede Ehrfurcht vor der Tradition fremd ist und die sich unerbittlich auf die Erforschung der oft von Grausamkeit gefärbten Mechanismen richtet, durch die Normen und Werte sich durchgesetzt haben und kodifiziert wurden, und durch die rohe Triebe sublimiert wurden. Um diese Entwicklung in Nietzsches Auffassung der Aufklärung zu verstehen, muss man sich notwendigerweise von jener ruhig-distanzierten, von leiser Freude durchdrungenen Haltung lösen, wie sie beispielsweise in dem Schlussaphorismus von Der Wanderer und sein Schatten ihren Ausdruck gefunden hatte. Die Überwindung der ‚Krankheit der Ketten‘, die Befreiung von den Irrtümern der moralischen, religiösen und metaphysischen Ideen wurde in diesem Aphorismus vom Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Momente abhängig gemacht: der Aufwertung eines Prozesses der Selbstüberwindung, die nur gelingen konnte, indem man aus den tiefsten moralischen Kräften der eigenen Vergangenheit schöpfte, und dem Rückgriff auf eine ursprüngliche christliche Botschaft, die in der fast märchenhaft-kindlichen Dimension einer Weihnacht ohne jede theologische Motivation präsentiert wurde. Das Motto des freien Geistes – „Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen“ – erinnert so an die Hirten der Evangelisten-Erzählungen, die
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den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: ‚Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander‘ (KSA 2, S. 702).
Diese geistige Ruhe bewegte Nietzsche zu einer grundlegenden Neubetrachtung seiner eigenen kulturellen Vergangenheit, das heißt eines deutschen Kulturerbes, das er zunehmend im Lichte seiner fernen Ursprünge in der französischen Kultur untersuchte. Es eröffnete sich damit jene europäische und kosmopolitische Perspektive, die sein Denken immer mehr prägen sollte, sehr bald getrübt wurde, sich mit anderen Spannungen auflud und Konnotationen erlangte, die scheinbar weit entfernt waren von der ‚Nüchternheit der Vernunft‘ 112, die wir gewöhnlich dem Zeitalter der Aufklärung zuschreiben. Dieser Wandel von Nietzsches Auffassung der Aufklärung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner veränderten Vorstellung von der Befreiung des Geistes, die sich in dem Moment herausbildete, da er das gesamte Sein aus der Perspektive der ewigen Wiederkehr zu betrachten begann. Die Veränderung ist so einschneidend, dass man mit einiger Berechtigung die Vollendung einer wahren zweiten Phase im gesamten Prozess von Nietzsches Befreiung des Geistes darin erblicken kann. Gerade im Verhältnis zur Vorstellung von der ewigen Wiederkehr wird die Bedeutung der ‚neuen Aufklärung‘ deutlich, die im Gegensatz zur Gleichmachung, wie die alte, an der Perspektive der „demokratischen Herde“ sich orientierende Aufklärung predigte (Fragment 27 [80] von 1884, KSA 11, S. 295), „den herrschenden Naturen den Weg zeigen [will]“ (ebd.). Die alte Aufklärung hat nach Ansicht des Philosophen noch die Funktion, das schlechte Gewissen, das jedem Überrest des Christentums und jeder Verwendung der nunmehr sinnentleerten religiösen Botschaft zu politischen Zwecken innewohnt, den Massen zu verkünden und so in eine befestigte, verwurzelte Gesinnung umzuwandeln. Sie kann folglich dazu beitragen, „die unbewußte Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen“ (KSA 11, S. 86). Aber diese antichristliche Stoßrichtung ist der einzige Berührungspunkt zwischen alter und neuer Aufklärung. Die freien Geister sind nicht die fortschrittlichen, demokratischen Freigeister, sondern diejenigen, die „eine Umkehrung der Werthe für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge im Zaum gehaltener und verläumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln“ gedenken (KSA 11, S. 582 [37/8]). 112
Diesen Ausdruck übernehme ich von Paolo Casini, Introduzione all’illuminismo. Da Newton a Rousseau, Rom/Bari, Laterza, 1973, S. XIV.
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Die „thatsächliche[ ] Rangordnung und Werth-Verschiedenheit der Menschen“ (KSA 11, S. 559), Krieg und Konflikt, das Böse und der Abgrund sowie die Schaffung eines Typus von höheren Menschen werden so zu konstitutiven Elementen der neuen Aufklärung, der freien Geister und der guten Europäer, wie Nietzsche sie sich vorstellt. Die Analyse der Aphorismen 377 und 381 aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, die Nietzsche der Neuausgabe des Werkes im Jahre 1887, also in der Zeit unmittelbar nach Abschluss von Jenseits von Gut und Böse und kurz vor Entstehung der Genealogie der Moral, hinzufügte, kann hilfreich sein, um sich in dieser veränderten Auffassung der Aufklärung zurechtzufinden. Der Aphorismus 377 mit dem bezeichnenden Titel „Wir Heimatlosen“ liefert fraglos eine der eindrücklichsten Beschreibungen der „guten Europäer“, die in diesem fünften Buch mehrfach erwähnt und hier charakterisiert werden als die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir a u s ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. (KSA 3, S. 631)
Um zu ‚guten Europäern‘ zu werden, ist es nach Nietzsche jedoch nötig, Europa selbst aus einer Perspektive von außen betrachten zu lernen. Einerseits ist der gute Europäer das Resultat der allmählichen Überwindung der christlichen Tradition, die mehr als jede andere auf verschlungenen historischen Wegen das gesamte Erbe des europäischen Geistes in sich hat aufnehmen können; andererseits muss diese allmähliche Überwindung weiter gehen, bis sie aus und über Europa selbst hinaus führt. ‚Gute Europäer‘ sein setzt also „ein Jenseits von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von allem ‚Europa‘ [voraus], letzteres als eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind“ (KSA 3, S. 633). Nietzsche selbst fragt sich jedoch, ob es möglich ist, diese Perspektive von außen tatsächlich einzunehmen: „die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf k a n n “ (ebd.). Seine Konzeption der neuen Aufklärung macht die wesentliche Schwierigkeit deutlich, einen solchen Standpunkt außerhalb einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung zu erreichen. Ein waches Bewusstsein vom Erbe dieser Geschichte muss Hand in Hand gehen mit dem Willen, sie zu überwinden und ihr neue Horizonte zu erschließen. Der komplexe Prozess der Selbstüberwindung der Moral, der die Grundlagen und die gesamte Geschichte der abendländischen Metaphysik betrifft, erfordert einen Ausgleich zwischen diesen gegensätzlichen Anfor-
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derungen. Er ist das Ergebnis eines „Willens zur Erkenntniss“, der „in eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus [getrieben wird], um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen!“ (ebd.). Die Komplexität der Selbstüberwindung der Moral bildet ein zentrales Thema Nietzsches, der in dem zitierten Aphorismus z. B. folgendermaßen darüber spricht: Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst zu ‚überwinden‘ – es ist die Probe seiner Kraft – und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch g e g e n diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemässheit, seine R o m a n t i k ... (ebd.)
Das in diesem Aphorismus so genau beschriebene Leiden an der eigenen Zeit darf nicht mit dem verwechselt werden, was Nietzsche in der Spätzeit seines Denkens allein in Form eines verbitterten Prophetentums, eines hohlen Kultes der Stärke und der lautstarken Ausrufung eines hysterischen Vitalismus behauptet. 113 Um Nietzsches Denken seine Klarheit und ‚Helligkeit‘ zurückzugeben, ist vor allem eine angemessene Vorsicht bei der Interpretation jener Formeln geboten, in denen sich die Idee der neuen Aufklärung ausdrückt. 114 Auf den ersten Blick scheinen sie von der nüchternen Vernunft aufklärerischer Prägung weit entfernt zu sein, weisen bei genauerer Betrachtung jedoch eine Vielschichtigkeit von Bedeutungen auf, die sich einem unerschrockenen Erkenntnisdrang verdankt. Beispielsweise erscheint eine Interpretation der von Nietzsche vertretenen Hierarchie-Vorstellung im gesellschaftlichen Sinne fragwürdig. Im Fragment 25 [270] vom Frühjahr 1884 stellt er sich einen Raum „jenseits der Herrschenden“ vor, in dem „losgelöst von allen Banden [...] die höchsten Menschen [leben]“, die in den Herrschenden ihre Werkzeuge hätten (KSA 11, 82). Diese „höchsten Menschen“ wären eben „eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft“ 113
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Zum Leiden an der eigenen Zeit und zur Ablehnung eines bloßen Prophetentums vgl. das Kapitel 3 des 3. Teils dieses Buchs. Sehr bedeutsam für die Idee der Helligkeit und Klarheit ist der Aphorismus 378 aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft mit dem bezeichnenden Titel „Und werden wieder hell“. Fast scheint es, als würden darin die Interpretations- und Verständnisschwierigkeiten, bezogen auf die verschiedenen Richtungen und Missverständnisse der langen Geschichte der Nietzsche-Rezeption vorweggenommen. So wird der freie Geist in seiner Feigebigkeit und seinem geistigen Reichtum in diesem Aphorismus mit einem offenen Brunnen verglichen, aus dem alle schöpfen und den alle trüben können. Hauptsächlich lastet Nietzsche die Trübung jedoch der eigenen Zeit, ihrem ‚Zeitlichsten‘ an, zu der er sich folgendermaßen verhalten will: „Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben: wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe – denn wir sind tief, wir vergessen nicht – u n d w e r d e n w i e d e r h e l l . . . “ (KSA 3, 631)
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(KSA 11, S. 582), in denen sich die Freiheit des Geistes so weit entwickelt hat, dass sie eine Umkehrung der Werte vorbereiten können. Die Aufzählung möglicher Angehöriger dieser Art macht noch deutlicher, dass eine Auslegung dieser Idee von Hierarchie, Stärke und Macht im gesellschaftlichen Sinne fragwürdig ist, denn als starke Menschen werden allen voran „die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus“ (ebd.) bezeichnet, also diejenigen, die mit den falschen Werten der Moderne unzufrieden sind oder sich ihnen widersetzen. Ihnen stellt Nietzsche diejenigen Künstler zur Seite, in denen man unschwer typische Züge der Psychologie Wagners wiedererkennt, wie Nietzsche sie umrissen hatte. So werden diese Künstler durch einen maßlosen Ehrgeiz charakterisiert, der sie dazu bringt, Sonderrechte für eine vollkommen autonome ästhetische Dimension ohne jeden Wirklichkeitsbezug einzufordern. Als wohl überraschendstes Element figurieren in dieser Aufzählung schließlich auch die Philologen und Historiker, die mit ihrer kritischen Arbeit die bereits in der Renaissance begonnene Entdeckung der alten Welt mutig fortsetzten. Zwei wesentliche Aspekte sind folglich für diese Art starker Menschen kennzeichnend: Zum einen besitzen sie die Fähigkeit, die Spannungen der Moderne in ihrer Negativität – sei es in Form des philosophischen Pessimismus oder Nihilismus, sei es als grenzenlose ästhetische Leidenschaft, sei es schließlich in Form eines passiven Verhältnisses gegenüber der wissenschaftlichen und historischen Erkenntnis – bis zum Äußersten zu durchleben, so dass gerade diese Spannungen sie zu der Entscheidung führen, über die Moderne selbst hinauszugehen. Zum anderen sind sie gewillt, an die großen, unvergänglichen Momente der Menschheitsgeschichte anzuknüpfen, und eben darin findet der Prozess der Selbstüberwindung der Moderne seine Rechtfertigung. Insbesondere äußert sich dieser Wille in der Fähigkeit, eine tiefe Umkehr der Geschichte herbeizuführen und an die lebendigsten Kräfte der Antike anzuknüpfen, die untergingen, als der vorsokratischen Philosophie jene Reform des Griechentums misslang, die für Nietzsche eine unumgängliche noch zu lösende Aufgabe darstellt. Der Hierarchiegedanke und die Vorstellung der höheren Menschen kann also nicht im Sinne der gesellschaftlichen Organisation interpretiert werden, sondern ist als weitere Form der „Genialen-Republik im Gegensatz zu der Gelehrtenrepublik“ (KSA 1, S. 808) zu verstehen, die Nietzsche auf den ersten Seiten der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen folgendermaßen beschrieb: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort (KSA 1, S. 808).
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Diese bereits beim jungen Nietzsche tief verwurzelte Geschichtsauffassung 115 hatte in Menschliches, Allzumenschliches keine grundlegenden Veränderungen erfahren: Gerade mit Bezug auf das Schicksal der vorsokratischen Philosophen hatte er die trotz aller räumlichen und politischen Trennung „zusammengehörige Gesellschaft“ der freien Geister, „deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen“, im Aphorismus 261 als eine Gemeinschaft von „Oligarchen des Geistes“ beschrieben. Ihre Herrschaft folge auf die der „Tyrannen des Geistes“, die untergegangen sei aufgrund interner Kämpfe, die das vorsokratische Denken zu einem missgünstigen Sektierertum verkommen ließen: Die Oligarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, – aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an s e i n e r Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen. (KSA 2, S. 218)
Die Art willensstarker Menschen, von der Nietzsche in der letzten Phase seines Denkens spricht, unterscheidet sich nicht von dieser Oligarchie des Geistes, denn ihre Stärke bestimmt sich nach der Fähigkeit, den Gedanken der ewigen Wiederkehr zu ertragen, ihre Freiheit des Geistes nach dem fortschreitenden kritischen Selbstbewusstsein des Willens zur Wahrheit. Ihre Macht wird nicht als Ausdruck eines Herrschaftsapparats oder Apparates der Sozialkontrolle verstanden, sondern als asketische Kontemplation der Lebensenergie, die das Werden beseelt. 116 Nur wenn man das Konzept der stärksten Menschen auf diese Weise interpretiert, wird die Charakterisierung, die Nietzsche in dem entscheidenden, im Sommer 1887 in Lenzer Heide entworfenen Fragment über den europäischen Nihilismus liefert, verständlich. Darin weisen die stärksten Menschen die wesentlichen Züge des freien Geistes auf, der keinen vorgefassten Glauben hat und zu einer radikalen kritischen Erkenntnis fähig ist. Eben deshalb werden sie definiert als 115
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Bereits in dem Entwurf einer Geschichte der antiken Literaturgeschichtsschreibung, die als Grundlage für die moderne Geschichte der klassischen Literatur – Mittelpunkt von Nietzsches philologischen Interessen in der Leipziger Zeit – konzipiert wurde, begegnen wir dieser Geschichtsauffassung. Vgl. zu diesem Projekt Barbara von Reibnitz, Vom ‚Sprachkunstwerk‘ zur ‚Leseliteratur‘. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als Gegenentwurf zur aristotelischen Poetik und F. Gerratana, „Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an“. Ein Streifzug durch Nietzsches Aufzeichnungen zu einer „Geschichte der litterarischen Studien“, beide in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche a. a. O., S. 47–66; 326–350. Vgl. zudem die wichtige Einleitung von Giuliano Campioni und Federico Gerratana zu F. Nietzsche, Appunti filosofici 1867–1869, Mailand, Adelphi, 1993. Mit dieser Ambivalenz der Macht-Vorstellung bei Nietzsche befasse ich mich näher im Kapitel 2 des 3. Teils dieses Buchs.
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Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze n ö t h i g haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden (KSA 12, S. 217).
Aufgrund dieser tiefen Freiheit des Geistes und des Vermögens, den Schmerz ohne Rachegelüste gegen das Leben zu ertragen, sind sich diese Menschen „ihrer Macht sicher“ (ebd.), die sich nicht in Form von persönlicher, zum Schaden anderer Menschen ausgeübter Herrschaft, sondern als ruhevolles Bewusstsein von der gesamten, durch eine Jahrhunderte lange Ausübung der Vernunft und Erkenntnis „erreichte[n] Kraft des Menschen“ (ebd.) äußert. Die neue Aufklärung, wie Nietzsche sie in den letzten Jahren seiner Reflexion als Vorspiel zur Philosophie der ewigen Wiederkehr konzipiert, lässt fraglos andere Töne anklingen als die Nüchternheit der Vernunft und die Ruhe der geistigen Kontemplation, die im Schlussteil von Der Wanderer und sein Schatten einen denkwürdigen Ausdruck erreicht hatten. Genau betrachtet bilden diese Nüchternheit und Gemütsruhe aber weiterhin eine notwendige Voraussetzung, damit die guten Europäer jene fruchtbare geistige Region ‚über Europa selbst hinaus‘, die ihre mutige Selbstüberwindung erschlossen hat, unbeirrt weiter erforschen können. Um diese Region noch heute ohne Doppeldeutigkeiten und Missverständnisse zu bewohnen, wird wohl eine dritte Befreiung des Geistes nötig sein, um herauszufinden, welche Bedeutung die von Nietzsche konzipierte neue Aufklärung als Weise, gute Europäer zu sein, heutzutage haben kann.117 117
Zwei Probleme erscheinen mir besonders wichtig, um der von Nietzsche vertretenen ‚neuen Aufklärung‘ eine mögliche aktuelle Bedeutung abzugewinnen. In erster Linie gilt es, die philosophische Hinterfragung der Wahrheit, Sprache und Moral sowie die Enthüllung einer Region ‚jenseits‘ der begrifflichen und ethischen Tradition in ihrer ganzen Komplexität einer artikulierten hermeneutischen Operation zu vertiefen, in welcher sich der Prozess der Selbstüberwindung durch eine Reihe fortschreitender phänomenologischer Reduktionen vollzieht. Dieses Problem war meines Erachtens in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, unabhängig von ihrer Auseinandersetzung mit Nietzsche, zentral. In zweiter Linie stellt sich das Problem des intellektuellen Standortes, den Nietzsche im Verhältnis zur deutschen und europäischen Gesellschaft seiner Zeit einnahm. Der zuvor bereits erwähnte Aphorismus 377 aus der Fröhlichen Wissenschaft ist besonders aufschlussreich für dessen Analyse. Auf der einen Seite unterstreicht Nietzsche darin nachdrücklich, dass er „in keine Vergangenheit zurück [will]“ (KSA 3, S. 629) und den „Nationalismus und Rassenhass“ (KSA 3, S. 630), der die deutsche Gesellschaft und die politische Situation Europas besonders kennzeichnete, ablehnt. Auf der anderen Seite bekräftigt er aber, dass er jeder demokratischen und liberalen Tradition fernsteht. Diese Ambivalenz tritt auf dramatische Weise im Jahre 1888 zu Tage, als der Philosoph einerseits die tiefe Wende in der europäischen Geschichte, die mit dem kurz bevorstehenden Ende der Bismarck-Zeit eintreten sollte, mit großem Scharfsinn vorausahnt, andererseits
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Aufgeklärte Geister und libres penseurs
Doch wird man dabei kaum ohne die Tugenden des freien Geistes auskommen, die Nietzsche in einem der abschließenden Aphorismen von Jenseits von Gut und Böse so scharfsinnig umrissen hat: Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie s e t z e n , wie auf Pferde, oft wie auf Esel: – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre ‚Gründe‘ sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. (KSA 5, S. 231 f.)
Dieser Nietzsche, der die Höflichkeit anempfiehlt, mag gegenüber dem hochtönenden, prophetischen Nietzsche, der große Entscheidungen, neue Katastrophen und die Konflikte der großen Politik ankündigt, zweitrangig erscheinen, und doch sind die Tugenden des freien Geistes für das stille und labyrinthische, zerbrechliche und verführerische „Genie des Herzens“, das sich mit der Philosophie des Dionysos deckt, entscheidend. Bekanntlich betrachtet der Philosoph selber den Aphorismus 295 aus Jenseits von Gut und Böse, der von diesem „Genie des Herzens“ handelt, als höchstes Beispiel seiner eigenen Fähigkeit zur psychologischen Introspektion. 118
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aber der politischen Kontingenz die Erfordernisse eines antimetaphysischen Denkens, das ‚Entscheidung‘ werden will, ‚überstülpt‘. Nietzsche greift den Aphorismus 295 von Jenseits von Gut und Böse im letzten Abschnitt des Kapitels „Warum ich so gute Bücher schreibe“ wieder auf. Der vorherrschende Ton in diesem Aphorismus ist ein kaum wahrnehmbares Flüstern; alles klingt verhalten und gedämpft. Dieser Ton ist eng mit der labyrinthartigen Polyvalenz der dionysischen Seele verknüpft, von der Nietzsche auch im Zusammenhang mit der Charakterisierung des Philosophen als eines Menschen, „der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt“, im vorangehenden Aphorismus 292 spricht. In demselben Aphorismus wird der Philosoph aber auch mit einem „Gewitter“ verglichen, „welches mit neuen Blitzen schwanger geht“ (KSA 5, S. 235). Die Gleichzeitigkeit des Flüsterns und des Blitzes in Nietzsches Stil und Denkform mag paradox erscheinen, bildet aber nichtsdestotrotz eines ihrer Strukturmerkmale.
Kapitel 6 Das Klassische als Vollendung des Modernen. Nietzsche als Leser des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe Der von den Vertretern der Weimarer Klassik geführte ‚Bildungskampf‘ (vgl. KSA 1, 129) konnte die verzauberte Pforte, die in den Zauberberg der hellenischen Kunst führt, nicht erbrechen. Es sei bei dem „sehnsüchtigen Blick, den die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet“, geblieben (KSA 1, 131). Erst der ‚mystische Klang der wiedererweckten Tragödienmusik‘ (vgl. KSA 1, 131) habe die Rückbesinnung auf eine authentische Vision des Griechentums ermöglicht. Dadurch sei das Griechenland-Bild der Weimarer Klassik ‚unendlich vertieft‘ (vgl. KSA 7, 277) und jene innere Spannung zwischen grundverschiedenen Kräften, die das Wesen der vielbeschworenen klassischen ‚Harmonie‘ ausmacht, wieder zum Klingen gebracht worden. Dies ist, in Grundzügen, das Urteil, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie und in den Unzeitgemäßen Betrachtungen über die Weimarer Klassik abgibt und das in zahlreichen nachgelassenen Fragmenten aus den Jahren 1869–1874 ausgearbeitet und bekräftigt wird. Es verdeutlicht, aus welchem Blickwinkel Nietzsche in jener Zeit Themen und Autoren der klassisch-romantischen Kultur in Deutschland neu überdenkt. Von den Schriften, die er zu diesem Themenkreis liest, ist der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe sicher am entscheidendsten. Die erste Lektüre fällt augenscheinlich genau in die Basler Zeit, und zwar scheint Nietzsche sich ihr im Zusammenhang mit der in der Geburt der Tragödie behandelten Problematik zu widmen, wie einige wörtliche Zitate in der Geburt der Tragödie und in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung nahelegen. 119 119
In der Geburt der Tragödie führt Nietzsche ausdrücklich Schillers Brief vom 18. März 1796 und Goethes Brief vom 27. Dezember 1797 an (vgl. KSA 1, 43; 142); in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zitiert er Goethes Briefe vom 19. Dezember 1798 – in dem Goethe sich auf Kants Anthropologie bezog – und vom 21. Februar 1798 – in dem er sich mit Schellings Gedanken auseinandersetzte (vgl. KSA 1, 245, 291). Beide Zitate kommen bereits in den Fragmenten aus dem Jahr 1873 vor (vgl. KSA 7, 688). Dieses Kapitel beschränkt sich auf eine Analyse derjenigen Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, die sich mit den Themen der Geburt der Tragödie befassen. Über die Betrachtung der Zitate aus dem Briefwechsel hinaus, die in die zweite Unzeitgemäße Be-
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Dank der parallel zu diesen beiden Werken entstandenen nachgelassenen Fragmente lässt sich die ‚Gedankenkette‘ 120, die Nietzsche zu diesen Zitaten führt, ebenso exakt rekonstruieren wie der thematische Zusammenhang seiner Beschäftigung mit dem Briefwechsel. Die Fragmente lassen zwei verschiedene Rezeptionsphasen erkennen, von denen die erste auf das Jahr 1871 zurückgeht und mit der Arbeit an der Geburt der Tragödie zusammenhängt, während die zweite mit der Niederschrift der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung im Jahr 1873 verbunden ist. Beide Phasen unterscheiden sich offenbar im Umgang mit dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe voneinander: Wurden an den entsprechenden Textstellen in der Geburt der Tragödie die dem Briefwechsel entnommenen Hinweise innerhalb der eigenen Konzeption der Tragödie umgearbeitet, so sind die in die zweite Unzeitgemäße Betrachtung eingegangenen nicht wesentlich überarbeitet. Sie scheinen eher der rhetorischen Absicht zu gehorchen, die eigenen Behauptungen durch Berufung auf die unbestrittene Autorität der Weimarer Dioskuren zu untermauern. Zumindest auf den ersten Blick erscheinen die Anregungen, die Nietzsche aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe übernimmt, gemessen an seinem unerschöpflichen inhaltlichen und thematischen Reichtum erstaunlich marginal. Nicht nur in der Geburt der Tragödie und der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, sondern auch in den Fragmenten berücksichtigt Nietzsche lediglich eine recht begrenzte Anzahl von Briefen, die im Allgemeinen auf einige wenige Themen zurückgeführt werden können. Seine Aufzeichnungen zeugen von geringem Interesse an einer Gesamtbetrachtung des komplexen Dialogs zwischen zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten, den der Briefwechsel dokumentiert und der schließlich auch so weit reichende Probleme angeht wie das Verhältnis zwischen Natur und Idee, zwischen Abstraktion und Anschauung, ästhetischem Gesetz und subjektiver Empfindung.121
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trachtung eingegangen sind, würde es sich lohnen, die in den Fragmenten aus dem Jahr 1873 enthaltenen Exzerpte aus dem Briefwechsel zu analysieren (vgl. KSA 7, 681–689; KSA 14, 551), denn sie zeigen eine gewisse Verwandtschaft mit den Themen der Exzerpte aus der Zeit der Geburt der Tragödie. Zur Gedankenkette, die bei Nietzsche Fragmente und endgültige Texte verbindet, vgl. M. Montinari, Vorwort zum Nachbericht zur siebenten Abteilung, KGW VII 4/1, VI. Für eine Analyse der Bedeutung und Themen des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe vgl. das „Nachwort“ von Siegfried Seidel zur von ihm herausgegebenen Ausgabe des Briefwechsels, München 1984, Bd. 3, S. 567–589; H. Pyritz, Der Bund zwischen Goethe und Schiller. Zur Klärung des Problems der sogenannten Weimarer Klassik, in: Goethe-Studien, hg. von H. Pyritz, Köln/Graz, Böhlau, 1962, S. 34–51; B. von Wiese, Friedrich Schiller, Stuttgart, Metzler, 1963, S. 528–564; U. Japp, Literatur und Modernität, Frankfurt/Main, Klostermann, 1987, S. 100–147. Einige Aspekte von Wagners und Nietzsches Verhältnis zu Goethe und Schiller, die auch im Bezug zum Briefwechsel ste-
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Es mag durchaus sein, dass die Lektüre des Briefwechsels noch andere Interessen in Nietzsche geweckt hat als die in seinen Werken und Fragmenten zur Sprache kommenden. Die Notizen – ob sie sich nun auf den Briefwechsel oder auf andere von Nietzsche gelesene Werke beziehen – können denn auch nur einen Aspekt des Interesses am gelesenen Text aufzeigen; von den schriftlich nicht fixierten Nachwirkungen, den unmittelbaren Eindrücken, die Nietzsche als Leser aus dem ersten Kontakt mit dem Text gewann, fehlt uns selbstverständlich jede Spur. Außerdem ist nicht anzunehmen, dass die von Nietzsche angeführten Zitate auf die erste Lektüre des Briefwechsels zurückgehen. Sehr wahrscheinlich übernimmt Nietzsche sie in einem zweiten Schritt, im Hinblick auf ihre Weiterverwendung in den Werken, an denen er gerade arbeitete. So tauchen Themen aus dem Briefwechsel bisweilen schon in Fragmenten auf, die er niederschrieb, bevor er wörtliche Zitate exzerpierte. Das Thema des Pathologischen im modernen Drama, das Nietzsche ausgehend von einigen Briefen Goethes vom Dezember 1797 entwickelt, wird beispielsweise schon gegen Ende 1870 im Fragment 5 [90] angesprochen, obwohl er sich erst in den Fragmenten 9 [83] und 9 [90] aus dem Jahr 1871 ausdrücklich auf Goethes Briefe bezieht. Ebenso findet sich ein zumindest indirektes Zitat aus dem Briefwechsel bereits im Fragment 8 [7], das in einem anderen Heft wiedergegeben ist als der fast aus derselben Zeit stammende erste und wichtigste Beleg für die Lektüre des Briefwechsels, der sich im Heft 9 aus dem Jahr 1871 findet. Nietzsche scheint nicht mit einem systematischen, objektiven Auswahlkriterium an die Briefsammlung heranzugehen. ‚Gänzlich in ungeheure Inschriftenwerke versteckt‘ (vgl. KSB 3, 245 f.): So beschreibt er sich selbst in einem Brief an Wagner vom November 1871, während er seine Universitätsvorlesungen vorbereitet und sich wahrscheinlich mit der Niederschrift seiner Werke beschäftigt: ein Bild, das den jungen Philologen recht treffend charakterisiert, der – nach Nietzsches Darstellung in Ecce homo mit ihren durchaus zuverlässigen autobiographischen Zügen – täglich eine nicht unerhebliche Zahl von Büchern ‚wälzt‘ (vgl. KSA 6, 292). 122 Wir können daraus aber auch nützliche Schlüsse auf das
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hen, werden von D. Borchmeyer in Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart, Reclam, 1982, S. 92 ff. sowie S. 151–175 analysiert. Nietzsches Verhältnis zur Weimarer Klassik in der Baseler Periode untersucht Giuliano Baioni in seinem sachkundigen Aufsatz La filologia e il sublime dionisiaco. Nietzsche e le ‚Considerazioni inattuali‘ (Vorwort zu: F. Nietzsche, Considerazioni inattuali‘, üb. von S. Giametta und M. Montinari, Torino, Einaudi, 1981). Ohne Zweifel kann man dieses Bild des jungen Philologen mit der Darstellung seines Basler Lebens in Ecce homo in Verbindung bringen: „In meiner Basler Zeit war meine ganze geistige Diät, die Tages-Eintheilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser Miss-
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methodische Vorgehen ziehen, das Nietzsche in jenen Jahren bei seiner Lektüre anwandte. Während er sich der Ausarbeitung seiner Ideen oder Werke widmete, griff er, einem Gedankengang folgend, aus den Büchern um ihn herum – darunter auch der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe – diejenigen Zitate heraus, die den Themen, die er gerade entwickelte, am ehesten zu entsprechen schienen. So lässt sich wahrscheinlich das stark themengebundene, selektive Auswahlkriterium im Umgang mit dem Briefwechsel weitgehend erklären. Darüber hinaus war die Auswahl sicher auch von den Anregungen, die er von Wagner übernommen hatte, vielleicht sogar von direkten Nachwirkungen der Treffen und Gespräche in Tribschen, beeinflusst. Das Hauptthema von Nietzsches Auszügen kreist nämlich um das Verhältnis von Musik und literarischem Text innerhalb des Gesamtkunstwerks, bei dessen Behandlung schon Wagner sich auf den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe bezogen hatte. Wagner hatte Goethe und Schiller bereits in Oper und Drama eine besondere Funktion bei der Vorbereitung des Gesamtkunstwerks zuerkannt und dieses Thema in dem Essay über Beethoven von 1870, der schließlich eine zentrale Rolle bei der Konzeption der Geburt der Tragödie spielen sollte, 123 weiterentwickelt. Er griff darin die Diskussion über den Unterschied zwischen Epos und Drama auf – sich speziell auf den Brief Schillers vom 29. Dezember 1797 beziehend, den Nietzsche später in seinen Auszügen und im Mahnruf an die Deutschen zitierte – und stellte fest: Beide begegneten sich auch in der Ahnung vom Wesen der Musik; nur war diese Ahnung bei Schiller von einer tieferen Ansicht begleitet, als bei Goethe, welcher in ihr, seiner ganzen Tendenz entsprechend, mehr nur das gefällige, plastisch symmetrische Element der Kunstmusik erfaßte, durch welches die Tonkunst analogisch wiederum mit der Architektur eine Ähnlichkeit aufweist. Tiefer faßte Schiller das hier berührte Problem mit dem Urteile auf, welchem Goethe ebenfalls zustimmte, und durch welches dahin entschieden ward, daß das Epos der Plastik, das Drama dagegen der Musik sich zuneige.124
CosimaWagners Tagebüchern aus den Jahren 1869–1870 ist außerdem zu entnehmen, wie oft in Tribschen über diese Themen gesprochen wurde; des weiteren erfahren wir, dass der Briefwechsel zwischen Schiller und
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brauch ausserordentlicher Kräfte, ohne eine irgendwie den Verbrauch deckende Zufuhr von Kräften, ohne ein Nachdenken selbst über Verbrauch und Ersatz“ (KSA 6, 283). Im Brief an Wagner vom 10. November 1870, der von seiner Vorstudie zur Geburt der Tragödie und von Wagners Beethoven handelt, schreibt Nietzsche: „Ich möchte glauben, dass Ihnen dem Denker zu folgen in diesem Falle nur für den möglich ist, dem der ‚Tristan‘ vornehmlich sich entsiegelt hat“ (KSB 3, 157). R. Wagner, Beethoven, in: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 10, hg. von D. Borchmeyer, Frankfurt/Main, Insel, 1983, S. 43.
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Goethe im Hause Wagner damals immer wieder gelesen wurde. 125 Es kann daher durchaus sein, dass Nietzsche Gelegenheit fand, sich mit Wagner darüber auszutauschen, oder dass die Treffen in Tribschen ihm zumindest neue Anstöße für die Lektüre des Briefwechsels lieferten, auf den Wagners Essay ihn in jedem Fall bereits aufmerksam gemacht hatte. Dass der Blickwinkel, unter dem er sich dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe näherte, von Wagner beeinflusst war, wird im Mahnruf an die Deutschen, den Nietzsche im Jahre 1873 für Bayreuth verfasste und den die Delegierten der Wagnerschen Patronatsvereine in ihrer Versammlung desselben Jahres in Bayreuth ablehnten, besonders deutlich. Nietzsche betonte darin, dass sich das Projekt von Bayreuth nicht einfach darauf beschränken dürfe, ein neues Theater zu gründen, sondern vielmehr eine ‚Werkstatt der deutschen Kunst‘, eine weite ‚Bewegung der Gedanken, Handlungen, Hoffnungen und Begabungen‘ ins Leben rufen müsse, und wandte sich damit an alle, „denen die Veredlung und Reinigung der dramatischen Kunst am Herzen liegt und die Schillers wunderbare Ahnung verstanden haben, dass vielleicht einmal aus der Oper sich das Trauerspiel in einer edleren Gestalt entwickeln werde“ (KSA 1, 896). Nietzsche gibt offensichtlich genau die Textstelle aus dem Brief Schillers vom 29. Dezember 1797 wieder, auf die Wagner sich in seinem Essay über Beethoven bezogen hatte. Ein Großteil der Auszüge aus dem Briefwechsel befasst sich mit dem Problem des Verhältnisses von Musik und Wort, das für Nietzsche eines der zentralen Themen der neuen ästhetischen Auffassung darstellte, wie er sie in der Geburt der Tragödie umriss (vgl. KSA 1, 103–108). Wenn Nietzsche sein Augenmerk auf das Verhältnis von Poesie und Prosa, auf die Neubestimmung der literarischen Gattungen und die den künstlerischen Formen zugrundeliegenden Prozesse der Reinigung und Symbolisierung richtet, so geschieht dies vor dem Hintergrund eines ständigen Vergleichs zwischen dem Wortdrama Goethes und Schillers und dem Musikdrama Wagners. 126 Dieser Vergleich erfolgt in zweifacher Hinsicht: Zum einen deckt Nietzsche durch Wagner die Mängel des Wortdramas von Goethe und Schiller auf: dessen pathetischen, rhetorischen Charakter, seine Gelehrsamkeit, die Unfähigkeit, die aristotelische Konvention des klassischen französischen Theaters ein für allemal zu überwinden und tatsächlich an die griechischen Vorbilder anzuknüpfen. Zum ande125
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Vgl. dazu Cosima Wagner, Die Tagebücher, 2 Bde., hg. von M. Gregor-Dellin und D. Mack, München/Zürich, Piper, 1976, Bd. I, S. 238–241. Um die Bedeutung des Vergleichs zwischen Wagners Musikdrama und Goethes und Schillers Wortdrama besser zu verstehen, ist die Feststellung interessant, dass er gleich am Anfang der Fragmente aus dem Herbst 1869 gezogen wird. (Vgl. KSA 7, 10)
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ren überprüft er anhand von Goethe und Schiller nicht nur das Musikdrama daraufhin, inwieweit es in sich kohärent ist und seinen theoretischen Prämissen entspricht, sondern entwirft darüber hinaus eine weitere Perspektive, in deren Rahmen er Wagners Gesamtkunstwerk vor neue Anforderungen und Aufgaben stellt und es in gewissen Momenten sogar nur als eine – wenn auch entscheidende – Übergangsphase in einem übergreifenden Prozess der Wiedergeburt der griechischen Tragödie betrachtet. Der nachhaltige Einfluss Wagners auf seine Beschäftigung mit dem Briefwechsel schließt also ein weitgehend eigenständiges Urteil nicht aus. Nietzsche arbeitet die Anregungen und Ideen aus dem Text Goethes und Schillers stets äußerst kreativ auf, ordnet sie in den weiteren geistigen Bezugsrahmen seiner Interessen und Probleme ein und entwickelt daraus im fruchtbaren Dialog mit anderen Themen und von ihm gelesenen Werken einen neuen, persönlichen Gedankengang. 127 Ein ‚unabhängiges, trotzigselbständiges‘ Jugendwerk auch da noch, „wo es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint“ (KSA 1, 13) – so charakterisierte Nietzsche Die Geburt der Tragödie in dem Versuch einer Selbstkritik von 1886. Selbst in Nietzsches Auszügen aus dem Briefwechsel klingt noch etwas von dieser selbstständigen, mühseligen Suche nach einer ‚eignen Sprache‘ an, während er gleichzeitig Formeln von Schopenhauer und Wagner benutzt, um ‚fremde und neue Werthschätzungen‘ auszudrücken (vgl. KSA 1, 19). Vor allem wenn man die Auszüge als Glied jener langen Kette betrachtet, die auf oft verhüllte Weise Nietzsches Fragmente, Werke, Briefe und biographische Zeugnisse miteinander verbindet,128 erkennt man die Intensität eines nie unterbrochenen Dialogs, der noch in der Erinnerung des Philosophen den in Tribschen verbrachten Tagen – „Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle“ (KSA 6, 288) – eine unvergessliche Faszination verlieh. Wie ein ‚Zwiegespräch‘ mit Wagner, mit dem er „wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte“ (vgl. KSA 1, 13; 23), ist vor allem die Geburt der Tra127
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Als wichtigstes Element des gedanklichen Horizonts des jungen Nietzsche ist – neben seinen vielfältigen Interessen und seiner Lektüre der deutschen Literatur – vor allem die eingehende Auseinandersetzung mit ‚Schopenhauers Problem‘ zu nennen, bei der Nietzsche auch die Entwicklungen der Philosophie seiner Zeit einbezieht (z. B. Hartmann, dessen Gedanken auch in der Konzeption der Geburt der Tragödie wichtige Spuren hinterlassen haben); des weiteren die philologischen Studien, von denen der Brief an Rohde vom 16. Juli 1872 (vgl. KSB 4, 22–26) Zeugnis ablegt. Unter den biographischen Zeugnissen, die für Nietzsches Basler Zeit von Bedeutung sind, sind an erster Stelle Cosimas Tagebuchaufzeichnungen zu erwähnen, durch die man – wenn auch indirekt – besser versteht, warum Cosima in Ecce homo als die ‚erste Stimme in Fragen des Geschmacks‘ (vgl. KSA 6, 285) bezeichnet wird.
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gödie konzipiert, in die die Auszüge aus dem Briefwechsel einfließen sollten. Auch sie sind im Grunde als Elemente des Dialogs anzusehen, in dem Philologie und Musik in einem sich beständig erneuernden kühnen Geistesexperiment einander durchdringen. 129 Nach dem ersten, durch Wagners Sicht geprägten Kontakt mit dem Briefwechsel entnimmt Nietzsche ihm – dank seiner erheblich größeren philologischen Kenntnisse, einer aufmerksameren Lektüre und erstaunlichen Sensibilität im Aufspüren der zugrundeliegenden Intentionen – neue Anregungen, die seines Erachtens den ‚Cultur-Werth‘ und die durch die Bayreuther Bewegung geweckten ‚großen Hoffnungen‘ bereicherten (vgl. KSA 6, 309). So erkennt Nietzsche selbst noch in seinen spärlichen Auszügen aus dem Briefwechsel mit großem Scharfsinn die Grundlagen einer neuen Poetik, die Goethe und Schiller darin entwarfen: die Aufgabe, einen höheren, normativen Gattungsbegriff von Dichtung zu gewinnen, der den allgemeinen, rein menschlichen Charakter der Kunst widerspiegelt; die Unterscheidung von poetischer Wahrheit und bloßer Naturnachahmung, die das Augenmerk auf die für die künstlerische Form konstitutiven Prozesse der Idealisierung und Symbolisierung lenkt; die Wechselwirkung von Poesie und Prosa bei dem Versuch, jene Entfernung der Wirklichkeit und jene Reinigung zu erreichen, die zu den Hauptanliegen der Kunst zählen; die Neubestimmung der literarischen Gattungen als notwendige Voraussetzung für jede poetische Objektivierung der Empfindungen und subjektiven Gefühle des Künstlers. Alle genannten Hauptthemen dieser denkwürdigen dialogischen Auseinandersetzung, in der Goethe und Schiller das Problem der Moderne und die Suche nach einem neuen Griechenland auf modernen, reflektierenden Wegen angingen, werden in Nietzsches Gedankengang neu entdeckt und leben in seinen Überlegungen mit besonderer Intensität auf. 130 So erscheinen die Probleme und Ideen, die Wagner aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe geschöpft hatte, bei Nietzsche in einem neuen Licht. Problemlos lassen sich daher, selbst in Momenten größter Treue zu Wagner, wie im Mahnruf an die Deutschen, einige durchaus bedeutsame Unterschiede ermitteln. Während der Komponist in dem Brief Schillers vom 29. Dezember 1797 sehr allgemein eine ‚Ahnung des Wesens 129
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Zu diesem Verhältnis zwischen Philologie und Musik vgl. vor allem Nietzsches Brief an Wagner vom 21. Mai 1870 und Wagners Brief an Nietzsche vom 12. Februar 1870 (vgl. KSB 3, 122–123; KSA 15, 20). Zu Wagners philologischen Studien und deren Bedeutung für sein Werk vgl. W. Schadewaldt, Hellas und Hesperien, Antike und Gegenwart, Zürich/Stuttgart 1970, S. 341–405; U. Müller, Richard Wagner und die Antike, in: RichardWagner-Handbuch, hg. von U. Müller und P. Wapnewski, Stuttgart, Kröner, 1986, S.7–18. Für die Analyse dieser Themen im Briefwechsel vgl. vor allem B. von Wiese, a. a. O.
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der Musik‘ ausgemacht hatte, erkannte der junge Philologe in fast wörtlicher Anlehnung an den Originaltext darin die mögliche Entwicklung des Trauerspiels aus der Oper in einer erneuerten und edleren Gestalt (vgl. KSA 1, 896). Fast unmerklich verschiebt sich der Akzent von der Musik zum Problem einer Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Durch eine eingehendere Untersuchung der Auszüge Nietzsches aus dem Briefwechsel lassen sich diese Akzentverschiebungen und das beständige kontrapunktische Spiel von Variationen und Überlagerungen genauer verfolgen, in dem sich die Perspektiven, die Wagner mit dem Aufgreifen von Schillers und Goethes Reflexionen zur Ästhetik eröffnet hatte, zu einem immer unauflöslicheren Gewebe verdichten. Beispielsweise leitet Nietzsche im Fragment 9 [83] aus den in enger Anlehnung an das Original zusammengefassten zentralen Gedanken des wichtigen Schiller-Briefes vom 29. Dezember 1797 131 nicht einfach das Vertrauen in die Möglichkeiten der Oper ab, sondern beschreibt diese als Endergebnis einer komplexen und vielschichtigen künstlerischen Konstruktion. Als wesentliches Gestaltungsprinzip erwähnt der junge Philologe vor allem die Verwandlung der empirischen in ästhetische Formen mittels symbolischer Verdichtung. Erst durch sie überwindet die dichterische Form die banal-verkürzende Naturnachahmung und erfährt jene Reinigung, die ihr Wesen ausmacht. Die Poesie kann so einen Grad von Intensität und sprachlicher Dichte erreichen, der sogar noch bei der Rezeption nachwirkt, denn die völlige Verschmelzung von idealer Sphäre und Stoff im Symbol und in der Musik ermöglicht ein freieres Spiel des Pathos und stimmt das Gemüt ‚zu einer schöneren Empfängnis‘. In dem Fragment 9 [83] laufen somit die Motive zusammen, denen Nietzsche in seinen Auszügen aus dem Briefwechsel besonderes Gewicht beimisst. Der Hinweis auf die Notwendigkeit der Verwendung von Symbolen, um dasjenige der Natur darzustellen, was sich nicht repräsentieren lässt, und um einen Indifferenzpunkt zwischen dem Stoff und seiner poetischen Gestaltung zu finden, steht zum Beispiel auch im Fragment 9 [77], in dem Nietzsche einige Abschnitte aus dem Brief Schillers vom 28. November 1797 über Shakespeares Richard III. wörtlich wiedergibt. Dieses Drama erschien Schiller gerade aufgrund der kraftvollen Darstellung großer Schicksale, der Ausschaltung des gemeinmenschlichen Elements als „die reine Form des tragisch Furchtbaren“ 132 und der griechischen Tragödie so erstaunlich wesensverwandt – ein Gedanke, der auf Nietzsche eine 131
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Schillers Brief schließt die Auseinandersetzung über die Unterschiede zwischen epischer und dramatischer Dichtung ab. Vgl. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, a. a. O., Bd. I, S. 444.
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besondere Anziehungskraft ausgeübt haben muss.133 Auf die ‚Idealität‘ der Dichtkunst, welche die „eindringende Wirklichkeit“ entfernt zu halten erlaube und eine dichterische Freiheit im Umgang mit dem Stoff ermögliche, kommt Nietzsche im Fragment 9 [84], worin er bestimmte Passagen des wichtigen Schiller-Briefes vom 26. Dezember 1797 anführt, 134 wieder zurück. Das Verhältnis von ‚prosaischem Stoff‘ und ‚poetischer Natur‘, um das es bei der von Nietzsche äußerst aufmerksam gelesenen Einleitung zu Die Braut von Messina geht, wird zudem im Fragment 9 [82] angesprochen, in dem Nietzsche sich mit dem Brief Schillers vom 1. Dezember 1797 befasst. Das Ergebnis dieser symbolischen Verdichtung, über den Indifferenzpunkt des Ideellen und Sinnlichen, ist eine größere dramatische Intensität und Strenge, eine „möglichst lebhafte Vorstellung der wirklichen Repräsentation“ (KSA 7, 303). Diese konzentriert in einer unwiederholbaren, bewusst erlebten Gegenwart die „affektvolle unruhige Erwartung“, das „Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens“ (ebd.), die zum Wesen der dramatischen Dichtkunst gehören. Dank dieser Intensität konnten die Dramen wieder zu „kraftvollen und treffend gezeichneten Skizzen“ werden, wie Schiller in seinem Brief vom 6. Juli 1802 schrieb, den Nietzsche im Fragment 9 [74] auszugsweise wiedergibt (vgl. KSA 7, 301). Aufbau und Struktur des Dramas sind in diesen Skizzen vereinfacht und auf wenige entscheidende Züge reduziert, die stärkere Konzentration auf das „Dramatischwirkende“ garantiert eine freie, beständige Entfaltung der „Fülle der Erfindung, um die sinnlichen Kräfte ununterbrochen zu reizen und zu beschäftigen“ (ebd.). Wichtige Mittel zur Erzeugung einer solchen dramatischen Dichte, zur Entfernung der Realität und ihrer poetischen Umgestaltung sind Versmaß und Rhythmus, deren Bedeutung Goethe und Schiller in ihrer Korrespondenz mehrfach erörterten. 135 Nietzsche geht im Fragment 9 [77] anhand einiger Zitate aus den Briefen Goethes vom 25. November und Schillers vom 24. November 1797 darauf ein: Alle dramatischen Arbeiten (und vielleicht Lustspiel und Farce zuerst) sollten rhythmisch sein und man würde alsdenn eher sehen, wer was machen kann. 133
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Zu Wagners wichtigsten Aussagen zählt Nietzsche auch dessen Interpretation des Shakespeareschen Dramas als ‚Consequenz der griechischen Tragödie‘. (Vgl. KSA 7, 241) Dieser Brief enthält Schillers Antwort an Goethe über die Probleme der Unterscheidung zwischen epischer und dramatischer Dichtung (Goethe hatte den Aufsatz zu diesem Thema gerade eingereicht). In den von Nietzsche mehrfach zitierten Briefen behandeln Goethe und Schiller das Problem des metrischen Rhythmus vor allem im Hinblick auf Entstehungsgeschichte und Konzeption des Wallenstein.
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[...] der Rhythmus – „bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das Gröbere bleibt zurück, nur das Geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden“. (KSA 7, 302)
Gerade die Gewichtung des Rhythmus führt Nietzsche zur Einsicht in die Grenzen des Wortdramas von Goethe und Schiller und zum naheliegenden Vergleich mit dem Wagnerschen Musikdrama. Die knappen Kommentare zu seinen Auszügen, die sich gewöhnlich wortgetreu an das Original halten, sprechen dabei für sich. Nach Nietzsches Ansicht bildet eher die Musik als der Rhythmus das ‚dünne Element‘, in dem das Geistige auf der Bühne seinen Ausdruck findet, denn diese bringe die von Goethe und Schiller vergebens angestrebten Effekte „noch in viel höherem Maße“ hervor (KSA 7, 302). Dasselbe Thema behandelt das Fragment 9 [75], worin es heißt, die von Schiller in den Chor gesetzten Erwartungen könnten weitaus besser von der Musik erfüllt werden, und leicht variiert wird es auch im Fragment 9 [74] angesprochen, indem die Innigkeit des Dramatikers, von der Schiller sprach, in unmittelbaren Zusammenhang mit der Musik gebracht wird. (Vgl. KSA 7, 301–302) Die Beziehung zwischen Musik und Poesie, zwischen Bild, Ton und Wort, die Wagner in seinen Opern herstellt, macht diese zu wirklich ‚treffend gezeichneten Skizzen‘ – eine Einschätzung, die schon im Fragment 9 [79] anklingt (vgl. KSA 7, 303). Durch die Musik gewannen die Opern von Wagner jene Ausdrucksfülle, Klarheit im Aufbau und dramatische Intensität, die nach Nietzsches Meinung die Wortdramen von Goethe und Schiller nie ganz erreicht hatten. Damit tritt in den Kommentaren zu den Auszügen aus dem Briefwechsel ein in den Fragmenten jener Jahre durchgängiges Leitmotiv wieder auf: der ‚Mangel an Musik‘ (vgl. KSA 7, 97; 241) und die Grenzen des Wortdramas. Goethe, Schiller und Kleist haben nach Meinung Nietzsches zwar wichtige Beiträge zu einer schrittweisen Wiederannäherung der deutschen Schauspielkunst an das griechische Vorbild geleistet, sind ihm jedoch, jeder auf seine Weise, fern geblieben. Goethe – vor allem der junge Goethe, welcher der frischen Ursprünglichkeit des Volklieds noch am nächsten kam 136 – habe die „einzigen völlig dramatischen Scenen“ geschrieben und manchmal, wie in der ursprünglichen Fassung des Faust die Möglichkeit einer über die Moderne hinausgehenden Dramatik intuitiv erkannt. Im Allgemeinen sei es aber bei vereinzelten dramatischen Szenen geblieben, die nicht, wie in der griechischen Tragödie, in eine kohärente Struktur in136
Das Thema des Volksliedes, das für die Geburt der Tragödie besonders wichtig ist, wird von Nietzsche in den Fragmenten aus dieser Zeit immer in Verbindung mit Goethe (und auch mit Wagner) behandelt.
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tegriert waren. Später habe ihn dann die „idyllische Tendenz“ immer mehr vom eigentlichen Drama entfernt. Schiller hat sicher die wichtige Rolle eines ‚Vorläufers‘ gespielt und konsequenter versucht, sich von den Konventionen der französischen Tragödie zu lösen, deren Strukturen er „mit deutschem idealem Radikalismus“ (KSA 7, 328) lebendiger gestaltete. Aber trotz seines ‚musikalischen Antriebs‘ sei seine Sprach- und Bilderwelt dem eigentlichen Drama keineswegs adäquat. Die Kluft zwischen dem Pathos Schillers und dem des Aeschylus bleibt unüberbrückbar. Der Mangel an Musik und die daraus resultierende Unmöglichkeit, Ideelles und Sinnliches, ästhetische Welt und Wirklichkeit tatsächlich miteinander in Einklang zu bringen, ließen bei den Schillerschen Gestalten einen „pathetisch monotone[n] Klang der Stimme“ vorherrschen, der sein Pathos im Vergleich zu den griechischen Vorbildern höchst unnatürlich erscheinen lasse (vgl. KSA 7, 290 f.; 328–329). Kleist dagegen sei „auf dem schönsten Wege“ gewesen und „viel höher zu stellen“ als Schiller (vgl. KSA 7, 328; 97), habe aber den Übergang von der Lyrik zum Drama, den Nietzsche als eigentliche Voraussetzung für die Tragödie ansieht, nie ganz vollzogen; außerdem konnte er sich nie völlig von der ‚politischen Wahnvorstellung‘ seiner Epoche (vgl. KSA 7, 97) befreien. Im Gegensatz zu diesen für das deutsche Wortdrama charakteristischen, gescheiterten Versuchen habe Wagner der Poesie in seinen Opern dank der Musik zu einer neuen Stellung verholfen: In einer Sprache der Gefühle, die sich ohne äußerliche oder rhetorische Kunstgriffe in dem unendlichen Reichtum ihrer nuancenreichen Modulationen entfaltet, verschmilzt die konkret wahrnehmbare Natur mit dem ästhetischen Symbol. In diesem Sinne hat Wagner vollendet, „was Schiller und Goethe begonnen haben“ (vgl. KSA 7, 280). Im Musikdrama von Wagner war zum ersten Mal eine reale Chance gegeben, die griechische Tragödie, die für Goethe und Schiller ein unerreichbarer Bezugspunkt geblieben war, wieder auferstehen zu lassen. Es wäre jedoch eine Verkürzung, sich auf diese Perspektive zu beschränken, aus der Nietzsche – vermittelt durch Wagner – Goethe und Schiller betrachtet. Wir können nämlich beobachten, wie sich bei Nietzsche – wenn auch weniger offensichtlich und schwerer fassbar – langsam eine entgegengesetzte, spiegelbildlich verkehrte Betrachtungsweise herausbildet. Zunächst scheint er sich auf die bloße Beschreibung des Wagnerschen Musikdramas mit Hilfe der von Goethe und Schiller entwickelten Begriffe zu beschränken. Allmählich verwandelt sich diese Beschreibung immer mehr in eine ‚Transposition‘ im eigentlichen Sinne, was bereits auf eine Distanznahme zu Wagner hindeutet. Durch diese Transposition wird das Gesamtkunstwerk einerseits vor neue Anforderungen und Aufgaben gestellt und in einen weiteren, noch nicht klar umrissenen
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Horizont eingeordnet; andererseits wird der tatsächliche Wert des Musikdramas immer mehr an dem Maßstab gemessen, den Nietzsche durch seine eigene gründliche Aufarbeitung der ästhetischen Überlegungen Goethes und Schillers entwickelt. Dass Nietzsche daran anschließend sogar das Thema des Schillerschen Vertrauens in die Oper nach und nach neu bearbeitet, macht die Konsequenzen dieser erweiterten Sichtweise deutlich. In einigen Fragmenten aus dem Jahre 1875, in denen Nietzsche nach Fertigstellung der ersten Abschnitte der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung deren Fortsetzung entwirft, spricht er erneut von „Schillers Ahnung“, von dessen Vertrauen in die Möglichkeit, das griechische Drama durch die Oper wieder aufleben zu lassen (vgl. die Fragmente 12 [19] und 12 [28], KSA 8, 255 f.; 265 f.). Wagners Musikdrama mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten in den drei Dimensionen von Ton, Wort und Geste, mit seiner ‚Beseelung der inneren Phantasie‘ und seiner ‚Erregung der symbolischen Bewegungsmotive‘ (vgl. KSA 8, 255) habe sich einer Verwirklichung dieser Möglichkeit außerordentlich kühn angenähert; das Drama habe sich so in die ‚Prophezeiung eines reineren Lebens‘ verwandelt – ‚im Gegensatz zu dem rückblickenden antiken Drama‘ (vgl. ebd.). In anderen Fragmenten (vgl. z. B. 11 [58], KSA 8, 243) werden diese Themen im Zusammenhang mit der Beschreibung Wagners als eines ‚dithyrambischen Dramatikers‘ – einem zentralen Aspekt der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung – erwähnt. Noch einmal kommt Nietzsche auf die entscheidenden Unterschiede zwischen Wortdrama und Musikdrama zu sprechen, wobei er mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur Synthese in der Beschreibung des Musikdramas eine verdichtete Zusammenschau aller Themen gibt, die er aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe übernommen hat: von der Auseinandersetzung über die Unterschiede zwischen epischer und dramatischer Dichtung bis zur Einleitung zu Die Braut von Messina. Indem er seine eigene Erfahrung mit Wagners Musik durch die Aufarbeitung dieser Themen filtert, gelangt Nietzsche zu einer genauen Beschreibung von Wagners Ausdrucksmöglichkeiten als ‚dithyrambischer Dramatiker‘. So lässt sich seiner Meinung nach im Wagnerschen Musikdrama jene dreidimensionale Darstellung durch Wort, Musik und Gestik gewahren, in der Schiller eine Möglichkeit gesehen hatte, dass die Theatervorstellung zu einem Ganzen wird. 137 Durch diese ‚dreifache Verdeutlichung‘ eröffnet sich der doppelte Weg, „aus einer Welt als Hörspiel in eine räthselhaft verwandte Welt als Schauspiel“ (KSA 1, 467), so dass das Musikdrama ganz 137
Vgl. F. Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in Werke in drei Bänden, Bd. 3, hg. von H. G. Gopfert, München, Winkler, 1966, S. 471.
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dem ‚schielenden‘ Charakter der Kunst, ihrer von Schiller in Über den Gebrauch des Chores 138 so genannten ‚ideellen und doch im tiefsten Sinne reellen‘ Doppelnatur entspricht. Die Musik setzt diese dreifache Verdeutlichung in gleichzeitig stattfindende Wirkungen um (vgl. KSA 1, 488); in ihr ist das Drama also wirklich ‚vollkommen gegenwärtig‘, wie Goethe und Schiller es in ihrer Charakterisierung der dramatischen Dichtung gefordert hatten. 139 Dank dieser durch die Musik bewirkten Erneuerung des Dramas ‚von Innen‘ – in Goethes und Schillers Formulierung 140 – können dessen Struktur und Gesamtaufbau vereinfacht werden. Die Darstellung gewinnt an Lebendigkeit, die Sprache wird genauer und gedrängter, die in verschiedene Richtungen strebenden Leidenschaften laufen in der ‚großen Linie einer Gesammtleidenschaft‘ zusammen (vgl. KSA 1, 494): Das Musikdrama ist folglich jene ‚kraftvolle und treffend gezeichnete Skizze‘, die Schiller als exemplarisches Vorbild vorschwebte. Der Indifferenzpunkt des Ideellen und Sinnlichen wird darin problemlos erreicht, das Gefühl der Verwunderung und der Eindruck der idealisierenden Ferne und Höhe entspringen dem völligen Aufgehen im dargestellten Stoff.141 Diese äußerste Mitteilbarkeit des Gesamtkunstwerks erlaubt dem Zuschauer ‚ein ganz neues Verstehen und Miterleben‘ (vgl. KSA 1, 489), das jene ‚Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte‘142, die Schiller als höchsten Genuss der rechten Kunst bezeichnet hatte, unendlich vertieft. Offensichtlich hat Wagner also dank der Musik die höchsten Ansprüche Goethes und Schillers zu erfüllen vermocht: Sein Musikdrama kommt ganz und gar ohne die ‚rhetorische Breite‘, die ‚Kunstgriffe‘ und die ‚absichtliche Verwickelung und verwirrende Vielgestaltigkeit‘ (vgl. KSA 1, 489) aus, auf die das Wortdrama allzu oft zurückgreifen musste, um beim Zuschauer die gewünschte Wirkung zu erzielen. Doch in dem Moment, in dem Nietzsche Wagner mit Hilfe der ästhetischen Begriffe Goethes und Schillers beschreibt, schafft er ein Bild des Künstlers, das tendenziell über den reinen Tonkünstler hinausweist. Zwar ist dies eher ein Anzeichen für die große Hoffnung, die Nietzsche in Wagner setzt, als die faktische Be-
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Vgl. ebd., S. 472. Vgl. Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller, in: Goethe, J.W. von, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12, hg. von E. Trunz, München, dtv, 1982, S. 249. Vgl. ebd., S. 250. Das Thema des Wunders, das auch in der Geburt der Tragödie wiederkehrt, ist vor allem für Wagners Operntheorie von Bedeutung; vgl. dazu D. Borchmeyer, a. a. O., S. 260. Vgl. F. Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, a. a. O., S. 471.
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schreibung seiner Opern, doch scheint sich das Bild des ‚dithyrambischen Dichters‘ allmählich immer mehr von der Person Wagner abzulösen und zu einem neuen Modell des Künstlers zu werden. Tatsächlich spricht Nietzsche in Ecce homo von genau diesem Bild als dem „des präexistenten Dichters des Zarathustra“ (KSA 6, 314) und sieht in der Darstellung der Stilmerkmale des Musikdramas eine entscheidende Vorwegnahme des „Stil[s] des Zarathustra“ (KSA 6, 315). Die Auszüge aus dem Briefwechsel und ihre Aufarbeitung verdeutlichen folglich ein Phänomen von allgemeinerem Wert: Durch eine regelrechte contaminatio von Motiven Wagners und Überlegungen Goethes und Schillers gelangt Nietzsche im Verlauf eines tiefen, umfassenden Klärungsprozesses zu einer eigenständigen ästhetischen Auffassung. Dieser Prozess lässt sich noch eindeutiger daran beobachten, wie Nietzsche die Theorie der literarischen Gattungen verarbeitet, die Goethe und Schiller in Über epische und dramatische Dichtung formuliert und gerade in denjenigen Briefen wiederholt diskutiert hatten, auf die sich der junge Philologe hauptsächlich konzentrierte. Mit Sicherheit hatte Nietzsche schon durch bestimmte Passagen des Wagnerschen Essays über Beethoven Anregungen empfangen, um sich für den Kontrast zwischen Epos und Drama und das Verhältnis der Musik zur Plastik zu interessieren. In der Folge werden diese Themen aber äußerst eigenständig weiterentwickelt und stehen – bereits mit leichten Bedeutungsverschiebungen – im Mittelpunkt der Hypothesen über den Ursprung der Tragödie. Die ursprüngliche Intention, die Goethe und Schiller zu ihrer Bestimmung der literarischen Gattungen bewogen hatte, lebt in Nietzsche wieder auf. Es geht um die Befreiung der Stilformen des Poetischen aus der Einengung in einer allzu schematischen Gattungslehre und um die Zurückführung der Kunstwerke auf ihre reinen Bedingungen, die den Künstler befähigen sollten, seine subjektiven Empfindungen zu objektivieren und zu einem höheren, umfassenderen Gattungsbegriff der Poesie zu gelangen. In den Auszügen aus dem Briefwechsel scheint die Theorie der literarischen Gattungen eher eine untergeordnete Rolle zu spielen, doch betont Nietzsche bei der Wiedergabe des Schiller-Briefes vom 1. Dezember 1797 über den Wallenstein und noch mehr in der Notiz zu dessen Brief vom 26. Dezember desselben Jahres (vgl. KSA 7, 303–304), einen wesentlichen Punkt der Schillerschen Überlegungen, und zwar die Möglichkeit einer wechselseitigen Durchdringung der Gattungen des Epischen und Dramatischen. Diese Durchdringung durfte nach Schillers Überzeugung keinesfalls mit einer bloßen Vermischung oder Grenzaufhebung verwechselt werden. Sie ergibt sich vielmehr aus der in der Gattungstheorie skizzierten
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Umdeutung der Kategorie der Zeit, die als neuester und originellster Beitrag Schillers auf diesem Gebiet anzusehen ist. 143 Die Poesie setze, so Schiller, eine enge Beziehung zwischen Nähe und Ferne, zwischen Vergangenheit und Gegenwart voraus, wenn sie ihre Hauptziele – die Entfernung der eindringenden Wirklichkeit und die poetische Freiheit gegenüber dem Stoff – erreichen soll; eben deshalb könne nur das Streben beider Gattungen, sich einander so weit wie möglich anzunähern, und die paradoxe Verschlingung der Zeiten, die sich aus ihrem unterschiedlichen Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart ergibt, beide auf das Niveau der wahrhaft authentischen Dichtung emporheben, oder, wie er es in dem von Nietzsche zitierten Brief vom 26. Dezember 1797 ausdrückte: „just das, was beide zu poetischen Werken macht, bringt beide einander nahe“. 144 Die wechselseitige Durchdringung von epischer und dramatischer Dichtung als Vorbedingung für den höchsten ästhetischen Ausdruck ist auch ein – vielleicht wenig hervorstechendes, aber deshalb nicht weniger wichtiges – Thema der Geburt der Tragödie, denn die Betonung der zentralen Funktion des Chors bei der Entstehung der Tragödie beinhaltet eine Auffassung derselben als höchstem und umfassendstem Gattungsbegriff der Poesie, in dem sich die dramatische Dichtung der Sprache der Epik bedient und diese wiederum durch die lyrische Sprache der dithyrambischen Dramatik an Vielfalt und Tiefe gewinnt. So zeichnet sich die Tragödie Nietzsche zufolge durch „einen durchgreifenden Stilgegensatz“ zwischen der dionysischen Lyrik des Chors und der „apollinischen Welt der Scene“ aus (vgl. KSA 1, 64). In der Hervorhebung dieses Gegensatzes scheint er erneut fast völlig mit Schiller übereinzustimmen, nach dessen Ansicht der Chor „mit einer kühnen lyrischen Freiheit“ ‚die Reflexion von der Handlung absondert‘ und dieser dadurch größere poetische Kraft verleiht. 145 Die Analyse dieses Gegensatzes führt Nietzsche dazu, das auf der Bühne aufgeführte Drama einfach als Vision des dionysischen Chors zu interpretieren und daher in letzterem die eigentliche Matrix der gesamten dramatischen Handlung zu sehen: In diesem Sinne erscheint die Tragödie als Objektivation eines lyrisch-dionysischen Zustands durch die episch-plastische Vision des Chores. Wird der epische Held dergestalt auf eine bloße Maske des Dionysos reduziert, so kann wiederum die dionysische Musik nur durch die ‚Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung‘ (vgl. KSA 1, 64) das wechselnde Weben ihrer gegensätzlichen, nur empfundenen Kräfte objektivieren und zum Bilde verdichten. 143 144 145
Vgl. dazu B. von Wiese, a. a. O., S. 560. Vgl. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. 1, a. a. O., S. 463. Vgl. F. Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, a. a. O., S. 476.
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Die Tragödie als Gattung, die mehr als jede andere ästhetische Lust erzeugt (vgl. KSA 1, 152), entsteht also in Nietzsches Sicht aus der Verschmelzung zweier literarischer Gattungen, bei denen es sich seiner Interpretation gemäß um die epische und die lyrische Dichtung handelt, denn das Sprechdrama sieht er als Untergattung der epischen Dichtung an. Dieser neuen Darstellung der lyrischen Dichtung, die weder in den früheren ästhetischen Reflexionen von Goethe und Schiller noch in denjenigen Wagners eine Entsprechung findet, kommt damit eine entscheidende Funktion in der von Nietzsche entworfenen Gattungslehre zu. Da der Ursprung des Chores in der lyrischen Dichtung liegt, bringt gerade die Lyrik die Tragödie hervor und erscheint darüber hinaus durch die Vermittlung des Künstlers als erster konkreter Ausdruck der Verschmelzung der beiden künstlerischen Grundbestrebungen des Apollinischen und Dionysischen. Im Zusammenhang mit dieser Neuinterpretation der lyrischen Dichtung, dieser Identifizierung des Lyrischen mit dem Tonkünstler, zitiert Nietzsche im Fragment 9 [74] den Schiller-Brief vom 18. März 1796. Obwohl er seine Neuinterpretation der lyrischen Dichtung in den vorbereitenden Fragmenten zur Geburt der Tragödie noch nicht im Detail entwickelt, findet sich in diesem Fragment bereits ein Hinweis darauf, als er die Innigkeit, die bei Schiller als Voraussetzung der künstlerischen Schöpfung erscheint, mit der Musik gleichsetzt. Schillers Darstellung der ‚musikalischen Gemüthsstimmung‘, die der ‚poetischen Idee‘ beim Entwurf des Wallenstein vorausging, 146 erweitert Nietzsche in ihrer Bedeutung bis zu einer Gleichsetzung des Lyrikers mit dem Musiker, wobei sich der indirekte Einfluss Wagners unschwer erkennen lässt. So bezeichnet Nietzsche die lyrische Dichtung, in der die Sprache vor allem die Musik nachzuahmen trachtet, als unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar werdende dionysische Musik (vgl. KSA 1, 44). Aus dieser Definition zieht Nietzsche einige sehr allgemeine Schlußfolgerungen – sicher nimmt der lyrische Dichter nicht zufällig einige Hauptmerkmale des dithyrambischen Dichters vorweg, etwa den Zustand mystischer Selbstentäußerung oder eine Sprache, die ‚Bilderfunken‘ um sich sprüht (vgl. KSA 1, 44). Er spiegelt in der Tat den der individuatio vorausgehenden Zustand wieder, dessen Bestimmung Nietzsche in seinen philosophischen Überlegungen jener Zeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte 147: Der lyrische Dichter darf danach nicht mit dem empirisch-realen Menschen verwechselt werden, sondern steht über jedem 146 147
Vgl. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, a. a. O., Bd. 1, S. 160 f.; Bd. 3, S. 112 f. Vgl. dazu vor allem KSA 7, 207. Auf diese Problematisierung der individuatio beziehen sich auch mehrere sprachphilosophische Fragmente aus dieser Periode, die die Themen von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn vorbereiten.
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vereinfachenden Subjekt-Objekt-Gegensatz; in ihm manifestiert sich der ‚Abgrund des Seins‘ (vgl. KSA 1, 44), der seinen symbolischen Ausdruck im äußeren Leben des leidenschaftlich entbrannten, liebenden und hassenden Dichters findet. Dieses neue Verständnis der lyrischen Dichtung spielt denn auch eine entscheidende Rolle bei der ‚Artisten-Metaphysik‘, die im Mittelpunkt von Nietzsches Jugendwerk steht und derzufolge ‚das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist‘ (vgl. KSA 1, 17). Sie zeigt die den lyrischen Dichter auszeichnende Möglichkeit auf, jede persönliche Leidenschaft zu überwinden und zum direkten Spiegel des Ureinen zu werden. In ihm hat sich die Trennung von dichterischem Schein und Wahrheit des Seins, die nach Ansicht Nietzsches die moderne Dichtung kennzeichnet, noch nicht vollzogen. In diesem Sinne drücken sich gerade die Lyriker der Antike wie Pindar und Simonides poetisch ohne Leidenschaft, ‚ohne persönliche Anregung‘ aus; Nietzsche sieht in ihnen Lyriker ‚ohne Pathologie‘ (vgl. KSA 7, 273). So betrachtet knüpft die Neubestimmung der lyrischen Dichtung unmittelbar an die Analyse des pathologischen Charakters der modernen Kunst an, die Nietzsche den Briefen Goethes vom 9. und 27. Dezember 1797 entnommen hat. Mit ihrer Dominanz der subjektiven Leidenschaften, auf der Suche nach dramatischen Effekten, die sich aus dem Aufeinanderprall gegensätzlicher Gefühle ergeben, und der Unfähigkeit zu einer Reinigung dieser Zustände höchster Verwirrung – die auch nicht durch den Symbolismus oder die Verschmelzung von Epik und Dramatik, auf die Goethe in seinem von Nietzsche zitierten Brief vom 27. Dezember hinwies, gelingt –, erscheint die moderne Bühnendichtung Nietzsche in Anlehnung an Goethe pathologisch. Im Gegensatz dazu hätten die großen Griechen selbst in Momenten höchster dramatischer Intensität gelassen, ‚ohne Leidenschaft‘ gedichtet (vgl. KSA 7, 306), hätten noch nicht zwischen Schein und Wahrheit geschwankt. (Vgl. KSA 7, 117) Da sie das dargestellte Geschehen als vollkommenen Schein auffassten und daher den auf der Bühne dargestellten Schmerz in sublime ästhetische Lust umzuwandeln verstanden, vermochten sie über der Tragik dieses Geschehens zu stehen. Darüber hinaus nahmen sowohl die Dichter als auch die Zuschauer als ‚potenzierte Schauspieler‘ am Drama teil (vgl. KSA 7, 307); in ihnen lebte noch etwas von jener dramatischen Improvisation weiter, die ursprünglich ein Merkmal des Chors gewesen war und die auch bei Aeschylus ihre Spuren hinterlassen hatte. Daher konnten die Zuschauer dasselbe Verhältnis zur Bühne einnehmen wie der Dichter zu seinem Werk: über jede Leidenschaft erhaben, doch stets bereit, über die Symbolsprache des Mythos ganz im Ureinen aufzugehen.
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Diese Gegenüberstellung des pathologischen Charakters des modernen Dramas und des nicht-pathologischen der griechischen Tragödie bildet in der Geburt der Tragödie den Hintergrund, vor dem Nietzsche schließlich die Zielsetzung der Tragödie neu diskutiert, wobei er bewusst über die aristotelische Poetik hinausgeht. Seiner Meinung nach hat Aristoteles die durch die Tragödie ursprünglich erzielte Wirkung nicht erklärt. Seine Beschreibung entspreche dem Endstadium der tragischen Kunst, in dem ihr Auflösungsprozess bereits begonnen habe. So könne die Katharsis, in der Furcht und Mitleid zusammenkommen, zwar die Wirkung der Dramen des Euripides erklären, doch dominierten darin schon die Dialektik und der ‚pathologische Traum‘ (vgl. KSA 7, 222). Goethes Ahnung hinsichtlich des unpathologischen, leidenschaftslosen Charakters der griechischen Tragödie legt Nietzsche dagegen eine andere Erklärung der ursprünglichen tragischen Wirkung nahe, denn seines Erachtens ist die von Goethe in seinem Brief vom 9. Dezember 1797 aufgeworfene Frage 148 affirmativ zu beantworten, „nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein ästhetisches Spiel sein kann“ (KSA 1, 142). Was im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe nur als Frage auftauchte, verwandelt sich in der Geburt der Tragödie in das Grundprinzip der ‚ArtistenMetaphysik‘, aus deren Sicht Dasein und Welt sich nur ästhetisch legitimieren lassen. (Vgl. KSA 1, 152) Zu dieser Voraussetzung der ‚Artisten-Metaphysik‘ gelangt Nietzsche in dem Moment, da er auf der Grundlage von Goethes Ausführungen seine eigene Erfahrung als Zuschauer des Tristan kritisch nachvollzieht, der seiner Meinung nach die musikalische Tragödie par excellence darstellt. Gerade die ‚gefährliche Fascination‘, die ‚schauerliche und süße Unendlichkeit‘ des Tristan (vgl. KSA 6, 289) bilden für den jungen Philologen die notwendige ‚Brücke‘ (vgl. KSA 7, 566), 149 um dem ursprünglichen Phäno148
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Goethe hatte in seinem Brief geschrieben: „Ich kann mir den Zustand Ihres Arbeitens recht gut denken. Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse ist es auch mir niemals gelungen, irgendeine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein? daß das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muß, um ein solches Werk hervorzubringen.“ (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. 1, a. a. O., S. 451). Nietzsche beschreibt in diesem Fragment seine persönlichen Erlebnisse während der Aufführung des Tristan in München im Jahr 1872, doch hatte er bereits im Brief an Wagner vom 10. November 1870 über die Bedeutung dieser Oper geschrieben. Jedenfalls beschreibt er seine Erlebnisse erneut mit den von Goethe und Schiller entlehnten Begriffen, wenn er vor allem von der ‚pathetischen Ruhe‘ der Sänger spricht; nach Schiller bestand die Wirkung des Chors in der Tragödie gerade darin, Ruhe in die Handlung zu bringen (vgl. Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, a. a. O., S. 476).
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men der Tragödie näher zu kommen. Dieser Wagner-Oper sind einige wichtige Seiten der Geburt der Tragödie gewidmet: Der Tristan erscheint Nietzsche als künstlerischer Ausdruck in seiner höchsten Vollendung, in der sich die musikalische Dissonanz und die plastische Darstellung des Dramas getroffen und in ihren fast magischen Wirkungen gegenseitig bereichert haben. Was an dieser Oper so sehr fasziniere, sei gerade das vollkommene Gleichgewicht von Apollinischem und Dionysischem: Der Effekt orgiastischer Selbstvernichtung, der durch die unbegrenzte Modulation der dionysischen Musik entstehe, werde darin in bewundernswerter Weise von der apollinischen Verklärungskraft aufgefangen, mit der sich die epische Darstellung des Helden und seiner Taten langsam vor unseren Augen entfalte. So täusche die apollinische Kraft den Zuschauer „über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe“ (KSA 1, 137). In diesem Ausgleich zwischen aufbauenden und zerstörerischen Kräften, diesem Indifferenzpunkt des Apollinischen und des Dionysischen, kommt jene ‚höchste künstlerische Urfreude‘ (vgl. KSA 1, 141) zum Ausdruck, die „uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart“ (KSA 1, 153). In diesem Sinn hat der Tristan – wie die Musik Wagners überhaupt – die „Urtendenz der Oper, die i d y l l i s c h e , bis zu ihren Consequenzen geführt“ (KSA 7, 329); er stellt im Grunde jene ‚neue Idylle‘ dar, durch die Schiller gern den ‚Übertritt des Menschen in den Gott‘ und die neue Erzeugung des Naiven aus dem bis zum Äußersten getriebenen Sentimentalischen umgesetzt hätte. 150 Auch für Nietzsche vollendet der Tristan die sentimentalische Bewegung und lässt erstmals den Begriff des Klassischen verwirklichbar erscheinen. (Vgl. KSA 7, 331) Bei seinem Versuch, diese mögliche Wiedergeburt der Tragödie aus der im Tristan vollendeten Operntendenz zu konkretisieren, bezieht sich Nietzsche bezeichnenderweise gleichermaßen auf Aeschylus wie auf Wagner. 151 Ebenso wichtig ist 150
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Zur Theorie der neuen Idylle bei Schiller vgl. B. von Wiese, a. a. O., S. 545 f.; G. Kaiser, Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1978; A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, Bonn, Bouvier, 1984 (Hegel-Studien, Bd. 25). Zu diesem Thema verweisen wir außerdem auf das Kapitel 7 dieses Buchs. Zu Wagners Verhältnis zu Aeschylus vgl. W. Schadewaldt, a. a. O., und U. Müller, a. a. O. Die Parallele zwischen Aeschylus und Wagner kehrt in Nietzsches Fragmenten und Werken der Basler Zeit mehrfach wieder. Zu Nietzsches Interpretation von Aeschylus als lmprovisator vgl. Cosimas wichtige Tagebuch-Eintragung vom 29. Mai 1871 (Bd. 1, a. a. O., S. 393). In seiner Aeschylus-Deutung wendet Nietzsche Wagners Ideen über die künstlerische Improvisation und über Shakespeare als Improvisator auf Aeschylus an (zu diesen Ideen bei Wagner vgl. D. Borchmeyer, a. a. O., S. 59 ff.).
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es, daß er bei der Eröffnung dieses neuen ästhetischen Horizonts noch einmal auf den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe zurückgreift. So schließt der Entwurf eines Nachwortes zur Geburt der Tragödie, den er im Fragment 25 [1] aus dem Winter 1872–73 skizziert und in dem er die Möglichkeit einer Überwindung sogar des Tristan systematischer bestimmt, mit einem Zitat aus dem Brief vom 8. April 1797, in dem Goethe erneut auf den Unterschied zwischen epischer und dramatischer Dichtung und die Probleme bei der endgültigen Fassung von Hermann und Dorothea eingeht. Sehr wahrscheinlich hatte der folgende Abschnitt Nietzsches Aufmerksamkeit auf den Brief gelenkt: Ich wünsche die Materie, die uns beide so sehr interessiert, bald weiter mit Ihnen durchzusprechen. Diejenigen Vorteile, deren ich mich in meinem letzten Gedicht bediente, habe ich alle von der bildenden Kunst gelernt. Denn bei einem gleichzeitigen, sinnlich vor Augen stehenden Werke ist das Überflüssige weit auffallender als bei einem, das in der Sukzession vor den Augen des Geistes vorbeigeht. Auf dem Theater würde man große Vorteile davon spüren. So fiel mir neulich auf, daß man auf unserm Theater, wenn man an Gruppen denkt, immer nur sentimentale oder pathetische hervorbringt, da doch noch hundert andere denkbar sind. So erschienen mir diese Tage einige Szenen im Aristophanes völlig wie antike Basreliefen und sind gewiß auch in diesem Sinne vorgestellt worden. Es kommt im ganzen und im einzelnen alles darauf an: daß alles voneinander abgesondert, daß kein Moment dem andern gleich sei, so wie bei den Charakteren, daß sie zwar bedeutend voneinander abstehen, aber doch immer unter ein Geschlecht gehören. 152
Dieser Ausschnitt muss Nietzsche in erster Linie wegen der Analyse der Beziehung zwischen Theater und bildender Kunst angezogen haben, denn er übernimmt vor allem den Gedanken, dass die szenischen Gruppen nicht auf das Pathetische oder Sentimentale festzulegen seien, sondern, fast wie Basreliefs, alle Momente und dramatischen Charaktere klar voneinander abgrenzen. Dieser Gedanke spielt eine entscheidende Rolle bei Nietzsches Versuch, Aeschylus als „plastischen Komponisten“ zu verstehen, „sowohl in der plastischen Bewegung einer einzelnen Szene, als in der Gesammtfolge der plastischen Compositionen im ganzen Kunstwerk“ (KSA 7, 569). Er scheint Nietzsche überdies „einen Abgrund künstlerischer Kräfte“ (ebd.) zu erschließen, indem er ihm hilft, Aeschylus und den Dramatiker überhaupt als „Gesammtkünstler“ im eigentlichen Sinne zu begreifen, und ihn die Möglichkeit ahnen lässt, sogar über den Tristan hinauszugehen. 152
Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. 1, a. a. O., S. 378. In der dritten Ausgabe des Briefwechsels (hg. von W. Vollmer, Stuttgart 1870), die Nietzsche gelesen hatte, entspricht der zitierte Brief gerade diesem Brief von Goethe vom 8. April 1797.
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Um diese Möglichkeit zu verwirklichen, müsste man nach Nietzsches Ansicht den Tristan umgestalten in „die allergrößte Symphonie: deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch eine Handlung versinnlicht werden kann“ (KSA 7, 324). Diese Symphonie käme dann dem antiken Dithyrambus erstaunlich nahe (vgl. KSA 7, 296), der aus seiner lyrischen Musikalität die plastische, mimische Vision der dramatischen Darstellung wieder aufleben lassen könnte. 153 Damit würde auch die unnatürliche Position des Opernsängers aufgehoben (vgl. KSA 7, 275–277), durch die sich die Musik auf ein ‚mimisches Pathos‘ reduziere, da das Orchester nur als Verstärkung der sich gleichzeitig auf der Bühne abspielenden Mimik von dramatischen Sängern gedacht werde (vgl. KSA 7, 330). Würde man den Opernsänger dagegen wieder in den Chor verlegen – eine Möglichkeit, die Nietzsche schon für den Tristan sah (vgl. KSA 7, 276 f.) –, so ließe sich die korrekte Beziehung zwischen Musik und Wort, das Nacheinander der Musik und des Mimus durch die an die Musikerregung anschließende szenische Vision wiederherstellen (vgl. KSA 7, 282). Nach Nietzsche war dieses Nacheinander von Musik und Wort für die Dramen des Aeschylus konstitutiv: Aus der idealen Höhe der Chorempfindung heraus beginnen die plastischen Gruppen auf der Bühne sich langsam zu bewegen, gleichsam wie belebte Basreliefs, und nach und nach durchbrechen sie ihr Schweigen und improvisieren die dramatische Handlung, die sich auf der Bühne abspielt. (Vgl. KSA 7, 295; 312) Aber mehr als um eine Umwandlung der Wagner-Oper in das Drama des Aeschylus geht es Nietzsche bei diesem Verhältnis von Musik und gesprochenem Text, bei dieser Übereinstimmung des Klanges der menschlichen Stimme mit dem Orchester darum, „die natürlichste und abgeschwächteste Vereinigung von Musik und Bild in der menschlichen Sprache“ (KSA 7, 232) zu finden. Das Konzept des Klassischen, das sich aus der vollen Entfaltung der musikalischen Dissonanzen des Tristan ergibt – bei dessen Beschreibung Nietzsche äußerst hellsichtig zahlreiche Aspekte der Literatur des fin de siècle vorwegnimmt –, ist nicht länger eine normative Ästhetik mit dem Ziel, das Kunstwerk zur Reinheit der ursprünglichen Norm zurückzuführen; es geht dabei vielmehr um jene „Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“ (KSA 6, 344), die den dithyrambischen Künstler auszeichnet. 154 Indem Nietzsche in überraschender Weise zwei zentrale Aspekte des ästhetischen Diskurses der Mo153
154
Der Unterschied zwischen Mimus und Rhapsode, auf den sich Goethes und Schillers Theorie der epischen und dramatischen Dichtung gründet, wird in Nietzsches in dieser Zeit entstandenen Fragmenten über den Tristan mehrmals angesprochen. Zum Begriff des Klassischen bei Nietzsche vgl. M. Montinari, Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe, in: Nietzsche lesen, a. a. O., S. 56–63.
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Das Klassische als Vollendung des Modernen
derne aufeinander bezieht, eröffnet er dem künstlerischen Schaffen eine neue Dimension, die in ihrem Bedeutungsreichtum vielleicht noch nicht ganz erkannt wurde. In seiner Konzeption wird nicht nur der ‚allgemeine Text‘, den die literarische Tradition in einer langen, auf mehreren Ebenen fortschreitenden Geschichte herausgebildet hat und dem er immer wieder neue Aspekte abgewinnt, auf die ursprüngliche Offenheit der Sprache zurückgeführt, die uns den ‚Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes‘ und sein Werden verdeutlicht (vgl. KSA 1, 138). 155 Gleiches gilt vielmehr auch für die Vielzahl feststehender Begriffe, auf die sich seines Erachtens jede Form wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis zurückführen lässt.
155
Für einen Entwurf der Geschichte des literarischen Diskurses der Moderne, vgl. H. R. Jauß, Der literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adorno, in: AdornoKonferenz 1983, hg. von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1983, S. 95–130. Jauß unterscheidet drei wesentliche Momente in dieser Geschichte, wobei der erste mit Goethe und Schiller, der zweite mit Baudelaire zusammenfällt, obwohl die Charakteristika dieses zweiten Moments auch für Wagner gelten könnten (den Nietzsche jedenfalls zu Baudelaire in Bezug bringt). Zur Idee eines ‚allgemeinen Textes‘ (vor allem bei Derrida) vgl. J. Culler, On Deconstruction, London 1983. Den Versuch einer Erneuerung der Sprache als zentralem Element der Umwertung der Wissenschaft in Kunst – wie sie auch die Idee des ‚musiktreibenden Sokrates‘ ausdrückt – unternahm mit anderen Mitteln, aber nicht ohne Bezugnahme auf Nietzsche, auch Robert Musil – um an ein wichtiges Beispiel aus der Literatur unseres Jahrhunderts zu erinnern: vgl. dazu A. Venturelli, Robert Musil und das Projekt der Moderne, Frankfurt/Main, Lang, 1988.
Dritter Teil Nietzsches Denken in der Konstellation der Moderne
Kapitel 7 Das Erhabene und das Komische. Nietzsche und die nachhegelsche Ästhetik Die Schwierigkeit, schrieb Marx in den Schlussfolgerungen seiner Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie an einer der berühmtesten Stellen zu seiner Kunstauffassung, bestehe nicht darin, das Verhältnis zwischen Kunst und gesellschaftlicher Entwicklung in der griechischen Antike zu begreifen, sondern zu verstehen, warum diese Kunst noch heute einen ästhetischen Genuss hervorrufe und ein unerreichbares Modell darstelle. Um eine Antwort auf dieses Problem zu finden, verglich Marx den Geschichtsverlauf der abendländischen Zivilisation mit den Altersstufen des Menschen: Wie ein reifer Mensch in der Naivität des Kindes ein Bild der Vollkommenheit gewahre, das auf einer höheren Stufe der Wahrheit reproduziert werden müsse, so erblicke die Geschichte des Abendlands in Griechenland die eigene Kindheit und ursprüngliche Wahrheit, die im schönsten Moment ihrer Entwicklung erreicht wurden. 156 Die Vorstellung einer Rückkehr zu dieser höheren Stufe der Wahrheit und Freiheit durch den Geschichtsverlauf ist der von Marx theoretisierten allgemeineren Auffassung der geschichtsimmanenten Dialektik nicht fremd. Im Zeichen des von Heraklit zur Charaktierisierung der weltbildenden Kraft evozierten Kindes schließt bekanntlich die Geburt der Tragödie. Doch erscheint das Kind hier nicht länger als Bild einer widerspruchsfreien, ursprünglichen naiven Ganzheit, sondern als treffendste Metapher für jene Metaphysik der Kunst, die die Ungleichgewichte und Dissonanzen der Welt selbst als ästhetisches Phänomen zu begreifen vermag. Wie das spielende Kind stets von Neuem Sand- oder Steinhäufchen formt und zerstört, so entspringt das Dionysische als höchster Ausdruck jeder künstlerischen Erscheinung einem Willen, der in der ewigen Fülle seiner Lust mit sich selbst spielt (vgl. KSA 1, S. 152). An die Stelle der noch bei Marx vorhandenen Bezugnahme auf eine ursprüngliche Kindheit der Menschheit tritt hier eine unumgängliche, unauflösbare Wechselbeziehung zwischen 156
Vgl. dazu K. Marx, Einleitung zu Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: K. Marx, F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. 2/1.1, Ökonomische Manuskripte 1857/58, S. 44–45.
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Schönheit und Kontrast, die sich in immer komplexeren, labyrinthischeren Formen fortentwickeln sollte. Für seine Betrachtungen über die griechische Kunst in den Grundrissen hatte Marx seine Exzerpte aus Friedrich Theodor Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen benutzt, die er sehr gründlich gelesen hatte. Schon Lukacs hat auf die große Bedeutung dieser Exzerpte für die Herausbildung der Marxschen Kunstauffassung, insbesondere die der griechischen Kunst, hingewiesen. 157 Fast zwanzig Jahre nach Marx zog auch Nietzsche den Text von Vischer heran und bezog wichtige Anregungen für die genauere Ausformulierung seiner Konzeption der literarischen Gattungen und der besonderen Position der Tragödie innerhalb seiner Gattungslehre daraus. 158 Vischer lieferte Nietzsche also die Möglichkeit, sich – wenigstens indirekt – mit der Hegelschen Unterteilung der literarischen Gattungen auseinanderzusetzen und durch diese Auseinandersetzung zu den von Hegel verwendeten klassisch-romantischen Quellen zurückzukehren, wobei die Schillersche Poetik eine besondere Berücksichtigung erfuhr. 159 Jenseits allgemeinerer Bewertungen jener Konstellation der Moderne, an der Marx und Nietzsche als unbestrittene Protagonisten teilhaben, stellt ihre Auseinandersetzung mit der Ästhetik Vischers somit einen der raren indirekten Berührungspunkte zwischen den beiden Denkern dar, an dem sich mögliche Affinitäten und grundsätzliche Divergenzen zwischen ihren Begriffswelten nachvollziehen lassen. Der gewählte Beobachtungsstand mag im Verhältnis zu den großen, für Marx’ bzw. Nietzsches Denken besonders charakteristischen Themen marginal erscheinen, doch lassen sich, was letzteren angeht, durch das Verhältnis zu Vischer einige rückblickende Feststellungen Nietzsches über den hegelschen Charakter der Geburt der Tragödie (vgl. KSA 6, S. 310), die andernfalls eher erstaunlich wirken, besser verstehen und einordnen. Im Falle Marxens deutet allein der Umfang der Exzerpte darauf, dass er der dialektischen Vertiefung der Beziehung zwischen Ideal und Wirklichkeit, die ein Leitmotiv der Ästhetik Vischers bildete, große Bedeutung beimaß. Die marxschen Auszüge enthalten keine kritischen Betrachtungen, sondern stellen sorgfältige Zusammenfassungen einiger grundlegender 157 158
159
Vgl. G. Lukacs, Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Berlin, Aufbau-Verl., 1954. Aus der Universitätsbibliothek Basel entlieh Nietzsche am 7.5.1870 den Bd. 4 der Aesthetik von Friedrich Theodor Vischer; vgl. dazu L. Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869–1879), in: „Nietzsche-Studien“, 23 (1994), S. 388–442. Vgl. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II, hg. von W. Fietkau, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1974, S. 126; vgl. auch S. 183.
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Teile von Vischers Ästhetik dar, in deren Mittelpunkt die Metaphysik des Schönen – Thema des ersten Bandes – und die Abhandlung über das natürliche Schöne und die menschliche Schönheit – Themen des zweiten Bandes – stehen. An der Abhandlung über die menschliche Schönheit interessierte Marx besonders Vischers Analyse der Geschichte der Phantasie und des Ideals bis zu dem Augenblick, da beide zu ihrer klassischen Form fanden und in der griechischen Kunst ihre höchste Vollendung erreichten. In den abschließenden Betrachtungen der Einleitung zu den Grundrissen werden Überlegungen, die durch die Lektüre von Vischers Ästhetik angeregt wurden, frei weiterverarbeitet: Marx verwendet den Text in erster Linie als systematische Material- oder Datensammlung, ohne den theoretischen Ansatz unbedingt zu teilen. Bekanntermaßen macht Marx in der besagten Einleitung die Zeitverschiebung zwischen bestimmten Blütezeiten der Kunst und der allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung zu seinem Reflexionsgegenstand. Es besteht seines Erachtens keinerlei mechanischer Zusammenhang zwischen dem Fortschritt im Bereich der Technik und Produktionsprozesse einerseits und der Entstehung einer bedeutenden Kunst und Kultur andererseits. Das schlagendste Beispiel für diese Verschiebung bilde gerade die große künstlerische Blüte, insbesondere des Epos, im klassischen Griechenland. Marx stellt den Schöpfungen der antiken hellenischen Mythologie die rein prosaische Welt der kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart gegenüber. Diese scheinbar entheiligende Gegenüberstellung impliziert eine spezifische Konzeption der Mythologie und der ihr innewohnenden Fähigkeit zu einer originellen ästhetischen Elaboration, die Marx unmittelbar von Vischer übernahm. Wie bereits angedeutet, hatte dieser sich insbesondere der Geschichte der Phantasie zugewandt; einen Höhepunkt dieser Geschichte bildete ihm zufolge das klassische Ideal, das die griechische Antike in vollendeter Form ausgedrückt hatte. Dieser Sicht des Geschichtsverlaufs lag bei Vischer die klare Unterscheidung zwischen einer noch religiös bestimmten Epoche der Phantasie und einer durch das Vorherrschen einer weltlichen, ungebundenen Phantasie gekennzeichneten Moderne zugrunde. Diese Unterscheidung Vischers übte einen tiefen Einfluss auf die marxsche Bestimmung des Kontrasts zwischen Antike und Moderne aus. Marx betont dabei vor allem die eigentümliche Beziehung jeder künstlerischen Äußerung zur Mythologie: Letztere besitze die Fähigkeit, die Naturkräfte dank der Imagination zu beherrschen und zu formen. Schon Vischer zufolge war die Natur durch die Phantasie begeistet; es sei ihr daher nach und nach gelungen, handlungsfähige Gottheiten hervorzubringen, bis eine eigentlich mythologische Dimension entstand. Folglich habe der griechische Künstler seine
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Kreativität nicht außerhalb der Mythologie ausdrücken können, von der es keine mögliche Emanzipation oder Befreiung gab, und die Phantasie der Völker sei eng an die Schöpfungen der eigenen Vorstellungswelten gebunden geblieben. 160 Die Unterscheidung zwischen ägyptischer und griechischer Mythologie, die Vischer frei bei Hegel entliehen hatte und die Marx seinerseits von Vischer übernahm 161, zeigt, dass Marx an dieser Stelle seiner Grundrisse die Erinnerung an seine aufmerksame Lektüre der Ästhetik des Tübinger Philosophen deutlich vor Augen stand: Vischer zufolge hatte die griechische Kunst orientalische Elemente verarbeitet, sie jedoch vom ägyptischen Symbolismus zu befreien und innerhalb einer originellen Vision der Mythologie fortzuentwickeln gewusst, so dass die Herstellung einer neuen fruchtbaren Beziehung zwischen Ethik und Natur gelang. 162 Natürlich arbeitete Marx Vischers Ideen – sein besonderes Interesse fand die Vorstellung, die allgemeine Phantasie sei nichts anderes als die Phantasie eines Volks in der Bewegung seiner Geschichte 163 – mit großer Freiheit weiter aus und gelangte dabei zu einer umfassenden Interpreta160
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Vischer behandelte diese Themen im Abschnitt 427 seiner Ästhetik. Vgl. F. Th. Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Theil, Das Schöne in einseitiger Existenz, Bd. 2, hg. von R. Vischer, München, Meyer-Jessen, ²1922, S. 498–503. Dieser Abschnitt gehört zu einer umfänglicheren Sektion über Die Geschichte der Phantasie oder des Ideals, die Marx nach Lukacs’ Ansicht besonders sorgfältig exzerpierte. Vgl. K. Marx, a. a. O., S. 45. Mit Nietzsches möglicher Kenntnis des Marxismus befasste sich im Detail Thomas H. Brobjer, Nietzsche’s Knowledge of Marx and Marxism, in: „Nietzsche-Studien“, 31 (2002), S. 298–313. Obgleich ohne unmittelbaren Themenbezug, ist Wolfgang Müller-Lauters Untersuchung zu Nietzsches Lektüre von Emanuel Herrmann, Cultur und Natur, Studien im Gebiete der Wirtschaft (1887), für eine indirekte Gegenüberstellung von Nietzsches Denken und Marxismus von großem Wert; vgl. W. Müller-Lauter, Das Ganze und die Ökonomie, zweiter Teil von Über „das Ganze“ und über „Ganzheiten“ in Nietzsches Philosophie, in: Über Freiheit und Chaos, a. a. O., S. 173–227. Auf allgemeinerer Ebene lassen sich einige Vergleichsmöglichkeiten zwischen Nietzsche und Marx herleiten aus Renate Reschke, Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur ansporenden Verachtung der Zeit, Berlin, Akademie, 2000 und aus Urs Marti, Der große Pöbel und Sklavenaufstand. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, a. a. O. Für die Verortung dieser möglichen Vergleiche zwischen Nietzsche und Marx im Rahmen der italienischen Nietzsche-Forschung verweise ich auf meinen Beitrag Die Wiederentdeckung des Negativen. Nietzsche und der Neomarxismus in Italien, in: „Nietzsche-Forschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft“, 9 (2002), S. 381–389. Die Stellung der ägyptischen Kunst innerhalb der Geschichte der Schönheit untersucht Vischer im Abschnitt 347 seiner Ästhetik (vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 503–529). Auf den orientalischen Dualismus kommt er, unter anderem mit Bezug auf die ägyptische Kunst, in den Abschnitten 428–433 über die Geschichte der Phantasie oder des Ideals zurück (vgl. a. a. O., Bd. 2. S. 503–529), insbesondere im Abschnitt 432. „Die allgemeine Phantasie ist näher die Phantasie eines Volks in der Bewegung seines geschichtlichen Lebens“, hatte Vischer im Abschnitt 436 seiner Ästhetik festgestellt. (Vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 539)
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tion der materiellen Grundlagen der griechischen Mythologie, auch wenn seine Charakterisierung der ökonomischen und gesellschaftlichen Geschichte des Griechentums sich eher einem Vergleich mit den Produktionsverhältnissen der Moderne als spezifischen Untersuchungen verdankte. Jedenfalls fehlte eine so genaue Beziehung zwischen historischer und ästhetischer Entwicklung, wie Marx sie herstellte, bei Vischer völlig. All dies bildet indes nur ein erstes Moment der von Marx in seiner Einleitung zu den Grundrissen entwickelten Überlegungen. Der entscheidende Punkt war für Marx nämlich nicht die bloße Beziehung zwischen künstlerischer Schöpfung und Gesellschaftsstruktur, sondern die allgemeinere Frage, warum ein Kunstwerk auch dann weiterhin einen ästhetischen Genuss hervorruft, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entstehung längst untergegangen sind. Marx war zutiefst vom inneren Wert der griechischen Klassik überzeugt, auch wenn er sie freilich nicht als stets nachahmenswertes, wenngleich unerreichbares normatives Modell verstand; seines Erachtens mussten die materiellen Bedingungen, unter denen jene ästhetische Ganzheit hätte wiederentstehen können, durch die konkrete Dialektik der historischen Bewegung neu geschaffen werden. Das Griechentum liefert ihm also das unübertroffene Modell einer nicht entfremdeten, vom Warenfetischismus freien Gesellschaft, in der ein echter Ausdruck von Freiheit sich wenigstens hatte andeuten können. Obwohl Marx die von Vischer vertretenen Auffassungen des Griechentums kaum in ihrer Gesamtheit teilen konnte, klingen einige zentrale Themen der Ästhetik zu diesem Thema in seinen Überlegungen an. Dies betrifft nicht nur den Gegensatz zwischen Griechentum und Moderne, zwischen natürlicher und ungebundener Phantasie, der die tragende Struktur dieses Abschnitts der Grundrisse bildet. Vielmehr knüpft Marx auch bei dem Versuch, eine Antwort auf das Problem der zeitlichen Verschiebung zwischen ästhetischem Genuss und Gesellschaftsstruktur zu finden, direkt an Vischers Charakterisierung des Griechentums als Kindheit der Menschheit, als Phase der Jugend innerhalb der Gesamtentwicklung der Menschheitsgeschichte an 164: Die Griechen werden als Naturvolk, Ausdruck einer ursprünglichen Wahrheit aufgefasst, welche die Bewegung des Geistes auf einer höheren Ebene – durch die Entwicklung eines entsprechenden Bewusstseins – neu erzeugen müsse. Auch wenn Marx das Konzept der Entwicklung des Geistes durch die eingehende Untersuchung der konkreten Mechanismen der historischen Dialektik überwindet, bleibt er dennoch vom paradigmatischen Wert des Griechen164
Von den „Bubenjahren“ der hellenischen Kultur spricht Vischer im Abschnitt 436 seiner Aesthetik (vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 539).
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tums als eines Modells überzeugt, das der Geschichtsprozess auf einer bewussten Ebene neu hervorbringen und reproduzieren müsse. Wie für Vischer und die lange klassisch-romantische Tradition, die in seiner Ästhetik eine vollständige Systematisierung fand, stellte das Griechentum auch für Marx weiterhin ein an und für sich klassisches Ideal, einen universell gültigen Bezugspunkt für jede Bildung und jede Bewegung hin zu einem wahren Ausdruck der Freiheit dar. Der von Marx im ersten Teil dieses Abschnitts der Grundrisse entwickelte Gedankengang stützte sich, wie gesagt, auf die Abfolge vom Symbol zum Mythos und zur Legende, die Vischer theoretisiert hatte; den nächsten Schritt dieser Aufeinanderfolge hatte Vischer als Erreichen des Ideals beschrieben. Natürlich folgt Marx Vischer nicht explizit in der Darlegung dieser Abfolge, implizit bleibt er der Vorstellung vom normativen Wert des Griechentums jedoch verhaftet. Dabei erachtet er es als notwendig, die spezifische Funktion der griechischen Antike im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu begreifen, um dieses klassische Ideal und seine vollendete Gestaltung in der griechischen Kunst in seinen grundlegenden Zügen definieren zu können. Vischer lieferte Marx einige Denkanstöße für diese Beschreibung des Griechentums. Ein großes Verdienst der griechischen Kultur hatte nach dessen Ansicht darin bestanden, dass sie über den vom Orient geerbten starren Dualismus hinauszugelangen vermochte. In Griechenland sei die Herstellung eines wunderbaren Gleichgewichts zwischen Natur und Geist, Sinnlichkeit und Ethik gelungen, und gerade dieses Gleichgewicht habe die Griechen zum unübertroffenen Vorbild eines ethischen Volks gemacht, das die moralischen Normen spontan respektierte, ohne dass man zu Zwang oder strengen juristischen Kodifizierungen greifen musste. Griechenland erschien Vischer folglich als Modell einer vollendet liberalen Gesellschaft, wo Freiheit und Demokratie eine harmonische Sozietät hervorgebracht hatten. In jedem Fall wollte er sich von der idealistischen Auffassung distanzieren, wie der Schöngeist der Weimarer Klassik sie vertreten hatte. Er zeigte ein klares Bewusstsein der Kontraste, Kämpfe und inneren Grenzen, unter denen die griechische Kultur sich bewegt hatte, und entwickelte unter diesem Aspekt den Gedanken der wechselseitigen Durchdringung von Geist und Materie, Realismus und Idealismus fort, der das grundlegende philosophische Fundament seiner Ästhetik darstellt. Trotz seines Bewusstseins der Grenzen und Kontraste blieb die griechische Antike für Vischer indes das Modell einer reinen Menschheit und einer Gesellschaft, in der jeder Aspekt des Lebens von Schönheit und Kunst durchdrungen war, was sich der für die griechische Kultur prägenden besonderen Beziehung zwischen Mensch und Gottheiten verdankte:
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Vischer zufolge war der griechische Polytheismus gleich weit von der Starrheit asiatischer Prägung, die den jüdischen Monotheismus kennzeichnete, wie von dem für die orientalische Religiösität charakteristischen Tiersymbolismus entfernt. So habe der hellenische Polytheismus eine harmonische, freundschaftliche Beziehung zwischen Göttern, Menschen und Natur geschaffen, die auch die Entstehung einer freien Ethik ohne Zwang ermöglichte, in der Gleichgewicht und Maß spontan und konfliktfrei zustande kamen. Aus diesem Grunde sei alles in der griechischen Kultur, bis hin zum bescheidensten Alltagsgegenstand, von einer ursprünglichen Schönheit durchdrungen gewesen und habe einen besonderen ästhetischen Wert besessen: eine Schönheit und ein ästhetischer Wert, die sich spontan aus der wechselseitigen Durchdringung von Geist und Materie, Idee und Sinnlichkeit ergaben. 165 Gleichzeitig hatte die griechische Kultur nach Vischers Ansicht aber gerade in diesem idealen Charakter ihre Grenzen, denn sie sei in einer Herrschaft der objektiven Welt gefangen geblieben, die eine freie Entwicklung der Subjektivität verhindert habe. Die griechische Kultur sei daher von ihrer Naivität und dem Fehlen eines höheren Bewusstseins konditioniert geblieben, während die griechische Kunst die mögliche Überwindung der naiven Natürlichkeit intendiert habe. Der griechische Dichter habe die die Legende kennzeichnende Charakterisierung der Helden überwunden und seinem Volk eigene Gottheiten geschenkt, die von der rohen symbolhaften Gestaltung der Naturkräfte befreit und ihre vollständige, lebendige Menschlichkeit zurückerhalten hatten. So sei die griechische Kunst über die natürliche Grenze der Kultur, die sie hervorgebracht hatte, hinaus gegangen und habe einen Zustand höherer Freiheit vorweggenommen, obwohl sie in einer eng begrenzten Objektivität eingeschlossen blieb. 166 Wahrscheinlich teilte Marx diese von Vischer unter offenkundigem Rückgriff auf Motive Hegels 167 vertretene Sicht des Griechentums nicht 165
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Auf diese Aspekte des Griechentums geht Vischer vor allem im Abschnitt 348 ein, wo er die besondere Stellung der griechischen Kunst im Rahmen einer historischen Betrachtung der Schönheit umreißt. (Vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 279–83, insbesondere S. 282) Bedeutsam ist diesbezüglich Vischers Untersuchung der in der griechischen Kunst angelegten Möglichkeit, über die objektiven Grenzen ihrer Beziehung zur Materie und zur Natur hinauszugehen, sowie ihrer Intuition der neuen künstlerischen Perspektiven einer „Ironie des Übersinnlichen“. (Vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 541). Die wichtigste Untersuchung zur hegelschen Ästhetik im Hinblick auf die in diesem Kapitel behandelten Themen, einschließlich einiger bedeutender Bezugnahmen auf Vischers Ästhetik, ist die von Annemarie Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik, a. a. O. Die Autorin unterstreicht den bedeutenden Einfluss Schillers auf die Entstehung der hegelschen Ästhetik und sieht darin einen potenziellen Gegensatz zwischen historischer Analyse und der Tendenz zur
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vollständig, doch verleiht die Auseinandersetzung mit Vischer dem berühmten Abschnitt der Grundrisse eine größere Tiefe. Insbesondere erhellt sie die Vielschichtigkeit der Bedeutungen, wie sie die marxsche Auffassung des Griechentums als Kindheit und natürliche Wahrheit der hellenischen Kunst und Geschichte prägt: ein unübertroffenes Modell, das nach wie vor einen echten ästhetischen Genuss verschaffen konnte. Freilich konzipierte Marx – im Unterschied zu Vischer – die historische Dialektik nicht einfach als Entfaltung der Freiheit und Subjektivität, sondern als Möglichkeit der Emanzipation vom Warenfetischismus innerhalb unterschiedlicher Organisationsformen der ökonomischen Produktion. Parallel zu der Vorstellung, nach der die spontane Natürlichkeit der Kindheit durch eine Bewegung der begrifflichen Wahrheit reproduziert werden könne, hatte diese Möglichkeit im Modell der klassischen griechischen Antike einen Bezugspunkt gefunden. Wenngleich auf andere Weise als die Entwicklung des Geistes, muss hier die Geschichte die materiellen Bedingungen, unter denen das griechische Paradigma seinen größten Glanz erreichen konnte, innerhalb ihrer konkreten, komplizierten Dialektik reproduzieren. Die traumhafte Darstellung der althellenischen Existenz, mit der Die Geburt der Tragödie endet, zeigt, welche Anziehungskraft die klassischromantische Definition des Griechentums als unnachahmliches Modell der Menschlichkeit und Schönheit, die in Friedrich Theodor Vischers Ästhetik einen weiteren bedeutenden Ausdruck gefunden hatte, nach wie vor ausübte. Auf diesen letzten Seiten der Geburt der Tragödie steht Nietzsche der Darstellung des Griechentums als vollendete Verschmelzung von Kulturform und Kunstform, die nach Vischers Ansicht in jedem einfachen Alltagsgegenstand die Brechung einer höheren Harmonie gewahren ließ, sehr nahe. Wer sich im Traume in das antike Athen zurückversetzt, ist Nietzsche zufolge in ein „fortwährende[s] Einströmen der Schönheit“ getaucht: Schaffung eines Begriffssystems. Beide Aspekte scheinen mir auch für das Verständnis von Nietzsches Einstellung zur Hegel’schen und nachhegelschen Ästhetik besonders wichtig zu sein. Wie Szondi (vgl. Anm. 159) hervorhob, bildete die nachhegelsche Ästhetik für Nietzsche vor allem eine Brücke, um auf die ‚unsystematischen‘ Ursprünge der Hegel’schen Ästhetik selbst zurückzugehen, wovon seine – im zweiten Teil dieses Buches von mir untersuchte – Auseinandersetzung mit dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, insbesondere mit dem Thema des Idylls zeugt, mit dem Gethmann-Siefert sich eingehend befasst. Außerdem siedelt sich Nietzsche mit seinem Versuch, die ästhetischen Kategorien aufzubrechen und mit einer neuen Motivation sowie einer neuen historischen wie anthropologischen Genealogie auszustatten, innerhalb dieses potenziellen Kontrasts zwischen ‚Geschichte‘ und ‚System‘ an: Seine Untersuchung der literarischen Gattungen in der Geburt der Tragödie bewegt sich in diese Richtung.
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im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache.168 (KSA 1, S. 155)
Zweifellos beruht dieser Aspekt des Griechentums für Nietzsche auf einer Vorherrschaft des apollinischen Prinzips und lässt das unruhigere dionysische Substrat außer Acht, das ihm erst seine eigentliche Tiefe verleihen konnte. Nietzsche greift hier einige Elemente der Hegel’schen Ästhetik auf, die noch bei Vischer vorkamen: Beispielsweise war er davon überzeugt, dass Griechenland eine Zwischenposition zwischen den nihilistischen Tendenzen des Orients und dem politisch-staatenbildenden Trieb der Römer einnahm. 169 Die Vorstellung vom Griechentum als Kindheit der Menschheitsgeschichte wies Nietzsche trotz ihrer Suggestivkraft als Ausdruck einer nunmehr überwundenen Rousseau’schen Auffassung zurück; was er in der Geburt der Tragödie über die Schiller-Kategorie des „Naiven“ schreibt, betrifft unmittelbar die Sicht des Griechentums als Bubenjahre der Menschheit, die Vischer und Marx weiterhin vertraten. So hatte Nietzsche festgehalten: Hier muss nun angesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort ‚naiv‘ in Geltung gebracht hat, keinesfall ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. (KSA 1, S. 37) 170
An dieser Stelle führt Nietzsche Schillers Idee des Naiven auf die Vorstellung von einem ursprünglichen Paradies der Menschheit zurück, das als Urzustand jeder Kultur existiert habe, und sieht in dieser Auffassung eine Transposition des Rousseau’schen Emile, weshalb die homerische Dichtung, der Marx in seiner Sicht des Griechentums einen besonderen Stellenwert eingeräumt hatte, unmittelbar auf der Basis der Rousseau’schen Ideen interpretiert worden sei. Nietzsche wies diese Auffassung des Griechentums als eines naiven Zustands der Menschheit nicht 168 169
170
Zu ähnlichen Themen bei Vischer vgl. die Angaben in Fußn. 165. Vgl. KSA 1, S. 133. Verwandte Themen finden sich in Vischers Ästhetik, zum Beispiel am Ende der historischen Betrachtungen über die Entwicklung der Schönheit in den Abschnitten 352–353 (vgl. Bd. 2, a. a. O., S. 288–294). Zum Thema des Idylls in Hegels Überlegungen zur Ästhetik vgl. das in Fußn.167 zitierte Werk von Gethmann-Siefert sowie die Betrachtungen in dieser Fußnote insgesamt.
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gänzlich zurück, war aber der Ansicht, dass sie allein den Sieg des Apollinischen erfasse und den vorausgehenden Kampf mit grausamen Titanenreichen völlig übersehe. Die scheinbare Harmonie der hellenischen Kultur beruhte seines Erachtens dagegen auf ihrer Fähigkeit zum ausdauernden Kampf mit dem Leiden und mit der Weisheit des Leidens (vgl. KSA 1, S. 37–38). Diese Problematisierung der Schillerschen Idee des Naiven wird in der Geburt der Tragödie mit der Neudefinition der literarischen Gattungen verknüpft. Tatsächlich verweist das Naive unmittelbar auf die epische Dichtung, die jetzt, wie gesagt, als voller Sieg der apollinischen Illusion über das ursprüngliche Substrat der Widersprüche und des Leids ausgelegt wird. Hegel zufolge entstand das Drama aus der wechselseitigen Durchdringung der Objektivität der epischen Dichtung und der Subjektivität der lyrischen Dichtung. Nietzsche stellt die Kategorien der Subjektivität und Objektivität als durchweg außerästhetische Kategorien in Frage; zur Erklärung der Entstehung der Tragödie aus dem Chor folgt er dagegen der Hegel’schen Charakterisierung des Dramas als Verschmelzung von Epik und Lyrik. Wir haben bereits gesehen, welche grundlegende Bedeutung die Neubestimmung der lyrischen Dichtung bei Nietzsche erlangt, die nicht länger als Widerspiegelung subjektiver Gefühle und Leidenschaften, sondern als unmittelbarer Ausdruck des „Abgrunds des Seins“ interpretiert wird 171, denn sie bietet ihm die erste Gelegenheit, um seine Konzeption von der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins und der Welt zu formulieren. (Vgl. KSA 1, S. 47) Dank dieser grundlegenden Neubestimmung der epischen und der lyrischen Dichtung gelingt es Nietzsche schließlich, die Modalitäten der wechselseitigen Durchdringung von Apollinischem und Dionysischem in der Tragödie zu klären, so dass Dionysos sich seines Erachtens in apollinischen Erscheinungen objektivieren und mit der „Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung“ (KSA 1, S. 64) sprechen kann. Die Neudefinition der literarischen Gattungen hat bei Nietzsche keinen normativen Charakter, obgleich auch bei ihm die Idee weiterlebt, die modernen literarischen Gattungen seien „nachgeahmte Dichtungsarten“ (KSA 7, S. 18) und die Rückkehr zu ihren ursprünglichen Bestimmungen in der hellenischen Kunst bedeute, „das Wachsen der Kunstgattungen aus einander“ als „natürlich richtig“ (ebd.) aufzuspüren. In eben dieser Auffassung der literarischen Gattungen wird etwas von dem Hegelianismus der Geburt der Tragödie spürbar, den Nietzsche sich in Ecce homo mit folgenden Worten vorwarf: 171
Diesbezüglich sei auf die Überlegungen im Kapitel 1 dieses Buchs auf S. 36 ff. verwiesen.
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Eine „Idee“ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser „Idee“; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben. (KSA 6, S. 310)
Ganz sicher sind an einigen Stellen der Geburt der Tragödie Anklänge an Hegel vernehmbar – etwa in den Schlussbetrachtungen des vierten Kapitels, in denen Nietzsche die historische Entwicklung des Apollinischen und des Dionysischen in den vier großen Kunststufen der hellenischen Kunst beschreibt, die in der Entstehung der attischen Tragödie gipfelten (vgl. KSA 1, S. 42). Dennoch ist die Anspielung auf den vermeintlichen Hegelianismus seines Jugendwerks in Ecce homo nicht frei von Ironie; sie lässt sich kaum wörtlich nehmen, sondern präsentiert sich mindestens teilweise wie ein raffinierter rhetorischer Kunstgriff, der es dem Autor gestattet, sich einerseits von seiner Vergangenheit zu distanzieren, andererseits aber durch ein geschicktes Spiel von Gegenüberstellungen verschiedener Begriffe, die gewöhnlich nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden, die grundsätzliche Neuheit seiner Tragödien-Auffassung herauszustreichen. Gilt es die Anspielung in Ecce homo auf den angeblichen jugendlichen Hegelianismus demnach grundsätzlich zu relativieren, so bedeutet dies nicht, dass eine genauere Untersuchung einiger bei der Entstehung der Geburt der Tragödie fortlebender ästhetischer Kategorien Hegels nicht dazu beitragen könnte, das Werk innerhalb des philosophischen Diskurses der Moderne historisch genauer zu verorten. Sehr häufig ist es im Falle Nietzsches nicht leicht, seine Beziehung zu einem Philosophen allein anhand seiner direkten Lektüren zu rekonstruieren; vielmehr gilt es den objektiven historischen Zusammenhang in Betracht zu ziehen, der sich nicht immer in Beziehungen unmittelbarer historischer Abhängigkeit eines Philosophen von einem anderen erschöpft. 172 Im Rahmen dieses historischen Zusammenhangs erlangen auch die indirekten Quellen, die Nietzsche für die Rekonstruktion des Denkens von jeweils ihn interessierenden Philosophen heranzog, ihre Bedeutung. Die wichtigsten Zitate aus Werken Hegels in der Produktion des jungen Nietzsche entstammen der „Einleitung“ zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und wurden in einigen Fragmenten vom Sommer-Herbst 1873 aufgezeichnet, die der Vorbereitung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung über die Geschichte dienten. Im September 1865 hatte Nietzsche, ehe er seine Universitätsstudien in Leipzig fortsetzte, an seinen Freund Hermann Mushacke geschrieben, er esse „etwas Hegelsche Philosophie“ zum Kaffee 172
Vgl. dazu die anregenden Gedanken, die Giuliano Campioni in seinem Les lectures françaises de Nietzsche, Paris, Puf, 2001, S. 16–17, bezogen auf Heidegger’sche Gedanken über Nietzsches Verhältnis zur Kartesianischen Philosophie entwickelt hat.
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(KSB 2, S. 85) und verbinde diese Lektüre bisweilen mit der von Die Halben und die Ganzen von David Friedrich Strauss. Die Handbücher zur Geschichte des Theaters, die er während der Arbeit an der Geburt der Tragödie am häufigsten heranzog – so die Geschichte des Drama’s von Julius Leopold Klein, die Geschichte des griechischen Schauspiels vom Standpunkt der dramatischen Kunst und die Studien über das griechische Theater von Moriz Rapp –, beruhten jedoch auf einer von August Wilhelm Schlegel und von Hegel übernommenen Auffassung des Dramas. Schließlich wissen wir, dass Nietzsche 1870, vor der Abfassung der Dionysischen Weltanschaung, die letzten Bände der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer in der Universitätsbibliothek Basel auslieh. Die von Nietzsche benutzte Ausgabe enthielt bereits die Analysen zum System der einzelnen Künste, dem Marx wahrscheinlich gar keine Beachtung geschenkt hatte 173. Bei seiner Vischer-Lektüre war Nietzsche also vermutlich durch das Interesse an der Musik-Ästhetik und an der literarischen Gattungstheorie geleitet, von denen diese letzten Teile der Ästhetik handelten. Es sind keine direkten Zeugnisse von Nietzsches Vischer-Lektüre erhalten, sehr wahrscheinlich benutzte er die Ästhetik aber als Nachschlagewerk zu allen Aspekten der Kunstphilosophie – diesen Charakter bewahrte Vischers Werk lange Zeit 174 –, beschränkte sich also darauf, einige Aspekte seiner eigenen ästhetischen Ausarbeitung anhand der damals am weitesten verbreiteten systematischen Darstellung zu überprüfen, die geradezu als ‚kanonisch‘ galt. Die gedrängten Schlussfolgerungen im siebten 173
174
Marx scheint seine Aufmerksamkeit überhaupt auf die ersten beiden Teile von Vischers Ästhetik über die Metaphysik des Schönen bzw. das Schöne in einseitiger Existenz zu konzentrieren. Vor allem dieser zweite Teil konnte ihm Stoff für die Vertiefung einer historischen Auffassung der griechischen Kunst und Kultur liefern. Nietzsche befasste sich dagegen vor allem mit den letzten Teilen der Ästhetik, die vom System der Einzelkünste handelten, insbesondere von der Musik, deren Abhandlung größtenteils von Karl Köstlin verfasst wurde, und von der Dichtkunst. Das System der Künste war in der Erstausgabe des Werks in den abschließenden Bänden drei und vier enthalten. Wie bereits erwähnt hatte Nietzsche den Bd. 4 ausgeliehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch die anderen Bände einsehen konnte. Die Bände 3 und 4 waren zwischen 1854 und 1857 erschienen, während die ersten beiden Bände zwischen 1846 und 1851 veröffentlicht wurden. Theoretisch hatte Marx also die Möglichkeit, sich mit der gesamten Ästhetik Vischers zu beschäftigen – sein Interesse für Themen der Ästhetik fiel in die Jahre 1855–1860 –, doch scheinen ihn eher die ersten beiden Bände interessiert zu haben. Es sei erwähnt, dass der Untertitel der Ästhetik – „Zum Gebrauch der Vorlesungen“ – deren Charakter eines Nachschlagewerks unterstrich, und als solches zog Nietzsche es vermutlich heran, um bestimmte Aspekte seiner Analyse der literarischen Gattungen zu überprüfen. An den Charakter eines Nachschlagewerks wurde bereits in der vorangehenden erinnert; Szondi zufolge (vgl. a. a. O., Bd. 2, S. 126) benutzten Lukacs und Benjamin die VischerÄsthetik vermutlich auch in diesem Sinn.
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Kapitel der Geburt der Tragödie zeigen jedoch, dass Nietzsche eine zentrale Kategorie der Ästhetik Vischers wie der nachhegelschen Ästhetik allgemein, den Gegensatz zwischen Erhabenem und Komischem, selbstständig weiter durchdacht hatte. Dem besagten Passus der Geburt der Tragödie war eine lange Reflexion über diese Kategorien im dritten Abschnitt der Dionysischen Weltanschauung vorausgegangen. Das Fragment 8 (9) vom Winter 1870–71, das also nach der Dionysischen Weltanschauung entstand, zeigt, wie die Reflexion über das Erhabene und das Komische sich mit der Neudefinition der lyrischen Dichtung und dem Problem des Archilocus verband, um die es im fünften und sechsten Kapitel der Geburt der Tragödie geht. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Gegensatz zwischen Erhabenem und Komischem ist das bedeutendste Beispiel für den Einfluss der Hegel’schen und nachhegelschen Ästhetik auf die Geburt der Tragödie. 175 Vischer schenkte den beiden Momenten des Erhabenen und des Komischen als konstitutiven Aspekten der Schönheit deshalb ein besonderes Augenmerk, weil er die Zufälligkeit als ausschlaggebendes Element jeder Dialektik ansah. Seines Erachtens hatte Hegel dieses Element zwar nicht übersehen, es jedoch einfach auf eine falsche Perspektive zurückgeführt, das heißt, er hatte die Zufälligkeit nicht als bestimmendes Phänomen jeder Beziehung zwischen Idee und Einzelwesen, sondern als bloßen Ausdruck einer schlechten Endlichkeit konzipiert, die durch die Idealität des Begriffes aufgehoben werde. 176 Vischer war dagegen der Ansicht, dass „alles Leben, alle Geschichte, alle Bewegung des Geistes in jeder Sphäre“ „wesentlich diese Geschichte der Aufhebung des Zufalls“177 sei. Die wechselseitige Durchdringung von Idee und Bild, Allgemeinheit und Einzelheit, welche die Schönheit ausmache, komme nicht durch die vernünftige, stufenförmige Bewegung der Hegel’schen Logik zustande, sie ergebe sich vielmehr aus dem Kampf gegen die Zufälligkeit, die immer wieder in die Beziehung zwischen Individuum und Idee einbreche und jede Linearität dieser Beziehung zunichte mache. In die Befreiung des Geistes vom Inhalt und von den Formen der Endlichkeit, die für Hegel mit der Schönheit zusammenfiel, baut Vischer folglich das Element eines sich stets reproduzierenden Konflikts ein. Daher ist die Einheit von Idee und Bild, welche die Schönheit ausmacht, seiner Meinung nach 175
176 177
In dem Schema der geschichtlichen Rekonstruktion, das der Geburt der Tragödie zugrunde liegt, insbesondere in der Idee einer Vermittlungsfunktion des Griechentums zwischen Orient und Rom, lassen sich mindestens indirekte Einflüsse der Hegel’schen und nachhegelschen Ästhetik gewahren. Vgl. dazu Vischers Ausführungen im Abschitt 41 der Ästhetik (a. a. O., Bd. 1, S. 120 ff.). Vgl. ebd., S. 121.
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keine ruhende, sondern eine tätige, worin das Allgemeine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität sich im Kampfe einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen den vernünftigen und allgemeinen, zum Bösen sich steigert. Allein dieser Kampf bringt die untrennbare Zusammengehörigkeit beider Momente dadurch zum Vorschein, dass der Widerstreit als ein sich selbst aufhebender Widerspruch sich offenbart; es kann daher in demselben so wenig ein Hindernis des Schönen liegen, dass es demselben nicht nur zu folgen vermag, sondern vielmehr aus sich selbst in seinem eigenen Interesse das Schauspiel desselben erzeugen wird. Der Kampf, von dem hier die Rede ist, heißt im ästhetischen Gebiete das Tragische und Komische. 178
Nach Vischers Deutung herrscht im Erhabenen die Idee vor, die nicht mit der Sinnlichkeit des Bildes zu verschmelzen vermag, während im Komischen das Bild, das sinnliche Element, vorherrscht, dem die Durchdringung mit der höheren Wahrheit der Idee nicht gelingt. Das Kunstwerk kommt durch eine fortschreitende Verschmelzung beider Momente zustande und erreicht so eine zunehmende Annäherung an die wechselseitige Integration von Idealität und Realität, Allgemeinheit und Einzelheit. Ist im Erhabenen die Vorherrschaft eines ideellen Momentes gegeben, das mit dem sinnlichen in einem negativen Verhältnis bleibt, so stellt das Komische die Bewegung dar, durch die die Zufälligkeit sich auf alle Momente des individuellen Lebens erstreckt. Das Erhabene und das Komische sind folglich beides Verhältnisbegriffe, und nur in ihrer Wechselbeziehung kann sich das Schöne als Aufhebung des Zufalls und Durchdringung von Bild und Idee entfalten. 179 Nietzsche deutet die beiden Kategorien des Erhabenen und des Komischen grundsätzlich neu und interpretiert sie als „künstlerische Bändigung des Entsetzlichen“ bzw. als „künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden“ (KSA 1, S. 57). Diese Definitionen kamen bereits in der Dionysischen Weltanschauung vor. Der Kontext, in den sie in dieser vorbereitenden Schrift zur Geburt der Tragödie eingebunden sind, ermöglicht ein genaueres Verständnis von Nietzsches Reflexion über diese zentralen Kategorien der Ästhetik Vischers sowie der nachhegelschen Ästhetik allgemein. Nietzsche macht im Erhabenen und im Komischen ein zweites grundlegendes Stadium in der griechischen Kunstgeschichte aus, denn sie folgten auf die unumstrittene Vorherrschaft der epischen Dichtung – also Apolls –, die er zwar nicht mehr als paradiesischen Zustand einer Kindheit der Menschheit beschreibt, deren Wert als unnachahmliches Modell er jedoch nicht in Frage stellt. Spuren der Hegel’schen und nachhegel178 179
Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 231 ff.; 364–377.
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schen Ästhetik sind auch in dieser Beschreibung der ursprünglichen epischen Dichtung und in der Bestimmung des Dionysischen zu erblicken, die in Die dionysische Weltanschauung erstmals einen umfassenden Ausdruck findet. Nach Nietzsche geht es vor allem darum, auf die natürliche Entwicklung der literarischen Gattungen zurückzugehen, sie in ihren ursprünglichen Bestimmungen, vor jeder späteren Kontamination, wiederzuentdecken: Die griechische Kunst repräsentiere diese natürliche, unverkünstelte Entwicklung jeder ästhetischen Schöpfung und sei eben deshalb ein unüberwindliches Modell für jede spätere Kunst.180 Diese ungekünstelte Natürlichkeit lässt sich besonders deutlich im Volkslied erfassen, dem Nietzsche eine entscheidende Funktion bei der Entstehung der Dichtung, der Musik und sogar des tragischen Chores zuschreibt. Der dionysische Trieb betrifft in erster Linie „den naiven Naturmenschen“ (KSA 1, S. 554). Dank des Rausches, wie er dem Dionysischen entspringt, konnte eine neue Beziehung zwischen Individuum und Gattung hergestellt werden; der Mensch präsentierte sich „als Mitglied einer höheren idealeren Gemeinsamkeit“ (KSA 1, S. 553). Als Repräsentant der Gattung oder „des Generell-Menschlichen, ja des Allgemein-Natürlichen“ (ebd., S. 555) erreichte er seine volle Freiheit: Jede durch Not und Willkür erzeugte soziale Diskriminierung verschwand: „der Sklave ist freier Mann, der Adlige und der Niedriggeborene vereinigen sich zu denselben bacchischen Chören“ (ebd.). Jeder Bruch zwischen Mensch und Natur war aufgehoben, und ihr üppiger Reichtum gestattete eine mühelose Reproduktion des menschlichen Lebens. Genau dieses „Evangelium der ‚Weltenharmonie‘“ (ebd.) machte den Menschen gottgleich – gemäß einer Charakterisierung der hellenischen Religiösität, die schon Vischer vertreten hatte. 181 180
181
Erwähnenswert erscheint mir, dass Nietzsche den Ästhetik-Theorien Gottfried Sempers eine bedeutende Funktion für die Herausbildung einer anderen Vision des Griechentums zuschrieb. Im Fragment 1 (17) von 1869, das Nietzsche ausdrücklich für seine Schlussfolgerungen in Das griechische Musikdrama heranzog, hatte er eine Betrachtung über die Kleidung der Griechen aus Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik übernommen. Darüber hinaus nahm er im Griechischen Musikdrama auf die Idee der Polychromie in der griechischen Skulptur Bezug, der Semper ein großes Gewicht beigemessen hatte (vgl. KSA 1, S. 531; KSA 7, S. 15). Mit seiner Aufmerksamkeit für das Verhältnis zwischen Form und Inhalt, vor allem zwischen Funktion und Materie, knüpfte Semper an Hegels Ästhetik an und eröffnete ihr neue Perspektiven. In diesem Zusammenhang ist die ‚demokratische‘ Interpretation des Ursprungs der Tragödie von Interesse, die Nietzsche – auf ein und derselben Linie mit bestimmten Tendenzen der nachhegelschen Ästhetik – im Fragment 1 (67) von 1869 vorträgt: „Wahrscheinlich entstand das Drama als öffentliches Mysterium, als eine Reaktion gegen die Geheimthuerei der Priester, zum Schutze der Demokratie seitens der Obergewalt. Ich denke, die Tyrannen führen diese ‚öffentlichen Mysterien‘ ein, aus Opposition gegen das Priesterthum der Mysterien“ (KSA 7, S. 31).
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Sicher interpretiert Nietzsche diesen Zustand des naiven Naturmenschen nicht als Ausdruck einer historischen Realität, die zu irgendeinem Moment der griechischen Kultur tatsächlich existiert hätte. Der dionysische Zustand, in dem die dialektische Verbindung zwischen Mensch und Gattung verwirklicht war, ist für Nietzsche ein Symbol, das Ergebnis einer Ekstase, einer Selbstvergessenheit, die dem Rausch entspringt. Auch wenn Nietzsche in der Dionysischen Weltanschauung noch nicht zu einer klaren Problematisierung der Kategorien des Subjektiven und Objektiven gelangt, erzeugt doch bereits hier der Wechsel von Traum und Rausch, der seines Erachtens jeder ästhetischen Nachahmung zugrunde liegt, eine Spannung in der künstlerischen Wahrnehmung selbst. Der Kontrast zwischen Einzelwesen und Zufall, auf dem nach Vischers Ansicht jede Kunstschöpfung beruht, spitzt sich bei Nietzsche zum Problem des Nebeneinanders der beiden grundlegenden Triebe des Apollinischen und des Dionysischen zu, das die Entwicklung der für die griechische Kultur typischen literarischen Gattungen bestimmt habe. Jenseits aller unmittelbaren Abhängigkeit von Vischer bildet die Zuspitzung des Kontrasts als Grundlage der Schönheit die bedeutendste Hinsicht von Nietzsches Kontakt zur nachhegelschen Ästhetik. Unter diesem Blickwinkel ist die ästhetische Rechtfertigung der Häßlichkeit der Welt tatsächlich eine Fortsetzung der „grandiose[n] Initiative“, die Nietzsche der Hegel’schen Philosophie in einem Fragment von 1885–86 zuschreiben sollte, nämlich einen Pantheismus ausgedacht zu haben, „bei dem das Böse, der Irrthum und das Leid n i c h t als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden“ (KSA 12, S. 113). Das Problem des Hässlichen stand im Mittelpunkt von Vischers Bestimmung des Komischen, und eine Stelle der Dionysischen Weltanschauung verdeutlicht, dass die untrennbare Zusammengehörigkeit der beiden gegensätzlichen Prinzipien als Grundlage für eine höhere künstlerische Einheit einen tiefen Einfluss auf Nietzsche ausgeübt hatte, um die mögliche wechselseitige Durchdringung der beiden grundlegenden ästhetischen Triebe des Apollinischen und Dionysischen zu konzipieren. Nietzsche spricht an dieser Stelle ausdrücklich von einem „unglaublichen Idealismus des hellenischen Wesens“ (KSA 1, S. 556); er allein habe die Umformung eines auf der „roheste[n] Entfesselung der niederen Triebe“ (ebd.) fußenden Naturkults in ein ästhetisches Phänomen ermöglicht. So hätten die dionysischen Feste bei den Griechen eine vollkommene Durchdringung zwischen ideeller und sinnlicher Sphäre, zwischen Erhabenheit und Häßlichkeit realisiert: Gerade aus der größten Entfaltung der niederen Triebe sei der höchste Idealismus entsprungen. Diese „Idealisierung der Orgie“ (ebd.) habe die Triebe in Äußerungen des höchsten, wahrsten Geistes verwandelt. Auch wenn der Begriff Idealismus in der
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Geburt der Tragödie nicht mehr vorkommt, erklärt doch dieselbe Dialektik die Verwandlung der asiatischen dionysischen Orgien in „Welterlösungsfeste und Verklärungstage“ (KSA 1, S. 32) bei den Griechen. Hat man erst die indirekte Hegel’sche Abstammung dieser Charakterisierung der ersten natürlichen Phase der griechischen Kunst durch Nietzsche begriffen, so erlangt auch die Definition des Erhabenen und des Komischen klarere Konturen. Im Rahmen der ästhetischen Konzeption, wie Nietzsche sie in der Geburt der Tragödie darlegt, kommt dem Dionysischen eine andere Funktion zu als dem Zufall in Vischers Ästhetik. Das Dionysische kann nicht in einer höheren Einheit aufgehoben werden, sondern wirkt als unruhiges Ferment, das immer neue Ausdrucksformen hervorbringt. Neben der höchsten Lebensspannung im Rausch geht das Dionysische in dem Moment, da der Dionysosdiener aus seinem rauschhaften Zustand erwacht, mit einem starken Ekelgefühl gegen das Leben einher. Die Illusion des apollinischen Traums schwindet, und die Ahnung einer größeren Lebensfülle verkehrt sich in einen nihilistischen Impuls. Gleichzeitig zerbricht das fragile Gleichgewicht zwischen Schönheit und Wahrheit, das in der ursprünglichen epischen Dichtung einen denkwürdigen Ausdruck fand. Diese „Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins“ (KSA 1, S. 567) müssen umgewandelt und gebändigt werden, und eben diese Funktion kommt dem Erhabenen und dem Komischen zu, die das Absurde und Entsetzliche in Vorstellungen zu verwandeln vermögen, „mit denen sich leben lässt“ (ebd.). In der Dionysischen Weltanschauung ist Nietzsche noch nicht zu völliger Klarheit über das Wesen des Chores und der lyrischen Dichtung gelangt. Er schreibt daher dem Schauspieler die Aufgabe zu, den ursprünglichen dionysischen Menschen nachzuahmen, und präsentiert ihn umgeben von dem im dithyrambischen Chor versammelten Volk. So suche der Schauspieler das Vorbild des dionysischen Menschen in der Erschütterung der Erhabenheit zu erreichen oder auch in der Erschütterung des Gelächters: er geht über die Schönheit hinaus und er sucht doch die Wahrheit nicht. In der Mitte zwischen beiden bleibt er schwebend. (Ebd.)
Die Definition dieses Zwischenstadiums zwischen Schönheit und Wahrheit ist das wichtigste Resultat von Nietzsches Neubestimmung des Erhabenen und des Komischen: An die Stelle der Wahrheit tritt die Wahrscheinlichkeit, und diese wird bedeutsamerweise als Gesamtheit von Symbolen, als Zeichensystem definiert, das auf die Wahrheit anspielt. An die Stelle der früheren Auffassung „des schönen Seins“ tritt folglich die neue Kunstwelt der Wahrscheinlichkeit, die durch ein Netz von Symbolen „die Erkenntniß der Schrecken und Absurditäten des Daseins, der gestörten Ordnung und der unvernünftigen Planmäßigkeit, überhaupt des
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ungeheueren Leidens in der ganzen Natur“ (KSA 1, S. 568) erträglich zu machen vermag. In der Geburt der Tragödie stehen das Erhabene und das Komische nicht mehr innerhalb dieses allgemeineren Übergangs von der Kunst des Scheins zur Kunst der Wahrhaftigkeit. Das Spiel der symbolischen Brechungen, in denen der Schauspieler seine höchsten Fähigkeiten unter Beweis stellte, wird nämlich in eine umfassendere Interpretation des tragischen Chores und seiner Funktion bei der Entstehung der Tragödie einbezogen. Diese Interpretation des Chores setzt eine neue Auffassung der lyrischen Dichtung voraus, die auf einer kohärenten Überwindung des Gegensatzes zwischen Subjektivem und Objektivem beruht. Diesen Kategorien wird jeder Wert für die Bewertung des Kunstwerks abgesprochen, ja ihr Gegensatz erscheint als „überhaupt in der Aesthetik ungehörig“ (KSA 1, S. 47). Infolge der Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes entfällt auch die Bezugnahme auf eine dialektische Beziehung zwischen dem Individuum und dem seinem Hinstreben zur Idee im Weg stehenden Zufall. Schönheit und Wahrheit äußern sich nicht mehr innerhalb dieser Dialektik, sondern durch ein dichtes Netz von symbolischen Brechungen und Zeichendarstellungen. Die Betrachtung der Modalitäten, kraft derer die Sprache die Wahrheit ‚konstruiert‘, beinhaltet auch eine radikale Problematisierung der Geschichte: Der Fortschritt hat sich in die Entdeckung einer ‚grauenhaften Wahrheit‘ (vgl. KSA 1, S. 57), einer Sehnsucht nach dem Nichts verkehrt, die schließlich zu einer radikalen Negation jeder Daseinsform führt. Das Absurde und Entsetzliche, mit denen das Erhabene und Komische zu tun haben, müssen sich jetzt diesem tieferen Kontrast, dieser unerschrockenen Hinterfragung jeder Grundlage der Wahrheit, der Geschichte und des Werdens stellen. 182 Der Weg, auf dem Nietzsche im Übergang von der Dionysischen Weltanschauung zur Geburt der Tragödie die von der nachhegelschen Ästhetik vertretene Theorie der literarischen Gattungen umarbeitet und von Grund auf verändert, macht auch die Gründe seiner bisweilen – vor allem in den ersten beiden Unzeitgemäßen Betrachtungen – vehement hervorbrechenden Polemik gegen den Hegelianismus einsichtig. Nietzsches Konzeption des Tragischen bringt das Bild der griechischen Heiterkeit, das besonders Heine in seiner Entgegensetzung von Klassizismus und Spiritualismus mit großer Eindrücklichkeit gezeichnet hatte, zum Einsturz: Die griechische Kultur, so Heine, habe im Bild ihrer Gottheiten ein in seiner Materialität und freudvollen Fülle sprudelndes Leben vorge182
In der Geburt der Tragödie ist diesen Reflexionen über das Entsetzliche des Daseins bezeichnenderweise das Bild Hamlets vorangestellt (vgl. KSA 1, S. 57), das bereits auf ganz ähnliche Weise interpretiert wird wie später in Ecce homo. (Vgl. KSA 6, S. 287)
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führt, das in radikalem Gegensatz zum mageren Asketentum des Christentums stehe. Gegen die Banalisierung dieser Heine-Auffassung der Klassik richtete Nietzsche unermüdlich seine Pfeile. Die oberflächliche Sicht des Griechentums verdankte sich seines Erachtens einem der auffälligsten Kennzeichen der in der Gegenwart herrschenden unproduktiven „dekorative[n] Kultur“ (KSA 1, S. 334), die sich nach Nietzsche vor allem durch ihr Epigonentum auszeichnete. 183 Dieses Gefühl einer tiefen Erschöpfung entspringe einem übertriebenen historischen Bewusstsein, das den Menschen jeder schöpferischen Kraft beraube und ihn in einen dilettantischen Schauspieler verwandele, der immer neue Masken aufsetzt und neue Stile erprobt, die er preiswert im großen Fundus des Theaters der Geschichte entleiht. In diesem Epigonentum sieht Nietzsche das beunruhigendste Erbe des Hegelianismus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass bereits der junge Nietzsche mehrfach einen tiefen Unterschied zwischen der Philosophie Hegels und seinen Nachfolgern macht. So wird Hegel etwa mit Goethes Italienischer Reise verglichen und als Beispiel für eine typisch epische Phase der deutschen Kultur angeführt (vgl. KSA 7, S. 105), die es zwar durch die Wiedergeburt der Tragödie zu überwinden gelte, die aber dennoch eine entscheidende Stufe auf dem Weg der Rückkehr zu den hellenischen Quellen der abendländischen Zivilisation darstelle, in die Nietzsche seine größten Hoffnungen setzte. Dieser Hegel als Philosoph der deutschen epischen Kultur darf folglich nicht mit den widrigen Folgen seiner Geschichtsphilosophie verwechselt werden. In der von Eduard von Hartmann in seiner Philosophie des Unbewussten theoretisierten „volle[n] Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß“ 184 macht Nietzsche den Gipfel des unproduktiven, blutleeren Historismus aus. Die schonungslose Analyse dieser historischen Krankheit wird für Nietzsche zum roten Faden einer umfassenderen Diagnose der Situation des deutschen Intellektuellen in der Reichsgründungszeit. Mit großem Scharfsinn erkennt er die Erschöpfung jeglichen Emanzipationspotentials einer historischen Fortschrittsidee, die getragen ist von der unablässigen Kritik der Grenzen, die der dialektischen Vernunft gesetzt sind; diese Kritik könne keinerlei Wirkung mehr zeitigen und nur noch sich selbst reproduzieren. Tatsächlich sei die philosophische Kritik der Junghegelianer zu einer zunehmend vermassten, repetitiven Öffentlichkeit geworden: „man schwätzt zwar eine Zeit lang etwas Neues, dann aber wieder etwas 183
184
Vgl. dazu Kapitel 8 der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, insbesondere KSA 1, S. 307. Vgl. die Untersuchung von Nietzsches Einstellung zu Eduard von Hartmanns Geschichtsphilosophie im ersten Teil dieses Buches, insbesondere S. 18 ff.
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Neues und thut inzwischen das, was man immer gethan hat“ (KSA 1, S. 285). So produziere man keine Geschichte mehr, sondern nur noch Geschichten, oberflächliche Erzählungen scheinbarer Neuheiten, die sogleich von den Nivellierungsmechanismen erfasst würden, wie sie jeder Massenkommunikation eigneten. Selbst der Krieg verwandele sich sofort in gedrucktes Papier, in ein Unterhaltungsprodukt, das „als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt“ (KSA 1, S. 279) werde. So scheine eine auf alle Aspekte des Lebens und der Kultur ausgedehnte Geschichtsphilosophie keinen anderen Zweck zu haben als „die Aufgabe, die Geschichte zu bewachen, dass nichts aus ihr heraus komme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!“ (KSA 1, S. 281): Die Geschichte sei zum „Fest einer Weltausstellung“ (KSA 1, S. 279), der moderne Mensch „zum geniessenden und herumwandelnden Zuschauer“ (ebd.) dieser Karnevalsveranstaltung geworden.185 Diese Vermassung der Kultur, die Nietzsche angesichts des Erfolgs von Der alte und neue Glauben von David Friedrich Strauss fast traumatisch erlebt, hat seines Erachtens ihre Hauptursache in der aussöhnenden Haltung, die die nachhegelsche Philosophie stets im Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft eingenommen hatte. Wie Nietzsche – im Verhältnis zu Vischer – den Kontrast und den Zufall als Fundament der Schönheit zugespitzt hatte, so durchdenkt er auch – im Vergleich mit Strauss – die Folgen des Historizismus bis zum Letzten und stellt unnachsichtig die gedanklichen Kompromisse seines Gegners heraus. In Nietzsches Augen kann die Geschichte nicht mehr als „der Schauplatz der Vernunft, sondern des Irrens“ (KSA 1, S. 198) gedacht werden. Strauss aber weigere sich, vor seiner breiten Leserschaft die letzten Schlüsse aus seinen eigenen Prämissen zu ziehen: Er wagt es nämlich nicht, ihnen ehrlich zu sagen: von einem helfenden und sich erbarmenden Gott habe ich euch befreit, das ‚Universum‘ ist nur ein starres 185
Mit großem Weitblick ahnt Nietzsche, dass der Emanzipationsprozess des philosophischen Diskurses der Moderne seiner erneuernden Kraft in einer bloßen Vermassung der Kultur verlustig geh en kann. Der Philosophie der Junghegelianer setzt er daher nicht allein die Mythologie des wagnerschen Gesamtkunstwerks und die Hoffnungen auf eine kulturelle Wiedergeburt durch den Bau des neuen Bayreuther Theaters entgegen, sondern er sucht neue Wege, um der Moderne zu einem wahreren Fundament zu verhelfen und ihren andernfalls unvermeidlichen Verfallsprozess zu verhindern. Die dialektische Beziehung zwischen Emanzipation und Vermassung wurde von mir am Beispiel der Krise des Expressionismus untersucht in Avantgarde und Postmoderne. Beobachtungen zur Krise des Expressionismus, Recherches Germaniques, 22 (1992), insbesondere S. 118. Beispielhaft lässt sich ein weiterer Aspekt dieser Dialektik auch am Übergang vom Historismus zur Sezession in der Wiener Kultur der Jahrhundertwende aufzeigen. Zur bestimmenden Rolle der Nietzsche-Rezeption bei diesem Übergang vgl. den Beitrag im vorliegenden Band, S. 257 ff.
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Rädewerk, seht zu, dass seine Räder euch nicht zermalmen! Er wagt es nicht: so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik. (Ebd.)
Die nachhegelsche Geschichtsphilosophie vermag das Werden also nicht bis zuletzt zu durchdenken: Die Räume der von ihr durchgeführten Forschung, mit dem Ziel, der Geschichte neue Emanzipationsmöglichkeiten zu eröffnen, schließen sich in dem Moment, da die Geschichte auf die „Grundfigur des Hegelschen Denkens“ 186, das heißt auf den „Begriff einer vernünftigen Wirklichkeit, der sich über Faktizität, Kontingenz und Aktualität der hereinbrechenden Ereignisse [...] erhebt“ 187, zurückgeführt wird. So hat sich Strauss Nietzsches Meinung nach bemüht, die Geschichte mit einer Auffassung des Göttlichen auszusöhnen, die ihr völlig fremd ist, und hat die Welt nicht in der Perspektive eines rigorosen materialistischen Mechanizismus denken wollen, der auch das psychische und geistige Leben der Individuen regele. Aus diesem Blickwinkel betrachtet könnte der junge Nietzsche, der den ästhetischen Kontrast und das Werden der Geschichte weiterdenkt, provokativ als Junghegelianer bezeichnet werden, dem es gelang, der Entsublimierung des Hegelschen Geistes neue Wege zu weisen und auf kohärente Weise das Gewicht des Daseins geltend zu machen, bis jede Beziehung zur ‚Grundfigur des Hegelschen Denkens‘ gesprengt war. Sicher ist eine solche Definition einseitig und vernachlässigt andere grundlegende Komponenten des Begriffshorizonts des jungen Nietzsche, sie ist aber nützlich, um einen bestimmten Aspekt seines Denkens zu verdeutlichen. Auch in Von Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben geht es Nietzsche nicht um eine anachronistische Ablehnung der Geschichte. Unbeugsam kritisiert er vielmehr jeden theologischen Überrest, der nach wie vor eine schwere Hypothek für das historische Bewusstsein und die wissenschaftliche Erkenntnis darstellt. Der durch die nachhegelsche Geschichtsphilosophie erzeugte Sinn des Epigonentums habe die Befreiung der Erkenntnis vom „Gedanke[n] an das nahe Weltende, an das bänglich erwartete Gericht“ (KSA 1, S. 304) verhindert; die Moderne sei weiterhin in ein memento mori mittelalterlicher Prägung getaucht und die wissenschaftliche Erkenntnis selbst von theologischen Konzeptionen christlicher Überlieferung durchsetzt. Das Werden und die Geschichte ganz zu durchdenken, bedeute also vor allem, sich der theologischen Überreste bewusst zu werden, die häufig dem Kult einer vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität selbst innewohnten. Eine Erkenntnis, die ihre 186 187
Vgl. J. Habermas, a. a. O., S. 68. Ebd.
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eigenen Voraussetzungen ganz zu Ende denkt, müsse dagegen in der Lage sein, sich ohne Zaudern über ihre eigenen Ursprünge zu befragen. Dies ist das zentrale Problem der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. Nietzsches Ziel besteht nicht in der Ablehnung der Geschichte, sondern in der radikalen Hinterfragung des historischen Bewusstseins: denn der Ursprung der historischen Bildung – und ihres innerlich ganz und gar radicalen Widerspruches gegen den Geist einer „neuen Zeit“, eines „modernen Bewusstseins“ – dieser Ursprung muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren – dieses dreifache Muss ist der Imperativ des Geistes der „neuen Zeit“, falls in ihr wirklich etwas Neues, Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist (KSA 1, S. 306).
Abgesehen von den Bezugnahmen auf Kunst und Religion als antagonistischen Mächten der historischen Krankheit und abgesehen von dem Vertrauen in eine ideale Republik der großen Geister der Menschheit, die sich jenseits aller zeitlichen Kontingenz begegnen und zusammen wirkten, besteht der authentischste Kern vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in dieser genealogischen Betrachtung der Geschichte und der wissenschaftlichen Erkenntnis allgemein. Letztlich spannt die Schrift den Horizont der Tragödie der Erkenntnis auf, die der junge Nietzsche als unersetzbares Pendant zur ästhetischen Tragödie ansah. Ein historisches Bewusstsein, das die Prämissen der Hegel’schen Philosophie zu Ende zu denken versteht und sich dergestalt von jeder „verkappte[n] Theologie“ (KSA 1, S. 305) befreit, verwandelt sich schließlich in die Fähigkeit, „das Chaos zu organisieren“ (KSA 1, S. 333). Ohne die Reichweite dieser Formel, die Nietzsche auf die vielfältigen Einflüsse der hellenischen Kultur gemünzt hatte, unzulässig verallgemeinern zu wollen, führt ihre eigentliche Bedeutung doch zu der Umwandlung der Wahrheit in Interpretation zurück, die das herausragendste Resultat der Tragödie der Erkenntnis darstellt. 188 Die Untersuchung des Einflusses, den die nachhegelsche Kunstphilosophie auf die Entstehung der Geburt der Tragödie ausübte, ermöglicht es nicht allein, die tieferen Gründe von Nietzsches Kritik an den Folgen des Hegelianismus, insbesondere an der historischen Krankkheit und dem ihr entspringenden unfruchtbaren Epigonentum, einsichtig zu machen und sie somit von jeder vergänglichen polemischen Kontingenz lösen. Vielmehr macht sie auch die äußerst komplexe innere Gliederung des gedanklichen Horizonts des jungen Nietzsche deutlich, der sich keineswegs auf 188
Für eine eingehendere Analyse der Bedeutungen dieser Tragödie der Erkenntnis sei auf die Betrachtungen im ersten Teil dieses Buches verwiesen, insbesondere S. 47 ff.
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die Verbindung von nihilistischen schopenhauerschen Tendenzen mit einem leidenschaftlichen Wagnerianismus reduzieren lässt. Die Reflexion über einige zentrale Kategorien der nachhegelschen Ästhetik fördert ein wichtiges Bindeglied zu Tage, das den historischen Ort seiner Theorie des Tragischen genauer zu bestimmen erlaubt. In dieser Hinsicht steht die Geburt der Tragödie nämlich in einer Linie mit der ‚energetischen‘ Auffassung der Tragödie, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie eingeweiht hatte, als er den unbestreitbaren Primat der Einheit der Handlung im Rahmen der drei aristotelischen Einheiten vertrat.189 Angesichts des vielschichtigen Aufbaus von Nietzsches Auffassung des Tragischen und der engen Beziehung, die er zwischen ästhetischer Tragödie und Tragödie der Erkenntnis herstellt, ist es unmöglich, Nietzsche im philosophischen Diskurs der Moderne den Ort dessen zuzuweisen, der „die Leiter der historischen Vernunft“ benützt, „um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen“ 190. Nietzsche bleibt dem Horizont des historischen Bewusstseins und den Perspektiven der Kritik der Vernunft verpflichtet und baut sie so weit aus, dass er sich über ihren Ursprung befragt, neue Gleichgewichte zwischen Denken und Dichtung entwirft und die wissenschaftliche Erkenntnis von einer Hüterin unantastbarer Wahrheiten zu einem Interpretationswerkzeug für eine effizientere ‚Organisation des Chaos‘ macht. Nietzsche steht folglich nicht außerhalb des Projekts der Moderne. Wie die Junghegelianer ‚etabliert‘ auch er den Diskurs der Moderne, den Hegel eröffnet hatte. 191 Mit großem Scharfsinn erkennt er, dass das Emanzipationspotential der aufklärerischen Kritik sich erschöpft hat und tendenziell zu einem Wiederkäuen der Kultur geworden ist. Die Schärfe, mit der er die 189
190 191
Die Hegel’sche und nachhegelsche Ästhetik bildeten einen bedeutenden Entwicklungsmoment der ‚energetischen‘ Auffassung der Tragödie. Vischer widmet dem Aufbau des Dramas besondere Aufmerksamkeit und stellt die Stringenz als grundlegendes Kompositionsprinzip heraus. Nietzsche entwickelt dieses Kompositionsprinzip weiter und misst dabei der Musik, welche die tieferen Gründe des Dramas erhelle, eine besondere Bedeutung bei. Nietzsches Theorie des Tragischen setzt diese Entwicklung in der Interpretation der Tragödie, die Lessing eingeleitet hatte, jedoch voraus. Nietzsches Beziehung zur nachhegelschen Ästhetik ergänzt meines Erachtens die wichtigen Ergebnisse der jüngeren Nietzsche-Forschung hinsichtlich Nietzsches Beziehungen zur – über die Theorien von Jakob Bernays und Paul Yorck von Wartenburg vermittelten – aristotelischen Dramentheorie. Vgl. dazu B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Kapitel 1–12), Stuttgart/Weimar, Metzler, 1992; L. Crescenzi, Philologie und deutsche Klassik: Nietzsche als Leser von Paul Graf Yorck von Wartenburg, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O., S. 208 ff.; C. Gentili, Nietzsche, Bologna, Il Mulino, 2001, S. 54 ff. Vgl. J. Habermas, a. a. O., S. 107. Vgl. ebd., S. 67.
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Folgen des Hegelianismus kritisiert, hat ihren eigentlichen Grund in der Intuition einer grundlegenden Wende der Philosophie, die ihre Einheit verliert und neue „selbständige Forschungsbezirke“ hervorbringt, die „als Funktionsformen und Erfolgsinstrumente der politisch-wirtschaftlichen, d. h. der in einem wesenhaften Sinne technischen Welt“ wirken. 192 Dank der Erforschung des Hegelschen Elements innerhalb der philosophischen Bildung Nietzsches kann man sich folglich einen genaueren Begriff von der Kohärenz seiner Befragung und philosophischen Suche machen. Sie hat an der allgemeineren Konstellation ‚Hegel und die Griechen‘ teil, in der Anfang und Vollendung der Philosophie zusammentreffen: Diese Konstellation bedeutet nicht „das Ende des Denkens“, sondern den „Versuch, den Blick in die Sache des Denkens wachzurufen. Die Sache des Denkens steht auf dem Spiel.“ 193 Sich über die Sache des Denkens zu befragen, hieß für Nietzsche, neue Formen der philosophischen Kommunikation ausfindig zu machen, dank derer sich eine originelle Beziehung zwischen Denken und Dichtung, Wahrheit und Schönheit herstellen ließ. Nietzsche zufolge musste diese Kommunikation sich vor allem der Nivellierung der Sprache entziehen, wie die tendenzielle Entstehung einer Massenkommunikation sie bewirkte, und trotz des bitteren Bewusstseins allen Sinnverlusts eine wahrere Bedeutung der Existenz und der Erkenntnis aufspüren: So führt die tragische Kultur der Griechen für Nietzsche nicht zu einem ursprünglichen Paradies der Menschheit zurück, sondern enthüllt ein „Noch nicht“, das „‚Noch nicht‘ des Ungedachten“, „dem wir nicht genügen und kein Genüge tun“ 194.
192
193 194
Vgl. M. Heidegger, Hegel und die Griechen, in: Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, 1. Abteilung, hg. von F. W. von Herrmann, Frankfurt/Main, Klostermann, 1976, S. 427. Diesen Wendepunkt im philosophischen Diskurs der Moderne hatte Nietzsche auf seine Weise geahnt, als er einen Missbrauch der ‚grandiosen Initiative‘ der Hegel’schen Philosophie seitens der „vorhandenen Mächte (Staat usw.)“ (KSA 12, S. 113) feststellte. Nietzsche interpretiert seine eigene Philosophie demnach als Fortentwicklung des authentischsten Kerns der Hegel’schen Philosophie entgegen dem zur offiziellen Philosophie eines Staatsapparats verkommenen Hegelianismus. Vgl. M. Heidegger, Hegel und die Griechen, a. a. O., S. 427. Vgl. ebd., S. 444. Diese Suche nach einer neuen Form der philosophischen Kommunikation, die ein Bewusstsein der auf dem Spiel stehenden Sache des Denkens einschließt, kann meines Erachtens gewinnbringend im Lichte der wichtigen Gedanken von Wolfgang Müller-Lauter in Auseinandersetzung mit Günter Abels Interpretation gelesen werden (vgl. W. Müller-Lauter, Über Freiheit und Chaos, Nietzsche-Interpretationen, Bd. 2, a. a. O., S. 269 ff.). Eines der von Müller-Lauter in seiner Auseinandersetzung mit Abel aufgeworfenen Probleme betrifft gerade die Betonung einer existenziellen Dimension in Nietzsches Denken, die dessen vollständige Reduktion auf eine Interpretationsund Kommunikationstheorie ausschließe.
Kapitel 8 Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring Marx und Nietzsche: Wie oft wurden diese beiden Namen nebeneinander gestellt! Ob nun eine mögliche Synthese zwischen den beiden Denksystemen versucht wurde oder ob sie vielmehr als völlig unvereinbar erschienen – immer wieder kam es in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts auf mehr oder weniger direkte Weise zu einer Gegenüberstellung von Marx und Nietzsche. Dennoch wurde die einzige Möglichkeit einer vielleicht weniger systematischen, dafür aber historisch begründeteren Gegenüberstellung von Marxismus und Nietzsche bis jetzt im Allgemeinen außer Acht gelassen: die – freilich indirekte – Gegenüberstellung, die Marx und Engels einerseits, Nietzsche andererseits völlig unabhängig voneinander und mit ganz verschiedenen Motivationen gegen den gemeinsamen Gegner Eugen Dühring vereint sieht, ohne dass sie davon wüssten. Aus der Polemik des Marxismus gegen Dühring ging die Schrift Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft hervor, die Friedrich Engels zwischen 1877 und 1878 im Vorwärts veröffentlichte; sie war die erste systematische Darstellung der von Marx und Engels ausgearbeiteten Gedanken, die bis dahin auch einem Großteil der führenden Persönlichkeiten und Anhänger der Sozialdemokratie in dem ganzen Ausmaß ihrer Zusammenhänge unbekannt waren. Eine spätere Bearbeitung einiger Kapitel dieses Werkes, die Engels im Jahr 1880 auf Wunsch von Paul Lafargue mit dem Titel Socialisme utopique et socialisme scientifique veröffentlichte (der Titel wurde in der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1883 in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft abgeändert), sollte, vor allem infolge der Anti-Sozialisten-Gesetze, zusammen mit dem Manifest der kommunistischen Partei zu einem der wichtigsten und verbreitetsten ‚kanonischen‘ Texte des Marxismus werden. Auf den ersten Blick mag Nietzsches Polemik gegen Dühring begrenzter und zufälliger erscheinen: Mit Ausnahme eines wichtigen Abschnitts der Genealogie der Moral beschränken sich die ausdrücklichen Hinweise auf Dühring in den von Nietzsche veröffentlichten Werken tatsächlich auf einige weitere Anspielungen in derselben Schrift und in Jenseits von Gut und Böse. Wenn man jedoch den gesamten Nachlass in Betracht zieht, was die neue, von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte kritische
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Werkausgabe ermöglicht, lässt sich unschwer feststellen, dass Nietzsche sich mehrfach mit Dühring auseinandergesetzt hat. Erstmals hatte er den Namen des Berliner Philosophen in einem Brief vom 16. Februar 1868 an Carl von Gersdorff (vgl. KSB 2, S. 258) genannt, im gleichen Jahr, in dem Marx und Engels durch eine Rezension Dührings zum Kapital auf den Autor aufmerksam wurden. Im darauf folgenden Jahr erwähnte Nietzsche in dem Bericht über seine ersten Besuche in Tribschen ein Werk von Dühring – wahrscheinlich Der Werth des Lebens –, das er Cosima von Bülow geschickt hatte. (Vgl. KSA 15, 11) Mit einer eingehenderen Lektüre Dührings befasste er sich indes erst einige Jahre später, 1875, im selben Jahr, in dem der wachsende Erfolg von Dührings Ideen in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie Marx und Engels veranlasste, offen gegen ihn Stellung zu beziehen. Wichtige Spuren dieser Lektüre von 1875 finden sich auch in einigen grundlegenden Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches. Schließlich wird Dühring mehrmals im Rahmen der vorbereitenden Arbeiten zu Also sprach Zarathustra genannt, und offensichtliche Anspielungen auf ihn sind im zweiten Teil des Werkes vorhanden. Berücksichtigt man all diese Elemente, so erscheinen die in der Genealogie der Moral und in Jenseits von Gut und Böse enthaltenen Hinweise auf Dühring weniger zufällig als man zunächst vermuten könnte. Sie stehen zudem auf oft indirekte, verborgene Weise mit einigen grundlegenden Problemen von Nietzsches Denken in Zusammenhang. Darüber hinaus war Dührings Werk, wie schon Mazzino Montinari bemerkt hat195, eine der wichtigsten Quellen, auf die Nietzsche seine Ansicht und sein Urteil über den Sozialismus stützte. Auch wenn Nietzsche und Engels von völlig unterschiedlichen Perspektiven ausgehen, stehen sie sich in der Polemik gegen die besondere von Dühring vertretene Auffassung des Sozialismus doch nicht sehr fern. Allein diese erstaunliche Übereinstimmung kann zu einer problematischeren Sicht und eingehenderen Untersuchung von Nietzsches Ablehnung des Sozialismus herausfordern. In diesem Rahmen kann es von Interesse sein, die Beziehung Nietzsches zu dem Berliner Philosophen in ihrer Entwicklung und ihren verschiedenen Phasen zu rekonstruieren, was dieses Kapitel leisten will. Die Gründe, die Nietzsche ursprünglich veranlassten, sich für Dühring zu interessieren, gehen in nuce bereits aus seinem Brief an Gersdorff aus dem Jahr 1868 hervor. Er drückt darin den Wunsch aus, „ein Organ für die Bestrebungen vom Standpunkte Schopenhauers“ zu haben, um das man „unsre philosophischen Freunde etwas zusammensuchen“ könnte und nennt dabei auch Eugen Dühring in Berlin, „der immer schöne Col195
Vgl. M. Montinari, Nietzsche lesen, a. a. O., S. 201–202.
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legien hat z. B. über Schopenhauer und Byron, über Pessimismus etc.“ (KSB 2, S. 258). Der Brief legt nicht nur indirekt Zeugnis von dem wachsenden Anklang ab, den Dührings Vorlesungen – der gerade in jenen Jahren seine Tätigkeit als Privatdozent an der Universität Berlin aufgenommen hatte – bei den Studenten fanden, er zeigt auch, dass das Interesse Nietzsches vor allem den Positionen Dührings zu Schopenhauer und dem Konflikt zwischen Optimismus und Pessimismus galt. Nietzsche fühlte sich durch das Problem des ‚Wertes des Lebens‘ – Gegenstand einer der ersten philosophischen Werke von Dühring – von dem Philosophen aus Berlin angezogen. Im Übrigen lag das Problem in der Luft, wie Dühring selbst in der Vorrede schreibt, so dass man in der philosophischen Debatte jener Zeit allenthalben auf Spuren „eines Kampfes zwischen optimistischen und pessimistischen Neigungen“ 196 trifft. Vermutlich handelte es sich bei dem Buch Dührings, das Nietzsche Cosima bei einem seiner ersten Besuche in Tribschen schenkte, um den Werth des Lebens, doch erst sechs Jahre später widmete er sich einer eingehenderen Lektüre dieses Werks. Im Frühjahr 1875 erwarb Nietzsche letzteres zusammen mit dem gerade erschienenen Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, der mit den drei sozio-ökonomischen Werken (Kritische Grundlegung der Volkswirtschaftslehre, Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus, Cursus der National- und Sozialökonomie) eine organische Darstellung von Dührings Denken ergibt. Die Situation, in der Nietzsche Dühring nun las, hat sich im Vergleich zu 1868 grundlegend verändert: Einerseits steht Dühring auf dem Höhepunkt seines kurzzeitigen Erfolgs und hat sich immer mehr von der ursprünglichen Überprüfung des Schopenhauerschen Denkens entfernt, um sich statt dessen der systematischen Entwicklung seiner ‚Wirklichkeitsphilosophie‘ zuzuwenden; andererseits versucht Nietzsche in dieser Periode, seine jugendlichen, von Wagner und Schopenhauer bestimmten Auffassungen zu überwinden. Er steht am Anfang jenes komplizierten Prozesses der Befreiung
196
E. Dühring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865, S. III. Außer in der Vorrede zu Der Werth des Lebens, fasst Dühring seine Anschauungen über das Problem des Pessimismus – unter besonderer Bezugnahme auf Schopenhauer und Byron – im Kapitel über die „Ursachen des Pessimismus“ im Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig, Koschny, 1875 zusammen (vgl. S. 341 f.). Diesen Anschauungen verlieh Dühring auch früher in einigen jugendlichen Aufsätzen, wie Arthur Schopenhauer und die Bestrebungen unserer Zeit (in der Vossischen Zeitung, Nr. 79, 85, 90, 95 (1865)) und Der Pessimismus in Philosophie und Dichtung (in: Deutsche Vierteljahrsschrift, XXVIII, 3, (1865), S. 189 f.) Zu Dührings Position Schopenhauer gegenüber vgl. auch G. Albrecht, Eugen Dühring. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialwissenschaft, Jena, Fischer, 1927, S. 46–52.
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des Geistes, der in der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches seinen Höhepunkt fand und durch die Lektüre zahlreicher Bücher angeregt wurde, „welche den ganzen Cursus der Freigeisterei enthalten“, wie der Philosoph in einem Brief an Paul Rée vom 19. November 1877 schrieb (vgl. KSB 5, S. 291). In demselben Brief stellte Nietzsche die Memoiren einer Idealistin von Malwida von Meysenbug an die erste Stelle dieser Lektüren und den Ursprung der moralischen Empfindungen von Paul Rée an den Schluss. Auch wenn Dührings Schriften nicht den gleichen Stellenwert hatten wie diese beiden Werke, las Nietzsche sie dennoch, um seine Vorliebe für Schopenhauer zu überprüfen und gegebenenfalls zu überwinden, wie er gleich zu Beginn seiner Lektüre angibt. Er hat sich unter anderem vorgenommen, „Dühring als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauer’s durchzustudiren und zu sehen, was ich an Schopenhauer habe, was nicht. Hinterdrein noch einmal Schopenhauer zu lesen“ (KSA 8, 129). Diese Absicht setzte er mit großer Sorgfalt in den langen Auszügen aus dem Werth des Lebens um, die fast das ganze Heft U III 1 der Nachgelassenen Fragmente aus dem Sommer 1875 füllen. In der Schlussbetrachtung, in der Nietzsche die Ergebnisse seiner Lektüre zusammenfasst, äußert er verschiedene Gedanken, die sich dann in einigen besonders wichtigen Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches wiederfinden. Sie bilden ein wichtiges Zeugnis für den besonderen Prozess der Überwindung seiner jugendlichen Ideen, in dessen Verlauf er einige der von Schopenhauer übernommenen Überzeugungen zwar beibehält, jedoch von Grund auf umarbeitet und in einen anderen philosophischen Zusammenhang stellt. Obwohl Dührings Denken in der von Engels heftig kritisierten schematischen Oberflächlichkeit seine Grenze hatte, spiegelte es doch – über den Konflikt zwischen Optimismus und Pessimismus hinaus – die Situation der Philosophie nach Schopenhauer, die Cassirer in seinem Buch Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit 197 so treffend dargestellt hat, sehr klar wider. Hatte Schopenhauer einerseits die Metaphysik erneut in ihr Recht gesetzt, so hatte er sie andererseits durch rein wissenschaftliche, vorwiegend psycho-physiologische Begründungen auf neue Grundlagen gestellt. In seiner ‚Wirklichkeitsphilosophie‘ nimmt sich Dühring vor, „das Sein ausschließlich am Leitfaden der Materialität oder, was dasselbe heißt, am Leitfaden der wahrnehmbaren Kräfte“ 198 zu verfolgen. Daraus ergibt sich, dass die Ursprünge des 197
198
Vgl. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3, Die nachkantischen Systeme, a. a. O., S. 413–447. E. Dühring, Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk und Schlüssel zu seinen sämmtlichen Schriften, Karlsruhe und Leipzig, Reuther, 1882, S. 299.
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Pessimismus und der Metaphysik im Bereich der Wirklichkeit selbst gesucht werden müssen. Da Dühring sich als Anhänger Schopenhauers bezeichnete, „sobald es gilt, diesem Philosophen seine einzige Stellung nach Kant zu vindiciren“ 199, meint er, er müsse seine kritische Philosophie von derjenigen Kants unterscheiden, insofern er „den praktischen Empfindungs- und Gefühlsbestandtheil alles wertschätzenden Urtheils“200 untersucht habe, statt a priori die Formen der Erkenntnis und der Urteile festzulegen. Im Hinblick auf den Ursprung der Urteile über Wert und NichtWert des Lebens glaubt er zum Beispiel, aufgezeigt zu haben, „daß die Ausgleichung, um welche es sich im Kampfe der optimistischen und pessimistischen Ansichten handelt, nicht allein durch den blossen Gedanken, sondern auch durch die unser Urtheil selbst umstimmende Wandlung der Thatsachen vollzogen werde“ 201. Verändere sich also die Wirklichkeit, so müssten sich auch unsere Urteile über den Wert des Lebens verändern; in dieser Hinsicht wünschte sich Dühring, von niemandem „diametraler als gerade von jenem pessimistischen Weisen abgewichen“ zu sein 202, und bezog sich damit auf Schopenhauer. Es ging ihm gewiss nicht darum, zu einem Optimismus alter Prägung zurückzukehren, wie ihn Leibniz vertrat; der Pessimismus Schopenhauers war Dührings Meinung nach durch edle Absichten charakterisiert und drückte eine Spannung zwischen der tatsächlichen Wirklichkeit und der idealen Welt des Sein-Sollenden aus. Er könne also als Ausgangspunkt dienen, um sich gegen die bestehenden Übel aufzuraffen, doch gelte es, die im Denken des Frankfurter Philosophen angedeuteten Möglichkeiten einer stetigen Verbesserung im Diesseits zu verwirklichen, statt sie auf eine metaphysische Dimension jenseits der Natur und der Menschenwelt zu verlagern. Wenn die Philosophie keine letzte Grundlage jenseits der Wirklichkeit mehr suchen konnte, dann musste sie nach Dühring als „die Entwicklung der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben“ 203 aufgefasst 199
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201 202
203
E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., S. VI. Diese Bewertung Schopenhauers war vor allem gegen Hegel gerichtet, dessen Dialektik Dühring für unwissenschaftlich und metaphysisch hielt. E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., S. VII. Auf diese Auffassung der Philosophie als „Analyse der praktischen Empfindungs- und Gefühlsbestandteile alles wertschätzenden Urteils“ hat auch Feuerbach einen Einfluss ausgeübt, wie Dühring selbst anerkannte (vgl. ebd., S. VIII). E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., S. VIII. Ebd., S. VI. Seine Überwindung von Schopenhauers Pessimismus hat nach Dühring auch eine politische Bedeutung; diese entspricht den neuen Perspektiven der deutschen Politik unter Bismarck oder, wie er selbst meint, der Entfernung der Nation „von der Traumwelt, in welche eine lange Zeit hindurch der Schwerpunkt ihres Daseins fiel“ (Der Werth des Lebens, a. a. O., S. V–VII). E. Dühring, Cursus der Philosophie, a. a. O., S. 2.
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werden. Diese höchste Form des Bewusstseins sei die einzige normgebende Macht, auf die die Philosophie sich berufen könne; neben ihr könne „keine zweite Fundstätte der Wahrheit und keine zweite Quelle der Gerechtigkeit“ anerkannt werden. Folgendermaßen fährt Dühring fort: Alles was unter der Form irgend einer Art von Wahrheit Ansprüche auf Geltung macht, muss sich auf Verstand und Wissenschaft als letztes Entscheidungsmittel auch dann berufen, wenn Überzeugungen im Sinne eines von Gefühl geleiteten Annehmens oder Glaubens in Frage sind.204
Das Bewusstsein kann nämlich nach Dühring nicht nur als das „theoretische und gleichsam ruhende Wissen“ aufgefasst werden; der Begriff müsse vielmehr so erweitert werden, dass er „die Empfindungen der Triebkräfte, in denen das Wollen seinen bewußten Ausdruck erhält“ 205, einschließt. Deshalb erscheine die Philosophie unter zwei Aspekten: als Gesinnung und als Wissenschaft. Als Gesinnung sei sie „eine Fortpflanzung der Motive edlerer Menschlichkeit: sie schafft an den Idealen der Humanität und hegt die grossen Conceptionen, in denen das höchste Wollen der Menschheit gipfelt“ 206. Als Wissenschaft dagegen sei sie „theils Hervorbringung, theils Aufnahme derjenigen Einsichten, durch welche die Welt und das Leben klar übersichtlich, die Principien der Vorgänge verständlich und die Abfolgen der unserer Kraft erreichbaren Zustände für die verstandesmäßige Leistung zugänglich werden“207. So besteht die Aufgabe der von Dühring vertretenen Naturphilosophie darin, einerseits „den Welt- und Lebensschematismus verständlich zu machen“ 208, andererseits wesentlich als „ein rastlos thätiges Prinzip allseitiger Gestaltung des Lebens“ 209 zu wirken. Der ersten Aufgabe kann sie um so mehr nachkommen, als sich nach Dührings Überzeugung Welt und Leben ihrer Verfasstheit nach in eine bestimmte Anzahl von Bestandteilen zerlegen, also auf einige Grundelemente und Grundformen zurückführen lassen. Einmal erworben, wirkten diese wie Prinzipien, deren Wert nicht nur auf den unserer Erkenntnis unmittelbar zugänglichen Bereich ausgedehnt werden könne, sondern auch auf all das, „was jenseits der Tragweite unserer speciellen und ausreichenden Wahrnehmung liegt“ 210. Diese philosophischen Prinzipien könnten die notwendige Ergänzung zu den Einzelwissenschaften liefern, damit die Wirklichkeitslehre zu einem einheit204 205 206 207 208 209 210
Ebd., S. 7. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 2. Ebd., S. 9.
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lichen System der Erklärung von Natur und menschlichem Leben wird. Diese Weltschematik, die sich als rationale Entsprechung der antiken Metaphysik darstellt und den Inbegriff aller Möglichkeiten bildet, wirkt sich aber auch auf die zweite Aufgabe der Philosophie als Gestaltung aus. Nicht allein befreie sie das Denken von dem Gegebenen und ‚unmittelbar Thatsächlichen‘, sondern gewähre ihm auch jene allseitige Freiheit, durch die es die Möglichkeiten der Weltentwicklung erfasst. Auf diese Weise wirke das gestaltende Denken auf das menschliche Schicksal ein, denn es sei dazu imstande, „die unwillkürlichen Gebilde bloßer Naturtriebe und beschränkter Überlegung durch eine bewusste Gesammtaction zu veredeln und Wirkungen sichtbar zu machen, die in der bisher abgelaufenen Geschichte nicht vertreten sind“ 211. Dühring schreibt der Philosophie somit einen ‚reformatorischen Beruf‘ zu, indem sie aktiv zur freien Gestaltung des Schicksals der Menschheit und der sozialen Gemeinschaft beitrage und an die Stelle des antiken religiösen oder metaphysischen Glaubens trete. 212 Die Auszüge aus dem Werth des Lebens und die daraus hervorgegangenen Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches lassen erkennen, dass sich Nietzsche einerseits mit Dühring über die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie einig ist, andererseits aber dazu neigt, gerade in dieser Hinsicht Schopenhauers Lehre wieder aufzugreifen. Wenn Schopenhauers Metaphysik in dem Moment, da die Erkenntnis nur Triebe und Gemütsbewegungen als Grundlage der logischen Urteile und der moralischen Werte gelten lässt, jeden Wert verliert, dann kann Schopenhauer dennoch gegen Dühring verwendet werden, um hervorzuheben, dass die ‚Vollendung der Metaphysik‘ ein viel komplexerer Prozess ist als die Wirklichkeitsphilosophie nahelegt. Das Ergebnis ist die Philosophie, die zur Tragödie werden kann und im Aphorismus 34 von Menschliches, Allzumenschliches (vgl. KSA 2, 53–55) ausdrücklich theoretisiert wird. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer solchen Philosophie werden unter anderem in den vorangehenden Aphorismen 32 und 33 formuliert, in denen Nietzsche die durch die Lektüre von 211 212
Ebd., S. 13–14. Vgl. dazu Cursus der Philosophie, a. a. O., S. 17. Gerade wegen dieses ‚reformatorischen Berufs‘ hat sich Dührings Philosophie auch mit sozioökonomischen Problemen beschäftigt: Seine Polemik gegen den Pessimismus wird so z. B. von der stetigen Auseinandersetzung mit Malthus begleitet, dem er vor allem Carey und List gegenüberstellt. Zur wirtschaftlichen Theorie von Dühring vgl. Gerhard Albrecht, a. a. O. und A. Kruse, Eugen Dührings wissenschaftliche Isolierung, in: Festgabe für Friedrich Bülow, hg. von O. Stammer und K. C. Thalheim, Berlin 1960, S. 209–221. Ebenso Benedict Friedländer, Der freiheitliche Sozialismus im Gegensatz zum Staatsknechthum der Marxisten. Mit besonderer Berücksichtigung der Werke und Schicksale Eugen Dührings, Berlin, Freie Verl.-Anst., 1892.
210
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Dührings Werk angeregten Aufzeichnungen abgesehen von einigen stilistischen Variationen nahezu unverändert übernimmt. 213 Grundlage einer solchen „Philosophie der l o g i s c h e n W e l t v e r n e i n u n g “, „welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt“ (MA I 29, KSA 2, 50), ist vor allem das Bewusstsein, dass die Irrtümer, Einbildungen und unreinen Formen des Denkens bei der Schaffung jeder höheren Lebensund Kulturform eine große Rolle spielten 214. Wenn die wissenschaftliche Philosophie diese Formen als Ergebnis von Bewertungen statt als objektive Wahrheiten interpretiert, dann müsse sie auch ihre Erkenntnismodalitäten einer kritischen Überprüfung unterziehen; sie dürfe das irrtümliche und perspektivische Element, das ihren Untersuchungsmethoden eigne, nicht vernachlässigen. Nietzsche ist von Dührings Naivität weit entfernt, der meinte, die Welt und das Leben ließen sich ihrer Verfasstheit nach auf einige Grundelemente zurückführen und einfach in eine bestimmte Anzahl von Bestandteilen zerlegen. Ein solches Verfahren erscheint Nietzsche „unlogisch entwickelt“ (vgl. MA I 32, KSA 2, 51). Die gleich nach der Lektüre der Einleitung zu Der Werth des Lebens angestellten kritischen Betrachtungen wieder aufgreifend, bemerkt er, die Unreinheit der Urteilsform, auf der die Wirklichkeitsphilosophie Dührings gründe, liege erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass
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Im Aphorismus 32 greift Nietzsche die Themen seiner Bemerkungen über Dührings Einleitung zu Der Werth des Lebens, im Aphorismus 33 die seiner ‚Schluss-Betrachtung‘ auf (vgl. KSA 2, 51–52, KSA 8, 135–136; KSA 2, 52–53, KSA 8, 178–180; KSA 14, 125). Die in diesem Kapitel angestellten Betrachtungen zu Nietzsches Dühring-Exzerpten und ihrer Verarbeitung in einigen Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches wurden von Wolfgang Müller-Lauter in seinem Freiheit und Wille bei Nietzsche weiter entwickelt. (Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen, Bd. 2, Über Freiheit und Chaos, a. a. O., insbesondere S. 41 ff.) Eng verknüpft mit Müller-Lauters Ausarbeitung sind Marco Brusottis Überlegungen zu diesem Thema, sowohl in Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., als auch in seinen Beiträgen Die „Selbstüberwindung des Menschen“ in der Moderne. Studie zu Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ (in: Nietzsche-Studien, 21 (1992), S. 81–136) und Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. ‚Aktiv‘ und ‚Reaktiv‘ in Nietzsches Genealogie der Moral (in: Nietzsche-Studien, 30 (2001), S. 107–132). Vgl. zu diesem Punkt Nietzsches Äußerung in seinen Exzerpten: „Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur Herrschaft kommt, z. B. ist Kunst noch möglich?“ (KSA 8, 147–8). Ähnliche Betrachtungen wiederholen sich auch im Aphorismus 29 von Menschliches, Allzumenschliches. (Vgl. KSA 2, 49–50)
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wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. (MA I 32, KSA 2, 51–52; vgl. KSA 8, 135–136)
In den Exzerpten aus dem Werth des Lebens wird die Feststellung der Grenzen von Dührings wissenschaftlicher Philosophie außerdem zur theoretischen Neubegründung einer pessimistischen Auffassung des Lebens und Erkennens herangezogen, denn „die sogenannte WirklichkeitsPhilosophie“ erscheint darin als im Bereich des „populären Vorurtheils über Wirklich und Nichtwirklich“ (KSA 8, 136) eingeschlossen. Sie beschränke sich darauf, das Dasein an dem Satz der Identität zu messen, vernachlässige es aber, alle logischen Konsequenzen daraus zu ziehen, dass auch dieser Satz der Identität eine einfache Vorstellung ist: Durch ihn erfänden wir eine fiktive Harmonie, nach der wir die uns umgebende disharmonische Welt bewerteten. Da die Dinge ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht abgeschätzt werden können, „so ist ja Urtheilen, Werte-bestimmen selbst nichts andres als Messen der ‚wirklichen‘ Welt an einer, die uns für wirklicher gilt“ (ebd.). Aus dieser Kritik an Dühring zieht Nietzsche die Schlussfolgerung, dass es eine philosophische Überlegenheit des Pessimismus gebe: Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer w i r k l i c h e r e n besseren, d i e T h e s e s o m i t d e s P e s s i m i s m u s ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. (KSA 8, 137)
Gerade diese theoretische Begründung des Pessimismus wird jedoch in Menschliches, Allzumenschliches aufgegeben. Die „bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörter Optimismus und Pessimismus“ erscheinen hier als „verrufene Worte“ (MA I, 28, KSA 2, 48–49) und es wird gefordert, sich „der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung“ (ebd.) zu entledigen. Der Pessimismus verwandelt sich in eine „Philosophie der l o g i s c h e n W e l t v e r n e i n u n g “ (vgl. MA I 29, KSA 2, 50). Sicher kann diese Philosophie ‚zur Tragödie‘ werden (vgl. MA I, 34, KSA 2, 53), doch ist es jetzt Nietzsches größtes Problem, eine Daseinsweise zu finden, die es gestattet, mit dieser Tragödie, dieser unvermeidlichen Disharmonie zu leben, die darin besteht, dass es trotz der Grenzen und Unreinheit jeder Form des Urteils keine Möglichkeit eines Lebens ohne Urteil und Logik gibt:
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Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, u n d k ö n n e n d i e s s e r k e n n e n : diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins. (MA I 32, KSA 2, 52; vgl. auch KSA 8, 136)
Als Konsequenz dieser Disharmonie ist „der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig“: so der Titel des Aphorismus 33 von Menschliches, Allzumenschliches, in dem die von Nietzsche nach der Lektüre von Der Werth des Lebens angestellten Schlussfolgerungen zusammenfließen. Sie liefern ein definitives Urteil über Dührings Werk, nehmen aber außerdem viele der schon während der Lektüre des letzten Kapitels von der Werth des Lebens gemachten Randbemerkungen wieder auf und verschmelzen sie zu einer Gesamtbewertung (vgl. KSA 8, 173–175). Das wichtigste in ihnen behandelte Problem ist das eines ‚Gesamtbewusstseins der Menschheit‘, welches das Leben nur als ‚immerfort leidend‘ auffassen könne (vgl. KSA 8, 174). Der Glaube an den Wert des Lebens, wie er von Dühring vertreten wird, ist für Nietzsche „allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist“ (MA I 33, KSA 2, 52; vgl. auch KSA 8, 178). Da die wissenschaftliche Philosophie Dührings ihre kritische Analyse nicht so weit führe, dass sie die Begrenztheit und Irrtümlichkeit ihrer Erkenntnismethoden wahrnehmen würde, könne sie auch nur für einen naiven Wert des Lebens eintreten, weil sie „nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in’s Auge“ fasse (ebd.). Auf diese Weise bleibe sie gleichermaßen dem ‚populäre[n] Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich‘ verhaftet wie sie zu einer außerpersönlichen Bewertung des Lebens und zur Überwindung der beschränkten Urteilsfähigkeit des ‚gewöhnlichen, alltäglichen Menschen‘ unfähig sei. Der große Mangel an Phantasie, an dem dieser leide, bewirke, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen k e i n e Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den
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Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso v e r g e u d e t zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. (MA I 33, KSA 2, 53; vgl. auch KSA 8, 179) 215
Auch in diesem Fall lässt Nietzsche bei dem Übergang von den Exzerpten zu Menschliches, Allzumenschliches die Schlussargumente zu Gunsten einer theoretischen Neubegründung des Pessimismus fallen. In den Exzerpten hatte er gegen Dührings Vorstellung von der notwendigen Bewegung vom Schmerz zur Lust Stellung bezogen und die Unmöglichkeit einer Kompensation zwischen Leiden und Glück behauptet. Der Schmerz lasse sich nicht aus der Welt schaffen, Lust und Schmerz hätten vielmehr ihre gemeinsame Quelle im Bedürfnis, 216 das nicht beseitigt werden könne; das Negative wohne dem Leben selbst inne, so dass man auch unter diesem Gesichtspunkt nicht über eine pessimistische Weltanschauung hinauskäme. In Menschliches, Allzumenschliches konzentriert sich Nietzsche dagegen vor allem auf die Suche nach möglichen kritisch-distanzierten Betrachtungsweisen dieses disharmonischen Schauspiels einer ziellosen Menschheit. Wenn er viele Jahre später in einem Fragment von 1884 den ‚Weg zur Weisheit‘, der zur ‚Überwindung der Moral‘ führt, erneut beschreitet, beschreibt er dessen Schlussphase als einen Zustand ‚jenseits von Gut und Böse‘. Wer diesen erreicht habe, sei über „solche Naturen wie Dühring und Wagner oder Schopenhauer“ hinausgegangen: „Er nimmt sich der mechanischen Weltbetrachtung an und fühlt sich nicht gedemüthigt unter dem Schicksal: er i s t Schicksal. Er hat das Loos der Menschen in der Hand“ (KSA 11, 159–160). Mag Nietzsche auch in Menschliches, Allzumenschliches noch nicht eindeutig zu dieser Sicht des Schicksals gelangt sein217, so 215
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Ähnliche Gedanken kehren auch im Aphorismus 618 von Menschliches, Allzumenschliches I wieder (vgl. KSA 2, 349). Vgl. dazu Nietzsches Betrachtungen in seinen Exzerpten über Dührings Auseinandersetzung mit Schopenhauers Auffassung der Lust und des Schmerzes: „Dagegen sage ich: jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz. Nicht immer wird diese einzelne Lust noch als solche empfunden; denn wir leben in einem Zustande zahlloser einzelner lustvoller Reizungen, das Wohlgefühl des ganzen Menschen ist der Ausdruck davon. Ein Minimalgrad von Reizung und Schmerz wird als Lust percipirt: so liegt auch in jeder Lust das Bedürfniß, der Mangel, das Verlangen nach Reizung; Schmerz ist nur das Ü b e r m a ß von Befriedigung dieses Mangels und Bedürfnisses. So sind beide, Lust und Schmerz, positiv, nämlich einen Mangel aufhebend, der Schmerz aber zugleich ein neues Bedürfniß schaffend, nach Verminderung des Reizes verlangend. Die Lust v e r l a n g t nach Vermehrung des Reizes, der Schmerz nach Verminderung: darin sind sie beide negativ. Das Bedürfniß ist ihre gemeinsame Quelle“ (KSA 8, 156). Diese Anschauung des Schicksals wird übrigens schon in den Exzerpten angedeutet, in denen Nietzsche behauptet: „Und doch erreicht die Erkenntniß im Philosophen einen Grad,
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liegt es doch für ihn auf der Hand, „dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist“ (MA I 28, KSA 2, 49), wenn er erst einmal eine wissenschaftliche und mechanistische Philosophie akzeptiert und folglich die „verrufenen Worte“ von Optimismus und Pessimismus aufgegeben hat. Um diese negative Sicht der Welt zu überwinden, die das einzig mögliche Resultat seiner Revision von Dührings Wirklichkeitsphilosophie zu sein scheint und „als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung“ nach sich zieht (MA I 34, KSA 2, 54), sucht er die charakteristischen Züge jenes weisen Menschen vorzuzeichnen, der „unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss“ dazu imstande ist, eine solch bittere Vision der Welt zu ertragen und „unter den Menschen und mit sich wie in der Natur“ zu leben, „ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte“ (ebd.)218. Die Exzerpte aus dem Werth des Lebens zeigen, wie Nietzsche bei der Darstellung der charakteristischen Eigenschaften dieser Weisheit auf einer neuen philosophischen Grundlage wieder auf einige ethische Auffassungen Schopenhauers zurückkommt. 219 Bei seiner Lektüre Dührings hatte ihn das Problem des Asketentums am meisten beschäftigt, wie den
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daß der einzelne Mensch in seiner Hülflosigkeit gegen die allgemeine @nágkh sich gerade wie ein b e w u ß t g e w o r d e n e s K i n d vorkömmt!“ (KSA 8, 148). Die von Heraklit übernommene Idee der weltbildenden Kraft als eines spielenden Kindes wurde schon in der Geburt der Tragödie ausgedrückt (vgl. KSA 1, 153). Es ist erwähnenswert, dass Nietzsche in den Exzerpten auch eine mögliche wissenschaftliche Neuauslegung seiner ‚symbolisch-mythologischen‘ Auffassung des Dionysischen und Apollinischen versucht (vgl. KSA 8, 146), indem er an das Kapitel Die Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen aus dem Werth des Lebens anknüpft (vgl. KSA 8, 146). In diesem Kapitel hatte Dühring seine Analyse des Empfindungs- und Gemütslebens als dynamisches System auf die Theorie der Entstehung der Wärmeempfindung gegründet (vgl. Der Werth des Lebens, a. a. O., S. 43). Die Verteidigung von Julius Robert Mayer und seiner Wärmetheorie, insbesondere im Aufsatz Robert Mayer der Galilei des neunzehnten Jahrhunderts, spielt eine wichtige Rolle in Dührings Leben und Werk, weil sie und die damit verbundene Polemik gegen Helmholtz eine der Ursachen für seine Entfernung von der Universität Berlin war. Sehr wahrscheinlich hatte Peter Gast, der Nietzsche die Lektüre von Mayer anempfohlen hatte, Mayer gerade durch Dühring entdeckt. Mit Mayers Theorie verbindet sich indirekt auch die wissenschaftliche Auslegung des Gegensatzes von Apollinischem und Dionysischem, die Nietzsche in den Exzerpten aus dem Werth des Lebens versucht. Die Idee, dass das Leben nur als Schauspiel zu ertragen sei, kommt bereits in den Exzerpten vor (vgl. KSA 8, 179); sie kehrt mit einigen Veränderungen auch im Aphorismus 33 von Menschliches, Allzumenschliches wieder, in dem aber nur Dichtern zuerkannt wird, dieses ‚Gefühl über alle Gefühle‘ zu empfinden (vgl. KSA 2, 53). Der Versuch einer neuen Rechtfertigung der Kunst taucht auch an anderen Stellen der Exzerpte auf (vgl. z. B. KSA 8, 135, 147–8). Vgl. etwa Nietzsches Feststellung an einer Stelle der Exzerpte: „Alles höchst falsch und niederträchtig, Herr Dühring! Ich dachte, der p r a k t i s c h e Idealismus Schopenhauer’s leuchte heller als die Sonne. Und da muß ihn so ein weiser Knabe auch noch recht ausdrücklich verneinen.“ (KSA 8, 176)
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Randbemerkungen zum ersten Kapitel von Der Werth des Lebens und dem letzten Teil der Schlussbetrachtung, in der Nietzsche ‚sein Evangelium‘ aufstellen will (vgl. KSA 8, 180–181; 138–141), zu entnehmen ist. In offenem Gegensatz zu Dühring vertritt er die These, dass zwar „zur Entstehung des Asketenthums vielleicht ein intellektueller Irrthum nötig ist“, dieses jedoch als unübertroffenes Modell einer idealen Lebensführung gültig bleibe, denn dieser Irrtum bezieht sich doch nur auf die V o r s t e l l u n g , wie der Mensch loskommt vom W i l l e n z u m L e b e n ; der Trieb überhaupt davon loszukommen, hat damit nichts zu thun, ist nicht aus dem Intellekt abzuleiten. Daß ein solcher Trieb gerade bei den edleren Menschen entstehen kann, ist doch ein Werthmesser des Daseins, man kommt mit Schimpfen nicht darüber weg; selbst w e n n ein ungeheurer Irrthum darin läge, so gehörte die Möglichkeit eines solchen Irrthums wieder zu den dunklen Zügen des Daseins. (KSA 8, 140)
Der Asket könne nur dann als Egoist angesehen werden, wenn man wie Dühring „nichts von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Asketenthums“ (KSA 8, 139) fühle; „die Arbeit der einsamen Asketen jeder Art“, die alles andere als asozial sei, habe immer ‚höhere Bande‘ zwischen den Menschen (ebd.) geschaffen. Das Asketentum und der Pessimismus seien keiner geistigen Verkümmerung entsprungen, sondern stets mit einer äußerst konsequenten geistigen Klarsicht verbunden gewesen, wie die Beispiele von Empedokles, Schopenhauer und Leopardi nach Auffassung Nietzsches zeigen (vgl. KSA 8, 140). Das Asketentum hat also, wenn es auf andere theoretische Grundlagen gestellt wird, vor allem die Funktion eines ‚Gesammtbewusstseins der Menschheit‘ und kann allein jene außerpersönliche Dimension ermöglichen, von der aus das Leben und die Welt in ihrer Gesamtheit bewertet und die extreme theoretische Fragwürdigkeit jedes Erkenntnisprozesses wahrgenommen werden kann. Über dieses theoretische Ergebnis hinaus weist der Asket – eben weil er diese außerpersönliche Dimension erreicht – auch auf eine Lebensführung hin, die sich von jeder flüchtigen Leidenschaft und von jedem engherzigen Streben zu befreien vermag: Also am S t r e b e n mißt sich der Werth der Dinge, für den g a r n i c h t S t r e b e n d e n giebt es k e i n e W e r t h e , für den rein Erkennenden fehlt alles Gut und Böse, alles Zustimmen und Verwerfen. Der gar nicht Strebende giebt nur rein theoretische Urtheile. Mir scheint also, daß alle Höhe des Urtheils über den Werth des Lebens an der Höhe und Stärke des Strebens hinge d. h. einmal am Ziele, und zweitens an dem Grad des nach dem Ziele Hindrängens, Hinlaufens. (KSA 8, 133) 220 220
Als negatives Beispiel dieser Auffassung ‚jenseits von Gut und Böse‘, die den ‚reinen Erkennenden‘ charakterisiere, zitierte Dühring Spinoza (vgl. Der Werth des Lebens, a. a. O.,
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In dieser Anmerkung Nietzsches zum Werth des Lebens ist, mindestens in nuce, ein Thema enthalten, das in Menschliches, Allzumenschliches wieder aufgenommen wird, denn es zeichnet sich darin bereits die Möglichkeit ab, die negativen Konsequenzen der ‚Philosophie der logischen Weltverneinung‘ zu überwinden. Gerade das Temperament eines Menschen, der durch die Erkenntnis jedes alte Begehren und Streben hinter sich gelassen hat, erscheint im Aphorismus 34 nämlich als entscheidendes Element, um einer ‚Philosophie der Zerstörung‘ zu entgehen: Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das T e m p e r a m e n t eines Menschen gegeben: ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. (MA I, 34, KSA 2, 54)
Das Asketentum als Fähigkeit, den beschränkten Egoismus zu überwinden und zu einem allgemeinen Bewusstsein zu gelangen, hat sich so in Menschliches, Allzumenschliches in das Ideal des freien Geistes verwandelt, der die Erkenntnis auch unter einem moralischen Aspekt erfährt und seine Seele von den gewöhnlichen Fesseln des Lebens befreit. Schon in Menschliches, Allzumenschliches wird dieser Zustand ‚jenseits von Gut und Böse‘ ‚dem knurrenden Tone und der Verbissenheit‘ gegenübergestellt, „jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben“ (MA I 34, KSA 2, 55). Ebenso kann derjenige, der seine Erkenntnis bis zu einer ‚Philosophie der logischen Weltverneinung‘ getrieben hat, „den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen“, nur Hohn und Verachtung entgegenbringen. In der späteren Polemik gegen den sozialistischen ‚Feuerhund‘ und gegen den „kläffende[n] und beißlustige[n] Kettenhund“ Dühring (vgl. KSA 10, 581) zeigt sich dieser Gegensatz offensichtlicher und nachdrücklicher, doch klingt er unterschwellig bereits in der kritischen Haltung an, mit der Nietzsche die im Werth des Lebens vertretene Auffassung des Asketentums betrachtet: S. 6). Nietzsche dagegen übernimmt diese Idee von Spinoza mit einer positiven Bedeutung in seinen Exzerpten; noch im Fragment 26 [48] aus dem Jahr 1884 zitiert er Spinoza als Beispiel für diese Stufe ‚jenseits von Gut und Böse‘, die man nur dank der Überwindung solcher Naturen wie Dühring und Wagner erreichen könne. (Vgl. KSA 11, 160) Mit der Beziehung Nietzsche – Dühring – Spinoza befasst sich Hans-Jürgen Gawoll in seinem verdienstvollen, tiefsinnigen Beitrag Nietzsche und der Geist Spinozas. Die existentielle Umwandlung einer affirmativen Ontologie, in: Nietzsche-Studien, 30 (2001), S. 44–61.
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Dühring ist besonders über die erwähnte Affektlosigkeit wüthend; wenn nun aber jemand dem Pathos entsagt und ganz 7qo~ zu werden versteht, so gilt das u n s viel höher und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist gerade für uns ein Objekt der Sehnsucht. Der Advokat des Pathos nimmt sich als Lebens-Verherrlicher übel aus. Wenn nichts Großes ohne Pathos entsteht (woran zu zweifeln ist –) so fällt ein unheimliches Licht auf das Leben; es genügt in allem Entstehen von etwas Großem etwas Tragisches zu sehen, ja im Leben selbst eine Tragödie. (KSA 8, 140)
Um diese Gegensätzlichkeit zwischen ‚Pathos‘ und ‚Ethos‘, die ein zentrales Thema der späteren Polemik gegen Dühring darstellt, in ihrem ganzen Ausmaß zu verstehen, müssen die Komplexität und psychologische Tiefe in Betracht gezogen werden, mit denen das Thema des Asketentums in der Schlussbetrachtung am Ende der Exzerpte aus dem Werth des Lebens behandelt wird. Nietzsche erklärt darin ausdrücklich, er wolle ‚sein Evangelium‘ aufstellen (vgl. KSA 8, 180). Tatsächlich scheint dieser Teil ganz persönliche, von der Problematik des Dühringschen Buches weit entfernte Anmerkungen zu enthalten, doch findet sich dort der einzige Hinweis auf die von Dühring vertretene Interpretation der Gerechtigkeit als Sublimierung der Rache, die später das zentrale Thema der Polemik Nietzsches gegen den Berliner Philosophen bilden sollte. Wenn er den Zusammenhang zwischen Liebe, Erkenntnis und Mitleid aufzeigt, den er als Kern der Psychologie des Asketentums und des Christentums betrachtet, vertritt Nietzsche nämlich die Auffassung: Selbsterkenntniß entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit – so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat. Bei manchen Menschen selbst A s k e s e , das heißt R a c h e a n s i c h in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. (In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang –) (KSA 8, 180)
Das Thema des Asketentums verbindet sich so mit dem Problem der ‚Erlösung aus dem Geist der Rache‘, dessen zentrale Stellung in Nietzsches Denken von Heidegger nachdrücklich hervorgehoben wurde.221 Gewiss steht das Problem in dieser Periode noch nicht im Zusammenhang mit der Abneigung des Willens „gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘“ (vgl. 221
Vgl. M. Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1974, S. 33–40. In seinen Exzerpten hatte Nietzsche den Anhang von Der Werth des Lebens mit dem Titel Die transcendente Befriedigung der Rache detailliert, aber ohne Hinzufügung eigener Betrachtungen zusammengefasst. (Vgl. KSA 8, 176–178; Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 219–234) Die Deutung der Gerechtigkeit als Rache kehrt auch im Cursus der Philosophie wieder (vgl. in diesem Werk, a. a. O., S. 219–243, das Kapitel über die Natürliche Auffassung des Rechts); Nietzsches Exemplar dieses Werks enthält keine Anmerkung oder Unterstreichung zu diesem Kapitel. (Vgl. dazu KSA 14, 568–569; KGW IV 4, 386–387)
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KSA 4, 180) wie in Also sprach Zarathustra, es tritt vor allem als ethisches und psychologisches Problem auf, dessen Lösung mit dem Erreichen jenes Zustandes ‚jenseits von Gut und Böse‘ zusammenfällt, zu dem der Freigeist unter dem Einfluss der reinigenden Erkenntnis gelangt. Der komplexe Reifungsprozess, in dessen Verlauf sich diese Überwindung vollzieht, kann an dem Übergang von der Schlussbetrachtung der Exzerpte aus dem Werth des Lebens zu einigen Aphorismen des Dritten Hauptstücks von Menschliches, Allzumenschliches nachvollzogen werden, die vom religiösen Leben handeln. Es geht in diesem Fall nicht um einen direkten Übergang, da kein Aphorismus die Betrachtungen der Exzerpte unmittelbar übernimmt. Sie waren jedoch fast vollständig, nur stilistisch ein wenig variiert, in ein langes Fragment von 1876222 eingeflossen; von der gleichen Thematik handelt, wenn auch in anderer Form, das Fragment 22 [20] von 1877 (vgl. KSA 8, 383), das Nietzsche in den ausschlaggebenden Aphorismen 134 und 135 von Menschliches, Allzumenschliches (vgl. KSA 2, 128–129; KSA 14, 133, 596) wiederverwendet. In diesen Aphorismen setzt er sich mit dem Problem auseinander, wie man zu einer korrekten psychologischen Erklärung des Christentums und des ihm eigenen Bedürfnisses nach Erlösung gelangen kann: „Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein“ (MA I, 135, KSA 2, 129). Die wissenschaftliche Philosophie und die Wissenschaft waren seines Erachtens an dem Versuch, diese Psychologie zu umreißen, bislang gescheitert und „religiösen Nachwehen“223 gegenüber 222
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Es handelt sich um das Fragment 18 [34] (vgl. KSA 8, 323–324), das zu dem ersten Entwurf von Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel Die Pflugschar gehört. Dieses Fragment wurde als Aphorismus des Abschnitts Das leichte Leben konzipiert; die Bedeutung des Titels dieses Abschnitts wird im Aphorismus 139 von Menschliches, Allzumenschliches erklärt. (Vgl. KSA 2, 133). So Nietzsche im Aphorismus 131 von Menschliches, Allzumenschliches, vgl. KSA 2, 124–125. Auch wenn er sich in diesem Aphorismus auf Afrikan Spir bezieht (vgl. dazu KSA 14, 132), hat seine Kritik an der Unfähigkeit der naturwissenschaftlichen Philosophie, das Erlösungsbedürfnis psychologisch korrekt zu erklären und mögliche religiöse Nachwehen folglich zu vermeiden, auch im Fall Dühring Gültigkeit. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen bei Dühring bemerkt Nietzsche in den Exzerpten z. B.: „Übrigens haben sich die Religionen immer ganz gut mit einem ‚wenngleich beschränkten‘ Wissen zu behelfen gewußt und nie ganz verschmäht. Das bliebe sich also gleich; nur daß Dühring das Gewußte zur Grundlage macht, auf der sich dann die Dichtung erhebt: während in den Religionen gewöhnlich die Dichtung die Grundlage ist, an welche dann gelegentlich auch einiges Gewußte angelehnt wird, mehr um zu stützen als gehalten zu werden, aber doch nicht um ganz als Fundament zu dienen“ (KSA 8, 175). Dass Dühring Gefahr läuft, trotz seiner wissenschaftlichen Ansprüche wieder in eine schlechte Mystik zu fallen, hält Nietzsche auch an einer anderen Stelle der Exzerpte fest (vgl. KSA 8, 175). Besonders hebt er in den Exzerpten aber auf Dührings Unfähigkeit ab, die Psychologie des Asketentums und des Christentums zu erklären (vgl. vor allem KSA 8, 138–142).
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daher nicht immun. Nur wenn das Unterfangen, die Psychologie des Asketentums und des Christentums zu erklären, gelinge, könne sich „das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann“ (MA I 144, KSA 2, 140), tatsächlich durchsetzen; allein dank dieser psychologischen Erklärung könne es gelingen, „die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen“ (MA I 133, KSA 2, 128) und sich von jedem „Rest von Gewissensbissen“ (ebd.) zu befreien. So führt die psychologische Erklärung im Ergebnis schließlich zu dem ‚Temperament‘ und der Weisheit des Menschen der Erkenntnis, die im Aphorismus 34 als einzige Möglichkeit angesehen werden, um eine ‚Philosophie der Zerstörung‘ zu vermeiden. Im Übrigen war diese Beziehung zwischen der Erlösung aus dem Geist der Rache und der Fähigkeit, die unvermeidliche Disharmonie der Existenz zu ertragen, schon in den Exzerpten aus dem Werth des Lebens angeklungen. Das Bewusstsein der ‚Grundirrthümer‘, die dem ‚unreinen Denken‘ zugrunde liegen, der Folgewidrigkeit und des Unrechts also, die jeder menschlichen Erkenntnis und Handlung innewohnen, entbinden nicht von der Notwendigkeit, zu erkennen und zu handeln. Der erkennende Mensch kann nicht umhin, in jeder Handlung seine Unzulänglichkeit zu erfahren und muss „Mitleid mit sich haben“ (KSA 8, 181), denn die Erkenntnis impliziert Selbstverachtung, auch wenn sie die notwendige Vorbedingung für eine gereinigte Liebe darstellt, eine Liebe, die nicht die „des gierigen blinden Egoismus“ (KSA 8, 180) ist. Diese „geläuterte und unbegreifliche Liebe“ (ebd.) aber, durch die der Mensch sich verachtet und dennoch nicht aufhört, sich zu lieben, verwandelt sich in ein ganz anderes Gefühl; in dieser Verwandlung, die nach Nietzsches Auffassung den „Kern des Christentums, ohne alle Schale und Mythologie“ (ebd.) ausmacht, wurde seit jeher der Eingriff einer göttlichen Liebe gesehen. Die psychologische Erklärung dieses Verfahrens führt dagegen zu einer anderen Interpretation: Es ist Selbstbegnadigung. Die Rache wird abgethan. Damit auch die Selbsterkenntniß. Wir handeln wieder und leben weiter. Aber alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt. (KSA 8, 180–181)
Mit einer solchen Erlösung aus dem Geist der Rache, einer solchen psychologischen Erklärung hört man nach Nietzsches Ansicht auf, Christ zu sein. Damit endet auch der komplexe Prozess der Überwindung und Umarbeitung von Schopenhauers Philosophie, von dem die Exzerpte aus dem Werth des Lebens Zeugnis ablegen. An deren Schluss wird die in der
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Schule des Asketentums und des Christentums erlernte psychologische Introspektion in die Wahrnehmung einer ‚Auflösung des Ichs‘ verwandelt, die schon auf neue Horizonte in Nietzsches Denken hinzudeuten scheint: „Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag“ (KSA 8, 131). Dem Cursus der Philosophie scheint Nietzsche nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet zu haben wie dem Werth des Lebens, obwohl er ihn zu lesen begann 224. Mit den Exzerpten aus dem Werth des Lebens wird Dührings Denken vielmehr „ad acta gelegt“, wie es Nietzsche viele Jahre später in einem Brief von Ende 1885 an Elisabeth und Bernhard Förster ausdrückt. (Vgl. KSB 7, S. 198) Die spätere Polemik gegen den Berliner Philosophen spielte sich jedenfalls über das Gedächtnis ab – „das Gedächtniß eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub“ (KSA 5, 130), wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse näher ausführt, wenn er Dühring erstmals ausdrücklich zitiert. Durch die Gedächtnisarbeit wird jede ausdrückliche oder indirekte Bezugnahme auf Dühring in einen umfassenderen Problemzusammenhang gestellt. Nietzsche ist nämlich in seiner Polemik nie an der einzelnen Person interessiert, sondern bedient sich ihrer lediglich „wie eines starken Vergrösserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann“ (KSA 6, 274). 225 In den späteren Bezugnahmen auf Dühring – sowohl den indirekten in Also sprach Zarathustra als auch den direkten in Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral – erweist sich immer mehr der radikale Kontrast zwischen zwei verschiedenen Auffassungen der Moral und des Ziels der Menschheit als zentraler Zusammenhang: auf der einen Seite die progressive Nivellierung, die zum ‚letzten Menschen‘ führt, auf der anderen der Versuch eines Lebens ‚jenseits von Gut und Böse‘, durch 224
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Zur Lektüre des Cursus der Philosophie im Frühjahr-Sommer 1875 vgl. KSA 14, 568–569, KGW IV 4, 386–387. Nietzsche liest lediglich die Einleitung dieses Werkes, nimmt einige Unterstreichungen vor und schreibt ein paar Randbemerkungen. Diese wenigen Elemente lassen bereits die entschiedene Ablehnung von Dührings sozialitärer Auffassung erkennen, die in der Auseinandersetzung mit den ‚Predigern der Gleichheit‘ in Also sprach Zarathustra weiterentwickelt wurde. Zwischen 1875 und der Entstehungszeit des Zarathustra zitiert Nietzsche Dühring nur noch sporadisch, und zwar im Fragment 29 [9] aus dem Sommer 1878 (vgl. KSA 8, 514) und im Fragment 2 [77] vom Frühjahr 1880 (vgl. KSA 9, 46). Nach Nietzsches Ansicht ist Polemik allein schon ein Zeichen von Ehre, „ein Beweis des Wohlwollens, unter Umständen der Dankbarkeit“. Wie er in Ecce homo behauptet: „Wo man verachtet, kann man nicht Krieg führen“ (KSA 6, 274–275). Noch im Jahr 1884 erscheint Dühring übrigens im Fragment 27 [23] als Beispiel eines „höheren Menschen“, den die Isolation zu Grunde gerichtet hat (vgl. KSA 11, 280).
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das die höhere Form des ‚Übermenschen‘ erreicht werden kann. In dem langen, grundlegenden Fragment 7 [21] aus dem Jahre 1883 kommt diese Gegensätzlichkeit, die wie ein roter Faden die Polemik gegen Dühring nach Menschliches, Allzumenschliches durchzieht, mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck: M e i n e Forderung: Wesen hervorzubringen, welche über der ganzen Gattung ‚Mensch‘ erhaben dastehen: und diesem Ziele sich und ‚die Nächsten‘ zu opfern. Die bisherige Moral hatte ihre Grenze innerhalb der Gattung: alle bisherigen Moralen waren nützlich, um der Gattung z u e r s t unbedingte Haltbarkeit zu geben: w e n n diese erreicht ist, kann das Ziel höher genommen werden. Die eine Bewegung ist unbedingt: die Nivellirung der Menschheit, große Ameisen-Bauten usw. (Dühring zu charakterisiren als außerordentlich ärmlich und typisch-g e r i n g , trotz seinen pathetischen Worten) Die a n d e r e Bewegung: meine Bewegung: ist umgekehrt die Verschärfung aller Gegensätze und Klüfte, Beseitigung der Gleichheit, das Schaffen ÜberMächtiger. J e n e erzeugt den letzten Menschen. M e i n e Bewegung den Übermenschen. Es ist d u r c h a u s nicht das Ziel, die letzteren als die Herren der Ersteren aufzufassen: sondern: es sollen zwei Arten neben einander bestehen – möglichst getrennt; die eine wie d i e e p i k u r i s c h e n G ö t t e r , s i c h u m d i e a n d e r e n i c h t k ü m m e r n d . (KSA 10, 244)
Auch wenn die beiden Bewegungen in gegensätzlicher Richtung verlaufen, sollen sie doch für Nietzsche nebeneinander bestehen, ohne dass die eine über die andere herrscht. Die moralische Auffassung des ‚letzten Menschen‘ sichert den Fortbestand des Menschengeschlechts: Durch die Theorie der Gleichheit, durch die Nivellierung der Menschen macht sie den Menschen von der Gattung abhängig und unterstellt den Einzelnen deren Zwecken. Unter diesem Aspekt erscheint der Sozialismus als letzter Moment der Geschichte der Moral: „Der Socialismus beruht auf dem E n t s c h l u s s die Menschen g l e i c h zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität“ (KSA 8, 373). Die von Dühring vertretene Auffassung von Gerechtigkeit erscheint Nietzsche also als eines der wichtigsten Phänomene dieser Bewegung, die zum ‚letzten Menschen‘ führt. Wenn der Fortbestand der Menschheit gesichert ist, kann man über diese Bewegung hinaus jedoch ein höheres Ziel konzipieren, eine andere Auffassung des Menschen, die eng verknüpft ist mit dem komplexen Prozess der „Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit“, der „Selbstüberwindung des Moralisten in seinem Gegensatz“ (KSA 6, 367). Nur innerhalb dieses Prozesses lässt sich der Kontrast zwischen Gleichheit und ihrer Beseitigung, zwischen Nivellierung und Verschär-
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fung aller Gegensätze und Klüfte begreifen, von dem im Fragment 7 [21] die Rede ist. Dieser Kontrast begegnet uns erneut als Hauptthema des Kapitels „Von den Taranteln“ im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra, in dem die an mehreren Stellen dieses Werkes nur angedeutete Auseinandersetzung mit Dühring klarer wird 226, vor allem, wenn man die endgültige Fassung des Kapitels mit einem früheren Entwurf vergleicht, der im Fragment 12 [43] des Sommers 1883 enthalten ist. Während sich Nietzsche in Also sprach Zarathustra in der zweiten Person Plural genereller an „ihr Prediger der Gleichheit“ (KSA 4, 129) wendet, die dort mit den ‚Taranteln‘ 227 identifiziert werden, entwickelt das Fragment eine direktere Gegenüberstellung zwischen der eigenen Theorie der Gerechtigkeit als Ungleichheit und der vom „Verkünder des Lebens“ vertretenen These, die die Gerechtigkeit als Rache und Wille zur Gleichheit interpretiert (vgl. KSA 10, 410–412). Ein Großteil des Fragments basiert auf einem direkten Konflikt zwischen erster und dritter Person Singular, zwischen ‚ich‘ und ‚er‘; die Charakterisierung dieses ‚er‘ als „Verkünder des Lebens“ macht die Anspielung auf den Autor von Der Werth des Lebens und seine Theorie deutlicher. Der Vergleich einer weiteren Variante dieses Fragments mit der definitiven Fassung ist von besonderer Bedeutung, um einerseits den Kontrast zu den ‚Predigern der Gleichheit‘ im Rahmen des Prozesses der ‚Selbstüberwindung der Moral‘ zu verorten, und um andererseits nachzuvollzie226
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Im Kapitel „Von grossen Ereignissen“ sind ebenfalls einige Hinweise auf Dühring erkennbar; Theodor Lessing fand darüber hinaus auch in der Gestalt des ‚schäumenden Narren‘ im Kapitel „Vom Vorübergehen“ Anspielungen auf Dühring (vgl. Th. Lessing, Dührings Hass, 1922, zitiert in G. Albrecht, a. a. O., S. 11). Schon im Brief vom 7. Juli 1881 hatte Nietzsche seine Schwester um Zusendung des Cursus der Philosophie gebeten: „Sende mir, liebe Schwester, 2 Bücher aus dem Schranke, jedes unter Kreuzband. 1) Dühring, Cursus der Philosophie (das ist zum Lachen für mich) und 2) Carey, Volkswirtschaftslehre (uneingebunden, dick)“ (KSA 6, S. 99). Auch zur Lektüre von Carey – einem der wichtigsten Bezugspunkte für Dührings Wirtschaftstheorie – wurde Nietzsche sehr wahrscheinlich direkt von Dühring angeregt. Spuren der neuerlichen Lektüre des Cursus der Philosophie sind im Fragment 7 [78] aus dem Jahr 1883 (vgl. KSA 10, 270) erhalten. Zu den Anspielungen auf Dühring in den nachgelassenen Fragmenten aus dem Jahr 1883, während der Entstehung des Zarathustra, vgl. KSA 10, 362–363, 368, 380. Die Taranteln waren anfänglich ein Symbol für die Lehrer der ‚schlimmsten Welt‘ (vgl. KSA 10, 367) und wurden später zum Bild der ‚Gleichheits-Socialisten‘, denen Nietzsche von Anfang an ein Kapitel des Zarathustra widmen wollte (vgl. KSA 10, 346, 362–364, 375). Wahrscheinlich deutet schon das Fragment 11 [17] (vgl. KSA 10, 382), in dem den Kapiteln „Vom Gesindel“ und „Von den Taranteln“ erstmals ihr endgültiger Ort zugewiesen wird, ohne dass ein bestimmtes Kapitel über den Proletarier zitiert wird, diese Identifizierung der Proletarier mit den Taranteln an. Gleichzeitig hatte Nietzsche an eine Verbindung des Kapitels über den ‚Feuerhund‘ mit dem über die ‚stillste Stunde‘ gedacht (vgl. KSA 10, 366, 373, 375, 381). Im Fragment 12 [43] werden die Proletarier jedenfalls erstmals endgültig mit den Taranteln identifiziert.
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hen, wie in diesem Kontrast einige der grundlegenden Themen der Exzerpte aus dem Werth des Lebens wieder aufgenommen werden. In Also sprach Zarathustra drücken die „Prediger der Gleichheit“ – „diese GiftSpinnen“, die „in ihrer Höhle sitzen“, „abgekehrt vom Leben“ – ihre Theorie des Lebens aus, um damit „wehezutun“: Solchen wollen sie damit wehethun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hause. (KSA 4, 130)
Mit Hilfe des Fragments 12 [43] lässt sich die Identität derjenigen genauer bestimmen, die „jetzt die Macht haben“ und „die Predigt vom Tode“ anhören. In diesem Fragment lautet die Variante zu dem oben wiedergegebenen Text wie folgt: Er predigt Leben, um denen wehezuthun, die sich selber vom Leben abkehren: denn sie sind mächtiger als er und reineren Herzens. Aber vom Leben abgekehrt sitzt er selber in seiner Höhle: und nicht heiße ich’s Leben, der Spinne gleich Netze stricken und Fliegen fressen. (KSA 10, 410–411)
Der ‚Verkünder des Lebens‘ zieht also mit seiner Auffassung vom Leben gegen diejenigen los, die sich selber vom Leben abkehren. Führt man sich erneut vor Augen, wie wichtig das Thema des Asketentums in den Exzerpten aus dem Werth des Lebens war, so wird die Bedeutung dieses Abschnittes klarer: Diejenigen, ‚die sich selber vom Leben abkehren‘, sind die Asketen, gegen die Dühring in seinem Werk heftige Anklagen erhoben hatte. Dieser Vorwurf der Abkehr vom Leben kann aber nach Nietzsche mit Leichtigkeit gegen den ‚Verkünder des Lebens‘ selbst gewendet werden. Auch er sitzt abgekehrt vom Leben in seiner Höhle, jedoch ohne psychologisches Bewusstsein dieser Situation. Er hat in diesem Zustand keine geistige Freiheit erreicht, rächt sich aber dafür, indem er den ‚Wahnsinn der Rache‘ übt und verborgene Gelüste nach Herrschaft und Tyrannei gegen das Leben selbst hegt. Sehr wahrscheinlich hat die Lektüre der Autobiographie Dührings, die 1882 mit dem Titel Sache, Leben und Feinde erschien, diese psychologische Analyse des ‚Predigers der Gleichheit‘ und des Lebens – dieses ‚ans Licht bringen seiner Verstecke‘ (vgl. KSA 4, 129), beeinflusst. Jedenfalls ist es Nietzsche gelungen, in dieser Charakterisierung des ‚Verkünders des Lebens‘ die Isolierung und den polemischen Groll zu erfassen, die Dührings Werke und Tätigkeit, namentlich nach seiner Entfernung von der Universität Berlin im Jahre 1877, immer nachhaltiger prägten.228 228
Mit der Entfernung von der Universität Berlin im Juli 1877 in Folge der heftigen, oft unbegründeten Polemik gegen die Universität als Institution und gegen Adolf Wagner und
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Die Variante zum Kapitel „Von den Taranteln“ ermöglicht es deshalb, nicht nur die polemische Bezugnahme auf Dühring wahrzunehmen, sondern auch die Identität derjenigen besser zu verstehen, ‚die jetzt die Macht haben‘. Sie können gewiss nicht durch die Zugehörigkeit zu einer ökonomischen oder sozialen Kategorie definiert werden: Keineswegs hatte Nietzsche in seiner Polemik gegen die ‚Prediger der Gleichheit‘ die Absicht, die Inhaber einer Macht zu verteidigen, die als Ausdruck eines Herrschaftsapparates oder eines Apparates der Sozialkontrolle gesehen wird. Diese Machtinhaber erscheinen vielmehr in Also sprach Zarathustra als das ‚Gesindel‘, als die Herrschenden, denen Zarathustra den Rücken gekehrt hat, weil sie Herrschen nennen, was einfach ein ‚Schächern und Markten um Macht – mit dem Gesindel‘ ist (vgl. KSA 4, 125). Es gibt also bei Nietzsche eine Ambivalenz des Begriffes Macht, ohne die dieser Abschnitt des Kapitels „Von den Taranteln“ nur schwer zu verstehen ist. Unter diesem Gesichtspunkt führt die Gegenüberstellung von Gleichheit und Macht zu der von zwei Auffassungen der Moral, wie sie im Fragment 7 [21] dargestellt wurden, und ist untrennbar mit dem Prozess der ‚Selbstüberwindung der Moral‘ verbunden. Die Asketen sind nämlich auch deshalb mächtiger als der ‚Verkünder des Lebens‘, weil sie ‚reineren Herzens‘ sind und die ‚Predigt vom Tode‘ überwunden haben: Genau in dem Kapitel „Von den Taranteln“ fällt die Reinheit des Herzens mit der Erlösung von der Rache zusammen (vgl. KSA 4, 128), die bereits in der langen Schlussbetrachtung zu den Exzerpten aus dem Werth des Lebens als wichtigstes Merkmal der Psychologie des Christentums und Asketentums bezeichnet worden war. Helmholtz begann die dritte Periode von Dührings Leben und Werk, die vor allem mehrere Neuauflagen seiner Werke, die Veröffentlichung seiner Selbstbiographie und seiner antisemitischen Schriften brachte. Gerhard Albrecht hat diese zu Recht als eine Verfallsperiode beschrieben, in der Dühring durch einen hasserfüllten, rachsüchtigen Ton gegen die vermeintlichen Verfolger seinen Ruf selbst zerstörte (vgl. a. a. O., S. 17–21); er sei unfähig gewesen, „die Kräfte, die der um seine Person entbrannte Universitätskonflikt ausgelöst hatte, in reformatorischem Sinne zu nützen“ (ebd., S. 24). Spuren der Lektüre von Dührings Selbstbiographie Sache, Leben und Feinde, über die Nietzsche während seiner Begegnung mit Heinrich von Stein sprach, finden sich im Fragment 26 [382] aus dem Jahr 1884: „Man spricht mir bei Tisch von Eugen Dühring, man ‚entschuldigt‘ Vieles, denn, sagt man: er ist blind. Wie? Ich bin’s beinahe. Homer war es ganz. Muss man deshalb schlechter Laune sein? Und voller Würmer? Und aussehen, wie ein Tintenfass? Eugen Dühring hat neuerdings uns sein Leben erzählt: er hat keinen Verdruß vergessen, keine Kränkung von Kindesbeinen an, ich glaube, er kann stundenlang schlechte kleine kleinliche Geschichten von seinen Lehrern und Gegnern erzählen, von der Zeit her, wo er noch nicht blind : zum Mindesten macht er ein Gesicht darnach, wenn anders das Bild gut ist, mit dem er sein Buch geschmückt und seine Philosophie widerlegt hat. – Er sagt uns, daß das Bild gut ist“ (KSA 11, 251–252). Auch das Fragment 27 [75] aus demselben Jahr bezieht sich auf dieses Werk (vgl. KSA 11, 293).
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Schon in der besagten Schlussbetrachtung hatte Nietzsche festgehalten, dass sich der Asket nach der Überwindung der Rache gegen sich selbst auch über jenes ‚Mitleid mit sich‘ (vgl. KSA 8, 180–181) befragen müsse, das aus der jeder ‚völlig gereinigten Selbstliebe‘ eigenen Verachtung und Selbsterkenntnis rühre. Diese Frage nach dem Wert des Mitleids erschließt indes ‚eine ungeheure neue Aussicht‘, öffnet jeder Art von ‚Mißtrauen, Argwohn, Furcht‘ gegenüber dem Glauben an die Moral Tür und Tor (vgl. KSA 5, 253), wie Nietzsche in der „Vorrede“ zur Genealogie der Moral unterstreicht. Der Asket hat nämlich den Geist der Rache nur überwunden, weil er ihn bis in seine Tiefen kennen gelernt und als geheimste Erfahrung seiner Seele erlebt hat. Sein Ressentiment ist „sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen“ (KSA 5, 363). Dieser Wunsch, Herr über das Leben selbst zu werden, führt aber unweigerlich zu jener paradoxen Beziehung von Liebe, Erkenntnis und Verachtung, auf die Nietzsche schon in seinen Aufzeichnungen zum Werth des Lebens einging: Von diesem Wunsch getrieben muss der Asket – und jeder wahre Philosoph war für Nietzsche ein Asket – mit immer größerer Klarheit den Abgrund der Erkenntnis und der Moral, die disharmonische Grundlage jeder Existenz wahrnehmen. Heidegger hat richtig gesehen, dass das Problem der Erlösung von der Rache kein bloßes psychologisches und moralisches ist, sondern Nietzsche es von der Metaphysik ausgehend dachte, „d. h. im Hinblick auf die Frage, wie das Sein des Seienden im Ganzen sich bestimme und den Menschen angehe“ 229. In der Tat kann der Asket den Geist der Rache nur überwinden, wenn er den Abgrund zu ertragen lernt, den seine Erkenntnis und seine psychologische Introspektion ihm erschließen. In gewissem Sinne besteht eine Übereinstimmung zwischen dem ‚Genie des Herzens‘, das „bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss“ (KSA 5, 237), und der Anschauung der Welt als Wille zur Macht, d. h. als „ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten“ (KSA 11, 610–611). Der Asket, der seine Erkenntnis so weit getrieben hat, dass er die Wahrheit selbst in der eigenen Erfahrung als Problem wahrnimmt, hat entdeckt, dass gerade der Wille
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M. Heidegger, Was heißt Denken?, a. a. O., S. 34. Die Beziehung zu Dühring in dem Kapitel „Von den Taranteln“ wurde auch von Marco Brusotti in Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., untersucht; er hält die Gleichsetzung der Asketen mit denen, die „jetzt die Macht haben“, jedoch für fraglich (vgl. S. 561).
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zur Wahrheit auch Wille zur Macht ist, und dank der Reinigung seines Herzens von der Rache ist es ihm gelungen, vollständig den „schrecklichen Grundtext homo natura“ in sich widerzuspiegeln, in dem alles „auf das Gefühl des Wachstums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft“ (KSA 5, 167) abzielt. Die lange Abhandlung über die Bedeutung der asketischen Ideale in der Genealogie der Moral endet mit einem Akt der ‚Selbstaufhebung‘, durch den die christliche Moralität, verwandelt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, den Willen zur Wahrheit als Problem zu sehen vermag: „an diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde“ (KSA 5, 410). Durch diesen Akt der Selbstaufhebung, den die asketischen Ideale an sich selbst vollziehen und der auch der letzte Akt „von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ (ebd.) ist, wird „das Gesetz des Lebens, das Gesetz der n o t h w e n d i g e n ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ (ebd.) entdeckt. 230 Dieses Gesetz der Überwindung und des Wachstums ist die Macht, gedacht als das ‚Sein des Seienden‘ in seiner Gesamtheit: Die Betrachtung dieser Macht als Gesetz des Wachstums und gewiss nicht eine im politischen und sozialen Sinn verstandene Macht ist das, was den ‚Predigern der Gleichheit‘ gegenübergestellt wird. 231 Auf der Ebene der politischen und sozialen Organisation, auf der Ebene der ‚Haltbarkeit‘ und der ‚vermehrten Kraft‘ der Menschheit als Gattung, kann die Gleichheit nämlich auch Nietzsches Auffassung nach eine Funktion ausüben: Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). (KSA 5, 207)
Eine Rechtsordnung also, in der die Gleichheit herrscht, in der – „etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring’s“ – „jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe“, kann gerechtfertigt werden, solange 230
231
Ein indirekter Hinweis auf Dühring und auf die Wirklichkeitsphilosophie ist übrigens auch im Paragraph 23 dieser Abhandlung enthalten, in dem Nietzsche eine Deutung der Wissenschaft als Fortsetzung der asketischen Ideale gegen den Lärm und das „Agitatoren-Geschwätz“ der „Wirklichkeits-Trompeter“ vertritt (vgl. KSA 5, 396). Schon in einem der ersten Entwürfe des geplanten Kapitels über den ‚Proletarier‘ meinte Nietzsche: „Die Arbeiter sollen einmal leben wie jetzt die Bürger: aber ü b e r ihnen die höhere Kaste, sich auszeichnend durch Bedürfnißlosigkeit! also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht“ (KSA 10, 361).
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sie eine Art ‚Ausnahme-Zustand‘ darstellt, ein „Mittel, g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen“ (KSA 5, 312 f.). Nur wenn diese Rechtsordnung als souverän und allgemein gedacht werde – „nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt“ (ebd.) – wäre sie „ein l e b e n s f e i n d l i c h e s Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts“ (ebd.). Da nämlich zwei gleiche Willen sich gegenseitig aufheben müssen, wäre dem Leben jede Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeit entzogen, denn das Leben behauptet sich nur durch immer neue Kontraste und Konflikte. Aber auch die Auffassung des Kontrastes und Konfliktes ist, wie die der Macht, bei Nietzsche ganz stark verinnerlicht: Kontrast und Konflikt sind immer mit dem Prozess der Selbstüberwindung verbunden, den der Asket, der Moralist und der Philosoph an sich selbst vollzogen haben. Der Konflikt spielt sich vor allem in der eigenen Seele und Individualität ab; die Vorstellung eines höheren Typus von Menschheit entsteht aus der ‚Auflösung des Ichs‘, aus der Wahrnehmung des Menschen als ‚eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären‘, die im Gegensatz zueinander stehen – wie schon am Schluss der Exzerpte aus dem Werth des Lebens dargelegt wurde. Das ‚Pathos der Distanz‘, das jeder aristokratischen Moral eigen ist, verwandelt sich Nietzsche zufolge in ein „andres geheimnisvolleres Pathos“ und erscheint dann als jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben der Erhöhung des Typus ‚Mensch‘, die fortgesetzte ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen (KSA 5, 205).
Diese ‚Selbstüberwindung‘ lässt sich nicht von dem Schmerz, von der ‚schaudernden Gewissheit‘ trennen, „vermöge seines Leidens m e h r z u w i s s e n , als die Klügsten und Weisesten wissen können“ (KSA 5, 225). Diese Leidensfähigkeit bestimmt die aristokratische Haltung und die Rangordnung, an die Nietzsche denkt, denn durch das schmerzliche Hineinschauen in sich selbst ist es möglich, das Ressentiment zu überwinden. Jedes Ressentiment richtet sich „nach Aussen statt zurück auf sich selber“, es kann nur zum Tragen kommen, wenn es eine „Gegen- und Aussenwelt“ erfindet, gegen die es sich wendet; seine Aktion ist folglich „von Grund aus Reaktion“ (KSA 5, 271). Wer dagegen den Mut hatte, den Blick nach innen zu richten, in sich selbst zu blicken, hat das Leben in seiner Vielfältigkeit und Problematik wahrgenommen und so den Zustand
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der ‚höchsten Bejahung‘ erreicht, in dem die Handlung spontan und nicht aus Reaktion entsteht, in dem ‚der Überfluß von Macht‘ jene ‚schenkende Tugend‘ hervorbringt, von der in Also sprach Zarathustra die Rede ist. Im Vordergrund jeder aristokratischen Moral steht nämlich „das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte“ (KSA 5, 209); das sind die ‚aktiven Affekte‘, die Nietzsche den reaktiven der Moral des Ressentiments entgegensetzt. Die gesamte Polemik gegen die von Dühring vertretene Theorie der Gerechtigkeit, die Nietzsche in der Genealogie der Moral formuliert und in Also sprach Zarathustra systematisch weiterentwickelt, zielt darauf ab, die Priorität der aktiven Affekte in der Genealogie der Gerechtigkeit aufzuzeigen. In seiner ‚natürlichen Auffassung des Rechts‘, die schon im Anhang zum Werth des Lebens behandelt und dann im Cursus der Philosophie systematischer dargelegt wurde, hatte Dühring die These vertreten, der erste und natürlichere Ursprung der Gerechtigkeit liege in dem Vergeltungstrieb, den der, der ein Unrecht erlitten habe, dem Verursacher dieses Unrechts gegenüber empfinde. Wenn die Gerechtigkeit zunächst auf ihre natürlichen statt auf ihre ethischen oder rechtsphilosophischen Ursprünge zurückgeführt wird, kann sie nach Dührings Ansicht das Gefühl des Individuums, das Opfer des Unrechts wurde, ebensowenig außer Acht lassen wie die Notwendigkeit eines Kompensationsmechanismus, der das vorher bestehende Gleichgewicht zwischen dem Geschädigten und dem Schuldigen wiederherstellt: Mit derselben Nothwendigkeit, mit welcher aus der mechanischen Action die Reaction erfolgt, hat die spontane und feindliche Verletzung das Ressentiment und hiermit den Vergeltungssporn zum Ergebnis. Der Trieb, sich für die erlittene Verletzung zu rächen, ist eine offenbar auch auf Selbsterhaltung hinwirkende Einrichtung der Natur. 232
232
E. Dühring, Cursus der Philosophie, a. a. O., S. 224. Dem Thema Ressentiment, Rache, Gerechtigkeit hat sich neben Müller-Lauter und Brusotti – in den vorstehend zitierten Arbeiten – auch Volker Gerhardt in Das „Prinzip des Gleichgewichts“ (in: „NietzscheStudien“, 12 (1983), S. 111–134) und später in anderem Zusammenhang in Ressentiment und Apokalypse. Nietzsches Kritik endzeitlicher Visionen (in: Die Zukunft der Vernunft aus der Perspektive einer nicht metaphysischen Philosophie, hg. von E. Braun, Würzburg, Königshausen-Neumann, 1993, S. 277–300) zugewandt. Vgl. auch die in „Nietzsche-Forschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft“ erschienenen Arbeiten von E. Wachendorff, Friedrich Nietzsche. Strategien der Noth-Wendigkeit, Bd. 4 (1998), S. 87–104 und S. Zanetti, Nietzsches Verhör der Gerechten, Bd. 7 (2000), S. 307–320. Einen interessanten Beitrag zum Thema Nietzsches Verhältnis zu Dühring leistet auch Robin Small in dem Kapitel Nietzsche, Dühring and Time seines Buchs Nietzsche in Context, a. a. O., S. 21–40.
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Eben deshalb sei das Rechtsgefühl „wesentlich ein Ressentiment, eine reactive Empfindung, d. h. es gehört mit der Rache in dieselbe Gefühlsgattung“ 233. Auch wenn in der späteren Entwicklung des Gemeinwesens und des Staates diese ursprüngliche ‚reactive Empfindung‘ immer mehr übertragen und die Vergeltung nicht mehr von Einzelnen, sondern vom Staat geübt wird, bildet die Rache für Dühring dennoch die Grundlage jeder Gerechtigkeit; das geht so weit, dass in der von ihm erdachten idealen freien Gesellschaft „das Begnadigungsrecht dem Verletzten und der Gesammtheit zugleich“ gehört, und „die letztere darf nimmermehr den ersteren seines Anspruchs auf Ahndung berauben“ 234. Wenngleich Nietzsche seine Kritik an dieser Auffassung Dührings von der Rache als Ursprung der Gerechtigkeit erst in der Genealogie der Moral systematisch ausarbeitet, hat er doch vorher bereits immer wieder Überlegungen zu diesen Problemen angestellt. Schon in Der Wanderer und sein Schatten hatte er eine recht gründliche Analyse der verschiedenen ‚Elemente der Rache‘ geleistet (vgl. WS 33, KSA 2, 564): Im Gegensatz zu den Bemühungen, die Rache auf eine einzige „Begriffs- und Empfindungswurzel“ (ebd.) zurückzuführen, erscheint sie Nietzsche eher als ein komplexes Gefühl, das mindestens zwei verschiedene ‚Handlungsweisen‘ in sich berge, von denen eine auf Selbst-Erhaltung, die andere auf Wiederherstellung der beleidigten Ehre gerichtet sei. Diese verschiedenen Elemente, aus denen sich das Gefühl der Rache zusammensetze, seien auch dann vorhanden, wenn die Rache nicht mehr von einer Privatperson, sondern von der Gemeinschaft oder dem Staat geübt werde: Die gerichtliche Strafe verfolge vor allem das Ziel, die Ehre der Gesellschaft gegenüber demjenigen, der sie beleidigt hat, wiederherzustellen, sei aber auch ein Akt der Selbsterhaltung, insofern die Strafe als Vorbeugungsmaßnahme wirken will. Offensichtlich lässt gerade diese Komplexität des Rachegefühls es nicht zu, in ihr den Ursprung der Gerechtigkeit zu sehen, und so hatte Nietzsche schon in Menschliches, Allzumenschliches eine andere Hypothese über deren Ursprung skizziert (vgl. MA I 92, KSA 2, 89–90), auf die er in der Genealogie der Moral nun zurückkommt. Er sieht in dem Tausch unter gleich Mächtigen den anfänglichen Charakter der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu 233 234
E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., S. 219. E. Dühring, Cursus der Philosophie, a. a. O., S. 236–237. Eine herausragende Analyse von Nietzsches Auffassung der Überwindung der Rache, wenngleich ohne direkte Bezugnahme auf die Beziehung zu Dühring, verdanken wir Müller-Lauter; vgl. Heidegger über Zarathustras „Geist der Rache“ (in: Nietzsche-Interpretationen, Bd. 3, Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 135–159).
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‚verständigen‘ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen. (KSA 5, 306–307)
Die Gerechtigkeit hängt für Nietzsche also nicht von der Rache ab, sie kann nicht als „eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins“ (KSA 5, 310) gesehen werden; vielmehr bedeutet das Recht – „historisch betrachtet“ – immer „den Kampf gerade wider die reaktiven Gefühle [...], den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen“ (KSA 5, 311). Dieser Krieg gegen die reaktiven Gefühle erreiche seinen Höhepunkt mit der „Aufrichtung des Gesetzes“ von Seiten der obersten Gewalt. Das Gesetz bilde „die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe [...]. Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ (und nicht, wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an)“ (KSA 5, 312). Es könnte als Widerspruch erscheinen, wenn Nietzsche in seiner Polemik gegen Dühring einerseits die Bedeutung des Gesetzes für den Ursprung der Gerechtigkeit hervorhebt, andererseits aber eine souveräne und allgemeine Rechtsordnung für ein lebensfeindliches Prinzip hält. Es handelt sich jedoch um einen scheinbaren Widerspruch, der sogar den komplexen Prozess, durch den der Wille zur Macht sich als Grundprinzip des Lebens behauptet, genauer verdeutlicht. Mit Sicherheit hat das Gesetz für Nietzsche keinen absoluten Wert, Rechtszustände dürften vielmehr „vom höchsten biologischen Standpunkte aus“ „immer nur A u s n a h m e - Z u s t ä n d e sein [...], als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen“ (KSA 5, 312–313). Aber diese größeren Macht-Einheiten könnten sich ohne das Gesetz nicht entwickeln: Es führe „eine immer u n p e r s ö n l i c h e r e Abschätzung der That“ in die Gesellschaft ein, verhindere, dass die Individuen bloß ihre reaktiven Affekte ausleben und lenke diese auf höhere Ziele, die nicht mehr „den Gesichtspunkt der Geschädigten allein“ (ebd.) im Auge hätten, sondern die Entwicklung und das Wachstum des ganzen Gemeinwesens. Das Gesetz ist also ein grundlegendes Instrument für das Wachstum der Macht und des Selbstbewusstseins eines Gemeinwesens. Dieses Wachstum werde von einer fortschreitenden Milderung des Strafrechts begleitet, bis zu dem Punkt, an dem „ein M a c h t b e w u s s t s e i n der Gesellschaft nicht undenkbar [wäre], bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger s t r a f l o s zu lassen“ (KSA 5, 309). Durch
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das Gesetz könnte das Gemeinwesen einen so hohen Grad an Macht entwickelt haben, dass es einen Zustand „jenseits des Rechts“ erreicht, in dem die Gerechtigkeit ende „wie jedes gute Ding auf Erden, s i c h s e l b s t a u f h e b e n d “ (ebd.). Die von Nietzsche gegen Dühring vorgebrachte Verteidigung der aktiven gegenüber den reaktiven Empfindungen führt also nicht zu einer einfachen Gegenüberstellung zwischen Macht und Gerechtigkeit. Die Ausübung der Gerechtigkeit ist eine notwendige Vorbedingung, damit die Gesellschaft einen Grad von Sicherheit und Macht erreichen kann, der es ermöglicht, denjenigen, die sie beleidigt und geschädigt haben, zu verzeihen. Die Selbstaufhebung der Gerechtigkeit durch das Gewähren der Begnadigung ist ein komplexer Prozess, ähnlich dem zuvor untersuchten Vorgang, durch den die Moral sich selbst überwindet. Durch einen solchen Prozess der Selbstüberwindung – der Gerechtigkeit, der Moral, der Logik – entsteht jene Menschheit, die sich des perspektivischen Charakters eines jeden Wertes und einer jeden Erkenntnisform bewusst ist und sie als Instrumente der Entwicklung des Lebens selbst zu gebrauchen versteht. Von diesen Menschen und dieser Entwicklung ist in dem Kapitel „Von den Taranteln“ in Also sprach Zarathustra die Rede: Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und alle Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss! (KSA 4, 130)
In der Perspektive dieser Selbstüberwindung des Lebens in seinen verschiedenen – ethischen, gnoseologischen, institutionellen – Erscheinungen und nicht in der der Verteidigung einer bestehenden Gesellschaftsordnung ist die Polemik gegen Dühring zu sehen – und Dühring war für Nietzsche gewiss eine der wichtigsten Quellen für seine Beurteilung des Sozialismus. Er ist der ‚Proletarier‘, dem Nietzsche ursprünglich ein Kapitel von Also sprach Zarathustra widmen wollte, er ist in Deutschland der „Schutzredner und Fürsprecher“ der Pariser Commune und des Sozialismus. (Vgl. KSA 10, 363 und KSA 11, 586) Auch im Kapitel „Von grossen Ereignissen“ im zweiten Teil des Zarathustra sind die Hinweise auf Dühring klar erkennbar: Die ‚Auswurf- und Umsturz-Teufel‘ erscheinen in Gestalt des ‚Feuerhundes‘, und Dühring ist „ein M der durch sich selber von seiner Denkweise abschreckt und als ewig kläffender und beißlustiger Kettenhund vor seine Philosophie sich hingelegt hat“
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(KSA 10, 581). Charakteristisch für den Feuerhund ist die ‚versalzte Beredsamkeit‘, die immer „gesalzen, lügnerisch und flach“ bleibt und trotz ihres Anspruchs auf Tiefe ihre „Nahrung zu sehr von der Oberfläche“ nimmt (KSA 4, 168); nach Nietzsches Ansicht genügt es Dühring, „wenn er ein Paar gereizte und gespreizte Worte hinzugefügt hatte: das hält er für ‚geistreich‘“ (KSA 10, 380) 235. Der ‚Feuerhund‘ schließlich haust immer in der Nähe von ‚Schlamm‘, und Dühring wird als der philosophische „Grimassenschneider und Sumpfmolch“ (KSA 11, 586) bezeichnet. Die Untersuchung der Auseinandersetzung Nietzsches mit Dühring kann demnach zum Verständnis der tieferen Motivationen seiner Polemik gegen den Sozialismus beitragen: Sie richtete sich nicht auf die Verteidigung einer bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern gehört in den komplexen Prozess der Selbstüberwindung, durch den das Menschengeschlecht sich selbst hätte überwinden und zum Übermenschen fortentwickeln sollen. Darüber hinaus ist die Bezugnahme auf Dühring von grundlegender Bedeutung, um Nietzsches Urteil über den Sozialismus historisch genauer zu verorten. Der große Widerhall von Dührings Gedanken in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie jener Zeit – auch bei so bedeutenden Persönlichkeiten wie Bernstein oder Bebel – ist an und für sich schon ein Symptom für den sie kennzeichnenden theoretischen Eklektizismus: ein Potpourrie aus Lassalle, Rodbertus, Lange und Dühring, durchsetzt mit marxistischen Elementen, wie Kautsky es definierte236. In 235
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Seit Beginn seiner Lektüre von Der Werth des Lebens hatte Nietzsche Dührings Stil scharf kritisiert und in seinen Anmerkungen daher festgehalten: „In der Sprache ist etwas Unlogisches, doch keineswegs das Unlogische der enthusiastischen Reflexion, vielmehr eine Vereinigung von Unsauberkeit (Schlumperei), Nüchternheit und Mangel an Übung im Stil“ (KSA 8, S. 131). Vgl. dazu G. Haupt, Marx e il marxismo, in: Storia del marxismo, Bd. 1, Torino 1978, S.304 ff. Zur Dühring-Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie vgl. vor allem D. Dowe u. K. Teufelde, La recezione di Eugen Dühring nel movimento operaio tedesco intorno al 1870, in L’Anti-Dühring: affermazione o deformazione del marxismo, Annali ISSOCO, Bd. V, Milano 1983, S. 175–202; vgl. außerdem J. Höppner, Engels ‚Anti-Dühring‘ und die Rezeption des utopistischen Sozialismus in der SAPD, sowie H. Ulrich u. J. Werchau, Die Entstehung und Wirkungsgeschichte des ‚Anti-Dühring‘ (1876–1895), beide in: 100 Jahre ‚Anti-Dühring‘. Marxismus, Weltanschauung, Wissenschaft, hg. von R. Kirchhoff u. T. I. Oiserman, Berlin 1978, S. 175–186, 398–422; E. Kundel, Zur Entstehungsgeschichte des ‚Anti-Dühring‘. Unveröffentlichte Briefe von Wilhelm Liebknecht und Hermann Ramm an Karl Marx und Friedrich Engels, in: Marx-Engels-Jahrbuch, Bd. 2, S. 271–310. Es ist erwähnenswert, dass Johann Most, der entschiedenste Verfechter von Dührings Ideen in der deutschen Sozialdemokratie, im Jahr 1874 als erster Abgeordneter der SAPD in den Chemnitzer Reichstag gewählt wurde (vgl. dazu R. Rocker, Johann Most. Das Leben eines Rebellen, Berlin 1920, S. 31–83). Leider liegen keinerlei Zeugnisse über mögliche Kontakte zwischen Most und Nietzsches Verleger Ernst Schmeitzner vor, der ebenfalls in Chemnitz lebte und mit Nachdruck für Dührings Ideen und für die Verbindung zwischen Antisemitismus und Lösung der sozialen Frage in der antisemitischen
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dieser Situation war die Veröffentlichung von Engels’ Anti-Dühring für einen beträchtlichen Teil der führenden Sozialdemokraten die erste wirkliche Gelegenheit, die Gedanken von Marx und Engels in ihrer Gesamtheit kennenzulernen. In der darauf folgenden Situation, in der die Antisozialisten-Gesetze der Diskussion und Konkurrenz der Ideen innerhalb der Sozialdemokratie eine Ende bereiteten, sollte Engels’ Schrift zu einem der wichtigsten Bezugspunkte bei der Konstruktion und Kanonisierung des Marxismus als eines in sich geschlossenen, endgültig festgelegten Systems werden. 237 Nietzsches Polemik gegen den Sozialismus muss also unbedingt im Kontext dieses ideologischen Eklektizismus betrachtet und die Tatsache, dass er Dühring zu einer der wichtigsten Quellen für seine Beurteilung des Sozialismus machte, muss vor dem Hintergrund des besonderen Interesses bewertet werden, das die Gedanken des Berliner Philosophen in sozialdemokratischen Kreisen hervorgerufen hatten.238 Indirekt ist das Interesse Nietzsches für Dühring auch mit einem anderen nicht unbedeutenden geschichtlichen Vorgang verknüpft. Die auf die Entfernung Dührings von der Universität Berlin im Jahre 1877 folgenden Ereignisse und die von den Studenten zu seiner Verteidigung organisierten Veranstaltungen boten die erste Gelegenheit zu Kontakten zwischen der Beliner Sozialdemokratie und den Studenten und intellektuellen Kreisen. Das trifft sicher nicht für Nietzsche selbst zu, der schon viele Jahre zuvor
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Bewegung jener Jahre eintrat. Zur Dühring-Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie vgl. auch Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich. Die Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus (1871–1914), Bonn, Neue Ges., 1978, S. 48–53. Im Lauf dieser Rezeption verlor Engels’ Schrift immer mehr ihre innere Spannung zwischen der Darstellung der materialistischen Dialektik und der Notwendigkeit einer ständigen Überprüfung dieser Dialektik auf dem Boden der neuen naturwissenschaftlichen Ergebnisse und der historischen Tatsachen. Von dem Problem-Reichtum von Engels’ Schrift blieb vor allem die scheinbar optimistische Annahme eines mechanischen Siegs des Sozialismus durch die Entwicklung der Produktivkräfte, auch wenn es nicht an Versuchen fehlte, den erstgenannten Aspekt ebenfalls weiterzuentwickeln: Die von Friedrich Adler vorgeschlagene Verbindung zwischen Marxismus und Machs Theorie wurde z. B. gerade als Fortsetzung von Engels’ Anti-Dühring aufgefasst. Mehrings Meinung, dass „eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Sozialismus“ bei Nietzsche fehlte (vgl. Nietzsche gegen den Sozialismus, in: „Neue Zeit“, XV, 1, 1897, wieder veröffentlicht in F. Mehring, Zur Geschichte der Philosophie. Gesammelte Schriften und Aufsätze, Bd. 6, hg. von E. Fuchs, Prag 1933, S. 190), erscheint nicht ganz gerechtfertigt, wenn man einerseits an die Dühring-Rezeption und an die verbreitete Unkenntnis der Schriften von Marx und Engels in der damaligen deutschen Sozialdemokratie denkt und sich anderseits die ‚strategische‘ Einordnung des Kapitels „Von grossen Ereignissen“ in Also sprach Zarathustra vor Augen führt. Schon in den ersten Entwürfen hatte Nietzsche an eine innere Verbindung zwischen diesem Kapitel und dem über ‚die stillste Stunde‘ gedacht. Aus dieser Perspektive sollte die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und der Revolution gerade Zarathustras Ankündigung seines eigenen ‚Wortes‘ vorausgehen.
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im Rahmen der neuen Tendenzen der Philosophie nach Schopenhauer begonnen hatte, sich für Dühring zu interessieren. Es betrifft jedoch Nietzsche sehr nahestehende Personen und Kreise, die keinen Widerspruch darin sahen, ihre Bewunderung für ihn mit dem Interesse für den Berliner Philosophen zu verbinden. Doch hatte Nietzsche im Kapitel „Von den Taranteln“ in Also sprach Zarathustra und noch nachdrücklicher im vorausgehenden Fragment 12 [43] den Anspruch erhoben, er wolle nicht ‚vermischt und verwechselt‘ werden, denn es gebe viele, die seine Lehre vom Leben predigten und zugleich ‚Prediger der Gleichheit‘ und ‚Taranteln‘ seien (vgl. KSA 4, 129; KSA 10, 410). Vielen erschienen Nietzsches und Dührings Positionen nämlich nicht völlig unvereinbar. Man denke zum Beispiel an Heinrich von Stein, den Nietzsche sogar für fähig hielt, „durch die rationale Zucht, die er in der Nähe Dührings erhalten hat“ (KSB 6, S. 531), sein Denken zu verstehen. Nietzsches Verleger Ernst Schmeitzner war einer der aktivsten Exponenten in der antisemitischen Bewegung des Flügels, der sich auf Dühring bezog; Helene Druskowitz, die Nietzsche im Jahre 1884 kennengelernt hatte, widmete Dührings Philosophie einige Jahre später ein Buch. 239 In besonderem Maße irritierte Nietzsche jedoch das Buch von Paul Heinrich Widemann Erkennen und Sein, das 1885 veröffentlicht wurde und mit einem Hinweis auf Dühring und auf den Zarathustra schloss (vgl. KSB 7, S. 69, 71). Widemann war ein Freund von Peter Gast; sowohl Bernhard Förster, der in der antisemitischen Bewegung aktiv war und Schmeitzner nahestehende Positionen vertrat, als auch Elisa239
Zu Heinrich von Stein vgl. M. Bernauer, Heinrich von Stein, Berlin/New York, de Gruyter, 1998. Zu Schmeitzner als Verfechter Dühringescher Ideen in der antisemitischen Bewegung vgl. K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1900), Berlin 1927, S. 52–53. Wawrzinek analysiert auch die Verbindung zwischen Antisemitismus und Lösung der sozialen Frage, die in der frühen antisemitischen Bewegung mehrere Anhänger fand, darunter auch Bernhard und Paul Förster. Dührings Schrift, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker: mit einer weltgeschichtlichen Antwort (1880), ist ein gutes Beispiel für jenen ‚feinen‘ Begriff des Rechts, über den Nietzsche in seinen Exzerpten aus dem Werth des Lebens ironisierte (vgl. KSA 8, 169–170). Die Beziehung Nietzsche-Dühring wird oft im Zusammenhang mit Bewertungen von Nietzsches Verhältnis zum Antisemitismus Thema, vgl. insbesondere Robert Aaron Rethy, From Tacitus to Nietzsche: Thoughts and Opinions from Two Millennia, in: „Nietzsche-Studien“, 26 (1997), S. 107–138, und Domenico Losurdo, Nietzsche, il ribelle aristocratico. Biografia intellettuale e bilancio critico, Torino, Bollati Boringhieri, 2002; in beiden Fällen, vor allem bei Losurdo, fehlt es jedoch an einer sorgsamen Analyse von Nietzsches besonderer Dühring-Rezeption. Allgemein vgl. zu diesen Aspekten Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York, de Gruyter, 1997, und Nietzsche-Handbuch, Leben-Werk-Wirkung hg. von H. Ottmann, a. a. O. Vgl. außerdem zum Problem der Rassenfrage bei Nietzsche Gerd Schank, ‚Rasse‘ und ‚Züchtung‘ bei Nietzsche, Berlin/New York, de Gruyter, 2000. Zu Helene Druskowitz vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München/Wien, Hanser, 1978–1979, Bd. II, S. 353–354.
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beth Förster-Nietzsche lasen sein Buch mit Interesse, wie aus dem Brief Nietzsches vom 29. Juli hervorgeht (vgl. KGB III 3, 71). Die Beispiele Schmeitzners und Försters zeigen, wie Dührings Auffassungen sich auch in den antisemitischen Bewegungen verbreiteten. Im übrigen hatte Dühring seine betont antisemitischen Ideen, die er schon in mehreren anderen Werken geäußert hatte, in dem Pamphlet Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker aus dem Jahre 1880 systematisch dargestellt. Nietzsche war aus zweierlei Gründen dazu gelangt, über die „antijüdische Dummheit“ (KSA 5, 192) nachzudenken: zum einen auf Grund der Ausbreitung der antisemitischen Bewegung; zum anderen, weil er bestimmen wollte, welche Rolle das Judentum spielen konnte, um einer neuen europäischen Synthesis den Weg zu ebnen und „versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen“ (KSA 5, 202, vgl. auch 192–195). Aber auch andere Ereignisse, die ihn persönlich betrafen, wie der Bruch mit dem Verleger Schmeitzner und der Zwist mit dem Schwager und der Schwester, veranlassten ihn, zu diesem Thema Stellung zu beziehen. Der Antisemitismus trug so zu einer Verschärfung von Nietzsches Polemik gegen Dühring in den letzten Jahren seiner Tätigkeit bei; erst damals begann Nietzsche nämlich, ihn ausdrücklich zu zitieren. Dühring wird so zwar als Sozialist oder Anarchist dargestellt, ist aber Nietzsches Meinung nach zugleich derjenige, „der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten“ (KSA 5, 370). Gerade wegen seines moralischen Pharisäertums gehört Dühring zusammen mit den ‚Predigern der Gleichheit‘ sowohl im Zaratbustra als auch in der Genealogie der Moral zum Kreis der ‚Guten‘ und der ‚Gerechten‘ (vgl. KSA 5, 369, KSA 4, 129), zu denen Nietzsche – als „den tiefsten Gegensatz“ zu sich selbst (KSA 6, 268) – auch seine Mutter und seine Schwester zählt. Wenn man die Polemik Nietzsches gegen Dühring und gegen den Sozialismus unter diesem Blickwinkel beurteilt und den ideologischen Eklektizismus des damaligen Sozialismus in Betracht zieht, erscheint sie in einem anderen Licht. Der Sozialismus, auf den er sich bezieht, ist nämlich vor allem ein nationaler, autarker und antisemitischer Sozialismus, während seine Analyse von Dührings Theorie der Gerechtigkeit einige Affinitäten mit der entsprechenden von Engels durchgeführten Untersuchung aufweist 240. Man muss daraus folgern, dass sich 240
Obwohl Engels’ Auseinandersetzung mit Dühring ganz andere Wurzeln und Beweggründe hatte als Nietzsches, lassen sich doch einige Ähnlichkeiten zwischen ihnen fest-
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Asketismus und Wille zur Macht
Nietzsches Polemik nicht so sehr gegen den Sozialismus als marxistische Theorie der Arbeiterbewegung, die er auch gar nicht kannte, richtet, sondern vielmehr gegen einen nationalen und antisemitischen Sozialismus, der auf langen, gewundenen Wegen – die sich sicher nicht direkt auf Dühring und seine Anhänger zurückführen lassen – der Ideologie der konservativen Revolution und des Nationalsozialismus Nahrung geben sollte. Diese Hypothese trägt zum einen zu einer genaueren geschichtlichen Standortbestimmung von Nietzsches Polemik bei und lässt zum anderen die große Problematik ihrer Beurteilung mit rein politischen und sozialen Kriterien besonders deutlich hervortreten. Nietzsche beschäftigte sich vor allem mit einem Konflikt zwischen zwei Auffassungen der Moral und des Werdens; sein Denken wollte die Voraussetzungen für die ‚stillsten Stunden‘ schaffen, die die ‚Erfinder von neuen Werthen‘ umgeben, während er der Welt der ‚grossen Ereignisse‘, in der sich die ‚Erfinder von neuem Lärme‘ (vgl. KSA 4, 169) bewegen, gleichgültig gegenüber stand. Die Polemik Nietzsches gegen Dühring und gegen den Sozialismus ist im Zusammenhang mit dieser Gleichgültigkeit gegenüber der soziopolitischen Geschichte und dem Interesse für jene ‚höhere Geschichte‘ zu se-
stellen, vor allem was die Ablehnung von Dührings Auffassung der Gleichheit angeht (vgl. diesbezüglich auch M. Montinari, Nietzsche lesen, a. a. O., 202–203). Engels behauptet z. B.: „Wir haben hinlänglich gesehen, dass die völlige Gleichheit der beiden Willen nur so lange besteht, als diese beiden Willen nichts wollen; dass, sobald sie aufhören, menschliche Willen als solche zu sein, und sich in wirkliche, individuelle Willen, in die Willen von zwei wirklichen Menschen verwandeln, die Gleichheit aufhört; dass Kindheit, Wahnsinn, sogenannte Bestienhaftigkeit, angeblicher Aberglaube, behauptetes Vorurteil, vermutete Unfähigkeit auf der einen, und eingebildete Menschlichkeit, Einsicht in die Wahrheit und Wissenschaft auf der andern Seite, dass also jede Differenz in der Qualität der beiden Willen und in derjenigen der sie begleitenden Intelligenz eine Ungleichheit rechtfertigt, die sich bis zur Unterwerfung steigern kann; was verlangen wir noch mehr, nachdem Herr Dühring sein eignes Gleichheitsgebäude so wurzelhaft von Grund aus zertrümmert hat?“ (F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), in K. Marx-F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin, Dietz, 1962, S. 95). Da Dühring eine ganz axiomatische, moralistische und unhistorische Auffassung der Gleichheit vertreten hat, muss er nach Engels notwendigerweise eine Reihe von ‚Rückzügen‘ antreten, so dass die Gleichheit schließlich zur „Ausgleichung durch die Gewalt“ und der zweite Wille vom ersten „[durch Unterwerfung] als gleichberechtigt anerkannt“ wird (ebd., S. 94). Auch Engels kritisiert die Theorie der Gewalt bei Dühring: Die Reduktion der ökonomischen Wirklichkeit auf ein moralisches oder rechtliches Problem, das aus politischen Gründen – etwa der Gewalt – entstehe, ist seines Erachtens typisch für Dührings „matte, saft- und kraftlose Predigerdenkweise“ (ebd., S.171), die keine andere Vorstellung haben könne, „als wären die politischen Haupt- und Staatsaktionen das Entscheidende in der Geschichte“ (ebd., S. 148). So erscheint die These gerechtfertigt, dass Engels und Nietzsche Dührings Theorie der Gleichheit und der Gewalt ablehnen, weil sie beide nach einer wissenschaftlicheren und geschichtlich begründeteren Auffassung des Werdens und seiner wirklichen Gründe streben, auch wenn sich ihre Anschauungen dieses Werdens stark voneinander unterscheiden.
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hen, deren Anbruch der ‚tolle Mensch‘ in der Fröhlichen Wissenschaft nach dem ‚Tod Gottes‘ prophezeite (vgl. KSA 3, 481). Nur aus dieser Perspektive – oder vielmehr aus derjenigen einer ‚Vollendung der Metaphysik‘ – kann man begründete Überlegungen zu möglichen Berührungspunkten oder Divergenzen zwischen seinem Denken und der marxistischen Theorie anstellen. 241
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Im Brief über den Humanismus schrieb Heidegger: „Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins. Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen. Es läßt sich nur aufnehmen, indem seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgeborgen und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird. Alles Widerlegen im Feld des wesentlichen Denkens ist töricht. Der Streit zwischen den Denkern ist der ‚liebende Streit‘ der Sache selbst. Es verhilft ihnen wechselweise in die einfache Zugehörigkeit zum Selben, aus dem sie das Schickliche finden im Geschick des Seins“ (Brief über den Humanismus, in M. Heidegger, Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt/Main 1976, S. 336).
Kapitel 9 Genealogie und Evolution. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus Anti-Darwin Ich für meinen Theil betrachte [...] die geologischen Urkunden als eine Geschichte der Erde, unvollständig durchgeführt und in wechselnden Dialekten geschrieben, von welcher Geschichte aber nur der letzte, bloss auf zwei oder drei Länder sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Und auch von diesem Bande ist nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten und von jeder Seite sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache dieser Beschreibung, mehr oder weniger verschieden in den aufeinanderfolgenden Abschnitten, wird den Lebensformen entsprechen, welche in den aufeinanderfolgenden Formationen begraben liegen und welche uns fälschlich als plötzlich aufgetreten erscheinen. 242
So weit Darwin, der den Vergleich der komplexen erdgeschichtlichen Entwicklung mit einem dicken Band, von dem uns lediglich einige lückenhafte Kapitel überliefert sind, von dem Geologen Charles Lyell übernahm. Bei der Lektüre von Nietzsches Werk hat man oft einen ähnlichen Eindruck, das heißt, man trifft auf hier und da zufällig aufgelesene, ihrem ursprünglichen Kontext entrissene Wörter oder Gedanken, an deren langsame Sedimentation in aufeinanderfolgenden Formationen wir uns nicht mehr erinnern. Eine Analyse der Beziehungen zwischen Nietzsche und Darwin, die einzig die von Nietzsche veröffentlichten Werke berücksichtigen und daraus bestimmte allgemeinere Schlussfolgerungen ziehen wollte, würde beispielsweise ihren betont polemischen Charakter hervorheben, der in unterschiedlicher Form sein Denken nahezu symmetrisch am Anfang und am Ende prägt: Von der lautstarken Opposition gegen David Friedrich Strauss, den neuen Apostel des Darwin’schen Glaubens, mit der der junge Philologe 1873 seine vier Unzeitgemäßen Betrachtungen eröffnete, bis zu den „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“ in der Göt242
Diese Betrachtungen Darwins beschließen das zehnte Kapitel von On the Origins of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (dt.: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, übers. von J. Victor Carus, Stuttgart, Schweizerbart, 1910). Zu Charles Lyell vgl. J. M. Klaver, Geology and religious Sentiment. The effect of geological Discoveries on English Society and Literature between 1829 and 1859, Leiden/New York/Köln, Brill, 1997.
Anti-Darwin
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zendämmerung von 1888 bleibt Darwin eine Zielscheibe von Nietzsches Kritik. Bei der Formulierung seiner Vorbehalte gegen Darwins Idee des Daseinskampfes scheint der Philosoph in seinem letzten Herbst in Turin, schnaubend und verbittert, auf fast monotone Weise die Schlüsselbegriffe seiner Sicht des Daseins zu wiederholen: Machtkampf und Gegensatz zwischen Schwachen und Starken, die unmögliche Hoffnung auf glückliche Ausnahmen. In der Geschichte der Nietzsche-Rezeption wurden diese vereinfachenden Gegensätze reproduziert, ja sogar noch verstärkt, was zu verschiedenen Missverständnissen führte. Im Allgemeinen wurde der widersprüchliche Charakter zahlreicher Behauptungen Nietzsches über Darwin unterstrichen; bisweilen wurde der Übermensch selbst als poetische Transposition des Darwinismus betrachtet und die Verwendung bestimmter Formulierungen, die mit Darwins Ideen im Einklang stehen, von dem spezifischen philosophischen Beitrag der Theorien Nietzsches unterschieden. Was dagegen mit wenigen Ausnahmen auch in diesem Falle fehlt, ist „eine aus dem Grundanliegen und den Denkvoraussetzungen des Philosophen erwachsende Auslegung, die die Mannigfaltigkeit seiner Äußerungen verständlich werden läßt“, wie Wolfgang Müller-Lauter im Anschluss an eine eingehende Untersuchung der verschiedenen Forschungspositionen zum Thema scharfsinnig feststellte.243 Die Ergebnisse 243
Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York, de Gruyter, 1971, S. 130 f. Einen wichtigen Beitrag zu einer Interpretation im von Müller-Lauter bezeichneten Sinne verdanken wir G. Abel, Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York, de Gruyter 1984, S. 39–43. Die Beziehung Nietzsche-Darwin und die Gegenüberstellung beider Autoren wurden freilich immer wieder in der Nietzsche-Forschung Thema. Schon im Jahre 1932 diskutierte L. Haas an der Universität Gießen eine Dissertation zum Thema Der Darwinismus bei Nietzsche. Einen wichtigen Bezugspunkt bildet noch heute die ‚klassische‘ Studie von A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, deren sechzehntes Kapitel Nietzsches Entwicklungslehre; Nietzsches Stellung zu Darwin und zum Darwinismus gewidmet ist. Im Rahmen der jüngeren Kritik behandelte Dieter Henke das Thema Nietzsches Darwinismuskritik aus der Sicht der gegenwärtigen Evolutionsforschung als eine der Grundfragen der Nietzsche-Forschung, die bei der Tagung von 1982 am Wissenschaftskolleg Berlin zur Debatte standen (vgl. in: „Nietzsche-Studien“, 13 (1984), S. 189–210). Eine verdienstvolle Untersuchung des Problems legte Werner Stegmaier in Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in: „Nietzsche-Studien“, 16 (1987), S. 264–287, vor. Er zieht darin sowohl einige Positionen der jüngeren Nietzsche-Forschung, wie die von G.-G. Grau in Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche (Berlin/New York, de Gruyter, 1984) formulierten, als auch die „biologische Gedankenwelt“ allgemeiner in Betracht, unter besonderer Bezugnahme auf E. Mayr, Die Entstehung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo 1984. Von Mayr erschien später der Beitrag ... und Darwin hat doch Recht: Charles Darwin, seine Lehre und die moderne Evolutionsbiologie, München, Piper, 1994. Neben dieser Arbeit von Mayr wurden jüngst zum Thema von V. Gerhardt, Der Mensch wird
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Genealogie und Evolution
der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgten kritischen Ausgabe der Nietzsche-Werke, namentlich der von ihr ausgehende starke Impuls für die Erforschung der Bibliothek und Lektüre Nietzsches, der Lektüren und Quellen, mit denen er sich auseinandersetzte, erleichtern es heute, Interpretationsbeiträge im von Müller-Lauter genannten Sinne beizusteuern und die scheinbaren Widersprüche von Nietzsches Aussagen über Darwin in ihrer Entwicklung begreiflich zu machen. Darwin zwischen Strauss und Lange Nietzsches Seiten der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung über David Friedrich Strauss als neuen Apostel des Darwin’schen Glaubens scheinen einzig durch eine hochtönende, fast gezwungene Polemik geprägt, die sich unweigerlich auch auf die wissenschaftlichen Hypothesen zur natürlichen Selektion und zur Entstehung der Arten erstreckt. Es erscheint nahe liegend, diesen polemischen Übereifer auf den wissenschaftsfeindlichen Geist des jungen Baseler Philologen zurückzuführen, der, trunken von Schopenhauer’schen und Wagner’schen Ideen, mit Überzeugung die Wiedergeburt des ursprünglichen Griechentums dank der Verwirklichung der Bayreuther Projekte vertrat. Doch scheint dieses mögliche Interpretationsschema mit dem einige Jahre zuvor in einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff vom Februar 1868 bekundeten Interesse für den Darwinismus im Widerspruch zu stehen. In dem Brief schreibt Nietzsche: Wenn du Lust hast Dich vollständig über die materialistische Bewegung unserer Tage, über die Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, ihren kosmischen Systemen, ihrer belebten camera obscura etc. zu unterrichten, zugleich auch über den ethischen Materialismus, über die Manchester-Theorie etc. so weiß ich dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen als „Die Geschichte des Materialismus“ von Friedr. Alb. Lange (Iserlohn 1866), ein Buch, das unendlich mehr giebt als der Titel verspricht und das man als einen wahren Schatz wieder und wieder anschauen und durchlesen mag. (KSA 2, S. 257 f.)
Einige Jahre später sollte Nietzsche in der Vorbereitung des Kollegs über die vorplatonische Philosophie, das er erstmals im Sommersemester geboren: Kleine Apologie der Humanität (zur aktuellen Debatte über die Biopolitik), München, Beck, 2001 publiziert. Für allgemeinere Untersuchungen vgl. zudem Nietzsche Handbuch, hg. von H. Ottmann, a. a. O.; J. P. Stern, A Study of Nietzsche, Cambridge, 1979; K. Ansell-Pearson, Viroid Life. Perspectives on Nietzsche and the Transhuman Condition, London 1997; sowie R. Holub, Friedrich Nietzsche, New York 1995. A. Horn, Nietzsches Begriff der décadence, Frankfurt/Main/Berlin/New York, Lang, 2000, S. 63–110.
Darwin zwischen Strauss und Lange
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1872 abhielt, erneut an seine Lektüre von Langes Werk als hauptsächliche Informationsquelle über Darwin erinnern. Sein größtes Interesse muss dabei der Passus geweckt haben, an dem die in der Artenentwicklung herrschende Zufälligkeit mit der Empedokles’schen Vorstellung des Universums verglichen wird. Lange zufolge enthüllt diese Zufälligkeit sich in ihrer Zweckmäßigkeit, die sich „in den Organen der Tiere und Pflanzen“ wiederfinden lasse und Anlass zu der Hypothese gebe, daß in dem ewigen Mord des Schwachen zahllose minder zweckmäßige Formen vertilgt wurden, so daß auch hier das, was sich erhält, nur der günstige Spezialfall in dem Ozean von Geburt und Untergang ist. Das wäre denn nun in der Tat ein Stück der viel geschmähten Weltanschauung des Empedokles, bestätigt durch das endlose Material, welches allein die letzten Dezennien der exakten Forschung ans Licht gefördert haben. 244
Nietzsche zieht diese Idee des Darwinismus in der von Lange referierten Form für seine Konzeption des Gedankens als Bild heran und stellt fest, dass der Darwinismus auch in diesem Fall Recht habe: „das kräftigere Bild verzehrt das geringere“ 245. Eine noch wortgetreuere Bezugnahme auf diesen Passus aus der Geschichte des Materialismus findet sich in einer weiteren Aufzeichnung zur Vorbereitung des Kollegs, worin der junge Philologe auf die Affinitäten zwischen den philosophischen Auffassungen der Vorsokratiker und bestimmten grundlegenden Auffassungen der zeitgenössischen Wissenschaft eingeht. In diesem Rahmen will er die Beziehung zwischen der Philosophie des Empedokles und gewissen Ideen des Darwinismus aufzeigen und behauptet unter anderem: und hier genügt ihm der großartige Gedanke, daß unter zahllosen Mißformen und Unmöglichkeiten des Lebens auch einige zweckmäßige und zum Leben mögliche Formen entstehen: hier wird die Zweckmäßigkeit des Bestehenden auf den Bestand des Zweckmäßigen zurückgeführt ... Jetzt haben wir eine Spezialanwendung dieses Gedankens in der Darwinschen Theorie.246
Die Vorstellung, dass bestimmte lebensfähige Formen nur dank der Rückbildung und des Aussterbens zahlreicher anderer, schwächerer und 244
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F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1974, S. 692. Die Lange-Lektüre als wesentliche Kenntnisquelle über Darwin und den Darwinismus in dieser Frühphase von Nietzsches Denken wurde mehrfach zum Untersuchungsgegenstand der NietzscheForschung; die eingehendste Analyse zu diesem Aspekt liefert George Stack in Kapitel 7 („Darwin and Teleology“) seines Buches Nietzsche and Lange, Berlin/New York, de Gruyter, 1983. Dieses Zitat aus den vorbereitenden Aufzeichnungen zum Kolleg über die vorplatonische Philosophie steht bei K. Schlechta, A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann, 1962, S.39. Ebd., S. 68 f.
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Genealogie und Evolution
weniger angepasster Formen überleben können – eine Vorstellung, in der Lange den Kern des Darwinismus und seine Affinität zu Empedokles ausmachte – wird folglich von Nietzsche getreulich wiedergegeben. Auch in späteren Momenten seiner philosophischen Entwicklung sollte Lange für Nietzsche eine bevorzugte Quelle der Information über Darwin bleiben. Obwohl Lange ein sehr positives Urteil über den großen wissenschaftlichen Fortschritt fällte, den Darwins Hypothesen bedeuteten, unterstrich er gleichzeitig die Notwendigkeit weiterer zahlreicher experimenteller Überprüfungen, um tatsächlich den empirischen Beweis der Theorie über die Entstehung der Arten zu erbringen. Außerdem setzte sich Lange nie im Detail mit den wissenschaftlichen Arbeiten Darwins auseinander, sondern bewertete sie vor allem in der Perspektive einer neuen Auffassung der Teleologie der Natur: Insbesondere strich er heraus, dass in der Natur eine Zweckmäßigkeit, wie der Mensch sie in seinem Verhalten verfolge, fehle, und eine „ungeheure Vergeudung von Lebenskeimen“ 247 die Erhaltung der Arten beherrsche. Der Ton von Langes Argumentation unterscheidet sich deutlich von dem des friedlichen, distanzierten und genauen Beobachters jedes Naturphänomens, wie er Darwins Texte kennzeichnet; seine Geschichte des Materialismus richtet sich eher auf die Herausarbeitung der allgemeineren philosophischen Konsequenzen der untersuchten wissenschaftlichen Theorien. Dieser Aspekt sollte in einer Untersuchung über Nietzsches Einstellung zum Darwinismus nicht vergessen werden. Sein besonderes Interesse hatte wahrscheinlich eine weitere Feststellung Langes hinsichtlich der Konsequenzen der Theorie über die Entstehung der Arten geweckt, die uns nach seiner Ansicht in ein geheimnisvolles Urzeitalter zurückführt, das sich von den glanzvollen Darstellungen der mythologischen Dichtungen grundsätzlich unterscheide.248 Lange war indes nicht die einzige Quelle, aus der der junge Nietzsche Kenntnisse über Darwins Ideen bezog. Weitere Werke, die er ebenfalls in jenen Jahren aufmerksam las, etwa Die Philosophie des Unbewußten von Eduard von Hartmann oder Der Werth des Lebens von Eugen Dühring, boten ihm Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den möglichen philosophischen Konsequenzen des Darwinismus. Auch standen die Evolutionstheorie und der Daseinskampf in jenen Jahren offenkundig im Mittelpunkt lebhafter Debatten in den Baseler akademischen Kreisen. Aus einem Brief Nietzsches von 1877 erfahren wir beispielsweise, dass sein einstiger Kollege Max Heinze seit geraumer Zeit die offizielle Anerkennung einer am Darwinismus inspirierten philosophischen Richtung her247 248
F. A. Lange, a. a. O., S. 691. Vgl. ebd., S. 689.
Darwin zwischen Strauss und Lange
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beisehnte. 249 Zudem hatte Gustav Teichmüller, dessen Berufung nach Basel Nietzsches Hoffnungen zunichte gemacht hatte, den Lehrstuhl für Philosophie besetzen und den Lehrauftrag für Philologie seinem Freund Erwin Rohde überlassen zu können, seit längerem sein Interesse für die philosophischen Auswirkungen des Darwinismus und die Affinitäten zwischen bestimmten Vorstellungen der vorsokratischen Philosophie und den Ergebnissen der Darwin’schen Forschungen genährt. Teichmüller hatte sich für seine Untersuchungen die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Biologen Karl von Baer zunutze machen können, den Nietzsche ebenfalls gelesen hatte. 250 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Nietzsche sich gegen Ende 1872 der Lektüre der – fast gleichzeitig mit der englischen Ausgabe erschienenen – deutschen Übersetzung von The Expression of the Emotions in Man and Animals zuwandte, von der in einem Fragment aus dem betreffenden Jahr folgende Spur bleibt: „Bell bei Darwin zitiert über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (zur Genesis der Sprache!)“ (8 [119], KSA 7, S. 267).
Bekanntlich rechnete Darwin den Physiologen Charles Bell mit seinem Werk Anatomy and Philosophy of Expressions zu seinen bedeutendsten Vorläufern bei der Erforschung der Ausdrucksformen von Mensch und Tier. Höchstwahrscheinlich hatte Nietzsche seine Aufmerksamkeit insbesondere dem langen Bell-Zitat zugewandt, das Darwin im sechsten Kapitel seines Buches, „Specielle Ausdrucksweisen beim Menschen: Leiden und Weinen“ 251, anführt. Bell analysierte in diesem Passus die Gründe für die instinktive Zusammenziehung der Muskeln rings um das Auge bei Kindern, wenn sie laut lachen, weinen, husten oder niesen. Dieses Augen249 250
251
Vgl. Nietzsches Brief an Paul Rée von Anfang August 1877 (KSB 5, S. 266). Vgl. dazu Andrea Orsuccis bedeutende Studie über Nietzsches Beziehungen zur biologischen Theorie und Forschung seiner Zeit in Dalla biologia cellulare alle scienze dello spirito. Aspetti del dibattito sull’individualità nell’Ottocento tedesco, a. a. O., S. 167–219, sowie ders., Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin, de Gruyter 1996, S. 42–55. Orsuccis Untersuchungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur genauen Einschätzung und Bewertung von Nietzsches Beziehungen zum Darwinismus. Ch. Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, übers. von J. Victor Carus, Stuttgart, Schweizerbart, 4. Aufl., 1898. Auf das Thema dieses Fragments von 1872 kommt Nietzsche, wiederum Bezug nehmend auf Darwin, im Jahre 1880 zurück (vgl. KSA 9, S. 244). Zu Darwins Sprachauffassung vgl. J. Leopold, Anthropological Perspectives on the Origin of Language Debate in the Nineteenth Century: E. B. Tylor and C. Darwin, in: Theorien vom Ursprung der Sprache, hg. von J. Gessinger und V. von Rahden, Berlin/New York, de Gruyter, 1989, Bd. 1, S. 151–176. Vgl. zu dem gleichen Thema, wenn auch in anderem Zusammenhang, H. Treiber, Zur „Logik des Traums“ bei Nietzsche, a. a. O.
244
Genealogie und Evolution
zwinkern bei jedem Akt, der ein starkes Ausatmen impliziert, wurde von ihm auf die Notwendigkeit zurückgeführt, das empfindliche Gewebe der Augen vor starken Blutdruckschwankungen zu schützen. Im Rahmen dieser Erklärung geht er auch auf die Blutdruckschwankungen und das Augenzwinkern in Momenten des Schmerzes oder starker persönlicher Beteiligung ein und schreibt: [W]enn wir die Augenlider eines Kindes von einander ziehen, um das Auge zu untersuchen, während es schreit und vor Leidenschaft um sich schlägt, so wird die Bindehaut plötzlich mit Blut gefüllt und die Augenlider werden umgewendet, weil dem Gefäßsystem des Auges nun die natürliche Stütze und das Mittel genommen wird, sich gegen den plötzlichen Zufluß von Blut zu bewahren.252
Nietzsche muss diese Analyse des physischen Substrats der Gefühlsäußerungen und Gesten als Bestätigung seiner eigenen Hypothese von der Übersetzbarkeit und Mitteilbarkeit des Gefühls in der ganz und gar instinktiven Sprache der Gebärden und Laute empfunden haben. Er hatte diese Hypothesen in Auseinandersetzung mit von Hartmanns Philosophie des Unbewußten entwickelt und erstmals im vierten und letzten Abschnitt der Dionysischen Weltanschauung dargelegt. Außerdem bilden sie die Grundlage seiner Analyse der Sprachentstehung, die er im Laufe des Sommers 1873 in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn entwickelte. Nach Nietzsche entsteht die Sprache durch zwei aufeinanderfolgende Reihen von Metaphern, wobei die erste aus der Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild – woraus auch gestische Ausdrucksformen entspringen können –, die zweite aus der Umformung des Bildes in Laute hervorgehe, die schließlich das Wort bildeten. Bei dieser Untersuchung stand ihm offensichtlich das Bell-Zitat noch vor Augen, denn gerade das Phänomen der plötzlichen Blutdruckschwankungen wird von ihm als eines der bedeutendsten Symptome für die unüberwindliche Kluft zwischen der Verstellung des stolzen Bewusstseins und der verborgenen Wirklichkeit des eigenen Körpers angeführt, die den Menschen und seine Fähigkeit zu lügen kennzeichne. Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst! [...] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen! Sie warf den Schlüssel weg ... (KSA 1, S. 877)
Das Thema der Sprachentstehung und der Wahrheit weist in dieser kurzen, vom Autor nicht für die Veröffentlichung bestimmten Schrift von 252
Ebd., S. 137.
Darwin zwischen Strauss und Lange
245
1873, die in den letzten Jahren in der Nietzsche-Forschung zunehmende Beachtung fand, 253 bedeutende Spuren einer allgemeineren Auseinandersetzung mit bestimmten Schlüsselideen des Darwinismus auf. Tatsächlich sieht Nietzsche in der Verstellung das vom Intellekt entwickelte Mittel zur Erhaltung des Individuums, das heißt, die Verstellung ist das Werkzeug, mit dessen Hilfe „die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu führen versagt ist“ (KSA 1, S. 876). Gleichzeitig steckt die Verstellung in dem Wunsch nach Sozialität, den der Mensch in einem Urzustand seiner Beziehung zur Natur verspürt: [W]eil aber der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt aber etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. (KSA 1, S. 877)
Der Impuls zur Wahrheit entsteht folglich in dem dunklen Urzustand der Welt, den Lange als Konsequenz der Darwin’schen Vorstellung vom Daseinskampf beschrieben hatte. Kurze Zeit vorher, im April 1873, hatte Nietzsche in einem Brief an Carl von Gersdorff eine Kritik der Geburt der Tragödie belächelt, in der das Werk als „der in das Musikalische übersetzte Darwinismus und Materialismus“ definiert worden war (KSB 4, S. 139). Hinter dieser Distanzierung vom Darwinismus verbirgt sich indes keine einfache polemische Ablehnung, sondern eine – wenn auch gewöhnlich indirekte – Auseinandersetzung mit einigen der Darwin’schen Theoreme, die Nietzsche frei in seine eigene erkenntnistheoretische und ästhetische Auffassung einbaut. Berücksichtigt man diese Auseinandersetzung, so lassen sich auch die giftigen Pfeile, die Nietzsche gegen David Friedrich Strauss als neuen Apostel des Darwinismus abschoss, auf differenziertere Weise ausdeuten. Bezeichnenderweise geht Nietzsche nicht auf die langen Kapitel von Der alte und der neue Glaube ein, in denen Strauss die philosophischen Kon253
Aus der diesbezüglichen Bibliographie sei hier lediglich auf die zahlreichen, wichtigen Studien verwiesen, die Ernst Behler der Sprachtheorie des jungen Nietzsche gewidmet hat und die eine überzeugende Synthese der gegenwärtigen Forschung darstellen. Darunter insbesondere: „Friedrich Nietzsche und die frühromantische Sprachtheorie“, in E. Behler, Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn, Schöningh 1993; Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche, in: „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, a. a. O. S. 99–111; und Friedrich Nietzsche, in: Klassiker der Sprachphilosophie von Platon bis Noam Chomsky, a. a. O., S. 291–305. Für zusätzliche Bibliographie zum Thema verweisen wir auf die Anmerkung 41 dieses Buchs.
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Genealogie und Evolution
sequenzen der Entdeckungen Darwins und der Evolutionstheorie beschreibt. Vielmehr richtet er sein Augenmerk auf den vierten Teil des Buches, in dem sein Gegner die ethischen Konsequenzen aus den in den ersten Teilen dargelegten philosophisch-wissenschaftlichen Prämissen zieht. Straussens Kritik an der Ethik Schopenhauers, insbesondere die von ihm herausgestellte Unmöglichkeit, nicht nur die Pflichten gegenüber den anderen, sondern auch die Pflichten gegenüber sich selbst aus dem Mitleid abzuleiten, muss Nietzsches Ärger angesichts der fehlenden Übereinstimmung zwischen den erkenntnistheoretischen Prämissen und den ethischen Konsequenzen im Werk seines Widersachers verschärft haben. Das Buch von Strauss halle von donnernden Worten wider, doch fehle es ihm an Strenge, seine überheblich-hochtönenden Behauptungen wollten einzig von seinem potentiellen Publikum beifällig vernommen werden, zeigten aber nicht den notwendigen Ernst und Mut zu einer kohärenten Reflexion. Der Strauss’sche Darwinismus sei inkohärent, oberflächlich und unfähig, die Konsequenzen der Evolutionstheorie bis zu Ende zu durchdenken. Tatsächlich rekurriere er weiterhin auf die Fiktion eines idealen Menschengeschlechts, das aus lauter verantwortlichen Individuen bestehe, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die Idee vom Daseinskampf ein düsteres Bild von den Ursprüngen der Menschheit habe entstehen lassen. Strauss sei folglich nicht im Stande gewesen, die tatsächlich vorhandenen moralischen Phänomene aus seinen darwinistischen Voraussetzungen zu erklären, während er umgekehrt einen angeborenen moralischen Imperativ beim Menschen vorausgesetzt habe, der ohne jegliches Fundament bleibe. 254 So fragt sich Nietzsche: Aber woher erschallt dieser Imperativ? Wie kann ihn der Mensch in sich selbst haben, da er doch, nach Darwin, eben durchaus ein Naturwesen ist und nach ganz anderen Gesetzen sich bis zur Höhe des Menschen entwickelt hat, gerade dadurch, dass er in jedem Augenblick vergass, dass die anderen gleichartigen Wesen ebenso berechtigt seien, gerade dadurch, dass er sich dabei als den Kräftigeren fühlte und den Untergang der anderen schwächer gearteten Exemplare allmählich herbeiführte. (KSA 1, S. 196)
254
Dirk Robert Johnson hat dieses Thema in seinem Aufsatz Nietzsche’s Early Darwinism: The „David Strauss“ Essay of 1873, in: „Nietzsche-Studien“, 30 (2001), S. 62–79, behandelt. Johnson sieht in Nietzsches Position zu Darwin einen Übergang vom frühen, liberal und aufklärerisch orientierten Darwinismus zum späteren Sozialdarwinismus, grenzt dessen Position aber jedenfalls deutlich von denen des Sozialdarwinismus ab. Der genannte Beitrag von Johnson zeichnet sich außerdem durch eine eingehende Auseinandersetzung mit Arthur Dantos Interpretation der Beziehung Nietzsche-Darwin aus, wie dieser sie in Nietzsche as Philosopher, New York, MacMillan, 1965, darlegte. Mit dem Verhältnis Nietzsches zum Sozialdarwinismus beschäftigt sich auch Stegmaier in seiner oben zitierten Arbeit.
Der physische und der moralische Mensch
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Nietzsche ist noch weit davon entfernt, die von Darwin dargelegten Ideen in ihren letzten ethischen Konsequenzen zu durchdenken, doch ist er sich der Unzulänglichkeit jeder linearen Fortschrittsidee, nach der der Fortschritt auf menschheitsgeschichtlicher Ebene als Fortsetzung der Entwicklung vom Tier zum Urmenschen gedacht wird, vollauf bewusst. Mit seinem Festhalten am Postulat eines dem Menschsein innewohnenden moralischen Imperativs hat Strauss versucht, die Perspektive eines konfliktfreien, jeder Zerreißprobe enthobenen ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritts zu rechtfertigen: Dies ist einer der Hauptaspekte des oberflächlichen Philistertums, gegen das Nietzsche in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung polemisch zu Felde zieht. Der physische und der moralische Mensch Am Ende des Aphorismus 37 von Menschliches, Allzumenschliches zitiert Nietzsche einen Abschnitt aus dem kurz zuvor erschienenen Werk von Paul Rée Der Ursprung der moralischen Empfindungen, um die Notwendigkeit der psychologischen Beobachtung zu unterstreichen und einige allgemeine Schlussfolgerungen des Werkes herauszustellen. Im Original von Rée klang dieser Passus so: Jetzt aber, seit La Marck und Darwin geschrieben haben, können die moralischen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden, wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher, als der physische Mensch. 255
In seiner Wiedergabe der Stelle lässt Nietzsche den expliziten Verweis auf Darwin aus, obwohl ein Großteil der von seinem Freund durchgeführten Analysen zum Ursprung der moralischen Empfindungen sich auf dessen Evolutionstheorie stützt. Gleichzeitig unterstreicht er die Bedeutung von Rées Feststellung. Nicht allein bilde sie eine grundlegende Voraussetzung für die Geschichte der moralischen Empfindungen, die er in den Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches zu skizzieren 255
P. Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz, Schmeitzner, 1877, S. VIII. Zu Nietzsches Beziehung zu Paul Rée vgl. M. C. Fornari, La pena tra rappresaglia e vendetta. Nietzsche e Paul Reé in merito ad alcune questioni di diritto penale, in La trama del testo. Su alcune letture di Nietzsche, hg. von M. C. Fornari, Lecce, Milella, 2000; dazu verweise ich auf meine Rezension, Jenseits des schwachen Denkens? Perspektiven der gegenwärtigen italienischen Nietzsche-Forschung, in: „Nietzsche-Studien“, 31 (2002). Ein besonderes Augenmerk schenkt auch Marco Brusotti in seinem Die Leidenschaft der Erkenntnis, a. a. O., der Beziehung zu Rée. Vgl. zudem die wichtige Studie von Hubert Treiber, Zur Genealogie einer „science positive de la morale en Allemagne“, a. a. O.
248
Genealogie und Evolution
sucht, sondern es handele sich auch um eine der großen, zugleich fruchtbaren und furchtbaren Einsichten, die von einschneidender Bedeutung für das Schicksal der Menschheit sein könnten: Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als eine Axt dienen, welche dem „metaphysischen Bedürfniss“ der Menschen an die Wurzel gelegt wird. (KSA 2, S. 61)
Damit diese Entwurzelung des metaphysischen Bedürfnisses gelingen kann, muss der Darwinismus der psychologischen Beobachtungen von Paul Rée vertieft und durch eine sorgsamere historische Erforschung der frühesten Zeiten der Menschheit ergänzt werden. Psychologische Beobachtung, wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Verhaltens und historische Forschung müssen zusammengehen, um zu einer überzeugenden Genealogie der Empfindungen, Leidenschaften und Motivationen zu gelangen, die letztlich das ethische Verhalten des Menschen bestimmen. Bekanntlich kommt Nietzsche an einer wichtigen Stelle von Ecce homo auf diesen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches, seine Bedeutung ausweitend, zurück. In seiner Autobiographie präsentiert er sich als eigentlicher Urheber des Satzes von Rée, da er als erster Immoralist die letzten Konsequenzen aus ihm gezogen habe. Rées Satz wird zum Ausgangspunkt einer Umwertung aller Werte und erlangt weiter reichende erkenntnistheoretische Implikationen, denn in der Sicht des späten Nietzsche bleibt die Idee der Verstehbarkeit der Welt selbst schließlich ohne Fundament. An derselben Stelle von Ecce homo verweist Nietzsche für eine erschöpfende Beschreibung des Verhältnisses zwischen seiner eigenen Auffassung der Genealogie und den moralischen Betrachtungen von Paul Rée auf das Vorwort zur Genealogie der Moral. Er hatte darin verschiedene Aphorismen der beiden Bände von Menschliches, Allzumenschliches sowie der Morgenröthe in Erinnerung gerufen, 256 um seine eigene 256
Im einzelnen den Aphorismus 112 aus der Morgenröthe und folgende Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches: 45, 89, 92, 96, 100, 136 (Vermischte Meinungen und Sprüche), und 22, 26, 33 (Der Wanderer und sein Schatten). Im Rahmen der Untersuchungen zu Nietzsches Darwin-Rezeption wurde der Auseinandersetzung mit Paul Rée als bestimmendem Faktor für die Entwicklung seiner Einstellung zu Darwin im Allgemeinen wenig Beachtung geschenkt, während man sich sehr häufig der Entwicklung von Nietzsches antidarwinistischer Position in der Genealogie der Moral zugewandt hat. Man kann aber feststellen, dass Nietzsche durch die Auseinandersetzung mit Rée zur Bestimmung der Grundzüge seiner genealogischen Methode gelangt, so dass ohne diesen auch die Entwicklung seiner Auseinandersetzung mit Darwin schwer verständlich ist; zu der genealogischen Methode vgl. W. Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral. Werkinterpretation, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, sowie A. Orsucci, Genealogia della Morale. Introduzione alla lettura, Roma, Carocci, 2001.
Der physische und der moralische Mensch
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Geschichte der moralischen Empfindungen als antipodisch zu „eine[r] umgekehrte[n] und perverse[n] Art von genealogischen Hypothesen, ihre[r] eigentlich e n g l i s c h e [ n ] Art“ zu definieren. Die Beziehung zu Rée ist gleichzeitig eine Beziehung zu Darwin, insbesondere zu denjenigen englischen Auffassungen der Ursprünge der Moral, die aus dem Darwinismus ihre wesentlichen Anregungen bezogen hatten. Jedenfalls wird Rée, nach Lange, zur wichtigsten Quelle, um Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus zu erforschen. Tatsächlich stellen die Aphorismen, auf die Nietzsche in der Genealogie der Moral verweist, eine wahre Neuformulierung der wichtigsten von Rée in Der Ursprung der moralischen Empfindungen aufgestellten Hypothesen dar. Insbesondere geht Nietzsche auf den Ursprung der Konzepte des Guten und Bösen sowie der Gerechtigkeit näher ein, wobei er für Schuld, Rache und Scham andere Erklärungen liefert als Rée. Das zentrale Thema dieser Neuformulierung durch Nietzsche, das am stärksten von der Auseinandersetzung mit dem Darwin’schen Weg zeugt, wie er im Ursprung der moralischen Empfindungen präsentiert wird, betrifft die Herleitung der Moral von den Erfordernissen der Erhaltung der Urgemeinschaft und folglich die Gefahren, die sich für das Individuum aus der Loslösung von dieser Gemeinschaft ergeben. Bei der Beschreibung der Entstehung der Moral als Folge der Behauptung des Sozialtriebs und seiner notwendigen Erhaltung tritt ein Phänomen, das Nietzsche bereits im Zusammenhang mit der Genese der Sprache und der Wahrheit betrachtet hatte, erneut hervor: Am Anbeginn aller Tradition, aller Sitten und ethischen Gewohnheiten steht das Vergessen. Nietzsche ist weit davon entfernt, die Moral auf den Dualismus Egoismus-Altruismus zurückzuführen und Darwins Erklärung des Ursprungs des Altruismus, wie Rée sie in seinem Werk referiert hatte, zu übernehmen: Seine Sicht ist düsterer und vielschichtiger zugleich. Zunehmend konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf die hinter der Errichtung einer ursprünglichen moralischen Ordnung und Gerechtigkeit verborgenen Machtverhältnisse und ihr prekäres Gleichgewicht. Die Distanznahme gegenüber Darwin, die sich aus der eingehenden Auseinandersetzung mit den von Paul Rée vertretenen Ideen über den Ursprung der Moral herauslesen lässt, darf nicht verhüllen, dass Nietzsche in jenen Jahren die Debatte über den Darwinismus mit lebhaftem Interesse verfolgte. Im Sommer 1877 hatte er beispielsweise in Rosenlauibad den Herausgeber der wichtigen philosophischen Zeitschrift, „Mind“, George Cram Robertson, getroffen und Gelegenheit gehabt, nicht nur die Ideen seines Freundes, sondern auch die von Darwin, Spencer, Bagehot und anderen mit ihm zu diskutieren. Er hatte daraufhin ernsthaft in Er-
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Genealogie und Evolution
wägung gezogen, Robertsons Einladung anzunehmen und zusammen mit Rée nach London zu reisen, um die Hauptvertreter der damaligen englischen Philosophie und Wissenschaft dank Robertsons Vermittlung zu treffen. 257 Eine persönliche Begegnung zwischen Nietzsche und Darwin ist folglich der Kategorie der unverwirklicht gebliebenen historischen Möglichkeiten zuzurechnen! Höhere Organismen In einem Fragment vom Sommer 1882, in dem Nietzsche Lou Salomé in Tautenburg traf, wird eine mögliche Beziehung zwischen „Arterhaltung“ und dem „Gedanken der ewigen Wiederkunft“ hergestellt (vgl. KSA 10, S. 21). In demselben Fragment erinnert Nietzsche, offenkundig auf Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus anspielend, das er gleich nach seinem Erscheinen im Jahre 1881 mehrmals gelesen hatte,258 an die Bedeutung des inneren Kampfes als notwendige Vorbedingung für jede wahre Entwicklung des Individuums. Diese thematische Verknüpfung von Darwinismus, ewiger Wiederkehr und der neuen, durch die Lektüre von Roux beeinflussten Auffassung des Individuums lässt sich anhand des Heftes M III I aus dem Jahr 1881, worin der Gedanke der ewigen Wiederkehr erstmals formuliert wird, im Detail verfolgen. An diesem entscheidenden Wendepunkt von Nietzsches Denken wird die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus nicht unterbrochen, und das Problem der Entstehung höherer Organismen aus niederen Organismen erlangt einen bedeutenden Stellenwert. Folgendermaßen äußert sich Nietzsche in einem Fragment dieses grundlegenden Heftes: 257
258
Vgl. die Briefe vom August 1877 an Paul Rée und Malwida von Meysenbug in KSB 5, S. 265–269. Vom nicht rein sporadischen Interesse Nietzsches für den Darwinismus zeugt auch seine Bitte an Franz Overbeck, ihm die Zeitschrift „Kosmos“, das Organ des deutschen Darwinismus, zu schicken (vgl. KSB 6, S. 117 f.). Wie aus einem bedeutenden vorbereitenden Fragment (vgl. KSA 9, S. 433–434) des Aphorismus 197 aus der Morgenröthe hervorgeht, war die Geschichte ein weiteres wichtiges Thema, das Nietzsche mit Darwin verband. Auf die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus in der Morgenröthe hat Marco Brusotti in seinem Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, a. a. O., hingewiesen; hier insbesondere S. 238–252. In allgemeinerer Perspektive rechnete Daniel C. Dennet Nietzsches genealogische Untersuchungen in seinem Darwin’s Dangerous Idea. Evolution and Meaning of Life, New York, Simon & Schuster, 1995, unter die ersten und wichtigsten Beiträge zur Soziobiologie. Für die Verbindungen zwischen Nietzsche und Roux’ Werk sei auf die grundlegende Studie von Wolfgang Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, a. a. O., sowie auf die oben zitierten Arbeiten von Andrea Orsucci verwiesen. Vgl. dazu auch B. Stiegler, Nietzsche et la biologie, Paris, PUF, 2001.
Höhere Organismen
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Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwins sind zu prüfen – durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen! (KSA 9, S. 508)
Obgleich es der Äußerung nicht an einer gewissen rhetorischen Emphase fehlt, scheint darin doch etwas von der Notwendigkeit weiterer experimenteller Überprüfungen der Darwin’schen Hypothesen anzuklingen, wie Friedrich Albert Lange sie hervorgehoben hatte. Desgleichen bezieht sich der Philosoph auch in den folgenden Fragmenten, in denen die Formulierung einer eigenen, anti-darwinistischen Auffassung im Vordergrund steht, nach wie vor auf unterschiedliche Quellen und Lektüren, die nicht immer leicht zu bestimmen sind. Überraschend ist beispielsweise der Hinweis – in einem weiteren Fragment vom Frühjahr 1888 (vgl. KSA 13, S. 316) – auf die Flora und Fauna des Tertiärzeitalters, um in Frage zu stellen, dass die gegenwärtige Natur von der Urnatur abstammt. So sind in Nietzsches Einstellung zum Darwinismus noch in den Momenten, da sie eher durch seiner eigenen Weltauffassung inhärente Motive bedingt zu sein scheint, die Ergebnisse der zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatte zu gewahren, soweit sie ihm durch seine Lektüren bekannt waren. Von diesen Lektüren hatte diejenige von Roux’ Werk fraglos den größten Einfluss auf Nietzsches Einstellung zum Darwinismus in der letzten Phase seiner philosophischen Reflexion, denn die von Roux vertretenen Thesen bildeten den Bezugspunkt für die Entwicklung von Nietzsches Ideen über die Entstehung eines höheren, stärkeren und geistig freieren Individuums, im Gegensatz zum langsamen Entwicklungs- und Erziehungsprozess des Menschen als Herdentier, als Mitglied einer Gesellschaft und eines Staates. So beginnt das Fragment mit einer Wiedergabe der bedeutendsten Charakteristika, die Roux zufolge die innere Entwicklung der Organismen durch einen Kampf zwischen ihren wichtigsten Bestandteilen bestimmten. Allein diese innere Entwicklung habe die Organismen zum erfolgreichen Kampf gegen widrige äußere Umstände und folglich zur überlebensnotwendigen Anpassung an die Umwelt befähigt. Roux zog demnach die Gültigkeit der Darwin’schen Theorien nicht in Zweifel, sondern suchte sie durch eine Analyse der wesentlichen Zellund Molekularprozesse zu ergänzen, welche die Organismen und ihre Zweckmäßigkeit auf dynamische Art und Weise bestimmten. Gerade diese dynamische Vision des Organismus, seiner konfliktreichen Entstehung und Vervollkommnung muss auf Nietzsche besonderen Eindruck gemacht und sein Interesse geweckt haben. Er sah darin eine mögliche Analogie zum Prozess der geistigen Fortentwicklung und Verfeinerung, die
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Genealogie und Evolution
die Entstehung eines freieren, komplexeren Individuums ermöglichten. Den von Roux ermittelten organischen Charakteristika, die Nietzsche unter besonderer Beachtung der für die „Selbstregulierung“ und die „Überkompensation“ verantwortlichen getreulich aufzählt, entsprechen in dem Fragment von 1881 bestimmte Gefühle, Leidenschaften, geistige und psychologische Neigungen, die eine höhere Art der Menschheit auszeichneten. (Vgl. KSA 9, S. 509–512) Einige dieser Merkmale finden sich im Aphorismus 14 der „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“ in der Götzendämmerung wieder, der den Höhepunkt der anti-darwinistischen Polemik Nietzsches darstellt. Als distinktive Merkmale des „Geistes“, den Darwin nach Nietzsches Ansicht völlig außer Acht gelassen hat, werden hier aufgelistet: die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und „Alles, was mimikry ist“ (KSA 6, S. 121). Im Vordergrund dieses Abschnitts der Götzendämmerung stehen die wichtigsten Konnotationen der „Selbstregulierungsprozesse“, auf die Nietzsche in dem Fragment von 1881 in Folge seiner aufmerksamen, texttreuen Lektüre von Roux’ Werk abgehoben hatte – was nicht weiter überrascht, wenn man die Kette der vorbereitenden Fragmente genau verfolgt, die Nietzsche schließlich zur Ausformulierung des definitiven Textes des anti-darwinistischen Aphorismus von 1888 führt. Am Anfang dieser Kette steht ein Fragment vom Winter-Frühjahr 1887 (vgl. KSA 12, 304–305), worin Nietzsche die wichtigsten von Roux vertretenen Thesen in seiner eigenen Sprache zusammenzufassen und umzuarbeiten beginnt. Dabei richtet er sein Augenmerk insbesondere auf den Kampf zwischen den Teilen innerhalb der Organismen und Darwins Überschätzung der äußeren Umstände bei der Anpassungsleistung und Evolution. Im Zuge dieser sprachlichen Neuformulierung erfahren Roux’ Thesen eine tief reichende Veränderung, werden in einen anderen Kontext als den der rein naturwissenschaftlichen Untersuchung gestellt und zunehmend als Metaphern für grundlegende geistige Prozesse verwendet, durch welche die Entwicklung eines freieren, höheren Individuums vorstellbar wird. Noch deutlicher werden diese Neuformulierung und schrittweise Entfernung von Roux’ Werk – das dennoch nicht in Vergessenheit gerät – in den beiden langen Fragmenten vom Frühjahr 1888 (vgl. KSA 13, S. 305–306; 315–317), die dem Aphorismus der Götzendämmerung unmittelbar vorausgehen. Die Rekonstruktion der Kette, die Fragmente und definitiven Text miteinander verbindet, lässt ein bedeutendes Element von Nietzsches Konzeption des höheren Individuums hervortreten, auf das seine Auseinandersetzung mit dem Darwinismus einen bestimmenden Einfluss hatte: Nie gerät der gesellschaftliche Ursprung dieses Individuums aus dem
Höhere Organismen
253
Blick. 259 Das einzelne Individuum hat in der Urgemeinschaft nicht existiert. Anfänglich hat es sich allein als Organ im Dienste der Gesellschaft entwickelt, hat die Eigenschaften und Funktionen erlernt, die ihm von der Urgemeinschaft als zweckdienlichste für ihren Zusammenhang und Bestand beigebracht wurden. Erst in der Folge dieses Anpassungsprozesses hat das Individuum „seine Existenzmöglichkeit als Individuum“ entdeckt (KSA 9, S. 511). Doch bleiben die Existenzmöglichkeiten dieses frei gewordenen Menschen stets prekär, sind fortwährend von der Auflösung bedroht. Das Individuum, das sein Leben als Experiment auffasst, kann nur schwer einen festen Stand erlangen, tritt immer wieder hinter einer in stets neuen Formen restaurierten Moral zurück, die mit ihrer Berufung auf die Tradition den Zusammenhalt der Gemeinschaft, ihre Fähigkeit zur Erhaltung und Anpassung stärken. Unter diesem Blickwinkel lassen sich die Einwände gegen Darwins Idee eines Daseinskampfes, wie Nietzsche sie in der Götzendämmerung vorbringt, mit neuen Augen lesen. Er will der Idee der Arterhaltung keineswegs auf simplizistische Weise einen neuen Kult der Stärke und Macht als Eigenschaften eines außergewöhnlichen Individuums entgegensetzen, sondern die Existenzmöglichkeiten für einen reicheren, komplexeren Organismus abstecken, in dem verschiedene geistige und körperliche Elemente miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Er ist sich der tiefen Fragilität dieses Individuums, das auf unterschiedlichste Weise der Gefahr des Zusammenbruchs ausgesetzt ist, wohl bewusst. Diese Klarsicht, die sich mit aller Deutlichkeit in den Fragmenten ausspricht, sollte bei der Lektüre des definitiven Textes des Aphorismus 14 aus der Götzendämmerung, in dem ein anderer, fast emphatischer und offen polemischer Ton gegen die Mittelmäßigkeit und geistige Schwäche vorzuherrschen scheint, nicht übersehen werden. Die angemessene Berücksichtigung dieser Vielschichtigkeit von Nietzsches Texten erlaubt es, den experimentellen, offenen Charakter seines Denkens und so auch die beständige Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft, Philosophie und Kunst zu betonen, die in immer neuen, oft paradoxen Formen sein Werk durchzieht. 259
Im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Nietzsches Position gegenüber dem Sozialdarwinismus geht auch Stegmaier auf diese Auffassung des Individuums ein. Er stellt fest, dass Nietzsches Gegen-Moral „nicht ideologischen, den Interessen vorab definierter politischer Gruppen“ dient: „Er will undefinierbaren Individuen, Glücksfällen, Spielraum verschaffen“ (Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, a. a. O., S. 280). Mit meiner Analyse möchte ich vor allem die diesem Individuum eigene Zerbrechlichkeit herausstellen, denn dieses Individuum ist eben keine ursprüngliche Größe, sondern das Ergebnis eines langen, komplexen gesellschaftlichen Anpassungsprozesses. Die Zerbrechlichkeit wird gewöhnlich nicht zu den Charakteristika des Übermenschen gezählt.
Vierter Teil Das Engagement des Denkens. Nietzsche und die Konstruktion des europäischen Intellektuellen
Kapitel 10 Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien Die heute fast schon zu einem Mythos gewordene Wohnung in der Berggasse 19, wo Victor Adler von 1878 bis 1892 gelebt hatte, vor Freud also, könnte als Symbol für den Ort gesehen werden, an dem sich die zwei wichtigsten Episoden der ersten Nietzsche-Rezeption in Wien abspielten. Dabei handelt es sich: 1. um einen Brief, den eine Gruppe von Nietzsche-Verehrern aus Wien dem Philosophen anlässlich seines Geburtstages am 15. Oktober 1887 schickte, unterzeichnet von Siegfried Lipiner, Max Gruber, Victor und Sigmund Adler, Heinrich Braun und Engelbert Pernerstorfer (vgl. KGB II 6/2, S. 737 f.) und 2. um die Kontakte, die der junge Wiener Arzt Joseph Paneth, Freund und finanzieller Förderer Freuds, im Winter 1884 in Villafranca mit Nietzsche aufnahm, wie die Briefe bezeugen, die er seiner zukünftigen Frau Sophie Schwab schickte und die von Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrer Biographie des Bruders veröffentlicht wurden260. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung kann nicht nur eine Darstellung der Umstände nützlich sein, unter denen sich die beiden Episoden abspielten, sondern auch der Versuch, eine Verbindung zwischen beiden herzustellen und einen Gesamtüberblick über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien zu geben, was im Wesentlichen die Zielsetzung dieses Kapitels ist. 261 Schon aus zwei Briefen des Jahres 1876, die Joseph Ehrlich am 21. April und am 9. Juni aus Wien an Nietzsche schickte (vgl. KGB II 6/1, S. 313–315; 342–344), erfahren wir, dass die Unzeitgemäßen Betrachtun260
261
E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche’s, Leipzig 1904, Bd. II, S. 474–475; 478–493. Die Hypothese einer Beziehung zwischen den beiden Episoden hatte Bernoulli aufgestellt, vgl. Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908, Bd. I, S. 359–360. Die erste Episode wurde von William J. McGrath in seinem Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven/London, Yale University Press, 1974, mit großer Genauigkeit rekonstruiert und untersucht. Joseph Paneth ist durch die FreudBiographien allgemein bekannt; vgl. vor allem E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bern/Stuttgart 1960, Bd. I; vgl. auch E. Lesky, Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz/Köln, Böhlau, 1965. Die erschöpfendste Analyse von Freuds Nietzsche-Rezeption aufgrund der Vermittlung von Joseph Paneth liefert Reinhard Gasser in seinem Nietzsche und Freud, Berlin/New York, de Gruyter, 1997.
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Nietzsche in der Berggasse 19
gen in Universitätskreisen großes Interesse hervorgerufen hatten. Ehrlich war, wie Lipiner, ein aus Galizien stammender Jude, nur einige Jahre älter als er, der als Journalist und freier Schriftsteller in Wien arbeitete. Im Sommer des Jahres 1872 hatte er Victor Adler kennengelernt und wurde später von ihm und seinen Freunden, die größenteils zu den Unterzeichnern des Briefes von 1877 zählten, auch finanziell unterstützt.262 Die Briefe von Ehrlich, der „im Namen Ihrer begeisterten Verehrer an der hiesigen Universität“ spricht, geben bereits einige Hinweise darauf, aus welchen Gründen die jungen Wiener Interesse für Nietzsche zeigten, der ihnen als Initiator einer Kritik der Gegenwart im Namen ewiger Werte galt: Der Zeit überlegen sein, heißt, was ihr gemäß ist, in Widerspruch setzen, mit dem, was dem Ewigen gemäß ist und diesem anhängen angesichts unseres Jahrhunderts heißt in Wahrheit unzeitgemäß sein. In diesem Lichte verstanden und empfingen wir Ihre „Betrachtungen“, in diesem Sinne hat in unsern studentischen Kreisen Ihr Geist zu uns gesprochen, in diesem Gefühle gewann er in uns Leben, Wahrheit, Bedeutung. (KGB II 6/1, S. 314) 263
Das Milieu, in dem sich dieses Interesse entwickelte, nimmt klarere Konturen an, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass 1875 in einem der aktivsten Studentenzirkel des damaligen Wiener Universitätslebens, dem Leseverein der deutschen Studenten Wiens, (dessen Tätigkeit und Bedeutung in dem erwähnten Buch von McGrath erschöpfend dargestellt werden), eine Diskussion über die zweite Unzeitgemäße Betrachtung, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, stattfand. Referent war Joseph Paneth, Koreferent Victor Adler. Der Name des Referenten ruft 262
263
Ehrlichs Briefe an Nietzsche werden von McGrath nicht zitiert. Zur Beziehung Adler – Ehrlich, vgl. J. Braunthal, Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, 1965, S. 22. In einem Brief an Pernerstorfer vom 3.8.1872, der im Adler-Archiv in Wien erhalten ist, schreibt Adler über Ehrlich: „Ich habe hier einen jungen Dichter Joseph Ehrlich kennen gelernt und sein Drama Jakobo Ortis gelesen. Statt Ruhe fand ich hier heissen Kampf, statt Erholung geistige Hetzjagd. Das ganze ist mystische Philosophie Jakob Böhme – und das packt mich. Hohngelächter – ich werde noch wahnsinnig darüber. Der ganze Kerl ist ein Narr, ein polnischer Jude, mit 15 Jahren hat er erst Hochdeutsch gelernt, mit 20 sein Drama begonnen“. Über die Absicht, Ehrlich zu helfen, spricht Adler in Briefen an Pernerstorfer vom 25.9.1872 und vom 7.10.1872; Ehrlich wird auch von Adler in einer wichtigen Tagebuchnotiz vom 29.8.1874 zitiert; des weiteren sind im Adler-Archiv (Mappe 6/III) zwei Briefe von Ehrlich an Adler aus dem Jahre 1876 erhalten. Bezeichnend für die Ideologie der Wiener Studenten und ihre Interpretationsweise der Unzeitgemäßen Betrachtungen ist auch der Brief von Ehrlich vom 9. Juni 1876, in dem das Doppelt-Sehen, das sich auf die Beziehung zwischen Philosophie und Kunst bezieht, polemisch den Einäugigen gegenübergestellt wird, von denen Wien überfüllt sei, die jedoch zwei Hände hätten, um die seltsame Einheit von Ehre und Geld zu erlangen (KGB II 6/1, S. 342 f.).
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eine gewisse Überraschung hervor, handelt es sich doch um denselben Paneth, der Nietzsche zwar im Jahre 1884 besuchte, den Brief von 1877 aber nicht unterschrieben hatte. 264 Einige Angaben deuten auf eine Teilnahme des jungen Lipiner an der Diskussion hin, „der sofort durch die suggestive 264
Ein Absatz aus der unveröffentlichten Autobiographie von Joseph Paneth, die dessen Enkelin Frau Eva Paneth uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, macht Paneths damalige Beziehungen zum Leseverein deutlich: „Mittlerweils“, so schrieb Joseph Paneth, „war ich ins Studentenleben eingetreten, und hatte die Tollheiten des ‚Lesevereins der deutschen Studenten‘ allesamt mitgemacht. Was es da bei Bier und Cigaren für hochverrätherische Reden gab, in denen Österreich als längst abgethan verurtheilt wurde, ist nicht zu sagen. Ich war deutschnational zum Excess. Denn man kam sich gewaltig wichtig vor, und junge Menschen, in ihrem Drange, Etwas zu sein und zu thun, sind für jede Meinung und Partei zu haben. Es gab aber im Leseverein auch Dinge, die besser waren, z. B. eine Lese- und Redehalle, d. h. Discussionsabende. Ein solcher vermittelte meine Bekanntschaft mit Victor Adler. Reich, gescheidt, und Mediciner, versammelte er jeden Sonntag eine Anzahl Freunde bei sich. Es wurde viel getrunken und geraucht, Unsinn und Vernünftiges durch einander geredet, und der Kneipcomment strenge beobachtet. Ich nahm an diesen Symposien Teil, wo auch Friedjung, Pernerstorfer, S. Bondy, Lipiner, H. Braun und Andere waren. Ich war der jüngste, in studentischen Sitten sehr unerfahren, trat keinem auch nur so nahe, mit ihm Bruderschaft zu trinken, und schied in Unfrieden. Es verstimmte mich, dass Lipiner und H. Braun, die viel später als ich eingeführt wurden, es zur Intimität mit dem Herrn des Hauses brachten, die mir versagt blieb, und als dann der Kreis im Leseverein gegen meinen Freund Karl Scheimpflug auftrat, sagte ich mich von Ihnen los, und kehrte auch nicht zuriìck, als ich später indirect dazu aufgefordert wurde. Dummer Weise, denn V. Adler ist ein klarer Kopf, ein warmes, hülfbereites Herz, und sein scharfes, ehrliches Urteil ist werthvoll“. Frau Eva Paneth hat uns außerdem folgende Auskünfte über Paneths Nachlass gegeben, der sich in ihrem Besitz befindet. Der Nachlass besteht: 1. aus der Kopie des Briefwechsels zwischen Joseph Paneth und seiner Braut (November 1883-März 1884; Mittelmeerreise 1887), dessen Originale Sophie Paneth vernichtete, nachdem sie für die Söhne schreibmaschinengeschriebene Auszüge zusammengestellt hatte. Erhalten sind also detaillierte Anmerkungen von Joseph Paneth über die gemeinsame philosophische Lektüre und die von ihm entwickelten, aber nicht abgeschlossenen Überlegungen etwa zum Bewusstsein (ein wesentlicher Teil von rund 30 Briefseiten), 140 Seiten auf sehr dünnem Papier; 2. aus einer Erklärung mit dem Titel Quid faciendum, warum Joseph Paneth bei seiner Konfessionslosigkeit blieb; 3. aus der Autobiographie Vita nuova; 4. aus zwei Heften mit handgeschriebenen Notizen Über den Ursprung einiger Prinzipien der Mathematik; 5. aus einer handschriftlichen Abhandlung Über die Erhaltung der Energie auf psychischem Gebiete; 6. aus einem gedruckten Artikel Versuch über den Verlauf des Gedächtnisbildes, von Sigmund Exner nach dem Tod von Joseph Paneth mitgeteilt. Diese bibliographischen Angaben zu Joseph Paneths Werk wurden jetzt von Günter Gödde, insbesondere in seinem Traditionslinien des Unbewußten. Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Tübingen, Edition Diskard, 1999, überprüft und ergänzt; vgl. von demselben Autor zudem Freuds philosophische Diskussionskreise in der Studentenzeit, in „Jahrbuch der Psychoanalyse“, 27, (1991), S. 73–113. Nach Göddes Angaben wird ein Manuskript der Autobiographie Vita nuova im Nietzsche-Archiv Weimar aufbewahrt; Paneth publizierte außerdem einen Beitrag zum Thema Grundlagen der materialistischen Ethik.
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Kraft seiner Worte die ganze Zuhörerschaft fesselte“ 265; eine andere Version dagegen lautet, dass Lipiner schon vorher Gelegenheit hatte, Heinrich Braun kennenzulernen und mit diesem zusammen dann später im Café Griensteidl Kontakte zu Victor Adler knüpfte. Dieser Version zufolge soll Braun, veranlasst durch die Kritik von Wilamowitz, als erster Die Geburt der Tragödie gelesen und Lipiner dann überredet haben, Nietzsche den Entfesselten Prometheus zu schicken. 266 Ein weiterer Sachverhalt ist wichtig, um zu verstehen, weshalb die zweite Unzeitgemäße Betrachtung Gegenstand der Diskussion wurde: 1874 veröffentlichte Karl Hillebrand in der „Neuen Freien Presse“ eine Rezension des Werkes, der ein kurzes, Nietzsche gegenüber ziemlich polemisches Vorwort der Redaktion vorangestellt war. 267 Seit der Diskussion von 1875 trat Lipiner innerhalb der führenden Gruppe des Lesevereins immer mehr in den Vordergrund. Sie bestand aus einigen Freunden (Adler, Pernerstorfer, Gruber), die sich schon seit dem gemeinsamen Besuch des berühmten Schottengymnasiums von Wien 265
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267
Vgl. E. Pernerstorfer, Nekrolog von Siegfried Lipiner, in: „Zeitschrift des österreichischen Vereines für Bibliothekswesen“, 1912, S. 121–125. Diese Version wird von McGrath wiedergegeben. Vgl. J. Braun-Vogelstein, Ein Menschenleben. Heinrich Braun und sein Schicksal, Tübingen 1932, S. 29 f. und J. Braunthal, a. a. O., S. 28. Die Figur Heinrich Brauns scheint in dem Buch von McGrath eher vernachlässigt zu werden. Seine ausgeprägte Persönlichkeit wird von Freud in dem Brief an Julia BraunVogelstein vom 30. Oktober 1927 erwähnt (vgl. S. Freud, Briefe, Frankfurt/Main 1960, S. 392–394); in der Selbstdarstellung schreibt Freud außerdem, dass er unter dem Einfluss von Braun ursprünglich die Absicht hatte, sich an der Universität dem Jurastudium zu widmen und mit sozialen Problemen zu beschäftigen. Seine Freundschaft mit Braun endete jedoch mit Abschluss des Gymnasiums. Braun übte auch auf Adler bei dessen Übertritt zur Sozialdemokratie einen entscheidenden Einfluss aus, da er ihn mit Kautsky bekannt machte, den er seit dem gemeinsamen Besuch der Juristischen Fakultät der Universität Wien in den siebziger Jahren kannte. Später heiratete Braun Josephine Spiegler; diese Tatsache ist erwähnenswert, weil Lipiner durch Albert Spiegler, der eng mit Mahler befreundet war, Gelegenheit hatte, den Musiker kennenzulernen. Diese zweite Version, die als die wahrscheinlichere erscheint, wird indirekt auch durch die Biographie Victor Adlers bestätigt, die dessen Gattin, Emma Braun (Schwester von Heinrich Braun), schrieb; diese unveröffentlichte Biographie ist im Adler-Archiv (Mappe 29) erhalten. Emma Braun-Adler spricht darin oft von Lipiner als Freund ihres Bruders. Die Wiedergabe einiger ihrer Erinnerungen an Lipiner mag von Interesse sein: „Lipiner kam auch oft und ich musste Klavier spielen und man sprach viel über Literatur. Lipiner hatte eine übertriebene Einschätzung meines Verstandes und eine blind machende Freundschaft für mich. Er war kürzlich von einem Besuch bei Nietzsche nach Wien zurückgekehrt. Viel später erfuhr ich, dass er dem Wunsch und der Hoffnung Ausdruck gab, ich solle Nietzsches Frau werden“. Eine andere Version dieser letzten Episode findet man in Braunthal, a. a. O., S. 29. Vgl. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin/New York, de Gruyter, 1971, S. 24–25. Diese Rezension wird von McGrath nicht erwähnt; interessanterweise informierte sich Nietzsche bei Paneth über eine eventuelle Mitarbeit an der „Neuen Freien Presse“ (vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 488 f.).
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kannten und zudem 1877 im Rahmen des Lesevereins den für einen engeren Kreis bestimmten Redeklub gegründet hatten. Diskutiert wurden dort unter anderem die Geschichte des Materialismus von Lange (woran Lipiner in seinem Brief an Nietzsche vom 15.10.1877 erinnert, vgl. KGB II 6/2, S. 740), weiterhin – nach einem Referat von Lipiner – die dritte Unzeitgemäße Betrachtung über Schopenhauer (auf die in dem Brief vom 15. Oktober 1877 angespielt wird, vgl. KGB II 6/2, S. 737) und schließlich ein Referat des Musikwissenschaftlers Guido Adler über die Bayreuther Festspiele des Jahres 1876 (die auch Victor Adler besucht hatte). Es ist wahrscheinlich, dass gerade in diesem engeren Kreis der Entschluss reifte, an Nietzsche zu schreiben, vor allem auf Betreiben von Lipiner hin, dem es in der Zwischenzeit gelungen war, den so sehnlich erwünschten Kontakt mit dem Philosophen aufzunehmen. In seinem Begleitschreiben äußerte Lipiner sich wie folgt: „Der Collectiv-Brief [...] ist sehr ernst gemeint. Wir hätten viel mehr Unterschriften haben können, wenn wir’s weniger strenge genommen hätten“ (KGB II 6/2, S. 740). Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Unterschrift Paneths in dem Brief fehlt. Es ist also durchaus begründet anzunehmen, dass schon damals gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen Paneth und den Unterzeichnern des Briefes bestanden, auf deren mögliche Gründe wir noch zurückkommen werden. Obwohl kein direktes Zeugnis über den Inhalt der Diskussionen über die Unzeitgemäßen Betrachtungen vorliegt, können doch aus der gesamten Ideologie des Lesevereins, die McGrath sehr genau rekonstruiert hat, einige Hinweise auf die Gründe für das Interesse der Wiener Studenten an Nietzsche abgeleitet werden. Das Hauptziel des 1871 gegründeten Lesevereins war – ich zitiere aus dem Buch von McGrath: „to adhere to and represent the German character of the University of Vienna at every opportunity“ 268. Das pangermanische Ideal, die Begeisterung über die Gründung des Bismarck-Reiches, die Hoffnung, es könne auf irgendeine Art zur Vereinigung mit dem Habsburger Reich kommen und eine kulturelle Wiedergeburt des deutschen Volkes daraus entspringen – dies waren charakteristische Elemente der Ideologie des Lesevereins, die Anlass zu ständigen Konflikten mit der österreichischen Regierung und den Universitätsbehörden gaben, weil sie im Gegensatz zu der in Österreich verfolgten Nationalitätenpolitik stand. Eben aufgrund dieser Ideologie wurde der Leseverein im Dezember 1878 durch die Behörden aufgelöst, auch wenn es dadurch zu einer weiteren Verbreitung und Radikalisierung der von ihm vertretenen Ideen in der gesamten Studentenschaft kam. Verbunden 268
McGrath, a. a. O., S. 33.
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mit dieser deutsch-nationalen Tendenz war das Interesse für die soziale Frage und den Sozialismus. Für den sogenannten ‚Pernerstorfer-Kreis‘ war außer Lassalle auch Lorenz von Stein ein Bezugspunkt; er war einer der wenigen Professoren der Universität Wien, die dem Verein beigetreten waren. Stein führte den Jurastudenten Braun in das Studium der sozialistischen Literatur ein. Er war nicht nur der Autor der Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, sondern hatte auch Studien auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft und der Verwaltungslehre betrieben, wobei er eine Reihe vom Staat durchzuführender sozialer Reformen entwickelte. Demnach war der Sozialismus, wie ihn sich der ‚Pernerstorfer-Kreis‘ vorstellte, zumindest in jener Zeit vor allem als pendant zum nationalen Programm zu sehen: Durch eine Reihe von sozialen Reformen sollte der Lebensstandard der bedürftigsten Gesellschaftsklassen gehoben und die Voraussetzung für eine authentische nationale Gemeinschaft geschaffen werden, ein wahres Volk, dessen verschiedene Komponenten vereint waren, sollte entstehen. Diese reformerischen Tendenzen beeinflussten die weiteren Studien von Braun im Bereich der Nationalökonomie und Statistik, wirkten sich aber auch auf die Auffassung aus, die Victor Adler und Max Gruber von ihrem Beruf als Arzt hatten. Bevor Adler sich ausschließlich der politischen Tätigkeit widmete, hatte er die Absicht gehabt, sich als Arzt den ärmsten sozialen Schichten zu widmen. Max Gruber dagegen blieb dieser Richtung treu und wurde einer der Gründer des modernen Gesundheitswesens mit wichtigen Beiträgen auf dem Gebiet der Bakteriologie und Immunologie. Er war auch an der Ausarbeitung moderner Gesundheitsschutzgesetze in Österreich und Bayern maßgeblich beteiligt, beschäftigte sich mit Problemen der Stadtsanierung, der schulischen Hygiene und der Jugenderziehung. Anfänglich hätte auch Adler gern diesen Weg eingeschlagen: 1883 machte er zum Beispiel eine Studienreise nach Deutschland, England und in die Schweiz (wobei er durch Kautsky Gelegenheit hatte, Engels kennenzulernen), um die Systeme der Fabrikinspektion zu untersuchen und Ähnliches für Österreich vorzuschlagen. Das Scheitern dieses Plans war ein entscheidender Grund für seine zunehmende Annäherung an die Sozialdemokratie. Die Auseinandersetzung mit den Inspektions-Systemen, mit den Sozialreformen und den Problemen der Hygiene war aber auch einer der Hauptprogrammpunkte des berühmten „Archivs für Soziale Gesetzgebung und Statistik“, der wichtigsten der zahlreichen von Heinrich Braun ergriffenen publizistischen Initiativen. Ein weiterer bedeutender Aspekt dieses politischen Programms war der Antisemitismus. Allerdings wurde dieses Element, das im Gegensatz zur jüdischen Abstammung vieler Mitglieder des ‚Pernerstorfer-Kreises‘,
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wie Adler, Braun oder Lipiner, zu stehen scheint, anfänglich nur in einem kulturellen Sinn verstanden, im Sinne des Glaubens an die Überlegenheit der ursprünglichen germanischen Werte, ohne rassistische Merkmale. Gerade dieses Problem sollte später den Bruch zwischen den Deutschnationalen von Schönerer auf der einen und Pernerstorfer und Adler auf der anderen Seite herbeiführen. Diese Position gegenüber der eigenen jüdischen Herkunft und den germanischen Kulturwerten spiegelt sich auch in dem von Lipiner und seinem Freund Gustav Mahler um 1890 vollzogenen Übertritt zum protestantischen Glauben wider. Auch Adler trat zum Protestantismus über, schrieb diesem Schritt aber nur die Bedeutung eines „Entréebillets zur europäischen Kultur“ zu – um es mit Heine zu sagen. Nicht weniger bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Max Grubers Übertritt vom katholischen zum protestantischen Glauben. Mit diesem politischen Programm hängt auch die der Philosophie zugeschriebene Rolle zusammen. Sie sollte eines der Interessengebiete des Redeklubs sein. „Philosophy“ – so lautete das Programm dieses Organs (ich zitiere aus dem Buch von McGrath) – „is the common ground on which all fields of learning stand, from which they must their limitations and certainty. It presses ever more mightily to the service of the ideal and promotes unity between knowledge and action“ 269. Auf philosophischer Ebene bestand das Hauptproblem darin, den Materialismus zu überwinden und eine neue allumfassende Kultur zu erforschen, die die verschiedenen Wissensbereiche in sich vereinigen und den ‚Standpunkt des Ideals‘ neu begründen sollte. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Johannes Volkelt, der Lipiner bei Rohde einführte (Lipiner erwähnt ihn in seinem Brief an Nietzsche vom 15.10.1877, vgl. KGB II 6/2, S. 740) und 1875 im Leseverein einen wichtigen Vortrag über Kants kategorischen Imperativ und die Gegenwart hielt 270. Außer einer Neuinterpretation der Kant’schen Kritik war der hauptsächliche Bezugspunkt auf philosophischer Ebene Schopenhauer, an dem jedoch weniger der Pessimismus als andere Aspekte interessierten. Es mag zum Beispiel eigenartig erscheinen, dass sich Adler 1871 entschloss, Medizin zu belegen und gleichzeitig die Philosophie Schopenhauers entdeckte. Dieser scheinbare Widerspruch kann indes geklärt werden, wenn man sich die Neuinterpretation von Schopenhauers Philosophie unter psychologischen und physiologischen Gesichtspunkten vergegenwärtigt, wie sie zum Beispiel Theodor Meynert, Professor für Psychiatrie, vornahm. Auch er gehörte, wie Stein, zu den wenigen dem Leseverein beigetretenen 269 270
McGrath, a. a. O., S. 64. Vgl. dazu McGrath, a. a. O., S. 48 ff.
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Professoren; Adler machte bei ihm sein Staatsexamen. In seiner Neuinterpretation griff er Schopenhauers Unterscheidung zwischen Willen und Intellekt auf, stellte das Postulat eines primären und eines sekundären Ichs auf und bestimmte das Mitleid als Merkmal dieses sekundären Ichs im Sinne von sozialem Bestand. Dank dieser Sicht konnte der mögliche Kontrast zwischen politischem Engagement und der Akzeptanz von Schopenhauers Philosophie überwunden werden. 271 Nehmen wir zu dieser ideologischen Mischung das Interesse für Wagner hinzu, der als höchster Vertreter der von der Gruppe verfolgten Ideale einer deutschen kulturellen Wiedergeburt galt, dann wird einsichtig, dass die Unterzeichner des Briefes von 1877 genau diejenigen Aspekte bei Nietzsche ins Auge fassten, die er selbst sich in dem Versuch einer Selbstkritik, dem Vorwort zu der Neuausgabe der Geburt der Tragödie, vorwarf: Er habe „das grandiose griechische Problem“ verdorben, „wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge“ (KSA 1, S. 20), er habe „auf Grund der deutschen letzten Musik“ vom „deutschen Wesen“ gefaselt. Die Wiener Gruppe ist in ihren Idealen ein treffendes Beispiel für jene von Nietzsche in der Geburt der Tragödie imaginierte „heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in’s Ungeheuere“, für jene „Drachentödter“, die mit „stolze[r] Verwegenheit“ „den Schwächlichkeitsdoktrinen des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen, resolut zu leben“ (KSA 1, S. 21). Wenn wir bedenken, dass Nietzsche Lipiner noch 1884 und 1885 zitiert, ist außerdem nicht auszuschließen, dass Nietzsche auch an seine Wiener Verehrer dachte, als er im letzten Paragraphen des Versuchs einer Selbstkritik von seinen „jungen Freunden“ sprach, die „vorerst die Kunst des diesseitigen Trostes“ lernen sollten (KSA 1, S. 22). Doch erschien Nietzsche den jungen Wiener Freunden im Jahre 1877 wohl vor allem als die „heroisch-gefaßte Seele“, die mit „profetischen Worten“ – um einige Ausdrücke von Lipiner wiederzugeben (vgl. KGB II 6/2, S. 693; 738) – und mit „tiefe[m] Hass gegen ‚Jetztzeit‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚moderne Ideen“‘ (KSA 1, S. 21) die Möglichkeit einer neuen Kultur, einer „Wiedergeburt des deutschen Mythus“ (KSA 1, S. 147) anzeigte. Dass die jungen Wiener aus diesem Blickwinkel auf Nietzsche schauten, wird zudem durch die Entwicklungen in der Beziehung zwischen Lipiner und Nietzsche bestätigt, die vor dem Hintergrund der Ereignisse vom Sommer 1877 bis Ende 1878 betrachtet werden müssen. In diesem Zeitraum erschien Menschliches, Allzumenschliches zusammen mit dem 271
Vgl. hierzu McGrath, a. a. O., S. 40–44. Meynert wird auch von Paneth in seinen Konversationen mit Nietzsche erwähnt. (Vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 493)
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Parsifal, und stillschweigend bereitete sich Nietzsches Trennung von Wagner und den Wagnerianern vor. Die Geschichte der Beziehung zu Lipiner spielt sich im Schatten dieser grundlegenden Wende im Denken Nietzsches ab. Dank der neuen Kritischen Gesamtausgabe des NietzscheBriefwechsels aus den Jahren 1875 bis 1879 sowie einiger Nachgelassener Fragmente Lipiner betreffend lassen sich die Entwicklung dieser Beziehung und die Gründe für ihren Abbruch genauer nachvollziehen. Lipiner wird zum ersten Mal in dem Brief Rohdes an Nietzsche vom 29. Juni 1877 (vgl. KGB II 6/1, S. 595) erwähnt, aus dem hervorgeht, dass Lipiner – „einer der schiefbeinigsten aller Juden aber mit einem nicht unsympathischen, schüchtern sensiblen Zuge in seinem gräulichen Semitengesicht“, „ein großer Verehrer deiner Schriften“ – Nietzsche eine Kopie von seinem Entfesselten Prometheus geschickt hat. Nietzsche muss diese erhalten haben, denn er bedankt sich bei seiner Mutter für die Übersendung einer Schrift von Lipiner (vgl. KSB 5, S. 257). Bald darauf begibt sich Lipiner nach Naumburg, und die Mutter unterrichtet Nietzsche in einem langen Brief vom 2. August davon (vgl. KGB II 6/1, S. 659–660). Durch sie erfahren wir auch von Lipiners innigem Wunsch, in Nietzsches Nähe zu leben, was aber – wie Franziska Nietzsche den Sohn warnt – „für Dich angreifend“ sein könnte, da Lipiner, der „gewiß ein sehr begabter und dabei so liebenswürdiger Mensch“ sei, „etwas sehr erregtes“ an sich habe. Franziska Nietzsche informiert ihren Sohn außerdem über die schwierigen ökonomischen Verhältnisse des Dichters und äußert die Absicht, Lipiner eventuell für eine gewisse Zeit nach Naumburg einzuladen, wenn ihr Sohn einverstanden sei. Gleichzeitig sendet Lipiner am 3. August ein zweites Exemplar seines Buches, das „Ihnen so viel zu verdanken hat“ (KGB II 6/1, S. 663), an Nietzsche, der in der Zwischenzeit in Rosenlauibad Gelegenheit hatte, einen Freund von Lipiner, einen gewissen „Hr[n]. Vohsen aus Mainz“ (KGB II 5, S. 271), kennenzulernen. Zu diesem Zeitpunkt liest Nietzsche den Entfesselten Prometheus, von dem er einen sehr positiven Eindruck gewinnt, wie er Rohde in seinem Brief vom 28. August mitteilt (vgl. KSB 5, S. 278) und wie es auch in dem Brief an seine Mutter vom 25. August (vgl. KSB 5, S. 275) sowie in einigen Nachgelassenen Fragmenten aus dem Sommer 1877 anklingt (vgl. 22 [69], 22 [78] und 22 [85], KSA 8, S. 391–393). Gleichzeitig schreibt er zum erstenmal an Lipiner, wie aus dem überlieferten Brieffragment vom 24. August (vgl. KSB 5, S. 274) und aus der Antwort Lipiners vom 10. September (vgl. KGB II 6/2, S. 693–696) hervorgeht. 272 272
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die Briefe von Nietzsche an Lipiner noch erhalten sind; in Wien scheint es keinen Lipiner-Nachlass zu geben. Die einzige Möglichkeit, et-
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Dieses positive Urteil Nietzsches, der so weit geht, in der Dichtung von Lipiner „meine Ergänzung“ (KSA 8, S. 391), „mein [...] erhöhte[s] und verhimmlischte[s] Selbst“ zu sehen (KSB 5, S. 278), ist angesichts des zweifelhaften Werts des Entfesselten Prometheus erstaunlich. Eine Erklärung dafür mag Nietzsches Seelenzustand in jener Epoche liefern: Er befand sich in einem Zustand starker psychologischer Emotivität, wie sich dem zitierten Brief an Rohde entnehmen lässt (die Tränen, die ihm bei der Lektüre des Prometheus kamen, erinnern an die, von denen er Rohde erzählt) 273, der wahrscheinlich mit den „großen Opfern“ zusammenhängt, die die Eroberung der „Freiheit und Unabhängigkeit“, vor allem von den Werten der Religion und Kunst, an die er zuvor geglaubt hatte, ihm abverlangt (vgl. den Brief an Franz Overbeck vom 3.9.1878, KSB 5, S. 351). In der Haltung der Kunst gegenüber, die generell aus dem ganzen vierten Hauptstück (Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller) und aus anderen Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches spricht (vgl. z. B. MA 292, in KSA 2, S. 235–237), ist der Freigeist Momenten großer Gefahr ausgesetzt, die „sein[en] intellectuale[n] Charakter auf die Probe“ stellen (KSA 2, S. 145). Diese Situation wird im Aphorismus 153 von Menschliches, Allzumenschliches („Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer“), worin wir unter anderem Anklänge an Äußerungen finden, wie sie in den Lipiner gewidmeten Fragmenten auftauchen, exemplarisch beschrieben. Die Kunst kann nämlich im wissenschaftlichen Menschen, der sich „alles Metaphysischen entschlagen hat, [...] ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen“ (KSA 2, S. 145): „Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe“ (ebd.). Dieser Zustand scheint die Stimmung erklären zu können, die Lipiner in Nietzsche hervorrief: Lipiner ist ‚der Dichter‘ (wie sich aus dem Brief vom 24. August, vgl. KSB 5, S. 274, ergibt) und er ist gleichzeitig jung (vgl. vor allem 22 [85] in KSA 8, S. 393). Beide Definitionen können in Nietzsches Augen in diesem Moment eine zweifache, sowohl positive als auch negative Valenz annehmen. Wie aus dem Aphorismus 599 von Menschliches, Allzumenschliches hervorgeht, kann die Jugend zum Beispiel „die eigentliche Periode der Anmaassung“ sein (KSA 2, S. 341), auch wenn Nietzsche feststellt, dass gerade dieser „Geist
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was darüber zu erfahren, könnte in einer Erforschung des Natorp-Nachlasses bestehen, der in der Universitätsbibliothek von Marburg aufbewahrt wird. Natorp hatte nämlich nach Lipiners Tod für die Herausgabe seiner beiden letzten Dramen Adam und Hyppolitos gesorgt. Vgl. die Fragmente 22 [69]; 22 [78]; KGB II 5, S. 277.
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der Jugendlichkeit [...] Vorrechte, selbst zu einigen Unarten hat, – diess fehlt mir jetzt“ (22 [47] in KSA 8, S. 387). Vom „schönste[n] Gedicht das je ein Jüngling gedichtet hat“ ist in dem gleichzeitig entstandenen Fragment 22 [100] die Rede: Wenn es auch keinen Hinweis darauf gibt, dass Nietzsche sich damit auf das Werk von Lipiner bezieht, so spiegelt es doch sein Urteil recht gut wider. Fast scheint es, als habe Nietzsche bei der Lektüre von Lipiner einen Teil der eigenen Vergangenheit, des ihm eigenen Vertrauens in die Kunst nachempfunden, die er hinter sich lassen muss, zu der er jedoch ein neues, rechtes Verhältnis suchen will. All dies mag vielleicht das Gefühl tiefer Anteilnahme und gleichzeitiger Distanz erklären, das Nietzsche in jenem Augenblick Lipiner gegenüber empfand. Aus Lipiners Antwort auf den ersten Brief von Nietzsche kann man herauslesen, dass schon in diesem ersten Brief einige zweifelnde und besorgte Gedanken aufgetaucht sein müssen, zum Beispiel was Lipiners Jugend angeht: „Was Sie fürchten“, schreibt Lipiner beispielsweise, „ist schon – überwunden. Spotten Sie nicht! O, ich weiss es wohl, dass man mit noch nicht 21 Jahren nicht triumphiert. Aber ich war in einer heissen Schlacht und habe den Schrecken in’s Auge gesehen, ohne zu versteinern. Was kann mir nun noch geschehen? Ich kann – ich w e r d e leiden, bluten, zweifeln; zu Grunde gehen werde ich nimmermehr“ (KGB II 6/2, S. 693 f.). Dass Nietzsche Befürchtungen und Ratschläge geäußert hatte, die von Lipiner entrüstet abgelehnt wurden, geht auch aus dem folgenden Abschnitt des gleichen Briefes klar hervor, der recht bezeichnend ist für jenes „lächerlich-rührende Pathos“ des „künstlerische[n] Genius“ (MA 157, KSA 2, S. 147) 274, demgegenüber Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches Misstrauen empfiehlt, das aber die existentielle künstlerische Haltung von Lipiner bestens zu charakterisieren scheint: „Zürnen Sie nicht, mein Freund“, schreibt Lipiner an Nietzsche, „rathen Sie nicht ab! Es muss sein; meine Seele findet nicht eher Ruhe, als bis sie sich sieht. Sie wissen nicht, wie ich gelitten habe und noch leide. Ich muss den Dämonen, die nach Leben rufen, das Leben geben. Ich kann nicht anders. Bitte, rathen Sie nicht ab! Es würde mich schmerzen“ (KGB II 6/2, S. 695). Schon aus diesem Abschnitt, wie auch aus der langen Ausführung über Dichtung, die in dem gleichen Brief steht (vgl. S. 694) und in der Lipiner seine Kunst als eine Gesamtheit von Formen beschreibt, die intuitiv einen harten Kampf gegen den ‚inneren Feind‘ auslösen, kann man klar erkennen, dass er, weit davon entfernt, den Ratschlägen Nietzsches zu folgen, vielmehr ein treffendes Beispiel für eben jene 274
Es ist erwähnenswert, dass Nietzsche Lipiner in dem Fragment 6 [276] aus dem Jahre 1880 (KSA 9, S. 269) als „Pathetiker“ bezeichnet.
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Defekte der Künstlerseele ist, die in Menschliches, Allzumenschliches kritisiert werden: so der Glaube an Inspiration oder die „Übertreibung seiner Schmerzen“, welche die „Kunst dem Künstler gefährlich“ werden lassen und aus dem Künstler „ein zurückbleibendes Wesen“ machen, „weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört“ (MA 159, in KSA 2, S. 149; vgl. u. a. auch MA 154, 155, 156, 157, 159, in KSA 2, S. 145–149.) Wie wir sehen, erscheint auch hier die Jugend erneut als charakteristisches Merkmal des ‚Dichters‘. Man könnte sagen, dass Nietzsche von Anfang an von den potentiellen Fähigkeiten Lipiners sehr beeindruckt war, jedoch zugleich eine abwartende Haltung einnahm, um zu sehen, ob dieser sich zur Freigeisterei durchzuringen verstehe, indem er das Künstlerische mit „dem Genius des Könnens und des Erkennens und [dem] moralischen Genius“ verband (MA 157, in KSA 2, S. 148). Diese Einstellung äußert sich zum Beispiel in seinem Brief an Rée vom 19. November 1877, worin er von Plänen zu einem Sommeraufenthalt in Salzburg bei den Seydlitzens im Jahr 1878, in Verbindung mit einer Reise nach Wien spricht: „[D]ort ist jetzt ein wahres Nest von Leuten, welche den zweifelhaften Geschmack haben, meine Schriften zu schätzen (Sie wissen, ich selber bin ein wenig über diesen Standpunct hinaus), aber es scheinen mir tüchtige Menschen darunter zu sein, und einer davon ist ein Genie: derselbe Lipiner, von dem Sie mir zuerst schrieben. Auch ein ungarisches Edelfräulein, in Wien lebend, bedient sich jetzt meines Beirathes in religiösen Seelensorgen. Für solche Fälle muss ich mir ein Verzeichnis von Büchern anlegen, welche den ganzen Cursus der Freigeisterei enthalten; die ‚Mem e Id‘ sollten den Anfang, Sie selber den Schluss dabei machen“ (KSB 5, S. 291). 275 Dass Nietzsche Lipiner sowohl riet, die Memoiren einer Idealistin zu lesen, als auch, sich mit Malwida von Meysenbug in Verbindung zu setzen, geht aus den Briefen Lipiners vom 15. Oktober (vgl. KGB II 6/2, S. 739) und vom 3. November 1877 (vgl. KGB 11 6/2, S. 754) hervor. Interessanterweise war es also gerade Nietzsche, der Lipiner, zumindest indirekt, den Kontakt zu Wagner im Sommer 1878 ermöglichte, denn dieser wurde durch die Meysenbug vermittelt (vgl. den Brief von Malwida von Meysenbug an Nietzsche vom 23. September 1878, in KGB II 6/2, S. 975). Wir haben gesehen, welche Bedeutung Nietzsche dem Werk der Meysenbug beimisst: Es sollte in jenem ‚Cursus der Freigeisterei‘, der es Lipiner hätte ermöglichen können, über 275
Das „ungarische Edelfräulein“, auf das sich Nietzsche bezieht, ist Irma Regner von Bleyleben, die vom Herbst 1877 bis Mai 1878 mit Nietzsche in Briefkontakt stand. Es kann von Interesse sein, dass auch dieser Briefwechsel 1878 abgebrochen wurde.
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den inzwischen von Nietzsche selbst überwundenen Standpunkt hinauszugehen, an erster Stelle stehen – ein Weg, dem Lipiner jedoch nicht folgen wird. Die Mischung aus Anteilnahme und Distanz in Nietzsches Haltung gegenüber Lipiner zeigt sich übrigens nicht nur im „inneren“ Bereich, das heißt in der Beurteilung der Dichtung des jungen Galiziers, sondern auch im „äußeren“, nämlich darin, wie er auf Lipiners dringenden Wunsch nach einer Begegnung reagiert. Dieser äußere Aspekt ist durchaus nicht zweitrangig; er war sogar die wichtigste Ursache für ein Abkühlen ihrer Beziehungen. Die Anteilnahme kommt u. a. in der geplanten Reise nach Wien zum Ausdruck; aber gleichzeitig tritt die Distanz hervor, denn Nietzsche schiebt die Begegnung mit Lipiner auf, obwohl er sie wünscht, und zwar bezeichnenderweise bis nach der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches (vgl. das Fragment des Briefes an Lipiner vom 24. August 1877, in KSB 5, S. 274). Zudem hüllt er sich hinsichtlich der wiederholten Bitten Lipiners, ihn besuchen oder an der Korrektur der Druckfahnen von Menschliches, Allzumenschliches mitarbeiten zu dürfen, in völliges Schweigen. Andererseits war er besorgt wegen dessen ökonomischer Verhältnisse und versuchte, ihm eine Erzieherstelle zu vermitteln (vgl. die Briefe Lipiners vom 10. September und vom 15. Oktober 1877, in KGB II 6/2, S. 695; 738–739). Dem Brief Nietzsches an Reinhart von Seydlitz vom 13. Mai 1878 nach zu urteilen, bildete aber gerade Lipiners ständiges Ersuchen um eine Begegnung den Hauptgrund für Nietzsches kühlere Haltung ihm gegenüber. Der Briefwechsel mit Seydlitz aus dem Jahre 1878 ist übrigens eine gute Quelle, wenn man die Entwicklung der Beziehung von Nietzsche zu Lipiner mitverfolgen will. Wie bereits erwähnt, wollte Nietzsche ursprünglich im Sommer 1878 zu Seydlitz nach Salzburg reisen und von dort aus eventuell nach Wien. Vermutlich hatte Seydlitz Lipiner im Hinblick auf diesen Plan im Januar zu sich eingeladen (vgl. den Brief an Nietzsche vom 24.1.1878, in KGB II 6/2, S. 794 f.). Aus diesem Grund wirft Nietzsche Seydlitz zwischen den Zeilen vor, dass er ihm nichts über Lipiner mitgeteilt hat, dem gegenüber er sich gleichzeitig aus den oben genannten Motiven irritiert zeigt: Gerne hätte ich von Ihnen etwas über Lipiners Eindruck auf Sie gehört. Bei mir hat er sich eigentlich durch seine wiederholten Versuche aus der Ferne her über mein Leben zu disponiren und durch Rath und That in dasselbe cinzugreifen unmöglich gemacht. So etwas verabscheue ich: keiner meiner ältesten Freunde würde wagen, mir solche dreiste Dinge zu proponiren. Mangel an Scham – das ist es. Von so Einem muß ich ganz ferne sein, dann gelingt es mir ganz gut, selbst sein Freund zu werden – aber in partibus. (KSB 5, S. 327; vgl. auch KSA 15, S. 82)
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Nietzsche bezieht sich hier offensichtlich auf den Vorschlag, den Sommer im Salzkammergut zu verbringen, den Lipiner ihm in dem Brief vom 20. April 1878 unterbreitet hatte (vgl. KGB II 6/2, S. 836–838), dabei einen gebieterischen Ton anschlagend, der Nietzsche berechtigterweise irritiert haben musste, um so mehr als aus einigen Passagen desselben Briefes hervorgeht, dass er ihn bereits gebeten hatte, ihn nicht in seiner Einsamkeit zu stören. 276 Aus diesem Bedürfnis nach Einsamkeit heraus – verbunden mit dem Gefühl, „zum ersten Male öffentlich ein Ideal und sein Ziel“ bekannt zu haben, „das keiner sonst hat, das fast Niemand verstehen kann und dem nun ein armes Menschenleben genügen soll“ (Brief an Seydlitz vom 13. Mai 1878, in KSB 5, S. 326) – teilt Nietzsche Seydlitz mit, dass er den Plan, den Sommer in Salzburg zu verbringen, aufgegeben habe. Die Antwort von Seydlitz vom 18. Mai, der wiederholt auf die „Taktlosigkeit“ von Lipiner zurückkommt, konnte Nietzsche jedenfalls nur in seinem Eindruck bestärken (vgl. KGB II 6/2, S. 855). 277 Es ist bezeichnend, dass Nietzsche in seinen weiteren Briefen an Seydlitz, der ihm nach wie vor von Lipiner berichtete (vgl. die Briefe von Seydlitz vom 19. Juni und vom 15. Oktober, in KGB II 6/2, S. 900; 986) in keiner Weise mehr auf Lipiner eingeht (vgl. die Briefe vom 11. Juni 1878 und vom 18. November 1878, in KSB 5, S. 331–332; 363–364). Offensichtlich betrachtete er die Angelegenheit als abgeschlossen, zumindest auf der Ebene der äußeren Beziehungen. In der Zwischenzeit war im Mai 1878 Menschliches, Allzumenschliches erschienen, das Nietzsche auch Lipiner geschickt hatte (vgl. den Brief an Schmeitzner vom April 1878, in KSB 5, S. 320). 278 Unter diesem Aspekt gehört die Geschichte der Beziehung zu Lipiner in den größeren Zusammenhang der Aufnahme des Werkes seitens vieler Freunde von Nietzsche, an erster Stelle Richard und Cosima Wagners. 279 Schon im Januar hatte Nietzsche sein erstes negatives Urteil über Parsifal in einem Brief an Seydlitz geäußert (vgl. KSB 5, S. 300) und dabei auch Lipiner als „ein[en] gute[n] Wagnerianer“ bezeichnet, der den „Parsifal noch einmal ü b e r 276
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Nach McGrath sollte der geplante Aufenthalt Nietzsches im Salzkammergut wahrscheinlich von Lipiners reicheren Freunden, wie Adler oder Braun, finanziert werden; vgl. J.W. McGrath, a. a. O., S. 77. Aus dem gleichen Brief hatte Nietzsche von dem negativen Urteil erfahren, das Cosima Wagner über den Prometheus von Lipiner gefällt hatte; wahrscheinlich bezieht er sich in dem Fragment 30 [145] vom Sommer 1878 (KSA 8, S. 547 f.) auf dieses Urteil. Das Buch wurde auch an Emerich Dumont geschickt, der Nietzsche im Oktober 1877 geschrieben und ihm mitgeteilt hatte, dass er seine Werke auf Anraten von Lipiner gelesen habe (vgl. KGB II 6/2, S. 732); auch Dumont äußerte sich negativ über Menschliches, Allzumenschliches (vgl. KGB II 6/2, S. 1007). Vgl. dazu KSA 15, S. 83–89.
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d i c h t e n “ möchte. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass Lipiner genau den entgegengesetzten Weg zur ‚Freigeisterei‘ eingeschlagen hatte, wie Nietzsche sie anstrebte, liefert der Brief vom 20. April, in dem Lipiner Lagarde als „einen starken Nebenbuhler“ Nietzsches in seinem Herzen bezeichnet (vgl. KGB II 6/2, S. 838; KSA 15, S. 82). So konnte das Urteil von Lipiner über Menschliches, Allzumenschliches tatsächlich nur negativ ausfallen. Zu dem Gesamtbild der ersten Aufnahme des Werkes gehört ein langer, nicht erhaltener Brief von Lipiner an Nietzsche vom August 1878, in dem auch er gegen Rée und Menschliches, Allzumenschliches zu Felde zieht (vgl. KSA 15, S. 87). Nietzsche nimmt in einem Brief an Rée vom 10. August 1878 (vgl. KGB II 5, S. 346) kurz auf diesen Brief Lipiners Bezug und kommt in einem kurz danach geschriebenen Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche nochmals auf ihn zurück, wobei er gleichzeitig seine endgültige Loslösung von Lipiner und dessen Freunden mitteilt: Von Lipiner ein Brief, lang, bedeutend f ü r ihn sprechend, aber von unglaublicher Impertinenz gegen mich. D e n „Verehrer“ und seinen Kreis bin ich nun los – ich athme dabei auf. Mir liegt sein Werden s e h r am Herzen, ich verwechsele ihn nicht mit seinen jüdischen Eigenschaften, für die er nicht kann. (KGB II 5, S. 346 f.)
So ist auch in diesem Moment Nietzsches Haltung gegenüber Lipiner von gleichzeitiger Distanzierung und Anteilnahme geprägt: Er nimmt zwar Abstand, äußert aber, dass ihm seine Weiterentwicklung sehr am Herzen liege. Zudem verdient die Bezugnahme auf die ‚jüdischen Eigenschaften‘ unsere Aufmerksamkeit; sie wäre nämlich nur schwer verständlich, ohne sich vor Augen zu führen, was Seydlitz ihm in den oben erwähnten Briefen über Lipiner geschrieben hatte. Wir haben andererseits schon gesehen, welche Rolle der Antisemitismus in der Ideologie des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ spielte, und er ist auch ein grundlegendes Thema in den Gesprächen Nietzsches mit Paneth. Gerade in seiner Eigenschaft als Jude – über die des Dichters hinaus – begegnen wir Lipiner in einigen Fragmenten Nietzsches aus den Jahren 1884 und 1885 erneut. Auch auf dieser Ebene scheint Nietzsche eine Wagner genau entgegengesetzte Haltung einzunehmen. Auf der einen Seite zeigt er sich so unberührt von jedem kulturellen Antisemitismus, dass er der jüdischen Herkunft Lipiners großen Wert beimisst: „Ich habe nämlich“ – so schreibt er in dem ersten Brief an Lipiner – „neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat“ (KSB 5, S. 274). Auf der anderen Seite aber ist er unangenehm berührt von dem Mangel an Takt und Zurückhaltung, die Seydlitz als negative ‚jüdische Eigenschaften‘ verurteilt hatte. Allerdings unterscheidet er dabei weiterhin zwischen diesen äußerlichen Charaktereigen-
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schaften und dem potentiellen Wert der Persönlichkeit Lipiners. Im Gegensatz dazu war Wagner, der Verfechter des Antisemitismus, von diesen Merkmalen im Verhalten Lipiners offenkundig überhaupt nicht negativ beeindruckt, da er gerade in diesem Punkt Seydlitz vorwirft, „dem so liebenswürdigen, taktvollen, netten jungen Mann so schlechte Zeugnisse ausgestellt“ zu haben (KGBII 6/2, S. 986). Diesbezüglich ist auch der Brief der Meysenbug, die von dem „innige[n] Mitleid“ (KGB II 6/2, S. 975) spricht, das sie in Bayreuth in Anbetracht der schwierigen Lage von Lipiner empfunden habe, ein bezeichnendes Zeugnis. Jedenfalls muss sich Lipiner seit dem Sommer des Jahres 1878 in Nietzsches Augen immer mehr zu einem typischen Wagnerianer entwickelt haben, wie aus dem Fragment 30 [145] hervorgeht; Nietzsche mag durch die fast gleichzeitigen Berichte von Seydlitz und der Meysenbug über den Aufenthalt des jungen Dichters in Bayreuth in diesem Eindruck bestärkt worden sein. Aus den Tagebüchern von Cosima Wagner lässt sich jedoch schließen, dass der Erfolg Lipiners in Bayreuth relativ gewesen sein muss: Sie äußert sich etwas perplex und zurückhaltend. Bei der Lektüre von Renatus, der neuen Dichtung Lipiners, muss Cosima „über die Verirrung staunen“, und Wagner beurteilt sie „als die Vision eines Hungernden“ 280. Die Distanz zu Nietzsche, der sie als „greulich unsympathisch, eine Verirrung“ bezeichnet (vgl. den Brief an seine Mutter und seine Schwester vom 18. Januar 1879, in KSB 5, S. 381), ist in diesem Fall also nicht sehr ausgeprägt. Außerdem war Wagner durch Lipiners kritische Urteile über Schopenhauer und durch seine Versuche, ihn in eine Diskussion über den Sozialismus zu verwickeln, irritiert 281, und schließlich wurden zwei von Lipiner für die Bayreuther Blätter eingesandte Schriften, eine über „Kunst und Revolution“ und eine über Paul de Lagarde, als für die Veröffentlichung völlig unzulänglich bewertet. 282 Ende 1878 finden wir noch einige bezeichnende Verweise Nietzsches auf Lipiner. Aus einem Brief vom 29. Dezember 1878 an Marie Baumgartner, die damals das Druckmanuskript der Vermischten Meinungen und Sprüche für Nietzsche abschrieb, erfahren wir von einem „armseligen Epigramm“, bezogen nicht auf die Dichter, sondern den Dichter (Lipiner) (vgl. KSB 5, S. 375). Dieses Epigramm behandelte wahrscheinlich dasselbe Thema wie der Aphorismus 32 der Vermischten Meinungen und Sprüche („Die angebliche ‚wirkliche Wirklichkeit‘“, vgl. KSA 2, S. 394), der sich in einer früheren Fassung ausdrücklich auf Lipiner bezog. Diese lautete so: 280 281 282
Vgl. Cosima Wagner, Die Tagebücher, a. a. O., S. 179. Ebd., S. 181 f. Vgl. ebd., S. 200; 291.
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D e r D i c h t e r a l s B e t r ü g e r : e r i m i t i r t , e i n Wi s s e n d e r (Feldherr Schuster Seemann) zu sein, es gelingt ihm, vor Nichtwissenden: er glaubt endlich selber daran. So gewinnt er das Gefühl der Ehrlichkeit. – Die empfindenden Menschen kommen ihm entgegen und sagen sogar, er habe die höhere Wahrheit: sie sind der Wirklichkeit zeitweilig müde. Schlaf und Traum für den Kopf – das ist der Künstler für die Menschen. Er macht die Dinge mehr w e r t h : da meinen die Menschen, das werthvoller Scheinende sei das W a h r e r e , Wirklichere. – Auch ietzt noch suchen die dichterischen Menschen (z.B. Emerson, Lipiner) die Grenzen der Erkenntniß, ja die Skepsis mit Vorliebe, um sich dem Bann der Logik zu entziehn. Sie wollen U n s i c h e r h e i t , weil dann der Zauberer, die Ahnung, und die grossen Seelen-Effekte wieder möglich werden. (KSA 14, S. 165 f.)
Es gilt hervorzuheben, dass am Anfang dieses Abschnitts eine Idee wiederaufgenommen wird, die Nietzsche schon im Fragment 22 [77] (vgl. KSA 8, S. 392) aus dem Sommer 1877, kurz vor dem fast gleichzeitigen Fragment über Lipiner, äußerte (und die auch in Menschliches, Allzumenschliches 160, vgl. KSA 2, S. 149, erneut auftaucht). Fast scheint es, als lasse sich die Hypothese einer geheimen Verbindung zwischen den Überlegungen über den ‚Dichter‘ Lipiner von 1877 und den negativ konnotierten Gedanken in den Vermischten Meinungen und Sprüchen aufstellen. Bezeichnend ist außerdem die Tatsache, dass die Betrachtung über den lügnerischen Charakter des Dichters in Also sprach Zarathustra ausführlich behandelt werden sollte (vgl. zweiter Teil, Von den Dichtern, vierter Teil, Der Zauberer, Das Lied der Schwermut, Von der Wissenschaft, in KSA 4, S. 163–166; 313–320; 369–379; vgl. auch KSA 14, S. 304): Man kann sich zwar nur schwer eine Verbindung zwischen diesen Teilen des Zarathustra und Lipiner vorstellen, aber es ist nicht auszuschließen, dass Nietzsche sich noch zu jener Zeit an den Autor des Entfesselten Prometheus erinnerte, zitierte er ihn doch noch in den Jahren 1884 und 1885 (vgl. Fragmente 25 [282] und 39 [20] in KSA 11, S. 84; 627). Jedenfalls können die oben genannten Teile des Zarathustra Aufschluss darüber geben, welche Einstellung Nietzsche zu dem ‚Dichter‘ Lipiner hatte, als er ihn in Rosenlauibad zum ersten Mal las. Inhalte des Aphorismus 32 der Vermischten Meinungen und Sprüche werden teilweise auch im Aphorismus 27 behandelt, in dem sich außerdem eine indirekte Bezugnahme auf Lipiner findet. Gerade er wird nämlich in dem gleichzeitig entstandenen Fragment 32 [4] (vgl. KSA 8, S. 560) als Beispiel für jenen „höchst verfeinerten und gefährlichen Obscurantismus“ angeführt, den Nietzsche im Aphorismus 27 der Vermischten Meinungen und Sprüche (vgl. KSA 2, S. 391 f.) kritisiert. Der darin vorhandene Hinweis auf die Verwendung Kants in der Absicht, „dem Glauben Bahn [zu] machen, dadurch, dass er dem Wissen seine Schranken wies“
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(ebd.), lässt darauf schließen, dass Nietzsche der 1878 von Lipiner gehaltene Vortrag Über die Elemente einer Erneuerung der religiösen Ideen in der Gegenwart gegenwärtig war, den Lipiner ihm im Übrigen am 20. April zusammen mit seiner Übersetzung von Mickiewicz zugeschickt hatte. Exemplare dieser Übersetzung werden in Nietzsches Bibliothek aufbewahrt (vgl. KSA 15, S. 82). Auf jeden Fall geben die beiden Aphorismen der Vermischten Meinungen und Sprüche mit großer Genauigkeit die Richtung der von Lipiner in dem besagten Vortrag geäußerten Gedanken wieder, der Wagners Interesse geweckt hatte. Unter Bezugnahme auf Kant und Lange war Lipiner darin zu dem Schluss gekommen, dass der Mythos – da die Wirklichkeit eine bloße geistige Konstruktion sei – als künstlerische Darstellung des jenseits der Wirklichkeit liegenden sentimentalen Elementes notwendig sei. 283 Lipiner äußerte damit einen Gedanken, der in der philosophischen Debatte jener Epoche gerade heranreifte. Beispielsweise entsprang Natorps Interesse für Lipiner, den er 1879 in Straßburg getroffen hatte, gerade dem „Gedanken einer möglichen Reinigung der Religion zu einer Art philosophischer Mystik“ 284. Ein weiteres Werk, das ursprünglich 1876–77, ebenfalls in Straßburg, konzipiert, aber erst 1910 vollendet wurde – Die Philosophie des Als ob von Hans Vaihinger – versucht unter Bezugnahme auf Kant, Lange und auch auf Nietzsche, die Notwendigkeit der religiösen Fiktionen aufzuzeigen. Nicht ohne Grund nenne ich hier auch Vaihinger, der gerade zu jener Zeit mit Lipiner und der Philosophie Nietzsches in Berührung gekommen war, deren Kenntnis ihm im Jahre 1889 schließlich einen entscheidenden Impuls für die Vollendung seines Werkes liefern sollte. Vaihinger musste Straßburg nämlich im Januar 1879 verlassen, wo er Ende 1878 Gelegenheit gehabt hatte, Heinrich Braun kennenzulernen, während Lipiner – einer Einladung Brauns folgend – erst im Sommer 1879 dorthin fuhr. Hermann Bahr, der die Möglichkeit hatte, Adler und die Mitglieder des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ kennenzulernen, fasst in seiner Rezension von Vaihinger (unter anderen noch einen Freund von Lipiner und Mahler – Richard von Kralik – zitierend) dieses Schwanken zwischen Glauben und Wissenschaft im Buch Vaihingers recht gut zusammen, „das den Mythos wieder einsetzt“, in einem Augenblick, in dem man ersehnt, „wieder Religion haben zu können, ohne das Denken verleugnen zu müssen“ 285. Volkelt, dessen Rolle im Leseverein wir schon kennen und der 283 284
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Für eine Untersuchung dieser Schrift Lipiners vgl. McGrath, a. a. O., S. 79 f. Vgl. Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von R. Schmidt, Leipzig 1923, Bd. I, S. 164. Vgl. H. Bahr, Inventur, Berlin 1912, S. 60. Zur Entstehung der Philosophie des Als ob vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage des Buches sowie Die Philosophie der Gegenwart in
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wahrscheinlich die von Lipiner in seinem Vortrag ausgedrückten Gedanken beeinflusst hatte, wird später noch von der Möglichkeit sprechen, dass „innerhalb eines freier aufgefaßten Christentums“ die „Überzeugung von Gott und göttlichen Dingen durchaus ihre Stelle finde“,286 wobei er unter anderem sein Interesse vor allem für Nietzsches frühe Schriften erwähnt. Wie man sieht, ist der ‚verfeinerte Obscurantismus‘, den Nietzsche kritisiert, eine eher verbreitete Tendenz, die auch in den kulturellen Kreisen Wiens weiterhin von Bedeutung sein sollte. Mit den beiden Ende 1878 verfassten Aphorismen der Vermischten Meinungen und Sprüche kann das Kapitel der Beziehung Nietzsche-Lipiner 287 – abgesehen von einem Nachspiel im Jahre 1879 – als abgeschlossen betrachtet werden. Ende 1878 war es zudem auch zu einer Veränderung im Leben des Wiener Kreises gekommen. Mit der Auflösung des Lesevereins durch die Behörden begann die langsame Umwandlung und Differenzierung der Positionen seiner Mitglieder, die im Laufe der achtziger Jahre ihren endgültigen Abschluss fand. Dieser Differenzierungsprozess äußerte sich teilweise auch in den Positionen zu Nietzsches Denken. Wir wissen zum Beispiel von einer Polemik zwischen den beiden Freunden Braun und Lipiner, zu der es 1881 nach der Veröffentlichung eines Essays von Lipiner, Der ewige Friede, in der „Deutschen Zeitung“ kam. Nach Braun war dieser Essay, wie er es in einem Brief an seinen Freund Paul Natorp formulierte, „nicht weniger [...] als eine Verherrlichung und Umschreibung jenes vortrefflichen Briefes Moltkes, in dem der Krieg als ein Element der göttlichen Weltordnung und als Quelle alles Edlen und Großen bezeichnet wurde“ 288. In der Diskussion zwischen den beiden Freunden rechtfertigte Lipiner seine Vision des Krieges unter anderem durch Bezugnahmen auf Heraklit und Nietzsche, doch gerade die Bezugnahme auf Nietzsche wurde von Braun angefochten, der daran erinnerte, dass beide Nietzsches Geschichtsauffassung schon seit Jahren als unhaltbar ansahen 289. Die Diskussion endet mit der einvernehmlichen Feststellung,
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Selbstdarstellungen, a. a. O., Bd. II, S. 183–212. Zu dem Aufenthalt Brauns in Straßburg vgl. J. Braun-Vogelstein, a. a. O., S. 44. Vgl. Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, a. a. O., Bd. V, S. 239 f. Von einem kurzen Glückwunschschreiben abgeseben, das Lipiner ihm am 15. Oktober 1879 geschickt hatte, mochte Nietzsche auch durch Schmeitzner Informationen über den Dichter erhalten haben; dieser hatte ihn nämlich schon zuvor gebeten, ihn mit Lipiner in Verbindung zu setzen (vgl. KGBII 6/2, S. 976; 994; KGB II 5, S. 361). Im Herbst 1879 hatte Lipiner Schmeitzner geschrieben und die letzten von Nietzsche veröffentlichten Werke kritisiert. Eine Andeutung ist auch in einem Brief von Köselitz an Overbeck zu finden, in dem das Motiv des ‚Obskurantismus‘ von Lipiner wiederkehrt (vgl. KGW IV 4, S. 88). Vgl. J. Braun-Vogelstein, a. a. O., S. 73 f. Ebd.
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dass, wenn nicht der Krieg, so doch der Kampf ein grundlegendes Element des ganzen Lebens bleibe. McGrath wertet diese Episode zu Recht als Symptom dafür, dass sich innerhalb der Gruppe der Unterzeichner des Briefes von 1877 eine wachsende Kluft zwischen ‚Ästheten‘ und ‚Aktivisten‘ auftat, das heißt zwischen denjenigen, die wie Lipiner und seine neuen Freunde Mahler und Kralik „abandoned any further interest in politics in favor of an attempt to evolve an art form which would constitute in itself an immediate religious and communitarian experience“ 290 und die vor allem den von Wagner in Religion und Kunst gelieferten Anregungen folgten, und denen, die dagegen – wie Braun, Adler und Pernerstorfer – mit größerer Entschlossenheit eine politische Entscheidung trafen, wobei sie wenigstens teilweise ihre früheren Ideen aufgaben und auch so weit gingen, der Sozialdemokratie beizutreten. Die Entstehung dieser Kluft im ‚Pernerstorfer-Kreis‘ nachzuzeichnen, würde uns zu weit vom Bereich der Nietzsche-Rezeption fortführen. Mit dem Jahr 1878, mit der von Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches vollzogenen Wende und dem Abbruch der Beziehung zwischen dem Philosophen und Lipiner scheint auch das Interesse der jungen Wiener für Nietzsches Philosophie zu enden. Obwohl sie wahrscheinlich auch Nietzsches spätere Werke lasen – einige von ihnen, wie Pernerstorfer, waren leidenschaftliche Bibliophile –, gibt es doch keinerlei Spuren, die von einem fortdauernden Interesse für Nietzsches Philosophie zeugen. Das bedeutet nicht unbedingt eine Abkehr von den Idealen, die im Brief von 1877 ihren Ausdruck gefunden hatten. Bei den Unterzeichnern jenes Briefes zeigt sich eher eine ausgeprägte Kontinuität der Ideen ihrer Jugendzeit, auch wenn sie später sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Stellen die letzten Werke von Lipiner, der Adam und der Hyppolitos, die 1913 von Paul Natorp als Nachlass veröffentlicht wurden, weitere Variationen der Beziehung zwischen Apollinischem und Dionysischem, zwischen Intellekt und Leidenschaft dar, so geben sie in künstlerischer Form die in dem Vortrag von 1878 über die Erneuerung der religiösen Ideen behandelten Kontraste wieder. Ähnlich knüpft Pernerstorfer noch 1911 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Theater und Demokratie“, der in der ersten Nummer der Zeitschrift Der Strom erschien, bei der Behandlung dieses Themas an die Auffassung von Nietzsche und Wagner an, die das Drama als Ausdruck der Gemeinschaft sahen.291 290 291
McGrath, a. a. O., S. 87. Vgl. McGrath, a. a. O., S. 216. Die Zeitschrift „Der Strom“ sollte die Tätigkeit der Wiener Freien Volksbühne mitverfolgen und die Bedeutung des Theaters für die Arbeiterklasse klären. Pernerstorfer erwähnte Nietzsche noch in seiner letzten Rede vom 3. Juli 1917 im österreichischen Reichstag: Neben Kant und Fichte sei er ein Beispiel dafür, dass es mög-
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Diese Kontinuität der Ideen wirft zwei durchaus nicht sekundäre Fragen auf: Erstens ob die Episode des Briefes von 1877 völlig zufällig war oder ob sie vielmehr auch in der darauf folgenden Zeit die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Österreich beeinflusst hat; zweitens ob bedeutende Spuren der jugendlichen Begeisterung für Nietzsche und Wagner in der späteren Annäherung von Braun, Adler und Pernerstorfer an die Sozialdemokratie und an den Marxismus aufzufinden sind. Was die erste Frage angeht, macht die von McGrath durchgeführte Rekonstruktion des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ dessen Bedeutung im politischen und kulturellen Leben Wiens weit über das Jahr 1878 hinaus deutlich. Von besonderem Interesse für die weitere Geschichte der NietzscheRezeption in der Wiener Kultur ist die tiefe Freundschaft, die Mahler mit Lipiner verband. Vielleicht ist diese Freundschaft das, was das Leben des galizischen Dichters nach 1881 erwähnenswert macht, da Lipiner nahezu aus dem Kulturleben zu verschwinden scheint, um sich ganz der ruhigen Tätigkeit eines Bibliothekars des Reichrates zu widmen. Mahler hatte Lipiner immer geschätzt; er sah zum Beispiel den Adam als vollkommene Verwirklichung des Dionysischen an. Bezeichnenderweise äußerte Mahler dieses Urteil im Juni 1898, ein Jahr nach Vollendung der Dritten Symphonie, nach deren Vollendung er zusammen mit Natalie Bauer-Lechner den Freund besucht hatte, „whose work was so closely related to his own in overall conception and so distant from it in aesthetic realization“292. Bekanntlich sollte die Dritte Symphonie ursprünglich den Titel Die Fröhliche Wissenschaft tragen, und Mahler griff darin die Schlussverse von Das andere Tanzlied aus dem Zarathustra auf. Obwohl der Komponist Nietzsche erst 1891, unabhängig von Lipiner las, ist doch der Einfluss des galizischen Dichters in seiner Art der Auseinandersetzung mit Nietzsche und der Verwendung seiner Verse in der Dritten Symphonie unverkennbar 293.
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lich sei, „weit über nationale Beschränktheit hinaus die Menschheit und die Welt erfassen und umfassen“ zu wollen (vgl. R. Arthaber, Engelbert Pernerstorfer, in: „Neue Österreichische Biographie“, Bd. II, S. 105–110). Es ist jedoch angebracht, an die politischen Unstimmigkeiten zu erinnern, die zwischen Pernerstorfer und Adler, wie auch zwischen Adler und Braun entstanden, denn sie weisen auf ein unterschiedliches Verhältnis zu den eigenen kulturellen Erfahrungen der Jugend und indirekt auch zu Nietzsche hin. Insbesondere bezog sich der Meinungsunterschied zwischen Adler und Pernerstorfer auf entscheidende Punkte wie die Stellungnahme zu Bernstein und dem Revisionismus und die unterschiedliche Einschätzung der Beziehung Nationalismus-Internationalismus sowie auf die Leitung des Feuilletons der ‚Arbeiter-Zeitung‘ durch Pernerstorfer. Die Kontinuität von den jugendlichen kulturellen Idealen bis zu dem Beitritt zur Sozialdemokratie ist also bei Pernerstorfer ganz anders als bei Adler und viel ausgeprägter. McGrath, a. a. O., S. 87. Zu diesem Punkt verweisen wir auf die ausführliche Untersuchung von McGrath, a.a. O., S. 162.
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Außer der Beziehung Mahlers zu Lipiner gibt es indes weitere Spuren, die nahe legen, dass die Episode des Briefes von 1877 mindestens teilweise auch in späteren Jahren die Formen der Nietzsche-Lektüre im Bereich der österreichischen Kultur beeinflusst hat. Als Beispiele seien die nicht zufällige Beziehung von Hermann Bahr zu dem ‚Pernerstorfer-Kreis‘ sowie die Memoiren von Bruno Walther erwähnt, in denen Lipiner und Mahler als Besucher des Hauses Wittgenstein erscheinen. Auch ist es wahrscheinlich, dass Mahler Klimt während seiner Arbeit am Beethovenfries beriet, der reich an durch die Geburt der Tragödie inspirierten Eindrücken ist und 1902 in der Sezession ausgestellt wurde. Wenn diese Spuren auch nicht sehr ausgeprägt sind, könnten sie doch das Urteil über die „abgeschwächte Nietzsche-Rezeption“ in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende teilweise modifizieren. 294 Hinsichtlich der zweiten Frage nimmt der ‚Pernerstorfer-Kreis‘ gewiss einen bedeutenden Platz in der Geschichte der Beziehung zwischen Marxismus und Nietzsche ein. 295 Es wäre sicherlich reduktiv, wenn man eine rein äußerliche Verbindung zwischen der politischen Entscheidung von Adler, Braun und Pernerstorfer und ihrer vorhergehenden kulturellen Orientierung annehmen würde. Unter anderem lässt sich diese Entscheidung nur im Rahmen der tief greifenden Veränderungen verstehen, zu denen es im Laufe der achtziger Jahre kam und durch die – wie wir gesehen haben – der für die Ideologie des Lesevereins so typische Zusammenhalt verschiedener Tendenzen zerbricht. Diesbezüglich gilt es vor allem zwei Aspekte in Erinnerung zu rufen: Erstens die durch Georg Schönerer angestoßene Umdeutung des Antisemitismus in entschieden rassistischem Sinne, was zum Bruch zwischen Schönerer einerseits und Pernerstorfer und seinen Freunden andererseits führte – ein Bruch, der für die spätere politische Ausrichtung des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ von entscheidender Bedeutung war: Das Moment der sozialen Reformen und der Organisation der Arbeiterschaft, das zunächst vor allem als pendant des nationalen Programms gesehen worden war, trat nun an erste Stelle, und das mag eine 294
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Vgl. dazu J. M. Fischer, Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978, S. 39. Über die Beziehung Bahr – Pernerstorfer-Kreis, vgl. McGrath, a. a. O., S. 85, 187–191; J. Braunthal, a. a. O., S. 33; H. Kindermann, Hermann Bahr, Graz/Köln, Böhlau, 1954, S. 31; zu den Memoiren von Bruno Walter vgl. B. Walter, Themen und Variationen, über die mögliche Beziehung Klimt – Nietzsche vgl. Carl E. Schorske, Fin de siècle Vienna, New York 1980, Knopf, S. 208–278, und M. Bisanz-Prakken, Gustav Klimt. Der Beethovenfries, Salzburg, Residenz, 1977, S. 34–36. Für eine allgemeine Darstellung dieses kulturellen Klimas verweise ich zudem auf M. Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse in Wien um die Jahrhundertwende, Frankfurt/Main, Europäische Verlagsanstalt, 1983. Vgl. D. Bathrick, P. Breines, Marx und/oder Nietzsche, in: Karl Marx und Friedrich Nietzsche, hg. von R. Grimm und J. Hermand, Königstein/Ts., Athenaeum, 1978, S.129 f.
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Erklärung für die Entwicklung des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ vom Nationalismus des Linz-Programms zum Beitritt zur Sozialdemokratie sein; zweitens die Tatsache, dass die achtziger Jahre in der Geschichte der Marxismus-Rezeption die Auflösung des zunächst vorherrschenden eklektischen Sozialismus – ein Potpourrie aus Lassalle, Rodbertus, Lange und Dühring, durchsetzt mit marxistischen Elementen, wie Kautsky es definierte – zugunsten der Konstruktion eines vermeintlich klar definierbaren, in sich geschlossenen marxistischen ‚Systems‘ mit sich brachten, was sich vor allem Kautsky und die 1883 zu diesem Zweck gegründete „Neue Zeit“ zur Aufgabe machten 296. Die Auflösung dieses eklektischen Sozialismus, der kein zweitrangiges Element im Programm des Lesevereins gewesen war, zog unweigerlich auch für den ‚Pernerstorfer-Kreis‘ einen Prozess der ideologischen Klärung nach sich. Dies vorausgeschickt, ist jedoch nicht zu leugnen, dass es einige Kontinuitätselemente zwischen der vorherigen Orientierung an Nietzsche und Wagner und dem Beitritt zur Sozialdemokratie und zum Marxismus gibt. McGrath sieht sie zu Recht vor allem in der ‚kulturellen‘ Konzeption des Sozialismus, der als unabdingbare gesellschaftliche Voraussetzung für die Schaffung einer wirklichen Kulturgemeinschaft gesehen wird, sowie in der Bedeutung, die der Massenpsychologie bzw. dem Gefühlsmoment und dem politischen Symbolismus in der politischen Aktion zugeschrieben wurde. So wird einerseits verständlich, warum die österreichische Sozialdemokratie der Schaffung eigener kultureller Institutionen so großes Gewicht beimaß, andererseits lassen sich auch einige von ihr erzielte politische Erfolge wie die Feier des 1. Mai 1890 als internationales Fest der Arbeit oder die große Demonstration in Wien, die 1905 die Gewährung des allgemeinen direkten Wahlrechts zur Folge hatte 297, genauer gewichten. Daneben ist ein weiteres, ebenso wichtiges Element zu erwähnen, auch wenn es weniger direkt mit dem Einfluss Nietzsches zusammenhängt. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass Heinrich Braun seine politische und publizistische Laufbahn aufs Spiel setzte, als er auf dem Kongress der SPD von Dresden im Jahre 1905 – einem Kongress, der wegen der Auseinandersetzung zwischen ‚Orthodoxen‘ und ‚Reformisten‘ von grundlegender Bedeutung ist – die führende Rolle Mehrings bei der Festlegung der Kulturpolitik der Partei heftig anfocht. Dieser Angriff war sicher durch unterschiedliche politische Orientierungen motiviert; eingedenk der negativen Einstellung Mehrings zu Nietzsche scheint er uns jedoch auch auf eine anders ausgerichtete kulturelle Linie innerhalb der So296 297
Vgl. G. Haupt, Marx e il marxismo, in: Storia del marxismo, Torino 1978, Bd. I, S. 304 ff. Vgl. McGrath, a. a. O., S. 209–231.
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zialdemokratie hinzudeuten. Es ist auch bezeichnend, dass Adler zwar die damaligen politischen Stellungnahmen Brauns nicht teilte, Mehring gegenüber aber dennoch eine gewisse Distanz wahrte298. Begründeterweise ist daher anzunehmen, dass eine mindestens indirekte Erinnerung an die jugendlichen kulturellen Positionen bei Braun und Adler einen gewissen Widerstand gegenüber einer Richtung der Kulturpolitik wie der von Mehring hervorrief, die ein doktrinäres marxistisches System zu definieren suchte und jeden anderen Einfluss ausklammerte. Denkt man an die spätere Polemik Lenins gegen die Schrift, die Victor Adlers Sohn Friedrich über Mach verfasst hatte, oder an das gesamte Verhältnis des österreichischen Marxismus zum Neukantianismus, so erscheint diese alternative Richtung als nicht rein zufällig. Zudem hing sie in gewisser Weise mit der Nietzsche-Rezeption zusammen, wenn Max Adler noch im Jahre 1920 in Nietzsche und im Sozialismus zwei verschiedene Wege sehen konnte, die das gleiche Ziel verfolgten: die „Erhöhung der Persönlichkeit über das Massenniveau“. 299 Wenn Nietzsche Lipiner und seinen Freunden als heldenmütige Seele erschienen war, die mit prophetischen Worten gegen die eigene Epoche ankämpfte, so ist Joseph Paneth dagegen bei seinen Begegnungen mit dem Philosophen im Jahre 1884 angenehm davon überrascht, keinerlei Prophetentum oder Pathos an Nietzsche zu finden: „es ist auch nicht eine Spur von falschem Pathos oder Prophetentum in ihm, wie ich nach dem letzten Werke wohl befürchtet hatte“ 300. Dies ist ein erstes Anzeichen für die unterschiedlichen Ansichten Paneths und des ‚Pernerstorfer-Kreises‘, die allerdings nicht notwendigerweise in Opposition zueinander standen. Tatsächlich erschien die einzige erhaltene Schrift Paneths, die inhaltlich nicht in den medizinischen Bereich gehört, eine Gedenkschrift für Darwin, im Jahre 1890 in der Zeitschrift von Pernerstorfer, Deutsche Worte. Der Antisemitismus, der deutsche Obskurantismus, Wagner und die Wagnerianer, Lagarde, die Philosophie Schopenhauers – all diese Themen, auf die wir schon bei der Beschäftigung mit der Ideologie des Lesevereins und mit Lipiner gestoßen sind, kehren in der Konversation Paneths mit 298 299
300
Vgl. J. Braun-Vogelstein, a. a. O., S. 278–284; J. Braunthal, a. a. O., S. 113. Max Adler, „Arbeiterbriefe über Nietzsche“, in: Wissen und Leben, Bd. XXIII, S. 430–433. Unschwer lassen sich Übereinstimmungen zwischen dieser Auffassung Max Adlers und den von Charles Andler und Léon Blum vertretenen Ansichten erkennen, auf die ich weiter unten in Kapitel 12 eingehe, in dem auch einige Aspekte der Polemik zwischen Andler und Mehring Erwähnung finden. Im Hinblick auf eine mögliche Nietzsche-Rezeption Lenins verweise ich auf meinen Beitrag Eine historische Peripetie von Nietzsches Denken: Lenin als Nietzsche-Leser?, in: „Nietzsche-Studien“, 22 (1993), S. 320–330. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 481 f.
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Nietzsche wieder, aber wie aus einer umgekehrten Perspektive. Vergleicht man den Inhalt der Briefe, in denen Paneth von seinen Begegnungen mit Nietzsche berichtet, mit den Idealen, die die Mitglieder des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ dazu bewogen hatten, dem Philosophen in dem Brief von 1877 ihre Bewunderung auszudrücken, so treten ganz offensichtlich zwei verschiedene Tendenzen der frühen Nietzsche-Rezeption in den Wiener Kreisen zu Tage. Wenn Lipiner Nietzsches ‚Cursus der Freigeisterei‘ nicht gefolgt, sondern das typische Beispiel eines Wagnerianers geblieben war, so bekennt sich Paneth dagegen entschieden zur Freigeisterei. Auf das Problem des Antisemitismus eingehend, demgegenüber Nietzsche sich ablehnend äußert, und nach den von den Juden gehegten Idealen und Hoffnungen befragt, antwortet Paneth wie folgt: Worauf ich ihm sagte, daß ich und die so wie ich dächten, gar nicht als Juden, als Rasse angesehen sein wollten, sondern jeder als Individuum. [...] Ich erwähnte dann, daß die Juden, die so wie ich dächten, ihre jüdischen Traditionen ja verloren hätten; für mich sei das Factum, im Brücke’schen Laboratorium gewesen zu sein, maßgebender als mein Judentum. „Ja, aber diese von Allem losgelösten Geister“, – sagte er, „sind gefährlich und verderblich“. „Es sind die freien Geister in ihrem Sinne“. „Ja, aber freie Geister sind gefährlich und verderblich“. „Zunächst“, sagte ich, „ist man, wie man sein kann, nicht wie man sein sollte oder möchte; ist man einmal frei, so kann man sich nicht an einen Pfahl binden ohne Heuchelei. Dann bedeutet frei sein, nur frei sein von Traditionellem und Conventionellem; jeder werde ja einsehen, welche Interessen und Mächte in ihm dauernd seien, diesen entsprechend werde er sich selbst binden und sich Gesetze geben. Wer freilich keine solchen Mächte in sich findet, dem ist nicht zu helfen, der verflattert. Und Alles gilt vom Ethischen, wie vom Intellectuellen. Und dann gehört zu einem freien Geist ein starker Wille zum Leben“. Mit alledem schien er einverstanden.301
Diese Auffassung vom ‚freien Geist‘ musste in Paneth tief verwurzelt sein, in seiner Sterbeurkunde wurde er nämlich als ‚confessionslos‘ bezeichnet, eine völlig andere Geisteshaltung als die, die Lipiner zum Übertritt zum evangelischen Glauben bewogen hatte. Der oben zitierte lange Abschnitt ist jedenfalls sehr bezeichnend für Paneths Weltanschauung; es ist auch interessant festzustellen, dass er nicht nur von sich selbst spricht, sondern von allen Juden, die so denken wie er. Der Gedanke an Freud liegt sehr nahe, um so mehr als in jener Epoche die Freundschaft zwischen Pa301
Ebd. S. 486 f. Die Begegnungen Paneths mit Nietzsche werden von Richard Frank Krummel in seinem Beitrag Josef Paneth über seine Begegnung mit Nietzsche in der Zarathustra-Zeit, in: „Nietzsche-Studien“, 17 (1988), ausführlich dokumentiert. Vgl. auch das Kapitel zum Thema Jüdischer Nietzscheanismus im Buch von Gerd-Günther Grau, Vernunft, Wahrheit, Glaube. Neue Studien zu Nietzsche und Kierkegaard, Würzburg, Königshausen-Neumann, 1997. Auch Gasser und Gödde schenken Paneths Begegnungen mit Nietzsche in ihren weiter oben zitierten Werken große Aufmerksamkeit.
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neth und Freud besonders intensiv gewesen sein muss. Paneth beschloss nämlich bei seiner Rückkehr von Nizza nach Wien im Jahre 1884, seinen Freund finanziell zu unterstützen, eine Geste – wie Freud schrieb –, die einzig von der Absicht bestimmt war, ihre Freundschaft zu vertiefen 302. Einige Jugenderinnerungen Freuds erweisen sich in der Tat als recht nützlich, um Paneths Standpunkt und die möglichen Gründe für seine Meinungsverschiedenheiten mit dem ‚Pernerstorfer-Kreis‘ zu verstehen, die spätestens im Laufe der achtziger Jahre deutlich wurden. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang an Freuds Enttäuschung bei seinem Eintritt in die Universität angesichts des dort herrschenden Nationalismus und Antisemitismus sowie an die in der Traumdeutung erwähnte heftige Polemik über das Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften zu denken, die er im Leseverein gegen Victor Adler führte. 303 Die beiden Elemente – die Haltung gegenüber dem Antisemitismus und der Wissenschaft – sind in der Tat eng miteinander verbunden. War für Paneth die Arbeit im Laboratorium von Brücke, dessen grundlegende Rolle für die eigene Bildung Freud mehrfach hervorhob, wichtiger als seine jüdische Herkunft, so führte analog dazu für Freud der Verzicht „auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft“ zu einer Wertung der Arbeit als Möglichkeit, um „ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschtums auch ohne solche Einreihung“ 304 zu finden. Bei seiner Interpretation des oben erwähnten Abschnittes der Traumdeutung hat Carl Schorske in einem Buch, dessen Forschungsrichtung in enger Verbindung mit der von McGrath steht, berechtigterweise hervorgehoben, dass sich Freud noch den väterlichen Idealen des jüdischen Liberalismus verbunden fühlte und sie in irgendeiner Weise „as a scientific liberator“ und nicht, wie Adler, „as a revolutionary doctor“ 305 weiterführen und verwirklichen wollte. Adler und Braun hatten dagegen in der Krise des Liberalismus den Ausgangspunkt für ihre politische Entscheidung gesehen, wobei sie neue Werte suchten, die sie im Ideal einer kulturell überlegenen, germanischnationalen Gemeinschaft gefunden hatten. Der vage Antisemitismus des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ war, wie wir bereits gesehen haben, eine Begleiterscheinung dieses Programms, während die Schüler Brückes wie Paneth oder Freud einen anderen Weg eingeschlagen hatten: Die Überwindung ihrer jüdischen Herkunft führte nicht zur Annahme neuer nationaler 302 303
304 305
Vgl. S. Freud, Briefe, a. a. O., S. 110. Vgl. S. Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von A. Freud, Bd. 14, London 1960, S. 34; Bd. 2/3, S. 218. Als Kuriosum ist vielleicht erwähnenswert, dass Nietzsche einige von Freud übersetzte Werke von J. S. Mill las (vgl. KSA 14, S. 633). Vgl. S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 14, S. 34 f. Carl Schorske, a. a. O., S. 198.
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Werte, sondern wurde zum Ausgangspunkt einer allgemeineren Emanzipation von jeder Tradition und Konvention, die sich am besten mit Hilfe der Wissenschaft verwirklichen ließ. Eben dazu bekennt sich Paneth, wenn er sich als ‚freier Geist‘ bezeichnet. Ähnlich war denn auch für den ‚Pernerstorfer-Kreis‘ die Philosophie das verbindende Moment für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft und dadurch die Voraussetzung für das Handeln, während Paneth oder Freud es für möglich hielten, die von der Philosophie gestellten Probleme durch die Naturwissenschaften zu lösen. Der von Adler geäußerten Verteidigung der Philosophie setzte der junge Freud, „der materialistischen Lehre voll“ 306, eine einseitige Verteidigung der Rechte der Naturwissenschaften entgegen. In der Konversation Paneths mit Nietzsche scheint sich diese Orientierung, was das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Philosophie angeht, auch in der Einstellung zu Schopenhauer – ein weiterer wesentlicher Bezugspunkt des ‚Pernerstorfer-Kreises‘ – widerzuspiegeln. In dem Bestreben, vor allem einige fruchtbare Hinweise aus Schopenhauers Philosophie herauszulesen, die auf der Ebene der psychologischen Analyse weitergeführt werden könnten, vertritt Paneth eine unsystematische Position. Folgendermaßen gibt er seine diesbezügliche Meinung zum Beispiel in dem Brief vom 29. Januar wieder: Ich sagte darauf, das Unglück sei gewesen, daß Schopenhauer so früh ein ‚System‘ geschrieben habe, er hätte lieber fortfahren sollen, kleine Abhandlungen zu schreiben, wie seine ersten. 307
Die Philosophie Schopenhauers ist auch der letzte Gesprächsgegenstand von Paneth und Nietzsche vor ihrem Abschied: Wir kamen dann überein, dass der ganze Fehler Schopenhauer’s gewesen sei, ein richtiges, psychologisches aperçu, vom Gegensatz des Willens und des Intellects, vermöge eines colossalen Anthropomorphismus auf die ganze Welt zu übertragen. 308
Ein solches Urteil über Schopenhauer kommt auch in der Bedeutung zum Ausdruck, die dem unbewussten Leben beigemessen wird; Paneth und Nietzsche sind sich darin einig, „daß das unbewußte Leben jedes Menschen so viel, unendlich viel reicher und wichtiger sei als das bewußte“ 309. Während Lipiner also versucht hatte, gerade das sentimentale Element aufzuwerten, es über die Vernunft zu stellen, um eine Erneuerung der religiösen Ideale zu ermöglichen, glaubt Paneth dagegen, auch dieses 306 307 308 309
S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 2/3, S. 218. Vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 487. Ebd., S. 493. Ebd., S. 483.
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Element einer wissenschaftlichen Analyse unterziehen zu können. Auch in der Haltung Schopenhauer gegenüber bestehen wesentliche Übereinstimmungen zwischen Freud und Paneth, wie Freud selbst auch mehrmals „die weitgehenden Übereinstimmungen der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers“ anerkannt hat: „er hat nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der Verdrängung gekannt“ 310. Paneths Urteile über Schopenhauer entsprechen im übrigen auch seiner Vorliebe für die zeitgenössische englische Philosophie, die enger mit der Wissenschaft und dem praktischen Leben verbunden ist: Wir sprachen dann von modernen, deutschen Philosophen und ich beklagte, dass die Betreffenden alle so ganz vom praktischen Leben und strenger Naturwissenschaft entfernt gewesen wären und niemals eine ordentliche Schule durchgemacht hätten; er meinte, sie seien bis auf Schopenhauer alle noch Theologen. Wir beneideten wieder einmal die Engländer, bei denen sich ganz unabhängige Leute, die weder ein Amt noch eine Professur bekleiden, wie Darwin und Galton, nur aus Liebe zur Sache irgend einem Gebiet widmeten. 311
Galton war schon mehrmals Gegenstand der Konversation zwischen Nietzsche und Paneth gewesen; Paneth übergibt Nietzsche sogar ein Buch von ihm als Abschiedsgeschenk. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um die Inquiries into Human Faculty and its Development, dessen Erstausgabe 1883 erschien, eine Schrift, auf die auch Freud mehrmals zurückkommt, um einige Mechanismen der Traumarbeit zu erklären. 312 Um diese Einstellung Paneths zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Philosophie besser zu verstehen, braucht man sich nur die im Laboratorium von Brücke durchgeführten Forschungen zu vergegenwärtigen, wo Paneth bis zu seinem Tod im Jahre 1890 arbeitete. Brücke, der bei Helmholtz in Berlin gearbeitet hatte, gehörte zu den ersten, die die experimentelle Methode in das Studium der Physiologie einführten. Die Vorstellung, dass die Physiologie für die Erklärung nicht nur des menschlichen Körpers, sondern jedes kulturellen Phänomens eine führende Wissenschaft werden könnte, war in jener Epoche weit verbreitet. Auch Exner, der zuerst Assistent, dann Nachfolger von Brücke war und mit dem auch Paneth zusammenarbeitete, vertrat sie in seinen Forschungen.313 Außer Beiträgen zur Lokalisierung von Gehirnfunktionen und zur Theorie der Reflexe veröffentlichte Exner auch einen Entwurf zu einer physiologi310 311 312 313
Vgl. z. B. S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 14, S. 85. Vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 493. Vgl. z. B. S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 2/3, S. 144; 299; 498 f.; Bd. 16, S. 107. Vgl. E. Lesky, a. a. O., S. 541–544.
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schen Erklärung der psychischen Erscheinungen (1894), in dem er die Ansicht vertrat, dass man jede Form der menschlichen Existenz, einschließlich der moralischen Werte, auf Grund von wissenschaftlichen Elementen studieren und erklären könne. Bereits 1890 hatte er in seiner Antrittsvorlesung Die Moral als Waffe im Kampfe ums Dasein die Hypothese einer Physiologie der Moral neben schon durchgeführten Forschungen auf der Ebene der Physiologie der Kunst oder des Rechts formuliert. Vor dem Hintergrund dieser Forschungen wird deutlich, wie weit die Schüler von Brückes Laboratoriums wie Paneth oder Freud von den Freunden Lipiners entfernt sind, und so tritt auch in der Konversation mit Nietzsche die Polemik gegen die Wagnerianer und die „ganze neue romantische Richtung“, die auf ein „Gemisch von Antisemitismus, Deutschtum und Frömmelei“ 314 gegründet ist, mehrfach hervor. Wie Paneth den Skeptizismus und die von Nietzsche geforderte „volle Freiheit und Reinheit von Religion“ für „eine wahre Erquickung“ hält, so nimmt er mit Freude dessen Absicht auf, eine Schrift zu verfassen, „die den deutschen Obskurantismus auf der ganzen Front angreife“ 315. Nietzsche bezog sich natürlich auf seine Absicht, nach der Vollendung des dritten Teils des Zarathustra eine Fortsetzung von Menschliches, Allzumenschliches zu schreiben, er besann sich aber dann eines anderen und verfasste stattdessen das Werk Jenseits von Gut und Böse. Einige von Nietzsche in seiner Konversation mit Paneth geäußerte Ideen über die jüdische Frage finden sich in diesem Werk wieder (vgl. Jenseits von Gut und Böse 251, in KSA 5, S. 192–195), wie auch die wiederholte Darstellung Lipiners als jüdischer Dichter in den Fragmenten 25 [282] und 39 [20] aus den Jahren 1884–1885 mindestens in314
315
Vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 492. – Diese Polemik gegen Lipiner kommt z. B. in einem Brief von Joseph Paneth an seine Braut vom 24. November 1883 deutlich zum Ausdruck: „Die letzte Nummer der ‚deutschen Wochenschrift‘ ist ganz gut, bis auf das infame Feuilleton Lipiners. Abgesehen von dem affektiert Paul de Lagarde’schen Stil, ist es nicht eine Frechheit, den Unsterblichkeitsglauben, den Tausende als ihre beste Hoffnung ins Grab nehmen, die von Christus nichts wissen wollen, auf das zurückzuführen, was Christus ‚Streben nach Vollkommenheit‘ nennt? Gott weiss, welches Wort Christus gebraucht und was er sich darunter gedacht hat. Jenes Streben hat jeder anständige Mensch und fühlt, dass es auf Erden nicht erfüllbar ist, und sehnt sich nach einem Zustand, wo er nicht schlafen und essen muss und Niemand beneidet und Griechisch und höhere Mathematik aus dem ff kann und leidenschaftslos und grundgut ist – ich beabsichtige nicht zu scherzen – und, wenn er nur könnte, so würde er gern glauben, um einen Lenau’schen Ausdruck zu gebrauchen, ‚dass sein Dasein noch einmal abgespielt wird, nur höher, in der Quinte‘. Aber was hat Christus damit zu tun? Gar Nichts. Aber der Täufling fühlte sich gedrängt, öffentlich Zeugnis zu geben, wie tief das heilige Wasser eingedrungen sei – durch Haut und Knochen bis ins Hirn.“ In der Deutschen Wochenschrift vom 18. November 1883 war ein Artikel von Siegfried Lipiner „Über Gottfried Kellers Gedichte“ erschienen. Ebd., S. 484.
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direkt mit diesen von Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse ausgedrückten Ideen in Zusammenhang steht. 316 Die Briefe, in denen Paneth von seinen Begegnungen mit dem Philosophen berichtet, sind nicht nur als Zeugnis einer andersartigen Annäherung an Nietzsche im Vergleich zu derjenigen der Unterzeichner des Briefes von 1877 von Interesse, sondern auch die Tatsache, dass sie außer an die Verlobte Sophie Schwab noch an einen anderen Empfänger gerichtet sind, ist von grundlegender Bedeutung. Aus dem Brief vom 3. Januar 1884 geht hervor, dass Paneth einer anderen Person von einer langen, sechsstündigen Begegnung mit Nietzsche geschrieben hat.317 Der Empfänger dieses Briefes war nicht Freud, auch wenn dieser selbst bezeugt, dass er von seinem Freund andere Briefe über dessen Begegnung mit Nietzsche erhielt. In einem Brief an Arnold Zweig vom 12. Mai 1934 schreibt er: „In meiner Jugend bedeutete er [Nietzsche] mir eine mir unzugängliche Vornehmheit, ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben“318. Der Briefwechsel zwischen Freud und Zweig ist gewiss eine der interessantesten Quellen, um die Beziehung, oder die verfehlte Beziehung zwischen Freud und Nietzsche nachzuvollziehen. Wir erfahren zum Beispiel, dass Lou Salomé, die des öfteren als geheime Vermittlerin zwischen dem Begründer der Psychoanalyse und dem Philosophen angesehen wurde, mit Freud nie von Nietzsche sprechen wollte 319. Das ist an sich schon eine wichtige Angabe für die zeitliche Einordnung der Beziehung Freuds 316
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Auf eine direkte Beziehung zwischen Nietzsches Begegnung mit Paneth und seiner Erinnerung an Lipiner kann aus der Darstellung Bernoullis geschlossen werden, vgl. a.a. O., Bd. I, S. 359–60: „Und wiederum in einem Briefe von Nizza, 7. April 1884, will Nietzsche allerhand ‚sehr Genaues‘ über den Dichter Lipiner erfahren haben, von einem Wiener Naturforscher. Auch dieser Naturforscher kann hier nur Paneth sein. Nachträglich finde ich auch noch eine Nennung im Briefe vom 22. Dezember 1884.“ Vgl. E. Förster-Nietzsche, a. a. O., S. 483. Der Empfänger des Briefes, über den Joseph Paneth in seinem von Elisabeth Förster-Nietzsche in der Erstausgabe ihrer Biographie des Bruders veröffentlichten Brief vom 3. Januar 1884 sprach, war sein Onkel Samuel Paneth. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Elisabeth Förster-Nietzsche eben diesen am 3. Januar 1884 datierten Brief in der zweiten Ausgabe ihrer Biographie (vgl. S. 482–486) veröffentlichte. Das Material im Besitz von Frau Eva Paneth gibt jedoch keinen endgültigen Aufschluss darüber. Unter weiteren Dokumenten im Besitz von Frau Eva Paneth befinden sich auch Abschriften von zwei Briefen Joseph Paneths (mit der Anrede „Lieber Onkel“) über Nietzsche. Wir erinnern daran, dass Elisabeth Förster-Nietzsche in der zweiten Ausgabe ihrer Biographie die Texte der anderen Briefe verkürzte und veränderte, als sie den langen Brief vom 3. Januar 1884 veröffentlichte. S. Freud – A. Zweig, Briefwechsel, Frankfurt/Main, Fischer, 1968, S. 89. – Von der Vereinnahmung Nietzsches durch den Nationalsozialismus hatte Zweig in Bilanz der deutschen Judenheit (Köln 1961, vgl. S. 290–292) gesprochen; in dem zitierten Brief schreibt Freud, er habe Nietzsche später „wie ungefähr in der Bilanz“ gesehen. Ebd., S. 87.
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zu Nietzsche. Freud kannte Nietzsche seit seiner Jugend und zwar durch Paneth; wahrscheinlich hatte er sich über diesen und nicht durch die Lektüre der Werke Nietzsches ein Bild von dem Philosophen gemacht. Aus dem Brief an Zweig kann man eine Art Entwicklung in der Beziehung Freuds zu Nietzsche herauslesen, ähnlich der von Zweig selbst: von dem jugendlichen Interesse – Zweig spricht in dem folgenden Brief von Nietzsche als einer „Jugendliebe“ – bis zur Feststellung der „Niederlage“, die „der einsame Geist“ des Philosophen durch seine Vereinnahmung seitens des Nationalsozialismus erlitten hat 320. All dies scheint in krassem Widerspruch zu Freuds wiederholten Beteuerungen zu stehen, er habe Nietzsche nicht gelesen und aus seiner Philosophie keinerlei Anregung für die Ausarbeitung seiner Theorien bezogen. Bei genauerer Untersuchung dieser Beteuerungen erweist es sich indes als scheinbarer Widerspruch, denn zwei Motive kehren immer wieder, wenn Freud von dem vermeintlichen Einfluss Nietzsches auf seine Ideen spricht. 321 Einerseits streitet Freud diesen Einfluss ganz entschieden ab, und es ist nicht auszuschließen, dass diese Verleugnung mindestens teilweise auf die innerhalb der psychoanalytischen Bewegung herrschende Polemik gegen diejenigen zurückzuführen ist, die eher den philosophischen als den medizinisch-therapeutischen Charakter der Psychoanalyse hervorhoben 322. Andererseits sagt er, er habe aus einem „Übermaß von 320
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Ebd., S. 89–91. Wie bereits erwähnt, verdanken wir Reinhard Gasser, a.a. O., die ausführlichste Analyse von Freuds Nietzsche-Rezeption; für die in diesem Kapitel behandelten Themen verweise ich insbesondere auf den historisch angelegten ersten Teil seiner Untersuchung. Wichtige Rezensionen zu Gassers Buch veröffentlichten Günter Gödde (Eine neue Interpretation von Freuds Verhältnis zu Nietzsche, in: „Nietzsche-Studien“, 27, (1998), S. 463–480), Helm Stierlin (Nietzsche als Tiefenpsychologe, in: „NietzscheStudien“, 29 (2000), S. 327–331). Zum Thema der Beziehung Freud-Nietzsche liegen inzwischen zahlreiche Studien und Beiträge vor. Bedeutende Materialien enthält beispielsweise der Band Von Nietzsche zu Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven, Wien, WUV-Universitätsverlag, 1996. Eine detaillierte und sorgfältig kommentierte Bibliographie zum Thema findet sich bei Gödde (vgl. die vorstehend zitierte Rezension). Vgl. außerdem den Beitrag von Peter Heller, Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche (in: Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., S. 267–287) Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, hg. von H. Nunberg u. E. Federn, Frankfurt/Main 1976, Bd. I, S. 334–339; Bd. II, S. 22–29; S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 12, S. 54; Bd. 14, S. 86. Außerdem ist der Brief an Fließ vom 1. Febnuar 1900 zu erwähnen, der bei Max Schur, Sigmund Freud. Leben und Sterben, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1973, S. 243–245, wiedergegeben wird: „Ich habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte für vieles, was in mir stumm bleibt, zu finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen“. Dieses Zeugnis muss nicht unbedingt zu den anderen schon erwähnten Äußerungen Freuds im Widerspruch stehen, während mir die Schlussfolgerungen, die Schur danaus zieht, dass nämlich Freud Nietzsche vor diesem Zeitpunkt nicht gekannt habe, unzutreffend erscheint. Im Allgemeinen lässt sich leicht feststellen, dass im Fall der bedeutendsten Polemik innerhalb der psychoanalytischen Bewegung zwischen Freud und Alfred Adler bzw. zwi-
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Interesse“ oder „wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften“ nie mehr als wenige Seiten von Nietzsches Werken zu lesen vermocht, er habe sich „den hohen Genuß der Werke Nietzsches“ versagt „mit der bewußten Motivierung“, „daß ich in Verarbeitung der psychoanalytischen Eindrücke durch keinerlei Erwartungsvorstellung behindert sein woll[t]e“323, auch wenn er anerkannte, dass die „Ahnungen und Einsichten“ von Nietzsche „sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken“ 324. Zweifellos tragen die Umstände der ersten Nietzsche-Rezeption in Wien und die Beziehung zu Paneth zu einem tieferen Verständnis dieser Erklärungen Freuds bei, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen konnte das ‚Übermaß von Interesse‘ an Nietzsche nur durch Paneths Briefe hervorgerufen worden sein; zum anderen kann Freuds Verzicht auf die Lektüre Nietzsches auf die verschiedenen Positionen zum Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften zurückgeführt werden, wie sie in der frühen Nietzsche-Rezeption in Wien zum Ausdruck kommen. Es ist kein Zufall, dass die Ablehnung der Philosophie und ihres abstrakten Charakters und der gleichzeitige Versuch, die philosophischen Probleme „als in die Außenwelt projizierte Psychologie“, als Konstruktion „einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll“325, in den bei-
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schen Freud und Jung auch eine unterschiedliche Einschätzung Nietzsches sowie der Beziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie zum Ausdruck kommt. Es ist interessant, an die indirekt polemische Bedeutung zu erinnern, die darin liegt, dass Otto Rank Freud im Jahre 1926 Nietzsches Werke schenkte, wie Paul Roazen (Sigmund Freud und sein Kreis, Bergisch Gladbach, Lübbe, 1976, S. 398) anmerkt. Die Bände der MusarionAusgabe (von I bis X, von XVII bis XXII), die ohne Anmerkungen in den Bibliothek Freuds aufbewahrt sind, stehen offensichtlich mit diesem Geschenk in Zusammenhang. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass auch innerhalb des Freud-Kreises Positionen und Ideen vertreten wurden, die den schon beim Pernerstorfer-Kreis untersuchten Einstellungen ähnelten. Zu den engsten Mitarbeitern Freuds gehörte Paul Federn, ein Jude, der beabsichtigte, zum Protestantismus überzutreten, der an der Idee des ‚Mitleids‘ interessiert und politisch aktiv war (vgl. darüber P. Roazen, a. a. O.); wahrscheinlich handelt es sich um einen Bruder oder Verwandten jenes Karl Federn, Autor eines Artikels über Emerson und Nietzsche, der 1894 in der „Neuen Freien Presse“ erschien und in dem die Gegenüberstellung der beiden Denker entschieden zugunsten Emersons ausfiel (vgl. dazu R. F. Krummel, a. a. O., S. 133). Wir verweisen darauf, dass Emerson in dem Fragment Nietzsches über den Dichter als Lügner neben Lipiner erscheint. Wollte man den verborgenen Motiven für Freuds Ableugnung jeglicher Beziehung zu Nietzsche weiter nachspüren, so könnte man nachprüfen, ob diese Haltung nicht auch irgendwie von dem Konflikt mit Tausk, der enge Verbindungen zu Lou Salomé hatte, beeinflusst war (vgl. P. Roazen, Brudertier. Sigmund Freud und Victor Tausk. Die Geschichte eines tragischen Konflikts, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1973). S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 53. Ebd., Bd. XIV, S. 86. Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Bd. 2, S. 27 f.
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den Diskussionen wiederkehrt, die die Wiener Psychoanalytische Vereinigung im Jahre 1908 Nietzsche widmete. Obwohl Freud sich allein zu diesen beiden Gelegenheiten ausführlicher über den Philosophen äußerte, werden sie bei der Untersuchung seiner Beziehung zu Nietzsche oft vernachlässigt. Für Freud ist Nietzsche, wenngleich er„mit großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung, die Schichten seines Selbst zu erkennen“ begann, „doch noch Moralist geblieben, ist den Theologen nicht losgeworden“. Tatsächlich projiziere er „die Erkenntnis, die er an sich gemacht hat, als Lebensanforderung nach außen“326. Was ihn an Nietzsche stört, ist also gerade die Tatsache, „daß er das ‚ist‘ in ein ‚soll‘ verwandelt hat. Der Wissenschaft ist aber ein Soll fremd“. Bei aller Ähnlichkeit unterscheiden sich folglich die ‚intuitiven Erkenntnisse‘, zu denen Nietzsche in seiner tiefgründigen Introspektion gelangte, grundlegend von den ‚mühseligen Untersuchungen‘ der Psychoanalytiker; aus genau diesem Grund vermochte Freud – wie er selbst bestätigt – „Nietzsche nie zu studieren“. Oft wurde an den Aussagen Freuds bezüglich dieses Punktes gezweifelt und eine geheime, absichtlich verschwiegene Verbindung mit Nietzsche vermutet, doch scheinen die seltenen und zufälligen Anlässe, bei denen Nietzsche in Freuds Werk zitiert wird, solche Vermutungen nicht zuzulassen. Zeugt die Tatsache, dass Freud bei der Darlegung der Ergebnisse seiner Analyse bisweilen einige Ausdrücke von Nietzsche herleitet, von einem gewissen Interesse und einer Affinität der Gedanken beider Autoren, 327 so lenken jedoch bezeichnenderweise jedesmal, wenn Nietzsche in Freuds Texten auftaucht, Patienten oder Freunde die Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers auf entsprechende Ideen des Philosophen328. Die wissenschaftliche Erklärung der Philosophie Nietzsches, die von Freud zum Beispiel in der von der Psychoanalytischen Vereinigung dem Ecce homo gewidmeten Diskussion entworfen wurde, hat jedoch anerkanntermaßen ihre Grenzen; Freud maßt sich nämlich keineswegs an, Nietzsche erschöpfend erklären zu können, der seiner Ansicht nach größtenteils eine „rätselhafte Persönlichkeit“ bleibt. Diese Unlösbarkeit des ‚Falls Nietzsche‘ ist einerseits darauf zurückzuführen, dass jede rein me326 327
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Ebd. Der bezeichnendste Fall ist der Gebrauch des Wortes Es, um das Unbewußte zu bezeichnen, das Freud über Groddeck von Nietzsche übernommen hatte (vgl. S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 15, S. 79). In der Traumdeutung spricht Freud von einer „Umwertung aller psychischen Werte“ (vgl. Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S. 335); in einem Brief an Fließ aus dem Jahre 1897 ist von dem „Sturz aller Werte“ die Rede (vgl. Jones, a. a. O., S. 413). Außerdem sind manchmal einige bedeutende Bezugnahmen auf die „Ewige Wiederkehr“ vorhanden (vgl. Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 246). Vgl. z. B. S. Freud, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 4, S. 162; Bd. 7, S. 407; Bd. 10, S. 391.
290
Nietzsche in der Berggasse 19
dizinische Erklärung der Philosophie und der Persönlichkeit Nietzsches als viel zu begrenzt und vereinfachend erscheint: „[E]s ist sehr fraglich“, so Freud z. B., „ob wir die Paralyse für den Inhalt des Buches [Ecce homo] verantwortlich machen dürfen. [...] Das Kennzeichen dafür, daß diese Arbeit Nietzsches als eine vollwertige und ernste aufzufassen ist, bietet uns die Erhaltung der Meisterschaft in der Form“; 329 andererseits hängt sie aber auch davon ab, dass einige grundlegende Voraussetzungen fehlen, um zu einer zufriedenstellenden klinischen Erklärung gelangen zu können. Dieses letztgenannte Motiv, das schon in den Diskussionen der Psychoanalytischen Vereinigung hervortritt, kehrt in unmissverständlicher Form in dem Brief an Zweig vom 15. Juli 1934 wieder: Vor dem Nietzsche-Problem stehen für mich zwei Wächter, die mir den Eingang verwehren. Erstens, man kann einen Menschen nicht durchleuchten, wenn man seine Sexualkonstitution nicht kennt, und die Nietzsche’s ist völlig rätselhaft. [...] Zweitens, er hatte eine schwere Krankheit, und nach langen Vorboten brach die Paralyse bei ihm aus. Konflikte hat ein jeder. Wenn einer eine Paralyse hat, treten die Konflikte in der Ätiologie weit zurück. Ob es dem Dichter erlaubt sein soll, die groben Tatsachen der Pathologie umzuphantasieren? Ich weiß es nicht, Dichter pflegen nicht lenksam zu sein.330
Schon in seinem vorhergehenden Brief an Zweig vom 12. Mai 1934 hatte Freud diesem von seinem Plan, einen Roman über Nietzsche zu schreiben, entschieden abgeraten und seine Aufmerksamkeit auf die äußerst große Schwierigkeit gelenkt, „eine Krankengeschichte“ zu rekonstruieren, wobei er sein Misstrauen gegenüber einem „phantasierten Friedrich Nietzsche“ ausdrückte und das „Problem der dichterischen Freiheit gegen die historische Realität“ 331 anschnitt. Vielleicht kann man mit dieser Aufforderung Freuds, die ‚historische Realität‘ bei der Untersuchung des ‚Falls Nietzsche‘ nicht zu vernachlässigen, auch unsere Darstellung der ersten Phase der Nietzsche-Rezeption in Wien beenden. In den ihr gesetzten Grenzen trägt auch sie teilweise dazu bei, einige große Themen, wie zum Beispiel das Verhältnis der Psychoanalyse oder des Marxismus zu Nietzsche, die oft mit großer dichterischer oder ideologischer Freiheit angegangen werden, in ihrer tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit zu untersuchen.
329 330 331
Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, a. a. O., Bd. 2, S. 27. S. Freud – A. Zweig, Briefwechsel, a. a. O., S. 96. Ebd., S. 87 f.
Kapitel 11 Die Enttäuschung der Macht. Zu Kesslers Nietzsche-Bild In Edvard Munchs bekanntem Porträt taucht der junge Graf Kessler als flüchtig skizzierter Umriss aus dem Gelb des Hintergrunds auf – ein Bild, das uns in seiner starken suggestiven Wirkung mehr als jeder andere Ansatz einen Eindruck von Kesslers Persönlichkeit zu liefern vermag, über seine unbestreitbaren Widersprüche und möglichen Grenzen hinaus. In einem für Kessler überaus schwierigen Moment, in dem er infolge des Skandals um die Rodin-Ausstellung von seinem Amt als Leiter des „Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe“ in Weimar zurücktreten will, 1906 in Berlin gemalt, verwandelt dieses Porträt die Figur des jungen Grafen zum Inbegriff eines Dandy des beginnenden Jahrhunderts; in ihm wird der ganze Komplex kultureller Bezüge, die Kessler in seiner Person zu vereinigen wusste, für uns viel unmittelbarer greifbar als durch literarische Zeugnisse. Selbst Kesslers spätere Beziehungen zu van de Velde und zu Hofmannsthal, die vielfältigen Beziehungen in Paris und London zu den Kreisen um Proust und Bloomsbury, die Begegnungen mit Gordon Craig und mit Maillol, die Sympathie für die französischen Neoimpressionisten und danach für Becher und die jungen Expressionisten scheinen in dem Bild von Munch in ihrer faszinierenden Verschmelzung gleichsam vorweggenommen und dem Einwirken zufälliger Umstände völlig entzogen. Die Intensität dieser Beziehungen verleitet freilich leicht zur Reduktion der Figur Kesslers auf einen dynamischen, ständig in Bewegung befindlichen Brennpunkt verschiedener Tendenzen, was allzu oft die Gefahr des Verlustes der eigenen Identität mit sich bringt. Herauszufinden, was über Kesslers unbestreitbare Widersprüche hinaus seine Identität ausmachte – dazu kann auch eine Untersuchung seines Verhältnisses zu Nietzsche beitragen. Dabei erscheint im Rückblick Kesslers Verhältnis zu Nietzsche zunächst untrennbar mit der äußerst problematischen Geschichte des ehemaligen ‚Nietzsche-Archivs‘ verknüpft, konnte Elisabeth Förster-Nietzsche doch gerade auch durch die Vermittlung und finanzielle Unterstützung seitens Kesslers die Rechte am Werk des Bruders erwerben und die Aktivitäten des Archivs, insbesondere nach dem Umzug nach Weimar im Jahr 1896, neu beleben. Selbst als
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ihre Vorstellungen immer mehr auseinandergingen, ließ Kessler nie Zweifel an den philologischen Kriterien laut werden, nach denen Elisabeth Förster-Nietzsche den Nachlass veröffentlichte und herausgab. Kesslers Verhältnis zu Nietzsche jedoch auf seine Unterstützung und Mitarbeit im Nietzsche-Archiv zu beschränken, wäre reduktionistisches Stückwerk. Der Versuch, das von Kessler entworfene Nietzsche-Bild klarer zu umreißen, wird dadurch erschwert, dass es keinem organischen System noch einem in sich geschlossenen Ansatz folgt, sondern in seinem Aufbau und der Verdichtung ästhetischer Formen vielmehr eine eigenständige, neue künstlerische Botschaft enthielt. So scheinen sich die vielfältigen mit Nietzsche und seinen Gedanken verbundenen Aktivitäten des Grafen jeglicher Definition zu entziehen und sich immer wieder in der Aufzählung letztlich unrealisierter Projekte zu erschöpfen – erinnert sei nur an den Gedanken eines neuen Weimar, an das Nietzsche-Gedenkstadion oder vage pazifistische Programme für eine neue Weltordnung; die geheime Magie des gemeinsamen Grundgedankens dieser Projekte hinterlässt ein nachhaltiges, einigermaßen frustrierendes Gefühl der Zerbrechlichkeit und Unvollständigkeit. Nicht weniger problematisch erscheint der augenfällige Kontrast zwischen einer Erfahrung, die in ihrer Totalität auf die Auseinandersetzung mit Nietzsche zurückgeht, und der Knappheit der oft zufälligen Belege, in denen sich diese Erfahrung äußert. Aus den fragmentarischen Anmerkungen des jungen Kessler zu Menschliches, Allzumenschliches oder zu Jenseits von Gut und Böse lässt sich wohl schwerlich jene Empfindung überwältigender und allumfassender geistiger Entdeckung herauslesen, als die er selbst in seiner 1935 erschienenen Autobiographie Gesichter und Zeiten die Begegnung mit Nietzsches Gedanken in seiner Jugend beschrieb. Auf den ersten Blick erscheinen diese bemerkenswerten Seiten seiner Autobiographie – immerhin der bedeutendste und umfangreichste Beleg von Kesslers Nietzsche-Rezeption – vor allem als weitere willkommene Gelegenheit zu narzisstischer Selbstinszenierung. Die erste Vorstellung von Nietzsches Persönlichkeit erhielt Kessler, wie er selbst in seiner Autobiographie sagt, durch die Lektüre des Aufsatzes „Frédéric Nietzsche [!] le dernier métaphysicien“, den der Wagnerianer Teodor Wyzewski in der Revue Bleue vom 7. November 1891 publiziert hatte. Gleich darauf, im November und Dezember 1892, las Kessler Menschliches, Allzumenschliches. Eine der drei Bemerkungen im Tagebuch, die diese Lektüre belegen, lässt die bewundernde, wenn auch kritisch distanzierte Haltung erkennen, mit der sich der junge, damals 23-jährige Adlige Nietzsche näherte. So erklärte er zum Aphorismus 27 von Der Wanderer und sein Schatten, bei dem es um „eine Erklärung der Schadenfreude“ geht:
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Zu Nietzsche, wie gewöhnlich, bewundernd, obgleich einiges verfehlt scheint, z. B. die Erklärung der Schadenfreude, sie hat viel kompliziertere Quellen als die, die Nietzsche angiebt: zunächst führt das von Schaden Betroffene uns in seinen Gebärden, seinem Mienenspiel, seinen Äußerungen und Gefühlen, wie wir sie wahrnehmen oder uns vorstellen, eine kleine Komödie vor, die uns schon für sich erheitert; aus dieser Quelle hauptsächlich fließt die Schadenfreude des Menschen, die dummen Streiche der Flegeljahre, die practical jokes, sie ist die ... unschuldigste Erzeugerin der Schadenfreude.332
Kessler, damals noch in Leipzig Student bei Wundt, las Menschliches, Allzumenschliches weniger aus Interesse am Gesamtzusammenhang von Nietzsches Gedanken als einer Reihe psychologischer Beobachtungen wegen, die sicherlich für die Untersuchung der menschlichen Seele wegweisend waren, aber gleichzeitig in andere Richtungen weitergeführt und -entwickelt werden mußten. Kessler fühlte sich einer „Generation nach Nietzsche“ zugehörig, die allen psychologischen Experimenten aufgeschlossen war, der „nichts niedrig und nichts hoch“, „nichts schön und nichts häßlich ist“. Es kam ihm nicht darauf an, ‚den ganzen Nietzsche‘ zu betrachten und sich ein Urteil zu bilden, zu einem klareren Verständnis seines Werks zu kommen. Vielmehr erschien Nietzsche vage als derjenige, der dem Leben eine neue Richtung gegeben hatte, derzufolge es die Wirklichkeit nicht in ihrer oberflächlichen Erscheinung zu begreifen galt, sondern in den rätselhaften Abgründen ihres greifbaren Seins. Nietzsches Gedanken wirkten auf Kessler als Ferment, als Katalysator schlummernder geistiger Energien, die nur auf ihren Ausdruck in neu zu entdeckenden Formen warteten. In den darauffolgenden Jahren mehren sich die Bemerkungen Kesslers über eine zunehmende Verbreitung der Gedanken Nietzsches in den Berliner Kreisen, in denen er verkehrte. So notiert er 1893 nach einem Gespräch mit dem Pianisten Ossip Schubin im Salon von Cornelia Richter in seinem Tagebuch: „Sie glauben nicht, daß gebildete Deutsche jetzt auf eine halbe Stunde zusammenkommen könnten, ohne den Namen Nietzsche zu nennen.“ 333 Und einige Jahre später, im Januar 1895, kommentiert er einen in der Kreuzzeitung erschienenen Artikel folgendermaßen: In der Kreuzzeitung ein Leitartikel gegen Nietzsche, dessen Werke der Verfasser verbieten lassen wiIl. Damit wird er beim heutigen Stande des NietzscheKultus in allen und gerade in den besten Kreisen der studierten Jugend keine Freunde gewinnen. Es gibt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gebilde332
333
Notiz aus Kesslers Tagebüchern vom 19. Dezember 1891. Zitiert wird nach von Burkhard Stenzel Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, Weimar, Köln, Wien, Böhlau, 1995, S. 42. Notiz aus Kesslers Tagebüchern vom 17.5.1893. Zitiert in: Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, a. a. O., S. 37.
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ten Mann von zwanzig bis dreißig Jahren, der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankt oder doch mehr oder weniger von ihm beeinflußt worden wäre. 334
Hier wird wahrscheinlich zum ersten Mal der Ausdruck „NietzscheKultus“ verwendet, obwohl genaue Angaben zu Inhalten und Formen dieser verherrlichenden Form der Nietzsche-Rezeption fehlen. Immerhin weist er aber darauf hin, daß schon vor dem Umzug des Nietzsche-Archivs nach Weimar im Jahr 1896 von Freunden und Gegnern des Philosophen ein religiöses Vokabular gepflegt wurde: Man charakterisierte ihn als „Heiligen“, „Märtyrer“ oder als „Propheten“, 335 oder interpretierte ihn idealistisch als „halb ‚Heiligen‘, halb ‚Genie‘“ – genau wie es Nietzsche selbst befürchtet hatte (vgl. KSA 6, S. 300). Kesslers Rolle bei diesem „Nietzsche-Kultus“ war eine ambivalente: durch seine Beziehung zu Elisabeth Förster-Nietzsche und zum Nietzsche-Archiv, durch die Pläne einer Luxusausgabe von Nietzsches Werken und erst recht durch die Initiative zur Errichtung eines NietzscheGedenkstadions trug er nicht unerheblich zur Verbreitung und Konsolidierung einer solchen verherrlichenden Nietzsche-Rezeption bei. Andererseits hielt er die Möglichkeit, zur neuen Dimension eines – wenn auch säkularisierten – Kultes zu gelangen, in der die dynamische Widersprüchlichkeit der Moderne nicht verzerrt oder verfälscht würde, immer für völlig offen und zumindest äußerst problematisch. In diesem Zusammenhang ist einer der ersten längeren Aufsätze von Kessler von Bedeutung, der 1899 in der Zeitschrift „Pan“ erschien: Kunst und Religion. Die Kunst und die religiöse Menge. Nietzsche wird in diesem Essay nicht ausdrücklich zitiert, aber die Auffassung der Kunst und der griechischen Religion, die Sicht des Verhältnisses von Kunst und Kampfspiel, die in der griechischen Kultur bestimmend gewesen war, wie auch die allgemeine Absicht des Essays, das Verhältnis zwischen Kunst und Religion von seinen Ursprüngen her zu rekonstruieren, zeugen von Nietzsches Einfluss. Hier wird unter anderem der Funktion des Rhythmus bei der Entstehung der Kunst eine wichtige Bedeutung zugeschrieben als einer „in Zahlen faßbare[n] Eigenschaft des Zeitverhältnisses, nach dem die Sinnesreize geordnet sind“ 336. Eine ähnliche Auffassung vom 334
335
336
Notiz aus Kesslers Tagebüchern vom 28.1.1895. Zitiert in der Dissertation von Alexandre Kostka Un nietzschéen à l’époque de Guillaume II: Harry Comte Kessler et le problème de la modernisation de la culture allemande 1895–1918, Strasbourg 1993, S. 116. Vgl. dazu H. Cancik, Der Nietzsche-Kult in Weimar, in „Nietzsche-Studien“, 16 (1987), S. 406–407. H. Kessler, Kunst und Religion. Die Kunst und die religiöse Menge, in: H. Kessler, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 2, hg. von C. Blasberg und G. Schuster, Frank-
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Rhythmus vertrat Kessler auch in seinem Brief an Elisabeth FörsterNietzsche vom November 1901, in dem er die Berufung von Henry van de Velde nach Weimar entschieden befürwortete: Der Rhythmus wird dort als ideale künstlerische Grammatik vorgestellt, als „allgemein menschliches, sozusagen mathematisches“ Element, das die Möglichkeit allen künstlerischen Ausdrucks und seiner jeweiligen Inhalte begründet. 337 Die vielfältige, komplexe Kunstauffassung des jungen Kessler sowie die Verbindungen seiner Sicht des Verhältnisses von Kunst und Religion mit den Gedanken einer künstlerischen Erneuerung, wie sie Henry van de Velde vertrat, sollen hier nicht näher untersucht werden; immerhin verweisen diese Verbindungen darauf, dass eine mögliche kultische Dimension, wie sie Kessler vorschwebte, in der Ästhetik der Moderne eine völlig neue offene und dynamische Form annehmen musste. Für ihn hatte die Moderne, bevor sie sich wieder einer eigentlich religiösen Auffassung zuwenden konnte, zunächst das ihr innewohnende künstlerische Potential zu entwickeln, die Grenzen niederzureißen, die zwischen den einzelnen Künsten in ihrem Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben bestehen, und die wichtigsten künstlerischen Ausdrucksformen wieder in ihrer Konkretheit freizulegen, ob es sich dabei nun um die physische Körperlichkeit des Tanzes oder die reine Materialität von Alltagsgegenständen handelte. Jede Verherrlichung Nietzsches erschien Kessler sinnlos, sofern sie nicht zugleich dieses Programm einer ästhetischen Erneuerung voranbrachte. Die verlegerische Tätigkeit für die Zeitschrift „Pan“, der Gedanke an ein neues Weimar oder die Überlegungen zur Funktion des Nietzsche-Archivs, das Projekt eines Gedenkstadions und noch die politischen Ideen der Nachkriegszeit waren – wenn auch in anderer Form – nichts anderes als verschiedene Ansätze auf dem Weg zur Verwirklichung dieses Programms.
337
furt/Main, Fischer, 1988, Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden 1899–1933, S. 14. Interessant ist das Urteil von Eberhard von Bodenhausen über diesen Aufsatz des Freundes in seinem Brief an Kessler vom 31.12.1899 (in: E. von Bodenhausen – H. Kessler, Ein Briefwechsel 1894–1918, hg. von H. U. Simon, Marbach/Nekar, Deutsches Literaturarchiv, 1978, S. 50–51). Vgl. außerdem A. Kostka, Das ‚Gesamtkunstwerk für alle Sinne‘. Zu einigen Facetten der Beziehung zwischen Hugo von Hofmannstahl und Harry Graf Kessler; Harry Graf Kesslers Überlegungen zum modernen Kunstwerk im Spiegel des Dialogs mit Henry van de Velde, beide in: Harry Graf Kessler: Ein Wegbereiter der Moderne, hg. von G. Neumann und G. Schnitzler, Freiburg/Breisgau, Rombach, 1997; „Architecture of the ‚New Man‘: Nietzsche, Kessler, Beuys“ in: Nietzsche and the Architecture of our Minds, ed. by A. Kostka and I. Wohlfahrt, Los Angeles, Getty Research Institute for the History of Art and the Humanities, 1999. Zitiert im Aufsatz von Roswita Wollkopf, Das Nietzsche-Archiv im Spiegel der Beziehungen Elisabeth Förster-Nietzsches zu Harry Graf Kessler, in: „Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft“, 1990, S. 151.
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Um diesen Aspekt von Kesslers Nietzsche-Bild genauer zu umreißen, soll hier kurz an einige Elemente der Nietzsche-Deutung erinnert werden, die Raoul Richter in seinen Schriften vertrat und die 1903 in dem Band Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk zusammengetragen wurden. Gerade Richter – Sohn von Cornelia, deren Salon Kessler regelmäßig besuchte, und Bruder von Gustav, einem der engsten Freunde Kesslers während seiner Leipziger Studienjahre – unterstützte den jungen Grafen bei seinen Nietzsche-Studien. 338 Auch war es Richter, der ihn 1895 in Naumburg mit Elisabeth Förster-Nietzsche bekanntmachte. Hugo von Hofmannsthals Erinnerungen an Raoul Richter liefern ein sehr lebendiges Bild der Atmosphäre intensiver geistiger Neuentdeckung und leidenschaftlicher innerer Beteiligung, wie sie für diese Nietzsche-Lektüre kennzeichnend war. 339 Sie erfolgte innerhalb jener ideellen Gemeinschaft junger Leute, deren Angehörige alle „im Ganzen, Vollen, Schönen resolut zu leben“ 340 versuchten und von der Bernhard Berenson noch 1905 – mit einem wörtlichen Zitat aus der Geburt der Tragödie – in einem Brief an Eberhard von Bodenhausen sprach. Richter zufolge war Nietzsche vor allem als ein „Kulturphänomen“ zu betrachten, er habe „die Möglichkeit einer Religion ohne Kultus, ohne Kirche, ohne Christentum, ohne Jenseits (im engeren Sinn), ohne Gott“, eine „das diesseitige Leben bejahende Religion“ aufgezeigt. 341 Um diese immanente Religiosität, diese „biologische Daseinsmystik“ wirklich umsetzen zu können, mussten nach Richter Nietzsches fruchtbare Anregungen im Sinne einer Vollendung seiner Subjektpsychologie wissenschaftlich weiterentwickelt werden. Im Vergleich zu Richter war Kessler sicher weniger an einer philosophischen Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedanken oder an deren wissenschaftlicher Weiterentwicklung interessiert. Er wählte einen anderen Weg, um die kulturellen Werte dieser von Nietzsche angekündigten 338
339
340
341
Wie Kessler selbst in seiner Autobiographie bemerkte (vgl. dazu H. Kessler, Gesammelte Schriften in drei Bänden, a. a. O., Bd. 1, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, S. 199). Für eine Analyse von Richters Einfluss auf Kesslers Nietzsche-Bild vgl. A. Kostka, a. a. O., S. 301–308. Vgl. H. von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, hg. von B. Schoeller u. R. Hirsch, Frankfurt/Main, Fischer, 1979, Reden und Aufsätze I. 1891–1913, S. 458–465 (Raoul Richter 1896). Zitiert in E. von Bodenhausen, Ein Leben für Kunst und Wirtschaft, hg. von Dora von Bodenhausen-Degener, Düsseldorf, Diederichs, 1955, S.258. In der Geburt der Tragödie wandte sich Nietzsche mit einem Zitat aus Goethes „Generalbeichte“ an die „heranwachsende Generation“, die dem Optimismus den Rücken kehrt, „um im Ganzen und Vollen resolut zu leben“ (KSA 1, S. 119). Später distanzierte sich Nietzsche von dieser Charakterisierung der romantischen Jugend, die seiner Meinung nach unfähig war, Zarathustras Lachen zu verstehen (vgl. ebd., S. 21–22). R. Richter, Friedrich Nietzsche und die Kultur unserer Zeit, in: Essais, Leipzig 1913, S. 120; vgl. auch ebd., S. 343.
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immanenten Religiosität umzusetzen. 1894, unter dem starken Eindruck von Jenseits von Gut und Böse, das er zusammen mit Richter las, fasste Kessler seine persönlichen Gedanken folgendermaßen zusammen: Wirklich gerecht kann Nietzsche nur der beurteilen, der seine Werke lyrisch faßt, d. h. als Offenbarung eines der typischsten und dadurch eben bezauberndsten Geister der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts, die Seelengeschichte eines Genies, das in seltenem Maße an den gewaltigen moralischen Kämpfen seiner Zeit gelitten hat. Wer bloß die Dogmen Nietzsches zerpflückt oder umgekehrt durch den Zauber seiner Sprache sich verführen läßt, sie für wahr zu halten, muß ihn immer falsch beurteilen, richtiger, mit einem verkehrten, mit ihm inkommensurablen Maßstabe messen. Nicht seine Philosophie und nicht einmal seine dichterische Kraft sind an ihm die Hauptsache, sondern der Mensch, der in seinen Neigungen und Abneigungen, in seinem Streben und in seinen Träumen der Ausdruck einer neuen Art, der Typus des geistig Vornehmen aber nervös Zerrütteten im Kampfe mit der steigenden Demokratisierung ist. 342
Ganz ähnliche Betrachtungen stellte Kessler im September 1901 in einem Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche an, nachdem er eine Kopie von Nietzsches Totenmaske erhalten hatte, nach der später Max Klinger seine Nietzsche-Büste gestaltete: Ich habe vorgestern die Totenmaske erhalten und habe vor ihr wieder tief empfunden, was für ein Mensch vor allem Ihr Bruder gewesen ist. Das ist ja schließlich das Wertvollste; denn wie Ihr Bruder so denke auch ich, daß alle Kultur und alles Streben überhaupt auf der Welt nur das eine Ziel haben kann, Menschen in größter innerer und äußerer Vollendung hervorzubringen. Gerade diese Seite Ihres Bruders hoffe ich durch Klinger ausgedrückt zu sehen; deshalb wünsche ich so sehr, daß gerade er die Büste macht. 343
Nietzsches Bedeutung bestand in Kesslers Augen vor allem darin, dass er die Notwendigkeit eines neuen Menschentyps als physischer wie geistiger Vollendung des Menschen aufgezeigt hatte. Dieses Idealbild eines neuen Geistesadels ließ sich jedoch nicht losgelöst von den tiefen inneren Widersprüchen der Moderne betrachten, die schließlich bis ins Innerste der menschlichen Nervenbahnen gedrungen waren. Nietzsche wurde zu einer unmittelbaren, aber oft unausgesprochenen Erfahrung, da seine Anregungen ständig neue Formen geistigen Experimentierens erforderten, wenn sie nichts von ihrer außerordentlichen Authentizität verlieren sollten. So mag die Tatsache erstaunen, dass es im Briefwechsel zwischen Kessler und Bodenhausen keinerlei Hinweis auf Nietzsche gibt, obwohl 342
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Notiz aus Kesslers Tagebüchern vom 13.1.1894. Zitiert in: Harry Graf Kessler. Tagebuch eines Weltmannes, hg. von G. Schuster und M. Pehle, Marbach, Deutsches Literaturarchiv, 1988, S. 90. Zitiert in R. Wollkopf, a. a. O., S. 150.
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beide mit der gemeinsamen Herausgabe der Zeitschrift „Pan“ doch gerade ein Forum schaffen wollten, in dem die neuen Generationen im Umfeld von Nietzsche ihr Erneuerungspotential ausdrücken konnten.344 In Wirklichkeit beeinflusste die Begegnung mit Nietzsches Gedanken das persönliche Schicksal der beiden Freunde aber so stark, dass selbst noch die mühselige Suche nach einem Beruf, in dem sich die eigenen Möglichkeiten besser umsetzen ließen, unter Berufung auf Nietzsche geschah. So fragte Bodenhausen in einer Tagebuchnotiz vom Juni 1901 (in einem Moment, in dem er zusammen mit Kessler intensiv über die eigene Zukunft nachdachte) bezüglich möglicher künftiger Aufgaben: „Ob es mein ‚Weg‘ ist, von dem Nietzsche so herrlich schreibt; aber er sagt ja: ‚Frage nicht, gehe ihn‘. Und ich werde ja sehen, ob ich ihn gehe“345. Kessler selbst erinnerte noch in seiner Autobiographie von 1935 daran, dass die Lektüre des Aphorismus 256 von Jenseits von Gut und Böse zum Willen Europas, Eins zu werden, seinem Leben einen neuen Sinn und Inhalt, eine tiefere Richtung gegeben habe. 346 Die Begegnung mit Nietzsches Gedanken trug entscheidend zum fruchtbaren geistigen Klima bei, das – voller Erwartungen und Hoffnungen, aber auch voller Illusionen – Kessler und der Kreis von Freunden und Intellektuellen, die er um sich geschart hatte, schufen. Nietzsches „geistig-revolutionärer Einfluß“ erschien ihnen „förderlich und befruchtend wie ein Frühlingsgewitter“ 347: Von diesem frühlingshaften Element sprachen auch Helene von Nostitz und Eberhard von Bodenhausen in ihrem Bemühen um eine möglichst genaue Beschreibung dieses Aufkeimens neuer intellektueller Möglichkeiten und einer unbestimmten Erwartung neu entstehender Welten, die auch den Treffen in Kesslers Weimarer Wohnung in der Cranachstraße die Aura des fast schon Magischen und Phantastischen verlieh. 348 Nietzsche war die beschützende Gottheit dieser Treffen, der Hauptbezugspunkt, an dem man die eigenen Erfahrungen und die eigenen Möglichkeiten maß. Die angestrebte Vollendung der eigenen Persönlichkeit und Menschlichkeit führte nicht zu einem oberflächlichen Kult des Übermenschen, sondern zu einer hellsichtigen und nüchternen Untersuchung der eigenen Gefühle und zur aufmerksa-
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345 346 347
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Vgl. dazu H. Kessler, „Curriculum vitae“, in: Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, a. a. O., S. 328. E. von Bodenhausen, Ein Leben für Kunst und Wirtschaft, a. a. O., S. 151. Vgl. H. Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, a. a. O., S. 215. Vgl. H. Kessler, „Curriculum vitae“, in: Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, a. a. O., S. 328. Vgl. dazu H. von Nostitz, Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, hg. von O. von Nostitz, Frankfurt/Main, Insel, 1978, S. 101.
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men Beobachtung der Auflösungstendenzen der eigenen Subjektivität mit dem Ziel einer neuen, selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Charakters, für den ein authentischer Ausdruck gesucht werden musste. Ein wichtiger Beleg hierfür ist Kesslers Brief an Hofmannsthal vom Januar 1907: Manchmal stelle ich mir vor, daß ein Jeder an sich, wie die Bakterien oder ein Adam mit seiner Rippe, eine Zweiteilung vorzunehmen berechtigt sein sollte, dann würden sich erst die Übermenschen ergeben. Ich würde mich anmelden zur Spaltung in einen Professor der Philosophie nebulöser Gattung und einen ungeheuer reichen Seeräuber und Kapitän. 349
Ebenso hatte die Aufmerksamkeit, die der junge Kessler der Definition eines Geistesadels in Jenseits von Gut und Böse gewidmet hatte, nicht den rein ästhetisierenden Kult eines vorgeblich höheren Individuums zur Folge, sondern zielte auf die Umsetzung von Nietzsches Vision einer „Herausbildung immer höherer, seltsamerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände“ in einem komplexen Prozess der ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘. 350 Wie bei der Lektüre von Menschliches, Allzumenschliches hatte Kessler nicht gezögert, sich ganz offen von Nietzsche zu distanzieren, indem er zum Beispiel das altruistische Verhalten anders bewertete. 351 Im Lichte dieser fragmentarischen Bemerkungen des jungen Kessler gewinnen die Seiten, die er Nietzsche in seiner Autobiographie Gesichter und Zeiten von 1935 widmet, als Beleg für sein lebhaftes Interesse an der allerersten Phase der Verbreitung von Nietzsches Gedanken, die vermutlich schon um 1892 erfolgte, noch an Bedeutung. 352 Sie enthalten zum einen die leidenschaftliche Forderung nach jener Kulturgeschichte, die vom ‚geistigen Umsturz‘ der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts und von der Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedanken ihren Ausgang genommen hatte; zum anderen handelt es sich bei ihnen auch hinsichtlich der literarischen Qualität um die gelungensten Stellen der ganzen Autobiographie, in denen der Autor seine Intention, „die spezifìsche Atmosphäre einer Zeit in eine kleine Gemeinschaft von intim erlebten Menschen“ zu verdichten und „aus diesem tragkräftigen, dichten Boden die Persönlich349
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H. von Hofmannsthal – H. Kessler, Briefwechsel 1898–1929, hg. von H. Burger, Frankfurt/Main, Fischer, 1968, S. 143. Vgl. zu dieser Idee einer „Selbst-Überwindung des Menschen“ den Aphorismus 257 von Jenseits von Gut und Böse (KSA 5, S. 205). Vgl. dazu die Notizen vom 7. und 9. Februar 1894 aus Kesslers Tagebüchern; beide zitiert in B. Stenzel, a. a. O., S. 39. In seiner Notiz vom 7.8.1932 (vgl. H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, hg. von W. Pfeiffer-Belli, Frankfurt/Main, Insel, 1982, S. 724) erinnerte Kessler an seine Nietzsche-Lektüre schon in Potsdam, wo er sich im September 1892 gemeldet hatte.
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keiten und Ereignisse der Zeit hervor wachsen“ zu lassen, 353 am besten verwirklicht. Unter anderem erzählt Kessler hier die dramatische Geschichte eines Freundes, eines gewissen Tin, hinter dem sich vermutlich die Person von Constantin Freiherr von Zeidlitz und Neukirch verbirgt, 354 der nach der Lektüre von Dostojevski und Nietzsche erst seine Geliebte umbrachte und dann einen Selbstmordversuch unternahm. Hier gelingt Kessler eine plastische Darstellung der inneren Konflikte, die seine Generation erlebt hatte, als sie sich plötzlich mit Nietzsches Bemühungen um die Auflösung traditioneller Moralvorstellungen konfrontiert sah. Tief erschüttert war auch Kesslers engerer Freundeskreis, der ‚Tins‘ Schicksal mitverfolgt hatte: Die ästhetisch-philosophische Betrachtung hatte sich in eine direkt erlebte tragische Erfahrung verwandelt. Als einzig mögliche Lösung, um einem solch ausweglosen Zustand der Selbstzerstörung wie dem des Freundes zu entgehen, sah Kessler die Schaffung eines neuen Menschentypus, eines Menschen, dem es gelänge, aus sich selbst heraus der Gefahr einer ethischen Situation zu entrinnen, in der die traditionellen Werte verschwinden, ohne sich dabei vom Sog der unbegrenzten Möglichkeiten und Versuchungen, die der immer dynamischere und turbulentere Rhythmus jener Zeit hervorbrachte, fortreißen zu lassen. Diese heroische Moral der Gefahr, diese ‚neue Sittlichkeit‘ Nietzsche-Zarathustras, „die im Heldentum statt in Gott wurzeln wollte“,355 erschien Kessler als notwendige Vorbedingung für die Schaffung eines höheren Menschentypus, der in der Lage wäre, dem destruktiven Potential des Nihilismus siegreich entgegenzutreten. Die Voraussetzungen für dieses Potential, das aus dem Verschwinden der alten Glaubenssätze und Vorurteile, Sitten und Bräuche entsprang, waren schon von anderen Denkern sowie durch eine tief reichende politische und soziale Umgestaltung des alten Europa geschaffen worden; aber nach Kesslers Meinung war es Nietzsche als Erstem gelungen, diesen Tendenzen Namen und Ziel zu geben. So hatte er jenes „Neue, Junge, Kräftige, noch Unvorstellbare“ angekündigt, das wie ‚ein Frühling‘ Seelenverwirrungen bei seinen jungen Lesern ausgelöst hatte. Kessler beschreibt, wie durchschlagend diese Wirkung gewesen war: „in uns entstand ein geheimer Messianismus. Die Wüste, die zu jedem Messias gehört, war in unseren Herzen; und plötzlich erschien über ihr wie ein Me353
354
355
Vgl. dazu die Notiz vom 30.4.1932, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 705; diese Notiz bezieht sich auf das Kind dieser Zeit von Klaus Mann. ‚Tin‘ Zedlitz wird in Kesslers Brief an Bodenhausen von Mitte Juni 1897 erwähnt (vgl. E. von Bodenhausen – H. Kessler, Ein Briefwechsel von 1894–1918, a. a. O., S. 37). H. Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, a. a. O., S. 209.
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teor Nietzsche“ 356. Die Totalität dieser Erfahrung, die jede Verbindung zur Welt der alten Werte und Konventionen radikal abbricht und ganz unerwartet neue Geisteshorizonte eröffnet, wird von Kessler als entscheidendes Element dieser Begegnung mit Nietzsches Gedanken mehrmals nachdrücklich betont: Die Art, wie Nietzsche uns beeinflußte, oder richtiger gesagt in Besitz nahm, ließ sich mit der Wirkung keines andern zeitgenössischen Denkers oder Dichters vergleichen. Er sprach nicht bloß zu Verstand und Phantasie. Seine Wirkung war umfassender, tiefer und geheimnisvoller. Sein immer stärker anschwellender Widerhall bedeutete den Einbruch einer Mystik in die rationalisierte und mechanisierte Zeit. Er spannte zwischen uns und den Abgrund der Wirklichkeit den Schleier des Heroismus. Wir wurden durch ihn aus dieser eisigen Epoche wie fortgezaubert und entrückt. [...] Er stellte uns in ein neues geistiges Klima. Uns umgab eine neue Landschaft. Wir waren mit ihm ausgewandert in eine neue Welt, in der wir uns aber gleich zu Hause fühlten, weil uns dort unter fremden Sternen, in einem neuen Licht, als sei dieses ihre wahre Heimat, einige der größten Deutschen, Beethoven, Goethe, Fichte, Hölderlin, entgegenkamen.357
Aus eben dieser totalen Nietzsche-Erfahrung, wie sie in Gesichter und Zeiten sehr lebendig beschrieben wird, ergeben sich zwei unverwechselbare Merkmale von Kesslers Nietzsche-Bild. Zum einen wird, wie bereits erwähnt, der Gedanke des ‚guten Europäers‘ ebenso aufmerksam aufgenommen wie die Vision einer fast unsichtbaren, aber über ganz Europa verteilten Gemeinschaft verwandter Geister, die in Nietzsche ihren gemeinsamen Bezugspunkt gefunden hatte und die der junge Graf auch über seine Diplomatentätigkeit fördern wollte. Zum anderen war es seiner Meinung nach durch den Einbruch der Mystik in die rationalisierte Welt der modernen Technik notwendig geworden, nicht nur das Verhältnis von Kunst und Leben in einer bereits vorgezeichneten „Ästhetisierung des Alltagslebens“ 358 neu zu gestalten, sondern sogar die Alltagsdimensionen des Lebens, der unmittelbaren Umgebung, Wohnformen und ganz gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände und der Lebensatmosphäre überhaupt grundlegend zu verwandeln. Kessler sah in diesem neuen Lebensgefühl, das selbst noch den rein funktionalen Produkten der neuen technischen Entwicklungen einen mystischen Glanz verlieh, das Wirken der „tiefen Wandlung vom alten zum neuen Menschen“, in der sich eine umfassendere, wenn auch noch nicht mögliche „Gestaltung des praktischen Lebens, des Staates und der Wissenschaft“ 359 abzeichnete. 356 357 358
359
Ebd., S. 199. Ebd., S. 210–211. Zu dieser Idee einer „Ästhetisierung des Alltagslebens“ vgl. G. Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/Main/New York, Campus, 1992. Vgl. H. Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, a. a. O., S. 212–213.
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Die unmerkliche Faszination, die dieses neue Lebensgefühl umgab, fand ihren ersten Ausdruck in Kesslers von van de Velde entworfener Weimarer Wohnung. In Helene von Nostitz’ Erinnerungen Aus dem alten Europa findet sich die vielleicht anschaulichste Beschreibung jener ausgesucht erlesenen Atmosphäre, in der sich jedes materielle Element aufzulösen und jedes Gespräch immer größeren Höhen zuzustreben schien, bis es sich schließlich im blassen Licht, das ins Zimmer fiel, verlor: Das Feuer brennt im Kamin und wirft einen Schein auf die festlichen Reiter des Parthenonfrieses. Hellgelbe Bücher stehen in weißen Schränken. In den Glasvitrinen aber schauen liebliche kleine Frauengestalten Maillols in Spiegel, die ihre reinen, strengen Formen wiedergeben. Über dem mattlila Diwan ziehen die Nymphen Maurice Denis’ durch einen phantastischen Wald. Vor dem Fenster steht eine altchinesische Bronzenschale, ein Gruß der Künstler dreier Nationen an den Herrn des Hauses, Harry Kessler. Ich erinnere mich noch des Abends, als Gerhart Hauptmann mit dem schönen Kopf davor saß und eines seiner Dramen vorlas, während Rilke mit uns aufmerksam, ohne Kritik, lauschte. Aber die Tür ist nach dem Schreibzimmer geöffnet, diesem langen nachdenklichen Raum, wo über Reihen köstlicher Bücher die Bilder französischer Impressionisten erglühen wie bunte Blumen. Auf dem Schreibtisch erhebt sich wie ein Baum wieder eine Frauengestalt Maillols und fängt den Sonnenstrahl, der ihre sehnsuchtsvolle und doch herbe Bewegung küßt. Unter den Bildern stehen auf den breiten Bücherbrettern nur wenige Bronzeskizzen Rodins. In der Ecke eine Terrakottabüste des Malers Terrus von Maillol. 360
Den Feinden erschienen die Treffen und der intellektuelle Gedankenaustausch in der Wohnung in der Cranachstraße oft nur als stilvoll in Szene gesetzte Komödie, in der die wirklichen Probleme „nur mit Handschuben oder mit Fingerspitzen unter komplizierten, verkünstelten Worten“ berührt wurden. 361 Zweifellos wirkt das Ideal einer kleinen aristokratischen Gemeinde, die sich inmitten wertvoller Gemälde und Objekte, umspielt von den fließenden Linien von van de Veldes Inneneinrichtung, behaglich zusammenfindet und nach immer neuen Empfindungen sucht – wie Kessler sie in Weimar zu schaffen versuchte und André Gide sie in seinem Vortrag „De l’importance du Public“ 1903 am Hof zu Weimar theoretisch aufarbeitete 362 –, auf den ersten Blick als völlig in sich ab360 361
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H. von Nostitz, Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, a. a. O., S. 100. So wirkte das geistige Milieu der Cranachstraße auf Karl Scheffler; vgl. dazu H. van de Velde, Geschichte meines Lebens, hg. von H. Curjel, München/Zürich, Piper, 1986, S. 302–303. Gides Vortrag ist in Nouveaux Prétextes. Réflexions sur quelques points de littérature et de morale, Paris 1951, S. 29–41 enthalten. Zu Gides Besuch in Weimar und zu seinem Verhältnis zu Kessler vgl. C. Foucart, D’un monde a l’autre. La correspondance André Gide – Harry Kessler (1903–1933), Lyon Centre d’Études Gidiennes, 1985; C. Meder, Wahlverwandschaften. Zu André Gides Deutschland-Reise im Sommer 1903, in: André Gide und Deutschland, hg. von H. T. Siepe und R. Theis, Düsseldorf, Droste, 1992, S. 165–180.
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geschlossen, gleichgültig gegenüber allen äußeren Ereignissen, ganz und gar losgelöst von den tiefgreifenden Veränderungen, die sich abzeichneten: „eine Wasserspinne, die anmutig auf der Oberfläche des Flusses schwebt, leicht und vernünftig wie die Luft, ohne jeglichen Kontakt zu den Strudeln und Tiefenströmungen“, wie John Maynard Keynes in einer exemplarischen Beschreibung jener Generation gesagt hat.363 Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Interessen, Hoffnungen und Erwartungen dieses kleinen Kreises von Intellektuellen jedoch als Wegbereiter durchaus tiefer gehender Veränderungen: Allen voran gelingt es Kessler durch seine kulturelle Mittlertätigkeit (wie auch Bodenhausen und auf anderem Wege Rathenau), eine der Hauptfiguren der von Nietzsches Gedanken inspirierten ästhetischen Opposition gegen den Wilhelminismus zu werden. Dank dieser Opposition bildete sich allmählich eine Führungselite heraus, die nach dem endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg ihre Funktion voll entfalten sollte – wie die Parallelen in den Lebenswegen von Bodenhausen, der kurz vor seinem Tod im Jahr 1918 für das Amt des Reichskanzlers kandidierte, und Rathenau, Außenminister in der Weimarer Republik, sowie von Kessler selbst in den vielfältigen Formen seiner Mitarbeit an der Außenpolitik Rathenaus und Stresemanns deutlich zeigen. Im Übrigen beinhaltete der Gedanke der Begründung einer neuen Kultur, die Kessler mit seinen verschiedenen Projekten des neuen Weimar zu verwirklichen gedachte, an sich schon die Notwendigkeit des Experimentierens, woraus sich Parallelen zu einigen Veränderungen des Industrieapparats in dieser Zeit ergaben. So schrieb Kessler an Bodenhausen, als er ihn von van de Veldes Ruf nach Weimar informierte: Es wird eine Art von Kunstlaboratorium in den Dienst der Industrie gestellt, das die der Industrie sich stellenden künstlerischen Aufgaben und Probleme bearbeitet und ihr die Lösungen zur Ausbeutung überläßt; genau wie chemische Laboratorien ihr künstliches Indigo oder ihre Bremer Brenner. 364
Kesslers unermüdliche Organisationstätigkeit, die beständige Verdichtung des Netzes seiner weltumspannenden Kulturbeziehungen, sein Gespür für einzelne, oft flüchtige Augenblicke, in denen eine neue ästhetische Empfindung entsteht, und nicht so sehr das Interesse an einem organisch strukturierten, in sich abgeschlossenen Kunstobjekt sind mithin Anzeichen für eine umfassendere Veränderung, für jenen vielschichtigen Prozess, der „zur Großindustrie des Geistes führt“, so wie er „umgekehrt 363
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Vgl. J. M. Keynes, My early Beliefs, in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Bd. 10, Essays in Biography, London, MacMillan, 1972, S. 433 ff. E. von Bodenhausen – H. Kessler, Ein Briefwechsel 1894–1918, a. a. O., S. 66.
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die Industrie zum Geist, zur Politik, zur Beherrschung des öffentlichen Gewissens drängt“. 365 Sicher kann sich dieser Prozess in der abgehobenen Gedankenwelt im Weimar der ersten Jahre dieses Jahrhunderts noch nicht mit der Intensität entfalten, die Musil im Berlin der zwanziger Jahre so genau beobachten sollte. Dennoch zeigten sich schon damals die ersten Anzeichen jener strukturellen Veränderung und Dynamisierung der ästhetischen Botschaft, wie sie etwa das von Kessler und van de Velde 1911 ausgearbeitete Projekt eines Nietzsche-Denkmals belegt. Das Projekt sah bekanntermaßen vor, auf dem Hügel unterhalb des Nietzsche-Archivs einen kleinen Tempel, umgeben von einem Hain, zu bauen. In der Nähe sollte ein Stadion entstehen; eine Statue von Maillol vor dem Tempel sollte das apollinische Prinzip darstellen, während im Inneren Reliefs von Klinger im Wechsel mit Tafeln mit Sprüchen Nietzsches das Dionysische ausdrücken sollten. Ebenfalls im Innern sollte eine Nietzsche-Büste eine kleine Bühne zieren, zu der mehrere Treppen emporführten; dort hätten für ein Publikum von höchstens 250 Personen Nietzsche-Gedenkveranstaltungen, Konzerte und Schauspiele stattfinden können. Im nahegelegenen Stadion dagegen sollte ein Massenpublikum regelmäßig Turnveranstaltungen und sportlichen Wettkämpfen beiwohnen; zu besonderen Anlässen hätte man das Stadion auch für großangelegte Theateraufführungen oder Festspiele nutzen können. Abgesehen von den finanziellen Schwierigkeiten und der Ablehnung durch konservative und nationalistische Kreise, die die Ausführung behinderten, warf das Projekt erhebliche Probleme bei der künstlerischen und architektonischen Gestaltung auf, die ungelöst blieben. Es stellte eine Wende im Schaffen von van de Velde dar, der sich mit der Schwierigkeit konfrontiert sah, seine Bemühungen um eine Entmaterialisierung der Materie und eine Durchgeistigung der Werkstoffe durch Dominanz der Linie – wie noch in den grazilen Interieurs der Villa Silberblick erkennbar – weiterzuführen, um eine derart momumentale Anlage zu schaffen. Entsprechend zeigt die komplizierte Reihenfolge der Bauplanungsphasen den fast unvermeidbaren Kompromiss zwischen der Fortsetzung des eigenen experimentellen Vorgehens und der Anpassung an den damals in Deutsch-
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So beschrieb Robert Musil diesen Prozess im Mann ohne Eigenschaften (vgl. R. Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. von A. Frisé, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1978, Bd. II, S. 409). Zu einer geschichtlichen Bewertung dieses Prozesses vgl. die Diskussion über Rathenau als „system builder“ in T. Buddensieg u. a., Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin, Wagenbach, 1990; Vgl. außerdem E. Schulin, Der Biograph und sein Held. Harry Graf Kessler und Walter Rathenau in: Harry Graf Kessler: Ein Wegbereiter der Moderne, a. a. O.; P. Grupp, Harry Graf Kessler 1868–1937. Eine Biographie, München, Beck, 1995.
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land vorherrschenden akademisch-imperialen Neoklassizismus.366 Auch bei diesem Projekt findet sich also jene Ambivalenz wieder, die für Kesslers Nietzsche-Rezeption allgemein kennzeichnend war. Das Wissen um eine tief greifende ästhetische Erneuerung als Voraussetzung für eine authentische Beziehung zu Nietzsches Denken kollidiert in diesem Fall mit der oberflächlichen Forderung nach feierlichem Gedenken und mit einer neoklassizistischen Auffassung des griechischen Altertums. Dennoch darf über diesem Kompromiss nicht das stark innovative Potential des Projekts eines Nietzsche-Denkmals vergessen werden: In erster Linie sollte es eine neue Beziehung zwischen Kunst und Natur herstellen und entscheidend zur Landschaftsgestaltung und städtebaulichen Qualität Weimars beitragen. Über diese Funktion der land art hinaus zielte der Monumentalkomplex außerdem darauf ab, das Verhältnis von Kunst und Leben in einer völlig neuen Form zu gestalten. Die Erinnerung sollte weniger durch das Wort als vielmehr durch ein Kunstereignis wachgerufen werden, das sich vorwiegend des Tanzes, des körperlichen und gestischen Ausdrucks und der Musik bediente. Auch sollte der monumentale Charakter erst verdeutlichen, in welchen Formen jenes Kunstereignis sich vollziehen sollte: So gewann etwa für Hofmannsthal die Gedenkstätte, der er anfangs eher skeptisch gegenübergestanden hatte, eine ganz andere Bedeutung, als ihm der Freund mitteilte, dass Nijinsky bereits begonnen hatte, für Maillols Statue, die das apollinische Prinzip darstellen sollte, Modell zu stehen.367 In dieser Sicht der Kunst als „Happening“ erscheint auch die Verbindung des kleinen Tempels mit einem Stadion, das ein breiteres Publikum auf seine Weise direkt und mit lebendigem Interesse an dem Gesamtereignis teilhaben lassen sollte, nicht mehr so erstaunlich. Vom einzelnen Kunstobjekt wurde damit die Schönheit auf die zur Schau gestellte Körperlichkeit der Sportler und Turner, die an den Wettkämpfen im Stadion teilnahmen, übertragen. So sollte sich, wie Kessler meinte, die Schönheit und Kraft des Körpers offenbaren, „die Nietzsche als erster moderner Philosoph wieder mit den höchsten, geistigen Dingen in Verbindung gebracht hat“ 368. Ganz ähnliche Ideen hatte Kessler schon zwei Jahre zuvor in seinem wichtigsten Essay zu Hauptmanns Griechischem Frühling vertreten. Hauptmann sei es mit seiner Deutung der Funktion des Stadions in der griechischen Kultur als „herrlichstem Teil der griechischen Phantas366
367
368
Zu dieser Analyse des projektierten Nietzsche-Denkmals vgl. J. Krause, ‚Märtyrer‘ und ‚Prophet‘. Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende, Berlin/New York, de Gruyter, 1984, S. 199–210. Vgl. dazu Hofmannsthals Brief an Kessler vom 23.7.1911, in H. von Hofmannsthal – H. Kessler, Briefwechsel 1898–1929, a. a. O., S. 336. Vgl. ebd.
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magorie“ gelungen, ein grundlegendes Bedürfnis seiner Epoche aufzugreifen. In dieser Beziehung zwischen Körperlichkeit und geistiger Entwicklung, dieser Auffassung einer geistigen Kultur als „verfeinerter körperlicher Kultur“, die im griechischen Stadion ihre reinste Umsetzung fand, sah Kessler das wichtigste Vorbild für jene neue Epoche der Kultur, die zu schaffen Aufgabe der Moderne sein sollte, damit die tiefgreifende Krise des Geistes der letzten drei Jahrhunderte, „nachdem die Kraft des Christentums gebrochen war“ 369, überwunden werden konnte. Kesslers Hauptmann-Essay ist zudem einer der wichtigsten Belege für seine Nietzsche-Rezeption. Jene diesseitige Kultur, die einzige heute noch denkbare, die die Welt in ihrer ganzen Tragik als Verkettung von Tod und Leben, Sieg und Untergang akzeptiert und der es gleichzeitig gelingt, das Tragische durch die Heiterkeit umzuwerten, setzt nämlich (wie auch Kessler selbst ausdrücklich sagt 370) Nietzsches Auffassung der Tragödie und der körperlichen, geistigen und moralischen Kraft als Quelle der Heiterkeit voraus. Das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem bildet im Übrigen den Hintergrund von Kesslers gesamtem Aufsatz und seiner Charakterisierung der griechischen Vorstellungswelt als Hirtenphantasie: Seiner Meinung nach war die Fähigkeit, noch in den alltäglichsten Dingen eine Doppeldeutigkeit zu erkennen, sowie die Fähigkeit dieser Dinge, unbestimmte, ans Geheimnisvolle grenzende Stimmungen auszulösen, in Hauptmanns Beschreibung seiner Griechenland-Reise meisterlich wiedergegeben. Nietzsches Präsenz in diesem Essay Kesslers gewinnt eine noch größere Bedeutung, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert Kessler selbst ihm innerhalb einer Reihe von Aufsätzen zuwies, die in einer persönlichen Sicht „die moderne Welt, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren durch unsere und die vorhergehende Generation geschaffen worden ist“,371 erhellen sollten. Ebenso wurde der Beitrag auch von Bodenhausen aufgefasst: Als ein großes Versprechen; das Versprechen, das mir aus all Deinen Schriften klingt: mehr zu bringen. [...] Du versprichst hier einen Aufsatz über Rodin, über Hofmannsthal, über Shaw und Du mußt nun diese Versprechen halten, wenn Du es nicht mit uns verderben willst.372
369 370 371
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Vgl. H. Kessler, „Griechischer Frühling“, in: Künstler und Nationen, a. a. O., S. 179. Vgl. ebd., S. 177. Vgl. Kesslers Brief an Bodenhausen vom 03.7.1909, in: E. von Bodenhausen – H. Kessler, Ein Briefwechsel 1894–1918, a. a. O., S. 90. Vgl. ebd., S. 88–89 (Brief von Bodenhausen an Kessler vom 28.6.1909). Zu Kesslers Griechenland-Reise mit Hofmannsthal und Maillol im Jahr 1908 vgl. B. Stenzel, a. a. O., S. 124–134.
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Im Übrigen erschien Kessler das Phänomen einer Umwertung der Tragik, einer Wesensgleichheit von Tragödie und Komödie, die ihren Ursprung in der Heiterkeit hat, als durchgängiges Merkmal des zeitgenössischen Dramas – nicht nur bei Hauptmann, sondern auch bei Wedekind und Shaw. Nietzsches Einfluss war mithin bei der Bestimmung jenes weiteren Bedingungszusammenhangs der ästhetischen Moderne ausschlaggebend. Mit erstaunlicher Kontinuität taucht die Auffassung des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Kultur, die sowohl dem Aufsatz über Hauptmann als auch dem Weimarer Projekt eines Nietzsche-Denkmals zugrundelag, etwa zwanzig Jahre später in den interessanten Betrachtungen zur Siedlungsarchitektur und zu den neuen Tendenzen der Lebensreform wieder auf, die Kessler anlässlich der Reisen Aristide Maillols und André Gides nach Frankfurt und Berlin in den Jahren 1930 und 1932 anstellte. Angesichts des Erstaunens der französischen Gäste über die kühne Architektur und die neuen Lebensgewohnheiten mit einer immer deutlicheren Zurschaustellung körperlicher Schönheit fühlte sich Kessler bemüßigt zu erklären, dass es sich bei diesen Phänomenen nur um einen „Teil eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Lebensauffassung“ handele, die im Deutschland der ersten Nachkriegsjahre eine immer größere Verbreitung gefunden hatten. 373 Auslöser für diese Massenbewegung ist in seinen Augen das immer gleiche Bestreben: „Man wolle wirklich leben, Licht, Sonne, Glück, seinen eigenen Körper genießen.“374 Die neue Architektur der Siedlungen sei nicht einfach ein abstrakter ästhetischer Ausdruck, eine Form des ‚l’art pour l’art‘, sondern vielmehr konsequente Umsetzung jener „neuen Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens, die sich diese Lebensformen schaffe“. 375 Diese Beobachtungen Kesslers bilden das vielleicht originellste Kernstück seiner Nietzsche-Rezeption: Durch die freie Aufarbeitung einiger Gedanken Nietzsches gelang es ihm, eine tief greifende Veränderung der ästhetischen Dimension der Moderne intuitiv zu erfassen. Das Ausdruckspotential der künstlerischen Botschaft ließ sich nicht mehr auf ein einziges Objekt oder einen Text als in sich geschlossene Einheiten beschränken, es musste vielmehr Lebenselixier eines umfassenderen Prozesses der Kommunikation und gesellschaftlichen Emanzipation werden. Das unvollendete Projekt der Moderne musste seinen Wirkungsbereich
373
374 375
Vgl. dazu die Notiz vom 4. Juni 1930, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 661–662. Vgl. ebd. Vgl. dazu die Notiz vom 28.5.1932, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 708.
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über die bloße Rationalisierung ökonomischer und technischer Produktionsprozesse hinaus erweitern bis hin zur Auflösung der künstlerischen Botschaft in der strukturellen und funktionalen Schönheit der Gebrauchsgegenstände des Alltagslebens. 376 Über der Kontinuität in den gedanklichen Voraussetzungen für das geplante Nietzsche-Denkmal und in den Bemerkungen zum zeitgenössischen Funktionalstil der deutschen Stadtarchitektur in den Jahren 1930–1932 dürfen natürlich die tiefgreifenden Veränderungen nicht vergessen werden, die Kesslers politisch-kulturelle Positionen während des Ersten Weltkriegs durchmachten und die auch sein Verhältnis zu Nietzsche nachhaltig beeinflussten. Einer der wichtigsten Belege für diese Veränderungen findet sich im Tagebucheintrag vom 26. Januar 1919, wo er nach einer Aufführung von Hasenclevers Sohn – ein Stück, das ihm für eine „hysterisch-revolutionäre Stimmung“ typisch erschien – vermerkte: Und eines empfindet man auch bei diesem sehr brüchigen Werke: den Übergang der deutschen Intellektualität von einem fast reinen Kultur-Revolutionarismus, wie ihn Nietzsche und später in den neunziger Jahren unser Kreis in Kunst und Literatur vertrat, zum praktischen, politischen und wirtschaftlichen Radikalismus, dessen Extrem augenblicklich die Spartakusbewegung ist. Wer Ernst machen wollte mit unseren Forderungen, mußte wahrscheinlich diese Bahn beschreiten. Der Vorwurf des Ästhetizismus, der der Bewegung der neunziger Jahre gemacht wurde, war vielleicht berechtigt, insofern sie nicht mit genügender Energie diese politischen und wirtschaftlichen Folgerungen zog. Die deutschen Intellektuellen sind heute im Begriff, wieder einen politischen Glauben zu bekommen, möglicherweise einen Irrglauben, aber etwas konsequent aus den Verneinungen, Träumen und Erfahrungen der letzten dreißig Jahre Abgeleitetes, eine Doktrin, die sie erarbeitet haben: mag man sie der Bequemlichkeit halber Kommunismus nennen. Es fragt sich aber, ob und wieviel Kraft zur Tat, nicht bloß zu bewaffneten oder geistigen Putschen sondern zu fruchtbarem politischem und sozialem Aufbau dahintersteckt. Dieser Zweifel ist vielleicht, was uns gehemmt hat; zu einem Experiment war uns Deutschland zu gut. Allerdings war das das Deutschland von damals.377
In dieser Bemerkung scheint sich Kessler der Grenzen des Experiments eines ‚neuen Weimar‘ ebenso bewusst zu sein wie der Notwendigkeit, eine sozio-politische Grundlage für die ästhetische Opposition zu suchen, die seine Position im wilhelminischen Deutschland bestimmt hatte. Diese Neuorientierung wirkte sich auch auf sein Nietzsche-Bild aus, 376
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Zu diesem Prozess einer Auflösung der künstlerischen Botschaft verweise ich auf meinen Aufsatz Avantgarde und Postmoderne. Beobachtungen zur Krise des Expressionismus, a. a. O., S. 103–121. Vgl. die Notiz vom 26.1.1919, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 113–114. Zu Kesslers Veränderung während des Ersten Weltkriegs vgl. A. Kostka, a. a. O., S. 331–338.
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wie es vor allem 1921 in dem Aufsatz „Nietzsche und der Ewige Friede“, der als Beitrag zu einem Sammelband anlässlich des 75. Geburtstags von Elisabeth Förster-Nietzsche geplant war, zum Ausdruck kommen sollte. 378 Schon vorher hatte sich die Veränderung von Kesslers Verhältnis zu Nietzsche in seinem Aufsatz über den Gildensozialismus erkennen lassen, in dem er seine Gedanken zur Reorganisation einer funktionalen Demokratie entwickelt hatte. Diese neue Form der Demokratie erschien ihm am besten geeignet, seine von Nietzsche inspirierte aktivistische Auffassung der Freiheit umzusetzen, derzufolge Freiheit als notwendige Bedingung für eine beständige Regeneration der höchsten menschlichen Schaffenskraft zu verstehen war, die es von einer Sicht der Arbeit als bloßer Warenproduktion grundsätzlich zu unterscheiden galt.379 Die Zeit, die der Politik, dem aktiven Einsatz für gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen und dem friedlichen Wiederaufbau Europas nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet wird, nimmt in Kesslers Schaffen nunmehr eine wichtige Stellung ein, was auch einen Wandel in seiner Einstellung zu Nietzsche bewirkte. Der für 1921 geplante Aufsatz sollte daher eine organische Beschreibung der Beziehung zwischen Nietzsches Denken und seinen eigenen neuen Positionen als Demokrat und Pazifist liefern. Ausgangspunkt sollte der Aphorismus 284 von Der Wanderer und sein Schatten mit dem Titel „Das Mittel zum wirklichen Frieden“ sein. Nietzsche kritisierte darin den in Europa herrschenden bewaffneten Frieden und die ihm innewohnende Angriffslust sowie die willkürlichen Vorwürfe von Feindseligkeiten. Diesem Zustand eines bewaffneten Friedens setzte Nietzsche die Zukunftsvision einer freiwilligen Abschaffung eigener Militärstrukturen durch ein Volk entgegen, das den Gipfel seiner Macht erklommen hat. Obwohl Kessler keine eindeutige, klar begründete Interpretation leistete, ist es doch zweifellos sein Verdienst, in diesem Aphorismus einen entscheidenden Aspekt von Nietzsches Denken intuitiv erkannt zu haben: dass die Moral in dem Moment, da sie ihren Höhepunkt erreicht und die eigenen Grundlagen hinterfragen und deren grundsätzliche Fragwürdigkeit entdecken muss, sich selbst abschafft. Dieser Aspekt von Nietzsches Philosophie wurde zu einer von Kessler zutiefst erlebten inneren Erfahrung und führte zum Nachdenken über das Phänomen der Macht und die damit verbundenen Ziele. In diesem Zusammenbang sind einige Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der Niederschrift des Aufsatzes von Interesse. 378 379
Vgl. dazu R. Wollkopf, a. a. O., S. 137–138. Vgl. dazu H. Kessler, „Gildensozialismus“, in: Künstler und Nationen, a. a. O., S. 200–201.
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Sie wurden im Juni und Juli 1921 verfasst, als Kessler während eines RomAufenthaltes darauf wartete, vom Papst empfangen zu werden, um die Unterstützung der Kirche für den von ihm geplanten Bund der Nationen zu erhalten. Das Problem „der mit sich selbst, um sich selbst und um ihre eigene Rechtfertigung und Erlösung ringenden Macht“380 beschäftigt ihn in diesem Moment besonders stark und stellt einen ständigen Bezugspunkt dar, wenn er die Stadt besichtigt und z.B. Michelangelos Moses in San Pietro in Vincoli als Tragödie jener Macht interpretiert, die sich selbst mit einem Übermaß an Kraftaufwand hinterfragt. Nicht bloße Ablehnung der Macht, sondern vielmehr der Weg, der von Macht und Kraft zu Weisheit und Heiligkeit führt und damit zu einer in die Tiefe gehenden Sicht des Menschen: Dies erscheint Kessler als eine wesentliche Kraft der Geschichte und als Dreh- und Angelpunkt von Nietzsches Denken. Mit dieser neuen Auffassung der Macht überdenkt Kessler die erste Abhandlung der Genealogie der Moral, vor allem den letzten Abschnitt, in dem Nietzsche den Gegensatz zwischen römischer Kultur und Judentum, zwischen Adel und Ressentiment behandelt und darin den entscheidenden Faktor für das Aufkommen des frühen Christentums und die Auflösung des Römischen Reiches sieht. Aus seinem neuen Verständnis von Macht heraus hält Kessler es für notwendig, Nietzsches Sicht zu korrigieren. Die Macht selbst habe am Ende aus Unzufriedenheit wegen der ungeheuren Kosten, die die Konzentration der in ihr zusammenströmenden Kräfte verursachte, begonnen, sich über ihren Sinn und ihre Funktion zu befragen: Der ‚Sklavenaufstand‘ spielte bei der Ausbreitung des Christentums nur insofern eine Rolle, als er diesem Gefühl der Mächtigen einen geistigen Rückhalt bot. Aber das Wesentliche, das, was weltgeschichtlich wirkte, war nicht das Ressentiment der ‚Sklaven‘ (Juden), sondern die Enttäuschung der ‚Herren‘ (Römer), die mit der größten Machtanhäufung der Geschichte experimentiert und sie unfruchtbar gefunden hatten. Ohne diese Enttäuschung der Herren der Welt über die Früchte ihrer Macht wäre der christliche ‚Sklavenaufstand‘ ergebnislos verpufft wie so viele andre; nicht einmal die Evangelien und Paulusbriefe wären auf uns gekommen. Die obskure Sekte wurde weltgeschichtlich infolge der Enttäuschung der Mächtigen, die an den Früchten der Macht verzweifelten. Sie hatten erprobt, daß große Macht keineswegs notwendig den Menschen bereichert, daß aber hierauf allein alles ankommt. Die Bereicherung des Menschen, die Veredelung und Rettung seiner Seele erschien ihnen, gerade weil sie mächtig waren, aus ihren Erfahrungen von der Macht heraus, als das Wesentliche; deshalb (und nicht aus Ressentiment, nicht weil sie ‚Sklaven‘ waren, sondern gerade umgekehrt, weil sie ‚Herren‘, enttäuschte Herren waren) wurden sie Christen. 381 380 381
Vgl. die Notiz vom 23.6.1921, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 263. Ebd., S. 267 (Notiz vom 1.7.1921).
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In diesen Betrachtungen zur Genealogie der Moral lässt sich erneut jene typische Form von Kesslers Nietzsche-Lektüre erkennen, die schon für seine Beobachtungen zu Menschliches, Allzumenschliches kennzeichnend war: Wie damals richtete sich sein Interesse nicht auf ein ganzheitliches Verständnis von Nietzsches Denken; vielmehr griff er einzelne Abschnitte seines Werkes als wertvolle Anregungen auf, die er dann frei interpretierte und weiterentwickelte. Gerade deshalb erscheinen Kesslers Betrachtungen so interessant und bieten einen psychologischen Einblick, der für eine Beschreibung seiner Person und seiner vielfältigen Aktivitäten äußerst aufschlussreich ist. Die treibende Kraft der Geschichte schien ihm nämlich – zumindest in entscheidenden Momenten der Krise und des Übergangs wie während der Auflösung des römischen Reiches und der Verbreitung des frühen Christentums – jene geistige und intellektuelle Wachsamkeit zu sein, die die Machthaber dazu gebracht hatte, über sich selbst nachzudenken und die eigene Machtkonzentration leidenschaftslos und enttäuscht zu betrachten. Erst das Zusammentreffen dieser Enttäuschung über die eigene Macht mit dem ‚Sklavenaufstand‘ hatte seines Erachtens ein weltgeschichtliches Ereignis wie die Ausbreitung des frühen Christentums möglich gemacht. In einer ganz anderen historischen Situation, die von einer ähnlichen Wende in der Weltgeschichte gekennzeichnet war, sollte die Führungselite, der sich auch Kessler zugehörig fühlte, vergleichbare Betrachtungen über die Bedeutung der Macht anstellen und den verwirrenden Forderungen, die bei den neuen ‚Sklavenaufständen‘ laut wurden, entgegenkommen; nur dadurch ließen sich seiner Meinung nach die Grundlagen für ein neues, sinnvolles politisches und soziales Gefüge schaffen. In dem geplanten Aufsatz Nietzsche und der Ewige Friede wollte Kessler seine Betrachtungen über die Zielsetzungen der Macht wieder aufnehmen, um die Veränderungen zu untersuchen, die sich während des Ersten Weltkriegs vollzogen hatten. Dieser Konflikt hatte für ihn die Kriterien der Umverteilung und des Ausgleichs der Macht, die bis dahin in der Menschheitsgeschichte die Auseinandersetzungen zwischen kriegführenden Mächten bestimmt hatten, radikal verändert. Während nämlich alle früheren Konflikte mit der Zerstörung von Macht beim Verlierer und der Schaffung neuer Macht auf der Seite der Sieger endeten, hatte der Erste Weltkrieg nach Kesslers Ansicht gerade die Siegermächte zu Verlierern werden lassen und eine enorme Zerstörung angehäufter Macht bewirkt, ohne die Möglichkeit zu einem erneuten Ausgleich zu eröffnen. Diese grundlegende historische Veränderung sollte also jenem Prozeß der Selbstabschaffung der militärischen Macht den Weg bahnen, den Nietzsche in Der Wanderer und sein Schatten vorhergesagt hatte. Künftige Konflikte soll-
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ten nur noch auf einer höheren Ebene des rein geistigen und intellektuellen Wettstreits ausgetragen werden. Die in dem Entwurf des Aufsatzes von 1921 intuitiv erfaßten Perspektiven bilden bei genauem Hinsehen den Hintergrund für einige entscheidende Aspekte der großen Rathenau-Biographie, die Kessler 1928 veröffentlichte. Die Arbeit an dieser Biographie bot dem Autor eine einzigartige Gelegenheit zur kritischen Überprüfung und Neudefinition auch der eigenen Positionen. In dem Maße, in dem er sich selbst und sein eigenes politisches und geistiges Abenteuer in die Rekonstruktion der Persönlichkeit und des Wirkens Walter Rathenaus projizierte, wuchs auch seine Fähigkeit zur Introspektion in den komplexen Charakter, den es zu untersuchen galt. Zugleich macht gerade sie die bis zum heutigen Tag wirksame Faszinationskraft dieses Buches Kesslers aus. Das subtile Spiel spiegelbildlicher Bezüge zeigt sich auch darin, wie Kessler seine Überlegungen zur Macht und sein persönliches Verhältnis zu Nietzsche bei der Ausarbeitung des besonders wichtigen Kapitels Das Reich der Seele der Rathenau-Biographie einsetzte. 382 Thematischer Ausgangspunkt dieses Kapitels ist der Nihilismus, die Notwendigkeit, ein neues Ziel für die Existenz und den Menschen zu bestimmen; dieser Nihilismus konkretisiere sich in der modernen Gesellschaft als Herrschaft der Mechanisierung, der fortschreitenden Rationalisierung aller Bereiche der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens. So scheint ein unlösbarer Konflikt zwischen der immer notwendigeren Mechanisierung der modernen Gesellschaft und dem inneren Verlangen der Seele nach einem freien, kreativen Zustand zu entstehen, der sich nicht auf ein bloß momentanes Ausbrechen aus den starren Vorschriften einer streng intellektuellen Durchleuchtung jedes Lebensaugenblicks beschränkt. Die Überlegungen zur Enttäuschung der Macht als treibender Kraft der Weltgeschichte werden nun als Frage wieder aufgegriffen und auf Rathenau bezogen, gleichsam als geheimer Hintergedanke seiner Existenz und seiner vielfältigen Tätigkeiten: Der Wille zum Nichtwollen, zum Nicht-Widerstehen kann die Form sein, die der Wille zur Macht im ‚Furchtmenschen‘, im Schwachen, im innerlich Unsicheren annimmt, indem dieser gerade in der letzten Übersteigerung seiner negativen Eigenschaften, seiner Unsicherheit, seiner Schwäche, seiner Furchtstimmung, Macht sucht. War nicht bei christlichen Priestern, Kirchenfürsten, Heiligen, – war nicht erst recht bei den großen Kabbalisten ihre Demut, ihre Weltflucht, ihre Entsagung oft nur vergeistigter Machtwille? Und wäre nicht eine Weltepoche denkbar, in der diese Form des Machtwillens sich als die wirk382
Kessler wünschte, dass Elisabeth Förster-Nietzsche dieses Kapitel lesen könnte; vgl. dazu R. Wollkopf, a. a. O., S. 164.
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samste erwiese und daher verallgemeinerte; so daß dann die gewöhnliche Form, in der er sich äußerte, ‚Nichts wollen‘, Verinnerlichung, Sehnsucht nach Seele wäre? Und könnte dann nicht eine solche Weltepoche in der Tat hierdurch die Mechanisierung überwinden? Eine Weltepoche, in der die Mechanisierung als notwendiges Übel zur Versorgung der wachsenden Menschheit weiter ginge, aber die Macht denen zufiele, die der Seele dienten?383
Die Frageform dieses Abschnitts zeigt,wie sehr Kessler bestrebt ist, die Ambivalenz, die in verschiedenen Formen mehr als einmal in seinem Nietzsche-Bild zutage tritt, intellektuell zu überwinden. Einerseits betrachtet er einfach die Gegenüberstellung von fortschreitender Rationalisierung der modernen Welt und dem Streben nach einer neuen ‚Seele‘, nach einer intuitiven und kreativen Dimension des Lebens, die sich den systemimmanenten Imperativen der modernen Gesellschaft entzieht. Andererseits erkennt er eine mögliche Beziehung zwischen dieser kreativen Dimension und einem Entwicklungsprozess der mechanisierten Gesellschaft. Die ‚Seele‘ wird dabei als Prozess der Selbstabschaffung der Macht verstanden, der sich parallel zur zunehmenden, für das Überleben einer komplexen Gesellschaft notwendigen Mechanisierung vollzieht. So wird Rathenau in Kesslers Biographie zum bedeutendsten Vertreter einer politischen und intellektuellen Führungsschicht, der es bei aller Enttäuschung und nüchternen Betrachtung der Macht gelingt, das Projekt der Rationalisierung der Moderne voranzutreiben und um die geistigen Möglichkeiten einer Neubestimmung des Sinns des Daseins zu erweitern. Dieses aufschlussreiche Zusammentreffen von Nietzsche und Rathenau, vom Heroismus der tragischen Erkenntnis und der aktiven Betrachtung der tatsächlichen Wirklichkeit findet sich noch einmal am Schluss des Aufsatzes Der neue Menschentyp, den Kessler im März 1933 in der Neuen Rundschau veröffentlichte: Wir kommen also durch die nüchterne Untersuchung dessen, was in der Entwicklung als zwangsläufig sich erweist, zu einem Bild des künftigen deutschen Menschen, das dem prophetisch von Nietzsche und Walther Rathenau erschauten ähnlich ist: eines Menschen, der die Tatsache hinnimmt und bejaht, daß er, so wie Nietzsche sagt, gefährlich leben muß, eines Menschen, der, wie Rathenau es fordert, in einer ganz neuen Welt und zu ganz neuen Zwecken die heldischen Eigenschaften in sich wieder aufleben läßt, um es kurz zu sagen: eines Deutschen, der seinem Schicksal gewachsen ist.384
Aber das deutsche Schicksal nahm einen anderen Weg, weit entfernt von jener europäischen Dimension eines vergeistigten Heldentums, das in 383
384
H. Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, in: Gesammelte Schriften in drei Bänden, a. a. O., S. 115–116. H. Kessler, Der neue deutsche Menschentyp, in: Künstler und Nationen, a. a. O., S. 294.
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einer rationalisierten, radikal veränderten Welt nach Kesslers Vorstellung hätte überleben sollen. „Geheimnisvolles, undurchsichtiges Deutschland“ – so kommentierte er 1932 einen seiner letzten Besuche bei Elisabeth Förster-Nietzsche, nunmehr ‚mitten in der Politik‘, unmittelbar nach Hitlers Lobesworten während der Weimarer Uraufführung eines Theaterstücks von Mussolini, der Nietzsches Schwester seit einigen Jahren glühend verehrte. Anhand von Kesslers Tagebüchern lässt sich das immer offensichtlichere Bekenntnis des ehemaligen Nietzsche-Archivs zum Faschismus und Nationalsozialismus anschaulich verfolgen, von ersten deutschnationalen Sympathien über die Einladung Oswald Spenglers im Jahr 1927 bis zur unverhohlenen Unterstützung von Hitlers Bewegung. Angesichts dieser für ihn unverständlichen Wendung des offiziellen Deutschlands, das seine klassisch-romantische Tradition auf einmal vergessen hatte, zum Nationalsozialismus, erinnerte sich Kessler schließlich zu seiner eigenen Überraschung an seine Jugend und die ersten Besuche in der Villa Silberblick, als Nietzsche als „Revolutionär und fast ebensosehr vaterlandsloser Geselle wie die Sozis“ betrachtet wurde.385 Kesslers Nietzsche-Bild ist aber nicht nur ein wichtiger Beleg für jene leidbringende historische Peripetie, der die Nietzsche-Rezeption im Laufe ihrer inzwischen mehr als ein Jahrhundert andauernden Geschichte unterworfen war. Durch die lebendige Beschreibung des faszinierenden geistigen Klimas, wie Kessler es in seiner Weimarer Umgebung zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf, und die oft überraschenden Wandlungen in seinen Stellungnahmen zu Politik und Kultur, durch das weitgespannte Netz internationaler Bekanntschaften, das er aufbaute, und seine genaue Beobachtung der Ereignisse erinnert uns Kessler auch an die Möglichkeit, Nietzsches Denken in der Konstellation der kulturellen Moderne zu betrachten und einzuordnen – eine weitaus ergiebigere und lebendigere Möglichkeit als der oberflächliche, eigennützige Kult, den Elisabeth Förster-Nietzsche um das Andenken des Bruders zelebrierte.
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Vgl. die Notiz vom 7.8.1932, in: H. Kessler, Tagebücher 1918–1937, a. a. O., S. 724.
Kapitel 12 Nietzsche in der rue d’Ulm In dem letzten Vortrag vor seinem plötzlichen Tod bezeichnete Montinari die Recherchen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts als eine der bedeutendsten Aufgaben der neueren Nietzsche-Forschung. Es gelte, die These vom in der französischen Kultur und Literatur vorherrschenden Nietzscheanismus umzukehren, so seine Forderung, und statt dessen Nietzsches Lektüren und Interessen sorgfältig zu untersuchen, dank deren er die profunden Kenntnisse der französischen Literatur und Kultur der Jahrhundertwende erwarb, die seine spätere Wirkung in Frankreich vorbereiten sollten. 386 In einem früheren Beitrag hatte Montinari – als Beispiel für eine der zahlreichen Peripetien von Nietzsches Denken – an die besondere Geschichte der Formel „Pessimismus der Erkenntnis – Optimismus des Willens“ erinnert. Diese Formel wurde ursprünglich von Jakob Burckhardt geprägt und gelangte dann über Nietzsche, Malwida von Meysenbug und Romain Rolland bis zu Antonio Gramsci, für den sie schließlich zu einer Leitidee seiner Reflexion wurde 387. Die Untersuchung einiger Momente der frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich kann die Gesamtkonstellation erleuchten, in der sich diese sonderbare historische Peripetie vollzog. Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung führt uns zu Gabriel Monod, den Nietzsche noch vor dessen Heirat mit Olga Herzen im Jahr 1873 kennengelernt hatte. Durch seine Kontakte und seinen Briefwechsel mit Malwida von Meysenbug war Nietzsche von den Zweifeln und Ängsten unterrichtet, mit denen sie sich auf ihre schmerzliche Trennung von Olga vorbereitete, deren Entwicklung sie nach dem Tod von Natalie Herzen mit mütterlicher Sorge verfolgt hatte. Der Eindruck einer idealen Familie der freien Wahl, gleichsam im Schatten jenes Idylls in Tribschen, das im Jahr 1872 seinen Höhepunkt erreichte, erstreckt sich auch auf Nietzsches lebenslange tiefe Anteilnahme an Olga und Gabriel Monods Schicksal. Noch gegen Ende 1884 sprach er in einem Brief an Resa von Schirnhofer, 386
387
Vgl. M. Montinari, Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hg. von S. Bauschinger, S. L. Cocalis und S. Lennox, Bern/Stuttgart, Francke Verl., 1987. Vgl. dazu M. Montinari, Nietzsche, Roma, Editori Riuniti, 1996, S. 119–120.
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die damals in Versailles bei Frau Meysenbug und den Monods zu Gast war, fast sehnsüchtig von diesen „feineren, höheren Menschen“ mit ihren ausgesucht schönen Kindern (KSB 6, S. 564), von dieser ‚monodischen‘ Atmosphäre, in der auch er gern gewesen wäre. Einige Jahre zuvor, im Sommer 1877, einem der schwierigsten Momente für seinen prekären Gesundheitszustand, hatte er sehnlich auf das Wiedersehen mit Frau von Meysenbug und den Monods gewartet, die damals in der Schweiz Urlaub machten, und über den unerwarteten Besuch der Monods in Rosenlauibad hatte er sich besonders gefreut (vgl. KSB 5, S. 276). Dieser in Nietzsches Briefwechsel zum Ausdruck kommenden ungewöhnlichen inneren Verbundenheit mit den Monods, denen er eine seiner musikalischen Kompositionen zur Hochzeit geschenkt hatte, entsprach indes kein gleichwertiger geistiger Austausch. Im Jahr 1875 war eine anonyme Besprechung der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung in der „Revue critique d’histoire et de littérature“ erschienen, die vermutlich von Gabriel Monod stammte (vgl. KSB 5, S. 22). Dem Verfasser zufolge war Nietzsches heftige Polemik gegen die deutschen Universitäten und Gelehrten übermäßig und ungerechtfertigt, seine polemische Übertreibung habe ein angemessenes Verständnis von Schopenhauers Denken verhindert. Gerade Monod hatte seine gesamte Arbeit als Historiker auf der Wiederaufnahme der Forschungsmethoden der deutschen Historiographie des Mittelalters aufgebaut, und die Organisation der deutschen Universitäten stellte seiner Ansicht nach das wichtigste Bezugsmodell für die Reform der französischen Universitäten und Forschungsanstalten dar, deren Dringlichkeit die Niederlage von 1871 dramatisch gezeigt hatte und deren überzeugter Verfechter und Förderer er werden sollte. Das kann die Distanz zu Nietzsches Thesen erklären, die aus der Rezension spricht. Zugleich unterschied der Verfasser zwischen der dritten Betrachtung und den beiden vorherigen. Ein ferner Anklang an die zweite Unzeitgemäße Betrachtung, die Monod gern auf französisch verbreitet gesehen hätte (vgl. KGB II/6, 58), findet sich wahrscheinlich in der Unterscheidung einer kritischen, einer philosophischen und einer schöpferischen Historiographie, die er zur Charakterisierung seiner Lehrer Renan, Taine und Michelet herangezogen hatte. 388 Zweifelsohne war diese negative Besprechung von Monod mitverantwortlich dafür, dass die sorgfältige französische Übersetzung der dritten 388
Vgl. dazu G. Monod, Les maîtres de l’histoire. Renan, Taine, Michelet, Paris, 1895, S. VII–VIII. Zu Monods Werk und Persönlichkeit vgl. B. Harrison, Gabriel Monod and the Professionalization of History in France (1844–1912), University of Wisconsin, 1972. Zu Monods Verhältnis zu Nietzsche vgl. J. Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe siècle au temps présent, Paris, Presses Universitaires de France, 1999, S. 45–49.
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Unzeitgemäßen Betrachtung, die Marie Baumgartner in demselben Jahr vollendet hatte, nicht veröffentlicht wurde. Trotzdem blieb Nietzsches Hochachtung für Monod davon unberührt, und sein Name wird in der Liste der Empfänger von Nietzsches Werken fast regelmäßig verzeichnet. Außerdem las Nietzsche im Jahr 1879 mit Interesse Monods Büchlein Les beaux-arts à l’exposition universelle (1867–1878) (vgl. KSB 5, S. 430). Schwieriger erscheint die Rekonstruktion von Monods Haltung Nietzsche gegenüber, die ganz sicher durch eine gewisse geistige Ferne geprägt war – was allerdings nicht verhinderte, dass er zur frühen Verbreitung von Nietzsches Werken in den intellektuellen Zirkeln in Paris beitrug: Beispielsweise erwähnt Jean Bourdeau seinen „Meister und Freund Monod, der ihm soeben ein Exemplar vom Fall Wagner geschickt habe“, in seinem ersten Brief an Nietzsche vom 27. Dezember 1888 (vgl. KSA 15, S. 207). Auch ist nicht auszuschließen, dass Nietzsches Werk gerade durch Monod, der mit Anatole France befreundet war, im Salon von Mme Strauss Eingang fand, wo die früheste französische Rezeption seines Denkens von Seiten Daniel Halevys und seiner Freunde ihren Anfang nahm. Erstaunlich erscheint dagegen, dass Monod Nietzsche seinen eigenen Schülern gegenüber nie erwähnte: Romain Rolland entdeckte Nietzsche z. B. erst Ende 1891 durch den berühmten Aufsatz von Theodor de Wyzewa; Charles Andler erinnert daran, dass Monods erste Andeutungen zu Nietzsche erst im Jahr 1889 nach der Studienreise von Lucien Herr nach Deutschland und Russland fielen 389. Einige Aspekte von Monods Charakter, wie er etwa aus Rollands Briefwechsel hervorscheint, lassen vermuten, dass er dieses Schweigen vor allem aus Rücksicht und Zurückhaltung bewahrte. Die durch Malwida von Meysenbug vermittelte Bekanntschaft mit Nietzsche gehörte nach Monods Ansicht in seine Privatsphäre, so dass er sie nicht mit seiner öffentlichen Rolle als Historiker und Lehrer vermischt sehen und sich erst recht nicht dieser indirekten Beziehung zu dem Philosophen rühmen wollte. Eine eingehendere Darstellung seiner Persönlichkeit und die Rekonstruktion des dichten Netzes seiner Beziehungen zur politischen und geistigen Pariser Gesellschaft durch eine erneute Untersuchung seines Nachlasses 390 könnte fraglos zur genaueren Klärung von Monods möglicher Funktion in der frühen Nietzsche-Rezeption beitragen. Es sollte dabei auch nicht übersehen werden, dass Monod keine zweitrangige Rolle unter den ersten Dreyfus-Anhängern spielte. Noch im Jahr 389 390
Vgl. Ch. Andler, La vie de Lucien Herr, Paris, Maspero, 1977, S. 57. Zu diesem Nachlass, der von Gabriel Monods Tochter verwaltet wurde, vgl. B. Harrison, a. a. O.
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1906 wurde die Stellungnahme von Jean Jaurès und Lucien Herr während der ersten Marokko-Krise durch einige Informationen über Bülows Politik beeinflusst, die sie durch Laura Minghetti, eine enge Freundin von Frau Meysenbug, erhielten und die wahrscheinlich durch Monod vermittelt waren. 391 Dies sind lediglich einige Symptome für die Bedeutung und die Funktion, die Gabriel Monod in der Pariser Gesellschaft seiner Zeit ausübte. Für die Frage der frühen Nietzsche-Rezeption ist vor allem ausschlaggebend, dass Malwida von Meysenbug durch Monod sichtbar wurde und in ihr ein zumindest ideelles Kettenglied gefunden werden konnte, durch das einige entscheidende Momente von Nietzsches Leben aus erster Hand bezeugt und überliefert wurden. Angesichts dieser Tatsache bezieht sich die Funktion Monods in der frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich vor allem auf zwei Episoden: zum einen auf den langen Rom-Aufenthalt Romain Rollands in den Jahren 1890–1891, mit dem er seine Studien an der École Normale abschloss und der ihm die Gelegenheit zu häufigen Besuchen bei Frau Meysenbug bot, die ihm entscheidende Anregungen für seinen Schriftstellerberuf lieferte; zum anderen auf die bedeutende Rolle, die Monod bei der verlangten Revision des Dreyfus-Prozesses spielte und die daraus resultierenden engen Beziehungen zu Lucien Herr, Charles Andler und dem intellektuellen Milieu der Dreyfus-Anhänger an der École Normale. Dem Anschein nach hat Rollands Rom-Aufenthalt nichts mit der Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Frankreich zu tun, denn er wiederholte mehrmals, er habe Nietzsche erst nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahr 1891 durch de Wyszewas Aufsatz entdeckt. 392 Noch 1897 brachte er seine Ablehnung des beginnenden Nietzscheanismus in den Pariser intellektuellen Kreisen in einem Brief an Malwida von Meysenbug mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck: Nietzsche est de plus en plus à la mode ici. Le plus jeune fils de Ludovic Halévy, Daniel, qui fait paraître dans le prochain numéro de la Revue de Paris un article sur les rapports de Nietzsche et Wagner, a même l’intention de faire le voyage de Rome, en partie pour vous voir et recueillir vos souvenirs sur son héros [...] Je vous assure que je n’ai rien inventé de ce que je vous ai dit sur le „néoantiwagnérisme‘; il est courant aujourd’hui dans le monde des jeunes littérateurs, à la Revue Blanche et au Mercure de France. Pour moi, tout ce que j’ai lu dans ces
391 392
Vgl. dazu Ch. Andler, a. a. O., S. 207. Vgl. R. Cheval, „Romain Rolland & Nietzsche“, Association des Amis de Romain Rolland (Bulletin Nr. 42, Dezember 1957).
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derniers temps de Nietzsche, au sujet de Wagner, m’a inspiré une aversion insurmontable. 393
Der Brief lässt Rollands Distanz gegenüber Nietzsche und seine fortdauernde Verehrung für Wagner erkennen, die etwa zehn Jahre zuvor begonnen hatte und die ihn zusammen mit Frau von Meysenbug am Ende seines Rom-Aufenthalts nach Bayreuth geführt hatte. Er liefert zudem einen interessanten Hinweis auf die Bedeutung, die Monods und Rollands erstem Aufenthalt in Rom für die Geschichte der frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich zukam: Wie aus dem Brief hervorgeht, erkannten die an Nietzsche interessierten intellektuellen Zirkel in Paris, dass sie durch Monod und den jungen Rolland eine direkte Verbindung mit der alten Idealistin herstellen konnten, die mit Nietzsche und Wagner befreundet gewesen war und einigen entscheidenden Momenten in deren Leben und deren künstlerischer und philosophischer Entwicklung beigewohnt hatte. Aus einem Brief von Rolland an Sofia Bertolini GuerrieriGonzaga erfahren wir z. B., dass Léon Blum im Jahr 1902 die Absicht hatte, Rom zu besuchen und Malwida von Meysenbug und ihren Kreis kennenzulernen. 394 Auf die Bedeutung, die dieser Möglichkeit direkter Kontakte mit einer Zeugin von Nietzsches Leben für bestimmte Aspekte der französischen Nietzsche-Rezeption zukommt, werde ich weiter unten eingehen. Auch Rollands Verhältnis zu Nietzsche blieb davon nicht unberührt. Auch wenn er Nietzsche nicht durch Frau Meysenbug entdeckte, konnte er doch während seines Rom-Aufenthalts, der für sein eigenes Schicksal als Schriftsteller und für die Entstehung von Jean-Christophe ausschlaggebend war, einige Erfahrungen machen, die schon Nietzsche während seines Winters in Sorrent im Jahr 1877 mit Malwida von Meysenbug, Paul Rée und Albert Brenner durchlebt hatte. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint Rollands großer Roman als Ergebnis einer Verschmelzung zwischen dem von der Meysenbug geerbten humanitären Idealismus und Wagnerismus und seiner entscheidenden Erneuerung durch einen von Nietzsche hergeleiteten heroischen Individualismus. Die Begegnung mit der Musik von Richard Strauss, dem Rolland im Jahre 1899 einen wichtigen Aufsatz in der Revue de Paris widmete – in deren Redaktion Lucien Herr damals eine wichtige Funktion innehatte –, wurde für Rolland zum Anlass für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Nietzsche. Insbesondere weist die Charakterisierung des ‚Übermenschen‘, wie sie in Straussens symphonischer Dichtung Zara393 394
R. Rolland, Choix de lettres à Malwida von Meysenbug, Paris, Albin Michel, 1948, S.211. Vgl. dazu Chère Sofia. Choix de lettres de Romain Rolland à Sofia Bertolini GuerrieriGonzaga, Paris, Albin Michel, 1959.
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thustra Ausdruck fand, auf eine Auffassung hin, die sich in Jean-Christophe voll entfaltete. Nach Rolland hängt Straussens Auffassung des ‚Übermenschen‘ nicht unmittelbar von Nietzsche ab, weil darin „des idées purement humaines, et qui ne sont point la propriété d’un système de philosophie“ gegeben seien; dank dieser Auffassung habe der deutsche Musiker „les différentes étapes du développement que travers un esprit libre pour arriver à l’Übermensch“ dargestellt. Dieser höhere Zustand der Menschheit decke sich mit dem „flot de vie débordante, la fièvre de joie qui fait tourbillonner ces mondes“, d. h. mit der erhabenen Auffassung des Lachens als „maître du monde“. Nach Rolland gipfelt die heroische Befreiung des Menschen in der „dance bienheureuse, la ronde de l’univers, où entrent tous les sentiments humains: croyances religieuses, désirs inassouvis, passions, dégoût et joie“. 395 In seiner späteren künstlerischen Entwicklung versuchte Rolland, diese Auffassungen mit eigenen Mitteln zu verwirklichen und sie zugleich aus der gefährlichen Unruhe und den hegemonischen Machtträumen zu befreien, die seines Erachtens die Politik und Kultur des damaligen Deutschlands kennzeichneten. Jedenfalls war die Abfassung von JeanChristophe von einer erneuten eingehenden Auseinandersetzung mit Nietzsches Werken begleitet, wie der Briefwechsel vom Jahrhundertbeginn mit André Suares und Sofia Bertolini Guerrieri-Gonzaga zeigt, die der Schriftsteller in Rom bei Frau von Meysenbug kennengelernt hatte. Die besondere Verschmelzung von Meysenbugs Idealismus mit dem heroischen Individualismus, die Sensibilität für die versteckte Symphonie der Weltgeschichte mit ihrem Wechsel von Leid und Freude trugen dazu bei, dass Jean-Christophe als Generationsroman rezipiert wurde und einen starken Widerhall in der damaligen europäischen Literatur fand. Durch Rollands Verhältnis zu Prezzolini und zum Kreis um die Zeitschrift La Voce übte der Roman z. B. einen nachhaltigen Einfluss auf die italienische Kultur bis hin zu Antonio Gramsci aus, der ein eifriger Leser von Rollands Werken war. Vor allem durch die Vermittlung des Schriftstellers und Politikers Henri Guilbeaux, der u. a. eine Sammlung von Nietzsche inspirierter deutscher Lyrik herausgab, wurde der Roman während des Ersten Weltkriegs zum Bezugspunkt der europäischen Linken. Er wurde von Rosa Luxemburg leidenschaftlich gelesen, und selbst Lenin hätte gern seinen Verfasser als geistigen Vertreter des revolutionären Russlands in Moskau bei sich empfangen. Diese Bedeutung als Generationsroman gewann Jean-Christophe durch seine ursprüngliche Veröf395
Vgl. Richard Strauss et Romain Rolland. Correspondance. Fragments de Journal, Paris, Albin Michel, 1950.
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fentlichung in den von Charles Péguy herausgegebenen Cahiers de la Quinzaine dank der Vermittlung von Lucien Herr; durch Péguy, dem der Schriftsteller 1943 eine breitangelegte, als Rekonstruktion einer kulturellen Gesamtkonstellation sehr wichtige Monographie widmete, konnte Rolland Daniel Halévy kennenlernen, der die Vollendung des Romans mit der Veranstaltung eines großen Literaturabends feiern wollte396. In Halévys Nietzsche-Biographie fand Rolland ein Echo der in Rom bei Frau von Meysenbug erlebten Stimmung, wie er in einem Brief an Sofia Bertolini Guerrieri-Gonzaga erklärte 397; er hatte Halévy einige Briefe, die er von Malwida von Meysenbug erhielt, zur Verfügung gestellt 398. Wie schon angedeutet, wollte Halévy Frau von Meysenbug in Rom besuchen. Sicher ist jedenfalls, dass er – dank der Erinnerungen und Zeugnisse von Malwida von Meysenbug – als erster begründete Zweifel an der Darstellung der Begegnung zwischen Nietzsche und Lou Salomé anmeldete, die Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrer Biographie gegeben hatte. Die verärgerte Reaktion von Elisabeth Förster-Nietzsche ließ nicht auf sich warten. Sie versuchte sofort, wenngleich erfolglos, André Gide, den sie im Jahr 1903 durch Harry Graf Kessler in Weimar kennengelernt hatte, zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Halévys Buch zu bewegen.399 Noch Charles Andler erkannte Halévys Bemühungen um eine präzisere Darstellung von Salomés Persönlichkeit an und fügte hinzu, er habe eine weitere Quelle benutzt, um Nietzsches Begegnung mit Lou Salomé in ihrer wirklichen Entwicklung zu rekonstruieren. Es handelte sich um das Zeugnis von Ellen Key, die eine tiefe Freundschaft mit Lou Salomé verband. 400 Sehr wahrscheinlich hatte Andler die Verbindung zu Ellen Key über Gabriel Monod oder Romain Rolland hergestellt. Ellen Key war eine große Bewunderin von Malwida von Meysenbug gewesen, hatte zur Verbreitung der Memoiren einer Idealistin in Schweden entscheidend bei396
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398 399
400
Über diese Absicht von Halévy informierte Jean-Richard Bloch seinen Freund Romain Rolland; vgl. Deux hommes se rencontrent. Correspondance entre Jean-Richard Bloch et Romain Rolland, Paris, Albin Michel, 1964. Vgl. dazu Chère Sofia. Choix de lettres de Romain Rolland à Sofia Bertolini GuerrieriGonzaga, a. a. O., S. 48. Vgl. dazu D. Halévy, Le travail du Zarathoustra, Paris 1909, S. 43. Zu dieser Reaktion von Elisabeth Förster-Nietzsche auf die Veröffentlichung der Biographie von Halévy vgl. C. E. Forth, Zarathustra in Paris. The Nietzsche-Vogue in France (1891–1914). Ich danke dem Verfasser für die Möglichkeit, das Manuskript seines Werkes zu lesen. Vgl. dazu Ch. Andler, La maturité de Nietzsche (jusq’à sa mort), Paris, Gallimard, 1959, S. 438. Erwähnenswert erscheint mir der Briefwechsel zwischen Lenin und Inès Armand über die Themen dieses Werkes von Ellen Key, auf den ich in meinem Aufsatz Eine historische Peripetie von Nietzsches Denken: Lenin als Nietzsche-Leser?, a. a. O., hingewiesen habe.
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getragen, und Monod hatte ein Vorwort zur französischen Ausgabe ihres Buches De l’amour et du mariage geschrieben. Auch Rolland hatte durch die gemeinsamen Erinnerungen an Malwida von Meysenbug Kontakte zu Ellen Key geknüpft, die ihrerseits seinen Roman Jean-Christophe sehr schätzte. Die indirekte Präsenz Malwida von Meysenbugs in der frühen französischen Nietzsche-Rezeption durch die Vermittlung von Gabriel Monod hinterließ somit dauerhafte Spuren: Andler vermochte einerseits durch seine Beziehungen zu Ida Overbeck und Carl-Albrecht Bernoulli, die er dank seiner Mitarbeiterin Talayrach d’Eckardt geknüpft hatte 401, andererseits durch das Verhältnis zu Meysenbugs ideellem Erbe – auch wenn er es sehr kritisch betrachtete – einige entscheidende Momente von Nietzsches Leben und Denken jenseits der verfälschenden Darstellungen von Elisabeth Förster-Nietzsche genauer nachzuzeichnen. Das dichte Beziehungsgeflecht, das man ausgehend von Rollands Rom-Aufenthalt rekonstruieren kann, lässt auch bereits etwas von der Bedeutung des zweiten Kapitels von Monods Einfluss auf die frühe Nietzsche-Rezeption in Frankreich ahnen. Gabriel Monod war unter den ersten überzeugten Vertretern der These von Alfred Dreyfus’ Unschuld. Bekanntlich spielte die École Normale, an der Monod lehrte, vor allem durch Lucien Herr, einst Monods Schüler und später fast mythischer Bibliothekar in der rue d’Ulm sowie einer der Hauptvertreter des damaligen französischen Sozialismus, eine sehr wichtige Rolle für die Forderung nach einer Revision des Prozesses gegen Dreyfus.402 Herr, der mit Charles Andler eng befreundet war, überzeugte Jean Jaurès von der Notwendigkeit, für Dreyfus einzutreten, und wurde zum versteckten Regisseur der engen Verknüpfungen zwischen Politik und Kultur, die die Entwicklung der Affaire wesentlich prägten – weshalb darin oft der eigentliche Zeitpunkt der Entstehung des modernen, engagierten Intellektuellen gesehen wurde. 403 Auf diese politische und kulturelle Atmosphäre führt die große Nietzsche-Monographie von Andler ursprünglich zurück. Zwar widmete er dem deutschen Philosophen erst im Jahr 1903 seine ersten Vorlesungen, doch hatte er bereits 1895, als er Maître de conférences an der École Normale wurde, eine Besprechung von Steiners Nietzsche-Buch veröffentlicht, die von einer profunden Kenntnis der philosophischen Entwicklung 401
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Vgl. A. Venturelli, „Aspekte und Probleme der frühen Nietzsche-Rezeption: Charles Andler und Lucien Herr“, in Nietzsche-Studien, Bd. XXIX, 1997. Zu Werk und Persönlichkeit von Lucien Herr vgl. D. Lindenberg und P. A. Meyer, Lucien Herr. Le socialisme et son destin, Paris, Calmann-Lévy, 1977. Vgl. dazu Ch. Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main, Fischer, 1996.
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Nietzsches zeugt. 404 Nach eigener Aussage hatte Andler in einem Gespräch mit Gabriel Monod im Jahr 1889 erstmals von Nietzsche gehört. Sicherlich richteten sich die bedeutendsten gemeinsamen Interessen von Andler und Herr damals noch nicht auf eine systematische Beschäftigung mit Nietzsches Denken; die wichtigsten Themen ihrer Untersuchungen und ihrer breitgefächerten publizistischen Tätigkeit in den neunziger Jahren waren die Vertiefung von Hegels Dialektik und ihrer Fortentwicklung in der späteren deutschen Philosophie, die Auseinandersetzung mit Karl Marx und der sozialistischen Tradition, die Analyse des deutschen Staatssozialismus und die aufmerksame Beobachtung der Bismarckschen Sozialpolitik. Dennoch müssen bereits damals aus Nietzsches Denken stammende Anregungen im Umlauf gewesen sein und diesen entscheidenden Moment der Marx-Rezeption in Frankreich begleitet haben. Andlers oben erwähnte Besprechung ist ein Symptom dafür, und Jaurès wies schon im Jahre 1896 in einem Artikel zur Esthétique socialiste auf Nietzsche hin. 405 Ein direkter Einfluss von Nietzsches Denken auf die Entstehung des engagierten Intellektuellen während der Dreyfus-Affäre kann dokumentarisch nicht zuverlässig nachgewiesen werden, doch gibt es einen überraschenden Parallelismus zwischen dem dichten Netz geistiger Beziehungen, die Herr seit 1897–98 zugunsten von Dreyfus schuf, und der ersten Verbreitung von Nietzsches Werken in Frankreich. Bereits 1892, während seines einzigen Studienjahres an der École Normale, hatte Léon Blum eine fruchtbare Freundschaft mit Lucien Herr geschlossen, der ihn nach Jaurès’ Tod zur offenen politischen Tätigkeit antrieb. Tatsächlich wurde die spätere Volksfront-Politik oft als ideelles Erbe von Herrs Einheitsbestrebungen interpretiert. Durch Blum stellten die Schüler des Lycée Condorcet und Besucher des Salons von Mme Strauss – namentlich Daniel Halévy, Robert Dreyfus und Marcel Proust – Beziehungen mit dem intellektuellen Kreis um die rue d’Ulm her. Diese Beziehungen wurden durch Halévys Freundschaft mit Charles Péguy vertieft. Vor seinem aufsehenerregenden Bruch mit Lucien Herr und Jean Jaurès war Péguy unter den wichtigsten Mitarbeitern von Herr und den Hauptvertretern seiner Positionen gewesen und hatte eine wichtige Funktion in der Dreyfus-Affäre inne. Mit Daniel Halévy und Charles Péguy war auch George Sorel damals befreundet, der zu Jahrhundertbeginn ein fleißiger Leser von Charles Andler war und
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Andlers Besprechung von R. Steiner, Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit erschien in der „Revue critique“, Nr. 51, 1895. Dieser Artikel von Jean Jaurès erschien in: „Le Matin“ vom 21. Oktober 1896, jetzt in Jaurès, Libertés, Paris, Études et Documentation Internationales, 1987, S. 123.
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in durchaus nicht oberflächlichem geistigen Austausch mit ihm stand, wie aus seinem umfangreichen Briefwechsel mit Benedetto Croce hervorgeht. 406 Heute ist es nicht leicht zu verstehen, dass Personen, die später oft auf entgegengesetzten Gebieten wirkten, in den Jahren zwischen 1897 und 1900 an diesem gemeinsamen politisch-kulturellen Klima teilhatten, das in der französischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterließ. Unzweifelhaft hatten aus Nietzsches Denken stammende Anregungen einen mindestens indirekten Einfluss auf die starke ethische Spannung und den Antrieb zu einer entschiedenen geistigen Erneuerung, die mit der Mobilisierung der öffentlichen Meinung und der Intellektuellen zugunsten von Dreyfus einhergingen. Gleichzeitig trug die Schaffung dieses dichten Netzes geistiger Beziehungen um die Dreyfus-Affäre zur beschleunigten Verbreitung von Nietzsches Ideen in der französischen Kultur bei. Ein rückblickendes lebendiges Zeugnis dieser geistigen Atmosphäre bleibt in den Souvenirs sur l’affaire, die Léon Blum im Jahr 1935 schrieb, worin dieselben Stimmungen wiedergegeben wurden, die Proust in seinem Jean Santeuil dargestellt und später fast mit denselben Worten Bloch als Dreyfus-Anhänger in der Recherche zugeschrieben hatte. Die von Proust während der Affaire beobachteten menschlichen Haltungen fanden ihre wichtigste Ursache im stetigen Schwanken zwischen den Ebenen der Erfahrung und der Einbildungskraft. Zugleich zeugten sie vom Streben nach einer wahrhaftigen Ehrlichkeit, von dem Versuch, eine tiefere Wahrheit jenseits aller Meinungsschwankungen und wechselnden Ideen auszumachen, die das Wesen der Natur, nicht das flüchtige Spiel der menschlichen Anstandsregeln beträfe. 407 Gerade auf diese Überwindung leerer Konventionen und auf diesen Drang zu einer genauen Untersuchung der menschlichen Handlungen und Motivationen hat Nietzsche womöglich einen Einfluss gehabt. Ein bedeutendes Zeugnis für diese Lesart stellt Léon Blums interessanter Vortrag über Ibsen aus dem Jahre 1912 dar. Er wollte darin einfach als Vertreter einer Generation sprechen, die als erste den Einfluss von Ibsen und Nietzsche erfahren habe, und beschloss seinen Vortrag mit einem Vergleich zwischen beiden Autoren.
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Durch die Vermittlung von Marcel Drouin stand auch André Gide in indirekter Verbindung mit dem Kreis um die rue d’Ulm. Vor seinem Übertritt zum Katholizismus und bevor Charles Péguy einen starken Einfluss in diesem Sinne auf ihn ausübte, war Jacques Maritain ein Anhänger von Jaurès und Verfechter sozialistischer Ideen gewesen und hatte Nietzsche gelesen. In Les Guermantes vertritt Bloch während einer Konversation im Salon von Mme Villeparisis einige Ideen über die Dreyfus-Affäre, die schon Jean Santeuil mit sehr ähnlichen Worten ausgedrückt hatte.
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Nach Blum hatte Ibsen ein höheres, fast dionysisches Glück geahnt, seine tatsächliche Verwirklichung im alltäglichen Leben jedoch für unmöglich gehalten; für Ibsen „la liberté, le bonheur, la joie de vivre sont pour l’élite“. Diese Antwort auf das Problem des menschlichen Glücks zeigt nach Blum tiefe Ähnlichkeiten mit Nietzsches Gedanken: Vous savez comment Nietzsche résout le conflit: il maintient sous la contrainte de la société actuelle, dans la morale du devoir, de la compression, de l’abnégation, la grande majorité des hommes, cela afin d’assurer l’ordre sociale. D’autre part, il libère les individus d’élite afin de leur assurer leur plein bonheur et le mode de développement individuel dont ils sont seuls dignes. Ainsi, il y aurait une morale pour les maîtres, une morale pour les esclaves, et le bonheur, au sens d’Ibsen et de Nietzsche serait possible, mais pour une minorité choisie. Le bonheur et la liberté deviendraient en quelque sorte des privilèges. Cela est, à mon avis, plus triste, plus blessant et plus dangereux que tout.408
In dieser von Blum vorgeschlagenen Interpretation eines möglichen Verhältnisses zwischen Ibsen und Nietzsche deutet sich bereits die von den Dreyfus-Anhängern in der rue d’Ulm vertretene Auslegung an, die eine Verbindung zwischen Sozialismus und Nietzscheanismus ermöglichte. Nietzsche hatte die bedeutendste Möglichkeit für eine volle Entfaltung des individuellen Lebens aufgezeigt, er hatte das unumgängliche Modell einer vollständigen Befreiung des Lebens von jeder Konvention, von jeder Lüge und jedem autoritären Wert geliefert. Was Nietzsche aber nur für eine beschränkte geistige Elite bestimmt hatte, sollte der Sozialismus durch unermüdliche Bildungsanstrengungen und eine tief greifende soziale Umwälzung für die gesamte Menschheit sicherstellen. In diesen Auffassungen sind Grundzüge eines utopischen Programms zu gewahren, auch wenn die daraus abgeleitete Politik und das mit ihnen verbundene geistige Projekt dank eingehender Analysen der sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Tendenzen ein Modell von Sozialismus umsetzen wollte, das der Absicht nach nicht abstrakt bleiben und sich den Erfordernissen einer demokratisch gegliederten Gesellschaft und einer komplexen Wirtschaft anpassen sollte. Am Ende seiner Andler-Biographie liefert Ernest Tonnelat eine sorgsame Analyse dieses möglichen Verhältnisses zwischen Sozialismus und einer historisch vertieften Betrachtung von Nietzsches Denken. Nach Tonnelats Ansicht „pour Andler il n’y avait pas nécessairement opposition entre la cité socialiste, telle qu’il la concevait, et la future société d’homme supérieurs dont rêvait Nietzsche“, denn er habe den Sozialismus aufgefasst als 408
Der Vortrag über Ibsen wurde wiederabgedruckt in: L’Oeuvre de Léon Blum, Bd. 2, Paris, Albin Michel, 1962, S. 386–387.
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un essai de reconstruction totale de la société avec des éléments moralement régénérés, par une transformation du droit et par l’utilisation la meilleure des moyens de production que la science et la technique mettent à notre disposition“ 409.
Der Sozialismus sollte eine umfassende „révolution morale“ vorbereiten und nicht einfach ein schicksalhaftes Ergebnis blinder ökonomischer Gesetze sein. Als unabdingbare Voraussetzung galt „un long travail d’éducation préparatoire“, das man allein durch ein fruchtbares, schöpferisches Verhältnis zwischen intellektuellen Eliten und organisierten Arbeitermassen für realisierbar hielt. Nietzsches Aristokratismus trat gegenüber dieser Auffassung einer „civilisation renouvelée“ in den Hintergrund. Die tiefe Erneuerung der ganzen Gesellschaft sollte durch eine lebendige ethische Spannung getragen sein, die ihren authentischsten Grundsatz in der von Zarathustra gepredigten ‚schenkenden Tugend‘ fände. Gerade durch diese volle Hingabe ihrer selbst sollte die geistige Elite zur Gesamtentwicklung der Menschheit beitragen, so dass an die Stelle von Zarathustras schmerzlicher Einsamkeit eine Gesellschaft freier, selbstloser, der Erkenntnis ergebener Menschen hätte treten können. Diese Auffassung Andlers wurde, wenngleich aus verschiedenen Perspektiven, auch von Lucien Herr, den Andler immer als ideellen Mitverfasser seiner Nietzsche-Monographie betrachtet hatte, und von Jean Jaurès geteilt, der im Februar 1902 in der Victoria Hall in Genf drei Vorträge über Nietzsche hielt. 410 Bekanntermaßen kam dem Verhältnis mit den Intellektuellen, der überzeugten Verteidigung der ethischen Integrität des Einzelnen, den Bildungsproblemen und der Förderung von Wissenschaft und Erkenntnis in Jaurès’ Politik ein hoher Stellenwert zu. Zwar übersteigt eine historische Bewertung der von Jaurès und vom französischen Sozialismus betriebenen Politik vor dem Ersten Weltkrieg die Aufgaben der Nietzsche-Forschung, doch gilt es in diesem Zusammenhang einen allgemeinen Umstand zu betonen: Wie in der Geschichte der frühen österreichischen Nietzsche-Rezeption um Victor Adler und den PernerstorferKreis oder in der Auseinandersetzung um Nietzsche in der frühen russischen Sozialdemokratie, spielte die Nietzsche-Rezeption bei der Entgegensetzung einer mechanizistischen und einer aktivistischen Auffassung des Marxismus und Sozialismus eine wichtige Rolle. Obwohl der ober409
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Vgl. dazu E. Tonnelat, Charles Andler. Sa vie et son oeuvre, Paris, Les Belles Lettres, 1937, S. 303. Vgl. auch J. Le Rider, a. a. O., S. 79–87. Vgl. dazu „Bulletin de la Société d’Études jaurésiennes“, Nr. 3, Oktober 1961. Zu Jaurès’ Verhältnis zu den Intellektuellen vgl. u. a. G. Lefranc, Jaurès et le socialisme des intellectuels, Paris, Aubier-Montaigne, 1968; Jaurès et les intellectuels, hg. von M. Rebèrioux und G. Candar, Paris, Les éditions de l’Atelier-Editions Ouvrières, 1994.
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flächliche, doktrinäre Verriss von Andlers Ausgabe des Manifests, den Franz Mehring in der Neuen Zeit veröffentlichte, ohne Andler die Möglichkeit zu einer Replik einzuräumen, die Nietzsche-Rezeption nicht unmittelbar betrifft, ist er dennoch als Symptom zweier gegensätzlicher Denkströmungen erwähnenswert. 411 Dieser Gegensatz deutet erneut darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen Sozialismus und Nietzsches Philosophie nicht in der von Mehring vertretenen und später von Georg Lukàcs weiter ausgearbeiteten fast kanonischen Interpretation erschöpfte. Ein aufmerksamer Leser von Andlers Kommentar zum Manifest von Marx/Engels war George Sorel, wie aus seinem Briefwechsel mit Benedetto Croce hervorgeht. Er schöpfte für seine Theorien wichtige Anregungen aus Andlers gründlichen historiographischen Untersuchungen zur Entwicklung des Marxismus und des Sozialismus. Es ist heute schwer nachvollziehbar – vor allem angesichts des tragischen Ausgangs –, dass der tiefe Gegensatz zwischen der ‚mythischen‘, von Charles Péguy vertretenen Auffassung der Dreyfus-Affäre und der politischen von Jaurès und Herr ins Feld geführten Konzeption aus einem ursprünglichen Kern gemeinsamer Überzeugungen entstand. Problematisch erscheint die Untersuchung des Verhältnisses von Charles Péguy zu Nietzsche, obgleich in seiner intellektuellen Biographie nicht selten Themen und Motive anklingen, die in Nietzsches Werken ihren vollendeten Ausdruck gefunden hatten. Rollands Zeugnis zufolge war Péguy ein schlechter Leser, so dass eine eingehende Beschäftigung mit Nietzsches Werk unwahrscheinlich ist; er nahm die Korrekturen der Cahiers de la Quinzaine aber dennoch stets persönlich vor. Seine Zeit und Energie war größtenteils dieser Arbeit gewidmet. Die Veröffentlichung der zentralen Kapitel von Halévys Nietzsche-Biographie unter dem Titel Le travail de Zarathoustra in den Cahiers ist nur der wichtigste Hinweis auf den Nietzscheanismus dieser Hefte; das könnte einige Ähnlichkeiten zwischen Motiven und Themen von Péguys Werk und Nietzsche erklären. Ein direktes Verhältnis zu Nietzsche hatte dagegen Sorel, der u. a. Benedetto Croce auf Halévys Buch aufmerksam machte. Allgemein bekannt ist der Brief an Daniel Halévy, mit dem Sorel die Veröffentlichung seiner Artikel in der Zeitschrift Mouvement socialiste einleitete, die dann als Buch im Jahr 1907 unter dem Titel Réflexion sur la violence erschienen. Hier verwendete Sorel Nietzsches Unterscheidung von Sklaven- und
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Zur Auseinandersetzung Andler-Mehring vgl. E. Tonnelat, a. a. O. Zu den oben erwähnten Episoden der Nietzsche-Rezeption verweise ich auf das Kapitel 1 des Vierten Teils dieses Buchs (vgl. S. 283 ff.) und auf meinen Beitrag Eine historische Peripetie von Nietzsches Denken: Lenin als Nietzsche-Leser? a. a. O.
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Herrenmoral für die Charakterisierung seiner Moral der Produzenten, in der die propagandistischen Forderungen des revolutionären Syndikalismus paradoxerweise mit dem für die selbstständige Leitung einer hochentwickelten Industrie notwendigen Verantwortungsgefühl hätten verschmelzen sollen. Obwohl sein ganzes Denken in jenen Jahren von der stetigen Auseinandersetzung mit Jaurès und den sozialistischen Parlamentariern durchzogen war, fand Sorel dennoch einen eigenen Weg, um durch Nietzsches Auffassung von Moral und Kunst die Vorstellung von einer höheren, freieren Selbstbestimmung der Arbeiterklasse zu entwerfen. Mehr noch als die direkten Nietzsche-Zitate, die bei ihm am Rand seiner gedanklichen Entwicklung bleiben, sind die Formen seiner Beschäftigung mit Problemen und Denkern interessant, mit denen sich schon Nietzsche wiederholt auseinandergesetzt hatte. Seine Erarbeitung des Pessimismus von Eduard von Hartmann, der im oben erwähnten Brief an Halévy mehrfach zitiert wurde, oder seine durch Ernest Renan inspirierten Überlegungen zum Ursprung und zur Geschichte des Christentums bieten anschauliche Beispiele dafür. Der ethische Jansenismus Sorels und seine pessimistische Sicht von Geschichte und Fortschritt wurden in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts oft als anregendes Gegengewicht gegen den vermeintlichen Fortschrittsoptimismus des Regierungssozialismus, als nüchterne Anschauung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wahrgenommen. 412 Noch mehr als die Geschichte der frühen Nietzsche-Rezeption in Wien im Schatten der Berggasse bereitet die frühe Nietzsche-Rezeption in Paris im Milieu um die rue d’Ulm das geistige Gewebe der großen ideologischen und kulturellen Gegensätze vor, die später die verschlungenen Wege des 20. Jahrhunderts beleben sollten. Der Widerhall der verschiedenen Positionen, der unterschiedlichen Strömungen, die die französischen Intellektuellen damals vertraten, wirkte auf oft überraschenden Umwegen nachhaltig fort. In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen interpretierte Thomas Mann beispielsweise den scharfen Gegensatz zu seinem Bruder und zu Romain Rolland – sowie zum Zivilisationsliteraten allgemein – als eine Wiederholung der Dreyfus-Affäre in größerem Maßstab. Die Soziologie der Intellektuellen, die Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften mit großem Scharfsinn entwarf, entspringt in gewisser Hinsicht aus einer eingehenden Reflexion über die politisch-kulturelle Situa-
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Zu Sorel vgl. u. a. George Sorel en son temps, hg. von J. Julliard und S. Sand, Paris, Editions du Seuil, 1985; I. L. Horowitz, Radicalism and the Revolt against Reason. The Social Theories of George Sorel, London, Routledge and Kegan Paul, 1961; G. Lichtheim, Nachwort zu G. Sorel, Über die Gewalt, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1969.
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tion Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg im Spannungsverhältnis zwischen Jaurès und Sorel. Die ersten Bände von Andlers großer NietzscheMonographie liefern dem jungen Jean-Paul Sartre – damals Student an der École Normale – entscheidende Anregungen für den Entwurf seines ersten, Fragment gebliebenen Romans Une défaite. Wahrscheinlich hatten sie auch auf seine Auffassung des konventionellen Charakters der Wahrheit und des Verhältnisses zwischen Logik und Psychologie einen Einfluss. 413 Im Zeichen Nietzsches trafen sich Clara und André Malraux in der fast magischen Atmosphäre, die ihre dadaistischen Freunde Claire und Yvan Goll um sie geschaffen hatten 414. Wahrscheinlich gelang es Malraux, der mit Daniel Halévy befreundet war, dank der engen Beziehungen seiner Frau zum Elsass und zu Deutschland, in seinem Roman Les Noyers de l’Altenburg die Person des Nietzsche-Gelehrten Walter Berger zu zeichnen, in dem mit oft idealen Zügen jenes elsässische intellektuelle Milieu erneut auflebt, in dem Gabriel Monod, Lucien Herr und Charles Andler groß geworden waren. Berger bewunderte an Nietzsche vor allem seine „extraordinaire générosité de l’esprit“ 415: Vielleicht besteht das wichtigste Verdienst der französischen Nietzsche-Rezeption gerade in der Betonung dieses grundlegenden Charakters von Nietzsches Denken in immer neuen Formen. Auch Jean Beaufret, der einige Jahre nach der Generation von Sartre, Aron und Nizan in der rue d’UIm studierte, hatte diese geistige Großzügigkeit wohl vor Augen, als er an Heidegger die Frage richtete: „comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘?“. In seiner Antwort, in der häufige Hinweise
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Zum Fragment Une défaite und zum Verhältnis des jungen Sartre zu Nietzsche vgl. den hervorragenden Kommentar von Michel Contat und Michel Rybalka in ihrer Ausgabe von J. P. Sartre, Écrits de jeunesse, Paris, Gallimard, 1990. Der ursprüngliche Titel von Une défaite lautete Empedocles, wie Andler das Kapitel seiner Nietzsche-Monographie betitelt hatte, in dem er seine Hypothese zur Identifizierung Ariannas mit Cosima Wagner entwickelt. Bekanntlich spiegeln sich die Hauptpersonen in diesem ersten fragmentarischen Roman Sartres in der Beziehung zwischen Richard und Cosima Wagner und dem jungen Nietzsche wider. Während seiner Studien an der École Normale hatte Sartre auch die umfangreiche Analyse von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, die Andler in seiner Nietzsche-Monographie durchführte, lesen können. Diese Lektüre könnte einen gewissen Einfluss auf Sartres Auffassung vom problematischen Charakter der Wahrheit ausgeübt haben. Wir wissen durch das Zeugnis von Raymond Aron, dass Sartre seine Theorie der Kontingenz erstmals in einem Referat über Nietzsche darlegte, das er in einem von Léon Brunschweig veranstalteten Seminar zum Thema Logik und Psychologie hielt. Zu Sartres Verhältnis zu Nietzsche vgl. J. Le Rider, a. a. O., S. 136–138; 177–178. Vgl. dazu C. Malraux, Le Bruit de nos pas, Bd. 1, Apprendre à vivre, Paris, Grasset, 1963, S. 271. Vgl. dazu A. Malraux, Œuvres complètes, Paris, Gallimard (La Pléiade), 1989, Bd. 1, S. 1646. Zu diesem Roman vgl. die Analyse von J. Le Rider, a. a. O., S. 191–193.
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auf Nietzsche wiederkehren, traf Heidegger einen Unterschied zwischen dem „engagement dans l’action“ und dem ‚engagement‘ des Denkens durch die Wahrheit des Seins 416: Von diesem „engagement dans l’action“ bot die frühe französische Nietzsche-Rezeption eine beispielhafte Verwirklichung. Sie lädt uns dazu ein, genauer über das schwierige Verhältnis nachzudenken, das diese beiden unterschiedlichen Formen von ‚Engagement‘ in der Konstellation der Moderne miteinander verbindet. Gleichzeitig kann eine neue Nietzsche-Lektüre unter der doppelten Perspektive von Andler und Heidegger eine außergewöhnliche, aber vielversprechende Übung bedeuten, um der künftigen Nietzsche-Forschung neue Wege zu erschließen.
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Vgl. M. Heidegger, „Brief über den Humanismus“, in: M. Heidegger, Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 9, Wegmarken, hg. von F.W. von Hermann, Frankfurt/Main, Klostermann, 1976, S. 313–314.
Nachweise Bei einigen Kapiteln des vorliegenden Bandes handelt es sich um durchgesehene und neu bearbeitete Zeitschriftenaufsätze und Sammelbandbeiträge des Autors. Dies gilt insbesondere für folgende Kapitel: Kapitel 3 Ein italienischsprachiger Beitrag erschien unter dem gleichen Titel in meinem Band Nietzsche in Berggasse e altri studi nietzscheani, Urbino 1983. Es handelt sich dabei jedoch lediglich um eine Vorstudie zu diesem Kapitel, das eine wesentliche Erweiterung und Vertiefung der in dem Beitrag umrissenen Themen darstellt. Kapitel 5 Dieses Kapitel wurde eigens für den vorliegenden Band konzipiert, erschien jetzt aber in italienischer Fassung – Aufgeklärte Geister. Libres Penseurs. L’interpretazione nietzscheana dell’Illuminismo fra storia ed ermeneutica – in dem Band Nietzsche Illuminismo Modernità, hg. von C. Gentili, V. Gerhardt u. A. Venturelli, Florenz, Leo S. Olschki, 2003. Kapitel 6 Ursprünglich erschienen in „Nietzsche-Studien“, Bd. 18, 1989, S. 182–202. Kapitel 8 Ursprünglich erschienen in „Nietzsche-Studien“, Bd. 15, 1986, S. 107–139.
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Nachweise
Kapitel 9 Dieses Kapitel erschien ursprünglich auf Französisch – Généalogie et évolution. Nietzsche et le darwinisme – in Nietzsche moraliste, Bd. 11 der „Revue Germanique Internationale“, 1999, S. 191–203. Kapitel 10 Ursprünglich erschienen in „Nietzsche-Studien“, Bd. 13, 1984, S. 448–480. Kapitel 11 Ursprünglich erschienen in Harry Graf Kessler: Ein Wegbereiter der Moderne, hg. von G. Neumann u. G. Schnitzler, Freiburg i. Br., Rombach, 1997, S. 109–133. Kapitel 12 Eine Erstfassung dieses Kapitels erschien in Nietzsche. Cent Ans de Réception Française, hg. von J. Le Rider, Paris, Suger, 1999, S. 81–95.
Literaturverzeichnis Vorbemerkung. Diese Bibliographie erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern folgt einem Auswahlkriterium, das sich der in dem Buch verfolgten Untersuchungsmethode einer historischen Lesart von Nietzsches Denken verdankt. Danach wird Nietzsches Lektüren, der Ermittlung seiner Quellen und der Rekonstruktion der Kette, die Lektüren, Zitate, Fragmente und definitive Texte miteinander verbindet, besondere Aufmerksamkeit zuteil. Mazzino Montinari hat diese Methodologie und Form der Nietzsche-Lektüre insbesondere in seinem Vorwort zum Nachbericht zur siebten Abteilung (vgl. KGW VII 4/1) sehr gedrängt und eindrücklich umrissen. Die Forschungsgruppe Nietzsches Bibliothek und Lektüre hat nach dieser Leitlinie weitergearbeitet, und im Rahmen ihrer Arbeit siedelt sich auch der vorliegende Band an. Zur Geschichte dieser Forschungsgruppe vgl. die vom Autor gemeinsam mit Giuliano Campioni verfasste Einleitung zu dem Band Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. von G. Campioni u. a., Berlin/New York, de Gruyter, 2003. Benutzte Ausgabe der Werke und Briefe Nietzsches Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin, München, de Gruyter-dtv, 1980 (Bde. 1–15) (KSA). Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin, München, de Gruyter-dtv, 1986 (Bde. 1–8) (KSB). Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, begründet von G. Colli und M. Montinari, weitergeführt von N. Miller und A. Pieper, Berlin, New York, de Gruyter, 1975 ff. (I 1-IV 5) (KGB). Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von G. Colli und M. Montinari, weitergeführt von W. Müller-Lauter und K. Pestalozzi, Berlin, New York, de Gruyter, 1967 ff. (I 1 VIII 4) (KGW). Opere di Friedrich Nietzsche, hg. von G. Colli und M. Montinari, Milano, Adelphi, 1964 ff. (Auch nach Montinaris Tod, hat der Apparate dieser Ausgabe seine Richtlinien und Kriterien gefolgt – mit besonderem Hinblick auf die Identifizierung von Quellen und Lekturen. Das betrifft auch den Apparat der italienischen Ausgabe des Briefwechsels). Epistolario di Friedrich Nietzsche, hg. von G. Colli und M. Montinari, Milano, Adelphi, 1977 ff.
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Personenregister Abel, G. 65, 202, 239 Adam 266, 276, 277, 299 Adler, A./Adler, F./Adler, G./Adler M./Adler S./Adler V. 233, 257, 258, 259, 260, 262, 263, 270, 274, 276, 277, 278, 280, 282, 283, 287, 326 Adorno, Th.W. 176 Aeschylus 165, 171, 173, 174, 175 Albrecht, G. 205, 209, 222, 224, 322 Anaxagoras 70, 71 Anders, A. 71, 241 Andler, Ch. 280, 317, 318, 321, 322, 323, 325, 326, 327, 329, 330 Ansell-Pearson, K. 240 Antes, P. 71 Archilochus 35, 36, 37 Aristoteles 172 Aron, R. 329 Arthaber, R. 277 Bach, J. S. 129 Baer, K. von 76, 243 Bahr, H. 274, 278 Bathrick, D. 278 Baudelaire, Ch. 176 Bauer-Lechner, N. 277 Baumann, J. J. 85 Baumgartner, M. 137, 272, 317 Beaufret, J. 329 Bebel, A. 232 Becher, J. R. 291 Beethoven, L. van 129, 158, 159, 168, 301 Behler, E. 21, 47, 67, 137, 245 Bell, Ch. 243, 244 Benjamin, W. 190 Bense, M. 108 Berenson, B. 296 Berger/Berger W. 329 Bernauer, M. 234 Bernays, J. 201 Bernoulli, C. A. 257, 322
Bernstein, E. 232, 277 Bertolini Guerrieri-Gonzaga 319, 320, 321 Beuys, J. 295 Bisanz-Prakken, M. 278 Bismarck, O. von 11, 153, 207, 261 Blasberg, C. 294 Bloch, J. R. 321, 324 Blum, D./Blum L. 280, 319, 323, 324, 325 Bodenhausen, E. von 295, 296, 297, 298, 300, 303, 306 Bodenhausen-Degener, D. von 296 Böhme, J. 258 Bondy, S. 259 Böning, T. 57 Borchmeyer, D. 157, 158, 167, 173 Borgia, C. 8, 127, 132, 133, 134 Borsche, T. 20, 67 Bourdeau, J. 317 Brandes, G. 9, 133 Braun, E./Braun H. 228, 257, 259, 260, 262, 263, 270, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 282 Braun-Vogelstein, J. 260, 275, 280 Braunthal, J. 258, 260, 278, 280 Breines, P. 278 Brobjer, T. H. 182 Brücke, E. 43, 116, 172, 186, 281, 282, 284 Brunschweig, L. 329 Brusotti, M. 90, 92, 225, 228, 247, 250 Buddensieg, T. 304 Bülow, C. von/Bülow, F/Bülow, H.. 43, 204, 209 Burckhardt, J./Burckhardt M. 127, 128, 130, 131, 132, 134, 135, 315 Burdach, K. 133 Burger, H. 299 Byron, G. G. N. 205 Campioni, G. 8, 129, 133, 152, 189
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Personenregister
Cancik, H. 294 Carey, H. Ch. 209, 222 Carpitella, M. 18, 96 Carus, J. C. 238, 243 Casini, P. 148 Cassirer, E. 19, 206 Charle, Ch. 322 Cheval, R. 318 Chomsky, N 67, 245 Cocalis, S. L. 315 Colli, G. 15, 50, 87, 96, 203, 240 Cometa, C. 47 Contat, M. 329 Cornaro, L. 132 Craig, G. 291 Crawford, C. 67 Crescenzi, L. 180, 201 Croce, B. 324, 327 Culler, J. 176 Curjel, H. 302 Czermak, J. N. 52 Darwin, Ch. 9, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 246, 247, 248, 249, 250, 252, 253, 280, 284 Demokrit 69, 71 Demosthenes 109 Denis, M. 302 Dennet, D. C. 250 Derrida, J. 176 Diderot, D. 145 Dilthey,W. 71 Dionysos 1, 2, 3, 4, 16, 32, 41, 48, 85, 154, 169, 188 Dostojevski, F. M. 300 Dowe, D. 232 Dreyfus, A./Dreyfus, R. 12, 317, 318, 322, 323, 324, 325, 327, 328 Drouin, M. 324 Druskowitz, H. 234 Dühring, E. 79, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 242, 279 Dumont, E. 270 Eckardt, T. de 322
Ehrlich, J. 257, 258 Eichner, H. 47 Emerson, R.W. 88, 273, 288 Empedokles 69, 71, 215, 241, 242 Engels, F. 179, 203, 204, 206, 232, 233, 235, 262, 327 Erasmus, von Rotterdam 127, 132, 141, 142 Espinas, A. 85 Euripides 18, 172 Exner, S. 259, 284 Federn, E./Federn, K./Federn, P. 287, 288 Feuerbach, L. 207 Fichte, J. G. 276, 301 Fink, E. 68, 107, 108 Fischer, J. M. 278, 322 Fließ, W. 287, 289 Fornari, M. C. 247 Förster, B./Förster, E./Förster, P. 9, 220, 234, 257, 260, 264, 280, 283, 284, 285, 286, 291, 294, 295, 296, 297, 309, 312, 314, 321 Förster-Nietzsche, E. 235, 257, 260, 264, 280, 283, 284, 285, 286, 291, 294, 295, 296, 297, 309, 312, 314, 321 Forth, C. E. 321 Foucart, C. 302 France, A. 129, 316, 317, 318, 321 Freud, S. 9, 257, 259, 260, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290 Friedeburg, L. von 176 Friedländer, B. 209 Frisé, A. 81, 304 Fuchs, E. 233 Galiani, F., Abbé 145 Galton, F. 284 Gasser, R. 257, 281, 287 Gast, P. 214, 234, 316 Gawoll, H.-J. 216 Gentili, C. 201 Gerber, G. 52, 67, 68, 69, 73 Gerhardt, V. 108, 228, 240 Gerratana, F. 18, 20, 96, 152 Gersdorff, C. von 43, 52, 204, 240, 245 Gessinger, J. 243
Personenregister
Gethmann-Siefert, A. 173, 185, 187 Ghelardi, M. 131 Giambetta, S. 157 Gide, A. 302, 321, 324 Gides, A. 302, 307 Gödde, G. 259, 281, 287 Goethe, J.W. von 49, 50, 51, 52, 53, 54, 128, 130, 145, 155, 156, 158, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 174, 175, 176, 186, 301 Goll, C./Goll, Y. 329 Gombrich, E. H. 133 Goncourt, E. H. und J. H. de 145 Gopfert, H. G. 166 Gramsci, A. 315, 320, 328 Grau, G. G. 239 Green, M. S. 71 Gregor-Dellin, M. 159 Grimm, R. 278 Groddeck, G. 289 Gruber, M. 257, 260, 262 Grupp, P. 304 Guilbeaux, H. 320 Guyon, J. M., Bouvier de la MotheGuyon 145 Haas, L. 239 Habermas, J. 21, 47, 176, 199, 201 Halévy, D. 318, 321, 323, 327, 329 Hamacher, W. 67 Hamlet 119 Harrison, B. 316, 317 Hartmann, E. von 5, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 28, 29, 30, 34, 40, 69, 85, 160, 197, 242, 328 Haupt, G. 232, 236, 279 Hauptmann, G. 302, 305, 306, 307 Hegel, G.W. F. 5, 8, 127, 173, 180, 182, 188, 189, 190, 191, 197, 201, 202, 207 Heidegger, M. 8, 87, 135, 202, 217, 225, 229, 237, 329, 330 Heine, H. 196, 263 Heinze, M. 242 Helmholtz, H. 52, 214, 224, 284 Helvetius 145 Henke, D. 239 Heraklit 46, 179, 214, 275 Herder, J. G. 67
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Hermand, J. 278 Herr, L. 154, 214, 225, 236, 317, 318, 319, 321, 322, 323, 326, 327, 329 Herrmann, E., Hermann, F.W. von 135, 182, 202 Herzen, N./Herzen O. 35, 37, 159, 187, 266, 271, 300, 315 Hillebrand, K. 260 Hirsch, R. 296 Hofmannsthal, H. von 291, 296, 299, 305, 306 Hölderlin, F. 301 Holub, R. 240 Homer 36, 187, 224 Höppner, J. 232 Horn, A. 240 Horowitz, I. L. 328 Humboldt, W. von 67 Hyppolitos 266, 276 Ibsen, H. 324, 325 Isolde 43, 46, 173 Janz, C. P. 137, 234 Japp, U. 156 Jaurès, J. 318, 322, 323, 324, 326, 327, 328, 329 Jauß, H. R. 176 Jobst Siedler, W. 240 Johnson, D. R. 246 Jones, E. 257, 289 Julliard, J. 328 Jung, C. G. 288 Kafka, F. 11 Kaiser, G. 173 Kant, I. 5, 40, 56, 60, 61, 62, 70, 72, 81, 86, 207, 274, 276 Kautsky, K. 232, 260, 262, 279 Kelterborn, L. 130 Kessler, H., Graf 12, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 321 Key, E. 321 Keynes, J. M. 303 Kierkegaard, S. 281 Kindermann, H. 278
348
Personenregister
Kirchhoff, R. 232 Klaver, J. M. 238 Klein, J. L. 190 Kleist, H. von 164 Klimt, G. 278 Klinger, M. 297, 304 Kostka, A. 294, 295, 296, 308 Köstlin, K. 190 Kralik, R. von 274, 276 Krause, J. 305 Krummel, R. F. 260, 281, 288 Kruse, A. 209 Kundel, E. 232 Lafargue, P. 203 Lagarde, P. A. de 271, 272, 280, 285 Lanfranconi, A. 143 Lange, F. A. 5, 232, 240, 241, 242, 245, 249, 251, 261, 274, 279 Lassalle, F. 232, 262, 279 Le Rider, J. 316, 326, 329 Lecky, W. E. H. 85, 145 Lefranc, G. 326 Lenin, W. I. 280, 320, 321, 327 Lennox, S. 315 Leopardi, G., Graf 130, 215 Lesky, E. 257, 284 Lessing, G. E./Lessing, Th. 145, 201, 222 Leuschen-Seppel, R. 233 Lichtheim, G. 328 Liebknecht, W. 232 Lindenberg, D. 322 Lipiner, S. 11, 257, 258, 259, 260, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 280, 281, 283, 285, 286, 288 List, F. 209, 252 Losurdo, D. 234 Lukacs, G. 180, 182, 190 Luther, M. 132, 133 Luxemburg, R. 320 Lyell, Ch. 238
Mainländer, P. 85 Malraux, A./Malraux, C. 329 Malthus, T. R. 209 Mann, K./Mann, T. 81, 121, 193, 272, 294, 300, 304, 328 Marti, U. 139, 182 Marx, K. H. 9, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 190, 203, 204, 232, 233, 236, 237, 278, 279, 323, 327 Mayer, J. R. 214 Mayr, E. 239 McGrath, W. J. 257, 258, 260, 261, 263, 264, 270, 274, 276, 277, 278, 279, 282 Meder, C. 302 Medici, de 131 Mehring, F. 233, 280, 327 Meijers, A. 67 Messias 300 Meyer, P. A. 182, 322 Meynert, Th. 263, 264 Meysenbug, M. von 9, 43, 130, 133, 138, 206, 250, 268, 272, 315, 317, 318, 319, 320, 321 Michelet, J. 316 Mickiewicz, A. 274 Minghetti, L. 318 Mittasch, A. 239 Monod, G./Monod, O. 315, 316, 317, 318, 319, 321, 322, 323, 329 Montaigne, M. de 326 Montinari, M. 15, 50, 85, 87, 88, 90, 96, 111, 115, 137, 138, 156, 157, 175, 203, 204, 236, 240, 315 Moses 310 Most, J. 232 Müller, U. 65, 90, 96, 100, 161, 173, 182, 202, 210, 228, 229, 239, 250 Müller-Lauter, W. 65, 90, 96, 100, 182, 202, 210, 228, 229, 239, 250 Munch, E. 291 Mushacke, H. 189 Musil, R. 81, 176, 304 Mussolini, B. 314
Mach, E. 280 Mack, D. 159 Mahler, G. 260, 263, 274, 276, 277 Maillol, A. 291, 302, 304, 306
Natorp, P. 266, 275, 276 Nehamas, A. 108 Neumann, P. 108, 228, 281, 295 Newton, I. 52, 53, 148
Personenregister
Nietzsche, F. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 179, 180, 182, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 216, 217, 218, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 257, 258, 259, 260, 261, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330 Nijinsky, W. 305 Nizan, P. 329 Nostitz, H. von/Nostitz, O. von 298, 302 Nunberg, H. 287 Oiserman, T. I. 232 Orsucci, A. 52, 67, 68, 76, 248, 250 Ortis, J. 258 Ott, L. 137 Ottmann, H. 234, 240 Overbeck, F. 9, 112, 132, 137, 250, 257, 266, 275, 322
349
Overbeck, I. 9, 112, 132, 137, 250, 257, 266, 275, 322 Pahnke, D. 71 Paneth, E. 257, 258, 259, 260, 261, 264, 271, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288 Paneth, J./Paneth, S. 257, 258, 259, 260, 261, 264, 271, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288 Parmenides 70, 71, 78 Parsifal 265, 270 Pascal, B. 137, 145 Pastor, L. 127 Péguy, Ch. 321, 323, 324, 327 Pehle, M. 297 Pernerstorfer, E. 9, 257, 258, 259, 260, 262, 271, 274, 276, 277, 278, 280, 281, 282, 283, 288, 326 Petrarca, F. 132, 141, 142 Pfeiffer-Belli, W. 299 Picchioni, L. 131 Pieper, A. 108 Pindar 171 Plato 55, 71, 78 Platon 32, 33, 42, 67, 104, 245 Post, A. H. 85 Prezzolini, G. 320 Prometheus 260, 265, 266, 270, 273 Proust, M. 291, 323, 324 Pyritz, H. 156 Raffaello, Sanzio 131 Rahden, V. von, Rahden, W. von 145, 243 Ramm, H. 232 Rank, O. 288 Rapp, M. 190 Rathenau, W. 12, 303, 304, 312, 313 Rebèrioux, M. 326 Rée, P. 9, 81, 111, 112, 115, 130, 138, 147, 206, 243, 247, 248, 249, 250, 268, 271, 319 Regner, I. 268 Reibnitz, B. von 152, 201 Renan, E. 316, 328 Requadt, P. 51 Reschke, R. 182
350
Personenregister
Rethy, R. A. 234 Richter, C./Richter, R. 63, 116, 122, 293, 296 Rilke, R. M. 302 Roazen, P. 288 Robertson, G. C. 249 Rocker, R. 232 Rodbertus, J. K. 232, 279 Rodin, A. 291, 306 Rohde, E. 38, 160, 243, 263, 265, 266 Rolland, R. 315, 317, 318, 319, 320, 321, 328 Romundt, H. 17 Rousseau, J. J. 139, 148, 176, 187 Roux, W. 85, 96, 99, 100, 250, 251, 252 Rybalka, M. 329 Saint-Beuve, C. A. 137 Salomé, L. 9, 111, 112, 115, 118, 121, 147, 250, 286, 288, 321 Sand, S. 179, 328 Santeuil, J. 324 Sartre, J. P. 329 Schadewaldt, W. 161, 173 Schank, G. 234 Scheffler, K. 302 Scheimpflug, K. 259 Schelling, F.W. J. 5, 20, 21, 25, 28 Schillbach, B. 87 Schiller, F. von 155, 156, 158, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 176, 186, 187, 295 Schirnhofer, R. von 315 Schlechta, K. 71, 241 Schlegel, F. 46, 47, 190 Schmeitzner, E. 145, 232, 234, 235, 247, 270, 275 Schmidt, A./Schmidt, L./Schmidt, R. 85, 241, 274 Schnitzler, G. 295 Schoeller, B. 296 Schopenhauer, A. 2, 19, 20, 25, 36, 38, 39, 40, 52, 60, 78, 86, 101, 136, 140, 160, 205, 206, 209, 213, 214, 215, 234, 259, 261, 263, 272, 283, 284 Schorske, C. E. 278, 282 Schubin, O. 293 Schulin, E. 304
Schulze, G. 301 Schur, M. 287 Schuster, G. 250, 273, 294, 297 Schwab, S. 257, 286 Seidel, S. 156 Semper, G. 193 Seydlitz, R. von 269, 270, 271, 272 Shakespeare, W. 129, 173 Shaw, G.W. 306, 307 Siepe, H. T. 302 Simon, H. U. 250, 295 Simonides 171 Small, R. 68, 71, 228 Sokrates 13, 16, 17, 19, 26, 35, 47, 50, 55, 64, 69, 71, 75, 78, 84, 94, 104, 143, 176 Sommer, A. U. 17, 55, 57, 67, 71, 78, 79, 80, 81, 85, 90, 103, 110, 118, 133, 136, 141, 152, 189, 206, 220, 249, 250, 258, 264, 265, 268, 269, 270, 272, 273, 274, 302, 316 Sorel, G. 323, 327, 328, 329 Spencer, H. 249 Spiegler, A./Spiegler, J. 260 Spinoza, B. 215 Spir, A. 4, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 80, 96, 97, 98, 99, 100, 218 Springer, A. 52 Stack, G. 241 Stammer, O. 209 Stegmaier, W. 71, 239, 246, 248, 253 Stein, H. von/Stein, L. von 27, 224, 234, 262, 263 Steiner, R. 323 Stenzel, B. 293, 299, 306 Stern, J. P. 240 Stiegler, B. 250 Stierlin, H. 287 Stingelin, M. 67 Strauss, D. F./Strauss, Mme/Strauss, R. 78, 142, 190, 198, 199, 238, 240, 245, 246, 247, 317, 319, 320, 323 Strobel, E. 108 Suares, A. 320 Szondi, P. 180, 186, 190 Taine, H. 316 Tausk, V. 288
Personenregister
Teichmüller, G. 20, 243 Teufelde, K. 232 Thalheim, K. C. 209 Theis, R. 302 Thönges, B. 108 Thuring, H. 68 Tonnelat, E. 325, 326, 327 Treiber, H. 71, 243, 247 Tristan 43, 44, 46, 47, 158, 172, 173, 174, 175 Trunz, E. 49, 167 Tylor, E. B. 243 Uhlforth, I. 295 Ulrich, H. 232 Vaihinger, H. 274 Venturelli, A. 20, 137, 176, 322 Villeparisis, Mme 324 Villwock, P. 108 Vischer, F. Th. 180, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 190, 191, 193, 194, 198, 201 Vivarelli, V. 88 Vohsen, E. 265 Volkelt, J. 263, 274 Voltaire, F. M. A. de 132, 137, 139, 141, 142, 145 Wachendorff, E. 228 Wagner, A./Wagner, C./Wagner, R. 9, 17, 19, 38, 43, 44, 55, 81, 84, 106, 109, 117, 128, 129, 137, 157, 158, 159, 160, 161, 164, 165, 167, 172, 173, 175, 176,
351
205, 213, 216, 223, 264, 265, 268, 270, 271, 272, 276, 277, 279, 280, 317, 318, 319, 329 Wallenstein 163, 168, 170 Walter, B. 12, 278, 304, 312, 329 Walther, B. 278, 304, 313 Wapnewski, P. 161 Warburg, A. 133 Wartenburg, P.Y. von 201 Wawrzinek, K. 234 Wedekind, F. 307 Werchau, J. 232 Widemann, P. H. 234 Wiese, B. von 156, 161, 169, 173 Wilson, J. E. 21, 25, 27, 33 Wollkopf, R. 295, 297, 309, 312 Worbs, M. 278 Wundt, W. 293 Wyzewa, Th. De 317 Wyzewski, T. 292 Zanetti, S. 228 Zarathustra 2, 3, 4, 35, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 94, 97, 103, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 132, 168, 204, 218, 220, 222, 223, 224, 228, 231, 233, 234, 250, 273, 277, 281, 285, 320, 321, 326 Zeidlitz, C. Freiherr von 300 Zittel, C. 108 Zöllner, J. K. F. 52, 67, 68, 69 Zweig, A. 286, 290
Sachregister a-priori 64, 70, 72, 207 Abendland 48, 179 Abgrund 32, 33, 43, 46, 107, 134, 149, 171, 174, 188, 225, 301 absolut 42, 59, 72, 95, 97, 98, 100, 102, 103, 113, 145, 230 Abstraktion 51, 56, 58, 66, 70, 156 Affekt 154, 163, 228, 230 Alexandrinisch 53, 129 Altruismus 4, 92, 249, 299 Anthropologie 92, 155, 186 Anthropomorphismus 29, 59, 64, 80, 283 Antike 39, 67, 128, 130, 131, 151, 161, 171, 179, 181, 184, 186 Antisemitismus 9, 224, 232, 234, 235, 236, 262, 271, 278, 280, 282, 285 Apollinisch 17, 24, 26, 31, 35, 36, 37, 42, 43, 45, 169, 170, 173, 187, 188, 189, 194, 195, 214, 276, 306 Architektur 51, 158, 307 Aristokratie 11, 130, 131, 227, 228, 302, 310 Artisten-Metaphysik 3, 27, 38, 60, 62, 101, 171, 172, 179, 181 Asketismus 10, 142, 203, 226 Ästhetik 5, 15, 21, 36, 37, 108, 162, 173, 175, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 201, 295 Atomismus 34, 80 Aufklärung 7, 8, 53, 131, 136, 137, 138, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148 Aufrichtung des Gesetzes 230 Bewusstsein 6, 8, 20, 23, 24, 27, 28, 45, 51, 54, 59, 61, 66, 70, 72, 73, 79, 85, 91, 100, 101, 125, 146, 148, 149, 153, 183, 184, 185, 197, 199, 200, 201, 202, 207, 208, 210, 216, 219, 223, 226, 228, 244, 259, 304
Bild 24, 25, 32, 37, 39, 41, 46, 49, 54, 57, 58, 59, 63, 64, 68, 93, 95, 99, 107, 123, 127, 129, 155, 157, 164, 167, 175, 179, 191, 192, 196, 222, 224, 241, 244, 246, 287, 291, 292, 296, 301, 302, 308, 313, 314 Bildung 52, 53, 130, 184, 325 Biologie 99, 230, 243, 296 Bonapartismus 131 Chaos 6, 46, 65, 90, 93, 100, 182, 200, 201, 202, 210 Chor 16, 40, 41, 43, 44, 164, 166, 167, 169, 171, 172, 175, 188, 193, 195 Christentum 26, 104, 133, 134, 135, 138, 140, 141, 145, 146, 147, 148, 149, 197, 199, 217, 218, 219, 220, 224, 226, 275, 296, 306, 310, 311, 312, 328 Darwinismus 96, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 252, 253 Dekonstruktion 11, 27, 50, 66 Demokratie 131, 139, 182, 184, 193, 276, 309, 325 Deutschland 45, 54, 109, 129, 139, 142, 148, 153, 155, 159, 160, 164, 197, 203, 204, 207, 231, 232, 233, 234, 235, 243, 250, 258, 259, 261, 262, 263, 264, 282, 284, 285, 286, 293, 302, 305, 307, 308, 313, 314, 316, 317, 322, 323 Dialektik 5, 117, 122, 172, 179, 180, 183, 186, 191, 194, 195, 196, 197, 198, 207, 233, 323 Dichtung 3, 21, 35, 36, 54, 62, 83, 84, 108, 128, 157, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 174, 175, 187, 188, 191, 192, 193, 195, 196, 201, 202, 205, 218, 266, 267, 269, 272, 319 Ding an sich 28, 40, 61, 62, 64, 72, 73, 74, 97
Sachregister
Dionysisch 16, 17, 22, 24, 25, 26, 35, 36, 37, 40, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 90, 113, 119, 121, 124, 134, 154, 169, 170, 173, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 214, 244, 276, 277, 306 Dissonanz 16, 31, 46, 173, 211, 212, 219 Dithyrambus 16, 44, 109, 110, 124, 166, 168, 169, 170, 175, 195 Dogmatismus 44, 62, 104, 105 Drama 17, 34, 41, 43, 44, 45, 157, 158, 162, 165, 166, 167, 168, 169, 171, 175, 188, 190, 193, 258, 276 Dynamik 8, 16, 24, 77, 131, 147, 214, 239, 251, 291, 294, 295, 300 Egoismus 4, 10, 80, 92, 216, 219, 249 Einheit 8, 16, 24, 28, 30, 32, 34, 37, 41, 48, 56, 70, 72, 97, 98, 113, 119, 189, 191, 194, 195, 201, 202, 258 Einsamkeit 112, 115, 118, 147, 154, 270, 326 Elite 11, 303, 311, 325, 326 Emanzipation 140, 144, 182, 186, 198, 283, 307 Empfindung 39, 44, 59, 64, 65, 66, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 77, 82, 83, 93, 95, 99, 104, 116, 138, 156, 161, 168, 206, 208, 229, 231, 247, 248, 249, 292, 302, 303 Empirie 36, 37, 42, 70, 72, 73, 74, 97, 162, 170, 242 Entfremdung 183, 186 Epigonentum 78, 197, 199, 200 Epik 158, 162, 163, 166, 168, 169, 171, 174, 181, 188 Erhabene, das 179, 191, 192, 196 Erkenntnis 3, 4, 9, 10, 18, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 27, 30, 45, 47, 49, 51, 52, 56, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 70, 72, 73, 74, 75, 77, 80, 82, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 109, 116, 117, 118, 124, 136, 140, 151, 152, 153, 176, 195, 199, 200, 201, 202, 207, 208, 209, 210, 213, 216, 217, 218, 219, 225, 247, 250, 273, 289, 313, 315, 326 Erkenntnistheorie 18, 32, 63, 68, 70, 77, 78, 95, 116, 209, 246
353
Erlösung 10, 32, 37, 66, 85, 217, 218, 219, 224, 225, 310 Erscheinung 28, 32, 34, 41, 45, 61, 73, 132, 179, 293 Ethik 9, 60, 85, 86, 96, 105, 116, 146, 153, 182, 184, 185, 214, 217, 218, 228, 231, 240, 246, 247, 248, 249, 259, 281, 300, 324, 326, 328 Europäer, guter 149, 153, 301 Evolution 99, 104, 105, 238, 239, 250, 252, 253 Ewige Wiederkehr des Gleichen 89, 90, 94, 97, 98, 101, 102, 113 Ewigkeit 2, 90 Existenz 1, 25, 28, 32, 39, 40, 45, 46, 47, 52, 53, 60, 76, 77, 83, 84, 85, 86, 89, 92, 93, 94, 101, 105, 133, 136, 171, 172, 182, 186, 188, 190, 195, 196, 199, 202, 207, 211, 212, 215, 219, 225, 234, 235, 239, 245, 285, 312, 313 Experiment 10, 11, 57, 93, 242, 251, 253, 293, 308 Expressionismus 291 Faschismus 314 Form 19, 114, 118, 124, 162, 312 Fortschritt 6, 138, 141, 181, 196, 242, 247, 328 Frau 118, 121 Freigeist 11, 27, 63, 141, 142, 146, 206, 218, 266, 268, 271, 281 Freiheit 46, 65, 90, 99, 121, 132, 147, 149, 151, 152, 153, 163, 167, 169, 179, 182, 183, 184, 185, 186, 193, 202, 209, 210, 223, 266, 285, 290, 309 Gattung 18, 27, 97, 99, 105, 106, 159, 161, 168, 169, 170, 180, 186, 188, 190, 192, 193, 194, 196, 221 Gebärde 23, 24, 117, 187, 244, 293 Gedächtnis 24, 58, 59, 68, 69, 220 Gefühl 22, 23, 24, 25, 27, 45, 46, 48, 65, 82, 83, 90, 92, 93, 107, 119, 120, 124, 141, 143, 147, 154, 161, 165, 167, 171, 188, 195, 197, 207, 208, 212, 213, 214, 217, 219, 226, 228, 229, 230, 244, 252, 258, 267, 270, 273, 292, 293, 298, 310 Gegenwart 50, 197, 258, 263, 274
354
Sachregister
Geist 1, 6, 8, 10, 23, 26, 29, 46, 54, 61, 71, 81, 85, 91, 104, 106, 116, 117, 120, 129, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 162, 174, 183, 184, 185, 186, 191, 194, 199, 200, 206, 216, 217, 219, 225, 229, 240, 252, 258, 260, 266, 281, 283, 287, 297, 301, 303, 306 Gemeinschaft 152, 209, 229, 249, 253, 262, 276, 282, 296, 299, 301 Genealogie 71, 85, 99, 101, 142, 149, 186, 200, 203, 204, 210, 220, 225, 226, 228, 229, 235, 238, 247, 248, 249, 310, 311 Genie 1, 2, 17, 20, 40, 54, 108, 141, 154, 225, 268, 294 Genie des Herzens 1, 2, 108, 154, 225 Gerechtigkeit 122, 138, 140, 141, 208, 217, 221, 222, 228, 229, 230, 231, 235, 249 Gesamtkunstwerk 129, 158, 160, 165, 167, 295 Geschichte 6, 7, 9, 11, 12, 94, 128, 135, 136, 142, 143, 144, 145, 151, 173, 176, 181, 182, 184, 185, 189, 191, 196, 197, 199, 200, 221, 233, 236, 239, 241, 247, 262, 278, 279, 290, 304, 310, 311, 318, 326 Gesellschaft 9, 12, 104, 105, 130, 150, 151, 152, 153, 154, 179, 181, 182, 183, 184, 198, 228, 229, 230, 239, 251, 253, 295, 301, 307, 312, 313, 317, 318, 324, 325, 326, 328 Gesetz 230 Gewalt 75, 127, 132, 226, 236 Glaube 2, 60, 61, 99, 100, 101, 104, 124, 133, 141, 146, 149, 152, 198, 208, 209, 218, 225, 238, 240, 263, 273, 274, 281, 308 Glauben 153, 300 Gleichgewicht 3, 15, 16, 22, 25, 37, 48, 102, 107, 173, 184, 185, 195, 228, 249 Gleichgültigkeit 4, 10, 90, 92, 93, 94, 95, 101, 102, 103, 105, 116, 124 Gleichheit 100, 220, 221, 222, 223, 224, 226, 234, 235, 236 Glück 66, 90, 110, 124, 146, 213, 216, 228, 307, 325
Gott 1, 7, 8, 31, 35, 41, 42, 88, 107, 119, 124, 194, 237 Grausamkeit 43, 133, 147 Griechentum 1, 3, 5, 6, 7, 16, 17, 18, 21, 22, 25, 35, 36, 38, 43, 48, 53, 55, 56, 58, 71, 78, 81, 86, 129, 130, 143, 151, 155, 159, 160, 162, 163, 164, 165, 172, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 200, 294, 305, 306 Hässlichkeit 92, 194, 217, 222, 264 Heiligkeit 123, 285, 310 Held 32, 41, 42, 46, 101, 103, 169, 173, 185, 304 Heldentum 300 Hermeneutik 18, 27, 136, 153 Herrschaft 10, 24, 62, 67, 105, 109, 116, 146, 150, 152, 153, 185, 210, 223, 224, 312 Hierarchie 10, 131, 149, 150, 151, 227 Humanismus 129, 133, 135, 237, 330 Ich 28, 29, 36, 104, 220, 227 Idealismus 19, 20, 21, 29, 47, 64, 79, 113, 129, 140, 141, 142, 151, 180, 181, 184, 194, 214, 216, 245, 261, 270, 282, 294, 302, 319, 320 Ideologie 236, 239, 258, 261, 271, 278, 280 Idyll 35, 128, 165, 173, 186, 187, 315 Illusion 2, 22, 25, 26, 46, 52, 61, 67, 83, 103, 104, 134, 188, 195, 211, 246, 298 Individualismus 4, 92, 319, 320 Individuatio 28, 29, 170 Individuum 10, 22, 25, 28, 31, 34, 36, 46, 82, 90, 93, 94, 99, 100, 103, 105, 106, 130, 139, 146, 192, 199, 213, 226, 228, 230, 236, 245, 246, 249, 250, 251, 252, 253, 299, 325 Induktion 2, 5, 34 Inspiration 87, 90, 96, 107, 112, 113, 114, 163, 181, 268, 297 Instinkt 9, 18, 21, 24, 27, 29, 30, 35, 40, 45, 47, 58, 60, 62, 66, 84, 94, 101, 104, 114, 117, 133, 147, 187, 193, 194, 209, 212, 215, 228, 243 Intellekt 29, 30, 58, 98, 215, 245, 264, 276
Sachregister
Intellektuelle 11, 197, 255, 298, 303, 308, 322, 323, 324, 326, 328 Introspektion 154, 220, 225, 289, 312 Intuition 5, 31, 63, 67, 97, 164, 185, 202, 267, 289, 307, 309, 312, 313 Ironie 51, 67, 83, 94, 134, 185, 189 Irrationalismus 2, 134 Irrtum 51, 53, 54, 55, 82, 100, 101, 102, 215 Judentum 235, 281, 310 Kampf 15, 25, 27, 75, 85, 91, 93, 94, 96, 97, 99, 129, 139, 152, 184, 188, 191, 192, 205, 207, 227, 230, 231, 245, 250, 251, 252, 258, 267, 276, 285, 297 Katharsis 172 Klassik 5, 7, 130, 141, 143, 152, 155, 156, 157, 159, 173, 175, 180, 181, 183, 184, 186, 197, 201, 314 Komische, das 179, 191, 192, 196 Kommunikation 23, 62, 106, 202, 307 Komplexität 9, 38, 64, 81, 92, 97, 98, 150, 153, 217, 229 Konservativismus 233, 236 Kosmopolitismus 11, 148 Kraft 18, 44, 46, 58, 59, 75, 76, 77, 94, 95, 96, 98, 106, 109, 119, 150, 153, 169, 173, 179, 197, 198, 208, 214, 216, 226, 260, 297, 306, 308, 310, 311, 312 Kreativität 18, 35, 39, 60, 66, 82, 92, 93, 94, 106, 107, 108, 113, 114, 136, 182, 197, 312, 313, 316, 326 Krieg 118, 149, 198, 220, 230, 275 Krise 9, 11, 12, 21, 44, 56, 60, 61, 62, 78, 80, 81, 143, 198, 282, 306, 308, 311, 318 Kultur 5, 6, 8, 10, 21, 35, 48, 51, 55, 56, 57, 61, 78, 79, 109, 128, 129, 130, 131, 132, 134, 135, 137, 139, 141, 143, 148, 155, 161, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 190, 194, 196, 197, 198, 200, 201, 202, 234, 235, 263, 264, 277, 293, 294, 296, 297, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 310, 314, 315, 320, 322, 324 Kunst 1, 3, 8, 9, 13, 16, 17, 18, 20, 24, 25, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 34, 36, 37, 41, 46, 47, 50, 52, 54, 56, 57, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 71, 78, 82, 83,
355
84, 86, 89, 93, 94, 101, 102, 106, 109, 117, 124, 129, 134, 137, 152, 155, 159, 161, 167, 171, 172, 173, 174, 176, 179, 180, 181, 182, 184, 185, 186, 188, 189, 190, 193, 195, 196, 200, 201, 210, 214, 245, 253, 258, 264, 266, 267, 272, 276, 285, 291, 294, 296, 298, 301, 305, 308, 328 Labyrinth 40, 49, 124, 142, 154, 180 Leben 3, 6, 7, 9, 10, 12, 22, 25, 26, 27, 30, 32, 34, 45, 47, 55, 58, 63, 67, 79, 80, 81, 82, 83, 89, 94, 101, 102, 103, 106, 107, 108, 116, 118, 119, 130, 131, 143, 144, 153, 157, 159, 166, 171, 182, 184, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 234, 241, 242, 253, 257, 258, 267, 269, 276, 277, 280, 281, 283, 284, 287, 293, 295, 296, 298, 301, 302, 305, 306, 307, 312, 313, 318, 319, 322, 325 Leib 39, 45, 73, 74, 76, 77, 244, 307 Leidenschaft 54, 89, 90, 91, 92, 94, 101, 102, 105, 110, 117, 124, 141, 151, 171, 210, 215, 225, 244, 247, 250, 276 Liberalismus 9, 131, 246, 282 Liebe 1, 46, 62, 91, 92, 113, 121, 122, 128, 217, 219, 225, 284 Logik 47, 62, 71, 72, 73, 75, 80, 82, 97, 99, 191, 211, 231, 243, 273, 329 Lüge 3, 40, 49, 53, 55, 63, 65, 67, 69, 73, 75, 80, 118, 170, 244, 273, 325, 329 Lust 20, 23, 24, 25, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 39, 42, 46, 66, 83, 91, 102, 103, 167, 170, 171, 179, 183, 186, 213, 240, 288 Lyrik 16, 35, 36, 37, 39, 89, 104, 165, 169, 170, 171, 175, 188, 191, 195, 196, 320 Macht 10, 152, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 230, 291, 309, 310, 311, 312, 313 Marxismus 182, 203, 232, 233, 237, 277, 278, 279, 280, 290, 326, 327 Maske 42, 67, 169, 197 Masse 40, 64, 68, 99, 104, 105, 148
356
Sachregister
Materialismus 145, 240, 241, 242, 245, 261, 263 Materie 23, 29, 73, 74, 76, 77, 174, 184, 185, 193, 302, 304 Mensch 4, 6, 7, 9, 18, 36, 37, 39, 53, 56, 59, 63, 64, 66, 67, 81, 82, 83, 91, 93, 94, 97, 98, 99, 102, 105, 108, 113, 116, 118, 124, 128, 133, 139, 143, 145, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 170, 173, 179, 184, 185, 187, 193, 194, 195, 197, 198, 210, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 219, 220, 221, 225, 227, 231, 232, 236, 240, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 251, 253, 259, 265, 266, 268, 273, 283, 285, 290, 293, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 310, 312, 313, 316, 320, 326 Mensch, letzter 116, 220, 221 Mensch, toller 7, 87, 237 Menschheit 10, 35, 82, 83, 85, 93, 94, 103, 104, 113, 132, 179, 183, 184, 187, 192, 200, 202, 208, 210, 212, 213, 215, 220, 221, 226, 227, 231, 246, 248, 252, 277, 313, 320, 325, 326 Metapher 64, 65, 66, 68, 69, 73, 108, 123, 244, 252 Metaphysik 2, 5, 9, 10, 11, 19, 27, 30, 38, 46, 47, 53, 56, 57, 60, 61, 62, 72, 74, 79, 80, 81, 82, 98, 103, 108, 116, 122, 140, 141, 142, 143, 149, 190, 199, 206, 207, 209, 225, 237, 266 Mimus 43, 44, 175 Mitleid 118, 147, 172, 217, 219, 225, 246, 264, 272 Mittelalter 132, 137, 199, 316 Moderne 6, 7, 8, 9, 21, 39, 47, 51, 52, 53, 140, 151, 161, 176, 177, 180, 183, 189, 198, 201, 202, 210, 294, 295, 297, 304, 306, 307, 313, 322, 330 Moral 85, 86, 142, 145, 149, 150, 203, 204, 210, 213, 220, 221, 222, 224, 225, 226, 228, 229, 231, 235, 236, 248, 249, 285, 309, 310, 311 Musik 16, 17, 24, 25, 36, 37, 39, 43, 44, 45, 46, 56, 60, 83, 106, 109, 110, 128, 129, 158, 159, 161, 162, 164, 166, 167, 168, 169, 170, 173, 175, 190, 193, 201, 264, 305, 319 Mysterien 26, 193 Mystik 92, 155, 170, 218, 258, 274, 301
Mythos 2, 8, 16, 44, 45, 46, 47, 133, 171, 181, 182, 183, 198, 219, 274, 322 Naiv 21, 25, 35, 80, 141, 173, 179, 185, 187, 188, 193, 194, 212 Nationalismus 11, 153, 277, 279, 282, 304 Nationalsozialismus 236, 286, 287, 314 Natur 21, 28, 32, 33, 35, 40, 51, 54, 56, 59, 60, 62, 64, 67, 68, 73, 80, 83, 84, 91, 93, 97, 103, 113, 121, 128, 133, 139, 156, 162, 165, 175, 181, 182, 184, 185, 187, 193, 196, 207, 209, 213, 214, 228, 242, 244, 245, 251, 305, 324 Nietzsche-Rezeption 3, 11, 12, 150, 198, 239, 257, 276, 277, 280, 281, 287, 288, 290, 292, 294, 305, 306, 307, 314, 315, 317, 318, 319, 322, 326, 327, 328, 329 Nihilismus 3, 7, 25, 44, 102, 151, 152, 187, 195, 201, 300, 312 Notwendigkeit 53, 54, 81, 82, 96, 98, 162, 209, 219, 228, 233, 242, 244, 247, 251, 274, 297, 303, 308, 312, 322 Objektivität 20, 39, 42, 60, 63, 64, 74, 97, 99, 122, 161, 171, 185, 188, 196, 199, 217, 302, 307 Obskurantismus 275, 280, 285 Öffentlichkeit 193, 197, 304, 317, 321, 324 Ökonomie 6, 179, 181, 182, 183, 186, 205, 224, 236, 247, 308, 326 Ontologie 70, 78, 79, 81, 216 Oper 17, 43, 46, 128, 129, 158, 159, 162, 166, 172, 173, 175 Optimismus 22, 25, 62, 205, 206, 207, 211, 214, 264, 296, 315 Organismus 22, 34, 85, 96, 99, 141, 250, 251, 252, 253, 292 Orient 140, 182, 184, 185, 191, 195, 243 Pathos 2, 53, 61, 75, 90, 108, 117, 120, 123, 162, 165, 175, 215, 217, 227, 230, 267, 280 Perspektive 3, 7, 8, 10, 12, 16, 22, 43, 50, 56, 58, 61, 74, 87, 92, 111, 113,
Sachregister
121, 133, 148, 149, 160, 165, 191, 199, 228, 231, 233, 237, 242, 247, 250, 281, 319, 330 Pessimismus 22, 25, 86, 131, 136, 151, 205, 206, 207, 209, 211, 213, 215, 263, 315, 328 Phantasie 19, 50, 51, 58, 59, 64, 95, 134, 166, 181, 182, 183, 212, 218, 301 Philologie 27, 37, 130, 161, 201, 243 Philosophie 1, 2, 3, 4, 8, 10, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 27, 28, 31, 32, 34, 36, 37, 47, 51, 52, 55, 56, 57, 59, 60, 62, 63, 67, 69, 70, 71, 77, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 86, 88, 90, 92, 93, 94, 95, 97, 101, 102, 103, 104, 105, 108, 116, 124, 135, 137, 140, 141, 143, 151, 152, 153, 154, 160, 182, 189, 194, 197, 198, 200, 201, 202, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 214, 216, 217, 218, 219, 220, 222, 224, 228, 229, 231, 233, 234, 239, 240, 241, 242, 244, 245, 250, 253, 258, 263, 274, 275, 276, 280, 282, 283, 284, 287, 288, 289, 297, 299, 309, 323, 327 Physiologie 284, 285 Plastik 158, 168 Platonismus 32, 33, 42, 104 Poetik 152, 161, 172, 180 Politik 9, 10, 12, 143, 148, 152, 154, 165, 179, 207, 226, 234, 236, 253, 262, 263, 277, 278, 279, 280, 293, 295, 304, 308, 309, 313, 314, 317, 318, 320, 322, 323, 325, 326, 327 principium individuationis 46 Prophetentum 2, 120, 154, 280, 313 Psychoanalyse 259, 278, 284, 286, 287, 290 Psychologie 1, 92, 115, 142, 151, 154, 217, 218, 219, 223, 224, 225, 247, 248, 263, 266, 283, 288, 293, 311, 329 Quellenforschung 18, 20, 33, 38, 42, 137 Rache 10, 217, 219, 222, 223, 224, 225, 228, 229, 230, 249 Rasse 234, 281 Rationalismus 2, 18, 21, 62, 140, 308, 312, 313
357
Raum 28, 34, 64, 72, 73, 75, 76, 77, 80, 98, 99, 110, 124, 150, 302 Rausch 1, 2, 26, 47, 193, 194, 195 Reaktion 33, 138, 143, 193, 227, 321 Recht 217, 228, 230, 231, 234, 285 Rechtfertigung, ästhetische 16, 78, 86, 188 Reformation 129, 132, 140, 143, 263, 288 Religion 47, 71, 83, 92, 104, 146, 200, 266, 274, 276, 285, 294, 296 Renaissance 7, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 140, 142, 143, 144, 151 Ressentiment 210, 225, 227, 228, 229, 310 Revolution 9, 138, 139, 143, 144, 175, 182, 233, 236, 272 Rhetorik 156, 159, 251 Risorgimento 131 Romantik 21, 47, 139, 141, 143, 150, 155, 180, 245, 296 Römer 129, 187, 310 Satyr 40, 41, 42 Schauspiel 40, 41, 91, 93, 134, 166, 171, 192, 195, 196, 197, 214 Schein 25, 30, 32, 34, 36, 37 Schenken 116, 228 Schicksal 45, 46, 124, 143, 147, 152, 209, 213, 248, 260, 298, 300, 313, 315, 319 Schmerz 23, 25, 26, 30, 31, 32, 33, 34, 36, 39, 42, 63, 66, 67, 86, 134, 150, 153, 171, 188, 212, 213, 227, 238, 243, 244 Schönheit 6, 22, 26, 35, 46, 49, 57, 93, 134, 180, 181, 182, 184, 185, 186, 187, 191, 194, 195, 196, 198, 202, 305, 307, 308 Schuld 122, 249 Seele 41, 45, 109, 116, 123, 128, 133, 154, 216, 225, 227, 264, 266, 267, 280, 293, 310, 312, 313 Selbstüberwindung 8, 9, 10, 72, 107, 113, 121, 122, 141, 147, 149, 150, 151, 153, 210, 221, 222, 224, 226, 227, 231, 232
358
Sachregister
Sentimentalisch 35, 173, 174, 283 Skeptizismus 62, 137, 210, 273, 285 Sklaven 310, 327 Sokratismus 19, 26, 47 Sozialismus 203, 204, 205, 221, 231, 233, 279, 327 Spiel 8, 16, 33, 36, 37, 39, 42, 45, 48, 49, 63, 66, 94, 119, 121, 134, 135, 144, 162, 167, 172, 189, 196, 202, 268, 279, 312, 324 Sprache 2, 3, 4, 8, 15, 21, 22, 23, 24, 25, 29, 30, 36, 37, 38, 39, 41, 42, 43, 45, 48, 49, 57, 58, 60, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 69, 78, 80, 82, 86, 96, 99, 101, 106, 107, 108, 109, 110, 113, 116, 117, 118, 119, 122, 123, 124, 139, 153, 157, 160, 165, 167, 169, 170, 175, 176, 196, 202, 232, 238, 243, 244, 245, 249, 252, 297 Staat 202, 229, 262 Stärke 10, 86, 127, 133, 150, 151, 152, 215, 230, 253 Stil 2, 4, 38, 108, 109, 110, 115, 117, 119, 154, 168, 193, 232, 285 Strafe 122, 229 Subjekt 28, 31, 36, 37, 39, 64, 73, 74, 75, 92, 97, 98, 99, 100, 104, 105, 171, 196 Sublimierung 61, 217 Succession 70, 76 Symbol 1, 23, 24, 29, 30, 37, 42, 45, 48, 77, 94, 115, 133, 162, 163, 165, 166, 171, 184, 194, 196, 222, 257 Symphonie 175, 277, 320 Tanz 42, 119, 295, 305 Technik 8, 91, 105, 181, 193, 202, 301, 308 Text 2, 3, 4, 5, 16, 37, 43, 49, 55, 57, 63, 89, 114, 116, 119, 120, 121, 138, 156, 157, 158, 160, 175, 176, 180, 181, 203, 223, 242, 252, 286, 307 Theologie 6, 137, 147, 199 Tod 54, 223, 224, 306 Ton 2, 24, 37, 42, 44, 45, 121, 124, 147, 154, 164, 166, 224, 242, 253, 270 Totalität 3, 29, 33, 45, 48, 58, 72, 73, 75, 97, 115, 183, 195, 215, 226, 233, 267, 292, 301
Tradition 5, 18, 19, 39, 47, 71, 78, 129, 130, 131, 136, 145, 146, 147, 149, 153, 176, 184, 249, 253, 283, 314, 323 Tragödie 1, 2, 3, 4, 5, 15, 16, 17, 18, 19, 26, 27, 31, 32, 34, 35, 36, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 49, 50, 55, 56, 57, 60, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 78, 79, 82, 84, 85, 86, 94, 101, 103, 104, 107, 128, 129, 136, 155, 156, 158, 159, 160, 161, 164, 167, 169, 170, 172, 173, 174, 179, 180, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 195, 196, 200, 201, 214, 245, 260, 264, 278, 296, 307 Tragödie der Erkenntnis 5, 86, 94, 100, 102, 106, 110, 116, 200 Traum 31, 35, 47, 66, 172, 194, 273 Tugend 4, 9, 115, 121, 122, 326 Typus 57, 143, 149, 227, 297 Übermensch 8, 108, 113, 117, 127, 221, 232, 239, 253, 298, 299, 319, 320 Umwertung aller Werte 248 Unbewusste, das 18, 19, 20, 21, 22, 23, 25, 28, 29, 31, 34, 65, 81, 95, 197 Ureine, das 30, 31, 32 Ursprung 2, 17, 25, 31, 36, 41, 44, 58, 63, 65, 66, 70, 91, 111, 118, 128, 133, 138, 142, 145, 168, 170, 171, 172, 200, 201, 204, 206, 207, 228, 229, 230, 231, 243, 247, 249, 252, 259, 260, 269, 274, 277, 307, 315, 322, 328 Utopie 203 Verachtung 105, 182, 216, 225 Verantwortung 7, 12, 144 Vergangenheit 7, 30, 47, 50, 54, 57, 88, 103, 128, 137, 144, 147, 148, 153, 169, 189, 267 Vernunft 6, 7, 8, 10, 28, 29, 47, 50, 60, 61, 70, 104, 141, 146, 148, 150, 153, 197, 198, 201, 218, 228, 281, 283 Vielheit 28, 30, 32, 41, 42, 98, 103 Vision 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 41, 42, 60, 66, 78, 107, 155, 169, 175, 182, 193, 214, 251, 272, 275, 299, 301 Volk 104, 182, 185, 195, 234, 235, 262, 309 Volkslied 193
Sachregister
Vorstellung 20, 22, 23, 24, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 36, 42, 45, 59, 60, 70, 72, 74, 75, 76, 77, 78, 86, 88, 91, 96, 100, 103, 104, 114, 127, 137, 138, 144, 148, 150, 151, 152, 163, 179, 182, 184, 186, 187, 211, 213, 215, 227, 236, 241, 245, 284, 292, 314, 328 Wahnsinn 20, 27, 28, 30, 101, 118, 223, 236 Wahrheit 3, 6, 10, 15, 19, 22, 24, 25, 26, 35, 40, 44, 48, 49, 51, 53, 54, 55, 61, 63, 65, 67, 68, 73, 75, 77, 80, 82, 91, 93, 94, 95, 99, 101, 102, 106, 107, 113, 138, 142, 146, 152, 153, 161, 170, 171, 179, 183, 186, 192, 195, 196, 200, 202, 208, 225, 236, 237, 244, 245, 249, 258, 273, 281, 324, 329, 330 Wahrnehmung 7, 11, 19, 23, 45, 58, 59, 64, 65, 68, 69, 71, 72, 73, 74, 93, 104, 194, 208, 220, 227, 289 Wanderer 63, 139, 141, 143, 145, 147, 153, 229, 248, 292, 309, 311 Weisheit 1, 18, 25, 44, 89, 188, 213, 214, 219, 310 Welt 8, 11, 16, 18, 20, 21, 22, 26, 27, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 40, 42, 44, 45, 46, 60, 61, 66, 73, 76, 77, 78, 91, 94, 96, 97, 99, 100, 103, 121, 122, 128, 137, 144, 151, 165, 166, 169, 171, 172, 179, 181, 185, 188, 194, 199, 202, 207, 208, 210, 211, 213, 215, 222, 225, 236, 245, 247, 248, 277, 283, 297, 301, 306, 310, 313, 314 Weltgeschichte 44, 54, 311, 312, 320 Werden, das 6, 30, 34, 45, 85, 98, 152, 199 Wert 48, 79, 83, 88, 97, 102, 106, 121, 133, 134, 141, 142, 143, 146, 147, 149, 151, 161, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 214, 215, 216, 217, 218,
359
219, 220, 222, 223, 224, 225, 227, 228, 229, 232, 234, 242, 258, 263, 282, 283, 285, 289, 296, 300, 301 Widerspruch 31, 34, 36, 39, 42, 76, 100, 150, 192, 230, 234, 240, 258, 263, 287 Wille 8, 10, 24, 25, 27, 30, 31, 34, 45, 60, 62, 116, 225, 230, 312 Wille zur Macht 8, 10, 96, 203, 225, 230, 239, 312 Wirklichkeit 6, 10, 28, 29, 36, 39, 42, 44, 46, 69, 70, 72, 73, 74, 80, 93, 95, 98, 99, 102, 103, 108, 131, 161, 163, 165, 169, 180, 199, 207, 211, 236, 244, 264, 272, 273, 274, 290, 293, 298, 301, 313 Wissenschaft 1, 2, 3, 8, 13, 16, 17, 19, 20, 26, 27, 34, 47, 49, 50, 52, 57, 59, 61, 63, 65, 66, 67, 71, 79, 80, 82, 83, 84, 86, 87, 88, 91, 92, 93, 94, 97, 99, 102, 104, 110, 115, 130, 136, 137, 140, 141, 144, 149, 150, 152, 153, 176, 180, 182, 201, 203, 206, 208, 218, 219, 226, 232, 236, 237, 241, 245, 250, 253, 273, 274, 277, 282, 283, 284, 288, 289, 301, 326 Wort 29, 42, 44, 45, 46, 49, 60, 108, 123, 128, 148, 159, 164, 166, 175, 238, 244, 285, 305 Zeichen 12, 24, 38, 65, 77, 85, 117, 179, 220, 227, 329 Zeit 76, 77, 115 Zerstörung 19, 25, 33, 39, 46, 101, 103, 214, 216, 219, 311 Zivilisation 21, 179, 197 Zufall 153, 194, 195, 196, 198, 288 Zukunft 17, 83, 85, 88, 105, 117, 118, 144, 216, 227, 228, 235, 248, 298 Zuschauer 40, 41, 44, 46, 167, 171, 172, 173, 198