Centauren-Geburten: Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche 9783110901771, 3110137968, 9783110137965


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German Pages 558 [560] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Federico Gerratana †
I. Philologie
Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius
: Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung
Vom ,Sprachkunstwerk‘ zur ,Leselitteratur‘. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als Gegenentwurf zur aristotelischen Poetik
Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre (1869–1878)
„Philologie als Beruf“. Zu Formengeschichte, Thema und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich Nietzsches
II. Sprache, Denken und Musik Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche
Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche
Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der Tragödie
Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche
Die Version der Metapher zwischen Musik und Begriff
III. Lektüre
Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen. Über Nietzsches. Verhältnis zu Karl Friedrich Zöllner und Gustav Gerber
Philologie und deutsche Klassik. Nietzsche als Leser von Paul Graf Yorck von Wartenburg
Ein Sinn und unzählige Hieroglyphen. Einige Motive von Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer in der Basler Zeit
„Er ist fast immer einer der Unserigen“. Nietzsche und Grillparzer
Verklärt-reine Herbstlichkeit. Einige Anmerkungen zu Nietzsches erster Bekanntschaft mit Goethe
Nietzsches Quelle des „Assassinenspruchs“
Nietzsche, Goethe und der historische Sinn
Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele
IV. Leben und Werk
Interpretation der Jugendschriften Nietzsches. Zum Verhältnis von Biographie und Philosophie
„Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an“. Ein Streifzug durch Nietzsches Aufzeichnungen zu einer „Geschichte der litterarischen Studien“
Die „immer neuen Geburten“. Beobachtungen am Text und zur Genese von Nietzsches Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“
L’image des philosophes préplatoniciens chez le jeune Nietzsche
„Immer wieder kommt einer zur Gemeine hinzu“. Nietzsches junger Basler Freund und Schüler Albert Brenner Mit einem unveröffentlichten Brief Friedrich Nietzsches
V. Kontinuität, Diskontinuität, Selbstinterpretation
Verkehrte Welt und Redlichkeit gegen sich. Rückblicke Nietzsches auf seine frühere Wagneranhängerschaft in den Aufzeichnungen 1880–1881
Wagner als Histrio. Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der decadence
Motive des romantischen Antikapitalismus bei Nietzsche
Zarathustra auf den Spuren des Empedokles und eines gewissen Herrn Bootty. Ein Beitrag zur Quellenforschung
Zu den Autorinnen und Autoren des Bandes
Siglenverzeichnis
Personenregister
Stellenregister
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Centauren-Geburten: Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche
 9783110901771, 3110137968, 9783110137965

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,Centauren-Geburten' Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter

Band 27

1994 Walter de Gruyter · Berlin · New York

,Centauren-Geburten' Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche

Herausgegeben von

Tilman Borsche Federico Gerratana f Aldo Venturelli

1994 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 2 0 - 2 2 , D-48143 Münster Prof. Dr. W o l f g a n g Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Hinheitsaufnahme

„ C e n t a u r e n - G e b u r t e n " : Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim j u n g e n Nietzsche / hrsg. v o n T i l m a n Borsche ... — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1994 ( M o n o g r a p h i e n und Texte zur N i e t z s c h e - F o r s c h u n g ; Bd. 27) I S B N 3-11-013796-8 N E : Borsche, T i l m a n [ H r s g . ] ; G T

© C o p y r i g h t 1994 by Walter de G r u y t e r & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e V e r w e r t u n g a u ß e r h a l b der e n g e n Grenzen des U r h e b e r r e c h t s g e s e t z e s ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages u n z u l ä s s i g und strafbar. Das gilt insbesondere für V e r v i e l f ä l t i g u n g e n , U b e r s e t z u n g e n , M i k r o v e r f i l m u n g e n und die E i n s p e i c h e r u n g und V e r a r b e i t u n g in elektronischen S y s t e m e n . Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : A r t h u r C o l l i g n o n G m b H , Berlin B u c h b i n d e r i s c h e Verarbeitung: L ü d e r i t z & Bauer, Berlin

Vorwort Nachdem der Basler Vortrag über Socrates und die Tragoedie beim Publikum nur „Schrecken und Missverständnisse erregt" hatte, machte sich Friedrich Nietzsche über seine literarische Zukunft Gedanken. „Wissenschaft Kunst und Philosophie", schrieb er im Februar des Jahres 1870 an seinen in Rom weilenden Freund Erwin Rohde, „wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, dass ich jedenfalls einmal Centauren gebären werde". Stolz und Sorge halten sich in dieser Aussage die Waage; beide waren wohlbegründet. F,in Jahrhundert lang saß Nietzsche mit den CentaurenGeburten seiner Feder zwischen allen Stühlen der etablierten Disziplinen. Nach dem Verriß der Geburt der Tragödie durch Ulrich von WilamowitzMoellendorf wurde er dauerhaft aus den Kreisen der philologischen Wissenschaft verbannt. Unter Künstlern hatte Nietzsche zu jeder Zeit noch am meisten Erfolg; doch die Deutschen wollten ihm den Bruch mit Wagner nicht verzeihen, und seine selbstkritschen Äußerungen über die „Seele der Künstler und Schriftsteller" trugen ihm wenig Sympathien ein. Die akademische Philosophie konnte seinen polemisch-aphoristischen, mit ihren Konventionen brechenden Schreibstil nur selten wirklich ernst nehmen; die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts markierten hier zwar eine Wende, leiteten jedoch keine endgültige Aufnahme in die philosophische Zunft ein. So ist letztlich erst seit dem Beginn der historisch-kritischen Ausgabe durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk in breiterem Umfang in Gang gekommen. Der „junge" Nietzsche bereitete und bereitet dabei ganz besondere Schwierigkeiten. Gerade der nach dem zweiten Weltkrieg notwendige und verdienstvolle Versuch, Nietzsche vom Ruf eines Feindes der Aufklärung zu befreien, hat zuweilen dazu geführt, daß der „Aufklärer" der Zeit ab Menschliches, All^umenschliches pauschal gegen den „Romantiker" der früheren „metaphysischen" und „wagnerschen" Phase ausgespielt wurde. In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich jedoch ein Wandel ab: Es mehren sich die fundierten erkenntnis- oder kunsttheoretisch, sprachphilosophisch oder kulturkritisch, historisch oder biographisch interessierten Untersuchungen zu Nietzsches frühem Schaffen. Um die Ergebnisse aktueller Forschungen und Studien zu diesem Thema zur Diskussion zu stellen, organisierte das von Montinari gegründete Forschungsprojekt La biblioteca e le letture di Nietzsche (Florenz, Pisa, Urbino) eine internationale Tagung, die vom 2. bis 4. März 1992 an der Universität

VI

Vorwort

Urbino stattfand. Die Teilnehmer kamen aus Italien und Deutschland, aus Osterreich und Spanien, aus Frankreich und Holland, aus der Schweiz und den USA; viele von ihnen sind an der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefen beteiligt. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwiefern durch die maßgeblich von Montinari angeregte historisch-philologische Nietzsche-Forschung neue Perspektiven für die Nietzsche-Interpretation eröffnet werden können. Die Durchsicht der vorgelegten Beiträge ließ eine Gliederung nach fünf Schwerpunkten zweckmäßig erscheinen. Einige Vorträge, die sich in diesen Rahmen nicht einfügen ließen, konnten daher nicht aufgenommen werden. Andere wurden von den Autoren revidiert und teilweise erheblich eweitert. Schließlich gelang es uns, sechs einschlägige Beiträge, die in Urbino nicht vorgetragen wurden (von Campioni, Cancik, Fietz, Haase, Hödl und Kohlenbach), für den Druck zu gewinnen. Da die beiden ersten Schwerpunkte thematischer, die folgenden methodischer Natur sind, waren Überschneidungen zwischen den Abteilungen unvermeidlich; sie unterstreichen nur den Zusammenhang des Ganzen. Die I. Abteilung stellt die größte Neuheit unseres Bandes dar. Wohl zum ersten Mal beschäftigte sich ein Kolloquium in diesem Ausmaß mit den philologischen Studien Nietzsches, die den thematischen Ausgangspunkt seiner Arbeiten markieren. Philologie war seine Wissenschaft, sein Beruf, lange Zeit seine große Hoffnung. Die inhaltliche wie methodische Relevanz der philologischen Studien für den späteren Denkweg des Philosophen steht außer Frage. Schon in den Beiträgen der ersten Abteillung wird die Grenzüberschreitung zu anderen Disziplinen deutlich, zur Literaturwissenschaft, zur Philosophie, zur Rhetorik. Zugleich meldet sich aber auch schon hier das zentrale Problem der neueren Nietzsche-Forschung: Fragen nach den historischen Quellen der Texte sowie nach dem Wert und der Bedeutung dieser Quellen für eine angemessene Interpretation des Werks. Wenn der Philologe zu philosophieren beginnt, stößt er auf das Problem der Sprache. Nietzsches Äußerungen zu diesem Problem haben innerhalb des Themenkomplexes „der junge Nietzsche" die vielleicht größte Aktualität. Die Sprachphilosophie Nietzsches, insbesondere Fragen zu ihren Quellen und zu ihrer Entwicklung, sowie das Problem des Verhältnisses von Sprache, Denken und Musik werden von der Forschung in jüngster Zeit intensiv untersucht. Als wichtig erweisen sich dabei vor allem die Entwicklung von Nietzsches Denken über Sprache in den Jahren 1869 bis 1873, die Frage nach der Tradition, in der dieses Sprachdenken steht, sowie das Spannungsfeld zwischen Kritik der begrifflichen Sprache einerseits und Orientierung am Modell des musikalischen Ausdrucks andererseits. Die Beiträge der II. Ab-

Vorwort

VII

teilung spiegeln diese Vielfalt und Komplexität von Nietzsches Sprachreflexionen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit Nietzsche m u ß die konkreten B e d i n g u n g e n mitberücksichtigen, unter denen sich die jeweiligen Fragestellungen bilden. Allgemeine Aussagen über die Originalität Nietzschescher Gedanken oder über historische Filiationen gelten inzwischen nur dann als g l a u b w ü r d i g , w e n n sie die Forschungen zu den tatsächlichen Umständen von Nietzsches Wissensbildung nicht vernachlässigen. Was kannte Nietzsche w i r k lich, was davon hat er ausgesondert, was übernommen, und wie hat er sich das Übernommene angeeignet, wie hat er es umgestaltet, u m g e w e r t e t ? In Aufsätzen aus allen Abteilungen des Bandes findet man Beiträge zur K l ä r u n g solcher Fragen. Die W i c h t i g k e i t der „Quellenstudien", die unser NietzscheBild verändern, ließ es jedoch angebracht erscheinen, denjenigen Aufsätzen, die ihren S c h w e r p u n k t in der Erforschung von Nietzsches L e k t ü r e oder, mit Montinari zu sprechen, in der Rekonstruktion seiner ideellen Bibliothek haben, eine eigene Abteilung zu w i d m e n . Thematisch und historisch sehr breit gestreut, untersuchen die in der III. Abteilung versammelten Beiträge in minutiöser Detailarbeit die jeweilige Lektüre Nietzsches und ihren Einfluß auf Wortlaut und Gehalt seiner Schriften. Der w e g w e i s e n d e Geist M o n t i n a r i s ist hier am deutlichsten zu spüren. T h e m a der Beiträge der IV. Abteilung ist der ebenfalls in jüngster Zeit viel diskutierte Z u s a m m e n h a n g von Leben und Werk des jungen Philosophen. Schwerpunkte sind dabei die interpretatorische Relevanz biographischer Begebenheiten, der Z u s a m m e n h a n g von Erlebtem und Geschriebenem sowie die Herausbildung von textuellen und theoretischen Konstellationen innerhalb des rasch sich wandelnden Horizonts der allgemeinen Zeit- und besonderen Lebensumstände Nietzsches. Die Aufsätze der ]/. Abteilung sprengen die zeitlichen Grenzen eines dem jungen Nietzsche g e w i d m e t e n Bandes. Die Überschreitung vollzieht sich in zwei unterschiedlichen R i c h t u n g e n : Einerseits geht es d a r u m , w i e T h e m e n und Probleme, die den jungen Nietzsche beschäftigen, später in zumeist veränderter Form wieder auftauchen, um Kontinuität und Diskontinuität seines Denkens also; andererseits d a r u m , wie Nietzsche die eigenen frühen Texte reflektiert, um die Selbstinterpretation seines Denkens also. Das Bild, das Nietzsche seit Mitte der siebziger J a h r e von seiner Frühzeit entwickelt, ist für seine spätere Philosophie ebenso relevant, w i e es für die NietzscheRezeption und -Forschung bestimmend wurde. Zusammen weisen die Beiträge der IV. und der V. A b t e i l u n g in eine Richtung, der für eine historisch-kritische Nietzsche- Forschung kein geringerer Stellenwert z u k o m m t als der Untersuchung von Nietzsches Bibliothek und Lektüre. Die T e x t e n t w i c k l u n g , die die Kritische G e s a m t a u s g a b e durch

VIII

Vorwort

die Angabe von Vorstufen und Querverweisen zu erschließen versucht, verschafft der Interpretation neue Einblicke in die — innere und äußere — Genese von Nietzsches Werk. Ein so umfängliches Unternehmen wie die Tagung selbst und die Veröffentlichung ihrer Akten konnte nur dank vielfältiger Hilfe Zustandekommen. An erster Stelle sind hier Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi zu erwähnen, die die Organisatoren des Kolloquiums tätig unterstützten und sich für die Veröffentlichung der Beiträge einsetzten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der italienische Consiglio Nationale delle Ricerche, der Ministero per l'universitä e per la ricerca scientifica e tecnologica sowie das Forschungsprojekt La biblioteca e le letture di Nietzsche trugen die finanzielle Hauptlast der Tagung und beteiligten sich an den Druckkosten. Die Universität Urbino war unser Gastgeber und ermöglichte einen reibungslosen Verlauf der Arbeiten vor Ort in angenehmer Athmosphäre. An der Redaktion der Beiträge wirkten mit: in Berlin Colette Sarrey-Strack, Leonie Schröder und Renate Wollowski; in Hildesheim Maidon Bader, Sabrina Ebbersmeyer, Viola Hasselberg, unterstützt aus Forschungsmitteln der Universität Hildesheim, sowie insbesondere Dr. Christian Strub; in Rom Elisabeth Galvan. Die Register sind Daniela Müller (Hildesheim) zu verdanken. Prof. Dr. Heinz Wenzel vom Verlag Walter de Gruyter ließ es sich nicht nehmen, in einer der letzten Amtshandlungen seiner fünfunddreißigjährigen Dienstzeit den Band verlegerisch vorzubereiten und auf den Weg zu bringen. Das Kolloquium in Urbino war dem Gedenken Mazzino Montinaris gewidmet. Wir hoffen, daß der vorliegende Band von den Anregungen, die seine Arbeit der Nietzsche-Forschung gegeben hat, ein weiterwirkendes Zeugnis ablegt. Die Herausgeber Berlin, Hildesheim, Urbino im Februar 1994

Federico Gerratana f A m 15. März 1994, kurz vor dem Abschluß der Redaktionsarbeiten, starb Federico Gerratana, plötzlich und unerwartet, f ü n f u n d d r e i ß i g j ä h r i g , in Berlin. Er w a r eine treibende Kraft bei der Planung und Organisation des Kolloq u i u m s in Urbino sowie bei der S a m m l u n g und Sichtung der Ergebnisse, die heute auch in seinem Namen der Öffentlichkeit v o r g e l e g t werden. W i r und alle anderen, die in diesem Unternehmen mit ihm zusammenarbeiteten, lernten seine menschliche G r o ß z ü g i g k e i t und intellektuelle Nüchternheit, seine philologische Genauigkeit und Strenge, seine k o m p r o m i ß l o s e A b l e h n u n g aller Vereinfachungen und nicht zuletzt seinen bisweilen entwaffnenden W i t z ebenso kennen wie schätzen. Solche Eigenschaften verbanden sich bei Gerratana mit dem klaren Bewußtsein, daß die wissenschaftliche Zusammenarbeit eine n o t w e n d i g e Voraussetzung für die heutige Nietzsche-Forschung bildet. Dieses Bewußtsein war bei ihm von der lebendigen Erinnerung an den Lehrer Mazzino Montinari getragen. Im Herbst 1983, nach Abschluß seiner Univeritätsstudien in R o m , w a r Gerratana nach Berlin g e k o m m e n und hatte dort das freie Seminar besucht, in dem Montinari mit einem kleinen Kreis von Mitarbeitern und Studenten philologische und hermeneutische Probleme der Kritischen Gesamtausgabe erörterte. Angeregt durch die Arbeit von Montinari w u r d e n die A u f m e r k s a m k e i t auf die Besonderheit jedes Nietzsche-Fragments, das Bemühen u m eine genaue Rekonstruktion der verschiedenen E n t w ü r f e und Fassungen eines Textes sowie die sorgfältige Erschließung der Quellen und der zahlreichen Bezüge zwischen Fragmenten und veröffentlichten Werken immer mehr zu Gerratanas eigenen Forschungsmaximen, die er bald ganz in den Dienst der eigenen Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe stellte. Der umfangreiche Nachbericht zur ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Briefwechsel (Briefe von und an Friedrich Nietzsche, Oktober 1849 - April 1869, Berlin/ New York 1993), den Federico Gerratana zusammen mit Renate Müller-Buck verfaßte, sowie seine Mitarbeit an der Fortsetzung der italienischen Nietzscheausgabe, im R a h m e n derer er auch einen viel beachteten Kommentar der Nachgelassenen F r a g m e n t e 1869 — 1874 veröffentlichte, sind von bleibender Bedeutung für die Nietzsche-Forschung. Die philologische Analyse der Elemente, die bei der Entstehung und Schichtung eines Textes m i t w i r k e n , wollte Gerratana stets in einen weiteren Horizont gestellt sehen. Sie sollte der Rekonstruktion von Nietzsches geistiger

χ

Federico Gerratana f

Entwicklung dienen und die dieser Entwicklung eigene Spannung zwischen Kontinuität und plötzlichem Wandel, ihren Charakter einer offenen, stets problematisch bleibenden Totalität verdeutlichen. Wie auch sein Beitrag zum vorliegenden Band zeigt, richtete sich seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Phase der Entstehung dieser Totalität, d. h. auf die allmähliche Bildung der philosophischen Identität Nietzsches, die er nicht im Gegensatz zu, sondern in Funktion von dessen philologischer Tätigkeit zu verstehen suchte. Indem wir diesen Band über den ursprünglichen Anlaß hinaus auch dem Andenken Federico Gerratanas widmen, wünschen wir vor allem, daß die hier versammelten Beiträge ein lebendiges Zeugnis der weitgespannten interdisziplinären Interessen und der ernsten Leidenschaft der Erkenntnis des Nietzsche-Forschers Gerratana ablegen werden. Aldo Venturelli, Urbino sowie für die Herausgeber der MTNF: Wolfgang Müller-Lauter, Berlin im Mai 1994

Tilman Borsche, Hildesheim

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Federico Gerratana f

IX

1. Philologie Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius Von Marcello Gigante

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Gesichtspunkte, von denen aus man das Altcrthum betrachtet, sammt allen Verkehrtheiten, kurz jene Grenzlinien zwischen den Philosophemen und der Litteraturgeschichte. Dazu ist nöthig eine Erkenn < t > niß über die Kette von Theoremen, die man über Geschichte aufgestellt hat. (BAW III, 329)

Das Projekt einer Geschichte der antiken Literaturgeschichte als Basis für eine moderne Geschichte der antiken Literatur schcint sich vor allem aus den Untersuchungen über die Echtheitsfrage der Schriften Demokrits entwickelt zu haben, die Nietzsche für eine geplante Festschrift zu Ehren Friedrich Ritschls als Aufsatz „über Demokrits Schriftstellerei" ausarbeiten wollte. 3 2 Die veröffentlichten Notizen 33 zeigen — soweit aus ihnen inhaltliche und konzeptionelle Dispositionen kenntlich werden — zugleich eine auffällige Verbindung mit Philologie- und Historismuskritik. Sie zeigen, daß Nietzsche am Thema und auf dem Gebiet der ,Literaturgeschichte' bereits das Thema vom „Nutzen und Nachtheil der Historie" anspielte. Es wird allmählich Zeit nicht mehr über den Buchstaben zu hocken. Das Bestreben der nächsten Philologengeneration muß endlich sein abzuschließen und das große Vermächtniß der Vergange < η > heit anzutreten. Auch diese Wissenschaft muß dem Fortschritt dienen. [...] Vor allem aber bringe man das zügellos umschweifende Geschichtsunwesen in seine Grenzen. Die Menschheit hat mehr zu thun als Geschichte zu treiben. Wenn sie es aber thut, so suche sie die bildenden Punkte. (BAW III, 337) 34

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M

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Vgl. an Rohde, 3. Nov. 1867 (KSB 2, 232); zum Inhalt an Gersdorff 16. Febr. 1868 (KSB 2, 255); zur Entwicklung des Projekts vgl. Mette, Nachbericht zu BAW IV, 601 ff.; Reibnitz, Hin Kommentar ..., a. a. O. Anm. 29, 21 ff.; außerdem unten Anm. 35. Sie verteilen sich auf die Bände III, IV und V der BAW; theoretisierende Aufzeichnungen finden sich v.a. in Bd.IIl, vgl. 319-326; 328-331; 336-342 und in Bd.V, bes. 34, 185f., 193f., 212 f.; hierzu auch unten Anm. 35 u. 36. Vgl. BAW V, 193 f., 212 f., 268 ff.

V o m , S p r a c h k u n s t w e r k ' zur , L e s e l i t t e r a t u r '

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Über den eigentlichen O r t dieser Überlegungen in den Untersuchungen zur D e m o k r i t f r a g e 3 5 bzw. in sonstigen philologischen K o n t e x t e n 3 6 w i r d sich erst Aufschluß gewinnen lassen, wenn die Schriften der Studienzeit in der K G W kritisch ediert sind. S o w o h l die selektive Veröffentlichung aus den philologischen Heften, wie auch, und das ist gravierender, die A u f l ö s u n g des authentischen Zusammenhangs dieser Hefte in der B A W lassen eine solche Untersuchung bislang nicht zu. Der Blick auf das Zusammenspiel v o n Philologie und Philosophie im Denken des jungen Nietzsche ist damit einstweilen noch verstellt. 1 8 6 8 entwarf Nietzsche die Disposition f ü r „ca. 1 0 0 0 Seiten" „Prolegomena zu einer Geschichte der griechischen Litteratur." 3 7 Der Buchplan w u r d e jedoch durch die überraschende Berufung nach Basel beiseitegelegt. Das Stichwort „Literaturgeschichte" erscheint nun in verschiedenen v o r bereitenden Notizen als Thema für zukünftige Vorlesungen. 3 8 Nietzsche hat eine solche Vorlesung allerdings erst sehr viel später realisiert, und zwar im Wintersemester 1874/75, mit Fortsetzungen bis zum W S 1875/76. In seiner Vorlesung „Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben" 3 9 aus dem Sommersemester 1871 hat er 13

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38

Der A b d r u c k in B A W , der bislang einzigen kritischen Edition des w i s s e n s c h a f t l i c h e n Nachlasses der Studienzeit, folgt c h r o n o l o g i s c h e n Z u o r d n u n g e n ; der Z u s a m m e n h a n g der v o n Nietzsche benutzten Hefte w i r d dabei a u f g e l ö s t . F ü r die N o t a t e , die sie in die Zeit von „Herbst 1867 bis F r ü h j a h r 1868" datieren, haben sich die H e r a u s g e b e r der Bände III und IV, H . J . M e t t e und K. Schlechte, d a r ü b e r h i n a u s für eine A u f t e i l u n g in . p h i l o l o g i s c h e ' und ,philosophische' Notizen entschieden. F,s fallen d a r u n t e r A u f z e i c h n u n g e n u. a. zu H o m e r und Hesiod und v o r allem zu D e m o k r i t , aus denen der ü b e r w i e g e n d e Teil der als „philosophisch" qualifizierten Ü b e r l e g u n g e n zur L i t e r a t u r g e s c h i c h t e extrapoliert ist. C h r o n o l o g i s c h entsprechen sich B A W III, 317-395 (Philosophisches) und B A W IV, 1-106 (Philologisches). Der o r i g i n a l e Z u s a m m e n h a n g v o n Nietzsches Ü b e r l e g u n g e n w u r d e auf diese Weise a u f g e l ö s t : z . B . ist der erste Teil einer längeren A u f z e i c h n u n g aus d e m Heft PI.11 — nach der M a n u s k r i p t b e s c h r e i b u n g v o n M e t t e (sachlicher Vorbericht zu B A W , L X I ) eine ( d u r c h l a u f e n de?) „ R e i n s c h r i f t " des f ü r Ritsehl geplanten D e m o k r i t a u f s a t z e s — in B A W III, 340-42 ( = PI.11, 7-11) g e d r u c k t (dort im A n s c h l u ß an andere N o t a t e unter der v o n Schlechta gesetzten R u b r i k resp. Überschrift „Zu einer Geschichte der litterarischen S t u d i e n " ) , die Fortsetzung findet sich in B A W IV, 87-89 ( = P I . l l , 12-16); die „Vorstufe" (PI.6.77-84) ist g e d r u c k t im N a c h b e r i c h t zu B A W III, 449-451. I m m e r h i n w u r d e jedoch in B A W IV auf die Anschlüsse in B A W III v e r w i e s e n ; generell ist z u d e m in B A W die M a n u s k r i p t v o r l a g e in M a r g i n a l i e n zu den veröffentlichten Notaten a n g e g e b e n . Im übrigen finden sich prinzipielle m e t h o d o l o g i s c h e und h e r m e n e u t i s c h e Ü b e r l e g u n g e n zur L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g v.a. in den U n t e r s u c h u n g e n zu H o m e r u n d Hesiod, die dann auch in die Basler A n t r i t t s v o r l e s u n g über „ H o m e r und die klassische P h i l o l o g i e " e i n g e h e n , v g l . ζ. B. B A W V, 268 ff. B A W V, 34; vgl. unter der R u b r i k „libri f u t u r i " B A W V, 175; D i s p o s i t i o n e n v e r m u t l i c h für eine Publikation auch in B A W IV, ζ. B. 120, 124, 127, 212 u.ö. Vgl. ζ. B. B A W IV, 121, 122, 211 u.ö.; B A W V, 239, 240 und unten A n m . 66. Gekürzt veröffentlicht zuerst in G O A 17 (Abt. III. 1 P h i l o l o g i c a ) , h g . v. F.. Hölzer, L e i p z i g 1910, 327-352; hier zitiert nach K G W II.3, hg. v. F. B o r n m a n n , Berlin/New York 1993, 339437.

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Barbara v. R e i b n i t z

j e d o c h in d e n A b s c h n i t t e n „§ 8. D i e V o r b e r e i t u n g zur H e r m e n e u t i k u n d K r i t i k " u n d „§ 17. Ü b e r die L e k t ü r e g r i e c h . u. r ö m . A u t o r e n " das T h e m a b e r ü h r t u n d a u f die G e s i c h t s p u n k t e h i n g e w i e s e n , u n t e r d e n e n eine B e s c h ä f t i g u n g m i t a n t i k e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t e ins A u g e g e f a ß t w e r d e n m ü s s e : Da die Uberlieferung gewöhnlich die Schrift ist, so müssen wir wieder l e s e n lernen. Wir müssen wieder l e s e n lernen: was wir, bei der Ubermacht des Gedruckten, verlernt haben. Dabei ist die Hauptsache, zu erkennen, daß für die antike Litteratur Lesen nur ein Surrogat oder eine Erinnerung ist. Die Tragödien zB. sind keine Lesedramen. Wie viel Mühe gehört dazu, den Homer nicht als Litteraturprodukt zu betrachten, wie das zum ersten Male Wolf that! (§ 8) 40 Über Literaturgeschichte. Es ist, bei der vorherrschenden Neigung dafür Zeit, auch das Bedenkliche sich einzugestehen. Die meisten Irrthümer schleich < e n > sich fort durch den Glauben an die Tradition: Eine L i t e raturgeschichte ist eine Summe von Exempeln für ethische aesthet. sociale u. politische Maximen, also höchst subjektiv! Man studire die Ansichten älterer Philologen, um dies einzusehn! Nun gar schon über das Alterthum die fertige Schablone mitzubringen, ehe man die Kunstwerke nur genau betrachtet hat, ist sehr bedenklich. Abgesehen also von einem ungefähren kurzen Abriß und Nomenklator der Autoren, ist von Anfang keine L i t e raturgeschichte nöthig: wohl aber ein fortwährendes Gebären einer solchen für jeden wahren Philologen eine ernste Aufgabe. Originalität der Anschauung! Ewige Correktur durch neues Betrachten, Vergleichen! Allmähliches Erweitern, bei sichcr werdendem Gefühl und Urtheil! Dies läßt sich im Allgemeinen gegen die sog. systemat. Vorlesungen einwenden: sie wollen Resultate geben, während das Alter eig. nur reif für einführende Winke ist. Die Bedeutung der WolPschen Proleg. für seine Zeit würde Niemand, der in jungen Jahren ist, ahnen: er überschaut die Voraussetzungen eben so wenig als die Consequenzen. Deshalb liegt auf dem Lesen u. Betrachten antiker Monumente ein solcher H a u p t w e r t h : hier kann sich die wahre Originalität zeigen: die Disciplinen müssen ein natürliches Resultat unzähliger Einzelbetrachtungen werden. (§ 17) 41 D i e V o r l e s u n g ü b e r „ G e s c h i c h t e der g r i e c h i s c h e n L i t t e r a t u r " 4 2 , die N i e t z sche s c h l i e ß l i c h u n t e r g r o ß e r g e s u n d h e i t l i c h e r A n s t r e n g u n g 4 3 u n d m i t e n o r m e m A r b e i t s a u f w a n d 4 4 g e h a l t e n hat, g i b t e i n e n E i n d r u c k v o n s e i n e m e i g e n e n u n d in d e r Tat , o r i g i n e l l e n ' Z u g r i f f a u f das T h e m a . I m N a c h b e r i c h t zu seiner Edition verweist Crusius auf erhaltene Vorstufen und umfangreiche vorbe40 41 42

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K G W II.3, 373. K G W 11.3, 405. G e k ü r z t veröffentlicht in G O A 18 (Abt. III.2), h g . v. O. Crusius, L e i p z i g 1912, 1-128 (Teil 1 u n d 2), 129-198 (Teil 3). Insbesondere im W i n t e r w a r Nietzsche beständig krank ( v g l . an R o h d e , 8. Dez. 1875, K S B 5, 125 f.); im F e b r u a r 1876 m u ß t e n die V o r l e s u n g e n schließlich a b g e b r o c h e n w e r d e n ( K S A 15, C h r o n i k S. 66). K S A 15, C h r o n i k , S. 63: „N arbeitet jeden Tag dreizehn S t u n d e n f ü r seine V o r l e s u n g e n . "

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reitende Materialien. 4 5 Diese Vorlesung gibt nicht nur, mit Crusius, „eine Quintessenz" der zuvor gehaltenen „Sonderkollegien und Ü b u n g e n " 4 6 , sie ist auch neben der im Wintersemester 1875/76 gleichzeitig gehaltenen Vorlesung über „Alterthümer des religiösen Cultus der Griechen" 4 7 die letzte neu konzipierte und ausgearbeitete Vorlesung, die Nietzsche in Basel vorgetragen hat. Diese beiden Vorlesungen sollten w o h l den A n f a n g des siebenjährigen Vorlesungszyklus über die Kultur der Griechen bilden, den Nietzsche im Austausch mit und in K o n k u r r e n z zu J a c o b Burckhardt plante. 4 8 Parallel zu dieser Vorlesung arbeitete er an seiner vierten Unzeitgemäßen Betrachtung „Wir Philologen". Diese Unzeitgemäße blieb bekanntlich unvollendet. Die erhaltenen Aufzeichnungen dokumentieren zusammen mit der Vorlesungstätigkeit aus der Mitte der siebziger J a h r e also den letzten Ansatz Nietzsches zu einer Bilanz dessen, „ w a s " und „ w i e " „von den Alten zu lernen" sei. Dieser erst noch zu rekonstruierende Z u s a m m e n h a n g 4 9 w i r d in den methodologischen V o r b e m e r k u n g e n und in der Gesamtkonzeption der Literaturgeschichtsvorlesung deutlich. Nietzsche eröffnete seine Vorlesung mit einer grundsätzlichen und f ü r den heutigen Leser erstaunlich ,modernen' Problematisierung des Literaturbegriffs. In der Ü b e r t r a g u n g des modernen Begriffs „Litteratur" auf die überlieferten antiken Texte liege ein fundamentaler Anachronismus. „Das Wort ,Litteratur' ist bedenklich und unterhält ein Vorurtheil." 5 0 Der Begriff setze bereits die ,Literarisierung', d. h. die Verschriftlichung als Horizont der Produktion wie der Rezeption von ursprünglich als , S p r a c h k u n s t w e r k e n ' konzipierten ,Texten' voraus. Für diese ,Texte' w a r jedoch M ü n d l i c h k e i t konstitutiv, d. h. ein jeweils gattungspezifischer Vortrags- oder A u f f ü h r u n g s rahmen und ein spezifisches Publikum, v o r dem die , S p r a c h k u n s t w e r k e ' realisiert wurden: Die Eigentümlichkeit der auf Mündlichkeit hin konzipierten Texte liegt darin, daß hier Autor, Text und P u b l i k u m einen Z u s a m m e n h a n g direkter kultureller K o m m u n i k a t i o n bildeten, der mit der Verschriftlichung der Literatur abgebrochen wurde. 4'

GOA 18, 323: „[...] einige Quartblätter sowie ein Zettelstoss geben einen Begriff von diesen Vorstufen"; ebd.: „In weitestem Umfang wurden die antiken Quellen gelesen; manche (ζ. B. Diogenes Laertius) sind für die litterargeschichtlichen Zwecke förmlich ausgezettelt." 46 GOA 18, 323. 47 Gekürzt veröffentlicht in GOA 19 (Abt. 1II.3), 1-124 (hg. v. O. Crusius, Leipzig 1913); der Titel lautet in GOA „Der Gottesdienst der Griechen", nach der zweiten Fassung aus dem W S 1877/78?; Janz gibt für das W S 1875/76 „Alterthümer der religiösen Cultur der Griechen" als Titel an, für W S 1877/78 „Religiöse Alterthümer": C.P. Janz, Friedrich Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in Basel 1869-1879, in: Niet^sche-Sludien 3, 1974, 192-203. 48 Vgl. W. Kaegi, Jakob Burckhardt. Him Biographie, Bd.VlI, Basel 1982, 46 ff., bes. 49 (Kaegi stützt sich auf Elisabeth Förster-Nietzsches Mitteilungen). 4'; Vgl. hierzu den Beitrag von H. Cancik in diesem Band. GOA 18, 3; leider sind die Ausführungen zum Begriff „Litteratur" nicht gedruckt.

56

Barbara v. Reibnitz Man könnte es eine E n t a r t u n g nennen, wenn eine gan2e Literatur L e s e l i t t e r a t u r geworden ist: nun aber leben wir in einer solchen Entartung und bringen deshalb viele falsche Maassstäbe und Voraussetzungen in die griechische Geschichte mit, von der uns l e i d e r nur Lesewerke vorliegen. 5 1

Die Geschichtsschreibung der griechischen Literatur müsse gerade den kulturellen Bruch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit kenntlich machen. 52 Sie müsse auf die historische Differenz zwischen Antike und Moderne hinweisen: Unwillkürlich legen wir unsere Zustände in die Vergangenheit hinein. Die Gleichartigkeit der modernen und der antiken griechischen Cultur war lange Zeit fest angenommen. Man vergass, dass der Zustand, der die Regel gebiert, ein anderer ist, als der, den die Regel gebiert. 5 3

Als Gesichtspunkte, unter denen er die Geschichte der antiken Literatur, die er als Geschichte der „sprachlichen Kunstwerke" — d. h. unter Ausschluß der „gelehrt-wissenschaftlichen" Überlieferung — entwickeln will, nennt Nietzsche erstens „die Kunstwerke der Sprache selber", zweitens „ihre Wirkungen und ihr Publikum" und drittens „ihre Erzeuger". Der erste Gesichtspunkt wird zunächst zwei Semester lang in einem gattungsgeschichtlich orientierten Durchgang diachron ausgeführt. 5 4 Die übrigen Gesichtspunkte werden im abschließenden Teil der Vorlesung im WS 1875/76 entwickelt. Hier fragt Nietzsche nun programmatisch nach der Genesis der klassischen griechischen Literatur: „Das P r o b l e m , mit dem wir uns an den Donnerstagen dieses Winters beschäftigen werden < l a u t e t > : [...] Wie kamen die Griechen zu ihrer klassischen Litteratur?" Die Beantwortung dieser Frage soll in der „ S u m m i r u n g der Einzelerfahrungen" gegeben werden, die der 51 52

53 54

Ebd. Die kulturwissenschaftliche Debatte über Mündlichkeit und Schriftlichkeit und ihre Bedeutung für Literatur- und Kommunikationstheorie wurde erst in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts in Gang gebracht: vgl. A. u. J . Assmann/Chr. Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis: Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 1983. Neben Marshall McLuhan ( T h e Gutenberg Galaxy, Toronto 1962; dt. Düsseldorf 1968) waren es vor allem die Arbeiten des Klassischen Philologen Ε. A. Havelock, die inzwischen zur Ausbildung einer eigenen Forschungsrichtung geführt haben: Preface to Plato, Cambridge 1963; The Origins of Western Literacy, Toronto 1976; The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton 1982 und zuletzt The Muse Learns to Write: Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, New Haven 1986 (dt. München 1992); vgl. die ausführliche Bibliographie der Arbeiten Havelocks und weitere Literatur in der Einleitung von A. u. J . Assmann zu E.A. Havelock, Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution (deutsche Auswahlübersetzung von „The Literate Revolution ..."), Weinheim 1990; neuere altertumswissenschaftliche Arbeiten auch bei W. Rosier, Rez. Havelock (1986) in: Gnomon 61, 1989, 385-88 sowie in Philologus 135, 1991, der dem Thema insgesamt gewidmet ist. GOA 18, 133. GOA 18, 1-128.

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gattungsgeschichtliche D u r c h g a n g vermittelt hatte. „ A b e r nicht dadurch allein: vieles konnte nicht bisher besprochen w e r d e n , weil es zum allgemeinen Schicksal jeder Gattung gehörte, das sich bei jeder w i e d e r h o l t . " Und eben dies ist „das Wichtigere", weil es „die a l l g e m e i n e < n > B e d i n g u n g e n " für die Genesis der klassischen griechischen Literatur enthält. Nietzsche hat 11 Gesichtspunkte in diesem 3. Vorlesungsteil ausgeführt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Die klassische Litteratur der Griechen als Erzeugniss einer unlitterarischen Bildung Anlässe zur Entstehung v o n Litteratur Das ursprüngliche Publikum jeder G a t t u n g Entstehung des Lesepublikums E i n w i r k u n g der G a t t u n g e n auf einander Blüte, Entartung, W i e d e r a u f b l ü h e n in den G a t t u n g e n Ueber die Fruchtbarkeit in den einzelnen G a t t u n g e n Ueber das Publikum der griechischen Dichter, Redner und Schriftsteller Der E r w e r b durch die Dichtkunst und Schriftstellerei V o r n e h m e und niedere G e b u r t bei Dichtern, Rednern und Schriftstellern Todesarten

Sowohl die übergreifende Fragestellung als auch die Mehrzahl der hier vorgestellten Gesichtspunkte waren im Kontext der Literaturgeschichtsschreibung neu und w u r d e n z.T. erst in diesem J a h r h u n d e r t w e i t e r g e f ü h r t . So die Frage nach den Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen literarischer Gattungen; die Frage nach dem P u b l i k u m , nach der sozialen Stellung der Autoren; die Differenzierung zwischen situationsbezogenem, k u n s t m ä ß i g e m Gebrauch des Wortes in Kult, Symposion, A g o n , Theater, Gericht und situationsgelöster ,Literatur'; die Betonung des Bruchs zwischen einer auf M ü n d l i c h k e i t oder Schriftlichkeit basierenden literarischen Kultur. 5 5 Der einleitende Abschnitt, mit dem Nietzsche den dritten Teil seiner Vorlesung eröffnete, formuliert den Perspektivenwechsel, den er vollzieht und gibt zugleich den Gesichtspunkt, unter d e m das T h e m a ,Literatur' ihm für das Gesamtbild der griechischen Kultur von Interesse war: „Die klassische Litteratur der Griechen" ist „das Erzeugniss einer unlitterarischen B i l d u n g " — so seine These, die ihm zugleich die gesuchte Differenz zur M o d e r n e bezeichnet: Die Bildung der neueren Zeit ist eine litterarische, sie beruht auf dem L e s e n , f...] dies setzt stillschweigend voraus, dass das schon da sein müsse, was gelesen zu werden v e r d i e n e und w o r a u s die Bildung dann erwachse: " Die Neuartigkeit und Produktivität dieser Fragestellungen sowie ihre Parallelen in den literaturhistorischen Forschungen seines Freundes Franz Overbeck wurde zuerst herausgestellt von H. Cancik/H. Cancik-Lindemaier, Der „psychologische Typus des Erlösers" und die Möglichkeit seiner Darstellung bei Franz Ovcrbcck und Friedrich Nietzsche, in: R. Brändle/E.W. Stegemann (Hg.) l'ran^ Overbecks unerledigte Anfrageη an das Christentum, München 1988, 108-135, hier: 129 ff.

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Barbara v. Reibnitz

[...] Also: eine litterarische Bildung einer Zeit ruht auf der Anerkennung einer k l a s s i s c h e n L i t t e r a t u r als deren Grundlage. 5 6 D e r G e s i c h t s p u n k t d e s „ K l a s s i s c h e n " ist ein a n d e r e r , je n a c h d e m o b er auf die P r o d u k t i o n , die „ E r z e u g u n g " e i n e r so b e n a n n t e n L i t e r a t u r a n g e w e n d e t w i r d o d e r a u f ihre R e z e p t i o n z u m Z w e c k e der B i l d u n g . P r o d u k t i o n u n d R e z e p t i o n einer , k l a s s i s c h e n ' L i t e r a t u r s c h l i e ß e n sich g e g e n s e i t i g aus: , k l a s s i s c h ' k a n n n u r eine o r i g i n a l e , d. h. n i c h t n a c h V o r b i l d e r n e n t s t a n d e n e L i t e r a t u r sein; die R e z e p t i o n einer s o l c h e n m i t V o r b i l d - u n d B i l d u n g s c h a r a k t e r schließt o r i g i n a l e E r z e u g u n g a u s : Die Entstehung der o r i g i n a l e n L i t t e r a t u r e n erfordert eine vergleichende Betrachtung, die noch nicht gemacht ist. Es scheint trivial, aber es ist es nicht: eine originale Litteratur kann nicht auf Grund einer anderen Litteratur wachsen, sie muss anderswoher entstehen: aus einem anderen Bedürfniss als einem litterarischen. Ueberall, wo eine klassische Litteratur entstanden ist, ist sie aus etwas Neuem hervorgegangen, was n i c h t litterarische Bildung war, mit ihr nichts zu thun hatte. Die k l a s s i s c h e L i t t e r a t u r der G r i e c h e n ist nicht mit H i n s i c h t a u f d e n L e s e r e n t s t a n d e n : das ist ihr Eigenthümlichstes. 5 7 D i e k l a s s i s c h e L i t e r a t u r der G r i e c h e n w a r nicht Text, sie w a r I n s z e n i e r u n g , „ w i e d i e K u n s t des M i m e n , f ü r d e n A u g e n b l i c k f ü r d e n g e g e n w ä r t i g e n H ö r e r u n d Z u s c h a u e r " . Z u g l e i c h w a r sie eine V e r k n ü p f u n g v o n K ü n s t e n , m i n d e s t e n s die d e r A k t i o n k l a m a t i o n , sonst a b e r M u s i k , G e s a n g , O r c h e s t i k " .

Ereignis, gemeint, „jedesmal und De-

Von dieser V e r b i n d u n g m i t K ü n s t e n wird abstrahirt, wenn man die reinen klassischen Litteraturwerke später als Kanon aufstellt, für lesende Menschen. Also in doppelter Weise v e r k a n n t e man später die griechischen Kunstwerke der Sprache: 1. man löste sie vom speciellen Anlass, speciellen Publikum los [...] 2. man trennte sie von den zugehörigen Künsten und nahm sie als verfasst für L e s e r . [...] G e g e n d i e s e Verkennung muss nun die Betrachtung sich richten: sie muss den Verband zwischen Dichtung, Anlass und Publikum zeigen, sie muss den Zusammenhang mit den anderen Künsten [...] zeigen: D a r a u s e r g i b t sich das Bild der u n l i t t e r a r i s c h e n Bildung.58 56 57 58

GOA 18, 131 f. GOA 18, 133 f. GOA 18, 134 f.; vgl. hierzu jetzt ausführlich B. Gentiii, Poesia e pubblico nella Grecia antica — Da Omero al V secolo, Roma/Bari 1984, engl. Baltimore 1988 (mit „corrections" und „certain updatings"); J . Herington, Poetry into Drama. Early Tragedy and the Greek Poetic Tradition, Berkeley 1985, bes. 1.1 „Poetry as a Performing Art" (3-40) und die Appendices I-VII; R. Kannicht, Thalia — Uber den Zusammenhang zwischen Fest und Poesie bei den Griechen, in: Poetik und Hermeneutik XIV (Das Fest), hg. v. W. Haug u. R. Warning, München 1989, 29-50.

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Vom ,Sprachkunstwerk' zur .Leselitteratur'

N i e t z s c h e führt im w e i t e r e n aus, daß „ u n l i t t e r a r i s c h " n a t ü r l i c h nicht h e i ß t ,schriftlos'. D i e S c h r i f t w a r weit v e r b r e i t e t , a b e r S c h r i f t l i c h k e i t w a r nicht G r u n d l a g e der K u l t u r . d9 D a s ändert sich erst m i t A r i s t o t e l e s . M i t A r i s t o t e l e s bzw. mit d e m 4. J a h r h u n d e r t wird die V e r s c h r i f t l i c h u n g b e s t i m m e n d für die Literatur. Erst zu Aristoteles' Zeit giebt es Schriftsteller für Leser, άυαγνωστικοί, Rhet. 111.12/"' Hier setzt N i e t z s c h e eine scharfe Zäsur. I m 4. J a h r h u n d e r t findet der kulturelle P a r a d i g m e n w e c h s e l statt, den er mit dem O b e r b e g r i f f des A l e x a n d r i n i s m u s k e n n z e i c h n e t . I m U b e r g a n g v o m 5. zum 4. J a h r h u n d e r t e n t s t e h e mit der , P a n h e l l e n i s i e r u n g ' der S p r a c h e , mit der E n t w i c k l u n g einer B i l d u n g s a r i s t o kratie im E i n f l u ß b e r e i c h der w a n d e r n d e n S o p h i s t e n und m i t der E n t w i c k l u n g der Stadt zur „Centraistätte der B i l d u n g " das L e s e p u b l i k u m . D i e s e s L e s e publikum

„erzeugt"

sich nun einen

neuen

T y p u s , den

„Litteraten",

den

Prosaschriftsteller. D i e A b l ö s u n g des S p r a c h k u n s t w e r k s d u r c h die Leseliteratur sei identisch mit der A b l ö s u n g der P o e s i e d u r c h die P r o s a . Das Schreiben ist ein wesentliches Merkmal für den Prosaiker, der für Leser arbeitet; nicht für den Dichter, der an Hörer denkt. 61 Es ist eine v o r n e h m e , k ä l t e r e G e i s t i g k e i t , welche die e i g e n t l i c h e L e s c l i t t e r a t u r schafft und begehrt; man hat die Wirkungen durch Schauspielerkunst, f...], Anrufung der Leidenschaften, des Gemüths, etwas satt, man fühlt mit dem Pathetischen des Ausdrucks nicht mehr mit; [...] Diese vornehmen Menschen haben sich alle sehr in der Gewalt und verstehen es, sich kalt und besonnen zu stellen; sie haben viel gelernt und denken gerne dialektisch für und wider; ein paradoxes Thema ist eine Feinschmekkerei für sie: alle ihre Eigenschaften gehen auf den S c h r i f t s t e l l e r über, der sie als sein Publikum betrachtet; dieselben Eigenschaften constituiren sich als Maassstäbe des Urtheils auch über die älteren Schriftsteller und Künstler. 6 2

"

Vgl. zur Frage der I.iteralität, ihrer Funktion und ihrer (schichtenspezifischen) Verbreitung in der Antike jetzt W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge/Mass. 1989. G O A 18, 16; die Auslegung der von Nietzsche herangezogenen Aristotelesstelle müßte man allerdings vorsichtiger fassen: Aristoteles spricht dort von Dichtern wie dem Tragiker Chairemon, die „zum Lesen geeignet" seien, deren Qualitäten sich erst einem Leser voll erschließen; vgl. hierzu: Musa Tragica (a.u. Anm. 79), 154 f., Vorwort zu 71 Chairemon m. Anm. 1 (für diesen Hinweis danke ich R. Kannicht). Diese Differenzierung ist insofern von Bedeutung, als die Zäsur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit historisch so scharf und punktuell, wie Nietzsche sie zeichnet, nicht zu situieren ist. F.s handelt sich um einen während der gesamten Archaik und Klassik andauernden Prozess gegenseitiger Beeinflussung, in dem sich allerdings zur Zeit des Aristoteles das Gewicht eindeutig auf die Schriftlichkeit verschiebt. Aristoteles diagnostiziert eben diese Verlagerung und ihre Auswirkungen.

"

G O A 18, 13 (Teil 1, §4 Prosa und Poesie in ihrem Unterschiede). G O A 18, 156.

62

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Barbara v. Reibnitz

Es ist interessant zu bemerken, wie in diesen Formulierungen ein gegenüber der frühen Basler Zeit veränderter intellektueller Idealtypus kenntlich wird, der dann mit „Menschliches, Allzumenschliches" die Dichter und Philosophen des tragischen Zeitalters ablösen wird. Erklärt resp. belegt wird die behauptete Veränderung der griechischen Mentalität zur „Geistigkeit" nicht. Je mehr die Lust am Logischen, am Wissenschaftlichen zunimmt, um so geachteter wird auch die Schrift, als das Organ dafür. (GOA 18, 139)

Die Verschriftlichung der Literatur werde vorangetrieben durch die aufkommenden Wissenschaften. Am meisten wurde die A c h t u n g v o r d e r S c h r i f t befördert durch die rein w i s s e n s c h a f t l i c h e n M e n s c h e n , die sich ihrer bedienten, [...]. 6 3

Mit und in der Schriftlichkeit konstituiert sich eine veränderte Kultur. Euripides, „der erste große Leser" 6 4 , und Aristoteles, „der erste Logiker", sind ihre charakteristischen Vertreter. Es ist bemerkenswert, daß Sokrates, der in den Basler Frühschriften den „Wendepunkt und Wirbel" (GT 15) für den Wechsel von der Kunst- zur Wissenschaftskultur verkörperte, nun 1875/76 anders eingeordnet wird. Er ist in dieser Vorlesung der Vertreter einer noch und gerade auf Mündlichkeit orientierten Philosophie, deren Verwissenschaftlichung erst mit Aristoteles und dem Peripatos beginnt. Produkt und Dokument des von Nietzsche beschriebenen kulturellen Paradigmenwechsels ist nun auch die Grundschrift der antiken Literaturtheorie, die Poetik des Aristoteles. Sie ist verfaßt in der Perspektive jener veränderten ästhetischen Normen und Kategorien, die sich an der aufkommenden Leseliteratur orientieren. In der Literaturgeschichtsvorlesung selbst hat sich Nietzsche nicht mit ihr beschäftigt — dennoch läßt sich zeigen, daß er in Auseinandersetzung mit der Poetik und mit der aus ihr sich ableitenden, auf sie sich berufenden modernen Theorie der antiken Literatur 6 5 den Ansatz seiner Auffassung gefunden hat. Bereits in den Notizen der Leipziger Studienzeit zum Thema „griechische Litteratur" findet sich wiederholt das Stichwort „Aristoteles". Diese Notizen 63 64

65

GOA 18, 139; vgl. schon KSA 7, 3[50] (Winter 1 8 6 9 - 7 0 - Frühjahr 1870). Vgl. zu den spöttischen und polemischen Konnotationen, durch die schon in der alten Komödie, vor allem durch Aristophanes, und in der antiken Biographik Euripides zum ,Textdichter' gemacht wird Reibnitz, Hin Kommentar ..., a.a O. Anm. 29, 334. Zum Hinfluss der aristotelischen Poetik auf die Theoriebildung der Neuzeit vgl. M. Fuhrmann, Hinführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 185-302 (dieser Abschnitt wurde in der Neuauflage von 1992 weggelassen); ders., Die Rezeption der aristotelischen Tragödienpoetik in Deutschland, in: W. Hinck (Hg.), Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, 93-105; St. Halliwell, Aristotle's Poetics, London 1986, 286-323.

Vom ,Sprachkunstwerk' zur ,Leselitteratur'

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scheinen nicht a u s g e f ü h r t w o r d e n zu sein, sie zielten j e d o c h a u f eine

Kritik

der „Poetik": E i n e K r i t i k d e r a r i s t o t e l i s c h e n P o e t i k ist n o c h n i c h t g e a h n t . E r g i l t i m m e r n o c h als π ρ ω τ α γ ω ν ι σ τ ή ς . M a n b e g i n n e m i t d e r T r a g ö d i e . 6 6 D e r kritische A n s a t z dieser N o t a t e w i r d f o r t g e f ü h r t in d e n H e f t e n der B a s l e r Zeit, in d e n e n N i e t z s c h e seine V o r l e s u n g e n ü b e r die T r a g ö d i e , seine V o r t r ä g e über „Das griechische M u s i k d r a m a " und über „Sokrates u n d die

Tragödie"

sowie schließlich „Die Geburt der Tragödie" vorbereitet67, und dort g e w i n n t er K o n t u r : G e g e n A r i s t o t e l e s , der die δ ψ ι ς und das μέλος nur unter die ή δ ύ σ μ α τ α der Tragödie rechnet: und ganz bereits das Lesedrama sanktionirt. (Frg. 3 [ 6 6 ] , K S A 7, 7 8 ) . 6 8 Kritik der Aristotelischen Auffassung, zu e r k l ä r e n a u s E u r i p i d e s — der z w a r w i d e r r u f e n hat — Tod der T r a g ö d i e — Sokrates. [...1· ( F r g . 8 [ 3 ] , K S A 7, 2 2 0 ) . D i e in diesen A u f z e i c h n u n g e n v o r f o r m u l i e r t e K r i t i k a n d e r aristotelischen Tragödientheorie bildet die implizite Negativfolie, v o n der Nietzsche in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " sein Bild der T r a g ö d i e als eines schen Gesamtkunstwerks

66

67

sprachlich-musikali-

abhebt.

BAW III, 319; vgl. auch BAW V, 218 „Die drei griechischen Tragiker": Nietzsche will in der Wertung der großen Drei Aischylos an die Spitze stellen, gegen Aristoteles, für den Euripides der τ ρ α γ ι κ ώ τ α τ ο ς war. Vgl. sonst mit Bezug auf die „Poetik" ζ. B. BAW IV, 65; 120; BAW V, 206, 207; als Thema für Vorlesungen ζ. B. in BAW IV, 123, BAW V, ζ. B. 41, 176, 234, 239, 240, 249. Vgl. ζ. B. in KSA 7 die Notate: 1 [65], 1[111], 2[2], 3[53], 3[73], 5[8], 5[124], 7[72], 7[140], 7[143], 8[44], 8[48], 9[ 131 ]; auch hier lassen sich Genese, Kontext und Ausbildung von Nietzsches Fragestellung nicht genau verfolgen, da in der Kritischen Ausgabe von Colli/ Montinari die Trennung zwischen .philologischem' und philosophischem' Werk und Nachlaß fortgeführt ist und die bisher veröffentlichten Nachlaßaufzeichnungen ohne Manuskriptbeschreibung und Nachbericht in ihrem authentischen (Manuskript ) Zusammenhang nicht kenntlich sind; vgl. M. Montinari, Editorische Grundsätze ..., in: KSA 14, 18 f. und Reibnitz, Hin Kommentar ..., a. a. O. Anm. 29, 49 f. Nietzsche bezieht sich auf Aristoteles, Poetik 6, 1450bl5ff.: τ ω ν δέ λοιττών ή μελοποιία μέγιστον τ ω ν ή δ υ σ μ ά τ ω ν , ή δέ όψις ψ υ χ α γ ω γ ι κ ώ ν μεν, ά τ ε χ ν ό τ α τ ο ν δε και ή κ ι σ τ α οίκεΐον της ποιητικής· ή γ ά ρ τ η ς τ ρ α γ ω δ ί α ς δύναμις και άνευ α γ ώ ν ο ς και ϋ τ τ ο κ ρ ι τ ώ ν εστίν, [...]. „Was die übrigen Elemente anbelangt, so macht in erster Linie das Musikalische eine Tragödie anziehend (eigent.: ist das stärkste Würzmittel), wohingegen die Inszenierung zwar psychagogische Kraft besitzt, aber am wenigsten künstlerisch und der Dichtkunst zugehörig ist; eine Tragödie entfaltet ihre Wirkung nämlich auch ohne Aufführung und ohne Schauspieler [...]"; vgl. die Diskussion bei Halliwell, a. a. 0 . Anm. 65, 337 ff.

62

Barbara v. Reibnitz

Die Tragödienschrift kann, so meine ich, insgesamt als Gegenentwurf gegen die aristotelische Poetik gelesen werden. Nietzsches Kritik richtet sich vorrangig gegen die auch wirkungsgeschichtlich folgenreiche Konzentration der aristotelischen Tragödientheorie auf Handlung und Dialog der Protagonisten 6 9 sowie gegen die Geringschätzung des Chors und damit des musikalischen Elements der Tragödie. Aristoteles sei damit der Bindung der Tragödie an den Dionysoskult nicht gerecht geworden bzw. habe sie in seiner Wirkungsbestimmung nicht beachtet, obwohl er selbst die Genese aus dem Dithyrambus, d. h. dem Kultlied des Dionysos angegeben hat. Genetische und wirkungspsychologische Definition der Tragödie stehen bei Aristoteles in der Tat unverbunden nebeneinander. Nietzsches Tragödientheorie zielt nun auf die Synthese dieser Bestimmungen. Die tragische Wirkung soll aus der Genese erklärt werden. Er behauptet zu Beginn des 7. Kapitels der „Geburt der Tragödie": Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, d a s s d i e T r a g ö d i e a u s d e m t r a g i s c h e n C h o r e e n t s t a n d e n i s t und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, [...]. (GT 7, KSA 1, 52).

Entsprechend hatte er schon in seinen vorbereitenden Aufzeichnungen festgehalten: Nur vom Standpunkt d e s C h o r s aus erklärt sich die Skene und deren Aktion, f...] Er ist der eigentliche E r z e u g e r jener Welt: nichts ist irrthümlicher als unsren Maßstab vom aesthetisirend-kritischen Publikum an das griechische Theater anzulegen. Die dionysische Volksmasse als der Geburtsschooß der dionysischen Erscheinung, — und hier das ewig Unfruchtbare; das ist der Gegensatz. Schiller hat völlig Recht, wenn er den Chor als den wichtigsten poetischen Faktor der Tragödie behandelt: und Aristoteles mit seiner euripideisch-flachen Verwendung des Chors darf uns nicht irre machen. [...]. (Frg. 9[9], KSA 7, 273f.).

Aus der chorischen Urform der Tragödie — Nietzsche setzt sie als den von Satyrn gesungenen Dithyrambus zu Ehren des Dionysos an — läßt sich 65

Daß die aristotelische Tragödientheorie vor allem Handlungstheorie ist, zeigt R. Kannicht, Handlung als Grundbegriff der aristotelischen Theorie des Dramas, in: Poetica 8, 1976, 32676; vgl. Halliwell, a. a. 0 . , 138-167; Fuhrmann, Antike Dichtungstheorie ..., a. a. 0. Anm. 65, 2. veränderte Aufl. 1992, 28-46.

Vom , S p r a c h k u n s t w e r k ' zur , L e s e l i t t e r a t u r '

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sowohl die Verbindung z u m Dionysoskult erklären als auch die M u s i k als wesentliches Element der Tragödie erweisen. D a r ü b e r hinaus aber, und darin liegt Nietzsches v o r r a n g i g e s Interesse, ergibt sich in dieser Perspektive eine E r k l ä r u n g des Zuschauers als konstitutiven Elements der T r a g ö d i e n a u f f ü h rung. Gegen Aristoteles und die am Lesetext orientierte Tragödientheorie wollte Nietzsche die Tragödie als theatralisches Ereignis in den Blick bringen. Erst aus dem Ereignischarakter der dramatischen Inszenierung w a r die tragische Erfahrung zu erklären, auf die es ihm als Vergleichsmoment für das Erleben der Wagnerschen Oper ankam. Konstitutiv für die tragische Erfahrung, so seine These, sei das Erleben einer V e r w a n d l u n g , und zwar einer V e r w a n d l u n g , in der sich Z u s c h a u e r r a u m und Bühne zu einem einheitlichen, geschlossenen Erlebnisraum z u s a m m e n fügten. Als Ekstasis, V e r w a n d l u n g , Heraustreten aus der eigenen Person hatte Nietzsche zu Beginn der Tragödienschrift die dionysische E r f a h r u n g beschrieben. Im 7. und 8. Kapitel überträgt er diese Beschreibung auf die Tragödie. Das Erlebnis einer tragischen A u f f ü h r u n g sei die durch die Kunst vermittelte W i e d e r h o l u n g der ursprünglichen, religiös-ekstatischen E r f a h r u n g des Dionysoskults. Diese Ü b e r t r a g u n g gelingt ihm durch den R ü c k g r i f f auf die in der idealistischen Tragödientheorie, vor allem v o n Schiller, entwickelte Auffassung des Chors als des ,idealischen Zuschauers'. W i e der Teilnehmer des Dionysoskults, der dionysische Schwärmer, in der Ekstase seine kulturell geprägte Identität abgelegt hatte und sich in den Satyr, den Diener des Dionysos, verwandelte, d e m nun der Gott ,erschien' — als ein Leidender und Siegender —, w i e also der ,Satyr' ekstatischer Zuschauer einer visionären Handlung wurde, so erfahre auch der Zuschauer der Tragödie einen ekstatischen Verwandlungsprozess. A n g e r e g t durch M u s i k und Tanz des Chors werde er in einen visionären Zustand versetzt, in d e m er den Bühnenchor als Satyrchor imaginiere und sich mit diesem identisch fühle — in diesem Zustand entschlüsselt sich ihm das Schicksal des tragischen Helden als Repräsentation der Schicksale des leidenden und siegenden Dionysos. Diese Leiden des Dionysos — Nietzsche nimmt an, die E r z ä h l u n g von der Zerreissung des Dionysos-Zagreus, die vor allem in orphischen Traditionen übermittelt ist, sei Gegenstand der dramatischen G e s ä n g e des ursprünglichen Dithyrambus gewesen — entschlüsseln sich d e m Tragödienzuschauer auf einer tieferen Ebene als Gleichnis für die ,metaphysische Wahrheit': das ,Leiden' und die ,Urwidersprüchlichkeit des Seins' ( v g l . G T 10). In der Fiktionalität des beschriebenen Prozesses wie im Repräsentationscharakter der tragischen A u f f ü h r u n g ist jedoch die Grenzüberschreitung auf die Bewußtseinsebene beschränkt: Die T r a g ö d i e vermittelt die E r f a h r u n g

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einer Möglichkeit und verhindert zugleich deren faktische Realisierung. Darin, so Nietzsche, liegt zugleich der Lustgewinn einer tragischen Aufführung. Die Komplexität dieser Argumentationsstrategie ebenso wie die ihr zugrundeliegenden antiken Zeugnisse, mit denen Nietzsche operiert, können hier natürlich nicht vorgeführt werden. 7 " Ebensowenig kann auf die Vorläufer für diesen Ansatz, die Nietzsche zwar heranzog, aber ungenannt ließ, eingegangen werden. 71 Zu nennen wäre jedenfalls Jakob Bernays, der 15 Jahre früher in seiner berühmten und vieldiskutierten Abhandlung über den aristotelischen Katharsisbegriff die Wirkung der Tragödie aus den ekstatischen Praktiken des Dionysoskultes abgeleitet hatte. 72 Nietzsche kannte diese Abhandlung natürlich und er hat sie auch während der Arbeit an GT zur Hand gehabt. 73 Bereits Rohde hat in seiner Verteidigungsschrift gegen die Wilamowitzsche Polemik auf die Berührungspunkte hingewiesen. 74 Diese Nähe scheint von Bernays selbst empfunden worden zu sein, der nach dem Bericht Cosima Wagners Nietzsches Tragödientheorie „als s e i n e Anschauungen, nur stark übertrieben" bezeichnet haben soll. 75 Vor Bernays hatte eine parallele Ableitung der tragischen Wirkungsbestimmung des Aristoteles aus dem ekstatischen Dionysoskult bereits der bedeutende, der Romantik verbundene Altertumswissenschaftler Karl Otfried 711 71

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Vgl. hierzu im einzelnen Reibnitz, Hin Kommentar ..., a. a. O. Anm. 29, bes. 179-219. Vgl. zur Debatte über den Zusammenhang von Dionysoskult und Tragödie, insbesondere über die Frage nach der (genetischen) Verbindung zwischen (dionysischen) Mysterien und Tragödie R. Schlesier, Lust durch Leid. Aristoteles' Tragödientheorie und die Mysterien. F.ine interpretationsgeschichtliche Studie, in: VC'. F.der (Hg.), Democracy in Pourth-Centurj Athens: Zenith or Nadir of α Constitution (im Druck). Jakob Bernays, Grundlage der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Breslau 1857; Repr. Hildesheim 1970, eingel. von Karlfried Gründer. Sie war ihm seit der Studienzeit bekannt (vgl. FN an E. Rohde, 4.5.1868, an Fr. Ritsehl 12.5.1868) und wurde von ihm im Mai 1871 (Oehler) aus der Basler Universitätsbibliothek (BUB) entliehen; ebenso wie im November 1869 der Band 14 des „Rheinischen Museums" (1859), in dem Bernays seine Abhandlung verteidigt hatte: Bin Brief an L. Spengel über die tragische Katharsis bei Aristoteles: S. 367-77; vgl. Reibnitz, Bin Kommentar ..., a.a.O. Anm. 29, 112 f., dort auch über Nietzsches Benutzung der an Bernays anknüpfenden Katharsis-Schrift von Paul Yorck von Wartenburg; vgl. hierzu insgesamt den Beitrag von L. Crescenzi in diesem Band. F.. Rohde, Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von dem Dr. phil. Ulrich von Wilamowit\-Möllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!" Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner (1872), wiederabgedruckt bei K. Gründer, Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie". Die Schriften von H. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowit^-Möllendorff zusammengestellt und eingeleitet, Hildesheim 1969, 105 f.; zu Bernays vgl. insgesamt: K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, in: H. Barion u. a. (Hg.), Hpirrhosis. Festschrift für Carl Schmitt, Bd. 2, Berlin 1968, 495-528.

" Cosima Wagner an Nietzsche, 4.12.1872; vgl. Nietzsche an Rohde, 7.12.72: „Ich finde das göttlich frech von diesem gebildeten und klugen Juden, zugleich aber als ein lustiges Zeichen, daß die ,Schlauen im Lande' doch bereits etwas Witterung haben." (KSB 4, 97).

Vom ,Sprachkunstwerk' zur ,Leselitteratur'

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Müller g e g e b e n , jedoch o h n e die . m e d i z i n i s c h e ' B e g r i f f s e r k l ä r u n g heranzuziehen. In seiner A u s g a b e der „ E u m e n i d e n " des A i s c h y l o s 7 6 hatte er einen Abschnitt ü b e r s c h r i e b e n : „ D i e T r a g ö d i e als κ ά θ α ρ σ ι ς τ ώ υ π α θ η μ ά τ ω ν , aus d e m D i o n y s i s c h e n C u l t u s e n t w i c k e l t " . Er f ü h r t dort aus: Denn gerade das ist der Tragödie ihrem Ursprünge und ihrer Ausbildung unter den Griechen nach das Wesentlichste, daß in ihr Empfindungen erwachen, welchc durch ihre Natur und ihre Stärke die Seele aus dem ruhigen Gleichmaaß herausziehn und in den Sturm entgegengesetzter Richtungen hineinwerfen, aber zugleich durch ihre Fortführung und Entwickelung sich selbst läutern und erheben, so daß sie die Seele in Ruhe und Gefaßtheit und einer höhern und veredelten Stimmung zurücklassen. [...]. Die Tragödie konnte in Griechenland nur aus einem Cultus hervorgehn, dessen Wesen es war, das Gemüth in Jubel und Schmerz wild umherzuwerfen, [...], aus dem B a k c h i s c h e n . [...] mit dem Dionysischen Cult war seit alten Zeiten eine Katharsis verbunden, deren Bedeutung, wie sie sich an dem Gottc selbst bewährt haben soll, [...], die ist, daß sie der in einen wilden Taumel hineingezognen Seele die Ruhe und Klarheit wiedergiebt. [...]. Schon jene älteste Tragödie, ein Chor lied, welches der durch die Stimmung des Festes in die unmittelbare Begleitung des Dionysos verwandelte Chor am Feste der Leiden des Gottes sang, war hiernach in dem Sinne kathartisch, daß sie das von Mitgefühl und Furcht zerrissne Gemüth von dem Ubermaaße dieser Affekten befreite und zur Beruhigung führte. Die Tragödie blieb es aber in ästhetischem Sinne auch dann [...]. 7 7 Diese A b l e i t u n g M ü l l e r s m u ß t e f ü r Nietzsche ü b e r die B e r n a y s ' s c h e K a t h a r sistheorie h i n a u s interessant sein, weil M ü l l e r hier, w i e später auch in seiner „Griechischen L i t e r a t u r g e s c h i c h t e " 7 8 , im u r s p r ü n g l i c h e n B e z u g des C h o r s z u m d i o n y s i s c h e n Kult das „ d r a m a t i s c h e U r p h ä n o m e n " sah u n d aus dieser Genese die W i r k u n g der T r a g ö d i e ableitete. Für unseren Z u s a m m e n h a n g sollte l e d i g l i c h d a r a u f h i n g e w i e s e n w e r d e n , daß in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " das P a r a d i g m a beschrieben w i r d für die in der L i t e r a t u r g e s c h i c h t s v o r l e s u n g e n t w i c k e l t e V o r s t e l l u n g eines nichtliterarischen, d u r c h den Rezipienten — das P u b l i k u m — erst eigentlich k o n s t i tuierten u n d in der V e r e i n i g u n g v o n Sprache, M u s i k u n d Tanz realisierten

Aeschylos liumeniden. Griechisch und deutsch mit erläuternden Abhandlungen über die äussere Darstellung, und über den Inhalt und die Composition dieser Tragödie von K. O. Müller, Göttingen 1833; von Nietzsche aus BUB entliehen im Mai 1872; es ist anzunehmen, daß dies nicht die erste Benutzung ist. Müller, humeniden ..., 191 f. (Hervorhebung durch Kursive von BvR); vgl. auch Müllers Ausführungen im Brief an Adolf Schöll v. 8. Mai 1828, in: O. Kern (Hg.), Aus dem amtlichen und wissenschaftlichen Briefwechsel von Carl Otfried Müller, Göttingen 1936, S. 93 f. 7* K.O. Müller, Geschichte der griechischen IJtteratur, a.a.O. Anm. 18, 2 1857, Bd. 2, Kap. 21 „Ursprünge der dramatischen Poesie", bes. 23 ff.; der Text, auf den Nietzsche für G T mehrfach zurückgegriffen hat, ist als Auszug gedruckt im Anhang zu Reibnitz, Hin Kommentar ..., a. a. O. Anm. 29.

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Gesamtkunstwerks; das Paradigma einer situationsbezogenen, gelebten, einheitstiftenden Kunstform im Gegensatz zum Lesetext, der die Vereinzelung der Rezipienten und den Verlust der unmittelbaren Gefühlswirkung impliziert. Dieses Bild der Tragödie stellt eine Korrektur und einen Gegenentwurf zu ihrer Definition und Beschreibung durch Aristoteles dar. Dieser hatte — so unterstellt Nietzsche — in seiner im 4. Jahrhundert verfaßten „Poetik" nicht die ,originale' Tragödie, sondern ihre Spätform im Blick. Die nacheuripideische Tragödie des 4. Jahrhunderts stand in einem veränderten kulturellen Kontext. 7 9 Die intellektuellen und politischen Rahmenbedingungen: der Zerfall der homogenen attischen Poliskultur, das Aufkommen der Wissenschaftskultur, des ,Sokratismus', und damit einhergehend die Ausbildung einer Lesekultur und eines an der Rezeption von Texten geschulten kritischen Theaterpublikums — kurz die ,Modernität' des aristotelischen Wahrnehmungshorizonts — haben ihn zu einer historisch falschen Beschreibung der ,klassischen' Tragödie geführt. In der hier vorgeschlagenen Perspektive kann die „Geburt der Tragödie" also als das implizite Bindeglied zwischen den Notizen der Leipziger Studienzeit und der späteren Basler LiteraturgeschichtsVorlesung gelesen werden. Dasjenige Moment, das Nietzsches philologische Fragestellungen von der Studienzeit bis zum Ende der Basler Lehrtätigkeit kontinuierlich bestimmt und sie zugleich mit den aus dieser Lehrtätigkeit heraus sich entwickelnden und über sie hinaus weitergeführten philosophischen Fragestellungen verbindet, zeigt sich in der gleichbleibenden Motivation des Suchbilds. Nietzsches Tragödieninterpretation wie insgesamt sein Zugang zur griechischen Literaturgeschichte und damit zur Geschichte der griechischen Kultur war an der Auffindung eines modernitätskritischen Paradigmas orientiert. Die Kultur der Griechen wurde von Nietzsche in wechselnden Perspektiven, Zuschreibungen und Wertungen als ein solches Gegenmodell dargestellt. Was ihn dabei mit dem von ihm kritisierten klassizistisch-humanistischen Philhellenismus verbindet, ist die hier wie dort implizierte Normativität: die Griechen als Bildungsideal.

™ Vgl. zur Verfallstheorie der nachklassischen Tragödie Reibnitz, Ein Kommentar ..., a. a. 0. Anm. 29, 282 ff.; einen Eindruck der mit Ruripides keineswegs endenden, aber nur fragmentarisch erhaltenen Tragödienproduktion vermittelt der Band Musa Tragica. Die griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel. Ausgewählte Zeugnisse und Fragmente griechisch und deutsch, hg. v. B. Gauly u. a., unter Mitwirkung von R. Kannicht, Göttingen 1991.

Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre ( 1 8 6 9 - 1 8 7 8 ) von

F R I T Z BORNMANN,

Florenz

Der erste Teil der Zukunftsphilologie, des Angriffs von Wilamowitz auf die Geburt der Tragödie, endet mit der Aufforderung an Nietzsche „vom katheder herabzusteigen, auf welchem er Wissenschaft lehren soll". Er möge Tiger und Panther zu seinen Knieen sammeln, aber nicht Deutschlands philologische Jugend 1 . Natürlich ist Nietzsche dieser Aufforderung nicht gefolgt. Erst später, 1879, hat er aus ganz anderen Gründen seine Lehrtätigkeit als Professor für klassische Philologie an der Universität Basel aufgeben müssen. So hat er über zehn Jahre lang als Philologe unterrichtet. Aber während sein Ruhm als Schriftsteller und Denker in Deutschland und in Europa wuchs, wurde der Gelehrte immer weniger berücksichtigt. Zwar erwähnt ihn Hermann Diels 1902 mit Anerkennung aber auch mit Tadel 2 , auch hatte er und sein philologisches Werk ihren Platz in einer wichtigen — obwohl heute wenig gelesenen — Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von Konrad Bursian (1883) gefunden 3 , aber dann schwieg man über ihn. Dieses Schweigen findet freilich seine Erklärung auch darin, daß Nietzsche nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie, oder besser gesagt: nach 1873 keine philologischen Arbeiten mehr veröffentlicht hatte, auch keine Schriften über das klassische Altertum. Das bedeutet keineswegs, daß er nicht mehr philologisch tätig gewesen sei. Mehrere Hefte mit den Aufzeichnungen für die Vorlesungen, die er in Basel von 1869 bis 1879 hielt, bezeugen, daß er seinen Verpflichtungen sehr gewissenhaft nachgekommen ist. Es waren im Durchschnitt pro Semester wöchentlich 7 Stunden Kolleg und Seminar, dazu noch 6 Unterrichtsstunden am Pädagogium, d. h. in der letzten Klasse der Mittelschule, was der Oberprima eines deutschen Gymnasiums entsprechen würde. Wenn man aus den eingangs zitierten höhnischen Worten von Wilamowitz schließen wollte, daß Nietzsche in seinen Vorlesungen eine Interpretation der ' Ulrich von W i l a m o w i t z Möllendorff: Zukunftsphilologie! (I), Berlin 1872, S. 32. Hermann Diels: „Wissenschaft und Romantik" in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1902, IV, S. 3 5 - 3 9 . 1 Konrad Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis %ur Gegenwart. München und Leipzig 1883, S. 929.

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antiken Literatur im Sinne der Geburt der Tragödie bot, so ist meistens ganz das Gegenteil der Fall gewesen. Die Vorlesungen sind Philologie in der strikten, herkömmlichen Bedeutung des Wortes: Formales, wie Textinterpretation, Konjekturalkritik, Metrik, historische Grammatik — auch im Rahmen der vergleichenden Sprachwissenschaft; aber auch Philologie als umfassende Altertumswissenschaft: Nietzsche las über Homer, Hesiod, die frühen Lyriker, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Thukydides, Demosthenes, die vorplatonischen Philosophen, Piaton, Xenophon, Aristoteles, daneben auch über Cicero und Quintilian, über lateinische P^pigraphik, über religiöse Altertümer der Griechen, ja er stellte für seine Studenten eine Einleitung in das Studium der klassischen Philologie zusammen, die bezeichnenderweise den Titel „Encyklopädie" führt, in Anlehnung an das berühmte Vorbild von August Boeckh. Es ist also fast durchwegs historizistische Philologie, wie sie damals an den deutschen Universitäten betrieben wurde. Unter Nietzsches Schülern waren immerhin ein Jacob Wackernagel und Heinrich Geizer, ein nicht unbedeutender Altphilologe, die ihre ersten wissenschaftlichen Arbeiten unter seiner Leitung und Beratung schrieben und veröffentlichten. Zunächst scheinen also in diesen Philologica die zwei Aspekte, der des radikalen Umwerters und der des gelehrten, eher trockenen, ja sogar langweiligen Philologen unvermittelt nebeneinander zu bestehen. Aber da gibt es aufschlußreiche Berührungspunkte, auf die ich später zu sprechen komme. Von Nietzsches philologischem Nachlaß ist nur ein Teil in den Jahren 1910—1913 in die Krönersche Großoktavausgabe aufgenommen worden, und zwar mit guten Gründen. Die Herausgeber, unter ihnen Gelehrte von Rang wie Otto Crusius, ein Schüler Erwin Rohdes, oder der Basler Latinist Johannes Stroux, waren sich der Schwäche Nietzsches als Philologe wohl bewußt und wollten ihn nicht unnötigerweise einer postumen Kritik aussetzen, indem sie alles veröffentlichten. So wählten sie vorzugsweise die Teile, die allgemeine Themen behandeln, wo sich der Kulturkritiker und Sprachkünstler am besten bewähren konnte, d. h. Stücke, die es wert waren, um ihrer selbst willen gelesen zu werden. Im übrigen lassen die Einleitungsworte von Ernst Holtzer zum ersten Band der (von Nietzsche veröffentlichten) Philologica keinen Zweifel über die Einstellung der Herausgeber: „Nicht was Nietzsche für die Philologie, sondern was die Philologie für Nietzsche bedeutet hat, das ist hier die Frage" 4 . In der 1934 begonnenen Historisch-kritischen Gesamtausgabe, von der im Verlag C. H. Beck in München fünf Bände erschienen, sind die philologischen Jugendschriften, einschließlich Nietzsches Basler Vorlesungen von 1869 über 4

GA Bd. XVII, S. 7.

Anekdota Philologica

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die griechischen Lyriker enthalten 5 . Für den nicht erschienenen Band IV dieser Ausgabe konnte Carl Koch noch 1945 die Fahnen der AischylosVorlesungen des SS 1869 korrigieren 6 . Vor einigen Jahren wurde in England eine zwar fehlerhafte, dafür aber vollständige Ausgabe der Vorlesungen über griechische und lateinische Rhetorik und über griechische Beredsamkeit veröffentlicht 7 . Nun sollen im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken alle Vorlesungsaufzeichnungen vollständig und in ihrer ursprünglichen, d. h. nicht beschönigten Form vorgelegt werden. Und naturgemäß knüpft sich an jede Publikation von Unveröffentlichtem die Erwartung, daß sie etwas Neues bringen werde, wie es ja für den philosophischen Nachlaß zugetroffen ist. Für die Vorlesungen muß aber die Erwartung in dem Sinne eingeschränkt werden, daß sie für die Geschichte der klassischen Philologie kaum etwas bedeuten, wohl aber zur Erhellung der Persönlichkeit, der Interessen und der Arbeitsweise Nietzsches Wesentliches beitragen. Heute steht man längst nicht mehr vor der Alternative, für oder gegen Nietzsche Partei zu ergreifen, und es sind — vielleicht nicht nur zufällig — eher außerhalb als innerhalb des deutschen Sprachbereichs Stimmen laut geworden, die für eine positivere Gesamtwürdigung der philologischen Leistungen Nietzsche eintreten, etwa die von Viktor Pöschl 8 , von Marcello Gigante 9 und von Hugh Lloyd Jones 10 . Auch Nietzsches Beiträge auf einzelnen Gebieten, wie seine Studien über Diogenes Laertios oder über den Wettkampf zwischen Hesiod und Homer, das sogenannte Certamen, werden vielleicht objektiver beurteilt 11 . Trotz allem können aber diese Vorlesungen, erst recht, wenn sie komplett erscheinen, nur das Urteil bestätigen, das vor 50 Jahren ein Bewunderer

Die griechischen Lyriker in Bd. 5, S. 307 — 368, eine Nachschrift aus dem W S 1878/79 daselbst S. 3 6 9 - 4 2 6 . 6 Die Fahnen dieser Aufzeichnungen, die S. 1 — 102 des — unveröffentlichten — Bandes 6 umfassen sollten, sind, mit vielen handschriftlichen Korrekturen und Zusätzen von Carl Koch, im Nietzsche-Archiv in Weimar erhalten. 7 Friedrich Nietzsche on Rhetoric and language. Edited and Translated with a Critical Introduction by Sander L. Gilman, Carole Blaire, David J. Parent. New York —Oxford 1989. " „Nietzsche und die klassische Philologie", in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 1 4 1 - 1 5 5 . 9 Friedrich Nietzsche nella storia della filologia classica, Napoli 1984. Siehe auch Luigi Cataldi Madonna: II ra^ionalismo di Nietzsche, Napoli 1983. 10 „Nietzsche", in: The Times l.iterary Supplement 21 February 1975, jetzt in: Blood for the Ghosts. London 1982, S. 1 6 5 - 1 8 1 . 11 Ernst Vogt: „Nietzsche und der Wettkampf Homers", in: Antike und Abendland 11, 1962, S. 103—104; Jonathan Barnes: „Nietzsche and Diogenes Laertius", in: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 1 6 - 4 0 . 5

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Nietzsches, Karl Reinhardt, über den Philologen fällte: „Die Geschichte der Philologie hat keinen Ort für Nietzsche. Dazu fehlt es bei ihm zu sehr an positiven Leistungen" 12 . Fragt man sich, warum diese Leistungen fehlen, so kann der Nachlaß immerhin einiges erklären. Seit der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie gingen Nietzsches Hauptinteressen in eine ganz andere Richtung. Dieser Mangel an eigentlich wissenschaftlichem Trieb — mit der Ausnahme seiner metrischen Studien, zusammen mit dem Zeitmangel — nicht zuletzt durch seine außerordentlich fruchtbare schriftstellerische Tätigkeit bedingt —, zwangen ihn dazu, Kompilationen anzufertigen, die er dann im Kolleg las. Andrerseits aber sparte er wieder Zeit, indem er Vorlesungen aus früheren Semestern wiederholte, gelegentlich sie auch nach dem neuesten Stand der Forschung bibliographisch ergänzte. So hat er beispielsweise Hesiods Erga in 8 Semestern, die Choephoren in 7, die Geschichte der griechischen Litteratur in 7, die griechischen Lyriker in 6 Semestern wieder gelesen. Die Vorlagen dieser überwiegend aber nicht ausschließlich kompilatorischen Aufzeichnungen lassen sich leicht aufdecken: Westphal und Roßbach für die Metrik; Corssen, Schleicher, G. Gurtius und Bücheler für die lateinische Grammatik; Spengel, Gerber, Volkmann für die Rhetorik-Vorlesungen; Vahlen und Spengel für die Einleitung und den Kommentar zur Rhetorik des Aristoteles. Ich habe mit Absicht betont, daß nicht alles Kompilation ist. Als Charakteristikum Nietzsches bei dieser ihm eigentlich entfremdeten Arbeit, die sich in den Bahnen der damals üblichen Philologie bewegt, möchte ich drei Aspekte hervorheben und durch ein paar Beispiele kurz erläutern: die Konjekturalkritik; den Einfluß von Nietzsches philosophischen Auffassungen auf seine eigentlich philologische Methode; schließlich die in den Vorlesungen isoliert dastehende Übersetzung von großen Teilen der Rhetorik des Aristoteles. Es ist noch vor kurzem von berufener Seite behauptet worden, Nietzsche habe von der Konjekturalkritik nicht viel Gebrauch gemacht. Man sagt, er habe „eigentlich fachgerechte philologisch-textkritische Kleinarbeit ... von dem Augenblick seiner Berufung als akademischer Lehrer an im Unterricht kaum mehr, als Autor überhaupt nicht mehr betrieben 13 ". Davon sind eigentlich nur die letzten Worte zutreffend. Der Nachlaß beweist eher das

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„Die klassische Philologie und das Klassische" in: Geistige Überlieferung, II. Jahrb. 1942, S. 47 = Die Krise des Helden, München 1962, S. 127. Curt Paul Janz: „Nietzsches Lehrtätigkeit in Basel 1869 — 1879", in: Nietzsche-Studien 3, 1974, S. 195.

Anekdota Philologica

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Gegenteil, daß nämlich Nietzsche sehr gerne, vielleicht allzu gerne Konjekturen machte: zu Hesiod, zu den Lyrikern, zu den Choephoren und zu anderen Stücken des Aischylos, zu Sophokles, zu den Texten der Metriker und Rhythmiker, zu Cicero, zu Properz. Allein für die 1035 Verse der Choephoren schlägt er mehr als 85 Verbesserungen vor, für das erste Buch von Ciceros Academica, in der von ihm benutzten Klotzschen Ausgabe kaum 15 TeubnerSeiten, sind es 14. Diese Konjekturen sind zum Teil unentbehrlich und einleuchtend, einige sogar endgültig 1 4 — und in diesen Fällen sind sie meistens, aber nicht immer, vor Nietzsche vorgeschlagen worden, der sich nicht die Mühe nahm, in älteren oder vollständigeren kritischen Ausgaben oder gar in den Textvarianten die Vorläufer seiner Emendationen zu suchen. Ein weiterer und leider viel größerer Teil von Konjekturen ist überflüssig, und nicht selten auch falsch. Und zwar erscheint manchmal nicht etwa der überlieferte Text unzulänglich, wohl aber Nietzsches Vermögen, ihn zu verstehen. Zweimal kommt er in seinen Cicero-Vorlesungen 15 auf eine Konjektur zu sprechen, die ihm notwendig erscheint, weil er audebimus „wir werden wagen" für das Futur von audire hält. Da durfte er sich nicht wundern, daß seinen Vorgängern der Anstoß entgangen war. Das sind nun extreme Fälle. Aber jedesmal nähert sich Nietzsche dem Text im Zeichen eines scharfen, aber gerade wegen seiner Schärfe etwas abstrakten und blutleeren Rationalismus. Seine Konjekturen lesen sich wie eine Bestätigung dessen, was Wilamowitz fünfzig Jahre später über die Schüler Ritschis schrieb: bei ihnen sei der Glaube an die philologische Methode, die via ac ratio, unbegrenzt gewesen 16 . So kommt es, daß man bei Nietzsches Emendationen, die oft stereotyp von der Formel eingeleitet werden: „hier erwartet man" oder „es wird der Gedanke gefordert", den Scharfsinn bewundern, nicht aber die Wahrscheinlichkeit der vorgeschlagenen Lösung anerkennen wird. Übrigens wird dieses Vorgehen von ihm selbst theorisiert. Er sagt zu seinen Studenten 17 : „Die Logik kann den Begriff finden, aber das Wort, welches dagestanden hat, steht der Fantasie überlassen". Also Ausgangspunkt ist fast immer ein gedanklicher Anstoß, der sprachliche und stilistische Aspekt kommt erst an zweiter Stelle, während allerdings die paläographische WahrBeispielsweise seine Verbesserung von Clemens Alex. Strom. 1. 14, 61 ( K G W II, 3 S. 377), s. darüber Verf. in: Zeitschrift für Papyrologie und Hpigraphtk 91, 1992, S. 18. 15 K G W II, 2 S. 77; 84. " Geschichte der Philologie, in Gercke-Nordens Hinleitung in die klassische Altertumswissenschaft I 1, L e i p z i g - B e r l i n 1921 3 , S. 61. 17 In einer Nachschrift der Vorlesungen über Aischylos' Choephoren, K G W II 2, S. 329; vgl. auch Nietzsches eigene Aufzeichnungen K G W II, 2, S. 30.

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scheinlichkeit eines Verderbnis fast immer in Betracht gezogen wird. Oft schreibt sich Nietzsche den verdächtigen Wortlaut in Maiuskelschrift aus und versucht zu ermitteln, wie dieses Schriftbild aus einem ähnlichen entstellt oder mißverstanden werden konnte. Überhaupt hat er die Bedeutung der Hilfswissenschaften wie Paläographie, Epigraphik und Metrik bei der Textrekonstruktion und -Interpretation stark betont. Nun ist es jedoch wiederum bezeichnend für Nietzsche, daß er die Grenzen dieses Rationalismus, d. h. die Subjektivität des Verfahrens klar vor Augen hat. Am Ende einer kühnen textkritischen und metrischen Rekonstruktion eines der am schlechtesten überlieferten griechischen Texte, der Parodos der Choephoren, sagt er zu seinen Hörern 1 8 : W i r haben eins der schwersten Chorlieder des Aeschylus besprochen und alle möglichen Mittel und W e g e der K r i t i k angewandt. Vergleicht man die unerhörte Zahl divergirender Meinungen, so beschleicht uns der Zweifel, o b w i r uns hier noch auf dem Boden der objektiven Forschung oder des subjektiven Rathens befinden. Machen w i r uns im allgemeinen deutlich, wie weit der E i n f l u ß des Subjekts reicht und durch welche Mittel er unterdrückt w e r d e n kann.

Hier möchte ich mir einen Vergleich erlauben, den Nietzsche selbst herausfordert, wenn er in einem Anflug von Resignation — man möchte fast sagen Neid — schreibt, es habe in seinem Jahrhundert nur zwei Dichter-Philologen gegeben, Goethe und Leopardi 1 9 . Nun, auch der frühreife Leopardi hat Konjekturen gemacht. Ohne jede philologische Ausbildung, und vielleicht auch ohne Nietzsches Gedankenschärfe zu besitzen, nur aufgrund aufzehrender Lektüren der griechischen und lateinischen Autoren in den alten Ausgaben der väterlichen Bibliothek in der Abgeschiedenheit von Recanati, aber auch dank seiner Vertrautheit mit Handschriften in den italienischen Bibliotheken, hatte er eine so strenge Methode und ein so sicheres Sprach- und Stilgefühl entwickelt, daß es ihm gelang, für viele verderbte Stellen die endgültige Heilung zu finden. So wird man in den kritischen Apparaten eher dem Namen des Dichters Leopardi als dem des Philologen Nietzsche begegnen. Für die Größe Nietzsches spricht aber wieder die Treffsicherheit dieser Einschätzung und implizierten Selbsteinschätzung. In Wir Philologen steht er sogar der ganzen Konjekturalkritik seiner Zeit mit souveräner Ironie gegenüber: darin ist der Philosoph dem Philologen überlegen. Hier sei noch ein Beispiel für Nietzsches Rationalismus angeführt, der — diesmal in der vergleichenden Sprachwissenschaft — so weit getrieben wird, daß er ins Unwahrscheinliche, d. h. ins Unhistorische umschlägt. In K G W II, 2, S. 58. " Nachgelassene Fragmente

18

Frühling-Sommer 1875, K G W IV, 1, S. 120.

Anekdota Philologica

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seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik von 1870 entwickelt Nietzsche eine eigene Theorie vom Ursprung der lateinischen Perfektendungen -i, -isti, -it usw. Er geht von einem in der Sprachwissenschaft seit Bopp gängigen Axiom aus, daß die Bestandteile des Wortes, wie Präfix, Suffix, Endungen usw. ursprünglich selbständige Wörter mit eigener Bedeutung waren, und auf dieser Grundlage rekonstruiert er die Perfektendungen als die Formen des Verbs „sein": esrni, essi, esti usw. 20 . Die Beweisführung, wie diese Flexionsformen sich zu Perfektendungen verwandeln, oder genauer gesagt: verkümmern konnten, wird durch Analogien von phonetischen Wandlungen im Lateinischen, Griechischen und Sanskrit belegt. Und jede Einzelerklärung ist in dieser Sicht möglich. Das Gesamtergebnis ist aber eine sprachgeschichtliche Unmöglichkeit. Wenn Nietzsche das Perfekt amav-i, also den erweiterten Stamm + i als erste Person des Verbs „sein", mit dem Perfekt passus sum vergleicht, berücksichtigt er nicht, daß es sich im letzteren Fall um ein flektiertes Partizip und ein ebenso flektiertes Hilfsverb handelt, die beide ihre volle Bedeutung und auch ihre volle Form beibehalten: „ich bin einer der gelitten hat", während im Fall von amavi die Präsensform eines Verbs einfach an den Stamm eines anderen angefügt würde, ein in den Sprachen nicht beispielloser, aber doch verschiedener Vorgang. Wenn ich nun die Einwirkung von Nietzsches philosophischen Auffassungen auf seine Tätigkeit als Philologe kurz berühre, sehe ich natürlich von offenkundigen und längst erkannten Einflüssen ab, wie etwa die Nähe der Gedankengänge der Einleitung in die Tragödie des Sophocles (1870) und der Geburt der Tragödie, oder Nietzsches Interpretationen der antiken Philosophen aus seiner Sicht. Hier möchte ich nur einige Belege dafür bringen, wie diese Gedankenwelt oft auch im Hintergrund der strikt philologischen Interpretation steht. Ein Gebiet, auf dem Nietzsche eigene Forschungen betrieben hat, ist die Metrik 21 , mit der er sich sehr intensiv zwischen Ende 1870 und Frühjahr 1872 befaßte. Dabei hat er genau dort angesetzt, wo auch der junge Wilamowitz seine metrischen Studien begonnen hat: mit der Lektüre und Kritik von Westphals Standardwerken über Rhythmik und Metrik. Der antike Versfuß wird als Takt interpretiert, und so suchte man für die einzelnen Metren, Kola, Verse und Strophen einen möglichst eurhythmischen Takt wiederherzustellen. Eurhythmie war das erklärte Ziel dieser Bestrebungen der metrischen Studien im vorigen Jahrhundert. Wilamowitz schreibt 22 , er

20 21

22

KGW II, 2, S. 255. Darüber ausführlicher Verf.: „Nietzsches metrische Studien", in: Nietzsche-Studien S. 472—489. Ich nehme hier einige Ausführungen wieder auf. Griechische Verskmst, Berlin 1921, S. VII.

18, 1989,

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sei unschuldig genug gewesen, diese „Spielerei" zu betreiben. Nietzsche, als ausgebildeter Musiker, widmet über zweihundert Seiten diesen Versuchen, die antiken Versmaße immer wieder in moderne und überzeugendere Taktarten umzusetzen, bis ihm die ganze Unhaltbarkeit des Vergleichs zwischen antikem und modernem Rhythmus zu Bewußtsein kommt und er die wichtige Entdeckung macht, daß der für die moderne Musik und Metrik wesentliche rhythmische Iktus bei den Alten nicht bezeugt und für den „quantitirenden Rhythmus" belanglos ist. Das ist eine Entdeckung, der sich Wilamowitz viel später und nur zögernd anschloß, ohne von Nietzsche Notiz genommen zu haben. Das Ausscheiden des Iktus schließt nun eine im 19. Jahrhundert oft benutzte Erklärung für die Erscheinung der alogia aus, d. h. der Irrationalität gewisser kurzer Silben, die für eine Länge stehen. Man dachte sich nämlich, die stärkere Intensität des Tons müsse auch ein längeres Verweilen auf der vom Iktus betroffenen Silbe bewirken, auch wenn diese kurz war. Es ist ein Verdienst Nietzsches, diese Erklärung aus dem Wege geräumt zu haben. Es bleiben aber die irrationalen Längen zu deuten, die auch den Ersatz einer Kürze durch eine Länge, wie etwa im iambischen Trimeter, umfassen. Aber wie? Hier greift nun der Musiker wieder ein, indem er erklärt, es seien eben „Dissonanzen des Zeitmaßes" 23 . Und solche Dissonanzen lassen sich nur auf einer höheren Ebene als eine „Frucht des Dionysuskult" 2 4 verstehen. So kommt es sogar zu einer scharfen Zweiteilung der griechischen Metren in „apollinische", wie etwa der Daktylus, wo die Zeitengleichheit gilt, und „dionysische", wie der iambische Trimeter, der die irrationalen Längen zuläßt 25 . Nun ein weiteres Beispiel für diese Philosophisierung der Philologie, diesmal aus der Textinterpretation. Bei der Lektüre von Hesiods Erga ist Nietzsche der in seiner Zeit in Ansehen stehenden analytischen Methode gefolgt. Man zerlegte die Komposition in Einzelgedichte, die dann ein späterer Bearbeiter mit Ubergangsversen verbunden hätte. Der Tätigkeit dieses Bearbeiters, des „Redactors", wie er ihn nennt, ist auch Nietzsche auf der Spur, und es nimmt nicht wunder, daß er sogar noch mehr von ihm interpolierte unechte Verse entdecken kann als es seine Vorgänger getan hatten. In der tristen Schilderung des eisernen Zeitalters, in dem weder der Vater mit den Söhnen sich einig sein wird, noch der Gast mit dem Gastgeber, und auch der Bruder kein Freund mehr sein wird ( E r g a 182 ss.), werden diese Zustände

Rhythmische Untersuchungen K G W II, 3, S. 329. Ebenda. 2 ' Dieser Unterscheidung ist schon in der }iinleitung vorgearbeitet worden. 21

24

in die Tragödie des Sophocles

KGW II, 3 S. 11

Anekdota Philologies

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im Futur, als Zukunftsvision geschildert. Nun ist aber für Nietzsche die ursprüngliche Fassung eine „herbe Schilderung mit Präsenssätzen" 26 gewesen. Und: „In einem unbedingt verkehrten Zeitalter hat die Aufforderung zur Tugend keinen Sinn. Das Gedicht schildert die Gegenwart viel zu schwarz darum milde Verse eingeschwärzt". Dem Redactor behagt dieses Bild nicht mehr und er „schildert seines [d. h. sein Zeitalter] als das beginnende böse, schwächt ab durch Einführung von Futuren". Damit ist freilich der Bearbeiter als Optimist und — schlimmer noch — als Moralist entlarvt und als solcher erst recht verteufelt. Neben Hesiods Erga sind die Choephoren der von Nietzsche am eingehendsten kommentierte Text (er plante ja, seine Studien über die zwei Gedichte zu veröffentlichen). Da warnt er eindringlich davor, einen ethischen Grundgedanken im Stück zu suchen 27 . Die Handlung sei hier die Entwicklung der Stimmungen bis zum Wahnsinn, Orests Muttermord geschehe ohne Gewissenskonflikt 2 8 . An einer anderen Stelle hat Nietzsche aber diese Interpretation gemildert: er gibt zu, daß sich bei Aischylos ein starker Gerechtigkeitstrieb zeigt 29 . Diese unvoreingenommene Interpretation verbindet sich mit einem scharfen Blick für die Bühnentechnik. So kommentiert Nietzsche beispielsweise die schon von Euripides beanstandete Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest mit dem knappen Satz: „Unpractisch ist immer Aeschylus" 3 0 . Aber unverkennbar bleibt sein Hauptanliegen, die Schuldgefühle des Menschen einzuschränken. So wird auch in der hesiodischen Fassung die Geschichte vom Feuerraub des Prometheus und der darauffolgenden Bestrafung der Menschen durch Zeus als Ausdruck des Schuldbewußtseins des Menschen gedeutet: der Feuerraub wäre ein Zusatz des Redaktors; ursprünglich hielt Zeus den Menschen mut- und böswillig die Mittel zum Lebensunterhalt verborgen 3 1 . Und die Einführung der Pandorasage, d. h. des Weibes als das Übel, gehört einer noch jüngeren Fassung an und „ist nur möglich bei < einem > Volk niederer Kulturstufe" 3 2 . Auch hier klingen bekannte Motive aus Nietzsches Gedankengut nach. Schließlich die Rhetorik des Aristoteles. Warum gerade die Übersetzung von großen Teilen dieses Werkes eines Philosophen, zu dem Nietzsche eigentlich nie ein persönliches Verhältnis hatte, wie etwa zu Demokrit, Sokrates, Piaton, Epikur? FLr schätzt und diskutiert zwar seine Poetik, aber

26 27 28 29 ,0 11 52

Nachschrift der Vorlesungen über Hesiod K G W II, 2, S. 371. Nachschrift der Vorlesungen über die Choephoren K G W II, 2, S. 329. KGW II, 2, S. 38 u. 36. lincjclopädie der klassischen Philologie, K G W II, 3, S. 415. Nachschrift KGW II, 2, S. 340. Nachschrift KGW II, 2, S. 3 6 4 - 3 6 5 . Nachschrift K G W II, 2, S. 365.

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es kommt nie zu einer Auseinandersetzung mit dem Denker, dem er Irrtümer und Mangel an Kunstverständnis vorwirft 3 3 . Wahrscheinlich ist sein Interesse gerade für die Rhetorik des Aristoteles auf einen zufälligen Anlaß, aber auch auf ein tiefer liegendes Bedürfnis zurückzuführen. Als Nietzsche sich 1870 — 71 mit der Metrik befaßte, ist er auf die bekannte Stelle der Rhetorik III 8 gestoßen, wo es heißt, man könne unversehens von der ungebundenen Rede in den Rhythmus der Verse verfallen, wenn man nicht vorsichtig genug ist, bestimmte Klauseln zu vermeiden. Es war eine geniale und verblüffend einfache Einsicht Nietzsches, daß diese Bemerkung (die übrigens für das Lateinische auch zweimal bei Cicero orat. 51, 172 und 56, 189 steht) sinnlos wäre, wenn die Verse mit rhythmischem Iktus vorgetragen wären; dann hätte man sie ja nie mit der Prosa verwechseln können. 34 Und tatsächlich werden in den Fragmenten von Nietzsches Nachlaß nach 1872 die Erwähnungen der Rhetorik des Aristoteles immer häufiger 35 . Aber da spielen andere, gewichtigere Gründe mit. Auf der Heftseite (es ist ein Heft aus dem Jahr 1874), die der Übersetzung der Kapitel 1 — 13 des ersten Buches der Rhetorik vorangeht, ist in Stichworten einiges über die Armut der Sprache vermerkt, was inzwischen als vereinzeltes Fragment im philosophischen Nachlaß herausgegeben worden ist. Da liest man als Abschluß die Worte: Der Niedergang der Bildung zeigt sich in der Verarmung der Sprache; das Deutsche der Zeitungen eine κοινή bereits. Man kann der Sprache ä u ß e r l i c h abhelfen 36 .

Es ist kaum zu bezweifeln, daß hier auch ein innerer Zusammenhang zwischen diesem Anliegen Nietzsches und der Übersetzung gerade der Rhetorik des 33

In einem Fragment von Ende 1876, K G W IV, 2 S. 500 ist von dem „Fehler in der ganzen Richtung des Denkens" die Rede. Mangel an Kunstverständnis: Nachgel. Fragm. 19 [76], K G W III, 4 S. 32 (1872/1873); 35 [12], III, 4, S. 432f. (1874); 5 [13] IV, 1, S. 119 (1875). Vor allem wirft Nietzsche dem Aristoteles Mißverständnis des Tragischen vor, vgl. etwa FW 80, K G W V, 2 S. 112 und EH, K G W VI, 3, S. 310. Die Vorwürfe werden in den späteren Jahren immer häufiger, vgl. die Fragmente von 1888 14 [33], 15 [10], 24 [1], K G W VIII, 3, S. 26, 203, 440. Auf einem losen Blatt, in dem Nietzsche über sein Vorgehen bei der Bearbeitung der GT sich äußert, unterstreicht er seine Emanzipation von der nach seiner Meinung falschen Interpretation des Aristoteles, KSA 13, S. 54.

34

Auf die Bedeutung dieser Stelle für Nietzsche und für sein Interesse an der Rhetorik hat mich Prof. Rudolf Kassel aufmerksam gemacht. Nietzsche bezieht sich mehrmals auf diese Beobachtung des Aristoteles und die entsprechenden Stellen aus Ciceros Orator, ζ. Β. in der Nachschrift der Griechischen Lyriker K G W II, 2, S. 389 f., in der Griechischen Rhythmik K G W II, 3, S. 180; in Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik K G W II, 3, S. 276. Zitate aus der Rhetorik des Aristoteles und Anspielungen darauf: Fünf Vorreden: Homer's Wettkampf K G W III, 2, S. 281; Μ 246 K G W V, 1, S. 206; FW 75 KGW V, 2, S. 107; Ζ* I K G W VI, 1, 34; Nachgelassene Fragmente 29 [178] (1873) K G W III, 4 S. 313; 21 [26] (1876/ 77) K G W IV, 2, S. 467; 7 [269] (1880) K G W V, 1, S. 703. Jetzt steht die Seite unter den Nachgelassenen Fragmenten von Ende 1874 K G W III, 4, S. 4 5 3 - 4 5 4 .

35

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Aristoteles besteht. E r hatte ja auch in früheren Jahren in den Vorlesungen den positiven Einfluß der griechischen und lateinischen Rhetorik g e g e n den „ N a t u r a l i s m u s " des deutschen Stils betont. N u r ein paar Belege: Wir sind stilistisch r o h e E m p i r i k e r : v o m R h y t h m u s der R e d e , der P e r i o d e , v o n der Wahl der Worte; d e m S c h l u ß der S ä t z e , v o n der g l e i c h m ä ß i g e n u n d b e w u ß t f e s t z u h a l t e n d e n G r u n d f a r b e d e s T o n s w i s s e n wir fast g a r nichts. D e r g r i e c h i s c h e u n d lateinische Stil ruht a u f seiner natürlichen W u r z e l , d e m T o n e d e s S p r e c h e n d e n , a u f der K u n s t d e s R h e t o r s u n d d e s ö f f e n t l i c h e n Dichters. D i e S c h r i f t e n ü b e r R h e t o r i k z e i g e n eine g a n z e n t s c h w u n d e n e K r a f t , s e i n e L e i d e n s c h a f t a m Z ü g e l der B e s o n n e n h e i t , K l u g h e i t u n d S c h ö n h e i t zu f ü h r e n . Wir m ü s s e n also n o t h w e n d i g v o n d e r g r i e c h i s c h e n u n d r ö m i s c h e n R h e torik N o t i z n e h m e n 3 7 .

Man steht aber vor der Frage, was diese Übersetzung eigentlich ist. Im Sommersemester 1874 ist im P ä d a g o g i u m die Rhetorik des Aristoteles teilweise gelesen worden; für das Wintersemester 1874/75 und das S o m m e r s e m e s t e r 1875 waren auf der Universität laut Anschlag jeweils drei Stunden wöchentlich der „ E r k l ä r u n g von Aristoteles' Rhetorik" gewidmet. Für diese zwei Semester sind die Aristoteles-Vorlesungen tatsächlich belegt; o b Nietzsche sie, wie angekündigt, und wie er Hermann Siebeck in einem Brief v o m 8. J u n i 1877 mitteilt 3 8 , auch im W S 1877/1878 gehalten hat, läßt sich nicht mehr ausmachen, da Unterlagen oder Erinnerungen fehlen 3 9 . D i e Ubersetzung, die auch Kapitel 1—4 von Buch III umfaßt, eignete sich für das P ä d a g o g i u m , wo Nietzsche für seine Schüler gern solche Übertragungen zum Einstudieren und K o m m e n t i e r e n schrieb (unter anderen sind auch ein Kapitel aus X e n o p h o n und mehrere aus Plutarchs Biographien erhalten). Andrerseits findet sich im Nachlaß eine kurze Einleitung, die auf Vahlens Aristotelesstudien fußt, und die Übersetzung selbst ist mit einem sehr knappen philologischen K o m m e n t a r versehen, der seinerseits v o n der großen A u s g a b e von Leonhard Spengel (1867) abhängt, aber auch wieder eigene Konjekturen bringt. Dieser K o m m e n t a r wird allerdings immer spärlicher und setzt für einige Kapitel ganz aus. Die Arbeit entsprach also seinem Interesse für Rhetorik und Stilpflege im allgemeinen und war gleichzeitig für den Unterricht zu verwenden. Vor allem war es aber eine Herausforderung für den Übersetzer. D a f ü r spricht nicht nur die große Zahl von Korrekturen eines mit sich selbst unzufriedenen Stilisten und die peinliche Sorgfalt bei der Auswahl der verschiedenen M ö g lichkeiten einer angemessenen deutschen Wiedergabe des knappen, elliptiHncydopädie der klassischen Philologie K G W II, 3, S. 3 9 3 - 3 9 4 ; 404. K G B II, 5, S. 243 f. " Janz: a. a. O. S. 202. ,7

58

78

Fritz Bornmann

sehen und vorwiegend parataktischen Stils des Aristoteles, sondern auch eine gegen Ende des 2. Kapitels von Buch I eingetragene Anmerkung: „Schluß von Capitel II fehlt. Ist mir zu schwer". In seiner entwaffnenden Aufrichtigkeit ist dieses Geständnis nicht das des Philologen oder Philosophen: hier spricht der Dichter Nietzsche. Um wenigstens einen Eindruck dieser Übersetzung zu vermitteln, sei zum Schluß eine von Nietzsche übersetzte Aristoteles-Stelle der entsprechenden der damaligen Standardübersetzung von Adolf Stahr gegenübergestellt. (Stahr war übrigens, zusammen mit David Strauß, auch ein Opfer von Nietzsches Kritik in den Unzeitgemäßen Betrachtungen).40 Es ist die bekannte Stelle über die Beweggründe der menschlichen Handlungen, I 10 1368b 33—1369a 7 (hier nach der von Nietzsche benutzten Ausgabe von L. Spengel, Leipzig 1867): πάντες δή πράττουσι πάντα τά μεν ου δι' αυτούς τά δε δι' αυτούς, τών μεν ουν μή δι' 35 αυτούς τά μεν διά τύχην πράττουσι τά δ' έξ ανάγκης, τών δ' έξ άνάγκης τά μεν βία τά δέ φύσει, ώστε πάντα δσα μή δι' αύτούς πράττουσι, τά μεν άπό τύχης τά δέ 1369 a φύσει τά δέ βία. δσα δέ δι' αύτούς, και ών αυτοί αίτιοι, τά μέν δι' έθος τά δέ δι' δρεξιν τά μέν διά λογιστικήν δρεξιν τά δέ δι' άλογον έστι δ' ή μέν βούλησις άγαθού δρεξις' ούδεις γάρ βούλεται άλλ' ή δταν οΐηθή είναι άγαθόν, άλογοι δ' ορέξεις όργή και επιθυμία, 5 ώστε πάντα δσα πράττουσιν άνάγκη πράττειν δι' αίτιας επτά, διά τύχην, διά φύσιν, διά βίαν, δι' εθος, διά λογισμόν, διά θυμόν, δι' έπιθυμίαν. Übersetzung v o n A d o l f Stahr, Stuttgart 1 8 6 1 ' , Berlin 1 8 9 1 2 .

Ubersetzung 1874.

Nun ist es Thatsache, daß alle Menschen alle ihre Handlungen teils nicht aus eigenem Antriebe, teils aus eigenem Antriebe thun. V o n dem, was sie nicht aus eigenem Antriebe vollbringen, thun sie manches aus Zufall, manches aus Z w a n g . Das, was sie aus Z w a n g thun, thun sie entweder aus äusserer G e w a l t oder aus Naturnotwendigkeit.

Nun thut jedermann jedes Ding entweder v o n selbst oder nicht v o n selbst; v o n dem was man nicht v o n selbst thut, geschieht das eine aus Zufall, andres aus Noth, letzteres wieder e n t w e d e r durch äussern Z w a n g oder v o n Natur,

Also: Alles, was der Mensch nicht aus eigenem A n t r i e b e thut, das thut er entweder aus Zufall oder aus N a t u r n o t w e n digkeit oder aus äusserer G e w a l t .

Alles was man nicht v o n selbst thut, geschieht entweder zufallig oder v o n Natur oder erzwungen,

40

von

Friedrich

In der Vorstufe zu einer Stelle von David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller dann nicht in die endgültige Fassung aufgenommen wurde: KSA 14 S. 63.

Nietzsche

11, die

Anekdota Philologica

79

Dagegen alles, was er aus eigenem Antriebe thut und w o v o n er selbst die Ursache ist, das thut er entweder aus Gewohnheit oder aus Begehren, und zwar das letztere entweder aus einem verständigen oder aus einem unverständigen Begehren. —

Alles dagegen was wir von selbst thun, w o v o n wir die Veranlassung sind, das thut man theils aus Gewohnheit, theils, aus einem Triebe und zwar einem mit Überlegung verbundenen oder einem unbewussten Triebe.

Ein solches (verständiges) Begehren ist das Wollen eines Guten, — denn niemand will, außer da, wo es sich seiner Meinung nach um ein G u t handelt —, unwürdige Begehren dagegen sind Z o r n und Begier.

N u n aber ist Wollen der Trieb nach etwas G u t e m , denn keiner will etwas, wenn er nicht glaubt, es sei etwas Gutes, unbewusste Triebe sind Z o r n und Begierde.

Und somit folgt, daß die Menschen alles, was sie thun, n o t w e n d i g aus sieben Ursachen thun: aus Zufall, aus Naturnotwendigkeit, aus äußerem Gewaltzwange, aus Gewohnheit, aus verständiger Reflexion, aus Aufwallung, aus Begier.

So ergiebt sich dass wir alles was wir thun aus 7 Anlässen thun: durch Zufall, durch Natur, durch Gewalt, durch Gewohnheit, durch Überlegung, durch Z o r n , durch Begierde.

Schon der größere Umfang der Übersetzung von Stahr läßt darauf schließen, daß der Wortlaut des Originaltextes erweitert ist. Meistens mit rein formellen Ausschmückungen, aus Scheu, die Knappheit des aristotelischen Textes wiederzugeben. δή „ n u n " wird zu „nun ist es Thatsache", αύτοί „von selbst" zu „aus eigenem Antriebe"; das einfache ιτράττειν „tun, handeln" mußte in „Handlungen t h u n " ausgedehnt werden; ebenso ist es nicht unentbehrlich φύσις „ N a t u r " mit „Naturgewalt" oder βία: „Gewalt" mit „äußerem Gewaltszwang" wiederzugeben. Demgegenüber lebt der rasche und schlichte Stil des esoterischen Aristoteles dank Nietzsches Einfühlungsvermögen wieder auf, besonders in den zwei ersten Absätzen, wo der abgehackte Fortlauf der aristotelischen Diairetik fast wörtlich ins Deutsche umgesetzt wird. Z u m Unterschied von Stahr scheut Nietzsche — den Prinzipien des griechischen und seines eigenen Stils folgend — nicht vor Wiederholungen zurück, wo ein vorher ausgedrückter Begriff durch einen leicht synonymen wiederaufgenommen wird: ό ρ γ ή „ Z o r n " in 1369 a 4, erscheint ein paar Zeilen später in der zusammenfassenden Aufzählung 1369 a 8 als θυμός, was Stahr unnötigerweise mit „Aufwallung" übersetzt, nur um die variatio des griechischen Textes beizubehalten. Besonders lehrreich ist der Unterschied in der Ubersetzung von λ ο γ ι σ τ ι κός und άλογος. 1369 a 2 — 3 wird λ ο γ ι σ τ ι κ ή δρεξεις von Stahr mit „verständigem ... Begehren", von Nietzsche dagegen mit „einem mit Überlegung verbundenen Triebe" übersetzt, was die Verbindung mit dem Begriff des λογισμός „Rechnen, E r w ä g e n " bewahrt, der in der Schlußaufzählung erscheint. Stahr dagegen versucht, durch das pleonastische „verständige Reflexion" den Anschluß an die Übersetzung der ersteren Stelle zu wahren.

80

Fritz Bornmann

Aber bei Nietzsche steht für όρεξις „Trieb"; das kann das Griechische noch bedeuten, jedoch ist eine ά λ ο γ ο ς ορεξις kein „unbewußter Trieb" (und umso weniger mit Stahr „unwürdige Triebe"), sondern ein nicht aus der Überlegung (λογισμός) entsprungenes Streben, im Gegensatz zu der λ ο γ ι σ τ ι κ ή όρεξις. Aber bei der Entstehung dieser Wiedergabe hat Nietzsches eigenste Gedankenwelt Pate gestanden, im Hintergrund auch die von Schopenhauer 41 .

41

Vgl. den Anfang des Kapitels „Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn" in: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 224: „Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos". Über Nietzsches Begriff des Triebes, der schon in der Geburt der Tragödie eine wichtige Rolle spielt, geben vor allem die späteren Fragmente Auskunft, vor allem 7 [263] und 8 [23] (1883) K G W VII, 1, S. 329 — 330; 352. Zwar steht der Trieb im Gegensatz zum Bewußtsein, aber die Triebe arbeiten hinter dem Bewußtsein, 39 [6] K G W VII, 3, 351 (1885). Wenn Nietzsche 26 [72] K G W VII, 2, S. 165 (1884) behauptet, jeder „Trieb" sei der Trieb zu „etwas Gutem", so lehnt er sich wohl an die oben angeführte Stelle der aristotelischen Rhetorik an. Es ist jedoch bezeichnend, daß er in einem Fragment von 1883 20 [4] K G W VII, 1, S. 624, in Verbindung mit Gustav Teichmüllers Die wirkliche und die scheinbare Welt die όρεξις des Aristoteles einfach mit „Begierde" wiedergibt.

„Philologie als B e r u f Zu Formengeschichte, Thema und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich von

HUBERT CANCIK,

Nietzsches*

Tübingen

§ 1 „Wissenschaft u n d Weisheit im K a m p f e " 1 § 1 . 1 Friedrich A u g u s t Wolf bei Friedrich Nietzsche Im März 1875, als der einhundertste G e b u r t s t a g der m o d e r n e n deutschen Philologie nahte, gestalteten Friedrich Nietzsche u n d Carl v o n G e r s d o r f f zu Basel ein Titelblatt f ü r die nächste Unzeitgemäße Betrachtung. In g r o ß e n , s c h w u n g v o l l e n Lettern schreibt G e r s d o r f f auf drei Zeilen über zwei Drittel der Seite den Titel: 2 Notizen zu Wir Philologen Nietzsche f ü g t , u m puristische Philhellenen zu schrecken, als M o t t o der geplanten Selbstkritik, im unteren Drittel der Seite, r e c h t s b ü n d i g in vier Zeilen, hinzu: 3 Gehet hin und verbergt eure guten Werke und bekennt vor den Leuten die Sünden, die ihr begangen. Buddha.

* Ich danke dem G o e t h e - u n d Schiller-Archiv, Weimar, f ü r die E r l a u b n i s , die H a n d s c h r i f t e n einzusehen, vor allem Frau Dr. Roswitha Wollkopf f ü r k o m p e t e n t e Hilfe. 1 U II 8, p. 4 u n d 5 = K G W I V 6[5] und 6[4]; w e n n nichts anderes a n g e g e b e n ist, handelt es sich u m Quellen der A b t . I V v o n K G W ; nicht zu A b t . I V g e h ö r e n d e Nachlaß-Texte sind nach K S A Bd. 7 zitiert. 2 M p X I I I 6b, p. 2; aus den A n g a b e n im Apparat K G W IV 4, S. 358 u n d in der Beschreibung der H a n d s c h r i f t , ebd. S. 498, wird die Verteilung der H ä n d e nicht deutlich. ' 3 [1], Eine Quelle ist im A p p a r a t zur Stelle nicht angegeben. Vielleicht handelt es sich auch hier um das im A p p a r a t zu U II 8, p. 239 ( = 2 [1]; K G W I V 4, S. 357) nachgewiesene Werk v o n O t t o Böhtlingk: Indische Sprüche. Sanskrit und Deutsch, 3 Bde., St. P e t e r s b u r g 2 1870 — 73.

82

Hubert Cancik

Auf den F u ß der Seite setzt er, über die ganze Blattbreite in drei Zeilen, als klassizistisches Antidot, die m e m o r i a f ü r Friedrich A u g u s t Wolf: 4 der achte April 1777 wo F A. Wolf für sich den Namen stud, philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie. Fast fertig schon zur Feier dieses Geburtstags, so suggeriert dieses Titelblatt, ist die geplante Unzeitgemäße Betrachtung. Ihre Form allerdings heißt im März 1875 erst noch „Notizen". Doch Nietzsche hatte alte Materialien und Vorarbeiten. Die zweite Unzeitgemäße (Februar 1874) hatte die moderne Schätzung von Geschichte an sich und in der Erziehung als Vorurteil entlarvt. 5 Dasselbe Schema, auf die „Bevorzugung des Alterthums" angewandt, sollte die Anstellung von Philologen, um Kinder am Alterthum zu erziehen, als pädagogischen Mißgriff erweisen. Seine Basler Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) waren nicht veröffentlicht. Aus der Studienzeit besaß Nietzsche eine ausgearbeitete „Nachschrift" wohl einer Vorlesung von Friedrich Ritsehl (gest. 8 . 1 1 . 1 8 7 6 ) über die „Encyclopädie der Philologie". 6 E,r hatte sie für seine eigene „Einleitung in das Studium der classischen Philologie" im Sommer 1871 benutzen können. 7 In dieser „Nachschrift" ist notiert: 8

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a) Zeilen und Interpunktion Nietzsches sind getreu wiedergegeben. Vgl. 3 [2], b) Die Quellen für die von J.F.J. Arnoldt: Fr. Aug. Wolf in seinem Verhältnis \um Schulwesen und \ur Pädagogik dargestellt, 2 Bde., Braunschweig 1861 - 6 2 ; Bd. 1, S. 26, (vgl. K G W IV 4, S. 358) berichteten Schwierigkeiten Wolfs, sich in Göttingen als studiosus philologiae einzuschreiben, und den hieraus entstandenen Gründungsmythus der klassischen Philologie in Deutschland, sind unklar; vgl. M. Fuhrmann, „F. A. W o l f , in: Deutsche Vierteljahrsschrift 1959, S. 187. Nach Eduard Schröder: „Studiosus Philologiae", in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 32 (1913) S. 168—171, ist der Ausdruck studiosus Philologiae in der Göttinger Matrikel bereits 1736 belegt. Schröder kennt den ,Gründungsmythos' aus Bonner Tradition — Hermann Usener habe ihn in seinen Vorlesungen vorgetragen — und führt ihn auf W. Körte, Wolfs Schwiegersohn, zurück. — Im Februar 1875 hatte Nietzsche sich aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen: F.A. Wolf: Kleine Schriften (ed. G. Bernhardy), Halle 1869.

c) Vgl. die Widmung an Voltaire auf dem Titelblatt von Menschliches, All^umenschliches 1878, abgedruckt in K G W IV 2, S. 1. 5 Vgl. auch KSA 7: 29 [13]: „Der Gelehrte"; 29 [31]: „Die Schätzung der Geschichte"; 29 [56J: „Das Historische in der Hr^iehung". '' a) Ρ I 5, 7, vgl. BAW 4, S. 3 f. und die Einzelbemerkungcn S. 616 f., wo das Manuskript folgendermaßen charakterisiert ist: „Es handelt sich vermutlich um eine Nachschrift (das zuletzt genannte Datum einer Publikation ist das Jahr 1864) ...". b) Fr. Ritsehl (1806 — 1876) hat diese Vorlesung häufiger gehalten. Die Einträge in seinem Vorlesungsmanuskript nennen: Breslau 1835; Breslau 1838; Bonn 1839; Bonn 1843; vgl. O. Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschi. Ein Beitrag %ur Geschichte der Philologie, 2 Bde, Leipzig 1 8 7 9 - 1 8 8 1 , I S. 327 ff. Wann und w o Nietzsche eine Vorlesung Ritschis zu diesem Thema gehört hat, ist in BAW nicht angegeben. 7

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K G W II 3, S. 339 — 437. Pläne zur „Encyklopädie nebst Einleitung in das Studium derselben": 8 [ 3 8 - 3 9 ] , KSA 7, S. 237 f. Für diese Vorlesung hat Nietzsche im Mai 1871 J.F.J. Arnoldt, Fr. Aug. Wolf, ausgeliehen. BAW 4, S. 6. - Das Geburtsjahr von Wolf ist 1759. - In der Vorlesung über Metrik ( W S

.Philologie als Beruf'

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Fr. Au. W o l f 1 7 5 4 - 1 8 2 4 . begründet die Philologie als Beruf. P r o l e g o m . 1795. E r knüpft an Bentley an. „ K e n n t n i ß der alterthümlichen Menschheit selbst" als Ziel.

D i e ,Begründung' eines selbständigen Studiums der Philologie durch Wolf, so der Gründungsmythos der deutschen Philologen, ist Teil einer umfassenden Emancipation des Bildungswesens von den Großkirchen und seiner zunehmenden Verstaatlichung. .Philologie als B e r u f heißt: D e r B e r u f des Lehrers löst sich vom Klerikerstand und gewinnt aus dem B e g r i f f der Erziehung und der Classizität der Antike eine eigene normative B e g r ü n d u n g . 9 Deshalb entwirft Nietzsche seine Basler Einleitungsvorlesung (1871) nach Stoff, Terminologie und F o r m ganz in der Tradition der philhellenischen und pädagogischen Bewegung des 18. Jahrhunderts: 1 0 1. B e g r i f f des Philologen. Sokrates und die Künstler. G e s c h i c h t e der Philologie. 2. Z u k u n f t des Philologen. Lehrerberuf. D i e R e f o r m der Alterthumsstudien. 3. Das philologische Universitätsstudium. 4. Das klassische Alterthum, als Musterbegriff.

Zu dieser Tradition gehört eine oft versteckte philosophische O p t i o n , der Wille zur pädagogischen Reform, die Spannung zwischen historischer Kritik und normativer Pädagogik, dazu die Polemik gegen die Vorläufer, auf denen man aufbaut. Deshalb plant Nietzsche für die 3. bis 8. Woche seiner Vorlesung folgende T h e m e n : 1 1 D e r L e h r e r b e r u f und die R e f o r m des Gymnasiums. Das Universitätsstudium. Das klassische Alterthum (gegen Wolf, W i n c k e l m a n n , G o e t h e ) .

I m Frühling 1875 durfte Nietzsche also hoffen, mit Hilfe dieser Vorarbeiten seine neue Unzeitgemäße Betrachtung rechtzeitig zum Geburtstag der Philologie (1877) auf dem Büchermarkt zu sehen. Warum konnte es ihm nicht gelingen? 1831/32) bestimmte Ritsehl (nach Ribbeck I, S. 85) die Aufgabe der classischen Philologie folgendermaßen: „Die Reproduction des Lebens des classischen Alterthums durch Anschauung und Hrkenntniss aller seiner Äusserungen sei das Ziel, die Philologie also ein Theil der Geschichte im allgemeinsten und höchsten Sinne des Wortes." ' Vgl. H. Cancik, „ , . . . die Befreiung der philologischen Studien in Württemberg'. Zur Gründungsgeschichte des philologischen Seminars in Tübingen 1838", in: 1838—1988. 150 Jahre Philologisches Seminar der Universität Tübingen (Tübinger Universitätsreden Bd. 37, hg. v. R. Kannicht) Tübingen 1990, S. 3 - 2 5 . 10 8 [38] KSA 7, S. 237. Vgl. H. Cancik, „Der Einfluß Nietzsches auf Berliner Schulkritiker der wilhelminischen Epoche", in: Der altsprachliche Unterricht 30,3 (1987) S. 55 — 74 ( G e s c h i c h t e der klassischen Philologie und des altsprachlichen Unterrichts III, hg. v. H. Cancik und R. Nickel). " 8 [39]; KSA 7, S. 238.

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§ 1.2 Die biographische Situation ( 1 8 7 5 - 1 8 7 6 ) In den Jahren 1875/76 verändern sich Nietzsches berufliche und intellektuelle Perspektiven und die Konfiguration seiner persönlichen Beziehungen. Er hatte im Wintersemester 1874/75 eine groß angelegte Vorlesung über die Geschichte der griechischen Literatur begonnen, die er in den beiden folgenden Semestern fortsetzte. Er geht aus von traditionellen Punkten der Ritschl-Schule, deren Variationen sich in den fast gleichzeitigen literarge schichtlichen Vorlesungen Erwin Rohdes finden. Nietzsche führt jedoch auf sehr neue Fragen: Was begründet die Literarizität von Texten, wie entsteht Literatur aus Nichtliteratur, was ist der ursprüngliche Ort eines Textes, wie wandelt sich in der griechischen Geschichte das Verhältnis von Leser und Text — und was sonst noch alles in der Frühzeit von Formgeschichte und Literatursoziologie zu traktieren war. 12 Für die Vorlesung mußte Nietzsche eine erhebliche Lese- und Schreibarbeit leisten. Jacob Burckhardts Vorlesungen zur griechischen Kultur mußten assimiliert und überboten werden. 13 Durch die Schriften des Arztes Paul Ree und den Umgang mit ihm (seit Oktober 1875) gelingt Nietzsche jetzt der Durchbruch zu Moralistik und „harten Psychologica", Physiologie, Medizin, Naturwissenschaften. 14 Er gewinnt eine neue Form, den Aphorismus. Mitten drin, im Sommer 1875, entsteht, unverhofft und ungewollt, eine ganze Unzeitgemäße Betrachtung — Richard Wagner in Bayreuth, die vierte vollendete und letzte Betrachtung. Auch sie ist aus alten Materialien über Musik, Kunst und Künstlertum entwickelt. Auch sie ist termingebunden: Denn im Sommer 1876 beginnen die ersten Bayreuther Festspiele. Der Text ist im Frühling 1876 fertiggestellt, im Juli, kurz vor der Eröffnung der Spiele, erscheint die Betrachtung im Druck. In derselben Zeit aber ninmmt Nietzsche seinen

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Zur Würdigung dieser Ansätze und ihren möglichen Einfluß auf Franz Overbeck vgl. H. Cancik und H. Cancik-Lindemaier: „Der psychologische Typus des Erlösers' und die Möglichkeit seiner Darstellung bei Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche", in: R. Brändle, E.W. Stegemann (Hrsg.), i'ran\ Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988, S. 108 — 135, und B. v. Reibnitz, „Vom Sprachkunstwerk zur Leseliteratur", in diesem Bande, S. 55 ff. Im Mai 1875 liest Nietzsche Burckhardts Vorlesung in der Nachschrift von I.ouis Kelternborn. Vgl. Nietzsche an Rohde, 8. Dezember 1875; EH, „Warum ich so gute Bücher schreibe", „Menschliches, Allzumenschliches" 2 — 3 (Rückblick auf 1 8 7 5 - 1 8 7 7 ) . - Paul Ree: Psychologische Beobachtungen, Berlin 1875; ders.: Der Ursprung der moralischen hmpfindungen, Chemnitz 1877. Beide Werke sind zu Beginn von Menschliches, All^umenschliches (erschienen 1878) mit hohem Respekt genannt (MA 36 und 37). Hubert Treiber: „Zur Genealogie einer .Science positive de la Morale en Allemagne'", in: Nietzsche-Studien 22 (1993) S. 165 — 221 (zu den naturwissenschaftlichen Studien von Nietzsche, Ree und Romundt).

Philologie als B e r u f

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Abschied von Bayreuth und seinem Weihefestspielwesen, von Wagners Person und Kulturreform; am 28. Oktober 76 treffen sie sich das letzte Mal. Längst will Nietzsche seine eigene „unsichtbare Kirche", 1 5 sein „Kloster der freien Geister". 16 Er schreibt schon das „Statut der Gesellschaft der Unzeitgemässen", 17 träumt „eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind".^B Die pädagogischen Reformpläne geben diesen Träumen den Schein der Realisierbarkeit: „Schule der Erzieher" — „Erzieher ersehn"·. „Und für diese schreibe ich". 19 Die alten Ereunde freilich hatten eigene Pläne. Sie waren endlich in feste Stellungen gelangt, konnten standesgemäß eine Frau ernähren und wollten Kinder haben. Im Juli 1876 verlobt sich Erwin Rohde mit Valentine Framm, 2 0 Carl von Gersdorff hat seine Passion mit Nerina, 21 Franz Overbeck heiratet im August 1876 Ida Rothpietz. Der Studienfreund aus Leipziger Zeiten, Heinrich Romundt, Privatdozent für Philosophie in Basel, bekehrt sich gar zum Katholizismus. Nietzsche beklagt seine Einsamkeit, schreibt einen Hymnus an die Göttin Freundschaft und wirbt hastig und vergeblich um Mathilde Trampedach. 22 Nietzsche ist auf dem „Weg der Befreiung". 2 3 Er sieht auf seine Knabenund Jünglingsjahre zurück: „mit Leidwesen". 2 4 Wer nach seinen Studentenjahren sich zurücksehnt, ist unfreier geworden. Nietzsche wünscht sich nichts weniger als seine Kindheit und Jugend: „Ich fühle mich jetzt jünger und

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Paul Ree an Nietzsche, Ende November 1877. 17 [47], 17 [50]; vgl. Hubert Treiber: „Wahlverwandtschaften zwischen Nietzsches Idee eines .Klosters für freiere Geister' und Webers Idealtypus der puritanischen Sekte. Mit einem Streifzug durch Nietzsches .ideale Bibliothek'", in: Nietzsche-Studien 21 (1992) S. 326 — 362. — Für einen Rückblick auf seine Flucht aus Bayreuth und den metaphysischen Nebeln in die Berge und den Realismus, aus dem die „Pflugschar" und Menschliches, Allzumenschliches entstehen vgl. Nietzsche an Mathilde Maier, 15. Juli 1878; ähnlich in F,H, „Warum ich so gute Bücher schreibe", „Menschliches, Allzumenschliches" 2 — 4. Die unvollendete Unzeitgemäße ist hier nicht erwähnt. 5 [97], 5 [30]; vgl. 5 [39]: „Ich sehe in den Philologen eine verschworene Gesellschaft". Ν I 3 p. 31 = 4 [5] bringt die Überschrift „Schule der Erzieher". - 5 [25]; U 11 5 p. 116 = 17 [105]: Plan für die Pflugschar; 16 [5] (1876). Eine Abbildung der Anzeige bei H. Cancik: „Erwin Rohde — ein Philologe der Bismarckzeit", in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg, Bd.II, 1985, 4 3 6 - 5 0 5 , Abb. 5, S. 457. - Die Heirat ist im August 1877. Vgl. Gersdorff an Nietzsche, 5. September 1876. Die Freundschaft zerbricht im Dezember 1877: KSA 15, S. 78. Einsamkeit: Nietzsche an Rohde, 18. Juli 1876; 17 [31]; Hymnus: Mp XIII 6a, p. 3 = 7 [4]: 1875; Werbung: Nietzsche an Mathilde Trampedach, 11. April 1876. Ν 1 4 (Anfang 1875) = 1 [3], U II 5 b (Sommer 1876) = 17 [24], Vgl. die Hinweise auf Schulpforta und die Bonner Studienzeit, in: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (KSA 1, S. 641—752).

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freier als je." 2 5 Das „Denkmal" dieser Befreiung ist Menschliches, All^umenschliches.26 Dies ist auch eine Befreiung von Beruf und Philologie. Im Mai 1877 wird Nietzsche von seiner Lehrtätigkeit am Pädagogium beurlaubt, im Winter 78/ 79 hält er seine letzte Vorlesung in Basel. Das „Wir" in der Unzeitgemäßen Betrachtung über die Philologen verweist auf ihren autobiographischen Kern: „Ich kenne sie, ich bin selber einer". An Rohde schreibt er: „Alles ist selbst erlebt und deshalb windet es sich etwas schwer von mir los." 2 7 Deshalb sei er mit dieser Betrachtung auch nicht weitergekommen, schreibt er im Oktober 1875 an Rohde. Nietzsche hat den Plan nicht aufgegeben. Noch im Herbst 1876, und zwar wohl nach der Fertigstellung der „Pflugschar", hat er versucht, aus den Vorarbeiten von 1875 längere Partien für eine Unzeitgemäße Betrachtung über die Philologen herzustellen. Gerade hier ist die handschriftliche Überlieferung sehr brüchig; es ist nicht mehr festzustellen, wie weit er mit dieser Ausarbeitung der alten Stücke gekommen ist. Sein Schweigen über den Plan, die Überführung des Themas und einiger Materialien in neue Zusammenhänge ergeben kein klares Bild. Stoff, Thema und Form waren ihm, so scheint mir, obsolet geworden, die Scham über seine Philologenexistenz größer als der Wille zur Schulreform. Als selbständiges Buch lebt das Thema nur in Nietzsches Planungen weiter. In einem Notizbuch von 1876 hat er eine neue Gliederung: 2 8 Über Philologie. Buch: Die freien Lehrer. 1. Weg zur Befreiung. 2. die Schule der Erzieher. 3. die Wanderer. [...]

Der Vergleich mit den Gliederungen für die Unzeitgemäße Betrachtung (s. § 2.1) zeigt die Mutation ins Allgemeine, zu Moralistik, Anthropagogie. Die Ausführung plante Nietzsche damals für das Jahr 1882. 29

§ 1.3: Die Texte In den folgenden Handschriften sind Nietzsches Pläne, Notizen, Vorarbeiten, Ausarbeitungen, Reinschriften für seine vierte Unzeitgemäße überlie25

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17 [30]. Es f o l g e n die Verse v o m a r m e n , einsamen W a n d e r s m a n n : 17 [31]; v g l . Nietzsche an R o h d e , 18. J u l i 1876. E H , „ M e n s c h l i c h e s , A l l z u m e n s c h l i c h e s " , 1. 5 [142], - Nietzsche an Rohde, 7. O k t o b e r 1875. Ν II 1 = 16 [5]. Eine g e n a u e r e D a t i e r u n g der E i n t r a g u n g ist bei M o n t i n a r i nicht a n g e g e b e n : L i e g t sie vor oder nach der Bexer F a s s u n g ?

16 [11],

.Philologie als B e r u f '

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fert. 30 Die Aufstellung ist chronologisch geordnet. Sie nennt die archivarische Bezeichnung, ein anschauliches Kennwort, den Schreiber und die QuellenNummer der Kritischen Gesamtausgabe (KGW): U II 8 p. 2 3 9 - 1 0 8 : Basler Notizen; bis Frühjahr 1875; Schreiber: Nietzsche; Quelle 2 und 5. 31 Mp XIII 6b, p. 1—22: Gersdorff-Fassung; Basel, März 1875; entspricht U II 8 p. 2 3 9 - 2 0 0 ; Schreiber: Carl von Gersdorff: Quelle 3. Mp XIII 6a, p. 1 — 11: Basler Ausarbeitung; Basel(P), Sommer(?) 1875; Schreiber: Nietzsche; Quelle 7. Μ I 1, „Pflugschar", p. 8 0 - 8 8 : „Über die Griechen", September 1876; Schreiber: Peter Gast; Quelle 18. U II 5, p. 114—113: Bexer Fassung (nr.l—6); „Bex vom 3 October an", 1876; Schreiber: Paul Ree und Nietzsche; Quelle 19.

Diese Texte gehören zu verschiedenen Textstufen; der Grad ihrer Ausarbeitung nimmt stetig zu; die ,Großform' wechselt zwischen Notizenbuch, Essay und Aphorismenbuch. Die Hinfälligkeit des Gegenstandes zeigt sich in den Brüchen und Sackgassen der Textgeschichte. Zwischenreinschrift, Fragment oder Nachlaß sind die unsicheren Namen für die Rückstände eines Textprozesses, der nicht zu seinem Druckmanuskript gelangt ist. Nicht weil Richard Wagner in Bayreuth die ,Philologen' im Sommer 1875 verdrängt hatte, blieb die ursprüngliche vierte Unzeitgemäße unvollendet, sondern weil Nietzsche seine neuen Themen nicht mehr in die guten alten Formen von Einleitungswissenschaft, Streitschrift, Programmrede oder Essay bringen wollte.

§ 2 Auflau,

Formen,

Textstufen

§ 2.1 Der Essay Briefliche Zeugnisse und Entwürfe Nietzsches zeigen, daß „Wir Philologen" nach dem Modell der anderen drei, bzw. vier Unzeitgemäßen Betrachtungen gearbeitet werden sollte: 32 ein längerer Essay über ein beschränktes

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Materialien aus d e m Stoffbereich „ W i r P h i l o l o g e n " finden sich auch in den sog. „ S o r r e n t i n e r Papieren", z . B . : M p X I V 1, p. 3 1 6 - 3 1 7 ; 3 5 2 - 3 5 3 , W i n t e r 1876/77, S c h r e i b e r : Albert Brenner und Peter Gast; Q u e l l e 20. — Diese Papiere g e h ö r e n in die V o r g e s c h i c h t e von Menschliches, All^umenschliches und sind deshalb nicht in das hier b e h a n d e l t e Textcorpus a u f g e n o m m e n . Da diese Stoffe ü b e r Μ I 1 in die „ S o r r e n t i n e r P a p i e r e " g e l a n g t sind, bedeutet deren A u s s c h e i d u n g für die Textgeschichte von „ W i r P h i l o l o g e n " keinen I n f o r m a t i o n s v e r l u s t .

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Nicht z u m K o m p l e x ,Wir P h i l o l o g e n ' g e h ö r i g : U II 8 p. 1 - 4 3 ( = Q u e l l e 6). Nietzsche an R o h d e , 7. O k t o b e r 1874; 7. O k t o b e r 1875.

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Thema, in mehrere Kapitel gegliedert, aber ohne Zwischenüberschriften. 33 Die Gliederungen und Entwürfe stimmen nach Inhalt und Terminologie, bei geringen Variationen in der Reihenfolge, überein. Ein Schema möge die wichtigsten Pläne veranschaulichen. 34 2[3] l.Fassg.

2[3] 2.Fassg.

5[55]

7[3]

Cap. 1. Vorurteile zugunsten der Philologie

Entstehung der Philologie. (Brauchte das Alterthum einen Stand von Vertretern?)

1. Genesis des jetzigen Philologen.

Die Bevorzugung der Griechen.

2. Der jetzige Philologe und die Griechen.

b. Genesis der jetzigen Philologen.

Cap. 2. Genesis des Philologen

Jetzige Entstehung des Philologen.

3. Wirkungen auf Nichtphilologen.

c. Ihre Wirkung auf Nichtphilologen.

Cap. 3. Vorurteil über Altertum/ das A. ist unzeitgemäß/ bedingt Erziehungsauftrag der Philologen

Ihr Verhältniss zu den Griechen.

4. Andeutungen über die Griechen.

d. Ihre Stellung zu den wirklichen Griechen.

Cap. 4. Unfähigkeit der Philologen und Vorurteil der Öffentlichkeit = Grundlage der Philologie

Ihre Einwirkung auf die Nichtphilologen.

5. Die zukünftige Erziehung des Philologen.

e. Zukünftiges.

Cap. 5. zukünftiger Philologe = Skeptiker = Vernichter des Philologenstandes

Die Philologen der Zukunft — ob es welche geben wird?

6. Griechen und Römer — und Christentum. W o l f s Loslösung.

Das Argument der Betrachtung ist von vornherein klar, zwingend, radikal destruktiv und utopisch. " Zum Vergleich: UB I - 12 Capitel/ ca. 80 S. (KSA); UB II - 10 Capitel/ ca. 90 S.; UB III - 8 Capitel/ ca. 90 S.; UB IV - 11 Capitel/ ca. 80 S. Der Textbestand von „Wir Philologen" läßt sich, der zahlreichen Dubletten wegen, quantitativ nicht bestimmen. 34 2 [3] = U II 8, p. 219 (2 Fassungen); 5 [55] = U II 8, p. 174; 7 [3] = Mp XIII 6a, p. 3. Die Spalten 1, 2 und 4 enthalten den Originaltext (nach K G W IV), Spalte 3 ist eine Zusammenfassung des umfangreicheren Textes; die Einteilung in 5 „Cap." stammt von Nietzsche. Alle Gliederungen vollständig in chronologischer Reihenfolge. Die Realisierung des Schemas verdanke ich Hildegard Cancik-Lindemaier.

.Philologie als B e r u f '

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Die Philologen können, als moderne Menschen, die sie sind, das Altertum nicht verstehen; sie sind keine Erzieher, bestenfalls Gelehrte. Ihr pädagogisiertes Altertum ist nicht das wirkliche: das wahre Altertum ist ein Beweis gegen ihren Humanismus. 15 Das wirkliche Altertum ist nichts für Kinder: „Ende der zwanziger fängt es an zu dämmern" — der Verfasser hat dieses Alter kürzlich erreicht und statuiert auch so das Ende seiner Jugend. 3 6 Aus diesen Sätzen folgt notwendig: 37 „ Aufgabe für die Philologie·. Untergang". Dieser destruktive Teil wird paradox überboten durch eine pädagogische Utopie. Die Philologie sei eigentlich noch nicht am Ende, sie habe noch gar nicht angefangen: Zukunftsphilologie. 38 Ein Bild der ,wirklichen' Griechen wird entworfen: Religion, Sitte, Erziehung, Staat. Das wächst sich aus zu einer kritischen Kulturgeschichte, deren Vollendung auf mehrere Jahre geschätzt wird. 3 9 Und noch kolossaler wird geplant: 40 Ein Colleg über das „System der Cultur". Sogar ein Katalog der positiven Erziehungsziele und Wege wird entworfen; nicht ,formale Bildung', sondern: 41 „Das Griechenthum durch die That zu überwinden" und „Gesunder gewandter Körper...". Der destruierende wie der utopische Teil dieser Argumentation schleudern den Verfasser weit über die Grenzen seiner Profession und die Möglichkeiten der Gattung ,Betrachtung'.

§ 2.2 Vom Essay zum Aphorismus Der Stoff ,Philologie, Wissenschaft und Bildung' ist von der Einleitungsvorlesung (F. Ritsehl — F. Nietzsche) zur Antrittsvorlesung gewandert und zu programmatischen und polemischen Vorträgen. Er ist nun in die Form von „Notizen" und „Plänen" gebracht worden, die aus dieser Wissenschaft hinausführen, die nicht protreptisch, sondern apotropäisch wirken sollen. Die früheste Handschrift (U II 8) zeigt bereits den vollen Titel, ein Motto war, wie es scheint, 42 vorgesehen; es gibt Pläne, ein vollE i n i g e Belege: 5 [39], 5 [60], 5 [144], 17 5 [145]; v g l . 5 [55], Ende: „Vernichter des P h i l o l o g e n - S t a n d e s " ; 5 [158]. Zu der a u t o d e s t r u k tiven A r g u m e n t a t i o n s f i g u r v g l . die T ä t i g k e i t und Selbstreflexion von F r a n z O v e r b e c k . » 3 [70], 39 5 [161], 5 [162], 5 [165], 5 [166]; v g l . 3 [49], 411 5 [41], 5 [36], 5 [40]; v g l . 5 [98]: „das f u n d a m e n t a l s t e P r o b l e m aller C u l t u r " . 41 5 [167]; 5 [35]; 5 [40], 42 U II 8, p. 239, 1.9 — 11 = 2[1]; im Apparat z.St. heißt es: „spätere E i n t r a g u n g a m A n f a n g des Ms, als M o t t o " . M o n t i n a r i definiert seine Q u e l l e 2 „bis A n f a n g M ä r z 1875". Da der indische S p r u c h von der H a n d Gersdorffs geschrieben ist, w ü r d e das b e d e u t e n , d a ß G e r s d o r f f 15

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ständiges Resume, 4 3 Zwischenüberschriften, den Entwurf für ein „Prooemium". 4 4 Einige Partien füllen bereits mehr als eine Druckseite mit einem zusammenhängenden, ausformulierten Argument. 4 5 Aus dem Heft U II 8 hat Carl von Gersdorff im März 1875 die Seiten 239 — 200 ins Reine geschrieben (Mp XIII 6b), teilweise wohl nach Nietzsches Diktat. Gersdorff benutzt sehr gutes, weißes, festes Papier. Er schreibt sorgfältig mit Absätzen. Der Text ist in fünf bezifferte Kapitel eingeteilt, die den Gliederungen von U II 8 entsprechen. Aber noch immer sind es, laut Titelblatt, „Notizen zu Wir Philologen". Obschon im Textbestand nur wenig geändert ist, hat die Sortierung der Notizen von U II 8 nach Mp XIII 6b die Konsistenz des Textes vergrößert. Die Form eines Essay nach Art der anderen Unzeitgemäßen Betrachtungen tritt optisch und sprachlich deutlich hervor. Am weitesten ist diese Form in den Stücken der „Ausarbeitung" entwikkelt, die unter der Sigle Mp XIII 6a zusammengefaßt sind. 4 6 Dabei handelt es sich um beunruhigend lose Blätter. Die Sprünge in den verschiedenen archivarischen Paginierungen dieser Blätter und das unterschiedliche Format erzählen eine unbekannte Geschichte. In langen, völlig ausformulierten Partien ist die Eingangstopik der Betrachtung ausgeführt: die illusionäre Verehrung des Altertums; mit einer integrierten Zwischenüberschrift wird angefügt: „Entstehung des Philologen". Im Manuskript ist zwischen diesen Stücken kein Leerraum. Diese Ausarbeitung' bringt die längsten zusammenhängenden Partien des Essays. Dem „Grad der Ausarbeitung" nach entspricht diesen Blättern etwa die „Vorarbeit zu ,Richard Wagner in Bayreuth'" (Sommer 1875). 47 Die Textgeschichte des Essays bricht hier ab. Die weitere Entwicklung deutet sich in einem Notizbuch an: 48 sieben unzeitgemässe Betrachtungen — 1 8 7 3 — 78. Zu jeder Betrachtung Nachtrag in Aphorismen. Später: Nachträge zu den unzeitgemässen Betrachtungen (aphoristisch).

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dieses Motto in U II 8 eingetragen hätte, bevor er nach Basel kam. Auch dieses Beispiel zeigt, wie schwierig die Edition von sog. Schichten werden kann. — In GAK 10, 1896, S. 328 ist der Spruch als Motto des 2. Abschnittes gedruckt. Ob dies Nietzsches Intention war, ist nach dem handschriftlichen Befund nicht zu entscheiden. In die Gersdorff-Fassung (Mp XIII 6b) wurde der Passus jedenfalls nicht aufgenommen. Der Spruch wurde vielleicht als alternatives Motto notiert, dann aber nicht gebraucht. 5 [55], 5 [189], 5 [58], 5 [107], 5 [146], Quelle 7; darin, 7 [6] und 7 [7], eine Umformung von U II 8, p. 187 — 184; Datierung: (Sommer) 1875. KGW IV 1, S. 265 ff.: U II 9. Mp XIII 4 , 6 - 8 . 47. - „Grad der Ausarbeitung": Nietzsche an Rohde, 7. Oktober 1875. Vgl. Ν I 3 (KGW IV 1, S. 115, 4 [3]): „Vorstudien zu .Wagner'". 16 [12] = Ν II 1 (1876; KGW IV 2, S. 386); vgl. 16 [15]: Plan, „Sentenzen" zu sammeln.

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Um dieselbe Zeit (Sommer 1876) taucht in Nietzsches Plänen ein neuer Titel auf: 4 9 „Menschliches und Allzumenschliches".

§ 2.3 Das Aphorismen-Buch Ein Jahr etwa nach den letzten Ansätzen, die Vorarbeiten zu „Wir Philologen" zu einer Unzeitgemäßen Betrachtung zu runden, erscheinen das Thema .Erziehung und Altertum' und einige der in U II 8 gesammelten Materialien in einer neuen Form und in ungewöhnlichen Zusammenhängen. 5 0 Peter Gast gestaltet schwungvoll und schnörkelig ein Titelblatt: Die Pflugschar. Ein Motto aus „Der Meier Helmbrecht" in der rechten Ecke muß den anschaulichen Titel erklären: „Willst du mir folgen, so baue mit dem /Pfluge! [ . . . ] "

Die nächste Seite bringt eine Zwischenüberschrift: „Wege zur geistigen Freiheit". Dann beginnt eine Serie von 176 bezifferten Stücken. Viele davon tragen integriert ein eigenes Lemma: 2. Was sie von Schule haben kann: — Alle öffentlichen Schulen sind auf die mittelmässigen Naturen eingerichtet, [...]

Die Stücke sind verhältnismäßig kurz, aber in sich abgeschlossen, sie enden nicht selten in einer Pointe. Sehr kurze Maximen (nr. 8: vier Zeilen), Sentenzen (nr. 70: 1 Zeile) wechseln mit mehrseitigen Argumenten (nr. 17: mehr als 3 Seiten). 5 1 Leerraum, ein Sternchen, Einzüge grenzen die Stücke voneinander ab. Das Bild des Textes zeigt die neue Gattung. Das Heft M i l vom September 1876 ist Nietzsches erstes Aphorismen-Buch. Zwar sind Stoffe aus „Wir Philologen" aufgenommen; das Buch beginnt sogar mit dem Thema „Schule". Aber die erste Kapitelüberschrift ordnet die Schulreform der all-

1(1

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17 [72]: K G W I V 2, S. 404 = U II 5 b. Der Titel erscheint als Zwischenüberschrift in der „Pflugschar": Μ I 1, p. 34, nr.48 ff. Vgl. auch 18 [12], 18 [48], Die Hs Μ I 1 (Pflugschar) wird datiert durch (a) einen archivarischen Vermerk auf p. 2 und (b) durch die Handschrift von P. Gast, der im September 1876 bei Nietzsche in Basel weilte. — Die ,Bexer Fassung' (Quelle 19 = U II 5 c) ist vom Schreiber selbst datiert: „vom 3 October an". Sie enthält am Anfang 6 bezifferte Aphorismen aus dem Themenkreis von „Wir Philologen". Darauf folgen jedoch weitere bezifferte Aphorismen zu Menschliches, All^umenschliches. Dazwischen finden sich einige Stücke zu Erziehung und Altertum, vgl. z.B: 19 [82]: „Philologen./ Woher die Verdummung der Gymnasiasten? [ . . . ] " . Das genaue zeitliche Verhältnis zu Μ I 1 ist mir nicht klar. 18 [5]: Nr. 17 und 70 hat Montinari nicht in seine Auswahl aufgenommen.

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gemeinen Moralistik unter. Das Kapitel „Über die Griechen", das in den späteren Plänen zur Pflugschar nicht mehr vorgesehen war, 5 2 erscheint immerhin als nr. 142—153. Die „Schule der Erzieher", zunächst als letztes, siebentes Kapitel für die Pflugschar geplant, 53 wird jedoch in Μ I 1 nicht geschildert. Die Handschrift ist vollständig, das Werk auch äußerlich zu einer Einheit gerundet, indem der letzte Aphorismus (nr. 176) Titel und Motto fortschreibt: Die Pflugschar schneidet in das harte und das weiche Erdreich, [...].

In der Ausgabe der „Pflugschar" in KGW sind 61 der 176 Stücke abgedruckt. Die übrigen werden als sog. „Vorstufe" oder als „Reinschrift" für das jeweilige Druckmanuskript ausgeschieden: Im „kritischen Apparat" zu diesen Drucken werden die ,Vorstufen' zwar genannt, aber nicht abgedruckt. Es ist deshalb mit den Mitteln dieser Ausgabe nicht möglich, die „Pflugschar" als eigenständiges Werk zu rekonstruieren und zu interpretieren, wie es im Herbst 1876 von Nietzsche und Gast verstanden wurde. 5 4

§ 3

Zusammenfassung

§ 3.1 Stoff- und Formengeschichte der vierten Unvollendeten Die Vorgeschichte der vierten Unvollendeten führt zurück in die Einleitungswissenschaft und Programmschriften der klassischen Philologie des 18. Jahrhunderts. Nietzsche benutzt und nennt Friedrich August Wolf, Otto Jahn, Friedrich Ritschi. Seine Kritik der Vorgänger enthält das Versprechen, aus neuer Einsicht in die wirklichen Gefahren für das Fach dessen Verteidigung zu verbessern: 55 Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei ζ. B. Jahn („Bedeutung und 52

53 54

55

17 [72] und 17 [105]. Ein Kapitel „die Griechen" ist in der Gliederung des Notizbuchs Ν II 1 (1876): 16 [8] vorgesehen. 17 [105], Zcichen der Unfcrtigkcit auch dieses Manuskriptes sind die Uberschrift „Fortsetzung von Menschliches und Allzumenschliches" (nr.l45ff.) oder das Abbrechen der in die einzelnen Nummern integrierten Überschriften. 5 [125]. Zu Otto Jahn: „Bedeutung und Stellung der Alterthumswissenschaften in Deutschland" (in ders.: Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze, Bonn 1868) vgl. B. Kytzler: „Jahns populäre Aufsätze ,Aus der Alterthumswissenschaft' ", in: W.M. Calder III, H. Cancik, B. Kytzler (Hgg.): Otto Jahn. Hin Geisteswissenschaftler ζwischen Klassizismus und Historismus, 1991, S. 9 6 - 1 0 5 ; B. v. Reibnitz: Otto Jahn bei Friedrich Nietzsche, in: ebd. S. 2 0 4 - 2 3 3 , insbes. S. 216 f. In dem Zitat auf S. 217 ist „schützen" zu lesen.

.Philologie als B e r u f

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Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland"). G a r kein G e f ü h l , was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte.

Die gute Überlieferungslage ermöglicht es, die Traditionspfade v o m Excerpt bis zur Druckfassung, die Textentstehung v o m Stichwort in der Gliederung zum Satz, von der Satzgruppe zum ,Capitel' zu verfolgen. Die verschiedenen Fassungen repräsentieren verschiedene Textstufen, die nicht (nur) zu Vorstufen degradiert oder sekundär fragmentiert werden sollten. Manche Texte sind eine Sackgasse, so die Gersdorff-Fassung, andere, wie die „Pflugschar", ein abgerundetes Werk, auch wenn es später von Nietzsche als „Reinschrift" oder „Vorstufe" für Menschliches, All^umenschliches benutzt wurde. 3 6 Für textlinguistische Fragen besonders fruchtbar ist der Gattungswechsel vom Essay zum Aphorismenbuch. Eine vollständigere Darbietung dieser Materialien, sukzessiv oder synoptisch, ließe sich für diesen Textbestand dadurch rechtfertigen, daß Nietzsche mit dem Gattungswechsel einen Themen- und Positionswechsel vollzogen hat, v o m Radikalreformer innerhalb der philologischen Z u n f t zu einer Ultra-Position, die ihn über die pädagogische Reformbewegung und die philhellenische Tradition hinaustreibt.

§ 3.2 Das Alterthum,

seine Gelehrten und die Erziehung

§ 3.2.1 Radikale Reform und Sprengung des Systems Die damals noch unverbrauchte antike Substanz, aus der Nietzsche seine Reform für Schule und Erzieher begründet, sind Vor-Klassik, das tragische Zeitalter, die vorplatonische Philosophie, die frühe Lyrik und natürlich Homer, alles was nicht römisch und modern ist, also Archaik und Aristokratie. 5 7 Hier sieht Nietzsche Ubereinstimmung: 5 8 16

Zu dieser Fragestellung vgl. allgemein die A u s f ü h r u n g e n von W. G r o d d e c k : „,Vorstufe' und ,Fragment'. Z u r Problematik einer traditionellen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie", in: Hditio, Beihefte Bd. 1: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung, 1991, S. 165 — 175 und speziell zur Textgeschichte von Nietzsches Antichrist·. H. Cancik, H. Cancik-Lindemaier: Philhellenisme et antisemitisme en Allemagne. I.e cas Nietzsche (1990), in: D. Bourel, J. Le Rider (Hgg.): De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et lejudmsme — Les intellectuels juifs et Nietzsche, Paris 1991, S. 21— 46, insbes. S. 31—36 (zur A u s g a b e v o n Colli und Montinari).

57

Einige Belege: 5 [35], 5 [40], 5 [47], 5 [167], 5 [111]. Die konkreten F.igenschaften und „Möglichkeiten des L e b e n s " (6 [48]), die „in der T h a t " nachgeahmt werden sollen, sind: Individualität, Genialität, agonales Verhalten, gesteigertes I.eben, Schönheit, A u f l a d u n g und Katharsis, Verehrung der leichtlebenden Götter, Begrenzung des Historischen, Glaube an gute Rasse und gute E r z i e h u n g , F.ntwicklung des Leibes.

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Hubert Cancik

Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten altern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.

Gleichzeitig aber plant er die Destruktion seiner Zukunftspädagogik. Das Griechenthum sei unwiederbringlich dahin, die alte Cultur sei tot und mit ihr das Christentum; die bisherigen Fundamente der Societät und Politik hätten sich aufgelöst. 5 9 Dieses Argument kann umgekehrt werden: 6 0 Mit dem Verschwinden des Christentums, wie Nietzsche es zu beobachten glaubt, werde auch ein guter Teil des Alterthums unverständlich. Der Druck in dieser Argumentation zeigt sich in der weltgeschichtlichen Verallgemeinerung, in den Metaphern und ihrer Einbindung in verdeckte Selbstzeugnisse: 61 [...] Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden. — Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiss nicht möglich. Es ist in der scheusslichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden [...]

Hier wird eine ultrakonservative Argumentation aufgebaut, die aus jeder Reformpädagogik und jedem Alterthum, auch dem archaischen, hinausführt. Die Philologen selbst sind die Vernichter der alten Cultur: 6 2 So machen sie sich überflüssig; „Untergang" ist ihre Aufgabe. Nietzsche sucht die „Wissenschaft um die Zukunft". Deshalb nicht zu viel Historie: 63 „Lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben". Wer so schreibt, will nicht mehr die Reform von Philologie und Schule. Er ist auf seinem „Weg der Befreiung" bereits zu weit vorangekommen. 6 4

§ 3.2.2 Erziehung und Kunst statt (als) Religion ,Erziehung' bleibt ein zentrales Thema Nietzsches bis in seine letzten Schriften. Bereits in „Wir Philologen" ist es ausgeweitet und verschärft. Es geht um die „Zukunft der Menschheit", die Erzeugung des Genius, die Züchtung des Genies. 65 Die utopische Menschheitspädagogik ist elitär und 5 ' 5 [156], 5 [157], » 5 [15], vgl. 5 [5], 61 5 [148], 62 5 [158]. — Zu der Denkfigur ,Vernichtung — Neuschöpfung' vgl. Ficce homo, „Warum ich ein Schicksal bin", 2 (KSA 6, S. 366): „und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe ^erbrechen". " 5 [157], M 1 [3], 5 [178], 5 [189], 17 [72], 18 [2], 65 5 [22], 5 [70] ff., 5 [180], 5 [182], 5 [185], 5 [191], Zu Nietzsches Selbstdeutung vgl. Bcce homo, „Warum ich so gute Bücher schreibe", „Die Unzeitgemäßen", 3: Die Unzeitgemäße Betrachtung Schopenhauer als Erzieher handle im Grunde von Nietzsche (KSA 6, S. 320).

„ P h i l o l o g i e als B e r u f '

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total, wie auch die griechische Cultur, nach Nietzsche, auf d e m Herrschaftsverhältnis einer kleinen Classe g e g e n 4 — 5mal so viele Unfreie, Barbaren, bloße „ B r o d e r w e r b e r " beruht. Diese „höhere Kaste v o n Nichtthuern, Politikern u s w . " . . . ,,mußte[n] ihre Superiorität an Qualität festhalten — das w a r ihr Zauber über die M a s s e n " . 6 6 Die Z ü c h t u n g von Genies ist also mehr als p ä d a g o g i s c h e r Zeitvertreib; sie ist n o t w e n d i g , u m die Herrschaft der kleinen Classe aufrecht zu erhalten. Aus demographischen und politischen Gründen also mußten die Griechen „das Genie unter den Völkern" w e r d e n . 6 7 Trotz aller Selbstkritik und Ironie — „Ich kenne sie, ich bin selber einer" — verfallt Nietzsche der Überschätzung der eigenen Berufstätigkeit. 6 8 Er kritisiert den „Schulmeister-Dünkel" der Philologen, meint aber: 6 9 „Die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne ihre E r z i e h u n g " , u n d : 7 0 „Es w i r d einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung". Diese Arbeit für die Erziehung des Genius nennt Nietzsche „meine Religion": 7 1 „ E r z i e h u n g ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heißt K u n s t . " - ,Philologie' also nicht als Beruf, sondern als Religion.

§ 3.3 Die Gründe für die N i c h t v o l l e n d u n g Die vierte Unzeitgemäße blieb unvollendet, weil eine nähere und spektakuläre Publikation sich vordrängte: Richard Wagner in Bayreuth. Ein neuer Freund, der Sog neuer Stoffe (Realismus) und die Versuchung einer neuen F o r m (Aphorismus) bewirkten, daß Nietzsche die Arbeit später nicht wieder aufgriff. Intellektuelle, biographische und persönliche Gründe führten zur L ö s u n g aus dem Wagner-Kreis, dem Lehrerstand und der Philologie. Damit w u r d e des T h e m a „Wir P h i l o l o g e n " w e n i g e r w i c h t i g . Gleichzeitig dürften die Radikalität der Reformideen, die immerhin — im Unterschied zu Nietzsches früherer Polemik — den eigenen B r o d e r w e r b unmittelbar betrafen, und die Unsicherheit der Ultra-Position, die als Erkenntis-, Sprach- oder Christentumskritik noch nicht ausgearbeitet war, eine Publikation 1875/76 verhindert haben. Nietzsche glaubte, das griechische Alterthum sei eine „classische Beispiels a m m l u n g für die E r k l ä r u n g unsrer ganzen Cultur und ihrer E n t s t e h u n g " : 7 2 5 [72], 5 [199], 5 [70], 68 5 [142], m 5 [87], 7" 5 [20]. 71 5 [22]. 72 6 [2], statt „ E n t s t e h u n g " bietet K G W irrtümlich: „ E n t w i c k l u n g " ; v g l . 7[7J, Ende. W i c h t i g ist die B e s c h r ä n k u n g auf das „ältere" g r i e c h i s c h e A l t e r t h u m : H e l l e n i s m u s und R ö m e r sind dekorativ, a u f g e k l ä r t , h u m a n i s t i s c h , m o d e r n , also a b z u l e h n e n . 66 67

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„Es ist ein Mittel uns verstehen, unsre Zeit zu richten und dadurch zu überwinden." Diese Überschätzung von Alterthum und classischer Philologie zeigt, wie fest der junge Nietzsche in der deutschen philhellenischen Tradition verwurzelt war.

II. Sprache, Denken und Musik

Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche von

ERNST BEHLER,

Seattle

Einer der faszinierendsten Aspekte in der Beschäftigung mit der Sprachtheorie des frühen Nietzsche besteht in dem progressiven Gang, der dynamischen Bewegung seines Denkens von 1869, der Niederschrift des kurzen Fragments „Vom Ursprung der Sprache" 1 , bis zum Sommer 1873, der Entstehung des Textes Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In dieser kurzen Zeitspanne von nur drei bis vier Jahren durchläuft Nietzsche, was das Thema der menschlichen Sprache anbetrifft, die wichtigsten philosophischen Systeme der neueren deutschen Philosophie: die von Herder, Kant, Schelling, Schopenhauer und Eduard von Hartmann, um nur die wichtigsten beim Namen ihrer Autoren zu nennen. Der Prozeß, der hier zum Ausdruck kommt, hat paradigmatischen Charakter für das moderne Nachdenken über die Sprache und läßt sich am besten als unablässige Selbstkritik der Philosophie, als ein Versuch zur Überwindung der metaphysischen Bindungen der Sprachtheorie bezeichnen. Als Resultat dieses Denkprozesses von ungemein intensiver Selbstkritik ergibt sich die These vom „Menschlich-Allzumenschlichen", mit der diese Selbstüberwindung der Metaphysik auf kompakte Weise zum Ausdruck gebracht werden soll. In den „Vorreden" zu der Schrift gleichen Namens, Menschliches, All^umenschliches, hat Nietzsche deutlich betont, mit welcher Selbstdisziplin dieser Weg von ihm vollzogen wurde und wie schwer er ihm gefallen ist ( K S A 2, S. 13 — 22. 369 — 77). Wendet man sich dem frühen Nietzsche von diesem Gesichtspunkt einer selbstkritischen Entwicklung seines Denkens aus zu, dann tritt das Interesse an der Erforschung von bestimmten Resultaten und feststellbaren Wissensinhalten zurück, selbst wenn es sich dabei um solch prominente Themen handelt wie die Unterscheidung des Dionysischen und Apollinischen, die Bestimmung des Tragischen und des Chors der Tragödie, die Hochzeit von Philologie und Philosophie, die Herausarbeitung der antiken Rhetorik oder den Entwurf einer griechischen Literaturgeschichte. Diese Themen verlieren damit nicht an Bedeutung oder Interesse, aber sie erscheinen von diesem Gesichtspunkt aus als Beispiele, als Ausdrucksformen, in denen sich ein dramatischer Denk1

Dieser Text, früher bereits mehrfach separat publiziert, wurde inzwischen kritisch ediert als Cap. 1 der nachgelassenen Notizen Nietzsches für seine „Vorlesungen über lateinische Grammatik (WS 1869/70)", in: K G W 11 2, S. 1 8 5 - 1 8 8 .

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prozeß größeren Ausmaßes manifestiert, dessen übergreifende Bewegung Nietzsche als Emanzipation, als Selbstbefreiung bezeichnet hat. Das gilt auch für das Thema der Sprache beim frühen Nietzsche. Es soll damit gesagt sein, daß es kaum sinnvoll wäre, aus den verschiedenen Fragmenten und Äußerungen dieser Zeit zur Sprache eine kohärente Sprachtheorie zusammenzusetzen, die man dann als den besonderen Beitrag Nietzsches, etwa als ein eigenes Kapitel, in eine vergleichende Geschichte der Sprachwissenschaft eintragen könnte. Nietzsche hat immer wieder mit bestimmten Ansätzen und Elementen einer Sprachtheorie experimentiert. Er hat traditionelle Modelle zur Erklärung der Sprache wie Instinkt oder Übereinkunft aufgegriffen und wieder fallengelassen. Das Besondere seines sprachtheoretischen Denkens geht aber nicht in solchen besonderen Ansätzen auf, sondern besteht in einer Fundamentalreflexion über die Sprache, einem fortlaufenden Prozeß, in dem die Probleme des Ausdrucks und der Mitteilung auf grundsätzliche Weise in Frage gestellt werden. Wenn man überhaupt von einem Resultat dieser frühen Sprachreflexion sprechen will, dann erhebt sich das bereits erwähnte, aber selbst wieder der Reflexion und Selbstkritik bedürftige Wort vom „Menschlich-Allzumenschlichen", welches in diesem Falle besagt, daß alles Sprache, alles Diskurs sei. 2 Das Thema der Sprache ist mit dem frühen Nietzsche noch dadurch auf besondere Weise verbunden, daß er sich später nie wieder auf derart intensive Weise mit sprachtheoretischen Problemen beschäftigt hat wie in den genannten drei bis vier Jahren von 1869 bis 1873. Nachdem dieses Thema bereits früher von Fritz Mauthner 3 , Karl Schlechta 4 und Josef Simon 5 behandelt worden war, ist die Sprachreflexion des frühen Nietzsche in den letzten Jahren durch Lacoue-Labarthe 6 , Silk und Stern 7 und Claudia Crawford 8 zu einem prominenten Thema der Nietzsche-Forschung im Umkreis der Geburt

Eine weitere wichtige Reflexionsform über die Sprache, auf die hier aber nicht eingegangen wird, richtet sich bei Nietzsche auf das, was die Bedingung der Möglichkeit von Sprache ist, das Prälogische der Sprache, zum Beispiel die Körperlichkeit. 1 Vgl. Fritz Mauthner in einer Rezension der Zeitschrift Wochenschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und sociales Leben 46 (16. August 1890), S. 753 — 755. Siehe dazu Elizabeth Bredeck: „Fritz Mauthners Nachlese zu Nietzsches Sprachkritik", in: Nietzsche-Studien 13 (1984) S. 5 8 7 - 5 9 9 . 4 Vgl. Karl Schlechta: „Nietzsche über den Glauben an die Grammatik", in: Nietzsche-Studien 1 (1972) S. 3 5 3 - 3 5 8 . 5 Vgl. Josef Simon: „Grammatik und Wahrheit", in: Nietzsche-Studien 1 (1972) S. 1—27. '' Vgl. Philippe Lacoue-I^abarthe: „Le detour (Nietzsche et la rhetorique)", in: Poetique 5 (1971) S. 53 — 76; dt. Ubersetzung: „Der U m w e g " , in: Nietzsche aus Frankreich, hg. Werner Hamacher, Berlin 1986, S. 7 5 - 1 1 0 . 7 Vgl. M. S. Silk and J . P. Stern: Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981. 8 Claudia Crawford: The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 19), Berlin 1988. 2

Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche

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der Tragödie erhoben worden. In diesen Arbeiten hat sich ein bestimmtes Schema für den Gang von Nietzsches früher Sprachreflexion ergeben, das sich auf folgende Weise charakterisieren läßt. Die wichtigste sprachtheoretische Schrift aus dieser Zeit ist der Essay Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, der im Sommer 1873, ungefähr ein Jahr nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie entstand. 9 Nach Nietzsches eigener Aussage war er zum Zeitpunkt dieser Schrift „schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin" und „glaubte bereits ,an gar nichts mehr,' wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht" (KSA 2, S. 370). In sprachtheoretischer Hinsicht bringt dieser Text zum Ausdruck, daß die „Conventionen der Sprache" kaum „Erzeugnisse der Erkenntniss", keine kongruenten Bezeichnungen der Dinge, nicht „adäquater Ausdruck aller Realitäten" sind, sondern die „Relationen der Dinge zu den Menschen" bezeichnen, wobei diese „zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe" nehmen (KSA 1, S. 878f). Das in „Illusionen und Traumbilder" eingetauchte Auge des Menschen gleitet nur auf der „Oberfläche der Dinge" herum und muß sich damit begnügen, „Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge" zu spielen (α. α. Ο., 876). Die Natur Schloß den Menschen in ein „stolzes gauklerisches Bewusstsein" ein — und warf den Schlüssel weg (877). Der logischen Begriffsbildung, die auf „Wahrheit" bezogen ist, geht eine künstlerische Metaphernbildung voraus, bei der die abstrakte Wahrheitsfindung irrelevant ist und das Ästhetische im Vordergrund steht, die also von der poetischen Vernunft ausgeht. Wissenschaftlichkeit im Sinne philosophischer Wahrheit kommt nur dadurch zustande, „dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst" (883). Dieser ursprünglich künstlerische und poetische Charakter der menschlichen Sprache zeigt sich für Nietzsche auch darin, daß der „Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen", auf der höchsten Höhe der Wissenschaftlichkeit fortwirkt, indem er sich „im Mythus und überhaupt in der Kunst" ein „neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette" sucht (887). Nietzsche schreibt: „Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das 9

Die metaphysikkritische Seite dieser Schrift habe ich in dem Essay „Selbstkritik der Philosophie in der dekonstruktiven Nietzschelektüre", in: Krisis der Metaphysik. Wolfgang MüllerLauter i^um 65. Geburtstag, hg. Günter Abel und J ö r g Salaquarda, Berlin 1989, S. 283 — 306, behandelt; die sprachtheoretischen Aspekte habe ich in dem Aufsatz „Friedrich Nietzsche et la philosophie du langage du romantisme d'Iena", in: Philosophie 27 (1990) S. 57 — 75 dargestellt.

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Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird" (888). Jedoch handelt es sich hierbei für Nietzsche nicht um eine Eliminierung der Wissenschaft und Philosophie zugunsten der künstlerischen Intuition, sondern um eine Wechselwirkung, ein Alternieren von Metapher und Begriff, Kunst und Wissenschaft. Dies zeigt sich in dem abschließenden Bild von Zeitaltern, „in denen der vernünftige und intuitive Mensch neben einander stehen". Kommt nämlich der intuitive Mensch auch zur Geltung, so vermag sich die Herrschaft der Kunst über das Leben einzustellen und sich „jener Glanz der metaphorischen Anschauungen" über alle Lebensäußerungen zu verbreiten, die das Zeichen eines von der Kunst bestimmten Lebens sind (889). Angesichts des Bruchs, den der Essay Über Wahrheit und Lüge in Nietzsches frühem Denken darstellt, erhebt sich die Frage, wie Nietzsches Sprachtheorie in der unmittelbar vorhergehenden Zeit, in den von der Geburt der Tragödie bestimmten Jahren konzipiert war und wie diese Entwicklung in sprachtheoretischer Hinsicht zu verstehen ist. Im Gegensatz zur anthropomorphen, nicht-repräsentativen, nicht auf die „Wirklichkeit" als Referenz bezogenen Sprachtheorie von Über Wahrheit und Lüge ist Die Geburt der Tragödie von einer metaphysischen, absoluten Repräsentationstheorie bestimmt, insofern es dem Menschen sogar möglich ist, den letzten Grund der Dinge, das „UrEine", auf direkte Weise zum Ausdruck zu bringen 1 0 . Dies vermag er freilich nicht durch die Sprache, sondern nur durch die Kunst, genauer die Musik. Im sechzehnten Kapitel von Die Geburt der Tragödie zitiert Nietzsche die berühmte Stelle von Schopenhauer, nach der die Musik sich dadurch von allen anderen Künsten unterscheidet, „daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt" 11 . Hier erfolgt bei Nietzsche eine Mythisierung der Musik als einer Art Ursprache, noch vor der Poesie. Genauer gesprochen ist für den frühen Nietzsche, und zwar bereits in den Notizen über den Ursprung der Sprache (1869 — 70), die Sprache „als Erzeugniß des Instinktes zu betrachten, wie bei den Bienen — den Ameisenhaufen usw." (KGW 11 2, S. 186). Instinkt ist hier nicht als ein von außen kommender Mechanismus, sondern als „eigenste Leistung eines Individuums Zu den Möglichkeiten einer hiervon abweichenden Lektüre der Geburt der Tragödie vgl. die Ausführungen von Diana Behler: „Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der Tragödie", in diesem Band, S. 131 ff., bes. Abschnitt 3. " Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, I § 5 2 , in: Werke in %ehn Bänden, Zürich 1977, Bd. 1, S. 330; mit Abweichungen zitiert in G T 16 (KSA 1, S. 104).

111

Die Sprachtheorie des f r ü h e n Nietzsche

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oder einer Masse, dem Charakter entspringend" zu denken {ebd.). Um diese Art der Sprachentwicklung näher zu bestimmen, verweist Nietzsche auf die „unendliche Zweckmäßigkeit" oder Teleologie in Kants Kritik der Urteilskraft, die eine ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck' ist, oder er bezieht sich auf das bewußtlose Schaffen bei Schelling, das die bewußte Tätigkeit „noch bei weitem übertrifft" (α. α. Ο., S. 188), und weist damit alle anderen Herleitungen der Sprache durch „Ubereinkunft", durch göttliche Eingebung, durch Gefühl oder „reflexive Geistestätigkeit" ab (vgl. S. 186 — 188). Die teleologische Konzeption, „daß etwas zweckmäßig sei ohne ein Bewußtsein" (S. 188), wurde von Kant aber nicht allein auf die Natur, sondern ebenfalls auf die Kunst bezogen. Auf entsprechende Weise sieht Nietzsche die Musik als eine Kunst, „in der das Walten des Instinktes übergewaltig ist" (III 2[14]; KSA 7, S. 49), oder auch als eine Sprache, „die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist" (2[10]; S. 47), wogegen die Sprache (weniger die Wortsprache, mehr die Schriftsprache: 2[10], S. 48) durch eine „unendlich mangelhafte Symbolik" gekennzeichnet ist (3[15]; S. 63). Die Sprache repräsentiert „das Apollinische" (7[94J; S. 159), wogegen die Musik als „das Dionysische" eine Kunst darstellt, „die nicht .Schein des Scheins', sondern ,Schein des Seins' ist" (7[126]; S. 184). Nietzsche weist immer wieder darauf hin, „welch ein unnatürliches, ja unmögliches Unterfangen es sein muß, Musik zu einem Gedichte zu machen d. h. ein Gedicht durch Musik illustrieren zu wollen, wohl gar mit der ausgesprochenen Absicht, die begrifflichen Vorstellungen des Gedichtes durch die Musik zu symbolisieren und damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen" (7[127]; S. 185). Die „ Visionen des Ureinen" als „adäquate Spiegelungen des Seins" können nur vom „Genius" als der höchsten „Verzückungsspitze der Welt" zum Ausdruck gebracht werden (7[115]; S. 199f). Dieser auf dem Instinkt oder einer unbewußten Teleologie beruhende Ursprung der Sprache ist für den frühen Nietzsche bis in Die Geburt der Tragödie hinein charakteristisch gewesen. Er kommt, wie schon gesagt wurde und nun noch näher ausgeführt werden soll, besonders deutlich in seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik aus dem Winter-Semester 1869—1870 zum Ausdruck, die zeigen, wie gründlich er sich mit dem Thema der Sprache beschäftigt hat und daß die Hauptvertreter der modernen Sprachtheorie ihm gut bekannt waren. Was bei dieser Problematik am leichtesten zu bestimmen ist, besteht für Nietzsche darin, „wie der Ursprung der Sprache nicht zu denken ist." Sie ist „weder das bewußte Werk einzelner noch einer Mehrheit", da nämlich jedes bewußte Denken erst mit Hilfe der Sprache möglich ist (KGW II 2, S. 185). Sprache und Bewußtsein sind koexistent, eine im Bewußtsein bestehende sprachfreie Zone gibt es nicht 12 . Die Annahme einer 12

An dieser Position hat Nietzsche auch in späteren Jahren festgehalten: Vgl. F W 354: „Vom

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tierischen Lautsprache als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sprache hilft auch nicht, da in dem „wunderbaren tiefsinnigen Organismus" der Sprache bereits die „tiefsten philosoph. Erkenntnisse" vorbereitet liegen. Kant sage hier mit Recht: „ein großer Theil, viell. der größte Theil von dem Geschäfte der Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die er schon in sich vorfindet" (ebd.). Diese Rätselhaftigkeit der Sprache und die Tatsache, „daß die Entstehung aus der Natur der Dinge nicht zu erweisen sei" (α. α. Ο., 187), zeigt sich für Nietzsche in der Geschichte der Sprachtheorien „bei Indern Griechen bis auf die neueste Zeit" (185). Schon bei den Griechen stand man vor der Frage, „ob die Sprache θέσει oder φύσει sei: also ob durch willkürliche Gestaltung, durch Vertrag u. Verabredung oder ob der Lautkörper durch den begrifflichen Inhalt bedingt sei" (186). Diese alten Positionen werden in der Neuzeit wiederholt, wenn der Mathematiker Maupertuis zum Beispiel die Theorie einer „Übereinkunft als Grundlage" vertritt {ebd.). Eine andere Frage, die sich in diesem Zusammenhang erhebt, besteht darin, „ob die Sprache durch bloße menschliche Geisteskraft habe entstehn können oder ob sie eine unmittelbare Gabe Gottes sei" {ebd.). Das alte Testament ist die einzige Religionsurkunde, die eine Auskunft über den Ursprung der Sprache gibt. Hier reden Gott und Mensch dieselbe Sprache, „nicht wie bei den Griechen". Vielmehr geben Gott und Mensch den Dingen Namen, „die das Verhältniß des Dinges zu den Menschen ausdrücken". Die Namengebung der Tiere usw. im alten Testament wie auch die „willkürliche Namengebung" in Piatos Kratylos setzt aber „eine Sprache vor der Sprache voraus". Und über diesen „Ursprung der Sprache" schweigen die Völker: „sie können sich Welt Götter u. Menschen nicht ohne dieselbe denken" (186f). An dieser Frage scheitern auch die modernen Sprachtheorien. Für Rousseau war es „unmöglich, daß Sprachen durch rein menschliche Mittel entstehn könnten", wogegen De Brosses an der „reinmenschl. Entstehung" festhält. Monboddo nimmt eine „reflexive Geistestätigkeit" an und verzichtet auf eine „primitive Sprache". Einundzwanzig Jahre schrieb er an seiner Theorie, wobei die Schwierigkeiten immer größer wurden. Die Berliner Akademie der Wissenschaften stellte ungefähr hundert Jahre vor Nietzsches Vorlesungen eine Preisfrage über den Ursprung der Sprache, bei der Herder den Preis erhielt. Von ihm stammt die wichtige Erkenntnis, daß der Mensch „zur Sprache geboren" sei, die sich in der eindrucksvollen Feststellung bekundet: „So ist die Genesis der Sprache ein so inneres Drängniß, wie der Drang des Embryo's , G e n i u s der G a t t u n g ' " ; K S A 3, S. 590 — 93, w o m i t sich freilich die A n n a h m e verbindet, d a ß das B e w u ß t s e i n nicht in sich selbst g r ü n d e t , sondern t a u s e n d f a c h b e d i n g t ist, z. B. d u r c h die K ö r p e r l i c h k e i t ; v g l . o., A n m . 2.

Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche

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zur Geburt beim Moment der Reife." Aber auch er hält wie seine Vorgänger an einer Entstehung der Sprache „aus sich äußernden Lauten" fest (187f) 13 . Erst mit Kant bahnte sich mit dem Gedanken der „Teleologie in der Natur" aus der Kritik der Urteilskraft die richtige Einsicht an. Kant hob die „wunderbare Antinomie" hervor, „daß etwas zweckmäßig sei ohne ein Bewußtsein" (188). Nietzsche kommentiert: „Dies das Wesen des Instinktes". Um diesen Gedanken zu bekräftigen, zitiert er Schelling, der in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie geschrieben hatte: Da sich ohne Sprache nicht nur kein philosophisches, sondern überhaupt kein menschliches Bewußtsein denken läßt, so konnte der Grund der Sprache nicht mit Bewußtsein gelegt werden; und dennoch, je tiefer wir in sie eindringen, desto bestimmter entdeckt sich, daß ihre Tiefe die des bewußtvollsten Erzeugnisses noch bei weitem übertrifft. Es ist mit der Sprache, wie mit den organischen Wesen; wir glauben diese blindlings entstehen zu sehen und können die unergründliche Absichtlichkeit ihrer Bildung bis ins Einzelnste nicht in Abrede ziehen, (ebd.)14

Wie hier zum Ausdruck kommt, geht Nietzsche in seiner frühen Beschäftigung mit der Sprachtheorie problematisch vor, indem er die Unauflösbarkeit des Problems in den früheren Theorien sowie deren gegenseitige Widersprüchlichkeit aufzuweisen sucht. Bei dieser skeptischen Position bleibt er jedoch nicht stehen, sondern entwickelt von ihr aus seine eigene Theorie des Ursprungs der Sprache aus der unbestimmten Zweckmäßigkeit des Instinkts. Er schreibt: Es bleibt also nur übrig, die Sprache als Erzeugnis des Instinktes zu betrachten, wie bei den Bienen — den Ameisenhaufen usw. Instinkt aber ist nicht Resultat bewußter Überlegung, nicht bloße Folge der körperlichen Organisation, nicht Resultat eines Mechanismus, der in das Gehirn gelegt ist, nicht Wirkung eines dem Geiste von außen kommenden, seinem Wesen fremden Mechanismus, sondern eigenste Leistung des Individuums oder einer Masse, dem Charakter entspringend. Der Instinkt ist sogar eins mit dem innersten Kern eines Wesens. Dies ist das eigentliche Problem der Philosophie, die unendliche Zweckmäßigkeit der Organismen und die Bewußtlosigkeit bei ihrem Entstehn. (186)

Die emphatischen Äußerungen aus der Geburt der Tragödie über die Musik als eine Sprache noch vor der Sprache und deren Befähigung, den letzten Grund des Seins, das „Ur-Eine" direkt erfassen und zum Ausdruck bringen zu können, gehen dann direkt aus dieser Instinkttheorie hervor. " Vgl. die „Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Zweiter Teil", in: Johann Gottfried Herder. Frühe Schriften 1764-1772, hg. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1985, S. 771. 14 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke, hg. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart 1 8 5 6 - 1 8 6 1 , Bd. 11 (Zweite Abteilung, Bd. 2), 1857, S. 52.

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Gerade an dieser Stelle eines Übergangs vom Sein zum Schein, des Angeschautwerdens des Genius vom Ureinen, der Selbstbefriedigung des Seins im Schein (vgl. III 7[157]; KSA 7, S. 200), d. h. des Übergangs in die Repräsentation und damit in Sprache, scheint sich aber die frühe Theorie Nietzsches aufzulösen und jene nicht-repräsentative, rhetorische Konzeption von Kunst und Sprache in den Vordergrund zu treten, die mit Über Wahrheit und Lüge zuerst manifest wird. Zahlreiche Fragmente aus dem Nachlaß (III 8[72]: KSA 7, S. 249f; 9[72], S. 301; 9[137], S. 325; 10[1], S. 3 3 3 - 4 9 ) zeigen diese Entwicklung. In einem Fragment vom Frühjahr 1871 („Über das Verhältnis von Sprache und Musik": 12[1], S. 359 — 69) kommt die Kritik an der naturhaften, instinktiven Sprachtheorie der Frühzeit, noch vor Über Wahrheit und Läge und aus den Prinzipien der Geburt der Tragödie selbst entwickelt, am deutlichsten zum Ausdruck. Darauf soll nun noch näher eingegangen werden. Für Lacoue-Labarthe, aber auch für Silk und Stern, besteht in der Musiktheorie des frühen Nietzsche, besonders in seiner Herausarbeitung der absoluten Musik, der Gipfel seiner frühen Sprachtheorie, seine absolute Sprachtheorie. Sprachtheorie und Ästhetik rücken damit bei Nietzsche in einen unlösbaren Zusammenhang. In der Kritik der gewöhnlichen Sprache, der Begriffssprache, vor allem aber der Schriftlichkeit, hat Nietzsche sich nicht scharf genug ausdrücken können und selbst die diesbezüglichen Satiren der Romantiker noch überboten. In seiner Kritik der Sprache zeichnet sich aber eine bestimmte Hierarchie ab. Die „objektive Schriftsprache" ist tot, die „Wortsprache" dagegen ist tönend, hat Intervalle, Rhythmen, Tempi, die mit ihrer „Stärke und Betonung" alle für den dargestellten Gefühlsinhalt „symbolisch" sind. Aber die „größte Masse des Gefühls" kann sich nicht in Worten äußern, denn das Wort „deutet eben nur hin", wie Nietzsche sagt: „es ist die Oberfläche der bewegten See, während sie in der Tiefe stürmt". Hier beginnt das Reich der Musik als Sphäre absoluten Ausdrucks. Die Dichtung, vornehmlich die Lyrik, ist aber „häufig auf einem Wege zur Musik", insbesondere dann, wie Nietzsche sagt, wenn sie „die allerzartesten Begriffe aufsucht, in deren Bereich das Grobmaterielle des Begriffs fast entschwindet" (2[10]; KSA 7, S. 48). Diese Annahme einer absoluten Sprache bei Nietzsche, einer Sprache noch vor der Sprache, verbindet sich bei Lacoue-Labarthe mit der These, daß dieses ganze metaphysische Gebilde zusammenbrach, als Nietzsche Ende 1872 seine Vorarbeiten für die Rhetorik-Vorlesungen aufnahm und sich insbesondere mit den Büchern von Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, und Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, zu beschäftigen begann. Nun machte er die Entdeckung, daß es vor der Sprache als Kunst (Rhetorik) keine Sprache der Natur (Musik) geben kann, daß Sprache ihrer

Die Sprachtheorie des f r ü h e n N i e t z s c h e

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Natur nach Kunst, nämlich Rhetorik ist. Lacoue-Labarthe spricht von einer durch die Rhetorik ausgelösten „Erschütterung" bei Nietzsche und sagt: Der Grund dafür ist sehr einfach: er liegt darin, daß die Rhetorik v o m A u g e n b l i c k ihres Erscheinens an bestrebt ist, die M u s i k zu v e r d r ä n g e n und ihren Platz einzunehmen. Sie zerstört, z u m i n d e s t teilweise, w a s an der Sprache nicht eigentlich sprachlich w a r und deshalb deren , R e t t u n g ' erlaubt hatte: ihre u r s p r ü n g l i c h musikalische N a t u r und ihr tönendes Wesen, das also, w a s beim Sprechen und in der B e t o n u n g die u r s p r ü n g l i c h e Stärke bewahrt und A u s d r u c k verleiht, (a. a. O., dt. Übers., 93)

Mit der Erkenntnis, daß alles Rhetorik ist, selbst die M u s i k , und das Höchste, was die Griechen als exemplarische Menschen besaßen, nicht die Philosophie und die Poesie, sondern die Rhetorik war, kam nach LacoueLabarthe beim frühen Nietzsche, eine „unterirdische und k a u m sichtbare B e w e g u n g " in G a n g , durch die das „Werk", d. h. die M e t a p h y s i k des jungen Nietzsche, „zu zerbrechen beginnt oder, genauer, l a n g s a m dem eigentlichen Bereich des Werks entgleitet, um in dem sich zu verlieren, was gleichwohl nicht das absolut Andere des Werkes ist, sondern dessen hartnäckiges Alterieren, sein unablässiges Erschöpfen" — seine „Hnt-Werkung", sein „desoeuvremerit" [μ. α. Ο., dt., 82). Mit dieser erdrutschartigen B e w e g u n g verbinden sich eine ganze Reihe von Ereignissen, z u m Beispiel der Bruch mit der Philologie, der Bruch mit Wagner, vor allem aber die U m b i l d u n g der frühen Konzeption des S y m b o l s von ihrem Goetheanisch-Schellingianischen Verständnis zu einer mehr dem europäischen S y m b o l i s m u s entsprechenden Version von metonymischen Q u e r v e r w e i s u n g e n (vgl. a. a. O., dt., 83). Man könnte hinzufügen: mit dieser durch die Rhetorik eingeleiteten B e w e g u n g im Denken des frühen Nietzsche verbindet sich auch eine Verschiebung des klassisch-idealistischen Begriffs der Natur in den der Kunst und ein damit zusammenhängendes Neuverständnis der Kunst nicht mehr in A n a l o g i e zur Natur, sondern nur noch als Kunst, als l'art pour l'art, jedenfalls der Intention nach. Es ist zweifellos die Leistung Lacoue-Labarthes, diesen entscheidenden Einschnitt, diesen Bruch im Denken des frühen Nietzsche aus dessen Beschäftigung mit der Rhetorik herausgearbeitet zu haben, w o m i t sich ein energisches Eintreten für die Bedeutung von Nietzsches w e n i g beachteten Basler Rhetorik-Vorlesungen verband, die durch Lacoue-Labarthe eigentlich erst auf die A g e n d a gesetzt w u r d e n . 1 5 Die von der Nietzsche-Kritik häufiger herangezogene unveröffentlichte Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermo11

Von diesen Texten hat L a c o u e - L a b a r t h e auch, lange b e v o r sie nach d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g in Deutschland w i e d e r zur Kenntnis g e n o m m e n w u r d e n , eine k o m m e n t i e r t e französische A u s g a b e erstellt: Friedrich Nietzsche: Rhetorique et langage. Textes traduits, presentes et annotes par Philippe L a c o u e - L a b a r t h e et J e a n - L u c Nancy, in: Poetique 5 (1971) S. 99 — 142.

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raiischen Sinne, die zum Beispiel bereits das Interesse des frühen Heidegger gefunden hatte, erschien nun, auch in sprachtheoretischer Hinsicht, als das Resultat, das kompakte Resümee von Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und seiner Vorbereitung darauf. Dies ist im einzelnen, freilich noch bei weitem nicht genug, in den jüngsten Forschungen über Nietzsches Lektüre von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst herausgearbeitet worden. 16 LacoueLabarthe war aber der erste, der auf diese Quelle verwiesen hat. Außerdem ist sein Essay über Nietzsche und die Rhetorik und die damit verbundene Metapher vom „desoeuvrement" wohl das gelungenste Stück dekonstruktiver Nietzschelektüre und auch wohl ein Modell guter Dekonstruktion als solcher. Die Arbeiten Paul de Mans zu diesem Thema sind erst nach diesem bahnbrechenden Essay von Lacoue-Labarthe erschienen. 17 Der größte Schönheitsfehler des Textes von Lacoue-Labarthe besteht freilich in seinem Titel: Le detour, Der Umweg, der unwillkürlich den Eindruck erweckt, als wäre der mühselige Weg der Selbstkritik der Philosophie und der Loslösung von der Metaphysik, den der frühe Nietzsche im Durchwandern der Systeme von Herder, Kant, Schelling, Schopenhauer, Eduard von Hartmann usw. unternommen hat, ein bedauerlicher Umweg gewesen und als hätte er sein Ziel, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, viel leichter und schneller erreichen können, wenn er, statt Die Geburt der Tragödie zu schreiben, gleich die Rhetorik und die im übrigen erzromantische (frühromantische) These von der „Sprache als Kunst" studiert hätte. Außerdem ist das Wort detour, Umweg, für einen Dekonstruktivisten vom Range Lacoue-Labarthes eine erstaunliche Formulierung, da sie ja zu verstehen gibt, es gäbe einen richtigen, einen geraden Weg, den Königsweg. Lacoue-Labarthe verbindet damit die These, daß Nietzsches Interesse an der Rhetorik und die sich daraus ergebenden erdrutschartigen Bewegungen in seinem Denken „zufallig" entstanden seien, indem er im Zusammenhang seiner Basler Lehrverpflichtungen über Rhetorik zu lesen begann und sich dafür mit Volkmann und Gerber vorbereitete. Eine scharfe Trennung zwischen dem Nietzsche der Geburt der Tragödie und dem Autor von Über Wahrheit und Lüge tritt damit in Erscheinung, ein Bruch, der so weit geht, daß der eine in sprachtheoretischer, aber auch in allgemein philosophischer Hinsicht verneint, was der andere bejaht, und vice versa.

16

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Vgl. bes. Anthonie Meijers und Martin Stingelin: „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und in ,Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne'", in: Nietzsche-Studien 17 (1988) S. 350 — 68. Paul de Man: „Rhetoric of Tropes (Nietzsche)" und „Genesis and Genealogy (Nietzsche)", in: ders.: Allegories of Reading, New Haven/London 1976.

Die S p r a c h t h e o r i e des f r ü h e n Nietzsche

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In unserer heutigen Beschäftigung mit Nietzsche, w i e sie d u r c h die ColliMontinari Edition möglich g e w o r d e n ist, die auch den Nachlaß des frühen Nietzsche neu erschlossen hat, k o m m t es uns jedoch darauf an, diesen Bruch, ja Zusammenbruch des frühen Systems aus seiner eigenen S t r u k t u r heraus aufzuweisen, das desoeuvrement nicht erst von außen veranlaßt, durch die Rhetorik bewirkt, zufällig beginnen zu lassen, sondern bereits im eigenen Werk ins Spiel zu bringen, mit anderen Worten: die D e k o n s t r u k t i o n noch tiefer anzusetzen. 1 8 Die entscheidende Stelle, auf die es dabei a n k o m m t , ist der Ü b e r g a n g v o m Sein z u m Schein, die Selbstbefriedigung des Ur-Einen im Schein, das Anschauen des Genius durch das Ur-Eine und sein Angeschautwerden durch es, d. h. der U b e r g a n g des Grundes der Welt und des Wesens der Dinge, des Seins der Seienden — z w a r nicht in Sprache, w o h l aber in Repräsentation, in Kunst, in M u s i k . Gerade an dieser Stelle scheint Nietzsches frühe Metaphysik zu scheitern und die ganze A n n a h m e eines Z e n t r u m s des Seins und der A u s d r ü c k b a r k e i t dieses Seins durch Kunst, d. h. seine gesamte Kunstmetaphysik mit ihr. An dieser Stelle eines U b e r g a n g s in Repräsentation und damit in Sprache scheint sich die frühe Theorie Nietzsches aufzulösen und jene nicht-repräsentative, rhetorische Konzeption von Kunst und Sprache in den Vordergrund zu treten, die dann mit Uber Wahrheit und Lüge voll ausgesprochen wird. Zahlreiche Fragmente aus dem Nachlaß, die sämtlich noch vor seinem Studium der Rhetorik liegen, zeigen diese E n t w i c k l u n g (vgl. o., S. 106). Freilich kann diese E n t w i c k l u n g nur durch minutiöse Interpretationen aufgewiesen w e r d e n . 1 9 Der Kürze halber soll hier nur auf das bereits genannte sehr lange Fragment v o m Frühjahr 1871, „Über das Verhältnis von Sprache und M u s i k " , e i n g e g a n g e n werden, in d e m Nietzsches Kritik an der naturhaften, instinktiven, auf Kunst und M u s i k bezogenen Sprachtheorie am deutlichsten zum A u s d r u c k k o m m t ( 1 2 [ l j ; K S A 7, S. 3 5 9 - 6 9 ) . Die Schwierigkeit, vor die sich Nietzsche mit seiner metaphysischen Kunsttheorie gestellt sieht, läßt sich mit dem zentralen Problem des Neuplatonismus veranschaulichen, das darin besteht, den Ü b e r g a n g von der Feinheit ( ό ν τ ω ς öv) in die Vielheit und die Welt der Erscheinungen zu erklären. Im Neuplatonismus w i e bei Nietzsche werden zur E r k l ä r u n g dieses Ü b e r g a n g e s Zwischenstufen eingeschoben. Im neuplatonischen System erwächst aus der absoluten Selbstkonzentration des Einen auf sich selbst der Nous, aus diesem geht die Seele hervor und so entsteht in einem Prozeß der Emanation die vielfaltige Welt bis hinab zu den materiellen Dingen. Mit der Konzeption des

Dies w i r d auf bestimmte Weise in den gerade g e n a n n t e n F.ssays v o n Paul de M a n bereits versucht. ''' Diese w e r d e n zu einem g r o ß e n Teil von Claudia C r a w f o r d , α. α. Ο., d u r c h g e f ü h r t .

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v o m Ur-Einen angeschauten Genius und dem Übergang von ihm in die Welt des Scheins zeigt sich bei Nietzsche eine analoge Konzeption von Übergängen und Zwischenstufen, die er selbst am deutlichsten in der Geburt der Tragödie mit seiner Interpretation von Raffaels „Transfiguration" illustriert hat ( G T 4; KSA 1, S. 39). Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß es sich im neuplatonischen Denken um die Darstellung eines ontologischen Prozesses handelt, wogegen bei Nietzsche diese Übergangskonzeption oder Transformationstheorie transzendentalphilosophisch gedacht ist, genauer gesprochen eine kunstphilosophische, kunstmetaphysische Richtung nimmt. Aber wie nach Schelling und Schopenhauer besitzt auch nach Nietzsche die Kunst die Fähigkeit, das Absolute auszusagen, und ist damit Sprache im eminentesten Sinne. Es sei hier nur kurz auf Schelling verwiesen, der im System des transzendentalen Idealismus sagt: Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, w o in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der N a t u r und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im D e n k e n , ewig sich fliehen m u ß . (Schelling, α. α. Ο., 1, 3, S. 628)

In der Geburt der Tragödie treten die Schwierigkeiten, den Übergang vom Ur-Einen in die Sphäre der Repräsentation, Bezeichnung und Kunst zu erklären, nicht in Erscheinung, weil sie schriftstellerisch, rhetorisch überspielt sind, bzw. mit Schopenhauerzitaten verdeckt werden. In den unveröffentlichten Fragmenten dagegen zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß Nietzsche sich dieser Schwierigkeiten völlig bewußt gewesen ist und in unermüdlicher selbstkritischer Arbeit die versuchten Lösungen schließlich als metaphysische Konstruktionen erkannte, die er dann konsequent zugunsten der Einsicht fallen ließ, daß alles Sprache ist und es darüber hinaus keine privilegierte Sprache gibt, die Z u g a n g zum Sein als solchem hat. In dem genannten Fragment kommt dies noch besonders in der Argumentation zum Ausdruck, daß die Musik einerseits ursprünglicher, natürlicher Ausdruck des Willens, also eine Art Natursprache sein soll, dann aber nur die höchsten kunstvollsten, artistischsten, durch lange Ü b u n g erreichten Ausdrucksformen der Musik vor den kritischen Maßstäben Nietzsches Bestand haben. Diesen Übergang von der Sprache des Instinkts und der Natur in die Konzeption der Sprache als Kunst hatte Nietzsche also bereits lange vor seiner Lektüre von Gerber vollzogen. In seinen späteren rückblickenden Äußerungen darüber hat Nietzsche diesen gedanklichen Weg seiner Frühzeit als Prozeß der Selbstbefreiung, der Emanzipation beschrieben. Wenn man fragt, w o v o n Nietzsche sich zu befreien suchte, gibt er gewöhnlich die Antwort: von der Romantik, wobei wir

Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche

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selbstverständlich die Bildungswelt der deutschen Klassik und die Philosophie des deutschen Idealismus mitverstehen. In der Tat vollzieht sich in seinen Frühschriften die Begründung einer neuen F o r m der Modernität, die diese Welten hinter sich gelassen hat. Paradoxerweise rückte Nietzsche aber mit dieser Uberwindung der Romantik der eigentlichen Frühromantik nicht nur näher, sondern aktualisierte auch viele ihrer Themen aus einer neuen historischen Situation heraus, nicht zuletzt das Thema der „Sprache als K u n s t " . Doch dies ist bereits eine andere Geschichte.

Natur-Sprache Herder — Humboldt von

— Nietzsche

TILMAN BORSCHE,

Hildesheim

Die folgenden Ausführungen haben den Sprachbegriff des jungen Nietzsche zum Gegenstand, wie er sich vor allem in der viel diskutierten frühen Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [WL] artikuliert. Sie fragen nach dem historischen, dem polemischen und dem rhetorischen Sinn dieses Sprachbegriffs sowie nach seiner Bedeutung für ein angemessenes Verständnis von Nietzsches Philosophieren. Dabei möchte ich die Aufmerksamkeit einerseits — in systematischer Perspektive — auf das Verhältnis von Sprache und Natur richten, weil sich in ihm, wenn ich recht sehe, die charakteristische Wende der Nietzscheschen gegenüber früheren Sprachreflexionen vollzieht. Andererseits möchte ich — in historischer Perspektive — die Frage nach dem Verhältnis Nietzsches zu Herder und Humboldt stellen, weil bei diesen beiden Autoren deutliche und bislang wenig beachtete Anknüpfungspunkte für Nietzsches Sprachdenken zu liegen scheinen. Ich beginne mit einer historischen Einführung in das Problem (I), das, wie üblich in Fragen der Sprache, seine Wurzeln im antiken Denken hat, um deutlich zu machen, inwiefern man die sprachphilosophischen Positionen Herders, Humboldts und Nietzsches aus ihrer gemeinsamen Opposition gegen traditionell vorherrschende Sprachansichten verstehen kann. Sodann (II) folgt ein Bericht über den Stand der textphilologischen Erforschung möglicher „Einflüsse" Herders bzw. Humboldts auf Nietzsche; insbesondere wird die viel diskutierte These eines indirekten Einflusses Humboldts über Gerber auf Nietzsche kritisch untersucht. Da diese Untersuchung jedoch wenig positive Ergebnisse bringt, soll im Hauptteil des Textes die historische These des ersten Abschnitts systematisch präzisiert werden. Zu diesem Zweck werden, stets im Blick auf eine Reformulierung derjenigen Grundbegriffe, die das Verhältnis von Natur und Sprache betreffen, die Positionen Herders (III) und Humboldts (IV) skizziert, in der Annahme, daß diese Positionen auch für Nietzsches Ansatz fruchtbar geworden sind. Vor ihrem Hintergrund präsentieren und diskutieren die folgenden Abschnitte (V und VI) die kritischen Reflexionen Nietzsches über die Natur der Sprache, deren Erträge abschließend (VII) zu würdigen sind. Auf diesem Weg wird eine relecture bekannter Nietzsche-Texte vorgeschlagen, in der das Spezifische und das Charakteristi-

Natur-Sprache

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sehe der Nietzscheschen Position — in Anlehnung an, aber auch im Unterschied zu den Ansätzen Herders und Humboldts — sowie die Bedeutung des Sprachdenkens im Rahmen der Philosophie Nietzsches erkennbar werden sollten.

I Drei Abgrenzungen sollen einleitend deutlich machen, w o r u m es nicht geht: Erstens geht es nicht um „Natursprache", weder um eine Sprache der Natur über den Bereich der menschlichen Sprache hinaus (die „Sprache" der Tiere, der Pflanzen, der Dinge) noch um den Teil der menschlichen Sprache, der seit den Stoikern ebenfalls im Rahmen der natürlichen Zeichen abgehandelt wird (menschliche Naturlaute sowie das, was man später onomatopoietische Bildungen innerhalb einer Sprache genannt hat). Es geht ferner zweitens nicht um die seit dem platonischen Kratylos immer wieder diskutierte These eines „natürlichen" Ursprungs bzw. einer „natürlichen" Geltung der Namen (oder Wörter) für die Dinge (oder Sachen) im Gegensatz zur These eines arbiträren oder konventionellen Verständnisses ihrer Bedeutung; obgleich die Entscheidung dieser Alternative zugunsten der zweiten These den Hauptstrom der Geschichte der Sprachtheorie bis weit in die Neuzeit hinein prägte. Die begrifflichen Unterscheidungen, die den beiden genannten Problemstellungen zugrundeliegen, werden von den Autoren, die hier zu diskutieren sind, zwar nicht gelöst, aber sie werden so unterlaufen, daß sich die alten Fragen nicht mehr in derselben Weise stellen. In Frage steht hier stattdessen ein Begriff von menschlicher Sprache, der diese insgesamt als zur N a t u r gehörig versteht oder der, was Sprache sei, aus dem ableitet, was als N a t u r gilt. Die Frage nach einem Naturbegriff von Sprache wendet sich schließlich drittens und vor allem gegen die seit der Stoa kanonisierte Verteilung der Sprachbetrachtung auf zwei Gebiete, die sich auf eine Spaltung der Wörter in Laut und Bedeutung gründet. Bekanntlich wird die Philosophie, d. h. alles Wissen über das, was ist, von den Stoikern in drei Teile geteilt: Logik, Physik und Ethik. Unter diesem einteilenden Blick auf alles Seiende fällt das, was wir im engeren Sinn als stoische Sprachlehre kennen (auch und insbesondere die Lehre von den fünf Redeteilen: (μέρη λόγου/partes orationis), unter dem Titel „Von der Stimme" (ττερι της φωνής) in die Physik; denn die Stimme und ihre Elemente, die Laute (σημαίνοντα), sind sinnlich Gegebenes. Spätestens seit Augustin wird diese Sprachlehre in die allgemeine Lehre von den

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Tilman Borsche

Zeichen integriert; das Zeichen nämlich wird definiert als etwas, das sinnlich gegeben ist und zugleich auf etwas anderes verweist 1 . — Dagegen wird das, was durch den Laut oder die Stimme (durch Sprach-Zeichen also) bezeichnet wird, unter dem Namen der Bedeutung (λεκτόν/σημαινόμενον) in der Logik, näher in der Dialektik, abgehandelt; denn es ist nicht sinnlich gegeben, unkörperlich und unveränderlich. Diese merkwürdige und folgenreiche Spaltung liegt auch der stoischen Unterscheidung zwischen Denken und Sprechen als innerer und geäußerter Rede (λόγος ένδιάθετος — λόγος προφορικός) zugrunde, die dann bei Augustin in der Lehre vom Vorrang des inneren Wortes (verbum mentis) gegenüber dem gesprochenen Wort theologisch sanktioniert wird. Danach ist das Wort nicht mehr, wie bei Aristoteles, ein Laut, insofern er etwas bedeutet (φωνή σημαντική), sondern ursprünglich und substanziell eine Bedeutung (σημαινόμενον als dicibile), die akzidentell zum Zweck der Mitteilung lautliche Gestalt (σημαίνον als vox verbi) annehmen kann. Die beiden zuerst genannten Bestimmungen von Natur in der Sprache, die Lehre von den Naturlauten und die These vom natürlichen Ursprung und von der natürlichen Bedeutung der Wörter, werden zwar weiterhin diskutiert, sind aber für die Sprachphilosophie der Neuzeit nur noch von marginaler Bedeutung. Die dritte Bestimmmung hingegen, nach welcher die sinnlichen Sprachzeichen als arbiträre, folglich veränderliche und bedeutungslose Außenseite der Wörter aufzufassen sind, kurz die wertende Spaltung des Wortes in Laut und Bedeutung, bleibt bis in die Neuzeit, vielfach sogar bis in die Gegenwart hinein sowohl für die philosophische als auch für die wissenschaftliche Sprachreflexion maßgebend. Als Kritik gegenüber diesem Begriff von Sprache formiert sich im 18. Jh. eine neue Sicht der Dinge, deren Bedeutung gerade vor dem Hintergrund der auch für uns noch fast übermächtig selbstverständlichen stoisch-christlichen Lehre von der Zeichennatur der Sprache deutlich werden kann. Die neue Sichtweise artikuliert sich in dem Versuch, die Sprache insgesamt — Laut und Bedeutung — aus der Natur abzuleiten, stoisch betrachtet: die Dialektik (wie übrigens auch die Ethik) auf Physik zurückzuführen. Die in der Neuzeit zunächst mechanistisch interpretierte Physik erweist sich jedoch bald als inadäquat, insbesondere gegenüber den Phänomenen des Lebens; erst recht aber gegenüber denen der Sprache. Condillac, der den Versuch, die Sprache von ihrem natürlichen Ursprung her zu erklären, wohl am wirkungsvollsten entwickelt, verwickelt sich dabei in Widersprüche, die die Antinomien der mechanistischen Vernunft an den Tag bringen und damit schließlich 1

Vgl. ζ. B. Augustin, De dialectica, cap. V, ed. Jan Pinborg, transl. B. Darreil Jackson, Dordrecht 1975, 86: „ S i g n u m est quod se ipsum sensui et praeter se aliquid animo ostendit."

Natur-Sprache

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die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1769 provozieren 2 . Bekanntlich wird Herder der Preis zugesprochen. Zurecht. Denn es gelingt ihm, den gordischen Knoten der Preisfrage zu durchschlagen, indem er die mechanistische Einengung des Kausalitätsbegriffs aufgibt, ohne die Frage nach den Bedeutungen unserer Wörter der Naturforschung wieder zu entziehen. Damit eröffnet er einen Horizont, in dem die Frage nach einem „natürlichen Ursprung" der „Sprache", auch was die Seite der Begriffe und Bedeutungen betrifft, völlig neu gestellt werden kann. Im Horizont der neuen Frage nach einem nicht mehr mechanistisch, dennoch aber natürlich verstandenen Ursprung der Begriffe, der Bedeutungen, der Sprache überhaupt treffen sich Herder, Humboldt und Nietzsche.

II

Die neue Nietzsche-Philologie, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten im Zusammenhang mit der Kritischen Gesamtausgabe von Colli und Montinari entwickelte, hat das seinerzeit weit verbreitete Bild Nietzsches als des ursprünglichen Philosophen, dessen Denken einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit darstellt, als unhaltbar erwiesen. In minutiöser Kleinarbeit und mit großem Erfolg erforscht sie die Lektüre Nietzsches, um die vielfaltige Verwurzelung seines Denkens in den Traditionen von Philosophie und Wissenschaften nachzuweisen. Im Kontext des vorliegenden Themas mußte sie sich also auch die Frage nach möglichen „Einflüssen" Herders und Humboldts auf Nietzsche stellen. Was hat diese Suche bislang erbracht, was ist von ihr zu erwarten? Gelegentlich verweist Nietzsche auf Herders historischen Sinn3 und seinen pastoralen StilA, wenn er sich auch niemals explizit mit dem Werk dieses

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„En supposant les h o m m e s a b a n d o n n e s ä leurs facultes naturelles, sont-ils en etat d ' i n v e n t e r le l a n g a g e ? F t par q u e l s m o y e n s p a r v i e n d r o n t - i l s d ' e u x m e m e s ä cette i n v e n t i o n ? On d e m a n d e une hypothese q u i e x p l i q u e la chose clairement et q u i satisfait ä toutes les difficultes", so lautete die 1769 v o n der Berliner A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n gestellte Preisfrage. Vgl. VIII 2[188] ( K S A 12, 160): „ [ S c h o p e n h a u e r ] , der v o n allem historischen Instinkte entblößt w a r und in der w u n d e r l i c h s t e n Weise selbst jener starken S c h u l u n g zur Historie, w i e sie die D e u t s c h e n v o n Herder bis Hegel d u r c h g e m a c h t haben, entschlüpft w a r . " Vgl. III 27[68] ( K S A 7, 607): „Lessing scheint g e m ä ß d e m theatralischen L u s t s p i e l d i a l o g . Herder pastoral, G o e t h e Lust zu fabulieren, f r a u e n h a f t . " - V I I I 15[71] ( K S A 13, 4 5 2 f . ) : „ . . . die Priester, sofern sie P s y c h o l o g e n sind, haben nie e t w a s interessanter g e f u n d e n , als an den H e i m l i c h k e i t e n ihrer G e g n e r zu schnüffeln... (: K l o p s t o c k u n d H e r d e r g i e n g e n hierin mit , g u t e m Beispiel' v o r a n — Art läßt nicht von A r t . ) "

116

Tilman Borsche

„idealen Dilettanten""' auseinandersetzt. In den Notizen für „Vorlesungen über lateinische G r a m m a t i k " aus dem W S 1869 — 1870 w i r d Herder zu den Autoren gerechnet, denen die „richtige l i r k e n n t n i ß " über das Wesen und den Ursprung der Sprache, die erst „seit Kant g e l ä u f i g " sei, noch fehle 6 . Von einer L e k t ü r e sprachtheoretischer Schriften H u m b o l d t s finde ich außer in denselben frühen Vorlesungsnotizen ebenfalls keine Spuren 7 . Z w a r werden hier „Fr. Schlegel J a k o b Grimm Franz Bopp W i l h e l m v. H u m b o l d [sie!]" als die „Begründer der richtigen A n s c h a u u n g e n " genannt und ihre G r u n d g e d a n k e n knapp skizziert 8 . Doch darf man nicht vergessen, daß es sich dabei um Notizen für den Vorlesungsgebrauch handelt, also nicht um einen eigenen „Text" Nietzsches 9 . Weder wissen wir, welchen Gebrauch er v o n dieser Gedächtnisstütze im Vortrag tatsächlich gemacht, noch, wie er das Vorgetragene mündlich kommentiert hat. Doch soll Humboldts Sprachbegriff, w i e A. Meijers und M . Stingelin annehmen, über Gustav Gerber nachhaltig auf den jungen Nietzsche g e w i r k t haben. Auch diese Annahme erscheint nun aber nicht unproblematisch. Die Frage nach einem möglichen Elinfluß H u m b o l d t s auf Nietzsche über den „ M i t t e l s m a n n " Gerber hat zwei Seiten: einerseits (a) die angeblich „enge

Vgl. III 2[12] (KSA 7, 49): „Lessing als der ideale Gelehrte, Herder der ideale Dilettant." — Die zentrale Stellungnahme Nietzsches findet sich in einem Aphorismus von Menschliches, All%umenschüches II (WS 118), der den Titel „Herder" trägt. Wie üblich für den .Psychologen' Nietzsche werden hier eher die Person und der Schriftsteller Herder als Gedanken seines Werkes thematisiert. '' Vgl. K G W II, 2, 187 f. — Philologische Studien, die weitergehende direkte oder indirekte „Einflüsse" einer Herder-Lektüre bei Nietzsche nachzuweisen versuchten, sind mir nicht bekannt. Der Aphorismus 190 der Morgenröthe über „Die ehemalige deutsche Bildung" nennt „Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel und Schelling". Gemeinsam sei diesen Autoren und ihren Anhängern „das Verlangen nach glänzenden, knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in bezug auf alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten)" mit anderen Worten „ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben" wolle. Was Humboldt betrifft, so dürfte sich diese Bemerkung auf den Briefwechsel mit Schiller beziehen, vermutlich aber kaum auf seine Werke. — Die autobiographischen Aufzeichnungen aus der Schülerzcit, die nur den Namen Humboldt nennen, beziehen sich nicht auf Wilhelm, sondern offensichtlich auf dessen Bruder Alexander („iMich hat jetzt ein ungemeiner Drang nach Erkenntnis, nach universeller Bildung ergriffen; Humboldt hat diese Richtung in mir angeregt": Werke, hg. K. Schlechta, Bd. 3, München 1966, 73). Nietzsche hatte von seiner Tante Rosalie zum 15. Geburtstag die Alexander von Humboldt-Biographie von Hermann Klencke erhalten (vgl. KGB 1, 82). 8 vgl. K G W II, 2, 1 8 9 - 1 9 3 . Über Humboldt findet man hier gewiß treffend, aber doch erläuterungsbedürftig — vermerkt: „Die Hauptidee daß die Sprachverschiedcnheit auf die Charakterverschicdcnhcit der Völker zurückgeht" (α. α. Ο., 192). 9 Vgl. zu diesem grundsätzlichen Problem der Nietzsche-Philologie Glenn Most und Thomas Fries: „ < « > : Die Quellen von Nietzsches Rhetorik- Vorlesung", in diesem Band, S. 17ff., bes. Abschn. II u. III. 1

Natur-Sprache Verwandtschaft

Gerbers

mit v o n

117

Humboldt"10

sowie andererseits

(b)

die

a n g e n o m m e n e Abhängigkeit Nietzsches v o n Gerber. (a) I n d e m g e l e h r t e n u n d ü b e r a u s r e i c h m i t B e l e g e n d u r c h s e t z t e n w e r k G e r b e r s , Die

Sprache

als Kunst,

Haupt-

B r o m b e r g 1 8 7 1 , dessen ersten, 5 9 6 Seiten

starken Band Nietzsche i m S e p t e m b e r 1 8 7 2 aus d e r U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k zu Basel e n t l i e h " , w i r d W i l h e l m zitiert12.

v. H u m b o l d t

Gewährsmännern

zitiert14,

zustimmend

D e n n o c h z e i g t e i n e g e n a u e r e L e k t ü r e , d a ß i h m in d i e s e m T e x t k e i n e

p r i v i l e g i e r t e B e d e u t u n g z u k o m m t . Erstens vielen

h ä u f i g u n d stets

u n d drittens

ist H u m b o l d t n u r e i n e r u n t e r s e h r

zweitens w e r d e n

andere

Autoren

weit

häufiger

t a u c h e n H u m b o l d t - Z i t a t e n u r in Z u s a m m e n h a n g

mit

eher speziellen F r a g e n auf. Ein paar statistische H i n w e i s e m ö g e n diese Eins c h ä t z u n g v e r d e u t l i c h e n u n d b e l e g e n : D a s G e r b e r s c h e W e r k g l i e d e r t s i c h in e i n e n a l l g e m e i n e n u n d e i n e n b e s o n d e r e n Teil. D e r Allgemeine

Theil

(S. 1 — 122),

der über „ D a s System der K ü n s t e " sowie „Von der S p r a c h k u n s t im

Beson-

deren" handelt, enthält n u r einen beiläufigen Hinweis auf H u m b o l d t 1 5 nicht ein einziges Z i t a t 1 6 . G e r a d e anläßlich der g r u n d s ä t z l i c h e n

und

Bestimmung

des Verhältnisses v o n K u n s t und S p r a c h e m ü ß t e m a n anderes e r w a r t e n , w e n n Humboldt denn v o n besonderer Bedeutung für Gerber gewesen wäre.

Er-

wähnt

Theil

wird

er

sodann,

wenn

auch

nur

flüchtig,

im

Besonderen

Anthonie Meijers: „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 17 (1988) 376, Anm. 27; vgl. α. α. ( λ , 390: W. v. Humboldt ist „für Gerber eine zentrale Figur". " Nach Max Oehler: Nietzsches Bibliothek.. \/ierxehnte Jahresgabe der Gesellschaft der l'reunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942, 31; Hinweis bei Most und Fries, a. a. O., Anm. 37, s.o. S. 24. 12 Es finden sich in Gerbers Text mindestens 27 Humboldt-Zitate, darunter einige sehr ausführliche, alle übrigens aus der sog. „Kawi-F.inleitung", darüber hinaus mindestens 12 weitere F.rwähnungen. 11 In den über eintausend Zitaten und Literaturhinweisen werden mehr als 150 verschiedene Autoren herangezogen. 14 Das gilt insbesondere für Piaton, Aristoteles, Goethe, Schiller, Jacob Grimm und Karl Hcyse; etwa ebenso häufig wie Humboldt werden auch August Fr. Pott und August Schleicher herangezogen. 15 Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst, 1. Band, 'Bromberg 1871, S. 100 ( 2 Berlin 1885 und ^Hildesheim 1961: S. 107): „(Man vergleiche hierüber noch W. v. Humboldt „Ueber die Verschiedenheit des menschl. Sprachbaues", Ges. Werke Bd. 6. p. 42.)". "' Die Liste der stattdessen in diesem einführenden und grundlegenden Teil — häufig allerdings auch kritisch — zitierten Autoren ist sehr umfangreich (die Erwähnungen sind naturgemäß noch viel zahlreicher): Ackermann, Adelung, Aristoteles, Bernhardi, Boilcau, Carriere, Casaubonus, Cicero, Diderot, Donatus, Gcrvinus, Goethe, Gottschall, Hegel, Heyse, Herder, Hobbcs, Horaz, Jakobs, Kahlert, Kant, Köstlin, Lamartine, Leibniz, Lessing, Locke, Lotze, Moliere, F.. Müller, Ovid, Jean Paul, Platen, Piaton, Plinius, Plutarch, Quintilian, Renan, George Sand, Schelling, Schiller, Fr. Schlegel, Schleicher, Schleiermacher, Schopenhauer, Simonides, Solger, de Stael, Strabo, Suidas, Teichmüller, Thiersch, Trahndorff, Vischer, Wächter, Wernicke, Wcstphal, Yxem, Zeising. (Die ausführliche Dokumentation sei ausnahmsweise gestattet, da der Text selbst kein Namenregister aufweist.) 111

118

Tilman Borsche

(S. 123 — 596), und zwar in Abschnitt I „Die Sprache als Kunst", Kapitel I „Vom Ursprung und vom Wesen der Sprache" (S. 125 und 126), erstmals zitiert in Kapitel II „Entstehung der Sprache..." (S. 146ff.); in den folgenden Kapiteln III —VII dieses Abschnitts werden die Zitate dann häufiger. Im entscheidenden Kapitel VIII über die Tropen und Figuren, das mehr als die Hälfte des besonderen Teils ausmacht und Gerbers spezielle Hauptthese, daß alle Wörter „in Bezug auf ihre Bedeutung an sich und von Anfang an Tropen" seien (333), breit entfaltet, wird Humboldt kaum noch zitiert (395. 398) oder auch nur erwähnt (399. 467). Mehr noch als die geringe Häufigkeit der Zitate spricht aber ihre Funktion gegen eine privilegierte Stellung des Autors Humboldt für Gerber. Humboldt markiert keinen Einschnitt in der Geschichte der Sprachreflexion. Er ist einer unter vielen Autoren, die es zu konsultieren gilt, während die Vorliebe des Historikers eher antiken und einigen wenigen modernen Autoren gilt. Dabei benutzt Gerber die gesamte Tradition als Steinbruch, um Hilfstruppen für die eigenen Ansichten zu rekrutieren oder Gegner zu markieren. Gerbers allgemeine sprachphilosophische Grundthese betrifft die „Bildnatur" (311) der Sprache. Worte sind Kunstwerke, sie zeigen nur Bilder der Dinge, niemals diese selbst. Und unsere Begriffe sind allein durch Worte gebildet, folglich denken wir „in Bildern von Bildern" (279). Auch dieser Gedanke wird durch Zitate aus zahlreichen Autoren belegt und erläutert, weder Humboldt noch Herder (auf den zu verweisen durchaus nahegelegen hätte) kommt hier eine besondere Bedeutung zu. (b) Wie wir inzwischen wissen, hat Nietzsche den ersten Band von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst nicht nur gelesen, sondern Formulierungen daraus, häufig gekürzt, bisweilen geringfügig abgewandelt, sowohl in seinen Aufzeichnungen für die Rhetorik-Vorlesung des Wintersemesters 1872/73 als auch in einigen Passagen des Ms. Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) übernommen. Keines der bislang in diesen Texten nachgewiesenen Exzerpte Nietzsches geht auf ein Humboldt-Zitat bei Gerber zurück 1 7 , nur wenige stammen aus einem Kapitel (Abschnitt I, Kapitel III), in dem sich auch Humboldt-Zitate finden. Jedenfalls in diesem historisch positiven Sinn also muß die Rolle Gerbers als eines „Mittelsmannes" zwischen Humboldt und Nietzsche zweifelhaft erscheinen. Doch bin ich auch skeptisch gegenüber der allgemeinen, auf inhaltlichen Übereinstimmungen beruhenden Aussage, daß Gerbers Die Sprache als Kunst

17

Vgl. Anthonie Meijers und Martin Stingelin: „Konkordanz und Übernahmen aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst Rhetorik-Vorlesung und in ,Über Wahrheit und Lüge im Nietzsche-Studien 17 (1988) 3 5 0 - 3 6 8 ; ferner Most und Fries,

zu den wörtlichen Abschriften (Bromberg 1871) in Nietzsches aussermoralischen Sinne'", in: a. a. O., Abschn. I, S. 1 7 - 2 7 .

Natur-Sprache

119

„die Hauptquelle der Sprachphilosophie des jungen Nietzsche" sei, die seine „Auffassungen über Wahrheit und Sprache ... maßgeblich beeinflußt" habe 18 ; nicht weil ich stattdessen andere Quellen für einflußreicher hielte — im Gegenteil, die gleiche Skepsis gilt auch gegenüber den ebenfalls bereits gut erschlossenen anderen Quellen: Kant, Schopenhauer, Fr. A. Lange, E. v. Hartmann ζ. B. 19 —, sondern weil mir gerade aufgrund des neuen Begriffs der Bedeutung, wie er bei Herder implizit, bei Humboldt, Nietzsche (und Wittgenstein) explizit entwickelt wird, die Metaphorik von Quelle und Einfluß problematisch geworden ist 20 . Was die Notizen zur Rhetorik-Vorlesung angeht, so wäre zu fragen, inwieweit es sich dabei überhaupt um einen Text Nietzsches handelt, wie es die Edition in der Werkausgabe, trotz erläuternden Vorworts, suggeriert, und nicht nur um Exzerpte aus einem fremden Text eben für den eigenen Vorlesungsgebrauch. — Die Ubernahmen in W L sind stärker verarbeitet und werden von Nietzsche in einen eigenen, der Vorlage nicht entnommenen Kontext gestellt; sie können insofern als ,einverleibt' gelten und eher schon als ,angeeignete' Texte Nietzsches gelesen werden. Deswegen muß die Frage des Einflusses hier anders gestellt werden. Folgende Antwort möchte ich zu erwägen geben: Nietzsche übernimmt hier nicht eine fremde Position, sondern er greift Gedanken und Formulierungen auf, die seinem Verständnis der Sache entgegenkommen. Daß Vorstellungen von der Bildnatur der Worte und dem unbewußten natürlichen Ursprung der Sprache Nietzsche schon lange vor seiner Gerber-Lektüre vertraut waren, macht C. Crawford deutlich 21 . Nietzsche eignet sich hier (wie auch sonst häufig) fremde 18 Meijers, a. a. O., 390. 389. " Zu Friedrich Albert Lange vgl. bes. J ö r g Salaquarda: „Nietzsche und Lange", in: NietzscheStudien 7 (1978) 236 — 260; zu Eduard von Hartmann vgl. Federico Gerratana: „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen F.. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869 — 1874)", in: Nietzsche-Studien 17 (1988) 391- 433. Alle vier genannten und weitere Quellen Nietzsches werden, was die Entwicklung seiner Sprachtheorie betrifft, umfassend eruiert, sorgfältig analysiert und behutsam interpretiert in Claudia Crawford: The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language, Berlin/New York 1988. 2" Das Problem der Metaphorik von Quelle und EinfluiS wird erhellend diskutiert von Hans Blumenberg: „Beobachtungen an Metaphern", in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), Abschn. III, 190—195. Blumenberg vollzieht die entscheidende Wende, wenn er die wissenschaftliche Routinefrage des Historikers und des Philologen nach den Quellen reflektiert und stattdessen (analog zu dem berühmten Aph. 34 der Fröhlichen Wissenschaft) philosophisch fragt: „Was wird zur . Q u e l l e ? " (193). — Claudia Crawford spricht im Blick auf die Entwicklung von Nietzsches Sprachtheorie von „transformations", die der Autor mit dem Material seiner Quellen vornehme (a. a. O., ζ. B. 33. 62). — Zur Problematik der metaphorischen und insofern eigenen Verwendung des aus den Quellen geschöpften Materials bei Nietzsche vgl. auch die exemplarische Studie von Sabrina Ebbersmeyer: „Philosophie als Leidenschaft der Erkenntnis. Zur erkenntnistheoretischen Metaphorik in den Schriften Nietzsches", vorgesehen für die Nietzsche-Studien 24 (1995). 21 a. a. O., pass., vgl. zusammenfassend S. 205: Alle Ideen, die Nietzsche von Gerber übernimmt,

120

Tilman Borsche

Worte und insbesondere neue Auslegungsmuster an: Er spricht von Sprachbildung als einem metaphorischen Prozeß, von Worten als Tropen, von Sätzen als Figuren, indem er solche neuen Redeweisen, die wissenschaftlich überzeugend erscheinen, für eigene philosophische Zwecke, vornehmlich für seine erkenntnistheoretische Polemik, in Gebrauch nimmt. Es wäre weiter zu fragen, ob wir nicht stets genötigt sind, überlieferte und damit für uns zunächst fremde Worte uns anzueignen, wenn wir verständlich und das heißt, wenn wir überhaupt sprechen wollen. Ist nicht alles Reden in diesem weiteren Sinn meta-phorisch — Übersetzen, wie Hamann sagt: Wir übersetzen unsere Meinung in eine fremde, nämlich in eine überlieferte, unserem Denken vorgegebene Sprache und bringen damit überhaupt erst unser eigenes Denken zur Deutlichkeit. Auch läßt sich die unterschiedliche Wirkung der Texte Nietzsches und Gerbers auf diese Weise eher verstehen: Wenn angenommen werden kann, daß es der Gebrauch ist, der die Bedeutung macht, dann ist auch zu vermuten, daß einerseits die breite und schematische Projektion sprachphilosophischer Einsichten auf die Kategorien einer sterbenden Wissenschaft, der Rhetorik nämlich, den Text Gerbers zur Bedeutungslosigkeit verurteilte, wie andererseits die aphoristisch prägnante Reformulierung verwandter Einsichten im Geiste der aufblühenden Naturwissenschaften durch Nietzsche (zunächst sehr knapp in WL, später, auch in veröffentlichten Texten, ausführlicher) dazu beigetragen hat, seinen Texten diejenige Bedeutung zu verleihen, die sie auch heute noch für uns besitzen.

III Nachdem die textphilologische Suche nach Spuren einer Herder- oder Humboldt-Lektüre Nietzsches bislang keine überzeugenden Argumente für die Annahme eines bedeutsamen „Einflusses" auf die Sprachphilosophie des „with the exception of the tropological framework, are ideas completely familiar to Nietzsche and already documentably adopted by him as a result of the earlier influences of Kant, Schopenhauer, Ilartmann, as well as Nietzsche's own intuitions about language". Was Gerber betrifft, ist dem gewiß zuzustimmen. Dieselbe Frage aber stellt sich erneut im Blick auf die früheren Quellen und ihre Hinflüsse. Hinerseits sind eigene Intuitionen letztlich nicht abgrenzbar von Lektüreerinnerungen; das .Eigene' verdankt sich gewöhnlich dem Vergessen seiner Herkunft. Andererseits werden Lektürcerinnerungen wohl nur insofern dem gegenwärtigen Denken einverleibt, als sie dem, was zuvor schon gegeben und anerkannt war, entsprechen. Doch kann diese Problematik hier nicht näher erörtert werden. — Immerhin machen die Ausführungen von Andrea Orsucci: „Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen: Über Nietzsches Verhältnis zu Karl Friedrich Zöllner und Gustav Gerber", in diesem Band, S. 193 ff., deutlich, daß Nietzsche, der nach anfänglichem Schwanken den Terminus „Übertragung" gegenüber dem der „Metapher" oder der „Tropen" vorzuziehen scheint, sich dabei ebenso sehr von Zöllners naturwissenschaftlichen wie von Gerbers rhetorischen Studien anregen läßt und diese Termini sogleich in entgrenzender Bedeutung auf andere Bereiche überträgt.

Natur-Sprache

121

jungen Nietzsche erbracht hat und solche auch kaum erwarten läßt, möchte ich mich nun der bescheideneren Frage nach einer typologischen Verwandtschaft zwischen den Sprachansichten der drei Autoren zuwenden 2 2 . Aus einer solchen Verwandtschaft, wenn sie denn aufgezeigt werden kann, läßt sich zwar wenig erklären, einiges aber vielleicht besser verstehen. Im folgenden sollen deshalb die (erkenntnis-)kritischen Grundgedanken zunächst der Herderschen und dann der Humboldtschen Sprachphilosophie skizziert werden. Indem Herder die mechanistische Interpretation des Satzes vom zureichenden Grunde bestreitet, gewinnt er in der Naturphilosophie Raum für neue Kräfte, die nicht mehr als bloße Transformationen bestehender Kräfte (unter dem metaphysischen Kräfteerhaltungssatz) zu verstehen sind. Entscheidend ist für ihn dabei die Anerkennung der Notwendigkeit des Zusammenwirkens innerer und äußerer Ursachen zur Hervorbringung irgendeiner Wirkung. Einerseits gilt: Ohne innere Kraft ist nichts, geschieht nichts (Leibniz). Andererseits aber gilt ebenso: Nichts geschieht aus sich selbst heraus, alles, was geschieht, bedarf der Anregung, der Auslösung, des Reizes von außen. Aufgrund der Unendlichkeit möglicher äußerer Ursachen sind Wirkungen prinzipiell nicht genau berechenbar; sie wären es selbst dann nicht, wenn uns die innere Natur der Dinge bekannt wäre. Der Begriff einer Reiz-Kausalität, den Herder der Physiologie Albrecht Hallers entnimmt und in entgrenzter Bedeutung auf seine naturphilosophischen Betrachtungen überträgt 2 1 , gibt ihm die Möglichkeit, die Sinne als Grundlage und Ausgangspunkt aller Erkenntnis festzuhalten, ohne in sensualistischer Weise das Denken aus den Sinneswahrnehmungen herleiten zu müssen. Hier darf die Wirkung größer, insbesondere auch von ganz anderer Art sein als die (äußere) Ursache. Das Komplexe und Herrschende kann aus dem Dienenden und Einfachen hervorgehen, ihm zuwachsen — wie das Denken der Empfindung, wie die Bedeutung dem Laut. Unser Denken ist durch seine natürliche Herkunft aus den Sinnen zwar nicht determiniert, aber doch bedingt und geprägt. Herder spricht hier von einer „Logik des Affekts", nach der, verworren zwar und stumm, aber unabweislich und integral, die Affektionen der Seele durch die sie wirklich umgebende Welt bestimmt 12

23

Auf Übereinstimmungen im Denken von Nietzsche und Humboldt wurde seit Josef Simon: „Grammatik und Wahrheit", in: Nietzsche-Studien 1 (1972) 23 f. mehrfach verwiesen. Parallelen zwischen Nietzsche und Herder — allerdings unter einem für Herder anachronistischen Begriff der Metapher — beobachtet Gebhard Fürst: Sprache als metaphorischer Pro^eß. Johann Gottfried Herders hermeneutische Theorie der Sprache, Tübingen 1988, 287 — 314. F.ine umfassende Untersuchung der Verwandtschaft steht in beiden Fällen noch aus. Vgl. Tilman Borsche: „Der Reiz. Schwierigkeiten einer neuzeitlichen Bestimmung der lebendigen Natur", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 16.2 (1991), bes. 20 f.

122

Tilman Borsche

werden 24 . Wohl variieren diese Affektionen nach Ort und Zeit, Klima, Sitten und Gewohnheiten, doch ihre Logik bleibt überall dieselbe und ist der Menschheit als Gattung eigentümlich. Hier zeigt sich deutlich die naturalistische Basis der Herderschen Sprach- und Erkenntnistheorie. Nun wird der Naturalismus von Herder selbst theologisch begründet, aber es ist nicht schwer, diese Begründung kritisch auf ihre methodische Funktion zu restringieren: Offensichtlich hat sie die Funktion, das Problem des Ursprungs der Sprache durch Anerkennung seiner Unlösbarkeit zu entschärfen. Der Anfang (Ursprung) von allem muß als gegeben hingenommen werden. Die Analyse des Sprachursprungs mit Hilfe dieses neuen Kausalitätsbegriffs sowie nach Maßgabe der „Schöpfungshieroglyphe" — der Darstellung einer Entstehungsgeschichte in der Form eines Siebentagewerks — führt auf sieben ,Ursprünge' der Sprache: erstens die allgemeine Sprache der Empfindungen (sensibilitas), zweitens die jeweilige Natursprache einer besonderen Gattung von Sinnenwesen (sensibilitas specifica), drittens die Sprache der Rührung (con-sensibilitas). Alle drei Ursprünge charakterisieren eine noch nicht exklusiv menschliche ,Sprache der Natur', an der die menschliche Sprache als natürliche gleichwohl partizipiert. Erst am vierten Tag setzt der eigentlich menschliche, d. h. der geistige Ursprung der Sprache ein. Die allgemeine Anlage der Menschheit zur Besonnenheit kommt im Einzelnen zur wirklichen Besinnung, wenn es ihm gelingt, in der Fülle des sinnlich Gegebenen ein Merkmal zu isolieren und für sich festzuhalten. So entsteht das innere Wort der Seele, indem der zum Denken Erwachende durch einen Akt der Freiheit etwas als etwas anerkennt. In diesem Akt liegt das Wunder der Sprache — oder ihr göttlicher Ursprung, den Herder mit Hamann durchaus anzuerkennen gewillt ist, wenn auch die Themenstellung der Akademie-Preisfrage eine andere Ausdrucksweise — oder Masque, wie er selbst sagt 25 — erforderlich machte. Denn der Übergang vom Symptom zum Zeichen, vom Gegenwärtigen zum Allgemeinen, von den Eindrücken zum Begriff bleibt immer unerklärlich. Herder löst, wie hier nur in knappen Andeutungen skizziert werden konnte 26 , das Problem von Sprache und Natur durch eine, in Kantischer Terminologie formuliert, metaphysische Naturgeschichte des Menschen, der Seele, der Sprache. Da der ,Dichter' dieser Geschichte genau weiß, daß er nicht voraussetzungslos beginnen kann, legt er ihr mit Absicht das biblisch 24

2:>

26

Fragmente einer Abhandlung über die Ode, in: Werke in 10 Bänden, hg. M. Bollacher, Bd. 1: Frühe Schriften 1764 — 1772, Frankfurt am Main 1985, 90; zitiert und erläutert in Ulrich Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 38. Brief an J. G. Hamann vom 1.8.1772, in: Johann Gottfried Herder. Briefe, Gesamtausgabe, 2. Band, Weimar 1984, 210, Ζ 31. Vgl. dazu ausführlich Gaier, a. a. O., pass.

Natur-Sprache

123

überlieferte Bild von einer weisen Schöpfung und die daran anknüpfende Vorstellung vom Menschen als dem Herrn der Erde zugrunde. Zwar bleiben auch diese theologisch legitimierten Grundbegriffe der Anthropologie zeitgebunden, doch gibt Herder zu bedenken, daß Philosophie zu keiner Zeit mehr getan habe noch habe tun können, als derartige Bild-Begriffe zu verdeutlichen (Begriffe, wie sie uns hier und heute gegeben und veständlich sind), und daß es demgegenüber Hybris und gänzlich unfruchtbar wäre, den Formen eines ,reinen' Denkens nachzujagen 27 . Doch ist der Rückgriff auf die biblischen Bilder bei Herder nicht in einem einfachen Sinn metaphorisch zu verstehen, er hat nicht nur ästhetische und methodische, sondern auch eine metaphysische Funktion. Zwar sind die genannten Übergänge, die Herder im Zusammenhang mit dem siebenfachen Sprachursprung näher untersucht, unerklärlich. Aber die Zuversicht, daß diese Ubergänge unter natürlichen Umständen angemessen vollzogen werden können, und insbesondere, daß der Mensch als Sinnenwesen von seinem Schöpfer so ausgestattet wurde, daß er zwar frei und auf vielfältige Weise (je nach Lage und Klima verschieden), aber doch richtig zu erkennen fähig sei, diese Zuversicht bleibt konstitutiv für seine theologisch verankerte Anthropologie. — Das Gebäude der Sprachkritik Herders ruht auf dem Fundament des Glaubens an einen gütigen Gott, an den Fortschritt in der Geschichte und an die Perfektibilität des Menschen. „Daß Gott durch Menschen, die Sprache würke — wer zweifelt?" 28 .

IV Im Blick auf Humboldt kann ich mich kürzer fassen. Seine Erforschung der Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues setzt die Kantische Erkenntniskritik voraus und steht auf dem Boden der Herderschen Sprachkritik, ohne sich mit einer von beiden explizit auseinanderzusetzen oder eigene philosophische Ansprüche zu erheben. Vergleichende Sprachforschungen lassen die Entstehungsfrage in den Hintergrund treten. Humboldt hält sie für 21

28

Vgl. bes. J . G. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, Riga 1778, Sämtliche Werke, hg. B. Suphan, Bd. 8, Berlin 1892, 170: „So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Ruffon in seiner Kosmogonie, und Leibnit% in seiner prästabilirten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichniß, das die grösten und kühnsten Theorien gebohren. Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamiren, und selbst lauter alten, oft unverstandnen Bildgötzen dienen...". — Zur Unerklärlichkeit des naturphilosophischen Grundbegriffs der Kraft vgl. a. a. O., 177 f. Brief an J. G. Hamann vom 1.8.1772, a. a. O., 209, Ζ 14 f.

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müßig, weil wir aus ihr kaum etwas lernen können, und für unfruchtbar, weil wir über historische Anfänge nur Geschichten erfinden, diese durch Erfahrung aber niemals bestätigen können. An die Stelle der Ursprungsfrage treten daher Fragen nach der Struktur und der Entwicklung wirklicher Sprachen, die es durch Beobachtung und Vergleich zu erforschen gilt. Wie Herder geht auch Humboldt von der Geschichtlichkeit der Sprachen aus, wenn er fordert, ihren je eigentümlichen Charakter zu bestimmen. Der Charakter einer Sprache aber wie auch der Charakter einer Nation, die sie spricht, kann sich nur dem Tact des einfühlsamen Kenners erschließen — doch das führt ihn auf Fragen einer angemessenen Sprachwissenschaft, die weder für Herder noch für Nietzsche von Interesse waren 2 9 . Bedeutsam für unseren Zusammenhang erscheinen mir jedoch zwei andere, gleichfalls wegweisende Einsichten des Humboldtschen Sprachstudiums. Beide sind zudem Ausdruck des Versuchs einer natürlichen Erklärung der Sprache aus den räumlichen und zeitlichen, eben den historischen Bedingungen wirklicher Rede. Torstens·, allein aufgrund der Beobachtung und ohne theologische Absicherung gibt Humboldt die Vorstellung von einer sprachfreien Identität der Bedeutung auf. Er entdeckt, daß das, was die gewöhnliche Reflexion auf Sprache als die allgemeine Bedeutung eines Wortes glaubt voraussetzen zu müssen, im wirklichen Sprechen doppelt modifiziert wird, zum einen durch die historisch vorgegebene Sprache und zum anderen durch den individuellen Sprachgebrauch: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst,... ist nemlich die ewig sich wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens" 30 . Denn nicht nur unterliegt die allgemeine Bedeutung eines Wortes dem historischen Wandel, den die Sprachwissenschaft wenigstens an idealen Schnittstellen namhaft zu machen versucht, sondern durch den wirklichen Gebrauch wird die historisch bestimmte Bedeutung noch einmal modifiziert, so daß das Wort „wahrhaft seine Vollständigkeit und Individualität nur in dem jedesmaligen Denken hat" 31 . Im Licht der Freiheit des Subjekts, die überlieferte und erlernte Sprache den Umständen entsprechend, nach Gelegenheit und Bedarf, anders und anders — in (un)gewissen Grenzen — gebrauchen zu können, erscheint die Bestimmtheit der Bedeutung nurmehr als ein Moment der im anderen Moment verklingenden Rede. Nur dieser Gedanke der doppelten Modifikation der Bedeutung eines Wortes gewährt einen Begriff von 29

30

31

Zu einem Versuch in dieser Richtung vgl. J ü r g e n Trabant: Apeliotes oder Der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprachbild, München 1986, Kap. 6, 1 5 7 - 2 0 7 . Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften [GS], hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903 ff., VII 45 f. a. a. O., GS V, 418.

Natur-Sprache

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der Sprache als dem allgemeinen Medium für die sich wechselseitig bestimmende Darstellung individueller Subjekte: „Eigentlich aber wird unter demselben Schall jedesmal ein andres Wort ausgesprochen. Denn nur das wirklich gedachte oder gesprochene ist das eigentliche Wort" 3 2 . Den Ursprung und das Wunder der Sprache erkennt Humboldt also im jedesmaligen Sprechen als dem individuellen Akt des Sprachgebrauchs. Doch geht mit der Identität der Bedeutung nicht auch alle Objektivität des Denkens verloren? Mag das Sprechen auch als eine notwendige Bedingung des Denkens erkannt sein, so ist es doch noch nicht als seine hinreichende Bedingung verstanden. Hier greift der ^weite wegweisende Grundgedanke des Humboldtschen Sprachstudiums ein, den ich im Blick auf Nietzsche erwähnen möchte: „Die Sprache muss nothwendig zweien angehören, und gehört in der That dem ganzen Menschengeschlecht an" 3 3 . Darin liegt das andere wesentliche Moment ihres Begriffs. Sie vermittelt nicht nur ein Subjekt mit Objekten, sondern auch Subjekte untereinander. Genauer, jene Vermittlung vollendet sich nur, insofern diese gelingt. Jenes erste Moment drückt Humboldt in folgendem Satz aus: Der Begriff eines Gegenstands wird im Denken „erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und dem Subject gegenüber zum Object bildet" 3 4 . Das geschieht in der wirklichen Artikulation des Wortes. Aber er läßt sogleich die notwendige Einschränkung und zugleich Ergänzung folgen: „Es genügt jedoch nicht, dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht...". Denn die subjektive Äußerung allein gewährt nur momentane Objektivität, sie kann den Gedanken nicht festhalten. „... die Objectivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist" (ebd.). Das Wort, das „bloss in der Thätigkeit des jedesmaligen Hervorbringens", also nur in der Erscheinung „Daseyn" hat 35 , dessen Dasein aber im Moment des Entstehens auch wieder vergeht, gewinnt in der Antwort die Objektivität eines Begriffs. So zeigt das Sprechen erst im Widerspruch, der es aufhebt, seine Wirklichkeit. „Die Sprache kann auch nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden. Das Wort muss also Wesenheit . . . i n einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen" 3 6 .

12 31 ,4 35

a. a. a. a. a. a. a. a. Λ. a.

0., O., O., O., O.,

GS GS GS GS GS

V, 422. VI, 180; ähnlich G S VII 63. VI, 160; ebenso G S V I , 26. V, 393. VI, 26; ähnlich G S VI, 160.

126

Tilman Borsche

V Soweit zu Herder und H u m b o l d t . Was von diesen Grundgedanken einer (erkenntnis-)kritischen Sprachphilosophie läßt sich bei Nietzsche, insbesondere in der frühen Schrift Uber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, wiederfinden? Der Text ist bekannt, ich erinnere nur an einige Formulierungen, die mir hier von Bedeutung zu sein scheinen: Der menschliche Intellekt wird als ein „Mittel zur Erhaltung des Individuums" eingeführt, dem im „Kampf um die Existenz" kein „Raubthier-Gebiss" zur Verfügung steht; seine Kräfte dienen vornehmlich der „Verstellung" (KSA 1, 876). Was als Wahrheit gelten soll, wird künstlich „fixirt" durch „Conventionen der Sprache", doch diese ist gar nicht fähig, Realitäten adäquat zum Ausdruck zu bringen. Denn ein Wort ist nur „die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten", eine doppelte Metapher also: v o m Reiz zum Bild, vom Bild zum Laut (KSA 1, 877 f.). Das mag genügen. Denn schon dies Wenige gibt Gelegenheit zu zwei allgemeinen Beobachtungen. Firstens·, das Mysterium der Sprache, das die sprachphilosophische Reflexion seit ihren Anfängen bewegt und das schon manche frühere Autoren, insbesondere Herder und H u m b o l d t , auf natürliche Weise, wenn nicht zu erklären, so doch wenigstens näher zu beschreiben versuchten, liegt in der ,Vermählung' von Laut und Bedeutung im Wort; doch diese Vermählung geschieht nicht in der Sprache, sondern in der wirklichen Rede. Grammatik und Lexikon enthalten nichts weiter als (standes)amtliche Kodifizierungen von individuellen Kommunikationsereignissen, nachträglich und konventionsstiftend. Genau diese D e u t u n g des Mysteriums wird von Nietzsche übernommen, aber sie wird in einer dezidiert naturwissenschaftlichen Diktion reformuliert und vorgetragen. Wenn der Vortrag gleichgültig wäre, müßte man konstatieren, daß hier nichts Neues gesagt werde. D a ß dem aber nicht so ist, wird schon daran deutlich, daß Nietzsche hier, zweitens, wie Herder und seine Zeitgenossen eine Ursprungsgeschichte erzählt. Wer diese Ursprungsgeschichte in einem unmittelbaren Sinn als wissenschaftliche Wahrheit verstanden wissen wollte, der würde einerseits Nietzsche einen Atavismus zumuten, einen Rückfall hinter längst erreichte wissenschaftliche Positionen, andererseits würde er mit einer solchen Z u m u t u n g die gerade in diesem Text erstmals deutlich entwickelte philosophische Wahrheitskritik Nietzsches unterlaufen. Beobachtungen dieser Art nötigen zur Frage nach dem Wahrheitsanspruch, man kann auch sagen, nach dem rhetorischen Status der naturwissenschaftlichen Darstellungsweise der Sprach-und Erkenntnisproblematik in WL (wie auch, die Frage läßt sich verallgemeinern, in anderen Texten Nietzsches). Die Antwort auf diese Frage — sie liegt nahe, ich möchte sie dennoch

127

Natur-Sprache

nur in der F o r m einer These vorstellen — die Antwort scheint ganz einfach: die naturwissenschaftliche Genealogie der Sprache ist ein Mythos

im platoni-

schen Sinn des Wortes. Sie erhebt nicht den Anspruch, wahr zu sein — wie sollte ein Text wahr sein wollen, der selbst erklärt, daß Wahrheit L ü g e ist? Der Mythos spricht jenseits von Wahrheit und Lüge, die dem L o g o s angehören, der aus dem Vergessen wächst. Die mythische Qualität des Textes wird schon in den ersten Zeilen offen kundgetan. Denn hier wird eine „ F a b e l " erzählt, die ,Jemand erfinden könnte', jemand, der erklären will, was Sprache und Erkenntnis, was Wahrheit, Irrtum und Lüge sei, und zwar für solche, die das alles schon wissen, aber noch nicht oder, genauer gesagt, nicht mehr begreifen können. Rede, die auf solche Fragen eine Antwort sucht, ist philosophische Rede, sie wird von Piaton Mythos genannt — philosophischer Mythos, sollten wir heute, um Mißverständnisse zu vermeiden, hinzufügen 3 7 . — Ich möchte diese Deutung des Status der naturwissenschaftlichen Redeweise durch eine spätere Reflexion Nietzsches zu eben dieser Frage stützen. Einen Hinweis auf die treffende physiologische Erklärung menschlicher Affekte beschließt er mit der Bemerkung: „Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede" 3 8 — wie schon Herder feststellte (vgl. o.).

VI Diese Radikalisierung des Gedankens vom natürlichen Begriffe oder vom Bildcharakter

Ursprung unserer

des Denkens wirft neue Probleme auf: Wenn

der ,Mythos', der Sprechen und Denken ,erklären' soll, weder wahr noch falsch sein kann, worin liegt dann sein Erkenntniswert für uns? Welche Bedeutung hat die in ihm vorgetragene ,Lehre' vom natürlichen Ursprung der Wahrheit aus der Illusion, des Begriffs aus der Metapher, der Sprache aus der Konvention zu lügen? Das Kriterium des Mythos ist nicht die Frage nach seiner Wahrheit, sondern die Frage nach seinem Sinn und seinem Zweck. Wozu dient und taugt ein Mythos, was erklärt er mir, uns, der Zeit? Welche erlösende Macht liegt in ihm, welche Kräfte setzt er frei? Das sind Fragen, die über seinen ,Wert für das Leben zuletzt entscheiden'. Ich möchte die

37

58

Eugen Biser: „Nietzsche als Mythenzerstörer und Mythenschöpfer", in: Nietzsche-Studien 14 (1985) 96 spricht im Blick auf die Wiederkunftslehre des ZarathustTa von einem „Mythos des theoretischen Menschen". V 11 [128] (1881; K S A 9, 487).

128

T i l m a n Borsche

Entgegensetzung noch weiter zuspitzen, um sie zu verdeutlichen: Theorien formulieren Sätze innerhalb einer geregelten Sprache, Behauptungen, die nur hinreichend deutlich definierte Begriffe enthalten (sollen); sie erweisen sich als richtig oder falsch und können eben aufgrund anerkannter Definitionen und im Rahmen einer etablierten Sprache auf ihre Wahrheit hin befragt und nach ihr beurteilt werden. Philosophische Mythen hingegen treffen Sprachregelungen, indem sie versuchen, Begriffe deutlich zu machen; sie erweisen sich als fruchtbar und stark bzw. als schwach und nutzlos. Sie werden auf ihre Erklärungsmächtigkeit hin befragt und nach ihrer Notwendigkeit fürs Leben angenommen oder verworfen. Bevor ich abschließend kurz die Leistung oder die Stärke der naturwissenschaftlichen Genealogie von Sprache und Erkenntnis, wie sie erstmals umfassend in W L vorgetragen wird, zu charakterisieren versuche, möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, worin die entscheidenden Botschaften des neuen Mythos bestehen: Seine erste Aussage ist polemisch 3 9 . Nietzsches rhetorisches Feuerwerk richtet sich gegen alle Versuche, das Faktum (oder fictum) des Verstehens und Erkennens mittels des Postulats von der Identität der Bedeutung in unserem Denken und Sprechen zu erklären; dieses Postulat, von Piaton eingeführt, weil es unentbehrlich schien, wenn es möglich sein sollte, Wissen von Meinung, den Philosophen vom Sophisten zu unterscheiden, soll nun als Illusion entlarvt werden. Seine zweite Aussage setzt an die Stelle des platonischen Mythos, den die erste destruiert, eine konstruktive Alternative: Nietzsche zeigt, daß man nicht nur die Lautgestalten der Worte, sondern auch die Bedeutungen, die unser Denken und Sprechen leiten, als natürlich entstehend und vergehend betrachten kann, als leiblich und gesellschaftlich bedingt. Sie haben ihre Zeit und ihre Geschichte, bedürfen, wenn sie dauern sollen, des Schutzes und der Pflege — wie andere Naturdinge auch. Auch Bedeutungen sind Produkte eines (unbewußten) Willens zur Macht, sie sind nur wirklich durch ihre (notwendige) Anerkennung im Gebrauch. — Zunächst ist das nur ein anderer Mythos als der platonische, noch dazu ein komplizierterer; worin liegt nach Nietzsche seine Uberzeugungskraft?

VII Die naturwissenschaftliche Genealogie von Sprache und Erkenntnis aus Irrtum, Vergessen und dem „Urvermögen menschlicher Phantasie" (WL, KSA 1, 883) bewahrt die Einsichten und überwindet die Aporien früherer 19

Darin besteht ein H a u p t z w e c k n e u e r p h i l o s o p h i s c h e r M y t h e n , w i e M a r t i n Bauer: „ Z u r G e n e a l o g i e v o n Nietzsches K r a f t b e g r i f f . Nietzsches A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit J . G. V o g t " , in: Nietzsche-Studien 13 (1978) 216, f ü r die W i e d e r k u n f t s l e h r e g e z e i g t hat.

Natur-Sprache

129

Deutungsversuche derselben Begriffe. Mit Herder und Humboldt kommt diese Genealogie, wie gesagt, ohne die Annahme einer Identität der Bedeutung aus, die in traditionellen metaphysischen Erklärungen stets postuliert werden mußte 40 . In diesem Sinne erscheint es durchaus sinnvoll, Nietzsches Sprachtheorie in die Tradition Herders und Humboldts zu stellen und alle drei gegenüber früheren und gleichzeitigen (auch späteren) stoisch inspirierten Sprachauffassungen abzugrenzen, die eher zeichentheoretisch argumentieren; sinnvoll bleibt das, auch wenn die textphilologische Suche nach „Einflüssen" von Herder und Humboldt auf Nietzsche weiterhin nur negative Befunde ergeben sollte. Unter Preisgabe des Postulats von der Identität der Bedeutung gelingt Nietzsche eine vollständig natürliche Genealogie der Bedeutung. Beide Aspekte aber entsprechen dem Wissenschaftsideal der Zeit: Sparsamkeit der Prinzipien und Immanenz der Gründe. Das Besondere seines Ansatzes liegt einerseits in der Bewertung, andererseits in der näheren Ausführung des Versuchs einer natürlichen Genealogie der Begriffe. Anders als Herder kann Nietzsche auf den theologischen Rahmen für seine natürliche Genealogie verzichten. Unsere Begriffe sind nicht nur für uns und vorläufig, sondern sie bleiben unaufhebbar Fiktionen, auch — und hierin liegt das Neue — die naturwissenschaftlichen Leitbegriffe der vorliegenden Deutung, welche Deutung eben deshalb nur als Mythos auftreten kann. Nietzsche weiß, daß er Fabeln erzählt, zumeist nacherzählt, bisweilen aber auch erfindet. Uber Humboldt hinaus reicht der philosophische Anspruch des Nietzscheschen Denkens. Seine sog. Sprachtheorie versteht sich nicht als Analyse eines Phänomenbereichs, die die Philosophie daneben unangetastet ließe, wie das bei Humboldt der Fall ist, der im Rahmen seines „allgemeinen Sprachstudiums" zu vergleichbaren Einsichten zwar gelangt und sie auch deutlich ausspricht, dann aber bewußt Abstand davon nimmt, philosophische Konsequenzen aus ihnen zu ziehen. Überdies formuliert Nietzsche den neuen Mythos in einer Sprache, die das Ohr, das Herz und den Glauben der Zeit für sich hat, in der Sprache der Naturwissenschaften, deren neueste Erkenntnisse er hier und in anderen Texten zu verarbeiten bemüht ist. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Die Genealogie der Sprache aus der Natur, wie sie in W L formuliert wird, enthält — entgegen einem ersten Anschein — keine Antwort auf die Frage, was die Sprache wirklich sei, wie die Wahrheit aus dem Irrtum entstehe oder wie Begriffe ursprünglich gebildet *"' S p r a c h p h i l o s o p h i s c h e M e t a p h y s i k k r i t i k vor (und nach) Herder hält zumeist an d e m Postulat einer ( ü b e r i n d i v i d u e l l e n u n d zeitlosen) Identität der B e d e u t u n g fest und konstatiert s o d a n n , d a ß sich für m a n c h e Worte, v o r allem eben für die kritisierten m e t a p h y s i s c h e n Begriffe, eine solche B e d e u t u n g nicht finden, jedenfalls nicht verifizieren lasse. Die S p r a c h k r i t i k Herders, H u m b o l d t s und Nietzsches a r g u m e n t i e r t im Blick auf jenes Postulat sehr viel radikaler.

130

Tilman Borsche

werden. Solche Fragen stellt Nietzsche nicht nur nicht, er zeigt gerade in diesem Text in einer bis dahin noch nicht erreichten Klarheit und Schärfe, daß es sinnlos ist, sie zu stellen, da sie nicht beantwortet werden können. Denn „wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ,Wahrheit'", wie er später sagt (FW 354). Stattdessen schlägt er eine neue Deutung dieser Grundbegriffe vor. Sodann vergleicht er und fragt: Was können wir mit der alten und was mit der neuen Deutung tun, wozu dient eine jede von ihnen, was erklärt sie uns? Der Mythos der Wissenschaften ist bekanntlich nicht Nietzsches letztes Wort. Später wird er noch mehrmals die Sprache wechseln, andere Mythen ausgestalten. Von der Wissenschaft kehrt er schließlich zurück zur Kunst. Doch das wäre ein anderes Thema. Rückblickend auf den ,metaphysischen' Mythos vom ,Glauben an die Grammatik', den er für sich mit den Ausführungen von WL endgültig überwunden hat, schreibt er in einer Notiz von 1886: „Die Worte bleiben: die Menschen glauben, auch die damit bezeichneten Begriffe!" (VIII 1[98], KSA 12, 34).

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der von

D I A N A BEHLER,

Tragödie

Seattle

In einem Brief vom 5. Februar 1801 schrieb Heinrich von Kleist seiner Lieblingsschwester Ulrike, wie unzulänglich unsere Sprache sei, das, was wir mitteilen möchten, vollständig und genau zum Ausdruck zu bringen: G e r n m ö c h t e ich D i r alles mitteilen, w e n n es m ö g l i c h wäre. A b e r es ist nicht m ö g l i c h , und w e n n es auch kein weiteres Hindernis gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur M i t t e i l u n g fehlt. Selbst das einzige, das w i r besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene B r u c h s t ü c k e . D a h e r habe ich jedesmal eine E m p f i n d u n g , w i e ein G r a u e n , w e n n ich j e m a n d e m mein Innerstes a u f d e c k e n soll; nicht eben weil es sich v o r der B l ö ß e scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher f ü r c h t e n m u ß , aus den B r u c h s t ü c k e n falsch v e r s t a n d e n zu w e r d e n . 1

Durch ein „Malen der Seele" suchten viele Autoren der Romantik und des Symbolismus die Grenzen der Sprache zu überschreiten. Dabei verwandten sie Worte, um Gefühle hervorzurufen, die Sinne zu erregen, Töne zu malen, Bilder widerhallen zu lassen und durch die Vermischung von Musik, Dichtung, Tanz und die bildenden Künste eine synästhetische Wirkung bei ihren Lesern zu erzeugen. Carl Gustav Carus befaßte sich mit dieser Thematik vom Visuellen her und verweist in seinen Briefen über die Landschaftsmalerei auf seine Versuche, eine „Szenerie der Landschaft" auszudrücken, welche das „lebendige geistige Prinzip" der Existenz sichtbar macht. Diese Art von Gemälden erforderte für ihn ein „poetisches Gefühl", das „zuerst nur in einzelnen Tönen", dann in „weitgreifenden Akkorden" und endlich „in allumfassenden Harmonien" zum Ausdruck kommen soll und den „Grund des Wohlgefallens an den Schönheiten der Landschaftsmalerei" bildet. Mit Goethe bezeichnete er diese Kraft als „Funke, welcher dem inneren und äußeren Sinne als Lebenskraft (Nerven-, Sinnen-, Beweg-, Bildungskraft usw.)" erscheint, und sah das „Nervenleben im Menschen" als eine göttliche Kraft an, für die „Lebenskraft, Leib, Nervenkraft, Seele" die äußeren Formen bilden. Von Carus wird ebenfalls der Versuch unternommen, die physische und taktile Wirklichkeit der Sinne auf etwas nicht Ausdrückbares, Unfaßbares,

1

Heinrich von Kleist: Sämtliche S. 626.

Werke und Briefe,

hg. H. Sembdner, München 1965, 2. Bd.,

132

Diana Behler

nicht zu Erkennendes zu beziehen und die Sinne zum Zweck der ästhetischen Kommunikation ins Spiel zu bringen. 2 Albert Wellek bezeichnet die synästhetische Fähigkeit des Menschen als ein „Doppelempfinden", wobei er sich hauptsächlich auf das sogenannte „Farbenhören" konzentriert. Interessant sind vor allem die verschiedenen Versuche, ein „Farbenklavier" zu entwickeln, die von Mathematikern wie Louis-Bertrand Castel um 1722 — 23, Komponisten wie Georg Philipp Telemann um 1739 und Physikern wie Newton unternommen wurden. 3 Mit Moses Mendelssohns Briefen über die Empfindungen von 1755 und 1761, die an Castel anknüpfen, aber ein dynamisches Linienspiel anstelle der mechanischen Farb-Ton-Verknüpfungen der Farbenklaviere vertreten, rückte die Malerei in den Vordergrund der synästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts. 4 So ging es Christian Ludwig v. Hagedorn in seinen Betrachtungen über die Mahlerey von 1762 um „die Farbenkomposition echter Gemälde gegen die ,Farbenclavicymbel' als eine wahre Harmonie." Darüber hinaus gab es „synästhetische Vorstellungen zu phantastischen Ausmalungen" in der Prosa des 18. Jahrhunderts, darunter Fenelons 1Voyage ä l'ile des plaisirs, wo der Dichter in „entzücktem Tone von einer ,musique de parfums' spricht, von einem Saal, wo es eine Geruchsmusik gab." 5 In dem nachfolgenden Text geht es nicht so sehr darum, die Unfähigkeit der Sprache, einen verbindlichen Sinn auszudrücken, erneut bei Nietzsche aufzuweisen. Vielmehr richtet sich die Untersuchung auf die Frage, wie in Nietzsches früher Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die Sinne sich untereinander vermischen, um sich gegenseitig zu erhöhen und ihre Wirkung als Ausdrucksformen zu intensivieren. Zwei historische Beziehungspunkte sind dabei von Interesse.

2

5

4 5

Denkwürdigkeiten aus liuropa, mitgeteilt von Carl Gustav Carus zu einem Lebensbild zusammengestellt von Manfred Schlösser, Hamburg 1963, S. 77 — 80. Albert Wellek: „Das Doppelempfinden im 18. Jahrhundert", Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 14 (1936) 75 — 102; S. 77. In seinen „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst" (Die Kunstlehre, S. 334) spricht August Wilhelm Schlegel von dem großen „Aufheben von der Erfindung eines sogenannten Farbenclaviers" und meint, dies sei eine vergebliche Kopfzerbrechung gewesen, eben weil die Farben nicht in der Zeit, sondern im Raum existieren. Wenn man die Farben in einer Reihenfolge haben wollte, „so müßten die ins Spiel gesetzten Farben, um ihre vorübergehende Flüchtigkeit zu ersetzen, ganz mit Licht gesättigt sein, um das Organ gehörig stark zu affiziren: mit Einem Wort, die Farbenconzerte wären bloß durch Feuerwerke zu bewerkstelligen, welche auf diese Art von einer bloß angenehmen Kunst zu einer wahrhaft schönen ausgebildet werden könnte." (August Wilhelm Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen /., hg. Ernst Behler, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1989). Wellek, a. a. O., 78. a. a. O., 85.

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der

1. Synästhesie

bei

Tragödie

133

Baudelaire

Die seit der Zeit der Romantik in der europäischen Literatur immer akuter gewordene Erfahrung von den Grenzen der Sprache veranlaßte gegen Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den Schulen des französischen (Mallarme) und russischen (Bely, Iwanov) Symbolismus die Suche nach neuen poetischen Ausdrucksmöglichkeiten. Irgendwie sollte das „Ding" mit dem „Wort" verknüpft und das Unaussprechbare in Worten verkörpert werden durch eine Poesie, die nicht feststellt, sondern suggeriert, eine Dichtung, die „ein Gefühl für Analogien, ein Gewebe von Entsprechungen, eine Rhetorik von Metamorphosen" vermittelt, „bei der alles sich gegenseitig widerspiegelt." 6 Ein für den Symbolismus beider Schulen prominentes dichterisches Mittel bestand in der Synästhesie, genauer in der Verwendung synästhetischer Metaphern und der Hervorrufung synästhetischer Empfindungen durch die Literatur. Obgleich auf allgemeinen physiologischen Eigenschaften des Menschen beruhend und praktisch über die gesamte Weltliteratur verbreitet, trat die Synästhesie erst mit Baudelaire als ein besonderes stilistisches Mittel hervor, das nachgeahmt und weiter ausgebildet wurde. In dem Gedicht „Correspondances" heißt es: La nature est un temple oü de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L'homme y passe ä travers des forets de symboles Qui l'observent avec des regards familiers. Comme de longs echos qui de loin se confondent Dans une tenebreuse et profonde unite Vaste comme la nuit et comme la clarte, Les parfums, les couleurs et les sons se repondent. 7

Wie Karl Pestalozzi gezeigt hat, fand Nietzsche in Baudelaire, diesem Wagnerianer „ohne Musik", das Vorbild für sein eigenes Projekt einer Synthese der Künste, die nationale, ausdrucksmäßige und typologisiche Grenzen überschreitet. Indem er die Vermischung der Künste und Sinne als „positives '' Rene Wellek: „The Term and Concept of Symbolism in l i t e r a r y History", in: ders., Discriminations, New Haven/London 1970, S. 113. 7 Charles Baudelaire: Oeuvres completes ( Bibliotheque de la pleiade), Paris 1971, Bd. II, S. 784. — Für eine Diskussion der Baudelaire-Rezeption Nietzsches siehe Karl Pestalozzi: „Nietzsches Baudelaire-Rezeption", in: Nietzsche-Studien 7 (1978) 158 — 178; Mazzino Montinari: „Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts", in: Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hg. Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis und Sara Lennox, Bern/Stuttgart 1988, 137 — 148; und Jacques I.e Rider: „Nietzsche et Baudelaire", in: Litterature et Philosophie, Nr. 86 (Mai 1992), 85-101.

134

Diana Behler

Krisensymptom" in Frankreich bezeichnete, sah Nietzsche in Hugo, Balzac und Walter Scott Autoren, die mit der Dichtung malten, in Wagner einen Künstler, der poetische Gefühle durch Musik erweckte, und in Cornelius einen Maler, der poetische und philosophische Ahnungen hervorrief. 8 Gewiß, Baudelaires lebhafte Verteidigung der Musik Wagners während der heiß debattierten Opernreform, seine Kritik der französischen Vorurteile gegen Wagner sowie seine Vorliebe für Wagners Verwendung von tausend Tonkombinationen, um den Aufruhr der menschlichen Seele zu übersetzen 9 — all dies hatte Nietzsches Einbildungskraft erregt. Indem er sich an seine ersten Erfahrungen mit Wagners Musik erinnerte, meinte Baudelaire, es würde ihn überraschen, wenn „Töne keine Farben, Farben keine Idee von einer Melodie hervorrufen könnten, oder wenn Töne und Farben für die Übersetzung von Ideen nicht geeignet wären," wie sein Gedicht „Correspondances" nahelegt. 1 0 Er schreibt: „Kein Musiker zeichnet sich in dem Malen von Raum und Tiefe in materieller und spiritueller Hinsicht so aus wie Wagner." 1 1 In Wagner fand er zweifellos eine verwandte Künstlerseele, insofern es Wagner unmöglich war, „nicht doppelt, d. h. zugleich poetisch und musikalisch zu denken", eine Idee „nicht in gleichzeitigen Formen zu erblicken, wobei eine der beiden Kunstformen ins Spiel tritt, wenn sich die Grenzen der anderen abzeichnen." Dies war für Baudelaire die „Musik der Zukunft", die sich ironischerweise auf die Vermischung der Künste in der griechischen Tragödie bezog. 1 2 In seinem Aufsatz „Le Peintre de la vie moderne" faßte Baudelaire die Darstellung der Schönheit als eine doppelte Komposition auf, die ein ewiges, unveränderliches Element und eine relative, abhängige Komponente hat und damit eine Doppelheit zum Ausdruck bringt, die auf Nietzsches Verbindung des Dionysischen und Apollinischen in der attischen Tragödie verweist. Die Modernität wird als das „Vergängliche, Flüchtige, Zufällige" betrachtet, als die eine Hälfte der Kunst, während ihre andere Hälfte im „Ewigen und Unabänderlichen" besteht. Baudelaire sieht auch eine „fortwährende Wechselbeziehung zwischen dem, was ,Seele' und dem, was ,Körper' genannt wird." 1 3 Obwohl Baudelaires Behandlungen der „Großstadtlandschaften" von Constantin Guys, dieser „Steinlandschaften", wie auch der flüchtigen, oberflächlichen Lebensgenüsse eines Pariser Dandy zuerst wie eine Bevorzugung der Oberflächlichkeit des Lebens und der „Verlockung der Unmittelbarkeit" Pestalozzi, a. a. O., S. 161, 1 6 5 - 1 6 9 . Baudelaire, a. a. 0., Bd. II, S. 780. 10 Baudelaire, a.a.O., Bd. II, S. 784. Meine Übersetzungen. " Baudelaire, a. a. O., Bd. II, S. 785. 12 Baudelaire, α. α. Ο., Bd. II, S. 7 8 7 - 7 9 0 . " Baudelaire, a. a. O., Bd. II, S. 695, 696. 8 9

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt

der

135

Tragödie

erscheinen 1 4 , k o m m t Paul de M a n in seinem Aufsatz „Literary History and Literary M o d e r n i t y " doch zu dem Schluß, daß Baudelaire z w a r einerseits „der Verführung der G e g e n w a r t verbunden bleibt", daß aber andererseits sein Wort eine Art von Schreiben zum Ausdruck bringt, „das sich selbst als bloße W i e d e r h o l u n g , bloße Fiktion und Allegorie kennt und auf immer unfähig ist, an der Spontaneität der Aktion oder der Modernität teilzunehmen." 1 5 Hierin besteht geradezu der Charakter der „decadence". Im J a h r e 1885 bezeichnete Nietzsche den Maler Delacroix, den M u s i k e r W a g n e r und den Schriftsteller Flaubert, aber ebenfalls die Dichter Heine und Baudelaire, als die „großen Vorläufer der Pariser decadence". Paul B o u r g e t hatte im BaudelaireKapitel seiner Hssais die decadence als einen Stil bezeichnet, bei dem die Einheit des Buches der Autonomie der Seite weicht und die Seite dem Satz, der Satz dem Wort die Stelle einräumt. Dieser G e d a n k e fand in Nietzsches Aufsatz Der Fall Wagner von 1888 Eingang, w a r aber bereits in einer Notiz v o m Winter 1883/84 formuliert, die Bourget und W a g n e r mit literarischer decadence v e r b a n d . 1 6 Solch „dekadentes Schreiben", das auf L o g i k und Gradlinigkeit verzichtet und nach und nach die Integrität des Buches, der Seite, des Satzes, und vielleicht auch die des Wortes auflöst, bringt eine Sprachskepsis zum A u s d r u c k , die bereits in Die Geburt der Tragödie sichtbar ist.

2. Synästhesie im russischen

Symbolismus

Damit ergibt sich eine interessante und p r o d u k t i v e W e c h s e l w i r k u n g zwischen den Vertretern des französischen S y m b o l i s m u s und Nietzsche, die durch Wagner und die Idee des G e s a m t k u n s t w e r k e s vermittelt w u r d e . Durch W a g ner nämlich w u r d e Nietzsche mit dieser B e w e g u n g v e r b u n d e n und bereits zu einem frühen Zeitpunkt von Symbolisten in Paris und in St. Petersburg studiert. Es war vor allem Die Geburt der Tragödie, auf die sich das Interesse für die Synästhesie bei Nietzsche in St. Petersburg konzentrierte. Dabei traten zwei grundsätzlich verschiedene Ansichten der Synästhesie und synästhetischer Techniken in der Literatur in Erscheinung. Einerseits w i r d die Synästhesie verstanden als ein Mittel, die Sprachnot und m a n g e l n d e Darstellungsfähigkeit der Künste zu überwinden, neue A u s d r u c k s m ö g l i c h k e i t e n zu schaffen, die Repräsentation der Wirklichkeit zu v e r v o l l k o m m n e n und die mi-

" Baudelaire, a. a. 0 . , Bd. II, S. 693, 696. 1:> Paul de M a n : Blindness and Insight, tissays in the Rhetoric 1983, S. 152, 1 5 6 - 1 6 1 . M o n t i n a r i , a. a. O., S. 141, 145.

of Contemporary

Criticism,

Minneapolis

136

Diana Behler

metische Funktion der Kunst zu befördern, welche darin besteht, die ästhetische Darstellung an den Grund der Dinge heranzuführen. Rilke spricht eine solche gehobene mimetische Auffassung der Kunst treffend aus, wenn er schreibt: Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, Höchstens: Säule, Turm ... aber zu sagen, versteh's Zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. 17

Im Gegensatz dazu erscheint die Synästhesie andererseits als Zeichen einer skeptischen Kunstauffassung, als eine metonymische Bewegung von Metapher zu Metapher, ohne Boden und Ziel, als grundloses Gleiten ohne Zentrum und verbindlichen Referenzpunkt, wobei die Künstlichkeit der Sprache zum Vorschein kommt (Mallarme). Wie sofort ersichtlich ist, sind beide Auffassungsweisen für eine Interpretation Nietzsches und besonders der Geburt der Tragödie von Wichtigkeit. Andrei Bely erscheint dabei als ein Vertreter der ersten, auf einen verbindlichen Sinn ausgerichteten Form symbolistischen Synästhetisierens. F^r sah in Nietzsche eine verwandte Seele, die in sich beinahe alle philosophischen, ästhetischen und artistischen Schulen seiner Zeit vereinte. Bei diesem „Symbolisten und Propheten eines neuen Lebens" fand er noch besondere Anregungen für seine Polemik gegen die Massen und deren kulturelle Mittelmäßigkeit sowie für die Hervorhebung des schöpferischen Genies und Künstlers. 18 Bely und Iwanov suchten eine poetische Sprache zu entwickeln, die völlig von der vorherrschenden realistischen und moralistischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts verschieden war und im Gegensatz zu ihr Mythen und Symbole sowie die Synästhesie verwandte, um dem Unaussprechbaren Ausdruck zu verleihen. Die Wechselbeziehung von Sprache, Farbe, Ton und Musikalität durch Masken, Konfigurationen von Wörtern und neue sprachliche Zusammensetzungen wurde ein bedeutendes Mittel symbolistischen Ausdrucks, für das Vorbilder in Nietzsches Die Geburt der Tragödie gesehen wurden. Bely war vor allem an drei Aspekten in Nietzsches Schriften interessiert: 1) der Verwendung der Metaphern des Theaters und des Dramas zum Ausdruck des Zusammenpralls von Traum und Wirklichkeit, Form und Chaos; 2) dem Chor als Metapher der Massen im Gegensatz zu den indivi17 18

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, 9. Elegie. Virginia Bennett: „Esthetic Theories from The Birth of Tragedy in Andrei Bely's Critical Articles, 1904 — 1908", in: Nietzsche in Russia, hg. Bernice Glatzer Rosenthal, Princeton 1986, 161 — 179; S. 162. Siehe auch Maria Deppermann: „Nietzsche in Rußland", in: Niet^scheStudien 21 (1992) 211—252.

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der

Tragödie

137

duellen Schauspielern; und 3) Nietzsches Interpretation der M a s k e n als Ausdruck des Gegensatzes von Traum und Wirklichkeit. Bely bezog sich besonders auf die Unterscheidung des Dionysischen und Apollinischen, w o b e i ihn vor allem das Dionysische als Quelle symbolistischen A u s d r u c k s interessierte, weil es Lippen, Gesicht, Rede, Tanz, den ganzen K ö r p e r in rhythmische B e w e g u n g zu bringen v e r m a g . Hier erinnerte er sich zweifellos an den Abschnitt aus der Geburt der Tragödie·. S i n g e n d u n d t a n z e n d ä u ß e r t sich d e r M e n s c h als M i t g l i e d e i n e r h ö h e r e n G e m e i n s a m k e i t : er hat das G e h e n u n d S p r e c h e n v e r l e r n t u n d ist auf d e m W e g e , t a n z e n d in die L ü f t e e m p o r z u f l i e g e n . A u s seinen G e b ä r d e n spricht die V e r z a u b e r u n g . W i e jetzt die T h i e r c reden, u n d die E r d e M i l c h u n d H o n i g g i b t , so tönt a u c h aus i h m e t w a s U b e r n a t ü r l i c h e s ; als G o t t f ü h l t er sich, er selbst w a n d e l t jetzt so v e r z ü c k t u n d e r h a b e n , w i e er die G ö t t e r i m T r a u m e w a n d e l n sah. D e r M e n s c h ist nicht m e h r K ü n s t l e r , er ist K u n s t w e r k g e w o r d e n . . . ( G T 1; K S A 1, 30)

In der Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen sah Bely eine Distinktion zwischen einer rational-kognitiven und einer irrational-instinktmäßigen Kraft angelegt, die ihm z w e c k m ä ß i g erschien für sein Verständnis des Symbols als Vereinigung dieser beiden Aspekte. In seinem Essay Fenster auf die Zukunft schreibt er: W e n n ein S y m b o l zu e i n e r Idee e r h o b e n w e r d e n k a n n u n d ein Bild zu e i n e m S y m b o l , w e n n ein S y m b o l i m m e r die ä u ß e r l i c h e H ü l l e e i n e r Idee ist, d a n n ist im S y m b o l i s m u s das B a n d z w i s c h e n E r k e n n t n i s u n d I n t u i t i o n h e r g e stellt.'"

Indem Bely die i m a g i n a t i v e und spekulative Seite des Menschen dem Apollinischen und die Leidenschaften und Emotionen dem Dionysischen zuteilte, bestand er auf Grund dieser Dichotomie darauf, daß das „Wort des Bewußtseins Fleisch werden m u ß " und daß das Fleisch im Wort bestehe, dem Symbol des Schöpferischen und der wahren Natur der Dinge. Der Künstler soll mit dieser schöpferischen Wirklichkeit eins werden und selbst das Wort darstellen, das Fleisch g e w o r d e n ist. Offensichtlich bezog sich Bely auf die Stelle in der Geburt der Tragödie, w o es heißt: Im d i o n y s i s c h e n D i t h y r a m b u s w i r d der M e n s c h z u r h ö c h s t e n S t e i g e r u n g aller seiner s y m b o l i s c h e n F ä h i g k e i t e n gereizt; e t w a s N i e e m p f u n d e n e s d r ä n g t sich z u r A e u ß e r u n g , die V e r n i c h t u n g des S c h l e i e r s d e r M a j a , das E i n s s e i n als G e n i u s d e r G a t t u n g , ja d e r N a t u r . J e t z t soll sich das W e s e n d e r N a t u r s y m b o l i s c h a u s d r ü c k e n ; eine n e u e Welt der S y m b o l e ist n ö t h i g , e i n m a l die g a n z e leibliche S y m b o l i k , nicht n u r die S y m b o l i k des M u n d e s , des G e s i c h t s , des W o r t e s , s o n d e r n die volle, alle G l i e d e r r h y t h m i s c h b e w e g e n d e T a n z g e -

Nach Bennett, a. a. O., S. 167.

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Diana Behler bärde. S o d a n n w a c h s e n die a n d e r e n s y m b o l i s c h e n K r ä f t e , die der M u s i k , in R h y t h m i k , D y n a m i k und H a r m o n i e , plötzlich u n g e s t ü m . U m diese G e s a m t e n t f e s s e l u n g aller s y m b o l i s c h e n K ü n s t e zu fassen, m u ß der M e n s c h bereits a u f jener H ö h e der S e l b s t ä u ß e r u n g a n g e l a n g t sein, die in jenen K r ä f t e n sich s y m b o l i s c h a u s s p r e c h e n will: der d i t h y r a m b i s c h e D i o n y s u s d i e ner w i r d s o m i t n u r v o n Seinesgleichen v e r s t a n d e n ! M i t w e l c h e m E r s t a u n e n m u ß t e der apollinische G r i e c h e a u f ihn blicken! M i t einem E r s t a u n e n , das u m so g r ö ß e r war, als sich ihm das G r a u s e n beimischte, daß ihm jenes A l l e s d o c h eigentlich so f r e m d nicht sei, ja daß sein apollinisches B e w u ß t s e i n n u r w i e ein Schleier diese d i o n y s i s c h e W e l t v o r i h m v e r d e c k e . ( G T 2; K S A 1, 33f)

3. Sjnästhesie

bei

Nietzsche

Belys symbolistische Lektüre der Geburt der Tragödie vermittelt zweifellos interessante und historisch bedeutende Einsichten in Nietzsches frühes Werk, vor allem in der Hervorhebung der Synästhesie als Mittel, das Unaussprechbare zur Darstellung zu bringen. Im Ausgang von demselben Phänomen der synästhetischen Sprache möchte ich jedoch eine andere Lektüre der Geburt der Tragödie vorschlagen, die, was die Symbolisierung, die Darstellung des Unaussprechbaren, d. h. des Ur-Einen, anbetrifft, zu genau entgegengesetzten Resultaten führt und Nietzsche gleichzeitig enger mit dem Symbolismus eines Mallarme verknüpft, als dies bei Bely der Fall ist. Bereits Paul de Man hat gezeigt, daß der Text der Geburt der Tragödie in sich selbst eine Aufhebung des genetischen Schemas und der narrativen Struktur enthält, die er zum Ausdruck bringt. Anscheinend erlaubt die Polarität der Apollo/Dionysos-Dichotomie eine wohlgeordnete Teleologie, und darauf scheint die schriftstellerische Strategie von Anfang an angelegt zu sein. Zwar erscheint Dionysos als die privilegierte Figur des Textes, jedoch sind die drei von Dionysos, Apollo und Sokrates repräsentierten Seinsweisen in einer synchronischen Struktur immer gleichermaßen präsent, was es unmöglich macht, die eine Gestalt ohne die andere zu denken. Während also auf der Oberfläche des Narrativs eine „aufeinanderfolgende Art der Darstellung" vorherrscht, eine Teleologie, ein dualistisches Ineinanderspiel von Apollo und Dionysos, das Dionysos bevorzugt, entdeckt man in den Argumenten des Textes selbst eine Dekonstruktion der dionysischen Autorität. Während repräsentative Kunst ständig mit einem negativen Vorzeichen versehen ist und der Text das moderne Drama Lessings, seine hellenische Entsprechung in Euripides und jede Art von repräsentativer Musik als Zielscheibe der Polemik hat, ähnelt Die Geburt der Tragödie ja doch mehr dem, was die Schrift angreift, als dem, für was sie eintritt. De Man sagt dazu: „Eine intratextuelle Struktur innerhalb der umfassenderen Struktur des gan-

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der

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Tragödie

zen Textes unterminiert die Autorität der Stimme, auf welcher der Text basiert." 2 0 Es scheint, als ob die „ w a h r h a f t e " Bedeutung der Geburt der Tragödie der melozentrische Gott Dionysos sei, als ob alle Wahrheit auf Seiten des Dionysos läge. Wieso ist aber dann die apollinische Kunst nicht nur möglich, sondern sogar n o t w e n d i g ? De M a n fährt fort: „ J e d e r Leser der Geburt der Tragödie weiß, w i e der zerstörerische Charakter unvermittelter (direkt dargestellter) Wahrheit vermieden w i r d : anstatt direkt erfahren zu werden w i r d sie dargestellt. W i r werden durch die w e s e n s m ä ß i g e Theaterhaftigkeit der Kunst gerettet." 2 1 Deshalb m u ß jede anscheinend bestimmte, ausdrückliche Feststellung dieses Textes im Lichte seiner eigenen Theaterhaftigkeit gelesen werden. Die verführerische Macht des genetischen Narrativs, die in der rhetorischen Predigt ihre Komplizenschaft hat, m u ß eingesehen werden. Der berühmte Satz, daß „nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist" (GT, Vorrede 5; K S A 1, 17), drückt die beschützende Natur des apollinischen Momentes aus, insofern w i r von dem direkten Blick ins Licht geblendet w ü r d e n . Die apollinische M a s k e des Sophokleischen Helden heilt A u g e n , die von dem Blick in die Schrecken der Natur v e r w u n d e t sind. In Verbindung mit der Analyse de M a n s möchte ich verschiedene Abschnitte aus der Geburt der Tragödie untersuchen, in denen die Synästhesie als ein Darstellungsmittel v e r w a n d t wird, das im Sinne v o n nebeneinandergestellten, metonymischen Q u e r v e r b i n d u n g e n verfährt, ein grundloses Gleiten auf der Oberfläche darstellt, das aber nicht der Darstellung eines Prinzips dienen soll, nicht die Beziehung auf einen Grund oder einen letzten Sinn bezweckt. Hier ist allerdings schon die Konzeption von Sprache w i r k s a m , die zwei J a h r e später das T h e m a der kleinen Schrift Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne bildet ( K S A 1, 875 — 890). Synästhetische Metaphern dienen dazu, den Z u s a m m e n h a n g des apollinisch-dionysischen D u a l i s m u s zu unterminieren, den logo- oder melozentrischen Text zu dezentrieren und zu zeigen, daß die anscheinende Privilegierung der Musik g e g e n ü b e r d e m Wort durch die textuclle Theaterhaftigkeit der Geburt der Tragödie a u f g e h o b e n ist. Im Gegensatz zu der Annahme, daß die synästhetische Sprache die apollinische und dionysische Realität z u m Ausdruck bringt und zu einer H e r v o r h e bung der dionysischen Qualitäten führt, soll gezeigt werden, daß Nietzsches Gebrauch dieser Sprache eine solche Tendenz ausschließt. Mit der Verwend u n g von sinnlichen Bildern des Körpers, der B e w e g u n g , des Tanzes, der M u s i k , des Geruchs und der Verzückung zeigt die synästhetische Sprache nur, wie weit das Wort v o m „ D i n g an sich" getrennt ist. Während derartige

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Paul de Man: „Genesis and Genealogy (Nietzsche)", in: ders., Allegories Haven 1979, 7 9 - 1 0 2 , S. 83. a. a. Ο., S. 92.

of Reading,

New

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Diana Behler

Bezeichnungen die Imagination mit Bildern der Wirklichkeit anfüllen, können diese doch niemals irgendetwas Greifbares oder Ursprüngliches erfassen und gewiß nicht das Ur-Eine ausdrücken, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie als die Quelle aller schöpferischen Kunst preisen wollte. Während die synästhetische Sprache physische Realität, dionysische Raserei und musikalische Lebenskraft heraufbeschwört, bleibt sie im Bereich dessen, was Nietzsche seine „geschriebenen und gemalten Gedanken" genannt hat. 22 Wie die Musik nie den Willen zum Ausdruck bringen kann, so können Worte, wie vielfältig und konfigurativ sie auch gebraucht werden, nie die Wahrheit sagen. Die Sprache wird zum Beispiel im Lied zu ihren äußersten Möglichkeiten gebracht, so argumentiert Nietzsche, indem er Archilochus als den Anfang einer „neuen Welt der Poesie" in einen scharfen Kontrast zur Welt des Homer stellt. Er schreibt: „Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich" (GT 6; KS A 1, 49). Die lyrische Poesie wird gesehen als „nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen". Man möchte fragen, „als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?" Die Musik „erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauerschen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung" (a. a. O., 50). Um ihre Erscheinung aber in Bildern auszudrücken, benötigt der Dichter Leidenschaften, „vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns" (51); und so entsteht im Prozeß der lyrischen Schöpfung selbst, bei der Gestaltung der Musik durch Worte, ein Zusammenkommen von Wort, Bild, Leidenschaft und Wahnsinn. Von einem unmittelbaren Ausdruck des Willens, den Nietzsche als Kriterium der echten Kunst aufstellt, kann hier aber nicht die Rede sein. Wir werden gewahr, daß es keine wirkliche Duplizität, keinen Gegensatz von Wort und Musik gibt, ganz zu schweigen von einer Bevorzugung der Musik oder des Dionysos. Vielmehr sind Musik, Wille, Leidenschaft untrennbar verbunden mit dem Wort und dem Bild, verkörpert in ihnen. So wie Archilochus, der am nächsten beim Willen oder Ur-Einen haust, nicht wirklich Vermittler, sondern selbst ein Kunstwerk ist, d. h. immer noch an der Oberfläche bleibt, so spricht der lyrische Dichter stets im „Gleichnis" und nicht von der direkten Erfahrung dessen, was angeblich unter der Oberfläche des 22

J G B 296; KSA 5, 240: „Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: — aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussähet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner F.insamkeit, ihr meine alten geliebten — schlimmen Gedanken!"

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der Tragödie

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Gleichnisses liegt. Letztlich ist der D i c h t e r mit seinem eigenen Bild k o n f r o n tiert, seinem eigenem Bild „im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichnis, mit dem er die Musik sich deutet". Während er die Musik im Bilde des Willens interpretiert, bleibt er jedoch selbst von jeder Begierde frei und ist „reines ungetrübtes S o n n e n a u g e " (51). Aus diesem Grunde kann die Sprache die Musik nie nach außen kehren, sondern sie m u ß immer im Bereich der Bilder bleiben. M i t andern W o r t e n , ganz gleich wie sehr die synästhetischen E f f e k t e die Sinne und Leidenschaften erregen, um tieferen Z u g a n g zum K e r n der Wirklichkeit zu gewinnen, sie bleiben querverweisend im Netzwerk der Sprache.

Die

Beziehung des Symbols zum Symbolisierten ist dezentriert. Ferner, wie die Sprache bleibt unser Bewußtsein i m m e r auf der O b e r f l ä c h e und kann niemals bis unter die Haut reichen, kann auch niemals die K u n s t „wissen". In dem Abschnitt, welcher der ersten Feststellung von der ästhetischen Rechtfertigung des Lebens folgt, heißt es sogar, daß unser Bewußtsein von unserer eigenen Bedeutung demjenigen Wissen ähnelt, das „die auf Leinwand gemalten K r i e g e r von der auf ihr dargestellten Schlacht h a b e n " . Was wir von der K u n s t wissen, ist selbst „völlig illusorisch". D e r geniale K ü n s t l e r ist immer zugleich „ S c h ö p f e r und Zuschauer jener K u n s t k o m ö d i e " , gleich dem „unheimlichen Bild des M ä r c h e n s " , in dem sich „die Augen drehn und sich selber anschaun" können. E r ist „zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer". E b e n s o w e n i g wie die K u n s t zu „unsrer Besserung und B i l d u n g " aufgeführt wird, sind wir selbst die „eigentlichen S c h ö p f e r jener K u n s t w e l t " , denn wir sind selbst „schon Bilder und künstlerische P r o j e k t i o n e n " ( G T 5; K S A 1, 47f). An einer anderen Stelle beschreibt Nietzsche das enge Band, das unter Individuen besteht, die unter dem Zauber des Dionysischen stehen.

Hier

drückt er ebenfalls das, was offensichtlich musikalisch ist, in Bildern und Worten aus, wenn er sagt: „Man verwandele das B e e t h o v e n s c h e Jubellied der ,Freude' in ein G e m ä l d e und bleibe mit seiner E i n b i l d u n g s k r a f t nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen n ä h e r n . " In dieser Weltenharmonie fühlt sich ein jeder mit dem andern vereint. Aber dies ist ebenfalls eine Illusion, insofern Nietzsche mit der bedingenden subjektiven Feststellung fortfahrt „als o b der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen v o r dem geheimnisvollen UrEinen herumflattere". Solch ein Individuum drückt sich selbst „singend und tanzend" aus und hat vergessen, wie man geht und spricht. Kein K ü n s t l e r mehr, ist es zum K u n s t w e r k geworden, in dem sich das U r - E i n e „unter den Schauern des R a u s c h e s " offenbart. J e d o c h ist dieses menschliche Wesen auch als der „edelste T o n , der kostbarste M a r m o r " beschrieben, der geknetet und behauen ist ( G T 1; K S A 1, 19f). Während Nietzsche angeblich D i o n y s o s und

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Diana Behler

das Ur-Eine zur Schau stellt, verstärkt er in Wirklichkeit die Unmöglichkeit, durch den Schleier der Maja hindurchzudringen, und gibt zu, daß wie das menschliche Wesen aus Ton und Marmor besteht, der Stoff der Kunst kein dionysischer Wille ist.

4. „Versuch einer

Selbstkritik"

Im rückblickenden Versuch einer Selbstkritik beklagt Nietzsche den Stil seiner Schrift und, daß er bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage „was ist dionysisch?" kaum zwischen Mitteilen und Verbergen zu unterscheiden wußte und in einer fremdartigen Sprache stammelte. „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!" (GT, Vorrede 3; K S A 1, 15), ruft er aus. Als „Philologe und Mensch der Worte" hatte Nietzsche versucht, den dionysischen Gott unter der griechischen Heiterkeit aufzudecken. Doch von diesem späteren rückblickenden Standpunkt aus scheint alles Reden und alle Wahrheitssuche im Leben fehlschlagen zu müssen, „denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums" (18f). Deshalb fordert er seine Zuhörer in den abschließenden Worten des Nachworts auf, ihre Beine zum Tanzen zu erheben. Indem er ihnen die „Krone des Lachenden" zuwirft, ruft er aus: „lernt mir - lachen!" (22). Bei seinem immer wieder scheiternden Versuch, das Unausdrückbare zu vermitteln, nimmt Nietzsche wiederholt synästhetische Sprache zu Hilfe. Er beschreibt die dionysische Verzückung als eine Erscheinung, in der Schmerzen Lust erwecken, die „qualvolle Töne" der Brust entlockt, den „Schrei des Entsetzens", den „Klagelaut", aber auch „Gesang" und „Gebärdensprache" im Sinne des bereits zitierten Abschnitts über die „leibliche Symbolik" (GT 2; K S A 1, 33). Der Satyr des Chors, dieser „Schwärmer" ist „Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur". Diese lebendige Mauer gegenüber der „anstürmenden Wirklichkeit" ist jemand, der das Dasein „wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet" als jedes zivilisierte Wesen. Während Nietzsche beansprucht, daß die „Symbolik des Satyrchors" ein „Gleichnis" ist für „jenes Urverhältnis zwischen Ding an sich und Erscheinung", kommt er doch nie an das Ding an sich heran, das sich damit als ein rhetorisches Mittel herausstellt, ein intendiertes Substrat, welches dem verborgenen, widersprüchlichen Subtext der Geburt der Tragödie festere Form geben soll (GT 8; KSA 1, 58f). Anstelle der Schrift, die er später als „schlecht geschrieben, schwerfällig peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig" bezeichnet, „ohne Willen zur logischen Sauberkeit", mag Nietzsche ein Buch intendiert haben für „F^ingeweihte, als ,Musik' für Solche, die auf Musik getauft [sind]" (GT, Vorrede

Synästhesie in Nietzsches Die Geburt der

Tragödie

143

3; K S A 1, 14). Was hat aber „logische Sauberkeit" mit M u s i k zu tun? M a n wird sagen müssen, daß Nietzsches Symbolismus, sein synästhetischer Sprachgebrauch, die Vorstellung dezentriert, daß das S y m b o l je das von ihm Bezeichnete verkörpern könnte. Synästhesie erlaubt keinen Z u g a n g zur W i r k lichkeit, sie schwelt in Künstlichkeit, verweigert Tiefe sowie Z u g a n g zum Ur-Einen und beschützt das Leben mit einem Schleier von untereinander bezogenen Gegebenheiten, die sich gegenseitig entsprechen w i e Sinne und Haut. Was die Geburt der Tragödie durchzieht, ist Bildlichkeit, Differenz und Vielheit, nicht aber Einheit und Wesen. Nietzsche m a g in die Tiefen des Dionysischen geblickt haben, aber in den Brunnen der E w i g k e i t ist er nicht gefallen. Er schrieb in einem Stil, den Derrida „vielfach" genannt hat, oberflächlich, unwahr, verschleiernd und dissimulativ. 2 3 Er wandte sich an die A u g e n und Ohren seiner Zuhörer, aber w i r k t auf sie hauptsächlich durch Tonbildlichkeit, wobei Wagners Auffassung der „Tonsprache" als des „ursprünglichsten" A u d r u c k s des inneren Menschen, genauer: als des „unwillkürlichsten A u s d r u c k s des von Außen a n g e r e g t e n inneren G e f ü h l s " vor Augen geführt w i r d . 2 4 In diesem Z u s a m m e n h a n g spricht W a g n e r auch von den „Sprachwurzeln, aus deren F ü g u n g und Z u s a m m e n s t e l l u n g die ganze sinnliche Gebärde unserer unendlich verzweigten Wortsprache errichtet ist". 2 5 Schließlich ist das kritische Selbstbewußtsein Nietzsches in der Geburt der Tragödie selbst vorhanden, wenn er schreibt: W i r r e d e n ü b e r Poesie so abstract, w e i l w i r alle s c h l e c h t e D i c h t e r zu sein p f l e g e n . I m G r u n d e ist das ästhetische P h ä n o m e n e i n f a c h ; m a n h a b e n u r die F ä h i g k e i t , f o r t w ä h r e n d ein l e b e n d i g e s Spiel zu sehen u n d i m m e r f o r t v o n G e i s t e r s c h a a r e n u m r i n g t zu leben, so ist m a n D i c h t e r ; m a n f ü h l e n u r den Trieb, sich selbst zu v e r w a n d e l n u n d aus a n d e r e n L e i b e r n u n d Seelen h e r a u s z u r e d e n , so ist m a n D r a m a t i k e r . ( G T 8; K S A 1, 6 0 f )

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Jacques Derrida: liperons. Les- Styles de Nietzsche / Spurs. Nietzsches Styles, Chicago 1979, S. 119. Richard Wagner: Werke, hg. Dieter Borchmeyer, Bd. 6: Reformschriften 1849— 1852, Frankfurt am Main 1983, S. 91 ff. — Für Wagner ist die Tonsprache „Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst," wobei die Phantasie als vermittelndes Element erscheint. a. a. O., S. 220.

Am Anfang ist Musik Zur Musik- und Sprachsemiotik von

RUDOLF FIETZ,

des frühen

Nietzsche"1

Oldenburg

I. Die präsentische Gegenwendung zur johanneischen Formel im Titel dieses Beitrages markiert einen doppelten Anfang in Nietzsches Philosophieren: den publizistischen Einstand des jungen Baseler Professors wie den (Ab-)Grund seiner radikal antimetaphysischen Semiotik. Musik ist bei Nietzsche Anfang sowohl in werkbiographischer wie in sinnlogischer Hinsicht. Hinter diesen Anfang kommt er auch später nicht zurück. Das in den Frühschriften entwickelte Paradigma einer musikalischen Semiotik bleibt verbindlich für Inhalt und Form seines Philosophierens. Zugleich kommt die gesamte Philosophie der Moderne hinter diesen Anfang nicht zurück. Wo sie es dennoch versucht, verharrt sie im Schema der Metaphysik. Musik als Anfang — das ist ein anderer Anfang, ein Anfang, den es im metaphysischen Sinne nicht gibt, noch je gegeben hat. Mit der Musik als Anfang fängt ein anderes Philosophieren an. Vorbei jene Zeiten, als es, ganz anfänglich-präterital, einen verläßlichen, einen fundamentalen Anfang gab. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Das Wort war im Anfang und der Anfang war Wort, weil es gottliches Wort war, absolutes Signifikat, in dem alle Diskurse zentriert, alle Texte fundiert waren. Der Tod Gottes bringt alles in Bewegung. „Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: ,im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! und Gott (göttlich) war der Unsinn.'" (VM 22; KSA 2, S. 388) Wo das göttliche Signifikat als Sinnzentrum verschwunden ist, wo der Unsinn göttlich ist, da verliert der Text seinen Anfang, zersplittert in unermeßliche Pluralität, „rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten" (FW 125; KSA 3, S. 481). Es gibt keine Instanz mehr, die die Selbigkeit von Zeichen garantiert. Den Signifikanten fehlt fortan die Transparenz auf einen anfänglichen Sinn, sie verlieren ihr absolutes Verankerungszentrum und ge' Die hier vorgetragenen Gedanken werden ausführlicher und in einem gröiSeren Zusammenhang entwickelt in: R. Fietz: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992.

A m Anfang ist Musik

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raten in Fluß. Nietzsches Formel dafür: Musik, „die universal vorwortliche Sprache" (IV 12 [24]; KSA 8, S. 260). Der folgende Text ist in vier Abschnitte unterteilt. Einer kurzen Skizze der Musikästhetik Schopenhauers und Wagners als der direkten Vorbilder Nietzsches (II) folgt die Darstellung seiner Musiksemiotik in den frühen Schriften und Fragmenten bis zur Geburt der Tragödie (III). Ausgewählte Kategorien der Zeichentheorie Nelson Goodmans tragen zur terminologischen Präzisierung von Nietzsches Musiksemiotik bei (IV). Die abschließende Interpretation eines Abschnitts aus dem 1870 verfaßten Text Die dionysische Weltanschauung verdeutlicht, inwiefern Nietzsches an der Musik entwickelte Semiotik bestimmend bleibt für seine Semiotik der Sprache (V).

II. Nietzsches literarischer Anfang ist nicht voraussetzungslos, kann es nicht sein. „Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung: selbst das was uns zu diesem angeblichen ,Anfang' trieb, ist Wirkung und Resultat des Vorhergehenden." (IV 5 [1]; KSA 8, S. 41). Ein Text ist kein Anfang. Er verweist auf andere Texte, die auf andere Texte verweisen, und so weiter. Einen ersten Text gibt es nicht. Immer schon haben andere geschrieben, wenn wir zu schreiben anfangen. Nietzsche hat sich und seinen Lesern nichts vorgemacht. Sein Bekenntnis zu den selbstgewählten Vorbildern und ,Lehrern' ist öffentlich genug, als daß es hierüber Mißverständnisse geben konnte. Die Philosophie Schopenhauers sowie die Musikästhetik des späten, selbst auf Schopenhauer sich berufenden Wagner sind die Vorgaben, an denen er seine eigene Musikauffassung in den frühen Schriften bis zur Geburt der Tragödie orientiert. Schopenhauer hat der Musik innerhalb seiner Zwei-Welten-Philosophie einen exklusiven Ort zugewiesen. Während die sprachlich formierte Erkenntnis auf die sekundäre, Objekt gewordene Welt der 1Vorstellungen bezogen bleibt, haben die Zeichenformationen der verschiedenen Künste einen Bezug zu jenem unerkennbaren Willen, „wovon alle Vorstellung, alles Objekt die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektivität ist" (WV 1, S. 170). 2 Alle nicht-musikalischen Künste allerdings bleiben über das Mittelglied der Idee, einer kategorial nicht reglementierten Form der Anschauung, auf den Willen bezogen. Nicht zufällig partizipiert die Idee, die „möglichst adäquate Objektivität des Willens oder Dinges an sich" (WV 1, S. 253), am metaphysischen Paradigma der Sichtbarkeit. Ganz anders die Musik: als einzige der Künste 2

A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1.2 ( = W V 1 u. 2), in: Sämtliche Werke. Bd. 1.2, textkritisch bearb. u. hg. v. W. Frhr. von I.öhneysen, Darmstadt 1980 — 1982.

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Rudolf Fietz

ist sie „unmittelbar Abbild 3 des Willens selbst" (WV 1, S. 366; GT 16; KSA 1, S. 106). 4 Insofern sie nicht länger vom „Schatten", sondern vom „Wesen" redet (WV 1, S. 359), ist die Musik die am wenigsten defizitäre und entstellte, folglich die „im höchsten Grad allgemeine Sprache" (WV 1, S. 365; GT a. a. O., S. 105). Von der konzeptualisierten Wortsprache unterscheidet die musikalische Tonsprache sich darin, daß „die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahierten Formen, gleichsam die abgezogene äußere Schale der Dinge enthalten, [...] die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern oder das Herz der Dinge gibt" (WV 1, S. 367; GT a. a. O., S. 106). Die apriorische Allgemeinheit der Musik kann, da sie ,aller Gestaltung vorhergeht', keine inhaltlich bestimmbare Entität sein. Sie ist eine „Allgemeinheit bloßer Form" (WV 1, S. 366 u. 367; GT ebd.), gleichwohl „verbunden mit durchgängiger, deutlicher Bestimmtheit" (WV 1, S. 365; GT a. a. O., S. 105). Als zwar unbegriffliche (unbegreifliche) und doch „ganz allgemeine Sprache" (WV 1, S. 357) ist die Musik „so ganz verständlich und doch so unerklärlich" (WV 1, S. 368): intuitiv verständlich, da sie „auf den Willen, d.i. Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers unmittelbar einwirkt" (WV 2, S. 574); unerklärlich, da jede Erklärung auf die begriffliche Wortsprache angewiesen ist, die, selbst der Erscheinungswelt zugehörig, unmöglich über das aller Erscheinung Vorausliegende zu reden vermag. Zwischen Musik und Wortsprache besteht demnach ein streng hierarchisches Verhältnis, was ihre Verbindung zu einem höchst zweifelhaften Experiment werden läßt. Schopenhauer hat sich hierüber unmißverständlich mitgeteilt. Der Gesang in Lied und Oper wirkt, wo die Musik ,richtig' verstanden wird, allein durch seine Tonalität. Die menschliche Stimme ist „ursprünglich und wesentlich nichts anderes als ein modifizierter Ton" und wird wie ein Instrument behandelt. „Die Worte sind und bleiben für die Musik eine fremde Zugabe von untergeordnetem Werte, da die Wirkung der Töne ungleich mächtiger, unfehlbarer und schneller ist als die der Worte: diese müssen daher, wenn sie der Musik einverleibt werden, doch nur eine völlig untergeordnete Stelle einnehmen und sich ganz nach jener fügen." (WV 2, S. 575). „W hat mir vor ein paar Tagen ein wundervolles Manuskript zugeschickt ,Beethoven' betitelt. Hier haben wir eine tiefe Philosophie der Musik im strengen Anschluß an Schopenhauer." (KSB 3, S. 154 [Nr. 107]) So

3

4

Passend wäre es gewesen, Schopenhauer hätte die traditionelle optische Metaphorik gemieden und die mimetische Funktion der Musik mit einer Metapher aus dem Bereich der Akustik beschrieben. An entscheidender Stelle in der Geburt der Tragödie zitiert Nietzsche eine lange Passage aus dem 1. Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (GT 16; KSA 1, S. 105 ff; vgl. W V 1, S. 365 — 368). Für Zitate aus diesem Textstück wird auch die Referenzstelle bei Nietzsche angegeben.

147

Am Anfang ist Musik

Nietzsches erster Eindruck von jener Wagner-Schrift, die in der Entstehungsgeschichte seiner Geburt der Tragödie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Kein Zweifel, Nietzsche hat richtig gelesen. Bis ins Detail adaptiert Wagner Schopenhauers Musikästhetik, was hier nicht belegt werden kann. Daß Wagner jedoch mit seinem Beethoven in einen nicht auflösbaren Widerspruch zu einem zentralen Lehrsatz seiner 1851 erschienenen Schrift Oper und gerät, verschweigt der frühe Nietzsche — noch. In Oper und Drama

Drama

nämlich,

der ersten theoretischen Legitimation seines Musikdramas, proklamiert Wagner noch ungeniert die gegenüber dem sprachlich-szenischem Drama bloß dienende Funktion der Musik. Musik, so die oft zitierte Formel, sei „ein Mittel", das Drama „der Zweck des Ausdruckes". 5 Nach seiner Konversion zu Schopenhauer steht Wagner dann vor dem Problem, sein Musikdrama mit Hilfe einer Musikästhetik legitimieren zu müssen, die dieses Musikdrama gerade in Frage stellt. Das Mittel soll jetzt Zweck werden. Die Musik soll souverän sein, unbedürftig jeder semantischen Stütze durch das Wort. Hatte Wagner etwa in Oper und Drama das Chorfinale von Beethovens 9. Sinfonie als Meilenstein zu seinem eigenen Musikdrama gefeiert, insofern Beethoven hier das ganz unbestimmte Ausdrucksvermögen der sinfonischen Musik an einen bestimmten dichterischen Inhalt zurückgebunden habe, so läßt er in der Beethoven-Schrift

in strengem Anschluß an Schopenhauer Schillers Gedicht

nur noch als Tonmaterial für die instrumental eingesetzten menschlichen Stimmen gelten. Im sinfonischen Gesang gehe es nicht mehr um den „Sinn des Wortes", sondern ausschließlich um den „Charakter" der Stimme. „Auch die in Schiller's Versen ausgesprochenen Gedanken sind es nicht, welche uns fortan beschäftigen, sondern der trauliche Klang des Chorgesanges". 6 Den durch Schopenhauer motivierten Bruch in seiner Musikästhetik, der die Wagner-Forschung bis heute beschäftigt, hat Wagner selbst jederzeit vertuscht. Wie er trotz der gegenüber seinem früheren Konzept fundamentalen Aufwertung der instrumentalen Orchestermelodie seine musikdramatischen Kompositionen ästhetisch zu retten versucht, kann hier nicht verfolgt werden. 7 Stattdessen soll auf eine Formel im musiktheoretischen Diskurs Schopenhauers und Wagners geachtet werden, von der aus auch dem MusikR.Wagner: Oper und Drama, in: Gesammelte Schriften, hg. v. J . Kapp, Leipzig o.J. (1914), Bd. 11, S. 21. r' R.Wagner: Beethoven, in: a. a. 0., Bd. 8, S. 184. 7 Wagner sucht einen Ausweg zum einen in der Trennung und Hierarchisierung der beiden Bestandteile des Dramas, wortsprachlicher Text und szenische Handlung (der Text ist nicht länger Träger der Szene, sondern ihr untergerordneter sprachlicher Bestandteil), zum anderen in der ästhetischen Verflüchtigung des realen Bühnengeschehens zu einem Phantasieprodukt des Musikhörenden. 5

148

Rudolf Fietz

Verständnis des frühen Nietzsche auf die Spur zu kommen ist. Wie selbstverständlich reden sowohl Schopenhauer als auch Wagner von der Musik als einer Sprache. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist, wie ein Blick in die Geschichte der Musiktheorie zeigt, noch ganz jungen Datums. Paradoxerweise diente die Erfindung der Formel von der Musik als einer Tonsprache seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu, die Instrumentalmusik ästhetisch zu begründen. Rein instrumentell erzeugte Musik sollte von dem Verdacht befreit werden, leeres, nichtssagendes Geräusch zu sein. Ihre Trennung von der Wortsprache gelang nur dadurch, daß sie selbst als Sprache gerechtfertigt war, d. h. indem ihr genau jene Eigenschaft zugesprochen wurde, deren Fehlen im ästhetischen Kontext der Zeit als Makel und Mangel galt: Bedeutung. Damit änderte sich zwangsläufig das Verhältnis von Musik und Wortsprache selbst. Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein galt die Wortsprache „nicht als ,außermusikalisches' Moment, das zur eigentlichen' Musik hinzukommt, sondern gehörte zur Substanz des Musikbegriffs. Und die Instrumentalmusik erschien [...] als Schatten und defizienter Modus der Vokalmusik." 8 Paradigma der Musik war die italienische Oper, die in dieser Funktion erst um die Jahrhundertwende von Beethovens Sinfonie abgelöst wurde. Wo im ästhetischen Diskurs von Musik schlechthin die Rede ist, stellt sich erst im Anschluß an Ε. T. A. Hoffmann die Assoziation an die (sinfonische) Instrumentalmusik ein. 9 Schopenhauer, der die exzeptionelle Stellung der Musik, getrennt von Text und szenischer Aktion, philosophisch fundiert, steht mithin ganz in dieser noch jungen Tradition romantischer Musikästhetik. Was vordem als (durch den sprachlichen Text) auszugleichender Mangel der Musik galt, wird jetzt zum Garanten ihrer ästhetischen Souveränität. Gerade weil die Musik sich aus der engen wortsprachlichen Instrumentalisierung löst, vermag sie von einem Jenseits der Sprache zu ,sprechen'. Die Charakterisierung der Musik als einer Sprache meint darum, zumindest bei Schopenhauer, gerade nicht ihre Identifizierung mit der Sprache. Die musikalische Tonsprache ,spricht' von einem ganz anderen, der Wortsprache gänzlich Unerreichbaren. Von begriffssprachlicher Bedeutung ist das musikalische Bedeuten für Schopenhauer so verschieden wie die Welt als Wille von der Welt als Erscheinung.

8

9

C. Dahlhaus: „Thesen über Programmusik", in: Beiträge %ur musikalischen Hermeneutik, hg. v. C. Dahlhaus, Regensburg 1975, S. 197. Vgl. E.T. A. Hoffmann: Schriften \ur Musik, München 1963, S. 34: „Wenn von der Musik als einer selbstständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer andern Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht."

Am Anfang ist Musik

149

III.

M u s i k , eine andere Sprache. Welche A r t , S p r a c h e ' kann das sein? Inwiefern v e r m a g die M u s i k von einem ,anderen' zu sprechen? Diese Fragen führen direkt an den A n f a n g von Nietzschcs Philosophieren. 1 0 Auf den ersten Blick erscheint die M u s i k a u f f a s s u n g Nietzsches w e n i g originell. Einige charakteristische W e n d u n g e n aus den frühen Schriften g e n ü g e n , u m die geistige und sprachliche Herkunft von Schopenhauer und W a g n e r zu belegen. Auch Nietzsche benutzt die Tonsprachenformel, scheinbar selbstverständlich. M u s i k ist ihm „die Sprache des Willens unmittelbar", unvermittelter Ausdruck der „dionysischen Allgemeinheit" ( G T 16; K S A 1, S. 107). Als direkte Präsentation des Willens ist sie universale „Weltsymbolik" ( G T 6; K S A 1, S. 51) und als solche „durchaus und jedermann verständlich" (III 1 [49]; K S A 7, S. 23). Musik ist die „wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht" ( G M D ; K S A 1, S. 529). Ausgezeichnet durch „ungeheuerstef ] Allgemeinheit und A l l g ü l t i g k e i t " ( G T 6; K S A 1, S. 51) läßt sie „das gleichnissartige Bild [der dionysischen Allgemeinheit] in höchster Bedeutsamkeit hervortreten" ( G T 16; K S A 1, S. 107). „Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist." (III 2 [10]; K S A 7, S. 47) Als „die Sprache des Willens unmittelbar" ( G T 16; K S A 1, S. 107) steht die Musik nicht in einem Abbildverhältnis zur Erscheinungswelt, d. h. sie denotiert nicht Objekte der Realität. 1 1 Der musikalische Ton „gehört nicht der Erscheinungswelt an, sondern redet von dem Nieerscheinenden, e w i g verständlich. Er verbindet, während das A u g e trennt." (III 16 [13]; K S A 7, S. 397) 1 2 Musikalische Töne können nicht Kodifikationen von Signifikaten

"' Wenn im folgenden die Musikästhetik des frühen Nietzsche aus seinen Schriften und Fragmenten bis zur Geburt der Tragödie rekonstruiert wird, kann auf eine chronologische Differenzierung innerhalb dieser recht kurzen Zeitspanne verzichtet werden. Eine Chronologisierung müßte vor allem dem frühen Vortrag Das griechische Musikdrama (GMD; KSA 1, S. 515 — 532) eine Sonderstellung einräumen, insofern Nietzsche sich hier unverkennbar an den frühen, von Schopenhauer noch nicht beeinflußten Wagner hält. Danach ist die Musikauffassung des jungen Nietzsche, infolge der durchgehaltenen Orientierung an Schopenhauer, relativ homogen. " Hierunter fallen auch die in der musikthcoretischen Debatte des 19. Jahrhunderts immer wieder postulierten Denotate der musikalischen Tonsprache, die Gefühle. Nietzsche: es ist „der Musik völlig versagt [...], Gefühle darzustellen, Gefühle zum Gegenstand zu haben, während der Wille ihr einziger Gegenstand ist"; „nämlich der Wille in seiner allergrößten Allgemeinheit, als die ursprünglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehen ist" (III 12 [1]; KSA 7, S. 365 u. 364). 12 Die Musik wird aus diesem Grund auch mit der Nacht assoziiert, in der alle Trennungen und Begrenzungen verschwinden (vgl. den späteren Aphorismus „Nacht und Musik" — Μ 250; KSA 3, S. 205). Ist das Ohr somit das Organ für das Nächtlich-Dynamische, so das Auge das für das Lichte-Statische. Bereits im Frühjahr 1869 korreliert Nietzsche den Dualismus von Zeit (Nacheinander) und Raum (Nebeneinander) mit dem von Wille und Vor-

150

R u d o l f Fietz

sein, da v o n solchen nur im Hinblick auf die D e n o t a t e der Erscheinungswelt sinnvoll gesprochen werden kann. Musik ist folglich ,wahr' in einer dem Gegensatz von Wahrheit und L ü g e , der ebenfalls in die Welt der Erscheinungen gehört, vorgängigen Weise. Sie kann n i c h t , l ü g e n ' , da sie n i c h t , e t w a s ' sagt, ihre Zeichen nicht zu Begriffen verkürzt. D i e „wahre allgemeine Sprache, die man überall v e r s t e h t " ( G M D ; K S A 1, 528), das ist reine bewegte Signifikanz,

die

nicht

aufgeht

in

kodifizierte

Bedeutung.

Die

„unver-

g l e i c h l i c h e ) Reinheit Bewegtheit G l u t h die kindliche Unmittelbarkeit, der völlige Mangel der Verstellung, die Abwesenheit der Convention das ist der Musik eigen, nicht den andern K ü n s t e n , die eben der Erscheinungswelt als Abbilder zu nahe s t e h e n " ( I V 12 [24]; K S A 8, S. 262). S o schreibt Nietzsche in eben jenem F r a g m e n t , dem bereits das programmatische Zitat von der Musik als einer „universal vorwortlichefn] S p r a c h e " (α. α. Ο., S. 260) entnommen ist. Musik ist Sprache vor der Wortsprache. Während in letzterer die Signifikantenbewegung in bestimmten Wort-Signifikaten arretiert, bleibt sie in der Musik vor-wortliches, d. h. nicht in konventioneller Bedeutung sich feststellendes Spiel. „ E s giebt die Musik, welche dies erklärt: wie alles nur Spiel, im G r u n d e nur Seligkeit sein k a n n . " ( I I I 34 [32]; K S A 7, S. 802) Seligkeit und Spiel können

nur da sich einstellen, w o es nicht

um

Bedeutungen, nicht um Repräsentation und K o m m u n i k a t i o n bestimmter Inhalte geht. W o Bedeutungen sind, da ist notwendig Partikulation und Dissens. J e d e r K o d e ist exklusiv. Das begriffliche Verständnis schließt alle aus, die den K o d e nicht beherrschen, unter den übrigen bleibt es strittig. E s gibt keinen universal verständlichen K o d e . Nietzsches Rede von der Musik als einer vorwortlich allgemeinen und verständlichen Sprache kann daher nicht meinen, daß alle Rezipienten nach demselben Regelapparat ( K o d e ) entschlüsseln und alle solchermaßen zu identischen Signifikaten gelangen. V i e l m e h r ist die musikalische .Sprache' gerade wegen des Fehlens einer verbindlichen K o d i e r u n g offen für je eigene, individuelle Rezeptionsvollzüge. ,Allgemein' heißt demnach nicht a l l g e m e i n v e r b i n d l i c h ' im Sinne eines doktrinären Re-

stellung, bzw. Ton und Bild. „Das Nacheinander drückt den Willen aus, das Nebeneinander das Beruhen im A n s c h a u e n . " ( I I I 1 [53]; K S A 7, S. 26) Die apollinische Erscheinungswelt ist die Welt des Auges. Sie bedarf des Lichtes, das den D i n g e n Konturen gibt, sie räumlich gegeneinander begrenzt. Musik dagegen, das „reine Nacheinander" (ebd.) erstreckt sich in der Zeit. Zu ihrer Wahrnehmung bedarf es keines Lichts. D e r musikalische Ton „verbindet", insofern keine scharfe Grenze zum vorausgehenden und nachfolgenden Ton gezogen werden kann. Eine „wirkliche Verwirrung von Kunstprincipien" liegt daher für Nietzsche vor, wenn man „die Gesetze für das Nebeneinander auf das Nacheinander anwendet", also ζ. B. ein Musikstück „überschauen" (ebd.) will. — D i e verschiedene Art der Zeichenorganisation (Nacheinander — Nebeneinander) sowie der entsprechende Kontrast der Sinnesorgane (Ohr — Auge) und -Wahrnehmungen (akustisch — optisch) spielen eine ganz entscheidende Rolle in Nietzsches medienphilosophischem Diskurs über Musik, Sprache und Schrift.

Am Anfang ist Musik

151

gelmechanismus, sondern meint die Möglichkeit eines freien, unmittelbaren und unreglementierten Zugangs für einen jeden. Die Rede von der Bedeutsamkeit der Musik, der Möglichkeit ihrer „unendlichen Verdeutlichung" (III 2[10]; KSA 7, S. 47), zielt nicht auf die Erstarrung der musikalischen TonSignifikanten in bestimmten Signifikaten als Gegenständen deutlichen Wissens, meint also nicht die logisch explizierbare Deutlichkeit des sprachlichen Begriffs. Eine Musik, die zu solcher Bedeutsamkeit tendiert, ist für Nietzsche nicht mehr wirkliche, nicht mehr dionysische Musik, sie ist „Tonmalerei" (GT 17; KSA 1, S. 112). Als solche kann sie nicht länger Präsentation der Welt als Wille sein, sondern ist „zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst" {ebd.). Tonmalerei ist eine schlechte Reduktionsform von Musik. Der sinnliche Eigenwert der musikalischen Signifikanz tritt zurück zugunsten der von ihr bedeuteten Signifikate. Musik wird vereinnahmt für eine ganz und gar unmusikalische Semantik, sie gibt ihren Status als „universal vorwortliche Sprache" auf und wird selbst zu einer Art Begriffssprache. 13 Musik ist ein syntaktisches Gefüge ohne kodifizierte semantische Dimension. Keinem Ton und keiner Tonfolge kann eine feststellbare und identifizierbare Bedeutung zugeordnet werden. Damit ist keineswegs der Asemantizität von Musik das Wort geredet, nur kann eine musikalische Semantik nicht nach dem Muster einer denotativen bzw. repräsentativen Wortsemantik konzipiert werden. Erst in ihrer vorwortlichen Universalität, in ihrer Gesamtheit als Beziehungsgefüge wird Musik bedeutend, wird sie „Symbol" des Weltwillens. „Der Wille und sein Symbol — die Harmonie — beide im letzten Grunde die reine Logik}." (DW 4; KSA 1, S. 574) Bezeichnend, daß Nietzsche das spezifisch Dionysische der Musik in der Harmonie ortet. Denn wie die Elemente der Logik nicht denotations-semantisch, d. h. durch Zuordnung von Signifikaten, definiert sind, sondern rein syntaktisch, durch das differentielle Spiel der (leeren) Signifikanten unter- und gegeneinander, so ist auch " Das ist der Punkt, an dem Nietzsches Kritik an der Oper ansetzt. „Die Musik recht eigentlich Sprache des Allgemeinen. In der Oper wurde sie zur Symbolik des Begriffes gebraucht. Dies setzt voraus einen großen Reichthum von gebräuchlichen, sofort verständlichen d. h. begrifflich verständlichen Formen. / Hier ist die Gefahr da, daß alles auf den Begriffsinhalt ankommt und die Musikform selbst zu Grunde geht. In sofern ist der Begriff der Tod der Kunst, als er sie zum Symbol herabzieht." (III 9 [88]; KSA 7, S. 306) — Auch der spätere Dissens mit Wagner ist hier im Keim angelegt. Nietzsche wird auch beim Musikdrama die Unterordnung der Musik unter das wortsprachliche Bedeuten kritisieren. Solange er in seinen frühen Texten Wagners Musikdrama huldigt, legitimiert er die Affirmation bezeichnenderweise damit, daß er das Musikdrama von der Oper absetzt und der Sinfonie annähert. „Wagner strebt unbewußt eine Kunstform an, in der das Urübel der Oper überwunden ist: nämlich die allergrösste Symphonie·, deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch eine Handlung versinnlicht werden kann. Nicht als Sprache, sondern als Musik ist seine Musik ein ungeheurer Fortschritt." (III 9 [1351; K S A 7, S. 323 f.)

152

R u d o l f Pietz

die Harmonie nicht durch die physikalische Substantialität und Identität der Töne, sondern durch deren formales Verhältnis zueinander charakterisiert. Anders aber als in der musikalischen Harmonie ist das differentielle Spiel in der Logik zum vorläufigen Stillstand gekommen. Eine logische Formel artikuliert zwar ein reines Beziehungsgefüge ohne semantische Füllung, aber eines, das zum stummen 14 Imperativischen Gesetz geworden ist. Die Signifikanten der Logik sind zwar ,leer', aber doch bestimmt, d. h. nur durch exakt bestimmbare Inhalte zu besetzen. Das logische Beziehungsgefüge ist kristallin, d. h. gleichermaßen fest wie durchsichtig, die Syntax der Musik dagegen bleibt opak. Musik ist tönende Form, deren Elemente in ständiger hitziger Bewegung sind und nie in bestimmter oder bestimmbarer Position sich fixieren lassen, eine dynamische, im unendlichen Spiel der Differenz sich je neu konstituierende und destruierende Totalität. Als dynamische Signifikanz kann Musik ,Abbild' der aller Erscheinung vorausliegenden dionysischen Allgemeinheit, des Willen oder „Ur-Einen" sein, da dieses selbst nicht als Fülle des Seins, als Präsenz und Substanz gedacht ist. Das Ur-Eine ist kein Zentrum, ist nicht unterschiedsloses Eines, sondern trägt den Widerspruch in sich, es ,ist' Widerspruch, Streit, Unterschied, Differenz, von sich selbst getrennt und gespalten. Nietzsche spaltet auch den Namen, der kein Name mehr ist, da er auf kein identisch Seiendes mehr verweist: Ur-Eines. Der Binde- bzw. Trenn-Strich spaltet die Fülle des Seins, markiert die Leere, die Abwesenheit, den Mangel auf seinem Grund. Am Anfang ist die Differenz. „Wenn das Ur-Eine den Schein [die empirische Realität] braucht, so ist sein Wesen der Widerspruch." (III 7 [152J; KSA 7, S. 198). „Das Leid, die Sehnsucht, der Mangel als Urquell der Dinge." (III 7 [165]; KSA 7, S. 202) Das Ur-Eine als Mangel und Widerspruch liegt ,vor' aller Erscheinungswelt, ist Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen überhaupt, insofern diese erst durch gegenseitige Differenzierung als Erscheinungen sich konstituieren. Etwas ,ist' nur durch den Mangel, der die Spur seines ,Dazwischen' durch Seiendes zieht und es solchermaßen sein läßt. Von der metaphysisch-hierarchischen Opposition zwischen Ding-an-sich und Erscheinung ist hier insofern nicht mehr die Rede, als es nicht ein vor aller Erscheinung seiender Grund ist, der da erscheint. Die Erscheinung ist nicht die Erscheinung von ,etwas'. Der Grund ,ist' der innerhalb der Erscheinungswelt (nicht seiende, sondern) wirkende Abgrund, der das Sein (der Erscheinungen) allererst stiftet. Der Wille ist „nicht nur leidend, sondern gebärend". Sein ,Sein' ist Wirken. In der fortwährenden ,Geburt' der E,rscheinungswelt wirkt

M

Historische V o r a u s s e t z u n g der L o g i k ist die Schrift. Allein der optisch rezipierbare SchriftS i g n i f i k a n t verspricht eine Identität in der Zeit, die d e m f l ü c h t i g e n Ton nie hätte a n v e r t r a u t werden können.

A m A n f a n g ist iMusik

153

er als jene entscheidende Differenz, als jener leere, nicht-seiende Punkt und

„kleinste/ / Moment: der als das Nichtreale

auch der Nicht eine, der Nichtseiende,

sondern Werdende ist." (III 7 [168]; KSA 7, S. 204) Werden beschreibt Nietzsche an anderer Stelle als „ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit" (CV 3; K S A 1, S. 768). Der Widerspruch (das Ur-Eine) ist Werden und das Werden ist Wirken, insofern die u r s p r ü n g l i c h e ' Differenz sich zwischen je zwei beliebig kleine Zeitmomente bohrt und sie zur Nicht-Identität verhält. „Nehmen wir das Wirkende in der Zeit, so ist das in jedem kleinsten Zeitmomente Wirkende ein Verschiedenes." (III 26 [12]; K S A 7, S. 575); „nur absolut veränderliche Kräfte können wirken, solche die keinen Augenblick dieselben sind" (α. α. Ο., 578). Der Wille (das Ur-Eine) ,ist' somit nicht die eine Ur-Sache, sondern Ur-Wirken, nicht Seiendes, sondern Werden, das Seiendes erst hervorbringt, ein asubstantieller leerer Punkt, der sich fortwährend in jene Lücke entzieht, die Substanzen gegeneinander sich profilieren und dadurch sein läßt. Gerade indem er sich von der Erscheinungswelt ständig in Abzug bringt, ermöglicht er diese Welt; indem er als persistierender Entzug das schlechthin Unbestimmbare bleibt, gewährt er die Bestimmbarkeit (von Dingen). Die Geburt der empirischen Welt aus dem werdend-wirkenden Widerspruch versteht Nietzsche als künstlerischen Urprozeß. Hin Naturschönes giebt es nicht. Wohl aber das Störende-Häßliche und ein indifferenter Punkt. M a n denke an die Realität der Dissonanz g e g e n ü b e r der Idealität der Konsonanz. P r o d u k t i v ist also der Schmerz, der als verw a n d t e G e g e n f a r b e das Schöne erzeugt — aus jenem indifferenten Punkte. [ . . . ] Was ist das Wesen noch in jenen Indifferenzpunkten? (III 7 [116]; K S A 7, S. 164 f.)

,ReaF, weil wirkend, ist die Dissonanz, das Störende-Häßliche, der indifferente Punkt: das, was sich nicht auf eine letzte beruhigende Konsonanz und substantielle Einheit reduzieren und feststellen läßt, was alle Konsonanz und Einheit durchkreuzt und in diesem Durchkreuzen zugleich „erzeugt — aus jenem indifferenten Punkte". Der indifferente Punkt: das ist der insignifikative Ort des Widerspruchs, der Differenz ,selbst', das, was nicht wieder differentiell zu fixieren ist, sondern alle Fixierung, Einheit, Bedeutung zugleich ermöglicht und immer wieder destabilisiert. „Was ist das Wesen noch in jenen Indifferenzpunkten?" Nichts: denn das ,Wesen' ist Ergebnis des Spiels der Differenz. Die Indifferenzpunkte sind Bedingung der Möglichkeit von ,Wesen'. Die unaufhörliche Bewegung der Differenz ist der schöpferische Urprozeß, den der Mensch im künstlerischen Schaffen wiederholt. Auch das Kunstwerk, das „wahrhaft Nichtseiende" (III 7 [157]; K S A 7, S. 200), weil immerzu Werdende, hat seinen leeren, „negativen Ursprung" in „jenem indifferenten Punkt" (III 7 [117]; KSA 7, S. 165).

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Das Leidende, Kämpfende, sich Zerreißende ist immer nur der eine Wille: er ist der vollkommene Widerspruch als Urgrund des Daseins. [...] / Das Kunstwerk f...] ist eine Wiederholung des Urpro^esses, aus dem die Welt entstanden ist, gleichsam ein Wellenring in der Welle, {ebd.)

Der Urprozeß, die produktive, Gestalten generierende Bewegung am negativen Ursprung der Welt ist musikalische Bewegung. (Nicht zufällig greift Nietzsche zur Beschreibung dieses Prozesses auf die musiktheoretischen Termini ,Dissonanz' und ,Konsonanz' zurück.) Die Musik als freies Signifikantenspiel ist eine Wiederholung dieses Urprozesses und kann daher „wahre allgemeine Sprache" des Urgrundes der Welt sein. Sie ,spricht' aus diesem Urgrund, von dieser differentiellen Bewegung vor aller Erscheinungswelt (her). Sie bringt ,zur Sprache', was Sprache verheimlicht, sie hebt an, wo die Sprache (sich) versagt. Sprache ist Produkt der ursprünglichen differentiellen (musikalischen) Bewegung. Sie gehört der Erscheinungswelt an, kann folglich nicht von dem (her) reden, was ihr vorausgeht, was nicht Erscheinung ist. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik. (GT 6; KSA 1, S. 51)

IV. Obwohl Nietzsche auf dem qualitativen Unterschied von Musik und Wortsprache insistiert, hört er nicht auf, von der Musik als einer Sprache zu reden. Ganz offensichtlich mangelt es ihm hier an einem differenzierten semiotischen Vokabular, mit dem Unterschiede innerhalb eines Gemeinsamen benannt werden können. Sprache ist, zumal im 19. Jahrhundert, das semiotische System par excellence. Wenn Nietzsche weiterhin die Tonsprachenformel bemüht, so geht es ihm ausschließlich um die Kennzeichnung der semiotischen Organisation und Funktion der Musik. ,Musik ist Sprache' soll heißen: Musik ist wie Sprache eine Formation von Zeichen und als solche bedeutend. Musik und Sprache aber bedeuten auf ganz verschiedene Art und Weise. Und genau um diese unterschiedlichen Bedeutungsfunktionen, um die andere Art des musikalischen Bedeutens (die musikalische Art der Bedeutung des anderen) ist es Nietzsche zu tun.

Am Anfang ist Musik

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Nietzsches Musiksemiotik läßt sich gut verdeutlichen mit Hilfe der von Nelson Goodman entwickelten Kriterien der relativen Fülle von Zeichen und der syntaktischen Dichte ihrer Folge, zwei Merkmale, die Goodman unter die „Symptome des Ästhetischen" rechnet. 15 Relativ „voll" nennt Goodman ein Zeichen, an dem „vergleichsweise viele Aspekte [...] signifikant sind", 16 d. h. an dem die Merkmale der materiellen Zeichengestalt bis in Nuancen hinein ,zählen'. Und von syntaktischer „Dichte" spricht er, wenn die Zeichen in der Folge „so geordnet sind, daß zwischen zweien immer ein drittes ist", 17 wenn also kleinste Unterschiede zu neuen Zeichen führen. Ein extrem dichtes und volles Zeichenschema wäre folglich ein kontinuierlicher Zeichenfluß. Jedes Zeichen wäre bereits der Übergang zum nächsten, diskrete Unterscheidungen zwischen einem Zeichen und seinem Folgezeichen nicht mehr möglich. Günter Abel folgert mit Bezug auf Nietzsche: „Die für Nietzsches Philosophieren ,letzte Wahrheit', der ewige Fluß aller Dinge, ist von hier aus als die Ebene höchster Dichte, Fülle und fortwährenden Sich-Verschiebens der diesen Fluß ausmachenden Interpretations- und Zeichen-Prozesse aufzufassen. Mit der Dichte der Zeichen wächst deren Fluß." 18 Die exponierte Stellung der Musik als ,Abbild' des Ur-Einen (des dionysischen Werdestroms) wird einsichtig. Zwischen beiden gibt es eine Isomorphic, eine Überein-Stimmung ihrer bewegten und dichten Struktur. Musik ist „wahre allgemeine Sprache", insofern sie der ,letzten' Wahrheit, der höchstmöglichen Dichte der Zeichenfolge, entspricht wie kein anderes Zeichengeschehen. Die .Wahrheit' der musikalischen ,Sprache' kann allerdings nicht Wahrheit im Sinne der adaequatio oder der aletheia sein. Mit der zuehmenden dynamischen Dichte der Zeichenfolge nimmt vielmehr das metaphysische Problem der Wahrheit als Ubereinstimmung von Zeichen und Nicht-Zeichen ab, da zugleich die Denotationsfähigkeit der Zeichen abnimmt. Denotierende Zeichen müssen syntaktisch diskret sein. Diskrete syntaktischsemantische Einheiten aber lassen sich im musikalischen Signifikantenfluß gerade nicht isolieren, die Unaufhörlichkeit des differentiellen Spiels verhindert die Bildung solcher Stabilitäten. Musikalische Töne denotieren nicht. Folglich gibt es keine Unterscheidung von Zeichen und bezeichnetem Ding, also auch nicht das Problem der Übereinstimmung beider. Für den Wahr-

15

16 17 18

Vgl. N. Goodman: Sprachen der Kunst. Hin Ansat% einer Sjmholtheorie. S. 143f. u. 2 5 3 - 2 5 6 . - Ders.: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. Goodmans semiotische Kategorien sich vorzüglich zur Kennzeichnung Nietzsche eignen, hat als erster Günter Abel bewiesen. Vgl. seinen Ästhetik", in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 1 1 2 - 1 4 8 , hier 143 f. N. Goodman: Weisen der Welter^eugung (Anm. 15), S. 88. N. Goodman: Sprachen der Kunst (Anm. 15), S. 144. G. Abel: a. a. O. (Anm. 15), S. 144.

Frankfurt a.M. 1973, 1984, S. 88f. - Daß des Ästhetischen bei Aufsatz „Logik und

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heitsbegriff folgt daraus: während Wahrheit im metaphysischen Sinne vom Signifikat her gedacht wird und mit dem Anspruch der Verallgemeinerbarkeit, der Mitteilbarkeit identischer Signifikate auftritt, ist die dionysische ,Wahrheit' des Signifikantenflusses nicht im selben Sinne verallgemeinerbar. Sie bleibt gebunden an den individuellen musikalischen Vollzug. 19 Definitive Bedeutungen lassen sich von der Musik nicht separieren, und doch ist sie nicht bedeutungslos. Musikalische Töne denotieren nicht, in ihrer dichten Folge aber „symbolisieren" sie den generativen, mögliche Denotate allererst schaffenden Prozeß am Grund der Welt. Auch für das Verständnis dieser anderen Bedeutungsfunktion weist Nelson Goodman den Weg. Von der Denotation, dem Muster jeder wortsprachlichen Semantik, unterscheidet er die Exemplifikation. Zweifellos geht diese Unterscheidung zurück auf die Wittgenstcinschc Differenz von Sagen und Zeigen. „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden." 20 ,Sagen' heißt für den frühen Wittgenstein, etwas Bestimmtes und jederzeit Bestimmbares sagen, auf eindeutige und unmißverständliche Weise ein ,Etwas' denotieren. Nicht alles aber kann gesagt werden, so das Gelingen eines Sagens. „Daß ein Sagen einen Sachverhalt trifft, läßt sich selbst nicht noch einmal sagen. Ein solcher Versuch führt in einen unendlichen Regreß. Das Passen %eigt sich vielmehr an der Form des Sagens, ist also eine Angelegenheit wesentlich der Ästhetik des Satzes und Gedankens." 21 Goodman versucht nun, anders als Wittgenstein, auch über das Zeigen etwas Deutliches zu sagen (wobei er sich allerdings in die Gefahr begibt, die Qualität der semiotischen Differenz von Sagen und Zeigen wieder zu verwischen). Der entscheidende Unterschied zwischen Denotieren (Sagen) und Exemplifizieren (Zeigen) liegt für ihn in der Richtung der symbolischen Bezugnahme. Während sie nämlich in der Denotation vom Zeichen auf das Denotat zuläuft, verläuft sie in der Exemplifikation „in die entgegengesetzte Richtung — geht vom Denotierten aus und nicht auf es zu" 22 . Exemplifizieren " Die hohe Dichte der musikalischen Signifikanz erklärt die Eigenart ihrer Rezeption. Musik fordert zum aktiven, die Grenzen des Selbstbewußtseins überspielenden physiologischen Mitvollzug heraus, will man sie ,verstehen'. Der Zuhörer, der Signifikate will, versteht sich nicht auf das Hören von Musik. In ihren dichten und vollen Zeichenfluß kommt gar keine erklärende und verdeutlichende sprachliche Interpretation ,dazwischen', da das wieder Diskretisierung und Partikulation von Zeichencinheiten wäre. Einer „unendlichen Verdeutlichung fähig" (III 2 [10]; KSA 7, S. 47) ist die Musik gerade insofern, als sie auf keine erklärenden Vermittler angewiesen ist wie die Wortsprache, die „nur durch Begriffe [deutet]" (ebd.). Die selbstbezüglichen Zeichenformationen der Musik sind immun gegen jede Erklärung, aber offen für den je neuen musikalischen Vollzug. Eine Hermeneutik der Musik kann es, streng genommen, nicht geben, es sei denn als musikalische Praxis. 20 21 22

L.Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, § 4.1212. G. Abel: a. a. O. (Anm. 15), S. 129. N. Goodman: Sprachen der Kunst (Anm. 15), S. 62.

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heißt demnach geradezu, von einem anderen her ,denotiert' werden. Exemplifikatorische Bezugnahme, so müßte (mit Wittgenstein) geschlossen werden, ist nicht kodifizierbar, da das andere, auf das Bezug genommen wird, eben nicht denotiert werden kann.23 Exemplifikation ist logisch ,früher' als Denotation, insofern das in ihr Gezeigte, das nicht benennbare andere des Sagens (seine generative Form), die Bedingung der Möglichkeit alles Sagens (von etwas) ist. Das Zeigen der Form (genitivus subjectivus und objectivus) ist das Transzendentale des Sagens von Inhalten. Es geht ihm als Möglichkeitsbedingung voraus, insofern Inhalte allererst formal (medial) generiert werden müssen. Jedes Sagen ist auf mediale Formen des Sagens angewiesen. Das heißt: um sagen zu können, muß erst von einem unsagbar anderen her gesagt werden, muß die Form des Sagens sich zeigen. Auch die Exemplifikation ist für Goodman „Symptom des Ästhetischen", exemplifikatorisches Bedeuten ist typisch für die -Zeichenformationen der Kunst. Und unter den Künsten, so Goodman, sind insbesondere die abstrakte Malerei, der Tanz und die Musik in hohem Maße exemplifizierend. Diese Künste wären als diejenigen Grenzfälle von Zeichenverwendungen anzusprechen, in denen nicht oder kaum denotiert wird. Ihre Zeichen dienen nicht der Identifizierung von Gegenständen außerhalb ihrer selbst, sondern bleiben bezogen auf ihre eigene signifikante Form. Ästhetisch — das wiederholen alle gewichtigen semiotischen Ästhetiken des 20. Jahrhunderts — ist das Sich-Zeigen der Zeichenhaftigkeit selbst. Für Nietzsches Rede von der Musik als dem ,Symbol' des Ur-Einen läßt sich von hier her ein präziser Sinn gewinnen. Musik symbolisiert das Ur-Eine (das ewige Werden), indem sie es exemplifiziert, d. h. indem sie den künstlerischen Urprozeß (das differentielle Spiel des Werdens) wiederholt. In ihrer dynamischen Form zeigt die Musik ihre eigene, Formen generierende und destruierende Bewegungsenergie und stellt sie zugleich als die des unsagbaren Ur-Einen aus, von dem her sie, die Musik, .gesagt wird'. ,Was' die Musik exemplifiziert, geht ihr folglich nicht als ein gegenständlich Bestimmbares voraus, sondern ist Möglichkeitsbedingung der Konstitution von Gegenständlichkeit und Bestimmbarkeit. Die (exemplifizierende) Musik erweist sich als das Transzendentale der (denotierenden) Sprache. Insofern ist sie Anfang. Fülle der Zeichen, Dichte ihrer Verkettung und exemplifikatorisches Bedeuten stehen in den syntaktisch-sukzessiven Zeichenformationen von Musik und Sprache in unmittelbarem Zusammenhang. Mit zunehmender

21

Goodman

selbst

allerdings

versteht

die

Exemplifikation

e h e r als a l t e r n a t i v e

S y m b o l i s i e r e n s des a u c h D e n o t i e r b a r e n . J e d e E x e m p l i f i k a t i o n m ü ß t e s e i n e n zufolge

in eine D e n o t a t i o n

ü b e r s e t z b a r sein ( n i c h t

umgekehrt!),

was d e m

e x e m p l i f i k a t o r i s c h e n B e d e u t e n s seine e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e B r i s a n z n i m m t .

Weise

des

Ausführungen Konzept

des

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R u d o l f Pietz

Dichte der Zeichenfolge nimmt deren Fähigkeit zur Denotation ab, die zur Exemplifikation zu. Was gesagt werden kann, muß deutlich artikuliert sein. D.h. in den Zeichenfolgen des Sagens müssen syntaktisch-semantisch stabile Einheiten sich isolieren lassen, die auf stabile Einheiten außerhalb ihrer selbst, Gegenstände, verweisen. In dichten, ,flüssigen' Zeichenverkettungen dagegen spielt die Verweisungskraft gewissermaßen in der Kette, die als solche sich zeigt. Exemplifizierende Zeichen neigen folglich auch zur Fülle, da sie ihre materialen und formalen Eigenschaften ins Spiel bringen, d. h. vorzeigen müssen. Das denotierende Zeichen dagegen soll gerade von sich weg auf ,etwas' verweisen, das es nicht selbst ist, soll, zu diesem Zweck, seinen Signifikanten vollständig vergessen machen zugunsten der Präsentation des bestimmt Bedeuteten. Der ästhetische Umgang mit Zeichen hingegen versperrt den direkten Zugriff auf ein Signifikat. Die dichte Folge voller Zeichen ist nicht transparent für Signifikate, vor (bzw. hinter) denen die Signifikanten verschwinden. Der Rezipient kommt über die Zeichen nicht hinaus. Gerade darum stellt sich das ,Verständnis' ästhetischer Zeichenverwendung unmittelbar ein: es m u ß nicht den U m w e g über Begriffe machen, muß nicht den Signifikanten zum Anlaß seiner Überschreitung nehmen, sondern kann sich an ihn selbst halten.

V. Das Wort folgt dem Vorwort, die Wortsprache entsteht aus der vorwortlichen Sprache Musik. Für Nietzsche bleibt folgerichtig die Semiotik der Musik Richtschnur für eine Semiotik der Sprache. Wie er sich die Genese der Wortsprache aus der Musik denkt, darüber gibt ein kurzer, in seiner Gewichtigkeit für Nietzsches Werk noch gänzlich unterschätzter Text hinreichend Auskunft. PLs handelt sich um den vierten und letzten Teil der 1870 noch ganz in Schopenhauerscher Terminologie verfaßten Schrift Die dionysische Weltanschauung (DW 4; KSA 1, S. 5 7 2 - 5 7 7 ) . Nietzsches Überlegungen gehen aus von der Frage, wie das Gefühl, das er mit Schopenhauer als einen „Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen" (a. a. O., S. 572) begreift, sich mitteilt. „Theilweise", nämlich was den Teil der „begleitenden Vorstellungen" betrifft, kann es in „ G e d a n k e n " transformiert werden, d. h. in bewußte, begrifflich fixierte und diskrete Bedeutungsidentitäten. Gefühle sind aber nie vollständig rationalisierbar. Sie können vom Körper nicht abgelöst und aufgehoben werden in die mentale Einheit eines Begriffs. Immer bleibt ein „unauflösbarer Rest. Der auflösbare allein ist es, mit dem die Sprache, also der Begriff zu thun hat" (ebd.). Neben der bewußten, begriffssprachlichen gibt es allerdings noch zwei

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unbewußte, „instinktive" Mitteilungsarten des Gefühls: „die Geberden- und die Tonsprache" {ebd.). Die Gebärdensprache ist eine gestische Bildersprache. In visuell wahrnehmbaren, „allgemein verständlichen Symbolen" bringt sie von „jenem Doppelwesen" (ebd.) Gefühl den Teil der begleitenden Vorstellungen zum Ausdruck. Da das eben jener Teil ist, der auch in Gedanken übersetzbar ist, kann geschlossen werden, daß die Symbole der Gebärdensprache rationalisierbar sind. Der Begriff ist eine in die „helle Bewußtheit" {ebd.) überführte Gebärde. Vom Bild führt ein gerader Weg zum Gedanken. Visuelle Sinneseindrücke können in bewußten Abstraktionsprozessen zu begrifflichen Bedeutungsidentitäten fixiert werden. Und umgekehrt: die sinnliche Grundlage der Begriffssprache ist die Visualität, ihr Organ das Auge. Der in Gebärden und Gedanken, in Bilder und Begriffe nicht auflösbare „Rest" des Gefühls, die unbewußten „Regungen des Willens selbst" {a. a. O., S. 574), werden mitgeteilt durch die „ Vermittelung des Tones" {ebd.). Genauer ist es an der musikalischen Tonsprache die Harmonie , also das nicht-metrische, relationale Verwiesen- und Bezogensein der Töne untereinander, welches den Willen symbolisiert'. Von selten der Rhythmik und Dynamik, so Nietzsche, könne die Musik noch zur „Kunst des Scheins" ausgebildet werden. „Der unauflösliche Rest, die Harmonie spricht vom Willen außerhalb und innerhalb aller Erscheinungsformen, ist also nicht bloß Gefühls-, sondern Weltsymbolik . Der Begriff ist in seiner Sphäre ganz unmächtig." {a. a. O., S. 575) Visuelle oder aus der Visualität abstrahierte Medien bleiben ohne jeden Bezug zum unbewußten Willen. Sinnliches Medium dieses Unbewußten ist der Ton, sein Organ das Ohr. Die gesprochene Sprache nun beschreibt Nietzsche als Synthese von Gebärden- und Tonsymbolik. Die tonale Signifikantenkette symbolisiert' den aller Erscheinung vorausliegenden dionysischen Werdestrom, die (Mund-) Gebärden jene aus diesem Strom noch ganz unvollkommen sich herausbildenden Erscheinungen. Im Zuge der fortschreitenden Rationalisierung der Sprache aber, der abstrahierenden Vereindeutigung der Gebärdensymbolik zum Begriff, wird diese labile Synthese zerstört. Das in der Gebärde nur andeutungsweise konstituierte Signifikat soll nun, unter Absehung vom tonalen Signifikanten, als stabile mentale Einheit zurückbehalten werden. Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem Ton nennt man Sprache. Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des Wesens. [...] Ein gemerktes Symbol ist ein B e g r i f f , da bei dem Festhalten im Gedächtniß der Ton ganz verklingt, ist im Begriff nur das Symbol der begleitenden Vorstellung bewahrt. Was man bezeichnen und unterscheiden kann, das ,begreift' man. (α. α. Ο., S. 575 f.)

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Während beim tönenden Wort die sinnlich-akustische Signifikanz (und darin seine Beziehung zum Körper des Sprechenden) eine wichtige Rolle spielt, soll der Begriff bar aller Sinnlichkeit sein. Begriffe „bezeichnen und unterscheiden" (genauer: sie bezeichnen, indem sie unterscheiden). Begriffe sind diskrete semantische Einheiten. Als (scheinbar) dauerhaft identische sind sie „im Gedächtniß", einer von aller äußerlichen Signifikanz (scheinbar) unberührten mentalen Innerlichkeit, aufbewahrt. Bietet die tönende Wortsprache über ihre tonale Wurzel noch den Zugang für ein intuitives, unbewußt-körperliches Verständnis, 24 so kann es über Begriffe nicht mehr zu einem durch den Ton gesicherten ,instinktiven' Einverständnis kommen. Begriffssprache appelliert an das in der sprachlichen Sozialisation angeeignete Vermögen des anderen, meine nach einer bestimmten Regel kodierten Gedanken entsprechend dieser gemeinsamen Regel zu dekodieren, nicht an das unreglementierte, intuitive Partizipationsvermögen, die Fähigkeit zum individuell-produktiven Nach- und Mitvollzug nächtlich-dichter Tonsymbolik. „Dies gilt nur von der objektiven Schriftsprache" (III 2 [10]; KSA 7, S. 48), räumt Nietzsche in einem Nachlaßfragment ein, welche sich damit als die lichte Begriffssprache par excellence erweist. Die Identität des graphischen Signifikanten in der Zeit ist das Versprechen einer Identität der Bedeutungen, wie es in einem rein lautsprachlichen Kontext nie sich hätte entwickeln können. Gegenüber dem tönenden hat der graphisch-visuelle Signifikant ein viel geringeres sinnliches Eigengewicht und lenkt daher nicht ab von der Konzentration auf das begriffliche Signifikat. Die Schrift trennt die Sprache vollends vom Körper, spätestens seitdem das lautlose Lesen zur Regel geworden ist. In ihr ist der stabilisierende Abstraktionsprozeß, die Entfernung von der freien, überschüssigen Signifikantenbewegung der Musik, an der die gesprochene Sprache über ihre Tonsprachenwurzel noch teilhat, am weitesten fortgeschritten. Die Trennung von Wort und Begriff, von Signifikant und Signifikat ist der Sprache nicht ursprünglich. Erst in dem Moment, in dem ein Wort .gemerkt' wird, als Bedeutungseinheit ohne jede akustische Realisierung im Gedächtnis festgehalten wird, entsteht der Begriff. „Ein gemerktes Symbol ist ein B e g r i f f " (DW 4; KSA 1, S. 576). Und ein Begriff ist immer ein gemerktes Symbol, ein Zeichen, das scheinbar unabhängig von seiner Materialisierung in einem Signifikanten als bestimmtes Signifikat im Gedächtnis abgelegt ist. Es soll durch die Kraft des Erinnerungsvermögens in seiner Identität bewahrt werden und jederzeit als identisches abrufbar und mittels eines Signifikanten

24

Vgl. III 8 [29]; KSA 7, S. 232: „so liegt die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehenj- durchaus in der instinktiv verständlichen Willensmagie des Tones und der Rhythmik der Tonfolge: das Bild wird erst begriffen, nachdem durch den Ton bereits ein F.inverständniß erzeugt ist."

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für andere kommunizierbar sein. Dieser Signifikant jedoch soll als das bloß sinnliche Äußere das Signifikat in keiner Weise affizieren, seine Materialität soll bloßes Trägersubstrat sein und die Klarheit des Gedankens nicht trüben. Denken, Erinnerung, Bewußtsein ist immer an Signifikate gebunden, und Signifikate sind immer be- und gewußte. „Denken d. h. bewußtes Vorstellen ist nichts als die Vergegenwärtigung Verknüpfung von den [gemerkten] Sprachsymbolen [...], ist Symbolerinnerung" (III 5 [80J; K S A 7, S. 113). Auch das scheinbar souveräne Subjekt des Denkens, das Ich des Bewußtseins, das Selbst-Bewußtsein, ist ein vom Körper abgelöstes begrifflich Gedachtes. Die abgeschlossene Homogenität des Bewußtseins, die erfüllte und dauerhafte, sich selbst durchsichtige Identität des Ich-Signifikats aber ist eine Illusion. Sie beruht auf der fortwährenden Verleugnung der jedes Signifikat von sich selbst trennenden Differenz. Seine Identität gewinnt ein Sinn nicht in umittelbarer Beziehung auf sich, sondern nur durch die Distinktheit von anderem, d. h. durch die Bezogenheit auf anderen Sinn. Es gibt Identität nur in der Spaltung: wo sie zu ,sich' kommt, ist sie von ,sich' bereits getrennt. Auch das reflexive Ich-Bewußtsein bleibt in seiner eingebildeten Autonomie gezeichnet von diesem strukturellen Verwiesensein auf anderes. Die Einheit des Selbstbewußtseins im Verlauf der Zeit hat immer nur den Status einer Hypothese, in welcher die jede Identität spaltende Differenz zweier Zeitstellen, die Bedingung jeder Reflexion ist, übersprungen wird. Das Bewußtsein beherrscht nicht den Zeitfluß, sondern wird von ihm her konstituiert. Es ist nicht der souveräne Regent von Sprache, sondern immer schon sprachlich strukturiert, d. h. durch die Differenz gespalten und auf anderes hin bezogen. In keiner Phase seines Lebens lebt der Mensch in animaler, natürlicher' Unmittelbarkeit, von Anfang an ist er in einen jede Unmittelbarkeit abschneidenden sprachlichen, d. h. differentiell artikulierten Kosmos hineingestellt, in ein Zeichen-Universum, das er niemals zu transzendieren vermag. Lange bevor der Mensch eine Sprache lernt, ist seine Existenz sprachlich artikuliert. Und diese Existenz ist reflexiv nicht einholbar, weil Sprache reflexiv nicht einholbar ist. Wo das Bewußtsein sich autonom denkt, da negiert es seine konstitutive Sprachlichkeit und damit seine Geschichtlichkeit. „,Mensch' bedeutet ,Denker': da steckt die Verrücktheit." (III 5 [37]; K S A 7, S. 102)) Als denkender lebt der Mensch notwendig in der Verkennung, genauer: in der Vortäuschung eingebildeter Identität bei differentieller Gespaltenheit. Selber das Produkt zeichenbildender Prozesse interpretiert er sich, um die Kohärenz seines Selbstbewußtseins zu wahren, als deren Herr und Autor. Das denkende Ich glaubt den unbewußten körperlichen ,Grund' seines Denkens als den seinigen sich aneignen und verfügbar machen zu können, indem es dessen fluktuierende dionysische Signifikanz auf einen Sinn und auf seinen Kopf als die beherrschende Spitze dieses Sinnes zentriert.

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Nietzsche eröffnet dagegen die Perspektive einer Deutung des Menschen als Musiker. Im (produzierenden wie rezipierenden) Vollzug von Musik hat der Mensch die Täuschung nicht nötig, für eine kurze Zeitspanne lebt er in der ,Wahrheit' des Signifikantenflusses, entäußert sein Selbstbewußtsein an diesen Fluß. Vom musikalisch berauschten Menschen sagt Nietzsche, daß „er aufhört individueller Mensch zu sein" (DW 4; KSA 1, S. 575), das heißt hier: reflexiv seiner personalen Identität sich versicherndes Ich zu sein. Das musikalische Subjekt ist körperlich-unbewußtes Subjekt, Subjekt des Unbewußten (genitivus objectivus), das in keinem Signifikat Halt sucht. Es entzieht sich jeder Bestimmung, denn .bestimmen' heißt ja ,in einem Signifikat fixieren'. Die musikalische Tonsprache jedoch kennt keine Trennung von Signifikant und Signifikat. Sie ist die dunkle und tiefe bewegte See 25 , in der Signifikate, erscheinen sie einmal an der Obcrfläche, gleich wieder eintauchen. Der „Ubereinkommensprozeß über die neue Symbolik" wird in der Musik „immerfort [...] wieder unbewußt" (III 3 [20]; KSA 7, S. 66), d. h. die vertikalkopfzentrierte Beziehung auf ein gemerktes Signifikat wird sogleich wieder gekappt, das Signifikat auf der Ebene des Signifikanten in Bewegung gebracht. Musik, Wille und Unbewußtes stehen in engem Zusammenhang. Wie der Wille der Erscheinung und das musikalische Vorwort dem sprachlichen Wort vorausliegt, so das Unbewußte dem Bewußten. Bewußtsein ist, da immer Bewußtsein von ,etwas', an Signifikate gebunden, der Signifikantenfluß folglich unbewußt und unkontrollierbar. Das Unbewußte ,ist' nur als Signifikantenfluß. Es zeigt sich in der Störung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, ohne sich selbst bestimmt zur Sprache bringen zu können. Das Unbewußte läßt sich als solches nicht denken. Es kann nicht Gegenstand positiver Erkenntnis sein, da es keine Identität hat. Sein Modus ist die Uneigentlichkeit, das Nicht-Sein, das Werden. Das Unbewußte ist das, was nicht da ist, sondern immer schon woanders, an einem anderen Ort. Das ,Subjekt' dieses Unbewußten ist nur als (musikalischer) Signifikantenfluß, als das immerfort ,sich' Verschiebende und Schwindende, das Nicht-Identische und absolut Inkommensurable. Niemals kann es einen Begriff von sich haben, der es durchgängig bestimmt. Die „Wortsprache ist tönend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi's, die Stärke und Betonung sind alle symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt. Dies ist zugleich alles der Musik zu eigen." (III 2 [10]; KSA 7, S. 48) Solange ihre Verbindung mit der Musik durch fortgeschrittene Abstraktion noch nicht unterbrochen ist, können auch in der Wortsprache Signifikate nicht rein von Signifikanten geschieden werden. Das Wort — von 25

Vgl. III 2 [10]; KSA 7, S. 48: „ Und auch das Wort deutet eben nur hin: es ist die Oberfläche der bewegten See, während sie in der Tiefe stürmt."

Am A n f a n g ist Musik

163

einem isolierbaren und identifizierbaren Wort kann .eigentlich' noch gar nicht die Rede sein — wirkt qua tönender Signifikant, der noch in keiner Bedeutung arretiert ist, es „deutet eben nur hin" {ebd.). Wo Bedeutungen sich bilden, werden sie in die dichte Signifikantenkette zurückgenommen und solcherart entgrenzt. Das Festhalten von Signifikaten im Gedächtnis dagegen löst sie von der Kette ab und verhindert ein erneutes Aufgehen in deren Fluß. Sowie die Signifikate aus der Signifikantenkette herausfallen, herausgefällt werden, sowie der Begriff deutlich von seiner Aktualisierung in sinnlicher Zeichenmaterialität unterschieden wird, fallt der Mensch aus seinem musikalischen Paradies ins Jammertal der Metaphysik. Metaphysik ist die Ablösung des Signifikats v o m Signifikanten, die Illusion, mit Begriffen als reinen Gedächtniseinheiten operieren zu können. Dieser Sündenfall ist weniger Ergebnis als notwendige Bedingung des Denkens. O h n e das Ausfällen von Begriffen aus der Tonsprache kann Denken nicht statthaben. „Die Trennung von Wille und Vorstellung", die Trennung von Signifikant und Signifikat, „ist ganz eigentlich eine Frucht der Nothwendigkeit im D e n k e n " (III 5 [80]; K S A 7, S. 113). „Alle Erweiterung unsrer Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des U n b e w u ß t e n " (III 5 [89]; K S A 7, S. 116), d. h. aus dem Ausscheiden klarer und identisch wiederholbarer Zeicheneinheiten aus dem vorwortlichmusikalischen Zeichenfluß. Deutlich erkennbar beschreibt Nietzsche zwei Dimensionen der Signifikantenbewegung, wie sie, im Anschluß an Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson und Jaques Lacan beschrieben haben: die horizontal-syntagmatische bzw. metonymische und die vertikal-paradigmatische bzw. metaphorische. Metonymisch heißt nach Jakobson die Beziehung der Kontiguität in der Signifikantenkette, metaphorisch die der Similarität zwischen einem Signifikanten in der Kette (im Syntagma) und einem anderen (oder mehreren anderen) in dem vertikal zur Kette stehenden, nicht aktualisierten Paradigma. 2 6 Während Jakobson beide Relationen, besonders die metaphorische, aber noch in hohem Maße semantisch substantiell denkt, expliziert Lacan sie konsequent als Bewegung von Signifikanten. Die Funktion der Metonymie wird von ihm „mit der Bewegung des Signifikanten als solcher identifiziert", die metaphorische Relation demgegenüber als „eine genau bestimmte Beziehung von Anwesenheit und Abwesenheit der Signifikanten beschrieben: der ersetzte, abwesende Signifikant wird [...] in den Bereich des Signifikats gedrängt — ,verdrängt' könnte man sagen — aber bleibt als abwesender Signifikant durch

26

Vgl. R. J a k o b s o n : „ D e r D o p p e l c h a r a k t e r der Sprache. Die Polarität zwischen M e t a p h o r i k und M e t o n y m i k " , in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Hrgebnisse und Perspektiven, hg. v. J. Ihwe. Bd. 1, F r a n k f u r t a.M. 1971, S. 3 2 3 - 3 3 3 .

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die syntagmatische Beziehung zur übrigen Kette präsent". 2 7 Metonymisch ist die im Spiel der Differenzen horizontal bewegte Signifikantenverkettung, metaphorisch der vertikale Niederschlag eines Signifikanten aus der Kette in den Bereich des (relativ) unbewegten Signifikats. Erst dieser Niederschlag erzeugt Bedeutung, genauer: der Niederschlag ist die Bedeutung. Jedes Signifikat ist solchermaßen, bevor es Signifikat wurde, Signifikant gewesen und behält auch in der Position des Signifikats die differentielle Verweisungsstruktur des Signifikanten. Der Begriff kommt nicht zu erfüllter Ruhe, sondern muß sich immer von neuem in differentieller Opposition profilieren. Daß ein einmal ausgefälltes Signifikat keine stabile Einheit ist, daß die vertikale Verankerung die horizontale Bewegung auf Dauer nicht anhalten kann, das wird bei Nietzsche darin evident, daß er in seiner Sprachbetrachtung nicht beim einzelnen Wort stehenbleibt. In der Wortfolge, also durch eine Kette von Symbolen, soll nun etwas Neues und Größeres symbolisch dargestellt werden: in dieser Potenz werden wieder Rhythmik Dynamik und Harmonie nöthig. Dieser höhere Kreis beherrscht jetzt den engeren des Einzelwortes: es wird eine Wahl der Worte, eine neue Stellung derselben nöthig, die Poesie beginnt. Der Sprechgesang eines Satzes ist nicht etwa die Reihenfolge der Wortklänge: denn ein Wort hat nur einen ganz relativen Klang, weil sein Wesen, sein durch ein Symbol dargestellter Inhalt je nach seiner Stellung ein anderer ist. Mit anderen Worten: aus der höheren Einheit des Satzes und des durch ihn symbolisirten Wesens wird das Einzelsymbol fortwährend neu bestimmt. (DW 4; KSA 1, S. 576) 28

Wo das isolierte Wort als distinkte Sinneinheit das Modell der Sprachbetrachtung ist, da steht diese zwangsläufig unter der Herrschaft des Signifikats. Im Wort wird die metonymische Bewegung des Signifikanten angehalten, der Signifikant zum Repräsentanten eines aus der Kette ausgefällten Signifikats. Die isolierte Betrachtung des Wortes aber, die Betrachtung des isolierten Wortes, läßt übersehen, daß diese Repräsentation nicht Repräsentation einer ihr vorausgehenden Präsenz (des Signifikats) ist, sondern immer erst nachträglicher und labiler Effekt der Signifikantendifferenzierung, eine 27

28

S. M. Weber: Rückkehr Freud. Jaques hacans Bnt-Stellung der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. u. a. 1978, S. 50 u. 52. Vgl. die Vorstufe III 3 [16]; KSA 7, S. 64: „Nun aber ein neues Element: die Wortfolge soll Symbol eines Vorgangs sein: die Rhythmik, die Dynamik, die Harmonie werden wieder in der Potenz nöthig. / Allmählich beherrscht der höhere Kreis immer den kleineren, d. h. es wird eine Wahl der Worte, eine Stellung der Worte nöthig. Die Poesie beginnt, ganz in der Herrschaft der Musik. [...] / Der Sprechgesang ist nicht etwa Reihenfolge der Wortklänge: denn ein Wort hat einen ganz relativen Klang und Ton: es kommt auf den Inhalt an: wie der Klang zum Wort, so verhält sich die Melodie zur Wortfolge. D.h. durch Harmonie Dynamik und Rhythmik ist ein größeres Ganzes entstanden, dem das Wort eingeordnet wird."

Am Anfang ist Musik

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Repräsentation mithin, die ihr Repräsentiertes allererst hervorbringt, ein Abbild, das sein Abgebildetes erst erzeugt. E s wird vergessen, daß das Signifikat nichts als ein verdrängter Signifikant ist. Die metaphysische Illusion stabiler Identität beruht auf der Illusion der dauerhaften Einheit und Identität des Wortes. E s gibt Wörter aber nur in der metonymischen Kette, nur im differentiellen Verweisungsspiel mit anderen Wort-Signifikanten. E s gibt Identität nur qua Differenz, und darum hat sie immer einen hypothetischen Status. Als unterscheidendes und unterschiedenes ist und bleibt das Wort immer auch von sich ,selbst' unterschieden. Wo das Wort nicht isoliert, sondern in und aus dem ,,höhere[n] K r e i s " der Wortfolge betrachtet wird, welche „das Einzelsymbol des Wortes fortwährend neu b e s t i m m t " , da wird ernst gemacht mit dem Primat des Signifikanten. Diesen Primat anerkennen heißt, den Wörtern nicht von Beginn an einen eindeutigen und bestimmten Sinn zusprechen, sondern sich auf ihre metonymische B e w e g u n g in der Wortfolge einlassen, in der Sinn allererst generiert wird. Wörter als diskrete lexikalische Elemente sind Punktuationen, nur temporär beständige Inseln im semiotischen Fluß. Sie haben ihre Zeit. Ein Wort ist kein (semantisches) Zentrum, ist Wort nur durch die Bezogenheit auf andere Wörter. Jedes Wort in der Kette stellt die Bedeutung der jeweils anderen in F r a g e und wird in seiner Bedeutung v o n diesen in F r a g e gestellt. Die Bedeutungsbildung bleibt so lange in der Schwebe, wie das Gleiten der Signifikanten aufrechterhalten wird. D a s Z u r - R u h e - K o m m e n dieser Beweg u n g in einem terminalen Punkt, etwa einem Satz- oder Textende, erweist sich als immer nur vorläufig und kann durch einen anderen Satz (Text) oder durch Wiederholung ,desselben' sogleich wieder angestoßen werden. Nietzsches Vergleich solcher Zeichenpraxis mit der Musik bedarf kaum noch der Erläuterung. Musik ist als dichter Signifikantenfluß die metonymische K u n s t par excellence. Eine Sprachpraxis, die, „ g a n z in der Herrschaft der M u s i k " , durch „eine Wahl der Worte, eine neue Stellung derselben" den im Einzelwort arretierten Signifikantenfluß „ f o r t w ä h r e n d " wieder in Beweg u n g setzt, nennt Nietzsche Poesie (III 3 [16]; K S A 7, S. 64). Poetischer Sprachgebrauch also ist solcher, der die in den Bereich des Signifikats verdrängten Signifikanten in das ihre Fixierung destruierende differentielle Spiel zurückholt. Paradigmatisch-zeitlos stabilisierte Einheiten werden in ihren syntagmatisch-zeitlichen Konstitutionsgrund gesetzt und in B e w e g u n g gebracht. Die Zeichenketten verdichten sich, machen sich undurchsichtig für den direkten, die Signifikanz mißachtenden Durchblick auf das Signifikat. Semantischer E f f e k t dieser Zeichenpraxis ist die irreduzible Polysemie poetischer Texte. D a s Verständnis poetischen Zeichengebrauchs ist v o n keiner semantischen Regel geleitet oder gar determiniert, da dieser Zeichengebrauch gerade dadurch sich auszeichnet, daß er mit diesen Regeln bricht. D e r

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Auswurf der Signifikate erfolgt nicht auf den geläufigen, lexikalisch längst gespurten Bahnen. Vielmehr ist der Rezipient aufgefordert, sich (sein Ich) dem Signifikantenstrom zu übereignen und ihn versuchsweise und immer vorläufig anzuhalten, d. h. an ihm selbst noch ganz unbekannter Stelle Signifikate provisorisch auszuwerfen und auf die entstehenden Sinneffekte achtzuhaben, bereit, diesen Versuch an anderer Stelle zu wiederholen. Die Rezeption von Poesie ist aktive Semiose. „Vielleicht hat es nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade im Grund so sehr Musiker war, wie ich es bin." (KSB 8, S. 172 [Nr. 930]) So schreibt Nietzsche viele Jahre nach seinem philosophischen Anfang mit der Musik. Ihren Grund haben diese und ähnliche Selbsteinschätzungen in dem beschriebenen Anfang. Nietzsche glaubt Musiker zu sein als Philosoph, indem er schreibt und Worte macht. „Hat man bemerkt, [...] dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird?" (WA 1; KSA 6, S. 14) Daß er als Musikerphilosoph andere Worte finden muß, oder besser: daß seine Worte durch ihre „Wahl" und „Stellung" (III 3 [16]; KSA 7, S. 64) anders sein, anders wirken müssen als Worte gewöhnlich tun, das liegt auf der Hand. Eine Untersuchung seiner Sprach- und Schriftpraxis kann zeigen, daß sie „ganz unter der Herrschaft der Musik" (ebd.) steht, insofern sie auf der Ebene metonymischer Kontextualität ständig einen irreduziblen Signifikanten(über)fluß erzeugt. Die faszinierendste Beschreibung einer solchen ,musikalischen' Sprachpraxis stammt von Nietzsche selbst. Sie ist bezogen auf den Stil des Horaz und kann doch als die präzise Charakterisierung seiner eigenen Schreibweise in ihrer gelungensten Form gelten. „Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen" (GD, „Was ich den Alten verdanke" 1; KSA 6, S. 155).

Die Version der Metapher zwischen Musik und Begriff* von

DETLEF OTTO,

Berlin

Wie seinem Titel bereits zu entnehmen ist, zeigt der folgende Versuch die Metapher, Schlüsselbegriff der Wahrheitsgenealogie in Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne v o n 1873 [WL], in einer Konstellation nicht nur mit dem Begriff, den sie lt. W L hervorbringt, sondern zugleich mit der Musik; letzteres wird v o r allem in einer vergleichenden Lektüre von W L 2 und einer Vorarbeit zur Geburt der Tragödie deutlich gemacht, in welcher sich Nietzsches Musiktheorie auf der Folie einer Sprachtheorie oder -Spekulation formuliert findet. Diese zweifache Konstellation bedeutet aber einen zweifachen Widerstreit der Metapher g e g e n zwei Tendenzen ihres Verschwindens, die ihr selbst eignen: ihre Petrifizierung in der (für sie) tödlichen Architektur des begrifflichen Systems sowie ihr Verklingen im reinen Ton ihrer sprachlichen Verlautung.

Thesen %u Ueber Wahrheit und L ü g e im aussermoralischen Sinne und ζu den Fragmenten \um , Philosophenbuch' 1.) Der erste Teil von Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) [WL] entfaltet sich unter der F r a g e nach der Herkunft eines Triebes zur Wahrheit beim an sich fortwährend täuschend-getäuschten Menschen mehrfach in F o r m von Geschichtserzählungen: so am A n f a n g des Textes in jener „ F a b e l " von der E r f i n d u n g des Erkennens durch „ k l u g e * D e r hier w i e d e r g e g e b e n e Text ist eine auf E r s u c h e n der H e r a u s g e b e r dieses B a n d e s stark gekürzte F a s s u n g dessen, was a u f d e m K o n g r e ß in U r b i n o in schriftlicher F o r m v o r l a g . D i e s e K ü r z u n g betrifft den ersten Teil, d. h. die ersten drei v o n ehemals f ü n f K a p i t e l n . (I. Wie [nicht] erzählen? D i e Metapher und der „Trieb zur Wahrheit" [ W L 1], II. G e n e r a l i s i e r u n g der Metapher und D e c h r o n o l o g i s i e r u n g ihrer G e s c h i c h t e . D i e F r a g m e n t e z u m , P h i l o s o p h e n b u c h ' , [II. „ D i e " Metapher als K a m p f [ W L 2]); der Inhalt dieser drei Kapitel wird zu Beginn in thesenhafter F o r m w i e d e r g e g e b e n , die beiden letzten Kapitel w u r d e n nur leicht bearbeitet. D e r ganze Text ist die erste ausführliche F o r m u l i e r u n g dessen, w a s z. Zt. in g r ö ß e r e m Rahmen z u m T h e m e n b e r e i c h Metapher, Ü b e r t r a g u n g und Ü b e r s e t z u n g beim frühen Nietzsche ausgearbeitet wird. Ich möchte an dieser Stelle den Teilnehmern der Berliner S o n n t a g s g e s e l l s c h a f t f ü r wichtige Anregungen danken.

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Thiere" (KSA 1, 875). Wie diese, kaum daß sie erzählt, schon mit dem Index des Irrealis versehen („So könnte Jemand eine Fabel erzählen [...]") und als unzureichend verworfen wird („[...] und würde doch nicht genügend illustrirt haben, [...]"), so werden auch die folgenden, durchweg an aus der Tradition Bekanntes anknüpfenden Geschichtserzählungen 1 jeweils auf ihre Unerzählbarkeit hingeführt. Diese Unerzählbarkeit ist diejenige des Ursprungs der Sprache, mit dessen Erzählen zugleich die Geschichte des Triebes zur Wahrheit erzählt wäre; denn „die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit" (877). Die Feststellung dieser Unerzählbarkeit hatte Nietzsche schon 1869/70 im frühen Entwurf Vom Ursprung der Sprache getroffen, indem er die „naiven Standpunkte [...] ob die Sprache θέσει oder φύσει sei" (KGW II 2, 168), verwirft und durch die jeder möglichen Erzählung voraufgehende Voraussetzung eines an sich künstlich-künstlerischen Instinkts für die Generierung der Sprache hintergeht, jede der beiden möglichen „naiven" Erzählungen der philosophischen Tradition also durch die jeweils andere und ihr widerstreitende immer schon supplementiert (hat). 2.) Die Einführung der Künstlichkeit der Sprache in die menschliche Natur läßt erst die bestehende Vielheit der Sprachen begreiflich werden, deren Arbitrarität den Menschen die Natur dessen, was er in einer dieser Sprachen bezeichnet, notwendig verfehlen und aussparen läßt und ihn so als naturgemäß vom Wesen, der Natur der Dinge distanziert und abgesperrt zeigt. Diesen Befund der „willkürlichen Übertragungen" (878), wie sie in jeder natürlichen' Sprache — etwa in der Einteilung der Substantive in Geschlechter — vorliegen, übersetzt Nietzsche in WL in sein an Gustav Gerber angelehntes Konzept der Metapher. 2 Ist der Mensch vor allem als metaphernbildendes Wesen bestimmt, so ist aber damit jenem Trieb zur Wahrheit keineswegs endlich sein Grund gelegt. Dieser Trieb verdankt sich nicht ,der' Metapher als einem Prinzip, sondern der Zeit ihres Gebrauchs und Abnutzens als einem Vergessen eben der ursprünglichen Metaphorizität des Benutzten, er entsteht erst durch das Abrutschen derselben in die „Unbewusstheit" (881), die als Resultat ein „Gefühl der Wahrheit" hat. Ihre begründende Stellung in einer monogenetischen Geschichte der Wahrheit aus der (vergessenen metaphorischen) Unwahrheit büßt die Metapher ferner da ein, wo Nietzsche — besonders in den Fragmenten zum

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B ö n i n g 1988, S. 109, spricht von Nietzsches „in A n k n ü p f u n g an H o b b e s , Rousseau und S c h o p e n h a u e r g e g e b e n e [ r ] A n t w o r t " auf die F r a g e nach d e m W o h e r des Triebes zur Wahrheit. Vgl. zur F r a g e der S p u r e n und Früchte von Nietzsches L e k t ü r e von Gerbers Die Sprache als Kunst (1871) in seinen eigenen Schriften: Lacoue-Labarthe/Nancy 1971, S. 127 ff., LacoueL a b a r t h e 1986, de M a n 1988, S. 147 ff., Meijers/Stmgelin 1988, M e i j e r s 1988, Stingelin 1988, C r a w f o r d 1988, S. 199 ff.; speziell zur Ü b e r n a h m e und M o d i f i k a t i o n des S t u f e n m o d e l l s der S p r a c h g e n e s e : M e i j e r s 1988, S. 377 u. 386 und C r a w f o r d 1988, S. 208 f.

Die Version der M e t a p h e r z w i s c h e n M u s i k und B e g r i f f

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,Philosophenbuch', die um das T h e m a der Metapher kreisen — diese vielmehr als n o t w e n d i g e s Supplement eines jeden möglichen Grundes für den Trieb zur Wahrheit fungieren läßt und zu denken aufgibt: so etwa, w e n n er in einem Fragment „die Wahrhaftigkeit — und die Metapher", d. h. „ein moralisches Phänomen, aesthetisch verallgemeinert" (III 19[178]; K S A 7, 474), also ,,[z]wei zu verschiedenen Z w e c k e n nöthige Eigenschaften" als dasjenige anführt, was den „intellektuellen Trieb", den „ H a n g zur Wahrheit erzeugt" (ebd.). (Im nächsten F r a g m e n t heißt es, der Mensch sei „zufällig ein erkennendes Wesen geworden, durch die unabsichtliche Paarung zweier Qualitäten.": III 19[179]; K S A 7, 475) 3.) F2in weiterer Sachverhalt läßt die Metapher letztlich nicht die Position des Grundes der begrifflich formulierten Wahrheit einnehmen: die Spannung zwischen den beiden argumentativen B e w e g u n g e n Nietzsches in W L , die Metapher einerseits z u m Ahnen des Begriffs zu erklären, diesen also aus jener herzuleiten, andererseits und zugleich beide einander gegenüberzustellen als Ursprüngliches und Residuales, ja geradezu wie Lebendiges und Totes. Diese in sich widerstreitende Doppelthese w i r d in ihrer A u t o d e k o n s t r u k t i o n , ihrem wechselseitigen Brauchen und Infragestellen noch intensiviert, w e n n Nietzsche nicht die H e r v o r b r i n g u n g der dem Begriff opponierten „originalen A n s c h a u u n g s m e t a p h e r n " ( K S A 1, 883), sondern gerade deren V e r f l ü c h t i g u n g in ein Schema, ihre A u f l ö s u n g in einen Begriff (vgl. K S A 1, 881) zur differentia specifica des Menschen erklärt und jedes Wort — und das heißt hier für ihn: jede Metapher — „sofort" (879) zum Begriff werden läßt, sobald es als Wort überhaupt in Erscheinung tritt, und d. h. „nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss [steht], dem es sein Entstehen verdankt, [ . . . ] sondern zugleich für zahllose, mehr oder w e n i g e r ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss." (879 f.) Das Menschliche der Sprache ist somit stets erkauft mit d e m S c h w u n d , dem immer schon vollzogenen Schwinden einer A n s c h a u u n g , in die selbst Nietzsche bereits die Arbitrarität der Ü b e r t r a g u n g eingeführt hatte („Selbst das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist kein an sich n o t h w e n d i g e s " : K S A 1, 884). Dadurch ist sowohl einer Privilegierung der Anschaulichkeit vor dem Begrifflich-Abstrakten im gleichen Text, in dem sie vorgebracht scheint, widersprochen wie auch jede Geschichte, die eine verzeitlichende Genese des Begriffs aus der ihm v o r h e r g e h e n d e n Metapher behauptete, als nicht nur fiktiv, sondern zugleich als eine solche erwiesen, die an jenem „sofort", an der instantanen Koinzidenz von Metapher und Begriff, vorbeierzählte. 4.) Diese B e w e g u n g der V e r u n m ö g l i c h u n g einer E n t g e g e n s e t z u n g von anschaulicher Metapher und abstraktem Begriff läßt sich in den Fragmenten

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der Gruppe III 19 (1872 — 73) noch genauer verfolgen. Die distinkte Anschauung selbst wird dort bereits als künstlich-künstlerisches Produkt, als Effekt einer fälschenden Uberkonturierung und somit als Projektion eines Simulakrums dargestellt. Bereits die Perzeption ist Assimilation und Rubrizieren („Das Ähnliche erinnert an das Ähnliche und vergleicht sich damit: das ist das Erkennen, das schnelle Subsumiren des Gleichartigen. Nur das Ähnliche percipirt das Ähnliche [...]": III 19[179]; KSA 7, 475), also Tötung des Singulären, und von daher sind Sinnlichkeit oder Anschauung und Begriff also keineswegs mehr einander zu opponieren, wie auch umgekehrt — so führt es das Fragment III 19[228] vor — das Erkennen nur in einer Selbsttäuschung seine Unabhängigkeit und Andersartigkeit gegenüber dem Nachahmen und der Übertragung oder Metaphorizität behaupten kann, jenen fiktiven und fingierenden Prozeduren, denen sich jede Erkenntnis aber unweigerlich verdankt. Ist der Begriff also im Grunde nichts anderes als Metapher („Nun aber giebt es keine ,eigentlichen' Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher."·. III 19[228]; KSA 7, 491), das eigentliche immer schon ein als solches vergessenes uneigentliches Sprechen, so gibt dies zu denken auf, daß es die Metapher selbst ist, die jenen Tod des Sensiblen — auch der „Anschauungsmetapher[ ]" (WL 1; KSA 1, 883) selbst, also den eigenen Tod — immer schon mit sich führt, was an Nietzsches Satz vom sofortigen Umschlagen der Metapher in den Begriff in WL (KSA 1, 879) erinnert. Insofern aber somit — in Ergänzung dazu, daß der Begriff im Grunde nichts anderes als eine Metapher ist — die Metapher ihrerseits nichts wirklich anderes als der Begriff wäre, bedeutete ihre Lebendigkeit in Form der Artikulation, in der sie identifizierbar und wiederholbar wird, jeweils auch die Beförderung des eigenen Todes. 5.) Daß diese Version der Metapher nur eine der „verschiedenen Metapherwelten" (III 19[228]; KSA 7, 491) darstellt, zeigt sich besonders im 2. Teil von WL. Der dort vorgeführte schöpferisch-intuitive Intellekt realisiert sich vor allem als Destruktion, besser: Desartikulation bestehender Formen und begrifflicher Architekturen; der Mensch, will er nicht vor den Abstraktionen verstummen, „redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen." (KSA 1, 889) Diese Desartikulation vollzieht sich also durch ein regel- und grenzenloses Ausspielen der metaphorischen Verweisungs- und Konnotationspotenz selbst, die auch die illusorisch-(de)finit(orisch)e Kontur der „metaphorischen Anschauungen" (ebd.) durch den ihnen eigenen „Glanz" überblendet, wie ihn — um einmal, äugen-

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Die Version der Metapher zwischen Musik und Begriff

zwinkernd, Heidegger zu bemühen — der metaphorische Un-fug hervorbrechen läßt. 6.) Liest man die beiden anthropologisch ausgerichteten Bestimmungen Nietzsches in WL, daß der Mensch erstens an die Auflösung der anschaulichen Metapher ins begriffliche Schema (vgl. 881), zweitens aber an jenen „Fundamentaltrieb [zur Metapherbildung]" (887) gebunden ist, der sich gerade gegen die Architektonik der begrifflichen Schemata durch deren wiederholte Destruktion Geltung verschaffen muß, so zerfällt der Gehalt dessen, was in WL „Metapher" letztlich in sich begreift, in den Kampf von Versionen. Dieser realisiert sich als fortwährendes Einander-Ablösen und -Widerstreiten ihrer beiden Tendenzen, einerseits in der petrifizierten Architektonik ihrer „verflüchtigten Erzeugnissef ]" (ebd.) aufzugehen, andererseits diese Architektonik wieder zu unterminieren, d. h. deren Artikulation zu desartikulieren, zur eigenen (d. h. metaphorischen) Artikulation nur durch die Desartikulation und Denunziation jedes vorgeblich eigentlichen Sprechens als eines eigentlich metaphorischen zu gelangen. Die Frontlinie in diesem Kampf verläuft also nicht zwischen Begriff und Metapher, sondern quer durch die letztere (und damit, letztlich, durch beide).

Methodische

Zwischenbemerkung

%ur Komparabilität

Niet^schescher

Texte

Es mag methodisch riskant erscheinen, Nietzsches die Metapher betreffendes Denken, wie es kanonisch in WL, als thinking in progress in den Fragmenten vor allem der Fragmentgruppe III 19 (1872 — 73) formuliert ist und von uns oben dargestellt wurde, auch in Texten antreffen und untersuchen zu wollen, die der rhetorisch-tropologischen Wende Nietzsches, die eng mit der Lektüre von Gerbers genanntem Buch im Herbst 1872 verbunden ist, vorausliegen. Zu disparat erscheint der (pseudo-)historische Entwurf einer metaphysisch geladenen Tragödientheorie, wie ihn Die Geburt der Tragödie liefert und einige Vorträge und eine stattliche Anzahl von Fragmenten vorbereiten, vor allem der besonders in der Endfassung vorgetragene Melozentrismus, die Insistenz auf der Ursprungsmächtigkeit eben jenes ,,Geiste[s] der Musik", den der Titel des Buches weiter nennt, für alles bzw. gegenüber allem Bildlichen, Sprachlichen und zumal Begrifflichen, als daß hier eine Übersetzung in die Denkart der Schriften von 1872/73 möglich und sinnvoll sein könnte, die das Sprachliche als das schlechthin Metaphorische (dies im weiten Sinne des Tropischen, der Übertragung überhaupt gefaßt 3 ) zum Ausgangspunkt einer Genealogie des Triebes zur Wahrheit machen. 3

Ein Gebrauch, den Nietzsche nicht nur von Gerber, sondern aus älteren Quellen herleiten kann; in seiner „Rhetorik"-Vorlesung heißt es: „Als Bezeichnung für Uebertragungen hatten die Griechen zuerst (ζ. B. Isokrates) metaphorä, auch Aristoteles. Hermogenes sagt, daß bei den Grammatikern noch metaphorä heisse, was die Rhetoren tropos nannten." (MusA 5, 316)

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Diese Evidenzen lassen sich hingegen auf verschiedene Weisen erschüttern. So äußert Ph. Lacoue-Labarthe in seinem Aufsatz „Le detour (Nietzsche et la rhetorique)" die Vermutung, „daß Nietzsche nicht mit einem Schlag soviel Aufhebens von der Rhetorik gemacht hätte, wenn er in ihr nichts wiedererkannt und es nicht für möglich gehalten hätte, sie ohne Schwierigkeiten einem bereits bestehenden thematisch-begrifflichen Zusammenhang einzuordnen." (Lacoue-Labarthe 1986, S. 83) Dies allerdings um den Preis ,,eine[r] gewisse[n] Erschütterung" des ,,vorhandene[n] Gefügefs]" und der Ersetzung mancher zentralen Termini — Lacoue-Labarthe verweist auf das „Symbol", das nach der Einführung der tropologisch-rhetorischen Terminologie aus dem Vokabular Nietzsches verschwindet. Entscheidender noch ist eine andere Folge einer solchen Ersetzung: „daß die Rhetorik vom Augenblick ihres Erscheinens an bestrebt ist, die Musik zu verdrängen und ihren Platz einzunehmen" (S. 93), sie also, wie ich ergänzen möchte, streng genommen zu metaphorisieren, führt, wie Lacoue-Labarthe bemerkt, zu einer Umkehrung der Ordnung der Übertragung; unter Anspielung auf W L erläutert er: das Spiel der Übertragung, das in der Geburt der Tragödie das Entstehen der Dichtung erklärte ( G d T . 5 ) , führte dort nicht von der Reizempfindung zum Bild, und vom Bild zum Tonbild, sondern vom „Abbild dieses Ur-Einen als Musik" [die Musik war eine „Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguss derselben"] zu ihrem „Widerschein", „wie in einem gleichnissartigen Traumbilde". Was später der Weg der rhetorischen Übertragung sein wird, galt hier als „verkehrte Welt": „als ob ein Sohn seinen Vater zeugen wollte!" (S. 100; Nietzschezitate aus G T 5 und Fragment III 12[1]; KSA 7, 362)

Sarah Kofman sieht die Verbindung zwischen der GT und den Schriften zum ,Philosophenbuch' vor allem darin, daß bereits seit der GT bei Nietzsche eine Theorie der „metaphore generalisee, qui repose sur la perte du ,propre'" (Kofman 1983, S. 26) am Werk sei. Dies einerseits, da die „unite ontologique de la vie dont la figure est Dionysos", immer schon zerstückelt ist und nur als symbolisch in die Kunst versetzte zu rekonstituieren ist, wobei gerade die Metapher es erlaubt, die Individuation, die in der Zerreißung des Dionysos symbolisiert ist, zu überwinden durch die Wiederherstellung der „unite originaire de tous les etres, symbolisee par la resurrection du dieu" (ebd.); andererseits — und dies führt uns in die Nähe der Gnoseologie von W L — heißt Verlust des Eigentlichen Unzugänglichkeit des Wesens der Welt selbst, also jenes „X des Dings an sich" in WL, das der Mensch nur vermittels je uneigentlicher Repräsentationen angehen kann. Keine dieser symbolischen Sphären ist dem sich entziehenden Wesen adäquat. Die Sprache der Musik jedoch erscheint als „la meilleure metaphore" (S. 27), die, relativ zu allen andern, „le Statut de ,propre'" (ebd.) einnimmt; eine Interpretation, der

Die Version der M e t a p h e r z w i s c h e n M u s i k u n d Begriff

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diejenige von B ö n i n g 4 insofern nahesteht, als auch dieser — in seiner A u s legung einer enigmatischen Vorstufe zu W L (!): „Gleichniß der M u s i k . W i e kann man v o n ihr reden?" ( K S A 14, 114) — „die M u s i k , die reine Zeitkunst, selber als Gleichnis oder Symbol des Werdens, als Ü b e r t r a g u n g desselben in eine ganz verschiedene Sphäre, d. h. als M e t a p h e r " versteht: „Eine M e t a p h e r indes, die w e n i g e r metaphorisch als die Sprache ist [ . . . ] " (Böning 1988, S. 117; v g l . Böning 1986, S. 89), w o m i t das Rätsel des Vorrangs der M u s i k freilich eher neu gestellt als beantwortet wäre. Nietzsches zitierte Frage aber w e i ß Böning zu übersetzen in: „Wie kann man als Philosoph den begrifflichen Fest-stellungen entgehen?" (ebd.) Um die A b w e h r einer Fest-stellung im n o t w e n d i g das Werden je verfehlenden Symbolischen oder Signifikanten geht es auch J . - M . Rey in seinem Nietzsche-Beitrag zur von F. Chätelet herausgegebenen Geschichte der Philosophie, w o er Nietzsches Prävalierung der M u s i k in der G T als Versuch liest, „ihr signifikantes Potential vor jeder A r r e t i e r u n g durchs Wort oder durch die Idee wieder ins Spiel [zu] b r i n g e n " (Rey 1975, S. 168 f.; v g l . Rey 1971, S. 230), ein Potential, das nur um den Preis der — so zitiert Rey G T 24 — „Vernichtung der sichtbaren S c h e i n w e l t " schöpferisch ist (Rey 1975, S. 169). Von beidem aber: der Desarretierung des Symbolisierten in einer selbst abgeleiteten symbolischen Sphäre wie von der dazu n o t w e n d i g e n Destruktivität sprach analog dazu, wie oben dargestellt, W L , wobei, w a s in Reys Lektüre der G T die Musik darstellt, in W L in den entbunden metaphorisierenden Intellekt übersetzt wäre. Als letztes Beispiel einer Infragestellung der Vorstellung einer „ K o n v e r sion in Nietzsches Denken während der Zeit, die der Niederschrift der Geburt der Tragödie f o l g t " (de M a n 1988, S. 160), seien Paul de Mans Lektüren v o n sowohl G T als auch W L und der F r a g m e n t e dieser Zeit angeführt. De M a n gelangt in seiner rhetorisch geschärften Analyse zu der V e r m u t u n g , daß der schwache „Erzählzusammenhang[ ] " (S. 124) und das „schwankende[ ] Bew e r t u n g s s y s t e m " (S. 135) der G T einem ,,grundlegende[n], tieferefn] Wertungsschema" aufliege und „Nietzsche im Bann einer mächtigen metaphysischen A n n a h m e über die Natur der Sprache g e w e s e n ist, die bestimmt war, seinen begrifflichen und rhetorischen Diskurs zu kontrollieren" (S. 127). So übersetzt de M a n Nietzsches Rede v o m „Gegensatz der Erscheinung und des Dinges" ( G T 21; K S A 1, 139) in „die Beziehung zwischen figuraler und eigentlicher B e d e u t u n g " (S. 131) und zeigt, inwiefern Nietzsches Begriff v o n Metapher, wie er im (einzigen) definitorischen Satz der G T über sie („Die

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Böning sieht in der G T insgesamt „eine neue, m e t a p h o r i s c h g e f a ß t e W e l t a n s c h a u u n g ' " , die eine Ästhetik nicht nur als Kunstlehre, sondern eben auch als „ L e h r e von der W a h r n e h m u n g , d. h. E r k e n n t n i s k r i t i k " liefert. ( B ö n i n g 1988, S. 241)

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Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.": GT 8; KSA 1, 60) sich formuliert findet, „sich genau mit der Auffassung der Sprache als einem System symbolischer Bedeutung [in der GT deckt]" {ebd.). So wird die „apollinische Erscheinung" schlechterdings als Metapher lesbar, deren Bedeutung aber „nicht die empirische Realität [ist], die sie zur Darstellung bringt, sondern die dionysische Einsicht in die illusorische Beschaffenheit dieser Wirklichkeit" (S. 132); eine Einsicht, die, wie man hier ergänzen kann, ohne große Mühe in die Wahrheit von WL, welche sich dem Vergessen ihrer metaphorischen Beschaffenheit verdankt, übersetzbar ist. Das entscheidende Feld der Konvergenz, so ist hier zusammenfassend und ergänzend zu sagen, liegt darin, daß sowohl die GT und ihre Vorarbeiten wie WL und die Fragmente zum ,Philosophenbuch' um das Problem der Übertragung oder Übersetzung kreisen und dies zugleich als ein solches der Kunst und Künstlichkeit von Formen und deren Inkommensurabilität fassen. (Selbst die von C. Crawford in Erinnerung gerufenen kritischen Notizen zu Schopenhauer von 1867/68 [nachzulesen — außer bei Crawford 1988, S. 233 ff. — in BAW 3, S. 352 ff.] lassen sich als eine Art Klage über Schopenhauers Umgehung des Problems des Wie und Woher der Übersetzbarkeit von Wille und/in Vorstellung bzw. Erscheinung lesen; dies vor allem, wenn man ihre Problemstellung wenige Jahre später deutlich in eine solche der Stellvertretung, der Symbolisierung übersetzt sieht [„Was ist das Bewußtwerden einer Willensregung? Ein immer deutlicher werdendes Symbolisiren. Die Sprache, das Wort nichts als Symbol.": III 5[80]; KSA 7, 113]) Zugleich mit der Frage der (Nicht-)Übersetzbarkeit der Formen oder Ausdrucks-"Sphären" (vgl. ζ. B. GT 8; KSA 1, 64 und WL 1; KSA 1, 879) 5 untereinander, d. h. auch des notwendigen „Sprungs" zwischen ihnen, 6 wird stets diejenige nach ihrer Ausdrucksfähigkeit 7 bzw. Arbitrarität gegenüber dem in ihnen Ausgedrückten wie Ausgesparten (Welt, Ding an sich etc.) gestellt und die Hierarchie der Sphären in Form einer behaupteten Herkunft der einen aus der anderen konstruiert, wie dies bereits in der obenstehenden Lektüre von WL verfolgt wurde. Mit dieser genealogischen Konstruktion, die sich im stets wiederkehrenden Verwandtschafts- und Familienvokabular

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Vgl. auch die F r a g m e n t e III 3[20], 9[10] u n d 16[6]. In G T geht es vor allem um den S p r u n g zwischen D i o n y s i s c h e m u n d A p o l l i n i s c h e m ( v g l . auch F r a g m e n t III 7[97]; K S A 7, 160) und — k e i n e s w e g s d e c k u n g s g l e i c h d a m i t — zwischen M u s i k einerseits und Bild, Vorstellung, aber auch Wort u n d B e g r i f f andererseits; in W L ζ. B. u m die S p r ü n g e z w i s c h e n den Stufen der S p r a c h b i l d u n g ( N e r v e n r e i z , Bild, Laut). Vgl. F. G e r r a t a n a s treffende B e m e r k u n g über „Nietzsches v o r h e r r s c h e n d e s Interesse an den P r o b l e m e n von A u s d r u c k und M i t t e i l u n g " (Gerratana 1988, S. 417, A n m . 45).

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äußert, geht dabei diejenige einer Verfallsgeschichte einher: sei es der Tragödie, die am Entzug der Musik, sei es der Metapher, die an ihrer Fixierung im Begriff stirbt; beide Male also ein Verfall, der im Entzug des Ursprungs des Verfallenden selbst begründet liegt. Ein anderer Sachverhalt, der die Kunsttheorie der G T und die Wahrheitsund Erkenntnistheorie von W L in gegenseitiger Attraktion und Durchdring u n g hält, ergibt sich aus dem Gang der Fragmente von 1870 — 73 gerade hinsichtlich der genannten Begriffe von Form und Kunst. In diesen changieren und wenden sich immer wieder Bedeutungseffekte, die sie als eher erkenntnis- oder kunsttheoretisch erscheinen lassen. 8 Von diesem wechselnden Ausschlagen der Begriffe in gewandelten diskursiven Konnotationen hatte Nietzsche ein deutliches Bewußtsein; dies zeigt sich, wenn er bei der „Zeugung'' die „unbewußte formenbildende Kraft" sich zeigen sieht und weiter vermutet, hier sei „doch ein Kunsttrieb thätig", um im folgenden Kunst und gewöhnliche Anschauung als zwei Seiten dieses selben Triebes zu erwägen: Es scheint d e r g l e i c h e K u n s t t r i e b zu sein, d e r den K ü n s t l e r z u m Idealisiren d e r N a t u r z w i n g t u n d der jeden M e n s c h e n z u m b i l d l i c h e n A n s c h a u e n seiner selbst u n d d e r N a t u r z w i n g t . Zuletzt m u ß er die C o n s t r u k t i o n des A u g e s v e r a n l a ß t h a b e n . D e r Intellekt e r w e i s t sich als eine Folge eines z u n ä c h s t k ü n s t l e r i s c h e n A p p a r a t e s . (III 16[13]; K S A 7, 3 9 7 )

Dies alles wird nicht gesagt, ohne daß — kurz zuvor (III 16[6]) wie danach (III 16[21]) — die Gesetze der Kunst insgesamt in geradezu kategorischem Gestus mit dem „Übertragen" (ebd.; K S A 7, 402) konnotiert werden. Die Fiktivität im Sinne der poiesis und diejenige im Sinne des kritischen Bewußtseins von der Arbitrarität der Erkenntnis gegenüber dem sich entziehenden Ding an sich sind konvergent geworden. In der Chronologie der Fragmente aber realisiert sich dies so, daß Nietzsche ein begriffliches Ensemble stets eine Zeitlang auf der einen Ebene hält, um es — manchmal im Laufe sehr weniger Fragmente — auf eine andere umschlagen zu lassen, ohne daß er die verwendeten Begriffe austauschen müßte, die vielmehr, oft durch die Einführung nur eines neuen Begriffs, sämtlich als verschobene eine neue Bedeutungssabschattung erkennen lassen: gleich der Leibnizschen Welt der

H

Nur ein Beispiel unter vielen möglichen: der Begriff der Spiegelung, der in GT firmiert — die dionysische Musik als „Spiegel des Weltwillens" (GT 17; KSA 1, 112), aber auch der „Spiegel des Scheines" (GT 5; KSA 1, 45), der „Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe" (GT 6; KSA 1, 50), in dem die Musik „erscheint" —, wird in einem gleichzeitigen Fragment von dieser Konnotation: Bild und Begriff als die „apollinischen Spiegelungen des dionysischen Grundes" (III 8[41 ]; KSA 7, 238), unmittelbar sprach-, symbol-und erkenntnistheoretisch gewendet: „So beginnt der Mensch mit diesen Bilderprojektionen und Symbolen. Alle künstlerischen Bilder sind nur Symbole [...] Unsere ganze Erscheinungswelt ist ein Symbol des Triebes. [...] Wenn der Intellekt rein Spiegel wäre? Aber die Begriffe sind mehr" (ebd.\ KSA 7, 239).

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Substanzen, die durch die Änderung (in) auch nur einer von ihnen sich insgesamt wandelt. 9 Die ästhetischen bzw. erkenntnistheoretischen — und später, in der Vorbereitung der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung, historiologischen — Diskursausformungen verdanken sich so einem eher gleitenden als distinktiv-definitorischen Umgang Nietzsches mit den verwendeten und verschobenen Begriffen bzw. Zeichen. Diesen von mir hier nur sehr grob und in Andeutungen skizzierten Prozeß und seine Bedeutungseffekte nachzuzeichnen, bedürfte es eines anderen und entschieden weiter gesteckten Rahmens als er hier gegeben ist. Stattdessen möchte ich mich im folgenden darauf beschränken, gestützt auf die soeben, wenn auch nur tastend und vorläufig vorgebrachten, methodischen Beobachtungen und Argumente, versuchsweise jenen Entwurf zur GT, der in der Ausgabe von Colli und Montinari die Nr. III 12[1] trägt, in metaphern-, d. h. übertragungstheoretischer Ab- und Hinsicht zu lesen, ihn also in eine, wie auch immer widerstreitende Komparabilität mit WL und dessen Kontext zu versetzen, ihn, anders gesagt, in die ,Sphäre' zu übersetzen, in die auch Nietzsches Denken sich kurze Zeit später bewegen sollte.

Metapher

und Musik / WL und das Fragment

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Wie die Metapher in WL nicht nur als regionales Phänomen angesehen ist, sondern von Nietzsche in einer vehementen Generalisierung zum Schlüsselkonzept einer Genealogie des Triebs zur Wahrheit gemacht wird,' 0 so wird im Fragment III 12[1] vom Frühjahr 1871 versucht, die Musik — ganz im Sinne der Geburt der Tragödie — in ihre metaphysischen Ursprungsrechte wiedereinzusetzen. Beide Male geschieht dies in einer Metaphorik der Verwandtschaftsbeziehung; ist in WL die Metapher, die „Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so " Vgl. L e i b n i z ' Brief an A r n a u l d v o m 9. O k t . 1687; in L e i b n i z 1967, S. 98 f. "' N i c h t s d e s t o w e n i g e r — oder g e r a d e deshalb — ist diese ,Wahl der Waffen' e t w a bei G i o r g i o Colli o b ihrer „ E i n s e i t i g k e i t " eher auf ein g e w i s s e s M i ß t r a u e n und U n v e r s t ä n d n i s gestoßen. In seinem N a c h w o r t zu Nietzsches Basler Schriften b e k l a g t Colli: „Nietzsche w ä h l t eine g e n a u u m s c h r i e b e n e F o r m der . Ü b e r t r a g u n g ' , die in der A b s t r a k t i o n der Sprache v e r a n k e r t ist, u m ein universales P h ä n o m e n zu erklären, v o n d e m die Sprache einen besonderen A s p e k t darstellt. M i t a n d e r e n Worten: Nietzsche selbst b e g e h t die S ü n d e der Metapher, i n d e m er alles in m e t a p h o r i s c h e n Termini erklärt, denn der v o n i h m v o r g e s c h l a g e n e M e t a p h e r - B e g r i f f ist seinerseits eine interpretatorische , M e t a p h e r ' eines l e b e n s w i c h t i g e n und universalen Prozesses, der der M e t a p h e r ähnlich ist, sie einschließt, aber andere, k o m p l e x e r e und w e n i g e r g r e i f b a r e M e r k m a l e a u f w e i s t . " ( K S A 1, 918) J a h r e später sollte G i a n n i Vattimo besonders den 2. Teil v o n W L als rousseauistische V e r f l a c h u n g einer Idee des Ü b e r m e n s c h e n im Vergleich zu Nietzsches „Schriften der R e i f e z e i t " a b w e r t e n ( V a t t i m o 1986, S. 57 ff.), w o m i t er z u g l e i c h v o n seiner früheren W ü r d i g u n g v o n W L a b r ü c k t e ( v g l . Vattimo 1967, S. 119).

Die Version der M e t a p h e r z w i s c h e n M u s i k und B e g r i f f

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doch die Grossmutter eines jeden Begriffs" (WL 1; KSA 1, 882), so geht es Nietzsche im Fragment III 12[1] darum, die männliche Linie einer Genealogie ins Bewußtsein zu rufen: „Musik zu einem Gedichte zu machen d. h. ein Gedicht durch Musik illustriren zu wollen, um damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen", dies „Unterfangen" kommt Nietzsche vor, „als ob ein Sohn seinen Vater zeugen wollte!" (ebd.; KSA 7, 362) Vor allem aber bietet sich dieser Text für eine vergleichende Rückschau in die Zeit der GT von WL aus an, weil hier die Revalorisierung der Musik am Leitfaden einer ausformulierten Sprachtheorie erfolgt, insofern „als ursprüngliches Vorbild jener Vereinigung von Musik und Lyrik die von der Natur vorgebildete Doppelbett im Wesen der Sprache gelten" (ebd.·, KSA 7, 360) soll. Wie später in WL zwischen den „Sphären" von „Subjekt und Objekt", aber auch zwischen Nervenreiz und Bild „das Verhältniss [...] an sich kein nothwendiges" (WL 1; KSA 1, 884) ist und die Sprachenvielfalt als Indiz für die Nichtadäquanz des sprachlichen Ausdrucks zu dem, was er auszudrücken hätte, dient (vgl. KSA 1, 879), so heißt es schon im Fragment III 12[1 ]: „In der Vielheit der Sprachen giebt sich sofort die Thatsache kund, daß Wort und Ding sich nicht vollständig und nothwendig decken, sondern daß das Wort ein Symbol ist." (ebd.·, KSA 7, 360) Das so Symbolisierte selbst aber wird in terminologischer Anlehnung an Schopenhauer auf den Bereich der „Vorstellungen" eingeschränkt, wobei Nietzsche allerdings in ausdrücklicher Distanzierung von Schopenhauers Behauptung, daß die Musik „nie die Erscheinung, sondern allein das innere Wesen, das Ansich aller Erscheinung, den Willen selbst, ausspricht" (Schopenhauer 1977, 1, § 52, S. 328), dessen „Willen" nicht als das Erscheinende, sondern lediglich „als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren" (III 12[1]; KSA 7, 361) gelten läßt, so wie auch in WL das „ ,Ding an sich' [...] auch dem Sprachbildner ganz unfasslich" (WL 1; KSA 1, 879) bleibt. Jener sogenannte „Wille", von Nietzsche stets in Anführungszeichen geschrieben, fungiert bei ihm also als ein Name für einen der zwei von ihm differenzierten Bereiche von Vorstellungen, den der „Lust- und Unlustgrade — Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes" (III 12[1]; KSA 7, 361), wie Nietzsche nochmals betont. Diese nun „symbolisiren sich im Tone des Sprechenden: während sämmtliche übrigen Vorstellungen durch die Geberdensymbolik des Sprechenden bezeichnet werden", worunter Nietzsche den „Bereich des Consonantischen und Vokalischen", also die „Stellungen der Sprechorgane" (ebd.) versteht. „Insofern jener Urgrund in allen Menschen derselbe ist, ist auch der Tonuntergrund der allgemeine und über die Verschiedenheit der Sprachen hinaus verständliche", womit die Nähe zu Schopenhauer wiederhergestellt wäre, der die Musik als „eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft", bezeichnet,

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die „von Jedem augenblicklich verstanden wird" (Schopenhauer 1977, I, § 52, S. 322). Dieser sprachspekulativ formulierten „ D o p p e l b e t t im Wesen der Sprache" aber setzt Nietzsche einen „historischen Prozeß" der „Entwicklung der Musik" analog, in welchem der so gefaßte „Wille", also die allgemein verständliche Seite der Sprache, „zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck [kommt]" (III 12[1]; KSA 7, 362). Statt zunächst das Wie dieser zunehmenden Adäquanz zu präzisieren, supplementiert Nietzsche jenen Prozeß durch das „nebenher" verlaufende „fortwährende Streben der Lyrik [...], die Musik in Bildern zu umschreiben" (ebd.). Diese in sich gedoppelte Entwicklung erst entspricht jenem in der Sprache „uranfänglich vorgebildeten]" Doppelwesen in dessen Supplementierung von distinktiv-signifikantem und musikalischtonalem Aspekt: eine ursprüngliche Dopplung, die durchaus der „ungeheure[n] Allgemeinheit und Ursprünglichkeit der Vokalmusik, der Verbindung von Ton mit Bild und B e g r i f f (α. α. Ο., 360) analog ist, von der zuvor die Rede war, als Nietzsche seine Geschichte der Musik als eine solche beginnen ließ, die immer zugleich die von Sprache ist: „Die Musik jedes Volkes beginnt durchaus im Bunde mit der Lyrik, und lange bevor an eine absolute Musik gedacht werden kann, durchläuft sie in jener Vereinigung die wichtigsten Entwicklungsstufen." ( e b d . ) u Dieser Bund ist aber so bündig nicht; der Lyriker, zunächst als Verbündeter der Musik zu vermuten, ist, da er den „Bereich des ,Willens', den eigentlichen Inhalt und Gegenstand der Musik, sich in die Gleichnißwelt der Gefühle übersetzt", jenen Musikhörern vergleichbar, die, indem sie „eine Wirkung der Musik, auf ihre Affekte spüren", lediglich Zugang zu einem „Zwischenreich,, haben, „das ihnen gleichsam einen Vorgeschmack, einen sym-

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V g l . auch G M D ; K S A 1, 529: „ [ . . . ] aus dem Volkslied aber ist die g e s a m m t e a n t i k e D i c h t k u n s t und M u s i k h e r v o r g e w a c h s e n . [ . . . ] Die eigentlich g r i e c h i s c h e M u s i k ist d u r c h a u s V o k a l m u s i k : das natürliche Band der Wort- und Tonsprache ist noch nicht zerrissen". Vgl. dazu: Brüse 1984, S. 162 ff., der in G M D g e r a d e hinsichtlich der v o n Nietzsche dort betonten „ S c h w e sterschaft von Poesie und T o n k u n s t " ( K S A 1, 530) und des Fehlens des dionysischen M o m e n t s „bei der C h a r a k t e r i s i e r u n g der griechischen M u s i k " im Ziel einer „Vereinigung v o n eher g l e i c h b e r e c h t i g t e n K ü n s t e n , die sich g e g e n s e i t i g in ihrer W i r k u n g p o t e n z i e r e n " (Brüse, S. 163) eine W e r t u n g dieser K ü n s t e sieht, die mit D W einen p a r a d i g m a t i s c h e n Wechsel in R i c h t u n g auf eine T h e o r i e der absoluten M u s i k erleben sollte ( v g l . Brüse, S. 165 ff.). Da D W v o m W i n t e r 1969 bis S o m m e r 1870 s t a m m t , das F r a g m e n t III 12[1] aber v o m F r ü h j a h r 1871, ist die, w e n n a u c h — w i e w i r sehen w e r d e n — g e b r o c h e n e Insistenz auf jener „ S c h w e s t e r s c h a f t von Poesie und T o n k u n s t " in jenem „ D o p p e l p h ä n o m e n " (III 12[1]; K S A 7, 362) der lyrisch-musikalischen E n t w i c k l u n g u m s o b e m e r k e n s w e r t e r . Eine systematische U n t e r s u c h u n g des Verhältnisses des F r a g m e n t s III 12[1] z u m redaktionellen Text der G T überschritte bei w e i t e m den hier gesteckten R a h m e n . Es w i r d daher in dieser B e z i e h u n g im f o l g e n d e n bei w e n i g e n A n d e u t u n g e n bleiben müssen.

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bolischen Vorbegriff der eigentlichen Musik giebt" (α. α. Ο., 364), sie jedoch „zugleich aus ihren innersten Heiligthümern ausschließt." (α. α. Ο., 365) Der lyrische Übersetzer „deutet sich die Musik durch die symbolische Welt der Affekte [ . . . ] " (ebd.). Diese Deutung oder Ubersetzung ins Symbol oder Gleichnis, wie es oben hieß, schließt aber, wie jene stufenweise Metaphernbildung in W L , immer schon einen Sphärensprung ein. Selbst wenn Nietzsche auf der aktiven Ursprungsmacht der Musik bei der Produktion des lyrischen Liedes insistiert, indem er gegen die Vorstellung, der Musiker werde dabei „durch die Bilder" oder „durch die Gefühlssprache [...] [des] Textes erregt", seine Vision setzt, daß „eine aus ganz andern Sphaeren kommende Musikerregung [...] sich jenen Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst [wäh/t]" (α. α. Ο., 366), 1 2 so garantiert dies nichts für die Qualität oder Ausdruckskraft dieser Ubersetzung. Das Verhältnis zwischen Musikerregung und Liedertext bleibt, wie das zwischen Nervenreiz, Bild und Tonbild in W L , ein arbiträres: „Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein; denn die beiden hier in Bezug gebrachten Welten des Tons und des Bildes stehn sich zu fern, um mehr als eine äußerliche Verbindung eingehen zu können" ( e b d . ) . u Dies weist zurück auf die zuvor bereits unternommene Bestimmung des Verhältnisses jener Sphären, in der wieder, wie wir es schon in W L sahen, Kontinuität und Opposition sich reiben. Denn einerseits — und die Rede vom Vater-Sohn-Verhältnis untermauert dies — dekretiert Nietzsche eine klare Genealogie: „Die Musik kann Bilder aus sich erzeugen, die dann immer nur Schemata, gleichsam Beispiele ihres eigentlichen allgemeinen Inhaltes sein werden." (α. α. Ο., 362) Andererseits faßt er beide Bereiche auch hier so distinkt, daß zwischen ihnen eine merkwürdige Brücke notwendig wird: So gewiß aus der mysteriösen Burg des Musikers eine Brücke in's freie Land der Bilder führt — und der Lyriker schreitet über sie hin — so unmöglich ist es, den umgekehrten Weg zu gehen, obschon es Einige geben soll, welche wähnen, ihn gegangen zu sein. Man bevölkere die Luft mit der

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Vgl. G T 6, wo Nietzsche „die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüh[en]" und die Dichtung aus sich gebären läßt (ebd.; K S A 1, 48 f.) sowie die völlige Abhängigkeit der Lyrik „vom Geiste der Musik" (α. α. Ο., 51) betont. Die Sprache bleibt, „sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann." (α. α. Ο., 51 f.) Gerade in diesem Punkt versucht die redaktionelle GT-Version handstreichartig die Brüche der Übersetzungen, die auch dort virulent sind, zu überspielen. So spricht Nietzsche, wobei er sich auf eine Stelle aus einem Brief Schillers an Goethe beruft, wo jener in der Tat ,,[e]ine gewisse musikalische Gemüthsstimmung" an den Anfang der poetischen Produktion setzt („auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee"), von der „Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit dem Musiker" ( G T 5; K S A 1, 43): eine durchaus zerrissene Identität, wie wir im Fragment III 12[1] zu lesen bekommen!

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Detlef Otto Phantasie eines Rafael, m a n schaue, w i e er, die heilige Caecilia e n t z ü c k t den H a r m o n i e n d e r E n g e l c h ö r e lauschen — es d r i n g t kein T o n aus dieser in M u s i k s c h e i n b a r v e r l o r e n e n W e l t , ja stellten w i r uns n u r v o r , d a ß jene H a r m o n i e w i r k l i c h , d u r c h ein W u n d e r , uns zu e r k l i n g e n b e g ä n n e , w o h i n w ä r e n uns plötzlich Caecilia, Paulus und M a g d a l e n a , w o h i n selbst der s i n g e n d e E n g e l c h o r v e r s c h w u n d e n ! W i r w ü r d e n s o f o r t a u f h ö r e n , Rafael zu sein! U n d w i e auf jenem Bilde die w e l t l i c h e n I n s t r u m e n t e z e r t r ü m m e r t auf der E r d e liegen, so w ü r d e unsre M a l e r v i s i o n , v o n d e m H ö h e r e n besiegt, schattengleich verblassen u n d v e r l ö s c h e n . (α. α. Ο., 3 6 2 f.)

Wer sich an die Rhetorik von WL erinnert, wird sich dem Eindruck einer weitgehenden Ähnlichkeit zur eben zitierten Passage zunächst kaum entziehen können. 1st in WL vom „Schema" als dem begrifflichen Verflüchtigungsprodukt der „anschaulichen Metaphern" (WL 1; KSA 1, 881) die Rede, so sind es im Fragment III 12[1] gerade die „Bilder", also Anschauliches, das den an sich unanschaulichen Inhalt der Musik lediglich schematisiert. Dieses somit gerade ob seiner Anschaulichkeit als gegenüber dem Schematisierten selbst immer schon inadäquat Gedachte verliert aber durch das direkte Sich-zurGeltung-Bringen dieses Schematisierten, das Erklingen der Musik nämlich, seine Anschaulichkeit: Es verblaßt und verlischt, so wie in WL die Anschaulichkeit der Metaphern in den von ihnen hervorgebrachten Wahrheiten sich verliert, indem sich „die anschaulichen Metaphern zu einem Schema [...] verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff auf[ge]lös[t]" wird (WL 1; KSA 1, 881), die Metaphern „abgenutzt und sinnlich kraftlos" werden, die Münzen ihr Bild verlieren. Die — neben der vom Schema und vom Verblassen oder Verlöschen — dritte vergleichbare Metaphorik ist die der Beziehung zwischen einer Burg und dem sie umgebenden Land. Wie schon hinsichtlich der Wertung der Anschaulichkeit ergibt sich aber auch hier vor allem eine Inversion der Verhältnisse: Die „mysteriöse[ ] Burg des Musikers" erscheint nach allem bisher Gelesenen als Hort des Eigentlichen und Erzeugenden, während die „Zwingburg" (887) der nur scheinbar eigentlich benennenden Begriffe in WL das Produkt von Residuen ist; umgekehrt ist das „freie Land der Bilder" ohne Zugang zu dem, was die Bilder eigentlich nur schematisieren und dessen Erzeugnis sie sind, während in WL der ungebändigte „Trieb zur Metapherbildung" (ebd.) gerade als ein der Burg entronnener das eigene Werk fortsetzen kann. Was von seiner Metaphorik her zunächst wie eine Parallelität von Fragment III 12[1] und WL erschien, stellt sich also bei genauerer Lektüre eher als eine Umkehrung heraus. Diese Umkehrung scheint von einer Umwertung der Anschauung bewirkt; während sich Nietzsche in WL des öfteren bemüht, den „originalen Anschauungsmetaphern" (WL 1; KSA 1, 883) Ursprünglichkeit zuzusprechen, wird im Fragment III 12[1] — wie in der GT — die

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Anschauung als „Bild" immer wieder als sekundäre Spiegelung, als abgeleitet und dem, was eigentlich in ihm auszudrücken wäre, inadäquat abgewertet, so daß es etwa beim Erklingen der Musik verblassen muß. Insofern wäre der Kern dieser Umkehrung im Vergleich zum späteren Text und Kontext von W L in jenem Satz des Fragmentes formuliert, der nochmals den (onto-) logischen Vorrang der dem Schein entzogenen Musik vor der apollinischen Scheinwelt des Bildes stützen soll: „Die Lust am Scheine kann nicht aus sich die Lust am Nicht-Scheine erregen" (III 12[1]; K S A 7, 363). Denn ist nicht genau dies das Abenteuer von W L und seiner Metapherntheorie: die Frage zu beantworten, wie jenes täuschende und getäuschte Wesen Mensch, dessen Erkenntnisse nichts als Fiktionen und Illusionen sind, deren fiktives und illusorisches Wesen er sich überdies — Illusion der Illusion, Schein des Scheins — verbirgt, daß dieses Wesen eben sehr wohl eine „Lust am Nicht-Scheine", einen ,,ehrliche[n] und reine[n] Trieb zur Wahrheit" ( W L 1; KSA 1, 876) entwickelt hat? Im Fragment III 12[1] wird die Dimension des Nicht-Scheins dagegen nicht von einem selbst scheinhaften Effekt des Scheins, der begrifflichwissenschaftlichen Wahrheit, besetzt, sondern von dem, was dem Schein vorhergehen soll und von ihm eben nicht erzeugt werden kann, vielmehr umgekehrt ihn erzeugt: nämlich vom Ton; somit „muß uns jetzt der Gedanke nur abenteuerlich falsch dünken, welcher dem Bilde, dem Begriffe, dem Scheine irgendwie die Kraft beimäße, den Ton aus sich zu erzeugen" {ebd., KSA 7, 363), also dasjenige, was „eine Sphaere symbolisirt, die eben durch das apollinische Verlorensein im Scheine ausgeschlossen und überwunden ist!" (ebd.) Ist die Sphäre des Scheins stets die der Form, d. h. der scheinhaften Individuation, so gilt von der vom Schein zugleich überwundenen wie ihm entgehenden Musik, daß ihr Ursprung ,jenseits aller Individuation \liegt]" (α. α. Ο., 365). Doch verfehlt auch diese Figur einer einfachen Umkehrung eine einigermaßen präzise Fassung des Ubersetzungsverhältnisses zwischen unseren beiden Texten. Denn bei allen zuletzt für eine solche Option sprechenden textlichen Indizien bleibt stets daran zu erinnern, daß alle Behauptungen der Vorrangigkeit der Musik vor Wort, Bild, Vorstellung oder Begriff nicht vergessen machen können, daß erstens die Entwicklung der Musik selbst von Anfang an nicht ohne ihre Supplementierung durch diejenige der Lyrik, also ihre sich je von ihr und ihrer allgemeinen Verständlichkeit entfernt habende Übertragung ins sprachlich Individuierte begriffen ist und zweitens diese gedoppelte Entwicklung selbst nur Abbild einer wesentlichen Doppelheit nicht der Musik, sondern der Sprache genannt wurde. Wie metaphorisch oder buchstäblich der Ausdruck von der Musik als einer allgemein verständlichen Sprache auch immer zu verstehen sein mag, in diesem Text jedenfalls legt

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Nietzsche die zweigespaltene Musik nochmals auf die Folie der zweigespaltenen, tonalen wie differentiell-signifikanten Sprache, wodurch ihre allgemeine Verständlichkeit auf eine harte Probe gestellt wird; Grund genug, die Musik, die doch schlechterdings allgemein verständlich sein soll, einer Geschichte zu unterwerfen, in der erst, wie gelesen, ihr Gegenstand, die „Scala der Lust- und Unlustempfindungen [...] zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck [kommt]" (α. α. Ο., 362): eine Geschichte, die mit der „Allgemeinheit und Ursprünglichkeit der Vokalmusik" (α. α. Ο., 360; Hvg. ν. mir, D. O.) beginnt, um sich mit dem vokalmusikalisch supplementierten 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie gleichsam zu vollenden. Die prätendierte „Allgemeinheit und Ursprünglichkeit" der Musik wird so, indem diese als „Vokalmusik" vom sprachlich Individuierten selbst immer schon durchzogen ist und die „von der Natur vorgebildete Doppelbett im 1 4 Wesen der Sprache" zum Vorbild hat, deren eine Seite sie nachahmt, statt als Gegenteil sprachlicher Individuation und anfanglicher Grund dieser Musikgeschichte vielmehr als ihr (später) Effekt, sozusagen als ihr Ideal denkbar. Daß also das Sich-Erzeugen von Musik womöglich erst im Zuge der Sprache erfolgt, liest sich auch in jenem Satz Nietzsches, daß „sobald wir uns das Wort aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, [...] sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener Geberdensymbolik, der Tonuntergrund [erzeugt]" (α. α. Ο., 361 f.), verschiebt man nur den Akzent auf das, von Nietzsche ja hervorgehobene „Wort": erst mit seiner Hervorbringung erzeugt sich auch sein Fundament; erst an einem Sprachlichen wird das Musikalische als dessen Fundament erkennbar, dieses selbst also zum Effekt einer nachträglichen Interpretation. 15 (Dies kam bereits im oben angeführten Satz, daß die Musik erst eine Geschichte als Vokalmusik durchläuft, „lange bevor an eine absolute Musik gedacht werden kann" [a. a. O., 360; Hvg. v. mir, D. O.], zum Ausdruck, in dem lesbar wird, daß die absolute Musik vielleicht vor allem als ein Effekt abstrahierenden Denkens an sie, die in der Realität nie absolut existiert, entstanden sein, auch sie also durchaus etwas konstitutiv Fiktives beinhalten könnte.) So auch würde umso verständlicher, inwiefern sich die „Musikerregung" einen „Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst [ivählt\" (a. a. O., 366), wählen muß; ,als solche', was auch immer ,sie' sei, gäbe es sie nicht. Erst als je übertragene kommt sie dazu, die

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Vgl. auch das erstaunliche Fragment III 9[116], w o es u . a . heißt: „Der Takt ist die R ü c k w i r k u n g der Mimik auf die Musik: wie die Melodie Abbild des sprachlichen Gedankens, des Satzes ist." {ebd.·, KSA 7, 317) Hätte man so gelesen, wäre man vielleicht auch nicht mehr allzu frappiert von der scheinbar kompletten Umwertung der Musik in Μ A I, 215 und 216, w o die allgemeine Verständlichkeit der „absoluten Musik" als historischer Effekt einer durchaus nicht absolut musikalischen Entwicklung dargestellt wird.

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Adäquanz dessen in Frage zu stellen, dem sie ihr Erscheinen verdankt: der Sprache und ihrem „gleichnißartigen Ausdruck", anders gesagt: der Metapher selbst. Damit ist die zunächst erwogene Umkehrung aber nicht ihrerseits umgekehrt und etwa eine Identität der Sprachtheorien von WL und dem Fragment III 12[1] behauptet. Vielmehr ist am früheren Text diejenige Seite herausgearbeitet, die den, die Musik von der Sprache absolutierenden und die Ableitbarkeit dieser aus jener behauptenden Deklarationen Nietzsches — auch solchen in der GT — widerstreitet und den Text in eine Übersetzbarkeit mit WL bringt. Dies gilt vor allem für die jeweils letzten Seiten der beiden Texte, die darin übereinkommen, einen agon zu inszenieren, in dem es, vorsichtig gesagt, um die Sprache geht. Im Fragment wird dieser Kampf in derjenigen Vokalmusik geführt und entschieden, in der sich der Kreis der Entwicklung zur anfänglichen „Urlyrik" (ebd.; KS A 7, 360) schließt, im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie. Das Schillersche Gedicht, der Musik gegenüber „gänzlich incongruent", wird von dieser „wie blasses Mondlicht von jenem Flammenmeere überfluthet" (a. a. O., 366). Die besagte Inkongruenz des Textes gegenüber „dem dithyrambischen Welterlösungsjubel dieser Musik" (ebd.) wirkt nur deshalb nicht „störend, beunruhigend, selbst roh und beleidigend" (a. a. O., 367), „weil wir, durch die Musik für Bild und Wort völlig depotenzirt, bereits gar nichts von dem Gedichte Schiller's hören" (a. a. O., 366). 16 Wozu dann, so könnte man hier fragen, erst ein Gedicht, einen Text verwenden, wenn er doch nicht gehört werden soll? Nietzsche begründet dies durchaus als historische Erfüllung jener bereits angeführten Notwendigkeit für die „Musikerregung", sich „einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst" (ebd.) zu suchen; auch Beethoven nämlich „brauchte [...] den überzeugenden Ton der Menschenstimme, [...] die Unschuldsweise des Volksgesanges" (a. a. O., 367), um jene „angenehmere[n] [...] und freudenvollere[n]" Töne anzustimmen. Um dies zu erläutern, führt Nietzsche Wagners „Beethoven"-Schrift an, wo dieser in jenem symphonischen Satz die „,Gesangstimmen [...] wie menschliche Instrumente behandelt' " sieht, den „ ,Text' " aber „ ,lediglich als Material " Zur Depotenzierung des Scheins vgl. auch DW 3; KSA 1, 571: „Wer besiegt die Macht des Scheins und depotenzirt ihn zum Symbol?/ Dies ist die Musik." Von einer umgekehrten Depotenzierung weil! Nietzsche angesichts „des Sänger-Schauspielers, des musikalischen Dramatikers" in einem anderen, gleichzeitigen Fragment zu berichten, das offenbar in den Zusammenhang der Kritik an der „ C u l t u r der Oper" (KSA 1, 120) in GT 19 gehört: „Der Ton wird sofort als Affektsprache verstanden. Die rein musikalische Wirkung ist sogleich depotenzirt zu einer Affektwirkung.''' (III 9[126J; KSA 7, 321) Wer würde hier nicht an jene andere, ebenfalls ein als Ursprüngliches Inszeniertes sofort tötende Verflüchtigung in Form der begrifflichen Schematisierung der Metapher erinnert, wie sie in W L beschrieben wird? (vgl. W L 1; KSA 1, 879)

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für den Stimmgesang'" (ebd.). 1 7 Der „Wortinhalt" also geht „ungehört in dem allgemeinen Klangmeere unter[...]" (α. α. Ο., 368), womit dieser Beethovensche Satz, wie Nietzsche nochmals betont, „nichts Vereinzeltes und Absonderliches [ist], sondern die allgemeine und ewig gültige Norm in der Vokalmusik aller Zeiten, die dem Ursprünge des lyrischen Liedes einzig gemäß ist" {ebd.). Dies weiß Nietzsche zum Schluß mit der suggestiven Frage zu untermauern, ob denn die „großen antiken Lyriker [...] auch nur daran gedacht haben können, der umherstehenden lauschenden Volksmenge mit ihrer Bilder- und Gedankenwelt deutlich zu werden" (α. α. Ο., 368f.), womit wir uns im Kontext der Verurteilung jener „Cultur der Oper" (GT 19; KSA 1, 120) befinden, des laut Nietzsche außerkünstlerischen Wunsches nach Affektivität der Musik und Verständlichkeit ihres Textes, wie er im Rezitativ seit der florentinischen Renaissance zum Ausdruck kommt, also dessen, was vor allem im Kap. 19 der GT verhandelt und bekämpft wird. 1 8 Statt dieser deutlichen Verständlichkeit findet sich in der pindarschen Lyrik und den äschyleischen Chorgesängen ein „ungestüm sich neu gebärende[r] Bilderstrudel", ein „Orakelton des Ganzen" (III 12[1]; KSA 7, 369), den man oft nicht einmal „ohne die Ablenkung von Musik und Orchestik" versteht; denn nicht dem Rezipienten, dem er „nichts mitzutheilen hat", sondern „sich" mußte der Lyriker „die Musik [...] durch die Symbolik der Bilder und Affekte deuten [...]" {ebd.). Was dem Hörer bleibt, ist eine Musik, deren notwendiges Ingredienz ein Text ist, der durch die Musik bzw. den Ton selbst daran gehindert wird, sich als Text, als Sprachliches mit jener anfangs von Nietzsche vorgestellten Doppelseitigkeit zur Geltung zu bringen. Der „gleichnißartige[ ] Ausdruck" der Musik, ihre Metapher also, darf selbst nicht als Metapher in Erscheinung treten, insofern sie damit ein Bild, eine Vorstellung, einen Begriff, schlechterdings eine Bedeutung zum Ergebnis hätte. Was die Musik dem Text, der zugleich ihre eigene Metapher ist, um ihres ungestörten Erklingens willen abzuringen hat, ist also eben jene tonale Seite der Sprache, die, extrahiert und im erklingenden Bunde mit der Orchestik, die andere Seite des Textes, sein artikuliert Signifikantes, am Zu-Stande-Kommen hindern muß. Insofern die Musik so ein Zustandekommen der sie (nur) metaphorisierenden Anschauung verhindert, kann mit Kierkegaard von ihr gesagt werden, daß dasjenige, „was eigentlich gehört werden soll, [...] sich fortwährend vom 17

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Zur Wandlung der Wagnerschen Auffassung des Verhältnisses von Musik und Text bzw. Handlung vgl. Brüse 1984, bes. S. 168 ff. sowie Kropfinger 1985. Daß und wie sich Nietzsches Position in diesem Punkt vor allem gegenüber G M D wandelte, dazu vgl. wiederum Brüse 1984, S. 162 ff.

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Sinnlichen freifmacht]", und kann sie selbst als „metaphysischste aller Künste" 19 bezeichnet werden. Daß W L dennoch keine einfache Umkehrung des Fragmentes III 12[1] darstellt, liegt vor allem daran, daß in diesem die Musik ihre textliche Metapher zwar am Zustandebringen einer fixen, distinkten Anschauung oder Bedeutung hindern muß, um selbst ungestört zu erklingen, den Text aber dennoch zu diesem Erklingen nötig hat; den Text, insofern er zwar, wie Nietzsche nochmals Wagner zitiert, „,keineswegs Vernunftvorstellungen anregt'" 2 0 , uns aber sehr wohl „ ,mit dem Eindrucke wohlbekannter symbolischer Glaubensformeln berührt'" (Wagner zit. in ebd.\ KSA 7, 367 f.). Daß dieses Religiöse an einem Sprachlichen nicht am Zugang zu den „innersten Heiligthümern" (α. α. Ο., 365) der Musik hindert, mag gerade daran liegen, daß jene Formeln so wohlbekannt sind, daß sie keine Re-flexionen — und sei dies in buchstäblich anschaulicher Weise — mehr erregen: worin aber die Musik durchaus den zu Begriffen petrifizierten Metaphern in W L vergleichbar ist, die, auch sie, den Tod der Anschauung bedeuten (vgl. W L 1; KSA 1, 886); vergleichbar auch und gerade hinsichtlich der religiösen Konnotation der Begriffe in W L („Begriffshimmel", „Begriffsgott", „Begriffsdom[ ]" [a. a. 0 . , 882]). In W L aber hinsichtlich der Stellung und Bewertung des Begriffs, der dort der Metapher als deren (totes) Residuum entgegenzusetzen versucht wird, insofern eine reine Umkehrung des Fragments III 12[1] zu lesen, als in letzterem der Begriff in gleichem Atemzug mit den anderen Formen der Individuation: Anschauung, Vorstellung und Wort, als Gegensatz zur Musik als desindividuierender aufgeführt wird, wäre nur möglich, läse man nicht auch jene, von uns oben herausgearbeitete, der Metapher immanente Tendenz, die von ihr ermöglichten Bilder zu Begriffen gerinnen zu lassen, indem sie sie als solche identifizierbar macht, d. h. den Aspekt der Identität von Metapher und Begriff. Die Verwirrung aber, die Desartikulation der identifizierbaren und rubrizierbaren Anschauungen durch den Strom der Metaphern,

''' Der Hinweis auf die — soeben zuerst zitierte — Formulierung in Kierkegaards HntwederOder findet sich bei Böning 1988, S. 59. Was Böning nicht sagt, ist, daß Kierkegaard hier die Musik insofern unter die Sprache stellt, als in dieser erst möglicherweise „alles Sinnliche [...] negiert ist" (Kierkegaard 1988, S. 82) (während „die Musik ein sinnlicheres Medium als die Sprache ist" [S. 86]), was Kierkegaard allerdings nicht daran hindert, vielmehr ihm als Argument dafür dient, „in gewissem Sinne die Musik eine Sprache" zu nennen. (S. 82) 2" So wird auch Nietzsches Abwehr von Schopenhauers, von ihm anfangs zitierter „rationalistisch äußerliche[r] Motivierung" nur zu verständlich, „wonach unser anschauender und reflektirender Intellekt beim Anhören der Musik nicht ganz müßig sein mag" und man daher der Musik „,Worte, sogar auch eine anschaulich vorgeführte Handlung, zugesellt und unterlegt'", damit der Intellekt „,eine leichte und analoge Beschäftigung dabei erhalte'". ( I I I 12[1]; KSA 7, 359 f.)

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deren „Glanz" die eigene Anschaulichkeit eher in Frage stellt als garantiert, jene Seite an Nietzsches Inszenierung des Kampfes in W L 2, die den intuitiven Menschen schreien macht („er schreit laut und hat keinen Trost": ebd.·, KSA 1, 890): korrespondiert sie, statt der apollinischen Anschauung der schönen Formen, nicht vielmehr jenem „Bilderstrudel" (III 12[1]; KSA 7, 369), in dem diese Formen sich verschlungen finden, dem „Orakelton" {ebd.), der sie übertönt, dem die Anschauungen insgesamt überflutenden „Flammenmeere" (α. α. Ο., 366), in dem die Bilder eher verbrennen, als daß ihnen ein weiteres hinzugefügt würde? Und antwortet die Angst des Forschers vor dem Fortgeschwemmtwerden, die ihn den Schutz der Wissenschaft suchen läßt (vgl. W L 2; KSA 1, 886) und ihn zu einer Art von Untotem macht, 21 nicht jenem Untergang des ,,Wortinhalt[s] [...] in dem allgemeinen Klangmeere" (III 12[1]; KSA 7, 368)? Schützt er sich nicht vermittels der „wissenschaftlichen Wahrheit" vor den gleichen „.Wahrheiten"' (WL 2; KSA 1, 886), vor denen auch der Plastiker der Antike sich durch den „Spiegel des Scheines" schützte: „gegen das Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten" (GT 5; KSA 1, 45)? Der „dithyrambische[ ] Welterlösungsjubel [der] Musik" (III 12[1]; KSA 7, 366), deren „Ursprung [...] jenseits aller Individuation" (α. α. Ο., 365) liegt: diese die Individuation (auch und gerade der Anschauung) auflösende Tendenz der Musik, durch die jede malerische Vision besiegt wird, „wie auf jenem Bilde [des Raffael] die weltlichen Instrumente zertrümmert auf der Erde liegen" (α. α. Ο., 363), hätte somit in jener Version der Metapher eine Übersetzung gefunden, die Nietzsche als Destruktion der individuierten Formen präsentiert, als Zerschlagen und Durcheinanderwerfen der zu Begriffsarchitekturen geronnenen Metaphern (vgl. W L 2; KSA 1, 888), als Verrücken der „Gränzsteine" (ebd.)22 durch die als ihre eigene Bewegung aufgefaßte Metapher, ihr unbegrenzt maßloses 23 Gleichsetzen von NichtGleichem, ja Fremdestem, anders gesagt: als ihr dionysisches Verschmelzen-

21

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Sollte man mir hier eine allzu wilde Metaphorik vorwerfen wollen, so lese man zunächst den Aph. 372 („Warum wir keine Idealisten sind") der FW: „Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. [...] Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden - [...]" (ebd.; KSA 3, 624). Auch der Grenzsteine sozialer Hierarchie: womit eine weitere Parallele der Destruktivität zwischen dem „seinem sonstigen Sklavendienstc enthoben[en]", „seine Saturnalien" feiernden „Intellekt" in W L 2 (KSA 1, 888) und den anarchistischen Wirkungen der „dionysische[n] Erregung" betont sei, wie sie Nietzsche in GT inszeniert (vgl. ζ. B. GT 1 u. 9; KSA 1, 29 u. 61). Eine Version vielleicht auch jener Wahrheit als Übermaß in GT 4: „Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus" (KSA 1, 41): womit noch einmal an den Schrei und die Koinzidenz von höchstem Glück und höchstem Leid beim intuitiven Menschen in W L 2 erinnert sei. Vgl. auch DW 4; KSA 1, 575.

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lassen des (somit nicht länger) Individuierten im Strudel einer derart musikalisierten Sprache. Im Zuge seiner tropologisch-rhetorischen Wende hätte Nietzsche dann in WL die Metapher zwar zum Schlüsselbegriff einer genealogischen Theorie des Triebes zur Wahrheit gemacht; der apollinisch-dionysische Widerstreit der Zeit der Geburt der Tragödie wäre damit aber nicht verabschiedet oder überwunden zugunsten einer Generalisierung des Scheins in derjenigen der sprachlichen Übertragung. 2 4 Was Nietzsche vor allem in WL 2 vorführt, transzendiert vielmehr jede Figuration hin auf eine performative Abundanz der Metapher(n) bzw. des Triebs zur ihrer Bildung, die auch in keiner Tropologie festgeschriebener literarisch-rhetorischer Figuren mehr zu begreifen ist. 25 Stattdessen bleibt eine solche stets auf ihren selbst a-tropischen „Tonuntergruncf' hin geöffnet. Daß das Persuasive, statt auf den Katalog fest umrissener sprachlicher Tropen, sozusagen rhetorischer Gebärden, beschränkt zu sein, auch auf der Seite des Tonalen der Sprache liegt, liest sich auch in Nietzsches Formulierung vom „überzeugenden Ton der Menschenstimme" (III 12[1]; KSA 7, 367; Hvg. v. mir, D. O.), dessen Beethoven im 4. Satz der 9. Sinfonie bedurfte. Überzeugend ist der Ton dieser Stimme aber gerade dann, wenn der Text unverstanden bleibt, so daß der Ton vom Semantischen befreit ist und, wie Nietzsche Wagner zitiert, Materialwert bekommt wie jenes „Bretterwerk" (KSA 1, 888) der desartikulierten „Begriffsdome[ ]" (882) in WL 2. Nicht nur wäre damit etwas über die (Vokal-)Musik ausgesagt, daß nämlich ihr selbst als Tonalem persuasive und das heißt rhetorische Qualitäten eignen mögen, sondern es ist auch jede auf Persuasion zielende Rhetorik — diese als Praxis der Rede wie auch als deren Theorie verstanden — daran erinnert, 24

25

Somit wäre die hier vorgeschlagene Lektüre auch ein Baustein zur Beantwortung jener generellen Frage, wie Nietzsches Texte miteinander ins Verhältnis zu setzen sind, die P. de Man so formuliert: „Ist Nietzsches Werk als Prozeß strukturiert, als Bewegung des ,Werdens' — Nietzsches später Hinweis auf die ,Unschuld des Werdens' ist wohlbekannt —, oder ist es als Wiederholung strukturiert? Das Gewicht dieser Frage wird allein schon aus dem Zwangscharakter deutlich, mit dem Nietzsche selbst und nicht minder seine Interpreten immer wieder zu den Rätseln seiner frühen Geburt der Tragödie zurückgekehrt sind." (de Man 1988, S. 160) Vgl. hierzu — und insgesamt zu unserem letzten Abschnitt — Masini 1973, einen, soviel ich sehe, in der Literatur zu Nietzsche immer noch recht einsam dastehenden Text, in dem es um die Musikalisierung der Sprache in Nietzsches eigenem Text geht; dort heißt es auf S. 299 (es geht um eine Passage aus „Mittags": „Er überredet mich, ich weiss nicht wie?, er betupft mich innewendig mit schmeichelnder Hand, er zwingt mich. Ja er zwingt mich, dass meine Seele sich ausstreckt:-" [Za IV; KSA 4, 343]): „Die Teile der metaphorischen Rede sind häufig zu musikalischen Blöcken geordnet, die ganz nach einer Skala rhythmischer und tonaler Variationen kontrapunktiert sind; diese Variationen sind nicht mehr rein rhetorische Konstruktionen [...]"·

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daß die tecbne ihrer Figuration je eines Α-technischen 26 in Form ihrer musikalisch-tönenden Verlautung, d. h. eines Elementes reiner Performanz bedarf, das, als möglicherweise de-semantisierende Tonalisierung, diese Figuration stets zugleich in deren figürlich-bildlicher Persuasivität bedroht: 27 ein Risiko, das diese, um der eigenen Be-förderung, des eigenen Transports willen, unumgänglich auf sich zu nehmen hat. Die Metapher aber wäre somit schließlich selbst Organon und Objekt eines Widerstreits, der sie in ihre Versionen aufspaltet und zwischen ihnen gespannt hält. Diese Versionen, die einander so sehr brauchen wie sie einander beständig zu durchkreuzen suchen, sind zum einen die der Metapher eigene Tendenz (an die, wie gelesen, die Spezifität des Menschen geknüpft ist), als je (über-)konturierendes, eine falschliche und fiktive Form setzendes Wort schon dadurch, daß dies überhaupt als solches identifizierbar und verstanden wird, sofort sich „zu einem Schema zu verflüchtigen" (WL 1; KSA 1, 881), zu einem Begriff zu petrifizieren, der den Trieb zu ihrer eigenen Bildung selbst hemmt, zum anderen die Bewegung nicht zu begrenzender Übertragung in der Gleichsetzung des Fremdesten miteinander, 28 das daraus folgende Verschieben und Auflösen der worthaft-semantischen Identitäten in einen „Bilderstrudel" (III 12[1]; KSA 7, 369), in dem selbst jede distinkte Anschauung sich destruiert findet, so daß von jenen „unerhörten Begriffsfügungen" WL 2; KSA 1, 889; Hvg. v. mir, D. O.) - und wer hörte hier nicht die musikalische Fuge anklingen —, vom nicht mehr als solches verstandenen Wort einzig noch zu hören bliebe, womit einst Heimito von Doderer die Metapher — metaphorisierte: s o l c h ein k l e i n e r , steifer, h o l z b l ä s e r h a f t e r T o n . 2 9

26

27 28

29

Ich sehe hier, wie auch von einer systematischen Einbeziehung der Nietzscheschen RhetorikVorlesungen in diese Schlußerörterungen, von der den hier gegebenen Rahmen vollends sprengenden Untersuchung der Frage ab, ob das hier Gesagte nicht auch als Nietzsches Version einer Auseinandersetzung mit dem Problem des Α-technischen in der aristotelischen Rhetorik gelesen werden könnte. Dabei habe ich nicht etwa die äteebnoi des I. Buches im Sinn, also jene Beweismittel, die nicht in der Rede, technisch, erzeugt werden, sondern einfach vorliegen (vgl. Rhetorik I, 2.2, 1355 b), sondern die hypokrisis, das jenseits aller Stilistik beim Redner vorauszusetzende Talent zum Vortrag, zur Performanz der Rede, das sich vor allem im richtigen, d. h. überzeugenden Einsatz der Stimme, ihrer Tonlage, Lautstärke, ihrem Rhythmus etc. äußert und selbst eher nicht in den Bereich der Theorie fallt (vgl. Rhetorik III, 1.7, 140 a: „και εστί φ ύ σ ε ω ς τ ό υ π ο κ ρ ι τ ι κ ο ύ εΐυαι, και άτεχυότερου"). Zum Thema: Stil als trans-semantische Defiguration vgl. Wismann 1973, bes. S. 338. Dies wäre auch die surrealistische Version der Metapher gemäß der Bretonschen QuasiDefinition der Poesie: „Zwei denkbar weit voneinander entfernte Objekte vergleichen, oder sie, auf welche Weise immer, brüsk und frappierend aneinanderhalten, bleibt der höchste Ehrgeiz der Poesie." (Breton 1973, S. 95) Doderer 1964, S. 137.

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Literatur Aristoteles: The „Art" of Rhetoric [griech.-engl.], üb. John Henry Freese, Cambridge - London 1975 Böning, Thomas: „ ,Das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen' — Metaphysik und Sprache beim frühen Nietzsche", in: NietzscheStudien 15 (1986), S. 72—106 Böning, Thomas: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin — New York 1988 Breton, Andre: Die kommunizierenden Röhren, München 1973 Brüse, Klaus-Detlef: „Die griechische Tragödie als ,Gesamtkunstwerk' — Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche", in: NietzscheStudien 13 (1984), S. 1 5 6 - 1 7 6 Colli, Giorgio: „Nachwort", in: KSA 1 Crawford, Claudia: The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language, Berlin — New York 1988 Doderer, Heimito von: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940— 1950, München 1964 Gerber, Gustav: Die Sprache als Kunst, Berlin 2 1885 [1. Aufl. Bromberg 1871; Repr. der 2. Aufl. Hildesheim 1961] Gerratana, Federico: „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. HartmannRezeption Nietzsches ( 1 8 6 9 - 1 8 7 4 ) " , in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 3 9 1 - 4 3 3 Kierkegaard, Sören: Entweder-Oder, München 1988 Kofman, Sarah: Nietzsche et la metaphore, Paris 2 1983 [1. Aufl. 1972] Kropflnger, Klaus: „Wagners Musikbegriff und Nietzsches ,Geist der Musik' ", in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 1 - 1 2 Lacoue-Labarthe, Philippe: „Der Umweg", in: Nietzsche aus Frankreich, hg. Werner Hamacher, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1986, S. 7 5 - 1 1 0 ; [frz. Orig.: „Le detour (Nietzsche et la rhetorique)", zuerst in: Poetique 5 (1971), später, überarbeitet, in: Lacoue-Labarthe: Le sujet de la philosophie (Typographies /), Paris 1979] Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc (Hg.): Friedrich Nietzsche, „Rhetorique et langage", textes presentes et traduits par J.-L. Nancy et Ph. Lacoue-Labarthe, in: Poetique 5 (1971), S. 9 9 - 1 4 2 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Hauptwerke, zusammengefaßt und übertragen v. Gerhard Krüger, Stuttgart 1967 de Man, Paul: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988 [Teilübers. der amerikan. Orig.: Allegories of Reading, New Haven — London 1979 und The Rhetoric of Romanticism, New York 1984] Masini, Ferruccio: „Rhythmisch-metaphorische ,Bedeutungsfelder' in ,Also sprach Zarathustra'", in: Nietzsche-Studien 2 (1973), S. 2 7 6 - 3 0 7 Meijers, Anthonie: „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 3 6 9 - 3 9 0 Meijers, Anthonie/Stingelin, Martin: „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 350 — 368 Nancy, Jean-Luc: [siehe: Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc]

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Oehler, Max: Nietzsches Bibliothek [14. Jahresgabe der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs], Weimar 1942 Rey, Jean-Michel: l'enjeu des signes. lecture de Nietzsche, Paris 1971 Rey, Jean-Michel: „Die Genealogie Nietzsches", in: Geschichte der Philosophie, hg. Francois Chatelet, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1975, Bd. 6, S. 1 3 9 - 1 7 5 [frz. Orig.: Paris 1973] Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung /, Zürich 1977 [Bände 1 und 2 der Zürcher Ausgabe der Werke in zehn Bänden] Stingelin, Martin: „Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 3 3 6 - 3 4 9 Stingelin, Martin: [siehe: Meijers, Anthonie/Stingelin, Martin] Vattimo, Gianni: Ipotesi su Nietzsche, Torino 1967 Vattimo, Gianni: Jenseits vom Subjekt, Wien 1986 [ital. Orig.: Al di lä del soggetto, Milano 1985] Wismann, Heinz: „Nietzsche et la philologie", in: Nietzsche aujourd'hui?, Paris 1973, Bd. 2, S. 3 2 5 - 3 4 4

III. Lektüre

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen. Über Nietzsches

Verhältnis Gustav

von

Karl Friedrich Gerber

ANDREA ORSUCCI,

Zöllner und

Pisa

I.

Seit Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts tragen auch namhafte Vertreter der exakten Naturwissenschaften mit beträchtlichen Anstößen zur Verbreitung und Erhellung der Schopenhauerschen Philosophie bei. Was die Farbentheorie betrifft, hebt 1870 Johann Czermak, Professor der Physiologie zuerst in Wien und später in Leipzig, hervor, wie die „mühsame empirische Forschung" nur langsam, durch die Untersuchungen von Young und dann von Helmholtz „zur E,ntwickelung jener Gedanken [...] geführt [hat], welche [...] von Schopenhauer allerdings in prägnantester Weise und schon längst ausgesprochen waren". 1 In denselben Jahren bezeichnet ein anderer bekannter Physiologe, Karl Rokitansky, Kant als „Mann der Physiologen" und tritt für „ein rechtes Verständniß des Schopenhauerschen Idealismus" 2 ein. Nietzsche nimmt Czermaks Aufsatz befriedigt zur Kenntnis („Einen großen Triumpf erlebte ich jüngst...") 3 , und die Tragweite der Behauptungen Rokitanskys entgeht seinem Freund Romundt nicht: so m a c h e ich D i c h a u f m e r k s a m auf d i e n e u e s t e A c q u i s i t i o n , die u n s e r e L e h r e g e w o n n e n in d e r P e r s o n des b e r ü h m t e n G r ü n d e r s d e r p a t h o l o g i s c h e n A n a t o m i e , R o k i t a n s k y in W i e n („die S o l i d a r i t ä t alles T h i e r l e b e n s " u n d „ d a s 1

2

3

J. Czermak: „Über Schopenhauer's Theorie der Farbe", in: Sitzungsberichte der mathematischnaturwissenschaftlichen C.lasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (Wien), Bd. LXII, II. Abt., Heft VI-X (1870), S. 397. Czermak weist daraufhin, daß Schopenhauers Feststellung „jener .vollen' Thätigkeit der Retina, welche die Empfindung ,weiß' bewirkt", mit denjenigen Untersuchungen von Young und Helmholtz fast vollkommen übereinstimmt, aus denen hervorgeht, daß „die volle Thätigkeit der Retina in der gleichzeitigen und gleichmäßigen Erregung aller drei Fasergattungen, der roth empfindenden, der grün empfindenden und der violett [...] empfindenden, bestehe" (ebd., S. 402). Vgl. auch J. C. F. Zöllner: Über die Natur der Cometen. Beiträge %ur Geschichte und Theorie der tirkenntniss, Leipzig, 1872 2 , S. 354 ff. K. Rokitansky: Der selbständige Werth des Wissens, Wien, 1869 2 , und: Die Solidarität alles Thierlebens, Wien, 1869. Rokitanskys Ansicht wird auch von A. Mayer (Die Sinnestäuschungen, Hallucinationen und Illusionen, Wien 1869) gebilligt. Siehe dazu auch O. Liebmann: „Ueber die Phanomenalität des Raumes", in Philosophische Monatshefte, VII (1871—72), S. 341. KSB 3, S. 161. (Brief an Carl von Gersdorff, 12. Dezember 1870).

194

Andrea Orsucci theoretische W i s s e n " . ) E s ist doch vortrefflich, daß gerade die Leute, denen die Z u k u n f t , wie bereits die G e g e n w a r t gehört, die Naturwissenschaftler sich heran bequemen. Dafür sind wir verpflichtet, uns mit den Naturwissenschaften bekannt zu m a c h e n . . . 4

Romundts Brief zeigt besonders deutlich, daß bei dem (Anfang der 70er Jahre auch von Nietzsche geteilten) Vorhaben, sich mit den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaft vertraut zu machen, auch das Bemühen eine Rolle spielt, den vielversprechenden Dialog nicht abreißen zu lassen, den bekannte Wissenschaftler mit Schopenhauers Philosophie angeknüpft hatten. Kurz nach Rokitansky und Czermak greift auch Johann Karl Friedrich Zöllner, Dozent für Astrophysik in Leipzig, Fechners Freund und zäher Verfechter von Wilhelm Eduard Webers elektrodynamischem Grundgesetz, in die Diskussion ein. Zöllners Werk Über die Natur der Cometen, in Jahren veröffentlicht, in denen, wie Wundt bemerkt, sogar „der Physiker das Bedürfniss einer philosophischen Begründung seiner Wissenschaft [...] rückhaltlos anerkennt" 5 , ist eine umfangreiche, aber unsystematische Behandlung verschiedener Fragen. Es handelt vom Problem der Beschaffenheit der Materie, berührt aber gleichzeitig Astronomie und Psychologie, Erkenntnistheorie und Geschichte der Naturwissenschaften. Der Name „des edlen Zöllner" 6 , eines Wissenschaftlers, dem Helmholtz „den Ton sittlicher Entrüstung" und die rückhaltlose Übernahme der „Schopenhauer'schen Metaphysik" zum Vorwurf macht 7 , kommt in er zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung an einer einzigen Stelle vor 8 , seine Untersuchung wird jedoch auf einer weiteren Seite dieser Schrift (und, was beachtlich ist, an einer Stelle, wo nicht von naturwissenschaftlichen Fragen die Rede ist) ausgewertet. Um diesen verborgenen Hinweis am Anfang des Werkes verstehen zu können, sollte zunächst ein anderes, in denselben Monaten (Sommer 1872 —Anfang 1873) verfaßtes Fragment (19[173]) berücksichtigt werden:

4 5

6

7

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K G Β II/2, S. 27 (Brief an Nietzsche, 17. Juli 1869). W. Wundts Besprechung von F. Harms: „Philosophische Einleitung in die Encyclopedic der Physik" (in G. Karsten: Allgemeine Bncyclopädie der Physik,, Erster Band, Leipzig, 1869, S. 5 4 - 4 1 4 ) , in Philosophische Monatshefte, V (1870) S. 253. KSA 7, 19 [94]. Nietzsche leiht Zöllners Werk mehrmals zwischen November 1872 und April 1874 in Basel aus. Später erwirbt er ein Exemplar des Buches, das ohne Lesespuren noch in seiner hinterlassenen Bibliothek in Weimar erhalten ist. H. Helmholtz: Vorrede zu W. Thomson und P. G. Tait: Handbuch der theoretischen Physik, Erster Band, Zweiter Theil, Braunschweig, 1874, S. V-VI. HL 6, KSA 1, S. 292. Zu Nietzsches Beschäftigung mit Zöllner vgl. K. Schlechta, A. Anders: triedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart Bad-Cannstatt 1961, S. 122 — 127. Zu berücksichtigen ist auch Nietzsches Brief an E. Rohde vom November 1872 (KSB 4, S. 86).

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen

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Sind die V e r d u n k e l u n g e n ζ. B. im Mittelalter wirklich Gesundheitsperioden, etwa Schlafenszeiten f ü r den intellektuellen G e n i u s der Menschen?

Diese Frage, so wie sie Mittelalter, Gesundheitsperioden und Schlafenszeiten verknüpft, ist nichts anderes als die Zusammenfassung einiger Seiten von Zöllners Werk, wo dieser hinsichtlich einer „Theorie der historischen Processe" scharf gegen H. Thomas Buckle, und zwar gegen dessen berühmte, 1860 — 61 von Arnold Rüge ins Deutsche übersetzte Geschichte der Civilisation in England9 zu Felde zieht. Buckle übersehe gänzlich „die gewaltigen und weltbewegenden Motive", die zu geschichtlichen Umwälzungen führen, „indem er den Einfluss religiöser und sittlicher Vorstellungen auf den Fortschritt der Civilisation läugnet oder nur als einen hemmenden und störenden darstellt". 10 So betrachten die Historiker, fährt Zöllner fort, Buckle nicht ausgenommen, immer noch zu oft „das ganze Mittelalter als ein pathologisches Zerrbild menschlicher Zustände [...], dessen man sich beim Licht unserer heutigen Erkenntniss und Cultur schämen müsste". 1 ' Dagegen seien „die Zeiten des Stillstandes und der Finsterniss in der Geschichte, mit Rücksicht auf die darin vorwaltende Tendenz zur religiösen Vertiefung, als Zeiten der Vorbereitung zur Empfänglichkeit sittlicher Motive" 1 2 anzusehen. Durch eine solche Betrachtungsweise gewinnt das Mittelalter eine ganz andere Bedeutung. Die feudale Gesellschaftsordnung und selbst die ebenfalls unbewegliche und erstarrte kirchliche Hierarchie führten nämlich zu einer gewaltigen Entfaltung der „sittlichen Tactgefühle", zur Potenzierung jener „Reaktionsfähigkeit", die sich als Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitmenschen äußert. Im Mittelalter förderten die in allen Bereichen wirkenden Zwänge „die unbewusste Tendenz zu einer ungeheueren Ansammlung solcher Motive, welche die Menschen nöthigen, ihre eigenen Handlungen mit peinlicher Rücksicht auf das davon abhängige Verhalten Anderer zu bemessen". 13 So sei jenes Zeitalter des grandiosen Kollektivschlafs als kräftigender und wiederbelebender Regenerationspro^eß zu begreifen, als langsamer und fast unmerklicher Vorgang, in welchem dem Einzelnen der Vorrang des Gemeinwohls beigebracht wird. Bei Buckle unbeachtet bleibe jener nur durch Übung im Laufe v o n G e n e r a t i o n e n entwickelte moralische Takt und Instinct, welcher sich gleichsam als Niederschlag aus den Zeitaltern religiöser und sittlicher Vertiefung im Blute der folgenden Generationen absetzt. Alles, was die Menschen an Tiefe und K r a f t des sittlichen Empfin-

H.T. Buckle: History of Civilisation Winter, Leipzig. 10 J. C. F. Zöllner, a. a. O., S. 370. 11 Ebd., S. 369. 12 Ebd., S. 376. " Ebd., S. 368 f. 9

in Tingland,

London 1857 — 61, deutsche Ausgabe bei

196

Andrea Orsucci

dens in Zeiten des Handelns und Erkennens in sich vorfinden [...], verdanken sie der vorangegangenen Entwickelung ihrer psychischen Reaktionsfähigkeit gegenüber fremden Handlungen. Aehnlich wie während des Schlafes die Gesammtthätigkeit unseres Organismus auf die Aufspeicherung und Regeneration von Kräften und Fähigkeiten für die Handlungen und Erkenntnissprocesse des folgenden Tages gerichtet ist, ähnlich sind jene Epochen des intellektuellen Rückschrittes und Stillstandes der Cultur die Zeiten zur Erneuerung des moralischen Instinctes behufs der Zweckmässigkeit eines thatkräftigen Handelns und Erkennens in kommenden Zeiten 14 . Z ö l l n e r s P r o l e g o m e n a zu einer G e s c h i c h t s t h e o r i e m ü s s e n a u c h

durch

a n d e r e E l e m e n t e N i e t z s c h e s Interesse g e w e c k t h a b e n . E i n e r s e i t s d u r c h die i m K o n t e x t d e r B e t r a c h t u n g e n ü b e r das M i t t e l a l t e r als Z e i t a l t e r einer logischen

physio-

R e g e n e r a t i o n g e t r o f f e n e F e s t s t e l l u n g , d a ß „ i m R e i c h e der h ö h e r e n

O r g a n i s m e n , s o w o h l b e i m I n d i v i d u u m als a u c h bei der G a t t u n g , N e u e s n u r unter Schmerzen und Blutvergiessen geboren werden kann".15 Andererseits d u r c h die I d e e e i n e s z y k l i s c h e n , o s z i l l a t o r i s c h e n G a n g e s der Z i v i l i s a t i o n s e n t wicklung: Bei hinreichender Ausdehnung des der Betrachtung unterworfenen Zeitraumes stellt sich [...] als der Inhalt eines solchen fundamentalen Gesammtzweckes, nach Analogie des Schlafes beim Individuum, die periodische Regeneration der fundamentalen psychischen Eigenschaften des Menschengeschlechtes heraus, durch welche es von andern Thiergattungen wesentlich unterschieden ist. Hierdurch gestaltet sich der fortschreitende Entwickelungsprocess der Menschheit zu einem periodischen oder allgemeiner oscillatorischen Process, in welchem ununterbrochen Zeiten des Fortschritts und der Cultur mit Zeiten des intellektuellen Rückschrittes und der Finsterniss abwechseln. — Den Bewegungen eines Pendels vergleichbar, welches beim Durchgange durch seine Gleichgewichtslage allen Kraftvorrath des Systems in Form von lebendiger Kraft repräsentiert und nothwendig erst die wieder mit Unlust verbundene entgegengesetzte Arbeit leisten muss, ehe es abermals jenes Maximum von lebendiger Kraft erreicht, welches bei inzwischen eingetretener Veränderung äusserer Umstände entweder grösser oder kleiner als das erste Mal sein kann, — ähnlich schwanken die Schicksale der Menschheit zwischen Epochen der Lust beim Erwachen und Zunehmen der Erkenntniss, und Epochen der Unlust bei hereinbrechender Finsterniss und Barbarei in Folge der durch die anstrengende Arbeit beim Handeln und Erkennen eingetretenen Erschöpfung an moralischen Instincten. Die Regeneration derselben kann nur, wie die physische Erfrischung beim Individuum im Schlafe, unter dem schützenden Dunkel der Nacht von Statten gehen 1 6 . 14 15 16

Ebd., S. 372 f. Ebd., S. 371 f. Ebd., S. 374. Siehe dazu die Anmerkungen A. Riehls in seiner Besprechung von Zöllners Werk (Philosophische Monatshefte, IX, 1874, insb. S. 137 f.).

U n b e w u ß t e Schlüsse, A n t i c i p a t i o n e n , Ü b e r t r a g u n g e n

197

Gerade diese Seiten Zöllners, die Nietzsche besonders sorfältig durchgesehen hatte (wie die in Fragment 19 [173] zwischen den Begriffen Mittelalter und Schlafenszeiten hergestellte Verbindung zeigt), haben sehr wahrscheinlich bedeutende Spuren in dem bekannten Auftakt von HL hinterlassen. Eindeutig kann dies aus der Gleichsetzung von historischem Sinne und physiologischer Schlaflosigkeit geschlossen werden: Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde [...]. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige Schaden kommt, und i^ulet^t Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur.17

II. Wenn also Zöllners Polemik gegen Buckle noch in den Betrachtungen des jungen Nietzsche über die Geschichte nachklingt, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit den ,,historische[n] Universaliste[n]" 18 , so tauchen in den Fragmenten aus den Jahren 1872 — 73 noch mehrmals andere aus Über die Natur der Cometen geschöpfte Gedanken und Ansichten auf. Zunächst, wie bekannt, die Ablehnung jenes einseitigen Verfahrens, wodurch in den Naturwissenschaften nunmehr „das unendliche Experimentiren und der Mangel an logisch-deductiver Kraft" 1 9 ausschlaggebend werden. Weiterhin das Bestreben, in Anlehnung an W. E. Webers Elektrodynamismus den Nachweis zu erbringen, daß alles in der Natur, die Bewegungen der Himmelskörper sowie die gegenseitige Anziehung der kleinsten Atome, durch dunkle, unbewußte Lust- und Unlustempfindungen geregelt sei. Auch die Stellen bei Zöllner, an denen die Theorie der unbewußten Schlüsse — seinerzeit schon von Schopenhauer formuliert, später experimentell durch die neueste Sinnesphysiologie weiterentwickelt — zur Debatte steht, werden von Nietzsche mit gleicher Aufmerksamkeit durchdacht. H L 1; K S A 1, S. 250. H L 9; K S A 1, S. 312. " K S A 7, 29 [24], Vgl. aber auch K S A 7, 19 [25], 29 [92] und 29 [200], Was Z ö l l n e r {a. a. O., S. 228 f.) als „ r e g r e s s i v e M e t a m o r p h o s e " der Wissenschaft a n g r e i f t ( „ E i n e r d e r a r t i g e n Ern i e d r i g u n g zu Sclavendienst im Reiche der Industrie haben sich n a m e n t l i c h g e w i s s e Theile der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n [ . . . ] g e f a l l e n lernen m ü s s e n " ) , w i r d auch von Nietzsche kritisiert, w e n n er d e m „wissenschaftlichen M e n s c h [ e n ] " den V o r w u r f macht, er v e r h a l t e sich „als ob die Wissenschaft eine F a b r i k " w ä r e , i n d e m er seinen F o r s c h u n g e n so einseitig n a c h g e h e und „so hart w i e der vierte Stand, der Sclavenstand, a r b e i t e t " ( D S 8; K S A 1, S. 202).

17

18

198

Andrea Orsucci

Zöllner stellt nachdrücklich fest, daß sich Ernst Heinrich Weber und besonders Helmholtz mit seinem Handbuch der physiologischen Optik (1867) auf einem bereits 1813 von Schopenhauer eingeschlagenen Weg bewegen, wenn sie zeigen, wie die optischen Wahrnehmungen aus Umarbeitungen von Empfindungsdaten resultieren, in denen intuitive Schlüsse und komplizierte intellectuelle Operationen wirken 2 0 . Indem Zöllner von der „Intellektualität" der Wahrnehmung handelt, von einem unbewußten „Kausalitätsbedürfnis", das den Übergang von der Empfindung zur Vorstellung bewirke 21 , beschränkt er sich nicht nur auf die Ergebnisse der Optik Helmholtz', sondern führt das Thema der „Analogieschlüsse" weiter. Er betrachtet sie nämlich als wahre Regulatoren der Lebensäusserungen22, deren Funktion sich selbst im sittlichen Handeln des Individuums als bestimmend erweise. Auf eine zweifache Weise bestimme das „Kausalitätsbedürfnis" den Wahrnehmungsprozeß. Zum einen indem es der Empfindung eine Ursache zuweist und so zur Vorstellung eines Gegenstandes anregt. Zum anderen indem es eine intellectuelle Anticipation der Wirkungen hervorruft, d. h. (ganz automatisch, durch Lust- oder Unlustzeichen) zur Abschätzung negativer oder positiver Folgen des Gesehenen für unsere Selbsterhaltung antreibt: „Durch unbewusste Schlüsse anticipiren wir bei der Wahrnehmung einer Naturerscheinung [...] aus einem gegenwärtigen stattfindenden Zustande die in der Folge eintretenden Veränderungen, und je nachdem dieselben gefahr- oder nutzbringend, sei es in irgend welchem Sinne, für uns sind, reagiren wir durch eine Empfindung der Unlust oder Lust". 2 3 Eigenartig ist in Zöllners Werk die in Helmholtz' physiologischer Optik noch nicht formulierte Hypothese, daß die Wirkung der „Analogieschlüsse" 20

Zöllner vergleicht Helmholz' Handbuch der physiologischen Optik (1867) mit Schopenhauers Schriften Ueber die pierfache Wurzel des Satzes vom reichenden Grunde (1813) und Ueber das Sehen und die Farben (zweite Auflage, 1854) und beobachtet, was die Wahrnehmungsprozesse betrifft, eine „vollkommene Übereinstimmung sowohl der Ansichten als auch der Argumente beider Denker in ihren Deductionen der Apriorität des Causalitätsgesetzes" (α. α. Ο., S. 344 — 50). Ε. von Hartmann dagegen ( P h i l o s o p h i e des Unbewussten, Berlin, 1870 2 ) berücksichtigt im 8. Kap. („Das Unbewusste in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung") des zweiten Teils seines Werkes Helmholtz' Theorie seltsamerweise nicht.

21

„Die erste Arbeit, welche die Verstandesthätigkeit noch unbewusst vollzieht, besteht darin, dass sie die durch den Reiz erzeugte Veränderung eines Empfindungszustandes als die Wirkung einer Ursache auffasst, und diese Ursache als ein in der Aussenwelt befindliches Object in Form einer Wahrnehmung anspricht" ( J . C. F. Zöllner, a. a. O., S. 175 f.). Schon in der Umarbeitung der Empfindungsdaten durch „unbewusste Verstandesoperationen" sind diejenigen Tätigkeiten aktiv — Hypothesenbildung, Induktion — die das Verhalten kennzeichnen, das „der wissenschaftliche Beobachter einer Erscheinung gegenüber" annimmt (a. a. O., S. 176 f.).

22

J . C. F. Zöllner, a. a. O., S. 201 ff. Bbd., S. 201 ff. und S. 362. Aber nicht nur der Terminus „unbewusste Schlüsse", sondern auch die bei Nietzsche anzutreffenden „Analogieschlüsse" und „Fehlschlüsse" finden sich in Zöllners Werk (S. 216, 320, 326 u. a.).

23

199

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen

nur in Zusammenhang mit Lust- oder Unlustempfindungen zustande k o m m t , und drüber hinaus sein Versuch, aus den Wahrnehmungstatsachen die Grundlage einer Theorie des sozialen Handelns zu entwickeln. Gerade auf dieselben Analogieschlüsse

und unbewußten

Verstandesoperationen,

die schon in einer einfa-

chen Wahrnehmung wirksam sind, gründe sich auch das sittliche Verhalten. Eine „vernünftige" Lebensführung entspringe aus der Potenzierung jener utilitaristischen, unbewußten Berechnungsfähigkeit, die in ihrer ursprünglichsten F o r m entscheidend in den Wahrnehmungsprozeß eingreift und dann ganz automatisch zu höchst komplizierten Leistungen gelangen kann, so daß es letztlich möglich wird, „bei dem für die Erreichung höherer

Zwecke

nothwendigen Zusammenleben mit Anderen, das [...] geringste Mass von Unlust für jeden einzelnen" zu bestimmen 2 4 . Nietzsche macht sich folglich Zöllners Ansicht zu eigen, daß gerade Verstandesoperationen die moralische Haltung herbeiführen. Deutliche Spuren des in Uber die Natur

der Cometen entwickelten Prozesses von den „un-

bewussten Schlüssen" zu moralischen Einschätzungen, lassen sich noch einmal in einem zwischen S o m m e r 1872 und Anfang 1873 verfaßten Fragment finden: Auch das Moralische hat keine andere Quelle als den Intellekt, aber die verbindende Bilderkette wirkt hier anders als bei dem Künstler und Denker: sie reizt zur That. Ganz gewiss ist das Empfinden des Ähnlichen, das Identißciren nothwendige Voraussetzung. Sodann Erinnerung an eignen Schmerz. Gut sein hieße also: sehr leicht identißciren und sehr schnell. Es ist also eine Verwandlung, ähnlich wie bei dem Schauspieler. Alle Rechtschaffenheit und alles Recht dagegen kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung sich nicht zu schädigen. Also aus Klugheit. [...] Das Vorausnehmen von möglichen Unlustempfindungen bestimmt die Handlung des rechtlichen Menschen: er kennt empirisch die Folgen der Verletzung des Nächsten: aber auch der Verletzung seiner selbst 2 '. Auch der so charakteristische Zöllnersche B e g r i f f antieipiren

geht jetzt in

Nietzsches Wortschatz über: Die Wahrheit fordert der Mensch und leistet sie im moralischen Verkehr mit Menschen, darauf beruht alles Zusammenleben. Man antieipirt die schlimmen Folgen gegenseitiger Lügen. 26

24

25 26

Hbd., S. 342 —44 und 361—64. Zöllner kommt so zu folgendem Schluß: „die Bedeutung einer Handlung [...] erschliesst sich uns im täglichen Leben ebenso durch unbewusste Schlüsse zum Zwecke der practischen Orientirung wie die Wahrnehmungen im Gebiete der Sinnesempfindungen" [ebd., S. 343 f.). K S A 7, 19 [931. v g ' · J- c · p · Zöllner, a. a. O., S. 2 0 0 f f . , 2 1 3 f f . , 218, 3 6 2 f f . K S A 7, 19 [97], Zum Gebrauch des Terminus antieipiren bei Zöllner vgl. u. a. S. 201 f., 343 u. 363.

200

Andrea Orsucci

Ein gewichtiger Grund für Nietzsches Aufmerksamkeit für Helmholtz' und Zöllners Doktrin der „unbewussten Schlüsse" liegt indessen woanders. Eine einzelne Wahrnehmung, auch wenn sie aus dem Zusammenwirken komplexer Verstandesoperationen hervorgeht, ruft jedenfalls eine Lust hervor, denn durch sie wird das „Bedürfniss der Causalität" befriedigt, und eine Deutung, eine aktive Kombination der Empfindungsdaten findet statt („Die Handlung ist [...] in der That nichts anderes als eine quantitative Steigerung der Reaction auf Reize") 2 7 . Nietzsche nimmt diesen Gedanken auf und entwickelt ihn weiter, indem er feststellt, daß gerade die mit den unbewußten Schlüssen verbundene Lust zum Antrieb für immer neue Erkenntnisse wird: Alle Triebe mit Lust und Unlust verbunden — einen Trieb zur Wahrheit d. h. zur völlig folgenlosen reinen affectlosen Wahrheit kann es nicht geben, denn dort hörte Lust und Unlust auf [...]. Die Lust ^u denken weist nicht auf ein Begehren nach Wahrheit. Die Lust aller Sinneswahrnehmungfen] liegt darin, dass sie mit Schlüssen zu Stande gebracht sind. Der Mensch schwimmt insofern immer in einem Lustmeere 28 .

Zöllner bietet Nietzsche also, indem er über Helmholtz hinausgeht und im Wahrnehmen eine Aktivität, ein unbewußtes Antizipieren entdeckt, einen neuen Anhaltspunkt, um nochmals an ein Problem heranzugehen, dessen Lösung Nietzsche vorher, 1869 — 1870, Schwierigkeiten bereitete: Wenn jede Lust Befriedigung des Willens und Förderung desselben ist, was ist die Lust an der Farbe? was die Lust am Ton? 29

III. In anderen Fragmenten greift Nietzsche eine weitere in Zöllners Werk aufgeworfene Frage auf: Ob nicht vielleicht auch in den kleinsten Atomen der anorganischen Welt ein dunkles Empfindungsvermögen zu finden sei („Ist es ein unbewußter Schluß? Schließt die Materie? Sie empfindet und kämpft für ihr individuelles Sein") 30 . 27

28 25 30

J. C. F. Zöllner, a. a. O., S. 213. Zum „Erklärungsbedürfniss unseres Verstandes" vgl. aber auch S. 175 ff. KSA 7, 29 [16] (Sommer-Herbst 1873). KSA 7, 3 [17] (Winter 1869/70 bis Frühling 1870). KSA 7, 19 [164] (Sommer 1872-Herbst 1873). Vgl. jedoch auch 19 [149], [159], [161] und [165], und Zöllner (α. α. Ο., S. 320 — 327). Nun ist die „Tendenz zur Regelung der Bewegungen vernünftiger Wesen", die sich auch auf dem Gebiet der Moral durch Analogieschlüsse und Lustempfindungen auswirkt — so wird in Über die Natur der Cometen behauptet — nur eine weitere Manifestation des Gesetzes, das Zöllners Annahme eines Empfindungsvermögens der Atome zufolge sogar „die Bewegungen der elementaren Bestandtheile eines Gases

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen

201

Die von Zöllner stammenden Grundgedanken werden schließlich in einer Reihe von bedeutenden Fragmenten derselben Zeit wiederaufgenommen und mit einigen aus Gerbers Werk Die Sprache als Kunst geschöpften Motiven kombiniert. Auch hier kann man noch nicht von endgültigen Resultaten sprechen; oft bleiben die Einschätzungen unsicher, hin und wieder sogar widersprüchlich. So wird manchmal ein ausgesprochener Kontrast zwischen den unbewußten „Verstandesoperationen" und jenem von Gerber in der Evolution der Sprache festgestellten „Bilderdenken" behauptet („Die unbewußten Schlüsse erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes Übergehen von Bild zu Bild sein") 3 1 , während in anderen Fällen unbewußte Schlüsse und Metaphern und Sprachbilder für gleichartig gehalten werden 32 . In einem anderen Fragment tritt jedoch der Gedanke, der diesen Überlegungen zugrunde liegt, ganz klar hervor: Tropen sind's, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahmehmungen beruhn. Ahnliches mit Ähnlichem identificiren — irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß. Das Gedächtniß lebt von dieser Thätigkeit [...]. Die Verwechslung ist das Urphänomen. 3 3

In diesem Kontext leugnet Nietzsche zwar (mit der schroffen Gegenüberstellung von „Tropen" und „unbewußten Schlüssen"), daß zwischen Gerber und Zöllner relevante Berührungspunkte bestünden, gleichzeitig aber wird deutlich, daß sein Interesse für das Werk des Astrophysikers und für das des Sprachwissenschaftlers ein und demselben Gedankengang entspringt. Um diesen genauer zu ergründen, muß man von der Behauptung „Die Verwechslung ist das Urphänomen" ausgehen und dann einerseits einige Aspekte von Gustav Gerbers Sprachphilosophie in Betracht ziehen, andererseits die Genealogie des Terminus Übertragung in Nietzsches Fragmenten der 70er Jahre verfolgen. Dieser Ausdruck gewinnt nach und nach eine besondere Bedeutung, und zwar gerade als Inbegriff von Motiven, die nicht nur aus Die Sprache als Kunst, sondern auch aus Uber die Natur der Cometen übernommen werden. Betrachtet man, wie allgemein üblich, nur die eigentlichen rhetorischen Figuren als Tropen, so wird nach Gerber dabei ganz außer acht gelassen,

" 12 11

[bestimmt], E b e n s o wie hier diese Bewegungen [ . . . ] dahin tendirten, in einem gegebenen Räume das M i n i m u m von Unlust zu erzeugen, ebenso ist das fundamentale Gesetz für unser sittliches Verhalten nichts Anderes, als der Ausdruck des Bestrebens, bei dem für die Erreichung höherer Zwecke nothwendigen Zusammenleben mit Anderen, das möglich geringste Mass von Unlust für jeden Einzelnen zu erzeugen" (ebd., S. 3 6 3 f.). K S A 7, 19 [107], K S A 7, 19 [227], K S A 7, 19 [217],

202

Andrea Orsucci

„dass überhaupt der Tropus das Wesen des Wortes ausmacht", 3 4 denn ursprünglich ist dieses bloß eine unbestimmte Andeutung, die bildliche Umschreibung eines Affektes. D i e Sprache hat nur Laute zur Verfügung, so daß den Gedanken immer wieder unpräzise Übersetzungen und vage Anspielungen entsprechen: [Das] Lautbild kann als Symbol nur allgemein d. h. unbestimmt bezcichncn, es ist, innerhalb gewisser Gränzen, mehrfach zu deuten, bleibt mannigfacher näherer Bestimmung zugänglich, passt auf alle ähnlichen Vorgänge und Dinge, wie diejenigen, welche zur Vorstellung Anlass gaben. 35 Im

Bemühen,

Empfindungen

durch Lautbilder zu

veranschaulichen,

„dreht sich die Sprache in einem Kreise von Unvollständigkeiten herum, bezeichnet die Gegenstände unvollständig durch irgend eine Eigenschaft, die selber unvollständig angedeutet i s t " . 3 6 Eine solche Unvollkommenheit wird immerhin zum Anstoß für eine Suche nach immer besserem

Ausdruck,

wodurch der Wortschatz beständig erweitert wird. O b w o h l das Bestreben stets darauf gerichtet ist, die Begriffe immer genauer zu fassen, entsteht ein unmäßiges Gewirr von Verwechslungen und Andeutungen, von Metaphern, Synekdochen und Metonymien. A u f eine solche „Unbedachtsamkeit der Sprache", die sich „als Mangel an Besonnenheit und Ruhe bei einzelnen Sprachbildnern" ausdrückt, weist Gerber wiederholt hin. 3 7 E r bedient sich, um die unvermeidliche Polysemie der Ausdrücke zu beschreiben, vieler eigentümlicher Ausdrücke: zuerst Übertragung, dann übertragene Bedeutung,

Übergang oder Vertäuschung,

Ursache und Wirkung, schließlich Wandel der Bedeutungen,38

ζ. B. zwischen

Und zwar müsse

eine richtige „Bedeutungslehre", stellt Gerber fest, „die gewöhnliche Vorstellung umkehren, welche von einer .eigentlichen Bedeutung' zu wissen

G. Gerber: Die Sprache als Kunst, Bd. I, Bromberg 1871, S. 358. Zu Nietzsches Lektüre dieses Textes siehe M. Stingelin: „Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren", in Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 346 ff.; M. Stingelin, A. Meijers: „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber ,Die Sprache als Kunst' (Bromberg 1871) in Nietzsches Rethorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne' " , in Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 358 — 368; A. Meijers: „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche", in Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 3 6 9 - 3 9 0 . ^ G. Gerber, a. a. O., S. 248. Gerbers Buch wird von Nietzsche im September 1872 bei der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen. 36 Ebd., S. 364. 37 Ebd., S. 389 und 391. An einer anderen Stelle stellt Gerber weiter fest: „Man erinnert sich hier der stoischen Lehre, jedes Wort sei von Natur zweideutig, erst die weitere Verknüpfung, welche es erfahre, stelle es in seiner Bedeutung fest. Gellius (Ν. Α. X I , 12) berichtet: Chrysippus ait omne verbum ambiguum natura esse, quoniam ex eodem duo vel plura aeeipi possint" (ebd., S. 353). 38 Siehe ebd., S. 3 5 4 - 5 7 , 361, 362f., 367, 370, 377 f., 381 f., 384, 3 8 6 - 8 9 . 34

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen

203

meint, die dann in besonderen Fällen übertragen werde". 39 Denn das langsame Weiterrücken der Übertragungen und das Hervortreten von neuen Metaphern und Synekdochen „sind [...] nicht als Einzelfalle zu betrachten, sie drücken das Wesen der Sprachbilder aus." 40 Ein ununterbrochenes Schwanken der Bedeutungen kennzeichne — entgegen Max Müllers Ansicht 41 — auch die ältesten Sprachwurzeln. Die Urwörter seien besonders unbestimmt, sie könnten gebraucht werden, um den verschiedensten Bedeutungen Ausdruck zu geben, gerade wie es bei einer musikalischen Komposition der Fall ist, in der „durch dieselben Töne und Tonreihen eine grosse Mannigfaltigkeit von Empfindungen und Gefühlen angeregt werden". Die in Gerbers Sprachphilosophie grundlegende Behauptung, daß bestimmte und ganz eindeutige Urbedeutungen keinesfalls zu belegen sind, entgeht Nietzsche augenscheinlich nicht: Man stellt sich gewöhnlich vor, es hätten die einzelnen Wörter ihre bestimmten Bedeutungen von Uranfang an, und, wenn nun statt solcher bestimmten Bedeutung sich viele im Gebrauch zeigen, so nimmt man unter diesen eine Urbedeutung an und zeichnet sie als die ,eigentliche' vor den anderen aus; sie soll die vornehmlich berechtigte sein. Die Schwierigkeit zeigt sich dann, dass man auf eine natürliche, ungezwungene Weise die Nebenbedeutungen von der eigentlichen ableiten muss, sich aber vergeblich nach einem Gesetze umsieht, welches den Umfang aller dieser Bedeutungen angäbe und umgränzte, eine Ordnung, nach welcher sie sich bildeten, ein Maass, welches sie inne zu halten hätten. — Nach unserer Auffassung kommt dem Worte eine solche bestimmte Bedeutung, wie man sie voraussetzt, von Anfang an nicht zu. 4 2

Damit ist bereits eine Auffassung ausgesprochen, die in schroffem Gegensatz zu Max Müllers Sprachphilosophie steht, der zufolge in den Urwurzeln immer schon „allgemeine Ideen" (Qualitäten oder Tätigkeiten) zum Ausdruck kommen. In seinem (von Nietzsche im November 1869 bei der Basler Universitätsbibliohek ausgeliehenen) Werk Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache behauptet Müller, daß die Urbedeutung eines Wortes in seiner „prädicativen Wurzel" liege (ζ. B. im „radicalen Element" ar, das ursprünglich pflügen bedeutet, und noch im lateinischen ar-are oder im gothischen ar-jan vorhanden ist), „weil sie in jeder Zusammensetzung, in die sie eintritt, ein und dieselbe Grundvorstellung ausspricht, sei es nun ein Pflug, ein Ruder, ein Ochs oder ein Ackerfeld". 43 An einer weiteren Stelle vertritt Müller noch einmal die Auffassung, daß in der Sprachbildung „das erste 39 40 41 42 43

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Max

S. 386. S. 370. S. 246 f. S. 336. Müller: Vorlesungen

über die Wissenschaft

der Sprache,

2. Aufl., Leipzig 1866 S. 214 — 218.

204

Andrea Orsucci

wirklich erkannte Object [...] das allgemeine [ist]. Vermöge dieses Objectes erkennen und nennen wir später individuelle Objecte, von welchen irgend eine allgemeine Idee ausgesagt werden kann". 44 Gerbers Ansicht über die „bildliche Unbestimmtheit" der Wörter und die daraus folgenden immer neuen „Übertragungen" wird von Nietzsche nicht nur in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), also in einer ,sprachphilosophischen' Schrift, wiederaufgenommen, sondern auch in Arbeiten, die sich mit ganz anderen Themen befassen. Will man sich über Nietzsches Verfahren klarwerden, mit dem er häufig einen Begriff, einen Terminus absondert, ihn seinem primären Kontext entnimmt, um ihn in ganz anderen Zusammenhängen neu zu kombinieren, dann scheint es besonders angebracht, der verschiedenartigen Anwendung der Wörter übertragen und Übertragung in seinen Schriften der 70er Jahre nachzugehen. Der Begriff Übertragung gewinnt eine besondere Bedeutung in den Aufzeichnungen aus den Jahren 1872 — 73, während er nur selten in noch früheren Texten benutzt wird. 4 5 Daß Gerber der Autor ist, von dem Nietzsche dazu angeregt wird, Geltung und Wirksamkeit dieses Terminus von neuem zu erwägen, ergibt sich zweifelsfrei aus den Stellen, an denen (wie schon A. Meijers gezeigt hat) vom Wahrnehmungsprozeß („Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher") und vom Wesen der Sprache („Wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen!") 4 6 die Rede ist oder „jener Fundamentaltrieb des Menschen" beschrieben wird, immer „neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien" zu prägen 47 . Aus anderen Aufzeichnungen dieser Zeit geht hervor, daß Nietzsche von dieser unaufhaltsamen translatio, von einer Bewegung, die unendliche Verschiebungen hervorruft („Die vielen Bedeutungen der Wörter sind eben die verschiedenen Beziehungen, in welche sie treten können") 48 , gefesselt ist. In Aufzeichnungen, denen eine große Bedeutung beizumessen ist, scheint Nietzsche fast experimentell zu prüfen, ob die Reichweite des Begriffes Übertragung ausdehnbar, ob er anpassungsfähig und innerhalb anderer Gebiete verwendbar ist. Auch Beziehungen, die das sittliche Verhalten betreffen, werden nun von einer ganz anderen Perspektive aus betrachtet:

44 45

46 47

48

Hbd., S. 332. Nur gelegentlich taucht in früheren Fragmenten der Ausdruck Übertragung auf; siehe dazu: KSA 7, 3 [20], 5 [106], [107J. F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) in KSA 1, S. 878. Ebd., S. 887. In demselben Text vgl. auch S. 880, 882 und 884 (hier erscheint auch der Terminus Vertäuschung). G. Gerber, a. a. 0 . , S. 353.

Unbewußte Schlüsse, Anticipationen, Übertragungen

205

Die Moralitätsinstinkte: die Mutterliebe — allmählich zur Liebe überhaupt. Ebenso die Geschlechtsliebe. Uberall erkenne ich Übertragungen,49 Und in einem anderen Fragment wird angemerkt: Unsre Gewohnheiten werden zu Tugenden durch eine freie Übertragung ins Reich der Pflicht... 50 Darüber hinaus kann jetzt die Frage, worauf der Glaube an Naturgesetze beruht, anders gestellt werden: Aber der Trieb wahr zu sein, übertragen auf die Natur, erzeugt den Glauben daß auch die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnißtrieb beruht auf dieser Übertragung 51 . E i n ununterbrochenes Spiel von wechselseitigen Spiegelungen, von Verschiebungen: so entsteht aus der Moralität schließlich die Wissenschaft. Denn der gute Mensch will nun auch wahr sein, und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. Nicht nur der Societät, sondern der Welt. Somit auch an die Ergründbarkeit. Denn weshalb sollte die Welt ihn täuschen? Also er überträgt seinen Hang auf die Welt und glaubt, daß auch die Welt wahr gegen ihn sein muß.52 Auch auf anderen Gebieten, wie dem der Philosophiegeschichte, findet man viele Fragen, deren Verständnis durch die Einführung des Begriffes „Übertragung" erleichtert wird. Heraklits K o s m o l o g i e ist ζ. B. die gute Eris Hesiodos, zum Weltprincip verklärt, [...] der Wettkampfgedanke [...] des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren [...] K S A 7, 19 [223]. Vgl. auch die Überlegungen, die Nietzsche in einem Brief entwickelt, den er im Mai 1876 an seinen Freund Erwin Rohde in bezug auf dessen Werk Der griechische Roman und seine Vorläufer (Leipzig, 1876) richtet: „Aufgefallen ist mir, daß Du von den päderastischen Verhältnissen so wenig sagst: und doch ist das Idealisiren des Eros und das reinere und sehnsüchtigere Empfinden der Liebespassion bei den Griechen zuerst auf diesem Boden gewachsen und wie mir scheint, von da aus auf die geschlechtliche Liebe erst übertragen worden, während es ihre (der geschlechtl < ichen > Liebe) zartere und höhere Entwicklung früher geradezu hinderte. Daß die Griechen der älteren Zeit die Männererziehung auf jene Passion gegründet haben und so lange sie diese ältere Erziehung hatten, von der Geschlechtsliebe im Ganzen mißgünstig gedacht haben, ist toll genug, scheint mir aber wahr zu sein [...]. Aber es scheint mir, daß Du mit Absicht die ganze Region gemieden hast; auch J . Burckhardt redet im Colleg nie davon" (K.SB 5, S. 161 f.). Dazu ist auch die zustimmende Antwort Rohdes (Juli 1876) zu sehen ( K G B , II 6/1, S. 353): „Was du mir von meinem Buche gesagt hast, hat mich sehr erfreut. Vornehmlich jene Bemerkung über die Ausgänge inniger Erotik von der Paederastie". 5,1 51

52

K S A 7, 19 [185], K S A 7, 19 [229]. Zum Gebrauch des Terminus „Übertragung" in Nietzsches Erühwerk siehe auch T. Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 1988, S. 112 und 243. K S A 7, 19 [177], Vgl. auch 19 [118], [209],

206

Andrea Orsucci in's Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht. 5 3

So erweist sich Gerber nicht nur des metaphorischen Charakters der Sprache wegen als besonders wichtig für Nietzsches Überlegungen, sondern auch dank seiner Einsicht in jenen Begriff von translatio, dessen Berücksichtigung es erlaubt, in den verschiedensten Bereichen neue Gesichtspunkte zu gewinnen und Gedankengänge nachzuvollziehen, die andernfalls schwer in Verbindung zu bringen wären. Was diesen Aspekt betrifft, stimmt Die Sprache als Kunst mit dem, was Zöllner in seinem Text erörtert, völlig überein. Die Unbeständigkeit der Sprachsymbole, ihre ständige Tendenz, sich von den vermutlichen „Urbedeutungen" loszumachen und in neue Zusammenhänge einzugehen, findet eine Entsprechung in der merkwürdigen Unstetigkeit des Wahrnehmungvorganges, in dem „unbewußte Schlüsse" und „Kasualitätsbedürfnis" unaufhörlich dahin drängen, über die bloßen Empfindungsdaten hinauszugehen und sie durch intellektuelle „Antizipationen" von Grund auf umzudeuten. Die in Fragment 19[217] enthaltene und oben bereits zitierte Behauptung („Die Verwechslung ist das Urphänomen") wird nur dank des Nachweises dieser wesentlichen Konvergenz von Gerber und Zöllner völlig begreifbar („Alle rhetorischen Figuren (d. h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fangt die Vernunft an!") 5 4 . Beachtenswert — als weitere Bestätigung einer folgenreichen Affinität — ist letztlich die Tatsache, daß der für Nietzsche so bedeutende Terminus Übertragung nicht nur bei Gerber eine wesentliche Rolle spielt, sondern auch bei Zöllner vorkommt, und zwar auf einigen der wichtigsten Seiten des Werkes. Gegenüber dem unbesonnenen und übermäßigen Experimentieren der Zeitgenossen muß man nachdrücklich, so der Autor von Über die Natur der Kometen, die „Größe des moralischen Muthes" Newtons wieder zur Geltung bringen, d. h. an jener Denkweise festhalten, die ihn dazu brachte, „die Übertragung der beim Falle irdischer Körper beobachteten Beziehungen als Gravitationskraft auf Erde, Mond und schliesslich auf alle Himmelskörper zu vollziehen. Ebenso eröffnet sich der Physik des Himmels nur durch eine analoge Übertragung von Eigenschaften irdischer Körper auf die Materie der Gestirne die Möglichkeit zur Erklärung aller übrigen Phänomene derselben". 55 Auch mittels dieser von Zöllner und Gerber stammenden Argumente — der Relevanz der Deduktion in der Naturwissenschaft, dem künstlichen Charakter der Sprache, der Intellektualität des Wahnehmungsvorganges — präzisiert und verschärft Nietzsche seine Kritik an D. F. Strauss, der „überall 53 54 55

PHG 5; KSA 1, S. 825. KSA 7, 19 [215], Zöllner, a. a. O., S. 324 f.

U n b e w u ß t e Schlüsse, A n t i c i p a t i o n e n , Ü b e r t r a g u n g e n

207

nur dem gröblichsten Realismus zu Gefallen redet" und folglich „von der Kantischen Vernunftkritik [...] gar nichts zu gewinnen" weiß, da ihm jede Ahnung „von dem höchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft" fehlt. 56 Und noch in Menschliches, All^umenschliches kommt der Terminologie, die Nietzsche von Zöllner und Gerber übernommen hat, eine große Bedeutung zu. Denn als Leitfaden gilt in dieser Schrift, wie bekannt, u. a. die Ergründung einer unausrottbaren, unter den Modernen nicht weniger als unter den Primitiven verbreiteten Tendenz zum „falschen Schliessen" (MA 127 und 271), zu unauffälligen, aber desto schwerwiegenderen Fehlschlüssen („Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt [...], so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann") 57, zu unzähligen Übertragungen („Die Ehre von der Person auf die Sache übertragen [...]. Ein tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft") und zu vom „unreinen Denken" bewirkten Verwechslungen: „Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein [...] — Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlichpolitischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen". 58

56 57

58

D S 6; K S A 1, S. 190 f. M A 97. Vgl. dazu auch M A 145 und 311, W S 10. Schließlich ist M A 39 zu b e r ü c k s i c h t i g e n , w o r i n — w i e schon A. M e i j e r s (α. α. Ο., S. 383) g e z e i g t hat — d i r e k t e S p u r e n der L e k t ü r e v o n Gerbers Werk zu finden sind. Zu diesem I d e e n k o m p l e x v g l . auch K S A 8, 23 [70] und [150], 30 [30], und 40 [17], W S 9. Siehe auch M A 100 und W S 32.

Philologie und deutsche Klassik Nietzsche

als Leser von Paul Graf Yorck von von

L U C A CRESCENZI,

Wartenburg

Urbino

1. In ihrem detaillierten Kommentar zu den Kapiteln 1 — 12 der Geburt der Tragödie diskutiert Barbara von Reibnitz den „mehrdimensionalen" Charakter von Nietzsches erster Schrift: Sie will sicherlich in erster Linie N i c h t - P h i l o l o g e n ansprechen, will die A n t i k e interessant machen f ü r die S c h o p e n h a u e r g e m e i n d e und den W a g n e r K r e i s . D a r a u f deuten nicht allein die zahlreichen b e z i e h u n g s v o l l e n Hinweise, die Zitate aus Schlüsselschriften dieser K r e i s e , sondern v o r allem auch die B e z u g n a h m e n auf diejenigen N a m e n , die der gebildete Laie mit den T h e m e n der G T v e r b i n d e n konnte. Nicht Bernays, W e l c k e r o d e r K . O . M ü l l e r w e r den genannt, s o n d e r n G o e t h e , Schiller und A. W. Schlegcl, ebenso wie natürlich Shakespeare. 1

Auf diese Art und Weise wird zweifellos die fundamentale Darstellungsstrategie der Geburt der Tragödie treffend beschrieben. Doch scheint diese Bemerkung eher die Ergebnisse als die Voraussetzungen von Nietzsches Schreibweise zu erläutern, wenn sie in dem Rückgriff auf die Kultur der deutschen Klassik und Frühromantik nur die exoterische Form einer philologischen Argumentation, die sich an ein philologisch ungebildetes Publikum wendet, sehen will. Das Verschweigen der eigentlichen' Quellen der Geburt der Tragödie wird somit rezeptionstheoretisch erklärt, und der kulturkritischen Einstellung Nietzsches wird eine untergeordnete Bedeutung zugeschrieben. Diese bestimmt aber in erheblichem Maße die Gestaltung der Geburt der Tragödie und kann bei einer Diskussion über den philologischen Charakter von Nietzsches Schrift nicht unberücksichtigt bleiben. Es seien hier einleitend zwei Thesen aufgestellt, die im folgenden erläutert und belegt werden sollen: 1. Nietzsche versucht in der Geburt der Tragödie, einen philologischen Beitrag zur ästhetischen Theorie der deutschen Klassik zu liefern; 2. Er folgt bei diesem Versuch einer philologischen Tradition, die ihm als Quelle dient. 1

B. von Reibnitz: Hin Kommentar Friedrich Nietzsche, der Musik" (Kap. 1-12), Stuttgart 1992, S. 3.

„Die Geburt der Tragödie aus dem

Geiste

Philologie und deutsche Klassik

209

2. Schon W i l a m o w i t z scheint in seiner Kritik an der Geburt der Tragödie die tendenziös klassizistische Hinstellung von Nietzsches Schrift erkannt zu haben. Im ersten Stück seiner Zukunftsphilologie! findet sich folgende Passage: N a t ü r l i c h ; A r i s t o t e l e s u n d L e s s i n g v e r s t a n d e n das d r a m a nicht, hr. N . tuts; h m . N . w a r ja ,ein so b e f r e m d l i c h e i g e n t ü m l i c h e r blick in das h e l l e n i s c h e v e r g ö n n t , dass es i h m s c h e i n e n m u s s t e , als o b u n s e r e so stolz sich g e b e r d e n d e c l a s s i s c h - h e l l e n i s c h e w i s s c n s c h a f t in d e r hauptsache sich bis jetzt < d . h. bis H e r r N . > n u r an Schattenspielen u n d ä u s s e r l i c h k e i t e n zu e r n ä h r e n g e w u s s t h a b e ' [ . . . ] . u n t e r die , w e l c h e v o n den G r i e c h e n zu lernen a m k r ä f t i g s t e n g e r u n g e n ' i m g e g e n s a t z zu d e n e n , w e l c h e ,das A l t e r t u m v e r k e n n e n ' zählt hr. N. ausser Schiller u n d G o e t h e n u r n o c h W i n c k e l m a n n . [ . . . ] Selbst ein g a n z h a r m l o s e r , o p t i m i s t ' [ . . . ] d ü r f t e hier L e s s i n g g e n a n n t e r w a r t e n . 2

Diese polemischen B e m e r k u n g e n sind aufschlußreich. Die Tatsache, daß in Nietzsches Werk über die Tragödie Lessing so gut w i e gar nicht v o r k o m m t , bedeutete für W i l a m o w i t z einen regelrechten philologischen Skandal. Wenn ihm auch die zeitgenössischen Notizen Nietzsches n o t g e d r u n g e n u n b e k a n n t waren — und er somit nicht in der L a g e war, die Spuren, die Lessing darin hinterlassen hatte, einzuschätzen 3 — so konnte er sich doch nicht der Einsicht verschließen, daß Die Geburt der Tragödie eine Klassik postulierte, welche über die Perspektiven der Ästhetik der A u f k l ä r u n g h i n a u s g i n g . Was W i l a m o w i t z jedoch nicht erwähnte, w a r die Tatsache, daß Nietzsches Perspektive im Kontext der vorhergehenden und zeitgenössischen philologischen Studien weder ungerechtfertigt noch häretisch war. V i e l m e h r w a r sie das Resultat einer kritischen Tradition, deren U m f a n g Nietzsche spätestens in Basel b e w u ß t wurde. Wahrscheinlich war Nietzsche schon w ä h r e n d der Studienzeit auf die wichtige A b h a n d l u n g von J a c o b Bernays Die Grundlage der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie (1857) gestoßen. Und aus den Ausleihbüchern der Basler Universitätsbibliothek geht hervor, daß Nietzsche in den Jahren 1869 — 71 nicht w e n i g e r als zehn Abhandlungen über dasselbe T h e m a entlieh 4 , darunter auch die Dissertation von 2

5

4

U. von Wilamowitz-Möllendorf: „Zukunftsphilologie!" (1872) in: Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie", hg. v. K. Gründer, Hildesheim 1969, S. 30 f. Dazu erlaube ich mir auf meinen Aufsatz: „Nietzsche, August Wilhelm Schlegel und die Spuren Lessings. Die Exzerpte aus den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur", in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 3 8 5 - 3 9 2 , hinzuweisen. Am 10. 11. 1869 entleiht Nietzsche aus der Basler Bibliothek die Schrift von Jacob Bernays: „Brief an Leonhard Spengel über die tragische Katharsis des Aristoteles", in: Rheinisches Museum 14 (1859), S. 367 — 377. Es folgen dann: Eduard Müller: Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten, Breslau 1834 — 37 (24. 11. 1869); Adam Torstrick, „Zur Katharsis", in: Philologus 19 (1863), S. 5 8 1 - 5 8 2 (7. 12. 1869); Paul Graf Yorck von Wartenburg: Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles, Berlin 1866 (4. 5. 1870); Leonhard Spengel: „Zur .tragischen Katharsis' des Aristoteles", in: Rheinisches Museum 15 (1860), S. 458 — 462 (4. 5. 1870); Jacob Bernays: „Zur Aristotelischen Katharsis-Frage", in: Rheinisches Museum 15

210

Luca Crescenzi

P a u l G r a f Y o r c k v o n W a r t e n b u r g Die Coloneus

des

Sophokles

Katharsis

des

Aristoteles

und der

G e r a d e B e r n a y s a b e r h a t t e als e r s t e r d i e Z u v e r l ä s s i g k e i t v o n Übersetzung und Interpretation der entscheidenden Passagen zur des T r a g i s c h e n a u s d e r Poetik Wirkung

Dramaturgie

der

Tragödie

der

verlorenen

Abhandlung

hatte er die zentralen

folgendermaßen

Lessings Katharsis

des Aristoteles a n g e z w e i f e l t . U n d im

e r w ä h n t e n W e r k ü b e r d i e Grundlage über

Oedipus

(1866)5.

des

schon Aristoteles

Stellen der

Hamburgischen

kommentiert:

M a n m u ß gestehen, ist dem Aristoteles eine solche „Verwandlung der Leidenschaften" in „tugendhafte Fertigkeiten" wesentliche Bestimmung der Tragödie [...]: so ist ihm auch die Tragödie wesentlich eine moralische Veranstaltung; ja, nach der Lessingschen D u r c h f ü h r u n g durch alle Stufen des zu vielen und zu wenigen Mitleidens und Fürchtens, dürfte man die Tragödie ein moralisches Corrcctionshaus nennen, das f ü r jede regelwidrige W e n d u n g des Mitleids und der Furcht das zuträgliche Besserungsverfahren in Bereitschaft halten müsse. 6 Bernays hatte jedoch einer moralistischen T r a g ö d i e n - A u f f a s s u n g eine Int e r p r e t a t i o n d e r K a t h a r s i s als „ m e d i c i n i s c h e M e t a p h e r " e n t g e g e n g e s e t z t a u s g e h e n d v o n e i n e r S t e l l e a u s d e r A r i s t o t e l i s c h e n Politik:

Der



griechische

Terminus w i r d nicht mit „Reinigung", sondern mit „erleichternder

Entla-

d u n g " 7 im Sinne einer „ H e b u n g oder Linderung" der „Gemüthsaffectionen" ü b e r s e t z t 8 . D i e s alles b e d e u t e t e n i c h t n u r , d a ß B e r n a y s d i e a n t i m o r a l i s t i s c h e n T h e s e n d e r G o e t h e s c h e n Nachlese

Aristoteles'

Poetik

verteidigte9,

sondern

(1860), S. 6 0 6 - 6 0 7 (4. 5. 1870); Gustav Teichmüller: Aristotelische Forschungen, Bd. 1: „Beiträge zur Erklärung der Poetik des Aristoteles", Halle 1867 (12. 5. 1870); Jacob Bernays: Die Grundlage der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Breslau 1857 (9. 5. 1871); Joseph Hubert Reinkens: Aristoteles über Kunst, besonders über Tragödie. Exegetische und kritische Untersuchungen, Wien 1870 (9. 5. 1871); Friedrich Ueberweg: „Die Lehre des Aristoteles von dem Wesen und Wirkung der Kunst", in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F. 50 (1867), S. 1 6 - 3 9 (16. 11. 1871). 5 Nietzsche kannte aber die Bernayssche Abhandlung schon seit seinem Studium; vgl. B. von Reibnitz: a. a. O., S. 112. Über Nietzsche und die Tradition der Katharsis-Studien vgl. K. Gründer, „Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis", in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, Bd. 2, S. 4 9 5 - 5 2 8 . ' Jacob Bernays: a. a. O., S. 136. 7 Ebd., S. 148. 8 Ebd., S. 142. * Ebd., S. 1 8 7 - 1 8 8 . Vgl. J . W. Goethe, „Nachlese zu Aristoteles' Poetik", in: Werke Hamburger Ausgabe, Bd. 12: „Schriften zur Kunst und Literatur", S. 342—345. Sowohl Bernays als auch Wartenburg scheinen Ideen zu entwickeln, die sich schon in Goethes' Aufsatz finden. Das gilt für Bernays' Bezug auf die bereits in der Nachlese kommentierte Stelle über die W i r k u n g der Musik im dritten Buch der Politik und für Wartenburgs Wahl des Ödipus auf Kolonos als höchstes Beispiel von tragischer Katharsis. Dazu vgl. Goethe: „Ferner bemerken wir, daß die Griechen ihre Trilogie zu solchem Zwecke benutzt; denn es gibt wohl keine höhere Katharsis als der .Üdipus von Colonus' [...]"(«. a. O., S. 343). Weitere Hinweise auf Goethe als Deuter der tragischen Katharsis vor allem bei Bernays: a. a. O., S. 187 f.

Philologie und deutsche Klassik

211

die Tragödie als dramatische Gattung interpretierte, die sich auf die „ekstatische" Erfahrung eines objektlosen Enthusiasmus gründet, wie sie den orgiastischen Zeremonien des bacchischen Kultes eigen ist. Die Tragödie erscheint Bernays somit als „Dichtgattung [...], welche die ursprünglich bakchantische Ekstase für den inzwischen veränderten socialen Zustand festhielt zugleich und veredelte, indem sie die Stelle des objektlos enthusiastischen Taumels ersetzte durch eine auf ekstatische Erregung universal menschlicher Affekte angelegte Darstellung der Welt- und Menschengeschicke." 1 " 3. Es ist überflüssig, auf die weitreichenden Folgen hinzuweisen, welche eine Katharsis-Auffassung als Therapie der Leidenschaften mittels Darstellung des menschlichen Schicksals in seinem Verhältnis zum Schicksal des Alls mit sich brachte. Es soll hingegen hervorgehoben werden, daß unter Bernays' Nachfolgern Yorck von Wartenburg einen bedeutenden Platz einnimmt: einerseits, weil seine Dissertation über Ödipus auf Kolonos zum ersten Mal — in offenem Gegensatz zu einem Gutteil der deutschen akademischen Philologie — Bernays' Linie bestätigt; andererseits, weil Wartenburg hier die „pathologische" Interpretation der Katharsis mittels einer historisch-genealogischen Methode zu entwickeln versucht, welche Nietzsche später in der Geburt der Tragödie anwenden wird. Diese Methode wird zum ersten Mal folgendermaßen beschrieben: Man kann, w i e bisher versucht w o r d e n , v o n dem B e g r i f f e der Katharsis ausgehend denselben in einem Griechischen Trauerspiele aufweisen, welcher Versuch bei dem Mangel der Uebereinstimmung über das Wesen der Katharsis die U n v o l l k o m m e n h e i t des Gelingens in sich trägt, o d e r man kann die unmittelbar g e w o n n e n e Erkenntnis des Wesens der antiken Tragödie auf das Schlussglied der Aristotelischen Definition zurückbeziehen. S o enthüllte die tragische Muse selbst das Rätsel, in welches der griechische Philosoph für uns ihr Wesen gekleidet h a t . "

Von diesem Ausgangspunkt gelangt man, so Wartenburg, nicht nur zur Entdeckung des wirklichen Tragödien-Charakters, sondern es werden auch die Mißverständnisse jener vermieden, welche „die griechische Tragödie wie die moderne, als eine Erscheinung dem Leben eben so fern wie die Erzeugnisse unserer dramatischen Literatur" behandeln 12 . „Hiervor" — spezifizierte hingegen Yorck von Wartenburg — „hätte schon der unmittelbarer unbefangener Anschauung auffällige Unterschied zwischen dem griechischen Theater und der modernen Bühne bewahren sollen. Die antike Tragödie scheint zum Leben selbst zu gehören, ein nothwendiges Element desselben zu sein, J . Bernays: a.a. O., S. 179. " P. Graf Yorck von Wartenburg: a. a. 0 . , S. 18. 12 Ebd., S. 19.

10

212

Luca Crescenzi

während das Schauspiel bei uns, ein willkürlicher Schmuck, einen bestimmten ästhetisch verfeinerten Zustand voraussetzt." {ebd.) Die Analogien zwischen diesen Feststellungen und Nietzsches Auffassung der Entwicklung des Kunstwerks in der modernen Zivilisation, die er im 19. Kapitel der Ceburt der Tragödie darlegt, werden dem Leser kaum entgehen, ebensowenig wie die Bedeutung der zweiten, kategorischen Methoden-Hypothese Wartenburgs: Die richtige M e t h o d e der Betrachtung, welche zu dem Verständnisse der griechischen Tragödie führt, ist eine andere, ist folgende: Es ist eine bekannte Thatsache, dass aus der dem D i o n y s o s zu Ehren veranstalteten Festfeier die griechische Tragödie sich entwickelte. Diese Thatsache aber ruht als todtes Kapital, während sie über das Wesen der tragischen Dichtung Aufschluss zu geben v e r m a g . 1 1

Ausgehend von dieser Beobachtung — welche Bernays übrigens nur am Rande beschäftigte — skizziert Wartenburg eine kurze Geschichte der dionysischen Religion, die in vielem an jene Nietzsches in seinem Werk über das Tragische erinnert. Natürlich ändern sich die Interpretationskategorien; und während Yorck von Wartenburg die Entwicklung des griechischen Geistes als vom progressiven Auseinanderklaffen von Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein gekennzeichnet beschreibt, spricht Nietzsche von der Uberwindung der titanischen Religion und des Pessimismus der Urzeiten. Die Hypothesen Wartenburgs gehen zu einem guten Teil in die Geburt der Tragödie ein. Dies gilt beispielsweise für die Feststellung, welche die historisch-religiöse Rekonstruktion in der Dissertation über Ödipus auf Kolonos eröffnet: In der Religion, insbesondere in der durch den D i o n y s o s k u l t bezeichneten Phase derselben werden w i r also A u f k l ä r u n g über das Wesen der griechischen Tragödie zu finden erwarten dürfen, {ebd.)

Doch auch Wartenburgs Auffassung des religiösen „Pessimismus" fällt durch ihre Affinität mit Nietzsches These auf, ja die Übereinstimmung reicht bis in folgende entscheidende Formulierung: S o erhebt sich der tragische K a m p f innerhalb des Bewusstseins zwischen dem G o t t e und dem Menschen. Die Freiheit k ä m p f t an gegen den sie beugenden G o t t e s z w a n g und das furchtbare Leid erfüllt die Seele, die G o t t h e i t als ihrem eigenen Wesen feindlich zu empfinden. Für solches Leid erscheint als alleiniger Helfer der Tod, und v o n den Lippen der Weisen und Dichter ertönt das furchtbar tragische Lied: Nie geboren zu sein, ist das höchste G l ü c k , der zweite G e w i n n aber, dass der Lebendige in Eile dahin wandere, w o h e r er sprosst. — Solcher ist der Zustand des Bewusstseins, dem die göttliche Macht unter der F o r m des Schicksals erscheint. 1 4 " Ebd., S. 20. 14 Ebd., S. 21.

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Vor der göttlichen Manifestation als feindlichem Schicksal — so Wartenburg in seiner Dissertation — blieb dem griechischen Menschen nur die kultische Rückkehr in den Urschoß der Natur: N u r in dem Aufgeben des Selbstbewusstseins, in dem Rückkehren, woher er entsprossen, in den Schoos der allwaltenden Natur, findet der Mensch das Heil, f...] In ihren Wogen versinkt die Sonne der Erkenntniss, und die alte Sage erfüllt sich, Zeus werde von den Titanen gestürzt werden. Dies ist die Bedeutung und die Nothwendigkeit des Dionysoskultus.' 5

Der Dionysoskult stellte also den Rückzug eines von tiefem existentiellem Unbehagen heimgesuchten Individuums in die Ekstase dar. Die Frage nach dem möglichen Einfluß Schopenhauers mag offenbleiben. Indem er aber die Natur des Dionysoskultes beschreibt, verstärkt Wartenburg zweifelsohne Bernays' Thesen. Hatte dieser darauf hingewiesen, daß die tragische Katharsis in ihrer heilenden Funktion in der Abschwächung des Schmerzes mittels E i n f ü h r u n g einer erheiternden und regenerierenden Lust bestehe, so führt Wartenburg die Ursprünge der kathartischen Verbindung von Schmerz und Freude als sich gegenseitig verstärkende und ausschliessende Pole auf den Dionysoskult und die ursprüngliche griechische Religiosität zurück. Im bacchischen Kult „erwecken die Schmerzen Lust, der Schrecken Freude, die Lust hat etwas krampfhaft schmerzliches. Die Ekstase ist die höhere Einsicht des Schmerzes und der Lust" und in der Ekstase selbst sind die Gefühle, die durch das Versinken in den Wogen der Natur hervorgerufen werden, ausgelöscht. 1 6 „So ist durch E r r e g u n g von Leid und Schrecken eine Reinigung von diesen Affekten herbeigeführt, und die griechische Menschheit ist von dem gottgegebenen Leiden wenigstens zeitweilig [...] erlöst [...]." {ebd.) Wartenburg kehrt somit zur Bernaysschen Ubersetzung der umstrittensten Stelle aus Aristoteles' Poetik zurück 1 7 und stellt aufgrund der Untersuchung des Dionysoskults eine natürliche Verbindung zwischen religiöser und tragischer Katharsis dar. Der Dionysoskult „ist der Boden, dem die Wunderpflanze der antiken Tragödie entspross", da die Tragödie nichts anderes sei als „der verklärte Bacchusdienst selbst, eine höhere Potenz des Dionysoskultus." 1 8 4. Nietzsche folgt in der Geburt der Tragödie genau dem Wartenburgschen Entwicklungsschema, ebenso einigen Ideen Wartenburgs über die Struktur der tragischen Darstellung. Ein ansehnlicher Teil der Betrachtungen Nietz15 16 17

18

Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 22. „Die Tragödie bewirkt durch [ E r r e g u n g von] Mitleid und F u r c h t die erleichternde E n t l a d u n g solcher [mitleidigen und f u r c h t s a m e n ] G e m ü t h s a f f e c t i o n e n " ; vgl. J. Bernays: a. a. O., S. 148. P. Graf Yorck von Wartenburg: a. a. O., S. 22 f.

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sches über den „metaphysischen Trost" hat in der Ödipus-Dissertation seinen Vorläufer. Wartenburg unterscheidet zwischen tragischer Darstellung und Dionysoskult und bemerkt dazu: Aber wenn die tragische Katharsis mit der ursprünglich bacchischen das Moment der Erlösung von den Banden des Bewusstseins gemein hat, so theilt sie nicht mit ihr den der Existenz des Menschen verderblichen Charakter. 19

Die Tragödie ruft also im Zuschauer eine wohltuende Bewußtseinsänderung hervor — was Nietzsche bekanntlich im 7. Kapitel der Geburt der Tragödie folgendermaßen darlegt: Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält f...] während seiner Dauer ein lethargisches Element. (GT 7; KS A 1, S. 56)

Das lethargische Element ist bei Wartenburg, der den wohltuenden Schlaf des Bewußtseins von seiner Ausschaltung unterscheidet, ebenso vorhanden: Mit der Ekstase erfährt aber auch die ihr wesentliche Lust eine Modifikation. Wie die tragische Ekstase das Bewusstsein nicht durchaus tödtet, sondern nur gleichsam einschläfert, so ist die sie begleitende Lust nicht der empfindungslose Taumel des bacchischen Orgiasmus, sondern dadurch, dass das Bewusstsein, wenn auch als verschwindendes Moment, festgehalten wird, entsteht der durch die Oscillation der Seele zwischen den Polen des sich Behaltens und sich Verlierens hervorgerufene Wonneschauer, unter welchem die Hingabe des Individuums an die Allnatur sich vollzieht. 20

Die Analogien der tragischen Katharsis-Auffassung bei Yorck von Wartenburg und Nietzsche erscheinen evident. Ebenso erinnert die Ansicht, in der Tragödie schwanke das Bewußtsein des Einzelnen zwischen Vergessen und Erinnern hin und her, an jene Ansicht Nietzsches, derzufolge die Kontemplation der dionysischen Wahrheit — im zum Bewußtsein zurückgekehrten tragischen Zuschauer — den Schrecken über das Elend des Alltags hervorrufe (vgl. GT 7; KSA 1, S. 56). Ähnlich bemerkt Wartenburg: Die griechische Tragödie wirkt dem zum Tode müden Bewusstsein sorglosen Schlaf, aus welchem der Mensch neugestärkt erwacht zu den Leiden und Mühen des Tages, (ebd.)

Sowohl für Nietzsche wie für Wartenburg — und noch früher für Bemays — ist die Tragödie die bildliche Darlegung vom Verhältnis des Menschen zum All, bzw. dionysischer Ausdruck des Zerrissenseins des Einzelnen zwischen der Sehnsucht (bei Wartenburg „Wehmut") nach der Rückkehr in den " Ebd., S. 23. Ebd., S. 23.

20

Philologie und deutsche Klassik

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mütterlichen Schoß der Natur und dem Schmerz über dessen Verlust, gepaart mit dem Leiden des Alltagszwangs. 5. Die Spuren der Wartenburg-Lektüre finden sich, wie gezeigt wurde, sowohl im ersten wie im zweiten Teil der Geburt der Tragödie und berühren sogar die Kernfrage nach der spezifisch musikalisch-dionysischen Natur des Tragischen 2 1 . Die Spuren Bernays' hingegen werden an einer bekannten Stelle im 22. Kapitel ersichtlich, wo ausdrücklich auf die Bernayssche Ubersetzung des Terminus zurückgegriffen wird: Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige Ahnung Goethe's. „Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse", sagt er, „ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen?" ( G T 22; K S A 1, S. 142) 2 2

Was jedoch bedeutet es für unsere Lektüre der Geburt der Tragödie, ihre Zugehörigkeit zu dieser klar erkennbaren und identifizierbaren Tradition festzustellen? Zunächst scheint ein Nietzsche zutage zu treten, der den innovativen Tendenzen der zeitgenössischen Philologie näher stand, als bisher angenommen 2 3 . Das Hineinnehmen der Geburt der Tragödie in das Umfeld der von Bernays' Aufsatz eröffneten Debatte über die Katharsis und der spürbare Einfluß der Dissertation Yorck von Wartenburgs lassen überdies die Hypothese zu, daß die Schopenhauer- und Wagner-Einschläge, mit der Nietzsche die philologische Grundstruktur des Textes überlagert hat, als „Kontaminationen" der aufgestellten wissenschaftlichen These zu verstehen sind, und daß sie zum Teil auch die Weiterführung von bereits bei Wartenburg vorhandenen Ansätzen darstellen 24 . Die Befreiung der Antike aus der Museali21 22

Vgl. ebd., S. 24. Für das Goethe-Zitat vgl. Brief von G o e t h e an Schiller v o m 9. Dezember 1797, in:

Briefwechsel

%wischen Schiller

und Goethe,

Der

hg. v. S. Seidel, München 1985, Bd. 1, S. 451.

21

Den wichtigsten Beitrag dazu hat der schon erwähnte K o m m e n t a r von Barbara von Reibnitz geliefert (vgl. Anm. 1).

24

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die bedeutenden Unterschiede in der Auffassung des Tragischen bei Schopenhauer und Nietzsche jenen Differenzen sehr ähnlich sind, die aus einem Vergleich der Dissertation Wartenburgs über Odipus auf Kolonos mit dem 37. Kapitel der Zusätze zur Welt als Wille und Vorstellung hervorgehen. Dies gilt besonders für den Vorzug der antiken Tragödie v o r der modernen und für die Überwindung der Schopenhauerschen Auffassung der Resignation als Höhepunkt der tragischen Ästhetik.

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Luca Crescenzi

sierung, zu der sie von der akademischen Philologie verurteilt wird, ist für Nietzsche auch und vielleicht vor allem ein philologischer Akt. Überdies jedoch folgt auch Nietzsches Revision des kulturellen Erbes der deutschen Klassik, die er in der Geburt der Tragödie vornimmt, jenen Spuren, welche die Studien von Jacob Bemays und Paul Graf Yorck von Wartenburg vorgezeichnet hatten. Die Überwindung der tragischen Ästhetik von Lessing und der Vorzug, der der Goetheschen Auffassung der Antike gegeben wird, finden in den Studien zur Katharsis ihre genaue Entsprechung. Noch vor Nietzsche endet mit Bernays und Wartenburg die Vorherrschaft einer moralistischen Tragödien-Interpretation. Die griechische Klassik gewinnt ein neues Gesicht durch Goethes Problematisierung jenes spezifisch pathologischen Fundaments, das sich in der tragischen Ästhetik offenbart. Und aus dieser Perspektive kann Die Geburt der Tragödie auch als Endpunkt einer Entwicklung gelesen werden, die ihren Anfang mit der Weimarer Katharsis-Interpretation nimmt.

Ein Sinn und unzählige Hieroglyphen Einige Motive von Nietzsches Auseinandersetzung in der Basler Zeit von

SANDRO BARBERA,

mit Schopenhauer

Pisa

Die folgenden A u s f ü h r u n g e n 1 erheben nicht den Anspruch, einen Überblick über den Stellenwert der Philosophie Schopenhauers in Nietzsches D e n k e n der Basler Zeit zu bieten. Sie wollen vielmehr einige Punkte der K r i s e aufzeigen, in die die Verbindung der Wagner- und der SchopenhauerE r f a h r u n g gerät, im Verlauf dieser Krise droht die Künstlermetaphysik ihren Zusammenhalt zu verlieren. Erst nach einer Zeit der U m w e g e gelangt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches zur Ü b e r w i n d u n g dieser Krise. In jener Zeit scheint die Kritik, der er 1868 die Philosophie Schopenhauers unterzogen hatte und die wahrscheinlich durch den A u f s a t z v o n R u d o l p h H a y m über den Danziger Philosophen (1864) beeinflußt worden war, neue N a h r u n g zu bekommen. D e r Einfluß v o n Hayms Bewertung der Frühphase von Schopenhauers D e n k e n ist auch in einer Reihe nachgelassener Fragmente und in Schopenhauer als Erzieher sichtbar. Vor allem bei der Darstellung des „ S c h o penhauerschen M e n s c h e n " in der 3. Unzeitgemäßen beschäftigt sich Nietzsche mit denjenigen Schopenhauerschen Schriften, die der Ausarbeitung der Willenslehre vorangehen und die ihm durch den von Frauenstädt veröffentlichten Nachlaß zugänglich waren. Diese Beschäftigung gewinnt nun eine polemische Bedeutung, nicht nur im Hinblick auf Wagners Schopenhauer-Lektüre, sondern hinsichtlich der gesamten Künstlermetaphysik; sie muß allerdings als E n d p u n k t der Kritik Nietzsches an der Metaphysik des Willens gelesen werden, die in verschiedenen F o r m e n die Schriften dieser Periode charakterisiert. 1. In A p h o r i s m u s 99 der Fröhlichen Wissenschaft unterscheidet Nietzsche zwischen einem v o n mystischen Tendenzen und „ v o m eitlen Triebe, der F^nträthseler der Welt zu sein" verführten Schopenhauer und einem anderen Schopenhauer, dem Tatsachen-Denker, der den Wissensschatz mit „unsterb1

D e r V o r t r a g , den ich in U r b i n o gehalten habe, erscheint hier in mehreren Punkten verändert. F e d e r i c o G e r r a t a n a m ö c h t e ich für die zahlreichen kritischen A n m e r k u n g e n d a n k e n , die er mir nach der L e k t ü r e der u r s p r ü n g l i c h e n F a s s u n g z u k o m m e n ließ.

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Sandro Barbera

lichen Lehren", wie der Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der Werkzeug-Natur des Verstandes, von dem intellektuellen Charakter der Anschauung bereichert hat. Der Aphorismus scheint prima facie einen Passus der Kritischen Geschichte der Philosophie von Eugen Dühring aufzugreifen, in dem eine scharfe Grenzlinie zwischen dem „mystischen" und dem „positiven", rationalen Aspekt der Philosophie Schopenhauers gezogen wird; tatsächlich folgt Nietzsche hier aber einem ganz anderen Modell. Das zeigt die Art und Weise, wie er die Lehre der intellektuellen Anschauung betrachtet, die ebenso als Matrix der ästhetischen Intuition des Genies und einer nicht diskursiven Erkenntnis angesehen werden kann, wie auch als Dekonstruktionsprinzip der Erfahrung. Nach diesem Prinzip erscheint die Vorstellung als Resultat eines vom Verstand bedingten Prozesses, entsprechend der Schopenhauerschen Kritik an Kants unrechtmäßiger Gleichsetzung von Empfindung und Wahrnehmung. Nicht auf eine Zweiteilung innerhalb des Schopenhauerschen Systems weist Nietzsche hin, sondern auf die Existenz gegensätzlicher Entfaltungsmöglichkeiten aller seiner Grundlehren. In diesem Sinne erhält auch die Wagnersche Schopenhauer-Lektüre ihre Rechtfertigung: Wie Aphorismus 370 der Fröhlichen Wissenschaft bestätigt, stellt sie keineswegs eine Verfälschung jenes Denkens dar, sie entfaltet vielmehr seine romantischen Ansätze. In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 20. August 1882 wertet Nietzsche diese Betrachtungen als endgültigen Abschied von Schopenhauer und Wagner und gleichzeitig als analysierende Rückschau auf den eigenen intellektuellen Werdegang. Tatsächlich fordern diese Stellen der Fröhlichen Wissenschaft dazu heraus, den oft unausgesprochenen oder hintergründigen Spannungen nachzuspüren, welche die langjährige Ubereinstimmung Nietzsches mit der Wagnerschen Schopenhauer-Lektüre durchziehen. Wie bekannt, sind in der Metaphysik des Künstlers Anklänge an Wagners Schopenhauer-Lektüre zu spüren: so im Begriff des Musikalisch-Erhabenen, in der Verbindung der Musik mit der bildenden Kunst im Drama durch die Traum-Analogie — wobei die von Schopenhauer dargelegte Beziehung zwischen dem „wahren" und dem „morgendlichen" Traum verwendet wird, die auch in Wagners Beethoven eine wichtige Metapher ist —, in der Verschmelzung von künstlerischem Genie und „Genius der Gattung", der mit trügerischen Vorstellungen die Individuen täuscht, um sie einem höheren und ihnen fremden Ziel zu unterwerfen, usw. Auch was Nietzsche nachträglich als den „anstössig Hegelisch(en)" Geruch der Geburt der Tragödie bezeichnet 2 , ist nichts anderes als ein Ergebnis von Nietzsches Übereinstimmung mit jener erstaunlichen Verschmelzung Feuerbachscher, Jung-Hegelianischer und Schopenhauerscher Motive, von denen Wagners Ideologie durchdrungen ist. 2

RH, Die Geburt der Tragödie 1; KSA 6, S. 310.

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Zum Zusammenhang zwischen der Wagner- und der SchopenhauerErfahrung, der sich in der ganzen Phase der Geburt der Tragödie in einem äußerst dichten Zusammenspiel von Entsprechungen und Überschneidungen artikuliert, sei hier nur ein einziges Beispiel angeführt. In einem Passus von Richard Wagner in Bayreuth (WB 9; KS A 1, S. 494) wendet Nietzsche die Schopenhauersche Definition der Musik als „Abbild der Welt" und „rerum discordia discors", d. h. als Fähigkeit, auf der Ebene des Spiels, der Harmonie und der Vorstellung den innerlich widerstreitenden, dissonanten Charakter des Willens aufzulösen, auf Wagner an. Er nimmt hier den schon in der Geburt der Tragödie aufgestellten Vergleich zwischen dem Knaben Heraklits und dem Schopenhauerschen Motiv des erfreulichen Empfindens der Dissonanz in der Musik als Sinnbild des „Spieles" des Willens mit sich selbst wieder auf und vergleicht das ganze Wagnersche Werk mit dem Kosmos Heraklits, als eine vom Streit hervorgebrachte Harmonie und Einheit von Gerechtigkeit und Kampf. Der Passus spielt auf Wagners auffallende Vorliebe zum einen für die Schopenhauersche Lehre der Selbstentzweiung des Willens, zum anderen für die innere zielgerichtete Struktur seiner Erscheinungen an. Wie man im zweiten Buch der Welt liest, ist der Grundkonflikt, der alle Phänomene durchzieht, nach einer Progression geordnet, bei der die höhere Gestalt oder Idee sich durchsetzt, indem sie sich die niedrigere einverleibt: Nietzsche erwähnt in den nachgelassenen Fragmenten von Ende 1870-April 1871 auch Schopenhauers Motto „Serpens, nisi serpentem comederit, non fit draco". 3 Diese Progression durch den Streit wird von Wagner als Vorbereitung auf das Erscheinen des Genies interpretiert, das zugleich Ergebnis, Steigerung und Erlösung vom Streit ist — Erlösung, indem das Genie als „Genius der Gattung" die Gemeinschaft der Leidenden durch tröstende Trugbilder täuscht 4 . So überrascht es nicht, daß sich unter den zahlreichen 1 4

7[119] und [160]; KSA 7, S. 167 und 201. Diese beiden zusammenhängenden Motive — zum einen die Synthese zwischen dem Begriff des Genies und dem des Genius der Gattung, zum anderen das Genie als gesteigerte Form des Willens — sind vor allem im Brief an den König von Bayern aus dem Jahre 1864 ausgeführt. Der Brief wurde im Jahre 1873 mit dem Titel Über Staat und Religion veröffentlicht (Band VIII der Gesammelten Schriften und Dichtungen, Leipzig 1887, Nachdruck Darmstadt 1976). Der zentrale Aspekt der Wagnerschen Schrift ist die Beziehung zwischen den politischen, religiösen und künstlerischen „Wahnvorstellungen" und der Gestalt des Genies. Dessen erlösende Funktion besteht darin, daß er Illusionen schafft, die den Schopenhauerschen „Ernst" der Welt in ein „Spiel" von tröstlichen, dem Leben dienlichen Bildern umsetzen. Dieser Schrift, die Nietzsche 1869 in der handschriftlichen Fassung gelesen hat, mißt er auch später eine große Bedeutung bei. Anläßlich ihrer Veröffentlichung schreibt er am 2. März 1873 an Carl von Gersdorff: „Sie gehört zu dem Tiefsten aller seiner litterarischen Produkte und ist im edelsten Sinne ,erbaulich'." Über die verschiedenen Motive der Wagnerschen Schopenhauer-I.ektüre, auf die im folgenden eingegangen wird, siehe neben den alten Studien von H. Dinger ( R i c h a r d Wagners geistige Untwicklung, Leipzig 1892) und H. Lichtenberg (.Richard Wagner poete et penseur, Paris 1898) vor allem die detaillierte Analyse von Eduard Sans: Richard Wagner et la pensee schopenhauerieme, Paris 1964.

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Elementen der Verwandtschaft, die Nietzsche in der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zwischen Schopenhauer und Heraklit feststellt, auch eine Ähnlichkeit des Polemos Heraklits mit der Schopenhauerschen Selbstentzweiung des Willens findet: Jenen Kampf, der allem Werden eigenthümlich ist, jenen ewigen Wechsel des Sieges schildert wiederum Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung I S. 175): ,[...] Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja sie besteht eben wieder nur durch ihn'. Die folgenden Seiten geben die merkwürdigsten Illustrationen dieses Streites: nur daß der Grundton dieser Schilderungen immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen (PHG 5; KS A 1, S. 826).

In diesem Text und in den Vorlesungen Die vorplatonischen Philosophen hat Nietzsche überdies die Verbindung von Polemos und Dike als „den erste(n) spezifisch hellenische(n) Gedanke(n) in der Philosophie" gefeiert: „Dies ist eine der grossartigsten Vorstellungen: der Streit als das fortwährende Wirken einer einheitlichen gesetzmässigen, vernünftigen Dike, eine Vorstellung, die aus dem tiefsten Fundament des griechischen Wesens geschöpft ist. Es ist die gute Flris Hesiods, zum Weltprinzip gemacht. Die Griechen unterscheidet der Wettkampf, vor allem aber die immanente Gesetzmässigkeit im Entscheiden des Wettkampfes" ( D i e vorplatonischen Philosophen 10; GA 19, S. 178). Erst in der Philosophie im tragischen Zeitalter erhält die „immanente Dike" Heraklits jedoch die unverwechselbar Schopenhauersche Bezeichnung „ewige Gerechtigkeit" (PHG 5; KSA 1, S. 825). In Paragraph 63 der Welt als Wille und Vorstellung offenbart die „ewige Gerechtigkeit", daß alle Phänomene, bei aller scheinbaren Gegensätzlichkeit, ihre „Einheit" und „Identität" im Willen finden; aber dieser Wille erweist sich als ein durch den Gegensatz geprägtes Gefüge. Die in all ihren Punkten vom universalen Streit zerrissene Erscheinungswelt enthüllt in der scheinbaren Vielheit der Unterschiede letztlich nichts anderes als die grundlegende und notwendige Struktur jenes Willens, der sich selbst zerfleischt. Dieser Gedanke spielt in Nietzsches Interpretation, die Heraklit eine amoralische Betrachtungsweise der Welt als eines ästhetischen „Spieles" zuschreibt, eine wesentliche Rolle. Tatsächlich bringt Schopenhauers ewige Gerechtigkeit die Anerkennung einer Notwendigkeit zum Ausdruck, der zufolge sich nicht nur der Unterschied zwischen Schuld und Verdienst, Strafe und Belohnung als Schein, sondern auch die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse als gegenstandslos erweist. 2. Auch in der Zeit der Geburt der Tragödie bleibt die Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer entscheidend von der Kritik geprägt, die er im

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Frühjahr 1868 gegen den Begriff des Willens als ein von den Vorstellungen gänzlich verschiedenes Fundament der Erscheinungen vorgebracht hatte 5 . Das Festhalten an dieser frühen Kritik wird sowohl von der Lehre des „UrEinen" (7 [139]ff., Ende 1870-April 1871), als auch von der Fragmentengruppe 5 [77 — 83] (September 1870-Januar 1871) sowie, um ein letztes Beispiel anzuführen, vom wichtigen Fragment 12 [1] vom Frühjahr 1871 bezeugt. Dort wird der Wille als „die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren" bezeichnet und die Unmöglichkeit, die Sphäre der Vorstellungen zu überschreiten, bestätigt. Zudem formuliert Nietzsche darin das bereits in den Notizen des Jahres 1868 zentrale Problem der Individuation im ästhetischen Gebiet als Verhältnis zwischen der Symbolik des Tons und derjenigen von Gebärden und Gestalten neu. Die Verwendung der Begriffe der ewigen Gerechtigkeit und der „immanenten Dike", die als Gleichzeitigkeit von Vielheit und Einheit, als Überwindung des Dualismus zwischen Apeiron und Qualitäten aufgefaßt werden, scheint zum Ziel zu haben, an der systematischen Funktion des Willens festzuhalten, zugleich aber dem Ding an sich seinen Transzendenzcharakter zu nehmen. Diese Stoßrichtung wird von den in dieser Periode wiederkehrenden Metaphern des „Schlüssels" und der Entzifferung der Welt als hieroglyphische Schrift bestätigt, die Nietzsche verwendet, um Schopenhauers System zu bezeichnen. Schopenhauer benutzt häufig solche Metaphern, vor allem aber in Kap. 17 der Ergänzungen zur Welt: Wenn man eine Schrift findet, deren Alphabet unbekannt ist; so versucht man die A u s l e g u n g so lange, bis man auf eine A n n a h m e der Bedeutung der Buchstaben geräth, unter welcher sie verständliche W o r t e und zusammenhängende Perioden bilden. Dann aber bleibt kein Z w e i f e l an der Richtigkeit der Entzifferung [...] A u f ähnliche A r t muß die E n t z i f f e r u n g der Welt sich aus sich selbst v o l l k o m m e n bewähren. Sie m u ß ein gleichmäßiges Licht über alle Erscheinungen der Welt verbreiten und auch die heterogensten in Ucbereinstimmung bringen, so daß auch zwischen den kontrastirendesten der W i d e r s p r u c h gelöst wird.

Im selben Kapitel spricht Schopenhauer diesbezüglich von einer Metaphysik, die sich als „immanente" und nicht „transzendente", systematische Kohärenz der Phänomene darstellt, „da sie vom Dinge an sich nie anders als in einer Beziehung zur F^rscheinung redet". Der „Apostel" Julius Frauenstädt hatte im Abschnitt „Memorabilia, Briefe und Nachlassstücke" des Bandes Arthur Schopenhauer. Von ihm. Ueber ihn den Brief abgedruckt, den Schopenhauer ihm am 21. August 1852 geschrieben hatte, um diesen kontroversen Aspekt seines Denkens zu erhellen. Mit diesem Thema wird sich auch Rudolf 5

Vgl. Zu Schopenhauer,

in BAW 3, S. 3 5 2 - 3 7 0 .

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Haym in seinem Aufsatz über den Danziger Philosophen aus dem Jahre 1864 beschäftigen, und den „relativen" Charakter des Dings an sich als widersprüchlich verurteilen. Schopenhauer schreibt: Meine Philosophie redet nie von Wolkenkukuksheim, sondern von dieser Welt, d. h. sie ist immanent, nicht transscendent. Sic liest die vorliegende Welt ab, wie eine Hicroglyphentafel (deren Schlüssel ich gefunden habe, im Willen) und zeigt ihren Zusammenhang durchweg. Sie lehrt, was die Erscheinung sei, und was das Ding an sich. Dieser aber ist Ding an sich, blos relativ, d. h. in seinem Verhältniss zur Erscheinung: — und diese ist Erscheinung bloss in ihrer Relation zum Ding an sich. Ausserdem ist sie ein Gehirnphänomen. Was aber das Ding an sich ausserhalb jener Relation sei, habe ich nie gesagt, weil ich's nicht weiss: in derselben aber ist's Wille zum Leben.''

Die zweideutige Bestimmung des Willens — einerseits als „Schlüssel" und systematisches, den Phänomenen immanentes Entzifferungsprinzip, andererseits als die Phänomene transzendierendes Prinzip — wird von Nietzsche erst mit dem 8. Aphorismus von Menschliches, All^umenschliches, „Pneumatische Erklärung der Natur", ausdrücklich verworfen. Dort wird der Doppelsinn, den die metaphysische Entzifferung der Welt als „Schrift" mit sich bringt, zugunsten der durch die philologische Wissenschaft geschaffenen „strengeren Erklärungskunst" zurückgewiesen. Letztere leugnet die Unterscheidung zwischen einem sichtbaren und einem verborgenen Text und damit jede Möglichkeit einer allegorisch-metaphysischen Lektüre. Das Schema der ewigen Gerechtigkeit als Gleichzeitigkeit von Vielheit und Einheit und als innere Zweckmäßigkeit findet sich an verschiedenen Stellen in den nachgelassenen Fragmenten; mit dem Thema des Wettkampfs verbunden, wird dieses Schema zu einem Modell für die tragische Kultur, für ihr Streben, die atomistische Zerstreuung der Moderne zu überwinden. Dennoch kann man in den nachgelassenen Fragmenten aus den Jahren 1872 bis 1875 verfolgen, wie das Modell der ewigen Gerechtigkeit und des mit ihr verknüpften Wettkampfes an Gültigkeit verliert. Der Wettkampf basiert, wie auch aus Fragment 16 [22] vom Frühjahr 1872 hervorgeht, auf einem problematischen Gleichgewicht — „Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen." — und entspricht auf diese Weise der Suche Nietzsches nach einer Vermittlung zwischen Einheit und Vielheit. Zwei Nachlaßfragmente aus dem Frühsommer 1878, in denen Nietzsche rückblickend die Bedeutung der Unzeitgemäßen Betrachtungen für seinen Werdegang beurteilt, zeigen seinen Versuch, die Schopenhauer- und die Wagner6

Arthur Schopenhauer. Von ihm. Über ihn. Hin Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner Memorabilienf Briefe und Nachlassstücke von Julius l'rauenstädt, Berlin 1863, S. 555.

und

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Erfahrung zusammenzudenken, sowie das Scheitern dieses Versuchs. Beide Fragmente, 27 [34J und 27 [80], beziehen sich auf den „Schopenhauerschen Menschen" von Schopenhauer als Erzieher als auf einen zerstörerischen Genius. Im ersten Fragment wird behauptet, das Pathos des Schopenhauerschen Menschen habe eine vorbereitende Funktion für das künstlerische Genie, das wiederum als dessen Gegenstück erscheint: „Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerschen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende. Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagewerk" (KSA 8, S. 493). Das zweite Fragment stellt dagegen eine funktionale Beziehung entschieden in Abrede und betrachtet den Schopenhauerschen Menschen als Mittel zur Befreiung von Wagner und von einem Schopenhauer „wagnetise" 7 : „Der Schopenhauersche Mensch trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Verteidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige — Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesem Umweg kam ich auf die Höhe, mit den frischesten Winden" (KSA 8, S. 500). In den Jahren 1872 bis 1874 betont Nietzsche jedoch die „wundersame Einheit" von Wagner und Schopenhauer innerhalb einer unter der Ägide des Genies zu gründenden Kultur und trachtet sie neu zu formulieren. Beiden schreibt er daher F^pitheta zu, in denen der Hauptcharakter der griechischen Kultur unmittelbar anklingt, der darin bestehe, dem Auseinanderfallen der Triebe entgegenzuwirken und sie in eine neue Feinheit zu bringen. Dem „Gegen-Alexander" 8 , dem mit einer „gesetzgeberischen Natur" ausgestatteten Wagner 9 , entspricht als Gegenpol ein Schopenhauer, welcher der gefährlichen Zersplitterung der Wissenschaften durch ein philosophisches „Gesamtbild" entgegentritt und seinen eigenen „Erkenntnistrieb" bändigt, indem er ihn von nihilistischen Ergebnissen freihält. Auf der einen Seite steht der „VereinVgl. Nietzschcs Brief an Franz Overbeck vom 14. September 1884: KSB 6, S. 531. Vgl. W13 4; KSA 1, S. 447 („Nicht den gordischen Knoten der griechischen Kultur zu lösen, wie es Alexander that, so dass seine F.nden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern ihn binden, nachdem er gelöst war — das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenn ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schliesst zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringirende Kraft: in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ordnenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Well") und die Fragmente 11 [22] und 12[14]; KSA 8, S. 208 f. und 250 ff. '' Siehe ζ. B. das Fragment 32[10] vom Frühjahr 1874; KSA 7, S. 756: „Wagner ist eine gesetzgeberische Natur: er übersieht viel Verhältnisse und ist nicht im Kleinen befangen, er ordnet alles im Grossen und ist nicht nach der isolirten Einzelheit zu beurtheilen — Musik Drama Poesie Staat Kunst usw."

7

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facher" (WB 4 und 5; KS A 1, S. 448 und 454), ja der „Tyrann" Wagner, wie er in Richard Wagner in Bayreuth und in vorbereitenden Fragmenten 10 vorkommt, in denen die Krise des im Wettstreit bewährten Gleichgewichtes zwischen Vielheit und Einheit innerhalb der tragischen Kultur 11 bereits klar ausgesprochen wird. Ihm entspricht das „Simplificieren" oder die „Simplicität" 12 als herausragendes Attribut der Philosophie Schopenhauers, die sich von jedem Technizismus und von der Scholastik befreit. In unzähligen Varianten betont Nietzsche die innere, zunehmend spannungsvolle Beziehung zwischen dem Philosophen, dem Erkenntnistrieb, dem Sinn der „Wahrhaftigkeit" einerseits und dem Impuls, Trugbilder zu schaffen andererseits, der in Richard Wagner in Bayreuth als Hauptmerkmal des künstlerischen Genies gepriesen wird. In Schopenhauer als Erzieher wird der „heroische Sinn der Wahrhaftigkeit" noch mit Goethes Motto „die causa finalis der Welt- und Menschenhändel ist die dramatische Dichtkunst" (SE 5; KS A 1, 382) der ästhetischen Lösung untergeordnet. Die Synthese der tragischen Kultur zerbricht aber bereits unter dem Gewicht eines zunehmend differenzierten Bildes der Moderne, die Nietzsche bald nicht mehr durch exklusive Vorbilder — wie das des Griechentums — erfaßbar erscheint und gerade wegen ihres beweglichen Charakters gepriesen wird: Nietzsche neigt jetzt dazu, nach Versöhnungsgestalten wie den „Philologen-Poeten" Goethe und Leopardi zu suchen, um wieder eine Synthese zu stiften, welche die Unterordnung unter das künstlerische Genie nicht mehr garantieren kann. 3. Nietzsche will das Gebäude der Künstlermetaphysik jedoch vor allem dadurch zusammenhalten, daß er nach Spuren einer Identität zwischen Kunst und philosophischem System sucht. Die Fragmentengruppe 19 vom Sommer 1872-Frühjahr 1873 beginnt mit einer Erörterung über die „künstlerische" oder „wissenschaftliche" Natur der Philosophie. Hier unternimmt Nietzsche den gewagten Versuch, den Erkenntnistrieb der künstlerischen Schöpfung zu unterwerfen. Die Kritik, die er in seinen Schopenhauer-Aufzeichnungen vom Frühjahr 1868 an der Trennung der Vorstellung vom Willen geübt hatte, wird hier offensichtlich neubelebt und einer Lehre dienlich gemacht, die 10

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Siehe vor allem das Fragment 32[32] vom Frühjahr 1874: „Die .falsche Allmacht' entwickelt etwas .Tyrannisches' in Wagner. Das Gefühl ohne Erben zu sein — deshalb sucht er seiner Reformidee die möglichste Breite zu geben und sich gleichsam durch Adoption fortzupflanzen. Streben nach Legitimität. Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten lässt: oder die Juden." (KSA 7, S. 764 f.). Vgl. Homer's Wettkampf, wo die Existenz eines einzigen Gentes ausdrücklich ausgeschlossen wird: KSA 1, S. 789. Vgl. ζ. B. das Fragment 23[7] (KSA 7, S. 540); in den Fragmenten 19[321] und [322] (KSA 7, S. 517 f.) ist Schopenhauer „Vereinfacher".

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erneut den Vorrang der Kunst behauptet. Als Basis des Erkenntnisprozesses gilt eine Physiologie des Sehens, d. h. die Herausbildung von Gestalten und Formen, die den Trugbildern ähnlich sind, welche das künstlerische Genie aus Mitleid der Gemeinschaft bietet. Gedächtnisleistung und Assoziation der Empfindungen werden von einer analogisch-metaphorischen Struktur abhängig gemacht. Dank der Natur dieses „Urdenkens", das der geheimnisvollen Fähigkeit analog ist, in Bildern zu denken 1 3 , vermag Nietzsche die Möglichkeit, daß der Erkenntnistrieb sich gegen die ästhetische Lösung wenden könnte, radikal auszuschalten. Nietzsche vergißt keineswegs den charakteristischen Vorrang des Auges und des Sehens, den Schopenhauer als Grundlage der intellektuellen Anschauung und der Ideenlehre betrachtet; Raum, Zeit und Kausalität sind jedoch für ihn nichts anderes als „Metaphern", die sich in der Wahrnehmung und in der Sprache als Bilder und rhetorische Figuren konsolidiert haben. Man darf allerdings nicht übersehen, daß Nietzsche, wenn er die Erkenntnis auf Metaphern zurückführt, damit jene Künstlermetaphysik verteidigen will, die als Vorbild zu zerbrechen droht. Diese Zurückführung kann nicht problemlos einem solchen strategischen Horizont entzogen und verallgemeinert werden. Das Fragment 19[45] beginnt mit der Frage „Wie verhält sich der philosophische Genius zur Kunst?" In der Antwort setzt Nietzsche die Fähigkeit der Philosophie, den Alexandrinismus der Wissenschaften zu zähmen und zur Einheit zurückzuführen, mit der Kunst gleich. Dem Nihilismus des Erkenntnistriebes widersetzen sich Kunst und Philosophie als Bejahungen des Willens zum Leben, der durch das Genie eine höhere Form der Existenz hervorbringt: W i r müssen fragen: was ist an seiner Philosophie Kunst? Kunstwerk? Was bleibt, wenn sein System als Wissenschaft vernichtet ist? Gerade dieses Bleibende aber muß es sein, was den Wissenstrieb bändigt, also das Künstlerische daran. Warum ist eine solche Bändigung nöthig? Denn wissenschaftlich betrachtet, ist es eine Illusion, eine Unwahrheit, die den Trieb nach Erkcnntniß täuscht und nur vorläufig befriedigt. Der Werth der Philosophie in dieser Bändigung liegt nicht in der Erkenntnißsphäre, sondern in der Lebenssphäre: der Wille %um Dasein benutzt die Philosophie zum Z w e c k e einer höheren Daseinsform. ( K S A 7, S. 4 3 3 f.)

In diesem Zusammenhang sieht Nietzsche das „Künstlerische" sowohl bei Heraklit als auch bei Schopenhauer; im Hinblick auf die Naturbeschreibung des Philosophen stellt er die Gleichwertigkeit von „dichten" und 11

Diese Fähigkeit wird in Richard Wagner in Bayreuth als das Geheimnis der mythenschaffenden Natur Wagners bezeichnet: „Das Dichterische in Wagner zeigt sich darin, dass er in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begriffen denkt, das heisst, dass er mythisch denkt, so wie immer das Volk gedacht hat. (...) Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheueres Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens." (WB 9; KSA 1, S. 485)

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„erkennen" fest: „Er [d. h. der Philosoph] erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt." (19 [62]; KSA 7, S. 439) Schon Rudolf Haym hatte in dem Teil seiner Schrift über Schopenhauer 14 , in dem er den von Frauenstädt und Gwinner veröffentlichten Nachlaß untersucht, von der Bildung des Schopenhauerschen Systems als Resultat eines künstlerischen Triebes gesprochen. Dieses System erschien Haym als das Ergebnis einer „Gewalt der Einbildungskraft", das letztlich auf jenes „romantische Mißverständniß" zurückzuführen war, das die Philosophie als eine künstlerische Leistung ansieht. „Ganz diesem subjectivistischen Standpunkte und ganz den mitspielenden romantischen Motiven entspricht es, daß die Philosophie selbst in den in der Rede stehenden Manuscripten durchaus als Kunst gefaßt wird. Denn auch sie, natürlich, fällt in den Bereich des besseren Bewußtseins. Der Philosoph steht auf Einer Linie mit dem Künstler und Dichter." 15 Nietzsche hatte frühzeitig von dieser Kritik „sehr bösartiger Natur" Kenntnis genommen 1 6 : Er konnte sie aber anscheinend durch die LangeRezeption neutralisieren. Im Brief an Carl v. Gersdorff von Ende August 1866, in dem er begeistert über die Lektüre von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus berichtet, erwähnt er auch, daß für Lange die Unerkennbarkeit des Dings an sich dem Philosophen eine Freiheit gewährt, die der des Künstlers ähnelt: Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. 14

Hayms Aufsatz „Arthur Schopenhauer" erschien 1864 in den Preußischen Jahrbüchern (auch als Sonderdruck); wir zitieren hier aus R. Haym: Gesammelte Aufsätze, Berlin 1903, S. 239 ff. Zu den Auswirkungen dieses Aufsatzes auf die nachfolgende Schopenhauer-Rezeption vgl. die detaillierte Analyse im ersten Teil von Y. Kamata: Der junge Schopenhauer, Freiburg/ München 1988, insb. S. 107 ff. Es ist außerdem zu vermuten, daß Hayms Aufsatz einen bedeutenden Einfluß auf die „Frage nach dem Ursprung des Intellekts" und des principium individuationis ausgeübt hat, die bereits in Nietzsches Aufzeichnungen über Schopenhauer aus dem Jahr 1868 von zentraler Bedeutung ist (vgl. BAW 3, insb. S. 359 ff.). Haym stellt die Unvereinbarkeit zwischen einer transzendentalen und einer genealogisch-physiologischen Betrachtung des Intellekts als „Gehirn" fest. Dabei spricht er (viel ausführlicher als es zum ersten Mal Rudolf Seydel acht Jahre zuvor in seiner Preisschrift Schopenhauers philosophisches System dargestellt und beurtheilt, Leipzig 1857, getan hatte) von einem „Cirkel" innerhalb der Philosophie Schopenhauers und nimmt auf diese Weise den Einwand des circulus vitiosus vorweg, der Jahre später durch Eduard Zellers Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibni München 1873, berühmt werden sollte.

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R. Haym, a. a. O., S. 316. — Julius Frauenstädt bietet eine umfangreiche Auswahl aus den diesem Thema gewidmeten Jugendschriften: Vgl. Arthur Schopenhauer. Von ihm. Ueber ihn, a.a.O., S. 718f., 724, 726f. Er bemerkt dazu: „Schopenhauer ist in seinen Erstlingsmanuscripten unerschöpflich in Aufzeichnungen über den Unterschied seiner Philosophie als Kunst von der bisherigen als Wissenschaft. Man bekommt in diesen Stellen den Maassstab in die Hand, nach welchem allein die Schopenhauersche Philosophie richtig beurtheilt werden kann." (ebd., S. 247) Vgl. den Brief an Hermann Mushacke vom 27. April 1866: KSB 2, S. 128.

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[...] Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr. Wenn die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym sich vor Schopenhauer verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer.

4. Haym sieht eine Vorherrschaft der poetischen Phantasie sowohl in Schopenhauers Hauptwerk und den anderen reifen Werken als auch in seiner jugendlichen Lehre des „besseren Bewußtseins", wo Kunst und Tugend, Künstler und Heiliger im Gegensatz zur Wissenschaft, die immer im Satz vom Grunde befangen bleibt, die „Befreiung von allen Bestimmungen des empirischen Bewußtseins" 17 erlauben; letzteres ist der Reflex der Zeitlichkeit und des Werdens. Die gesamte Philosophie Schopenhauers wird dank dieser Kontinuität mit den Frühschriften als die romantische Manifestation eines Vorrangs des dichterischen Triebes interpretiert, mithin als Ausdruck seiner Neigung, mit den Werkzeugen der Analogie und der Metapher zu arbeiten. Nietzsche schreibt in den Aufzeichnungen Zu Schopenhauer, daß der Begriff des Willens „nur mit Hülfe einer poetischen Intuition" erzeugt wird (BAW 3, S. 354), doch hatte bereits Haym bemerkt, daß wir in Schopenhauers Versuch, aus Natur und Willen „gleichbedeutende Begriffe" zu machen, die „Durchführung einer blossen Metapher" sehen müssen. Wenn Schopenhauer den Terminus „Wille" auch auf alle in der Natur strebenden und wirkenden Kräfte überträgt — dazu „möchte allenfalls ein Poet sich entschließen, nicht wir" 1 8 — so stellt er damit einen systematischen Zusammenhang anthropomorphischer Art her: Das wechselseitige Vertauschen des generellen Begriffs der Kraft und des speciellen Begriffs Wille, dieses Vexirspiel mit dem Wort Wille — in Verbindung mit dem Vexirbegriff des Dings an sich — dies allein macht es ihm möglich, auf der einen Seite den menschlichen Willen und mit ihm die ganze Ethik zu naturalisiren, auf der anderen Seite die Natur phantastisch-poetisch zu anthropomorphosiren.K

Im 5. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche wird der Wille Schopenhauers, insofern er den allgemeinen Charakter aller Dinge bezeichnet, als eine „poetische Metapher" definiert (KSA 2, S. 382). In Menschliches, All^umenschliches wird die Verbindung von Kunst und metaphysischem System im Lichte einer Lehre der in der Sprache versteinerten Irrtümer des Intellekts neu ausgelegt. In Aphorismus 16 (KSA 2, S. 36 — 38) sowie in Fragment 23 [125] (Ende 1876-Sommer 1877; KSA 8, S. 447 f.) interpretiert Nietzsche das R. Haym, a. a. O., S. 305. / ; M , S. 260. " Ebd., S. 261.

17

18

228

Sandro Barbera

Schopenhauersche Bild von der Welt als Gesamtheit von „Schriftzügen", die die Manifestation des Dings an sich seien, historisch-genealogisch im Zusammenhang mit einer „Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung". Doch sind die in der Sprache konsolidierten Irrtümer ihrerseits Folgen einer anthropomorphischen Haltung („die Natur ist Mensch", 23 [24]; KS A 8, S. 412). Ähnlich wie Haym sieht Nietzsche einen Rückschritt zum Anthropomorphismus im Passus des zweiten Buches der Welt (§ 19), in dem die „doppelte Erkenntniss" des Leibes durch Analogie auf die äußere Natur ausgedehnt wird, die sich auf diese Weise als Gleichzeitigkeit von Wille und Vorstellung offenbaren und ihre „Hieroglyphen" der metaphysischen Entzifferung zugänglich machen kann: Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist [...] Und dies ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt: man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr. (23 [27]; KSA 8, S. 413)

In dieser Fragmentengruppe wird aber nicht nur die Verwandtschaft von (Wagnerscher) Kunst und (Schopenhauerscher) Metaphysik unter dem gemeinsamen Nenner des Anthropomorphismus formuliert — denn auch die Kunst verwendet „uralte Fehlschlüsse" und beruht „ganz und gar auf der vermenschlichten Natur" (vgl. ζ. B. 23 [150]; KSA 8, S. 458 f.). Hier klingt auch bereits ein Thema an, das sich in Menschliches, All^umenschliches voll entfalten wird: In Kunst und Metaphysik kann man noch heute die Irrtümer finden, mit denen sich der menschliche Intellekt in den Vor- und Urzeiten die Welt Untertan gemacht hat, und die deshalb die Archive darstellen, durch welche das genealogische Denken die „Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung" rekonstruieren kann. Mit dem Thema der Zurückführung der Philosophie auf Kunst befassen sich auch einige Nachlaßfragmente aus dieser Zeit, die mit den Ausführungen der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung über die zweite Gefahr, der Schopenhauer ausgesetzt ist (SE 3; KSA 1, S. 355 ff.), in enger Beziehung stehen. Diese Gefahr besteht in einer vom nihilistischen Potential der Kantischen Philosophie hervorgerufenen „Verzweiflung an der Wahrheit", wie sie Heinrich von Kleist erlebte. Das Risiko einer radikalen Skepsis und das daraus entstehende metaphysische Vakuum wird von Schopenhauer überwunden, der als „der Führer" erscheint, „welcher aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet" (SE 3; KSA 1, S. 356). In den von Schopenhauer selbst veröffentlichten Werken ist von dieser skeptischen und destruktiven Funktion Kants vor allem im Anhang zur Welt, der Kritik der Kantischen Philosophie,

Ein Sinn und unzählige Hieroglyphen

229

die Rede, wo Moses Mendelssohns Bezeichnung „Alleszermalmer" für Kant angeführt 20 und die „Verzweiflung" der kritischen Philosophie erwähnt wird 2 1 . Im Nachlaßfragment 19[35] erscheint diese nihilistische Leistung jedoch in einem anderen Licht. Während der „Philosoph der desperaten Erkenntniß" sich in der ziellosen Wissenschaft, im Wissen um jeden Preis verbraucht, überwindet der tragische Philosoph die Skepsis, denn: „Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens" (KSA 7, S. 428). Der Begriff eines Wissens, das sich gegen sich selbst wendet, um eine höhere Lebensform zu verteidigen (die von der künstlerischen Illusion beherrschte, wie der Zusammenhang erkennen läßt) wird in Fragment 19[34] durch einen Passus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft exemplifiziert. Die Auflösung der Metaphysik durch den Kritizismus ist die Vorbedingung, um die moralische Gewißheit gegen den Skeptizismus zu verteidigen: „Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten·, dorthin legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik — Schopenhauer" (KSA 7, S. 427). Tatsächlich waren es die jugendlichen Aufzeichnungen, in denen Schopenhauer diese Funktion von Kants Kritizismus genau benannt hatte: Er ist der Zugangsweg zum besseren Bewußtsein, insofern er das Subjekt aus dem Gefängnis der „Begreiflichkeit" befreit. So spricht Schopenhauer von jener „höchst wichtige) n], das Wesen der ganzen Kritik erläuternde[n] Stelle" 22 der „Transzendentalen Dialektik", in der die Kritik nicht als Absage an das Intelligible, sondern vielmehr als Vorbedingung eines Zuganges zu ihm verstanden wird. Diese Schopenhauersche Stelle war Nietzsche nicht zugänglich, doch konnte er durch Frauenstädts Auswahl aus Schopenhauers Studienheften über Kant, Fichte, Schelling und Fries eine klare Vorstellung vom Begriff des „wahren Kritizismus" gewinnen, d. h. von der Funktion, die Schopenhauer dem „Zermalmer" Kant als Vorbereiter einer unbedingten Form der Erkenntnis zuschreibt. So ζ. B. in einer langen Bemerkung zu den Prolegomena über den „Zweck unserer Anlage zur Metaphysik", wo Schopenhauer den Gebrauch der Kategorien über die Erfahrung hinaus als eine „dienliche Täuschung" zur Abmilderung des Widerspruchs zwischen Intellekt und besserem Bewußtsein bezeichnet, den ,,wahre[n] Kritizismus" hingegen als den „täuschungsfreiefn] Weg", der uns lehrt, „daß der Verstand die bedingte, das 20

21 22

A. Schopenhauer: Werke in %ehn Bänden, Zürich 1977, Bd. 2, S. 516; vgl. auch Parerga und Paralipomena I, Fragmente \ur Geschichte der Philosophie, § 4 (α. α. Ο., Bd. 7, S. 55), und Parerga und Paralipomena II, Uber die Universitäts-Philosophie {ebd., S. 190). Ebd., Bd. 2, S. 526. A. Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß, hrsg. von A. Hübscher, München 1985, Bd. 2, S. 279.

230

Sandro Barbera

bessere Bewußtsein aber (und nicht jener) die absolute Erkenntnißweise ist". 23 Der Eindruck, daß sich diese Nachlaßfragmente Nietzsches auf die Schriften Schopenhauers beziehen, die der Erarbeitung der Willensmetaphysik vorangehen, wird vom Gebrauch des Ausdrucks ,das beste Leben' 2 4 verstärkt. Das ,beste Leben' ist bei Nietzsche wiederum — so wie der offenbar analoge Ausdruck „Besseres" in Schopenhauer als Erzieher (SE 4; KSA 1, 374) — mit „Kultur" und „verklärter Physis" eng verbunden. Dies bedeutet eine entscheidende Veränderung gegenüber der Schopenhauerschen Vorlage, denn für Schopenhauer ist der Zugang zur höheren Lebensform eine individuelle, nicht zu verallgemeinernde Leistung des Genies, das seinerseits eine vollständige Antithese zum Philister, zur Durchschnittlichkeit des vernünftigen Lebens darstellt. Die Schriften und Fragmente aus Nietzsches erster Basler Zeit zeugen von Schwankungen und Widersprüchen, die erst in Menschliches, All^umenschliches mit der Kritik am Genie als Wurzel sowohl der metaphysischen Haltung Schopenhauers als auch der Verbindung Metaphysik-Kunst aufgehoben werden. Vor allem aber kommt in den Texten dieser Periode ein wesentlicher Gegensatz zum Vorschein. Einerseits wirkt die bereits 1868 formulierte Kritik an Schopenhauer, dem zufolge der Wille ein von den Vorstellungen gänzlich verschiedenes Fundament der Welt ist, weiter nach; sie hinterläßt ihre Spuren in der Auffassung der „ewigen Gerechtigkeit" und der Philosophie als Entzifferung der hieroglyphischen Zeichen. Und bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, daß sich Nietzsche auf Texte Schopenhauers bezieht, die der Erarbeitung der Willenslehre vorangehen. Andererseits muß das metaphysische Vakuum mit einer Ideologie des Genies ausgefüllt werden. Von Wagner inspiriert, stützt sich die Metaphysik des Künstlers auf die Verschmelzung von Genie und Genius der Gattung: Wir sind weit entfernt von Schopenhauer, der das Genie als Entfernung und melancholische Entfremdung von einer ursprünglichen „Leidenschaftlichkeit des Wollens", als vollständige Ikonisierung der Affekte definiert 25 . Dank der Verbindung von Genie und Genius der Gattung vollzieht die Metaphysik des Künstlers eine 23

24

25

Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente, hrsg. v. J . Frauenstädt, Leipzig 1864, S. 101 f. 19[35], KSA 7, S. 428, s. o. Soweit wir wissen, verwendet Nietzsche den Schopenhauerschen Terminus „besseres Bewußtsein" nur ein einziges Mal, und zwar in dem Euripides gewidmeten Teil der Vorlesungen Geschichte der griechischen Literatur (1874 — 75; GA 18, S. 49), um den echten Geist der Tragödie im Gegensatz zur „Sophistik der Leidenschaft" zu bezeichnen. Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 6, und II, Kap. 31. Über das Paradigma der Melancholie als Kern der genialen Fähigkeit, die Anschauung von den Formen der Sinnlichkeit zu befreien und dadurch die den Vorstellungen innewohnenden Willensmotive zu verdrängen, s. S. Barbera: „Anmerkungen zu Schopenhauer und Goethe. Vom Augenblick zum Urphänomen", in: Philosophischer Taschenkulender Bd. 2 (1992/93), S. 58 ff.

231

Ein Sinn und unzählige Hieroglyphen

radikale Romantisierung Schopenhauers, ist doch die Leistung des Genies nichts anderes als die Wiederholung des „Urprozesses" 2b , mit dem das „UrEine" die erlösenden Bilder in Analogie zur Objektivierung der Ideen seitens des Willens hervorbringt. Nur die radikale Loslösung in Menschliches, Allzumenschliches erlaubt Nietzsche, die Widersprüche dieser „praktischen" Beziehung zum Willen zu überwinden. Der Freigeist ist an das aktive Leben nur „leicht gebunden", um nicht Sklave seiner Handlungen zu werden (1876, 16[47]; KSA 8, S. 294). Er ist geradezu als Gegenpol zu einem tätigen Menschen entworfen; sein antithetischer Charakter gegenüber dem „tyrannischen" Element bei Wagner wird explizit in Fragment 17[47] (Sommer 1876; KSA 8, S. 305) erwähnt. Die Opposition gegen das tyrannische Element, die Befreiung vom Leben — nicht als Selbstmord, sondern als Freiwerdung von den trügerischen Bildern und den Motiven des Willens —, die Befreiung schließlich von den gewaltigen und übermäßigen Willensregungen setzen den Freigeist gerade jenem Uberschuß des Willens entgegen, den Wagner durch eine der erstaunlichsten Umgestaltungen des Schopenhauerschen Textes dem Genie zuschreibt. 5. Die dritte Unzeitgemäße Betrachtung ist vom prekären Gleichgewicht zwischen verschiedenen Argumentationssträngen geprägt. Nur eine genaue Analyse könnte über das Zusammenwirken der unterschiedlichen Tendenzen Klarheit schaffen. Es steht jedoch außer Zweifel, daß in Schopenhauer als Erzieher der „Aberglaube vom Genius" — den Nietzsche im Sommer 1878 dem vergänglichen Teil der Wirkung Schopenhauers zurechnet (30[9]; KSA 8, S. 524) — und mit ihm die unmittelbare Verbindung von Genie und Stiftung der Kultur fragwürdig geworden sind; dies trotz der Aussagen, welche die Metaphysik des Künstlers und den Vorrang der ästhetischen Lösung noch zu bestätigen scheinen. Die verschiedenen „Typen" genialer Existenz, die Gestalten des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen, werden zunächst voneinander getrennt, und ihre Einheit muß dann in einer besonderen Konstellation gesucht werden. Die ursprüngliche Verschmelzung des Genies mit der Gemeinschaft durch die heilenden Täuschungen wird zu einem komplizierten, fragwürdigen Verhältnis, wenn wir, wie es nahe liegt, die Beziehung zwischen der erzieherischen Fähigkeit des Philosophen und der Aufgabe, „einen neuen Kreis von Pflichten [zu] entdecken", als Mittelpunkt dieser Unzeitgemäßen betrachten. Es geht hier um die Frage, „ob es möglich 2k

Vgl. ζ. B. 7[167] (finde 1870-April 1871): „Das Projicieren IJrpro^ess", usw. (KSA 7, S. 203).

des Scheins

ist der

künstlerische

232

Sandro Barbera

ist, sich mit den grossen Idealen des Schopenhauerischen Menschen durch eine regelmässige Selbstthätigkeit zu verbinden" (SE 5; KSA 1, S. 381). Der „heroische" Charakter des Schopenhauerschen Menschen besteht, wie die eingangs zitierten Fragmente rückblickend betonen, nicht in einer ästhetischen Erlösung des Werdens, sondern in dessen Überwindung: „Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es auch, verneint zu werden; und wahrhaftig sein heisst an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist. Deshalb empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Tätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines andern und höhern Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstände bejahenden: so sehr auch alles, was er thut, als ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens erscheint." (SE 4; KSA 1, S. 372) Ein so scharfer Antagonismus wie der, den uns Schopenhauer als Hr^ieher vorstellt, zwischen dem innerhalb der Zeitlichkeit und des Werdens befangenen Dasein und einer von der Ruhe des „Seins", von der „Besonnenheit", ja von der Subjekt-Objekt-Identität gekennzeichneten Lebensform des Heiligen, charakterisiert gerade in den Jugendschriften Schopenhauers die Selbstbefreiung des besseren Bewußtseins vom empirischen. Laut einer Stelle der dritten Unzeitgemäßen besteht Schopenhauers philosophisches System für Nietzsche aus „Hieroglyphen", die lediglich eine jugendliche Intuition wiedergeben, d. h. die Erfahrung der Gestalten des Künstlers und des Heiligen als die beiden Formen, durch die sich ursprünglich die Genialität des besseren Bewußtseins darstellt: Es ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens geschaut haben muss, und zwar gerade wie er es später in allen seinen Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, dass der J ü n g ling, und möchte glauben, dass das Kind schon diese ungeheure Vision gesehen hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks; selbst die Kantische Philosophie w u r d e von ihm vor Allem als ein ausserordentliches rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich die buddhaistische und christliche Mythologie diente. Für ihn gab es nur Eine A u f g a b e und hunderttausend Mittel, sie zu lösen: Einen Sinn und unzählige Hieroglyphen, um ihn auszudrücken. (SE 7; K S A 1, S. 410 f.)

Dieser Passus erinnert stark an eine Stelle, an der Haym aufgrund des von Frauenstädt gebotenen Materials bemerkte, daß bei Schopenhauer von 1814 bis zur Darstellung des „philosophischen Systems" im Hauptwerk nichts anderes als „eine Anzahl kecker Combinationen", nicht aber eine eigentliche Entwicklung und auch keine originale Ausarbeitung gegenüber der „ersten Conception" zu finden sei:

Ein Sinn und u n z ä h l i g e H i e r o g l y p h e n

233

Nicht aus sich selbst, um es kurz zu sagen, sondern aus den Vorrathskammern anderer Philosophien entnahm er das weitere Bauzeug, die gedankenmäßige Füllung, die begrifflichen Bindeglieder der vereinzelten im eigenen Geist entsprungenen Apergus. So hatte er sich ja bereits für den ersten Theil seiner Philosophie aus der Kant'schen Kritik der Vernunft versorgt, und sofort müssen die Engländer weiteres Material dafür liefern. [...] Die entlehnten Vorstellungen werden sämmtlich den tiefen, aber in sich selbst keiner begrifflichen Entfaltung fähigen Grundanschauungen dienstbar gemacht.27

In der neuen Konstellation von Philosoph, Heiligem und Künstler, die bei Schopenhauer in der Überwindung des Werdens als Schaubühne des Willens zum Leben kulminiert, ist der Gegensatz zum bejahenden Genie von Wagner sichtbar. Desgleichen wird die rückblickende Aussage des oben zitierten Fragments 27[80] von 1878 über die Antithese des Schopenhauerschen Menschen zu den „Griechen" in Schopenhauer als Erzieher bestätigt. Die Betrachtungen über die metaphysische Haltung als Selbstbefreiung des Menschlichen vom Tierischen — die freilich auch auf das 4. Buch der Welt zurückverweisen — scheinen das griechische Vorbild des Wettkampfes zu widerlegen. In Paragraph 62 der Welt war die Eris das vollständige Bild der Selbstentzweiung des Willens, das in den Kämpfen zwischen den Tieren grausam zutage tritt. Sieht Nietzsche nun in Homer's Wettkampf in der Eris noch die unentbehrliche Vorbedingung der griechischen Kultur (KSA 1, S. 786 ff.), so ist in Schopenhauer als Erzieher von einer möglichen Verklärung der „schlimmen" in die „gute" Eris keine Rede mehr. Auch das immanente Prinzip der ewigen Gerechtigkeit wird in der dritten Unzeitgemäßen als innere Rechtfertigung des Werdens relativiert, und die Bilder des Spieles und des spielenden Kindes sind keine Metaphern der ästhetischen Erlösung mehr; sie sind bloße Gestalten des Zeitlichen geworden, das der „Heroismus der Wahrhaftigkeit" bezwingen muß, um die Kultur zu stiften 28 . Das letzte Schopenhauer-Bild, das wir in einem veröffentlichten Werk Nietzsches vor der Wende von Menschliches, Allt(umenschliches finden, zeugt einerseits von einer verschärften Auseinandersetzung mit Wagner; andererseits ist die Bezugnahme auf Schopenhauers Jugendschriften für Nietzsche noch ein metaphysischer Umweg, um jenen Zusammenhang zwischen Trugbild und Bejahung des Willens aufzulösen, von dem erst die Gestalt des Freigeistes loskommen wird.

r 28

R. H a y m , a. a. O., S. 318. Vgl. SF. 4; K S A 1, S. 374: „Dieses e w i g e W e r d e n ist ein l ü g n e r i s c h e s P u p p e n s p i e l , über w e l c h e m der M e n s c h sich selbst vergisst, [ . . . ] das endlose Spiel der A l b e r n h e i t , w e l c h e s das grosse K i n d Zeit vor u n s und mit uns spielt. J e n e r H e r o i s m u s der W a h r h a f t i g k e i t besteht darin, eines Tages a u f z u h ö r e n , sein Spielzeug zu sein. Im W e r d e n ist alles hohl, b e t r ü g e r i s c h , flach und unserer V e r a c h t u n g w ü r d i g [•-•]."

„Er ist fast

immer einer der

Nietzsche von

und

Unserigen".

Grillparzer

JÖRG SALAQUARDA,

Wien

Als ich vor einigen Jahren über Nietzsches Zweite Unzeitgemäße arbeitete, habe ich mir vorgenommen, mich bei späterer Gelegenheit mit Nietzsches Grillparzer-Rezeption zu befassen 1 . Die Nietzsche-Forschung hatte Nietzsches Lektüre des österreichischen Dramatikers bis dahin nicht einmal vollständig dokumentiert 2 , geschweige denn sachlich gewürdigt 3 . Mir war aber entgangen, daß sich ein Autor schon Ende der sechziger Jahre im Ausgang von Grillparzer des Themas angenommen 4 und dabei einige Nachweise beigebracht hatte, die in der K S A noch fehlen. Allerdings hatte er nur Nietzsches veröffentlichte Schriften, d. h. im wesentlichen die Zweite Unzeitgemäße ausgewertet. Die Exzerpte und Paraphrasen im Nachlaß, aus denen Nietzsche bei der Abfassung dieser Schrift geschöpft hat, sind seiner Aufmerksamkeit entgangen 3 . Die Tagung in Urbino bot mir eine willkommene Gelegenheit, auf das Thema zurückzukommen. Mein folgender Beitrag bringt einige weitere Nachweise und Klärungen, macht zugleich aber deutlich, daß sich weitergehende Untersuchungen lohnen dürften. Er ist in fünf Abschnitte gegliedert: Über1 2

3

4 D

Vgl. Salaquarda 1984, S. 24 und 44. Band 14 der KSA enthält eine Reihe von Nachweisen — durch sie bin ich erst auf das Thema aufmerksam geworden. Aber Montinari hat weder schon alle Grillparzer-Zitate identifizieren, noch bei den ihm bekannten immer ihren Fundort nachweisen können. Daran hat sich seither nichts geändert. Es gibt in der Nietzsche Forschung dazu weder einen Aufsatz noch gar eine Monographie. In bisher 20 Bänden der Nietzsche-Studien taucht der Name Grillparzer außer in meiner Studie nur noch in Beiträgen von Schlechta und Baeumer auf. Aber auch die frühere Literatur hat von dem Thema keine Kenntnis genommen. Krummeis Bibliographie des deutschen Schrifttums über Nietzsche weist bis 1900 nur die Rezension von Fuchs als einschlägig aus (Bd. 1, S. 23 f.), und aus der Periode von 1900 bis zum F.nde des 1. Weltkriegs listet sie lediglich eine Reihe von Anthologien auf, in denen neben Gedichten von Nietzsche auch solche von Grillparzer enthalten sind (Bd. 2, S. 5, 127, 191, 648). — Janz weist in seiner Biographie (I, S. 508 f.) auf Nietzsches Beschäftigung mit Grillparzers Studien zur Ästhetik hin, wobei er insbesondere den Gedanken hervorhebt, daß es auch im Außermoralischen bzw. im Nicht-Guten Schönheit geben kann. — Politycki erwähnt Grillparzer mehrfach, geht aber kaum auf Nietzsches Rezeption ein. Ersichtlich schätzt er Grillparzers Werk nicht sehr hoch ein (vgl. bes. S. 357, Anm. 596). Seitter 1968 und 1970. Seitters Arbeiten kommt eine Vorreiter-Funktion zu. Aber sie sind in historisch-philologischer Hinsicht ergänzungsbedürftig, und ihr Nietzsche-Verständnis ist anfechtbar. Zum zweiten Aspekt vgl. Seidler, S. 46.

,Er ist fast immer einer der

Unserigen"

235

sieht über das T h e m a u n d seine bisherige B e h a n d l u n g (1); T e x t v e r g l e i c h (2); K o m m e n t i e r u n g der Texte (3); G e m e i n s a m k e i t e n u n d U n t e r s c h i e d e (4); V o r schläge zu weiteren U n t e r s u c h u n g e n (5).

1. Nietzsches erste E r w ä h n u n g Grillparzers R o h d e , w o es g e g e n Schluß heißt:

findet

sich in einem Brief an

[...] Lies doch des Grillparzeri vorletzten Band (der Gesammtausgabe), die Aesthetika betreffend: er ist fast immer einer der Unserigen\b D i e (erste) G e s a m t a u s g a b e der Werke F r a n z Grillparzers war eben erst erschienen. D e r österreichische D r a m a t i k e r hatte sich seit l a n g e m — spätestens seit der gescheiterten R e v o l u t i o n v o n 1848, zu der er ein z w i e s p ä l t i g e s Verhältnis hatte — in eine Art innere E m i g r a t i o n z u r ü c k g e z o g e n 7 . Seine späteren D r a m e n hatte er weder zur A u f f ü h r u n g n o c h zur V e r ö f f e n t l i c h u n g f r e i g e g e b e n . N a c h seinem T o d im J a h r e 1871 brachte der Schriftsteller u n d langjährige B u r g t h e a t e r d i r e k t o r Heinrich L a u b e die z u r ü c k g e h a l t e n e n S t ü c k e

— Libussa, Ein Bruderzwist

in Habsburg und Die Jüdin von Toledo — in rascher

F o l g e auf die Bühne. U n d er war es auch, der 1872 z u s a m m e n mit J o s e f Weilen bei Cotta eine erste G e s a m t a u s g a b e der Werke Grillparzers herausbrachte. D i e s e r selbst hatte sich, trotz vieler Appelle, etwa v o n Seiten Stifters, g e w e i g e r t , einer solchen A u s g a b e z u z u s t i m m e n . D i e A u s g a b e 8 u m f a ß t e 10 B ä n d e . B a n d 1 enthält G e d i c h t e , die B ä n d e II — V I I die S t ü c k e , B a n d V I I I E r z ä h l u n g e n und Studien (darunter auch „ S t u d i e n zur P h i l o s o p h i e u n d ' An Rohde vom 7. 12. 1872 ( K S B 4, S. 98). - Rohde hat darauf nicht reagiert. In dem ausführlichen Brief vom 24. 3. 74 ( K G B 11/4, S. 423), der seine von Nietzsche erbetene Kritik an H L enthält, spielt allerdings auch er auf Grillparzer an. Sich für die Kritik entschuldigend bemerkt er: „ D u wirst mich [...] nicht dahin verstehen, als ob ich mit Schulmeistermiene dich rectificiren wollte, und, nach jenem Grillparzerschen Verschen, mich der Sache über die ich schreibe naseweis »ferlegen fühlte." — Laut Komm. z.St. in Ges. Br. II bezieht sich dieser Hinweis auf das Gedicht Ästhetik der liitelkeit (Laube/Weilen, Bd.I, S. 162), dessen erste Strophe lautet: Warum euch das Mittel-Hochdeutsch so werth? — Kommt gleich der Grund mir entgegen: Indem ihr das Kinder-Gestammel ehrt, Fühlt ihr zugleich euch überlegen. 7 Vgl. zum folgenden Laube, bes. S. V-IX; Politzer und Scheit, passim. 8 Line Beschreibung der Ausgabe bietet Goedeke, S. 359 f. — Die Ausgabe erschien 1874 unverändert in zweiter und 1881 in dritter Auflage. Danach wurden einige Nachtragsbände angefügt, die in der vierten Auflage von 1887 in die nunmehr löbändige Ausgabe integriert wurden. — Historisch-kritischen Anforderungen genügt die Ausgabe nicht. Schon Schönbach bemerkte lapidar: „Die Ausgabe ist nicht g u t " (S. 676). Inzwischen ist sie durch andere Ausgaben überholt, bes. durch die (freilich selbst aus vielen Gründen problematische: vgl. Seidler, S. 39 f.) große historisch-kritische Gesamtausgabe von Sauer und Backmann, und durch die von Frank und Pörnbacher. f

236

J ö r g Salaquarda

Religion"), Band IX Politische und Ästhetische Studien, und Band X Autobiographische Schriften und Aufzeichnungen. Nietzsches Empfehlung gegenüber Rohde bezieht sich auf den eben erschienenen Band IX dieser Ausgabe. Vor 1872 scheint der Name Grillparzer in Nietzsches Schriften, Aufzeichnungen und Briefen nicht auf. Es findet sich auch kein Hinweis, daß Nietzsche das eine oder andere von Grillparzers bis dahin zugänglichen Stücken gekannt hätte. Es hat den Anschein, als ob Nietzsche erst durch die Lektüre der „Aesthetika" mit Grillparzer bekannt geworden ist 9 . Nietzsche läßt leider auch nicht erkennen, wer oder was ihn dazu veranlaßt hat, den Band IX der Grillparzer-Ausgabe zu entleihen. Die Anregung könnte von Burckhardt gekommen sein. Es gibt dafür zwar keinen Beleg, aber es ist bekannt, daß Burckhardt Grillparzer geschätzt hat 10 . Auch Overbeck könnte Nietzsche auf Grillparzer aufmerksam gemacht haben 11 .

' In den Sommerferien 1865 hatte Nietzsche Laubes Reisenovellen gelesen (vgl. an Mushacke vom 30. 8. 1865). Später hat er Laube, der am 1.2. 1869 als Pächter und Direktor die Leitung des Leipziger Stadttheaters übernahm (vgl. Houben, bes. S. 782 f.), auch persönlich kennengelernt. Von Laubes Stücken scheint er wenig erbaut gewesen zu sein („ein Machwerk, genannt Graf Essex": an Rohde vom 9. 11. 68. — Vgl. auch an Mutter und Schwester von Ende Jan. 1869 über Laubes Eröffnungspremiere, nämlich Schillers Demetrius in Laubes Bearbeitung). Aber er berichtet von Besuchen im „Laube'schen Salon" (an Mutter und Schwester von 2. Hälfte Februar 1869), und über seinen Eindruck von Laube („Hier ist endlich auch I.aube eingetroffen, mit einer Bullenbeißerphysiognomie, aber wie es scheint, mit viel praktischem Talent und gehöriger Energie": an Rohde, 9. 12. 1868). Der Kontakt wurde Nietzsche erleichtert, weil er seit Herbst 1868 Untermieter bei Familie Biedermann war, mit der Laube freundschaftlich verbunden war (vgl. an Mutter und Schwester vom 30. 10. 1868). Ein näherer Kontakt kam nicht zustande, schon deswegen nicht, weil Nietzsche kurz nach dem Eintreffen Laubes in Leipzig die Stadt verließ, um seine Professur in Basel anzutreten. Grillparzer lebte zu dieser Zeit noch, an eine Gesamtausgabe seiner Werke war noch nicht zu denken. Ob Laube in seinem Leipziger Salon über Grillparzer gesprochen hat, ist mir nicht bekannt. Nietzsche läßt nicht erkennen, ob er sich überhaupt einmal, unter vier Augen oder in einer Gruppe, mit Laube unterhalten hat. In der Zeit von Nietzsches vertrautem Umgangs mit R . W a g n e r in Tribschen ab Mai 1869 mag die Sprache auf Laube gekommen sein, denn Wagner kannte Laube von früh an, seit dieser 1832/33 eine Zeit lang im Haus seiner Mutter in Leipzig gewohnt hatte. Die beiden schätzten einander, allerdings kühlte auch diese Beziehung später ab (vgl. R.Wagner, Register s.v. Laube). Daß R.Wagner mit Nietzsche über Laube gesprochen und ihn in diesem Zusammenhang auch auf die GrillparzerAusgabe hingewiesen hat, ist möglich, aber es gibt keine Zeugnisse darüber. 10 v.Martin schließt seinen Vergleich Burckhardts und Nietzsches mit dem Hinweis, daß nicht dieser, sondern jener ein wahrhaft „unzeitgemäßer" Denker gewesen sei (173). Als Begründung verweist er auf ein Zitat aus Burckhardts Brief an Preen von Silvester 1872: Bei der Lektüre der auch von Nietzsche gelesenen Reflexionen in Band IX der Ausgabe von Laube und Weilen habe Burckhardt an Grillparzers „Weltflucht" erkannt, „wie nützlich und fruchtbar eine solche Zurückgezogenheit für die Nachwelt werden kann" (S. 289). 11 Im Nachlaß V'ranχ Overbeck der UB Basel sind unter den Rubriken „Christenthum und Bildung (Allgemeines)" (KLA 219) zwei Grillparzer-Exzerpte, und unter der Rubrik „Monotheismus und Heidenthum" (KLA 231) ein weiteres zu finden. Sie stammen aus den „Studien zu Philosophie und Religion" (Bd. VIII, S. 345 — 372 der Ausgabe von Laube und

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Unserigen"

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In Nietzsches Briefen begegnet der Name Grillparzer dann nur noch ein weiteres Mal, wieder in Verbindung mit den „Aesthetika" 1 2 . Der Adressat dieses Briefs, C. Fuchs, hatte sich — möglicherweise auf Empfehlung Nietzsches hin — ebenfalls mit den Reflexionen Grillparzers beschäftigt und eine ausführliche Rezension des Bandes verfaßt 13 . Für Nietzsches hier dokumentierte Kenntnis der Grillparzer-Texte kann sie keine Rolle gespielt haben, weil sie erst zwischen Ende Februar und Ende März 1874 erschienen ist, also nach Fertigstellung von HL. Inhaltlich hat Nietzsche zu der Rezension von Fuchs nicht Stellung genommen. Sein Brief erwähnt sie nur im Zusammenhang mit dem Rat, Fuchs möge diese und andere kleinere Studien gesammelt als Broschüre herausbringen. Fuchs hat diese Anregung positiv aufgenommen, sie meines Wissens aber nicht verwirklicht 1 4 . Die mir bekannten Entlehnungen aus dem Werk Grillparzers, und bzw. oder die Erwähnungen des Namens Grillparzer in Werk und Nachlaß Nietzsches, stammen, mit Ausnahme einer einzigen späteren Notiz 15 , alle aus der kurzen Periode von Sommer 1873 bis Anfang 1874, d. h., sie sind in den ersten beiden Unzeitgemäßen Betrachtungen und in den sie vorbereitenden Exzerpten und Notizen zu finden. Soweit schon bisher bekannt war oder nun von mir ermittelt worden ist, hat Nietzsche in dieser Periode dreizehn Texte von Grillparzer schriftlich festgehalten. Als vierzehnter kommt die spätere Notiz von 1881 dazu. Die meisten, aber nicht alle, hat er zuerst in ein Notizheft eingetragen, um sie später bei der Abfassung von HL zu verwenden. Zwei Passagen, je eine in DS und HL, hat er nur in einer veröffentlichten Schrift zitiert, ohne daß dafür eine Vorlage im Nachlaß zu finden ist. Die folgende Liste gibt eine detaillierte Übersicht, d. h. einen Vergleich der Texte bei Nietzsche und Weilen). Nach Auskunft von B.v.Reibnitz, die mich auf diese Texte hingewiesen und sie mir in Kopien zugänglich gemacht hat, stammen die undatierten Exzerpte vermutlich aus späterer Zeit. Das schließt nicht aus, daß Overbeck Grillparzer schon früher gelesen und weiterempfohlen hat. Aber er könnte auch umgekehrt von Nietzsche auf den Dichter hingewiesen worden sein. 12 Vom 28. 4. 1874 (KSB 4, S. 220). " Im Musikalischen Wochenblatt, das Wagners und Nietzsches Verleger Fritzsch in Leipzig herausgab. — Fuchs betont zu Beginn, daß er nicht bloß Zitate wiedergeben, sondern Grillparzers Bemerkungen und Reflexionen von eigenen Überlegungen aus darstellen und kommentieren werde. Als leitende Perspektive dient ihm die durch das Schaffen R. Wagners eingeleitete Revolution in der Kunst. Es ist ihm klar, daß er damit von Grillparzers Intentionen abweicht. Die faktische Nähe der beiden Männer in einer Reihe von grundsätzlichen Punkten rechtfertige jedoch ein solches Vorgehen. 14 Am 3 0 . 4 . 1874 (KGB 11/4, S. 450) berichtet er Nietzsche, daß sein musikalischer Lehrer, v. Bülow, seine schriftstellerische Tätigkeit mißbillige, weil sie ihn vom Musiktreiben abhalte, ihm andrerseits aber Vorhaltungen gemacht habe, daß er die Grillparzer-Besprechung in einem musikalischen Wochenblatt veröffentlicht hat. 15 Nachlaß Herbst 1881: V 12 [184],

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Grillparzer und gegebenenfalls den Weg von der Notiz zu einem von Nietzsche veröffentlichten Werk, ferner die Fundstellen und die bisherigen Nachweise.

2.

Nietzsche

Grillparzer

1) III 24 [10] 16 I, S. 155 Grillparzer in knöchernen Versen Kunstliebe ohne Kunstsinn Bringt bei Fürsten wenig Gewinn, Sie öffnet Kunstschwätzern ihr Ohr, Und die Kunst bleibt einsam wie zuvor. 2) III 29 [60], l 1 7 Grillparzer „jeder Mensch hat zugleich seine Separat-Nothwendigkeit, so dass Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vorund rückwärtsstreben, und dadurch für einander den Charakter des Zufalls annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkungen der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfas-

17

IX, S. 40 Aber jeder Mensch hat zugleich seine Separat = N o t wendigkeit, so daß Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, v o r = und rückwärts streben und dadurch für einander den Charakter des Zufalls annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkung der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende

Nietzsche hat das G e d i c h t in allen Einzelheiten korrekt w i e d e r g e g e b e n . Als E p i g r a m m aus d e m J a h r e 1856 w u r d e der Text bereits von M o n t i n a r i ( K S A 14, S. 546) identifiziert, der allerdings keinen F u n d o r t a n g e g e b e n hat. Bereits von M o n t i n a r i n a c h g e w i e s e n ( K S A 14, S. 550). — Nietzsche hat dieses Exzerpt, z u s a m m e n mit einem weiteren (III 29[64] = Text 4) in H L 6 ( K S A 1, S. 290 f.) v e r w e n d e t . Dort lautet es: „ J e d e r M e n s c h hat z u g l e i c h seine S e p a r a t n o t h w e n d i g k e i t , so dass M i l l i o n e n R i c h t u n g e n parallel in k r u m m e n und g e r a d e n Linien n e b e n e i n a n d e r laufen, sich d u r c h k r e u zen, fördern, h e m m e n , v o r - u n d r ü c k w ä r t s streben und d a d u r c h f ü r einander den C h a r a k t e r des Zufalls a n n e h m e n u n d es so, a b g e r e c h n e t die E i n w i r k u n g e n der N a t u r e r e i g n i s s e , unm ö g l i c h machen, eine d u r c h g r e i f e n d e , Alle umfassende N o t h w e n d i g k e i t des Geschehenden n a c h z u w e i s e n " . , — A u c h Seitter hat diesen Text als Grillparzer-Zitat erkannt: 1968, S. 4 9 f .

„ E r ist fast immer einer der Unserigen"

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sende Nothwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen".

Nothwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen.

3) III 29 [60], 2 1 8 Grillparzer: „es ist etwas Eigenes um das Aufblühen und Verwelken der Völker. In jedem ist eine hervorstechende Kraft, die heilsam wirkt, solange sie Hindernisse zu besiegen hat, nach diesem Siege aber sich gegen sich selbst kehrt. < " >

I X , S. 45

4) III 29 [62] 19 Die Fakta selbst werden als „unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes" betrachtet, nur sie allein hätten deshalb die nöthige Würde und Tiefe, deshalb solle die tragische Kunst sich der Geschichte unterordnen. Lächerlich! Der Geschichte! „Was ist denn Geschichte anders als die Art, wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das, weiss Gott ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von

IX, S. 129 Die neuesten Aesthetiker wollen der Stoffe suchenden tragischen Kunst bloß allein die Geschichte anweisen, deren Facta, als unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes, allein die nöthige Tiefe und Würde hätten. Lächerlich! Die Begebenheiten mögen wohl allerdings das Werk des Weltgeistes sein, aber die Geschichtet Was ist denn die Geschichte anders, als die Art, wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das, weiß Gott, ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständ-

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Es ist etwas Eigenes um das Aufblühen und Verwelken der Völker. In jedem ist eine hervorstechende Kraft, die heilsam wirkt, so lange sie Hindernisse zu besiegen hat, nach diesem Siege aber sich gegen sich selbst kehrt.

Von Montinari bereits nachgewiesen (KSA 14, S. 550). — Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche dieses Zitat nicht verwendet. " Bereits von Montinari nachgewiesen (KSA 14, S. 550). — Nietzsche hat einen Teil dieses Texts, zusammen mit einem anderen (III 29[60],1; vgl. Text 2) in H L ( K S A 1, S. 290) verwendet. D o r t heißt es: „Ja, Grillparzer wagt zu erklären ,was ist denn Geschichte anders als die Art wie der Geist des Menschen die ihm undurchdringlichen Begebenheiten a u f n i m m t ; das, weiss G o t t ob Z u s a m m e n g e h ö r i g e verbindet; das Unverständliche d u r c h etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmäßigkeit nach Aussen einem G a n z e n unterschiebt, das wohl nur eine nach Innen kennt; und wieder Zufall a n n i m m t , w o tausend kleine Ursachen w i r k t e n . ] . . . ] ' " — Zu dieser M o n t a g e vgl. auch Seitter 1968, S. 4 9 f .

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Zweckmässigkeit nach Aussen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach innen kennt; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten. Was anders ist die Geschichte! Was anders als das Werk der Menschen! Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so lasst ihn in Gottes Namen sich auch seine Begebenheiten selbst erfinden, wenn er anders dazu Lust hat."

liehe durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmäßigkeit nach Außen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach Innen kennt; Absicht findet, wo keine war; Plan, wo an kein Voraussehen zu denken; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten. Was anders ist die Geschichte? Was anders, als das Werk des Menschen? Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so laßt ihn in Gottes Namen sich seine Begebenheiten erfinden, wenn er anders dazu Lust hat.

5) III 29 [64] 20 Die Geschichte als „der sich selbst realisirende Begriff, mit nachweisbarer N o t w e n d i g keit und zu immerwährendem Fortschritt. ["] Sie bekommt dadurch „einen theoretischen Heiligenschein", sie ist „das Wandeln Gottes auf der Erde, welcher Gott aber sei-

IX, S. 157 Da ist denn die Geschichte der sich selbst realisirende Begriff, und noch dazu mit nachweisbarer Nothwendigkeit und zu immerwährendem Fortschritt. Hier hört auf einmal der praktische Nutzen der Geschichte auf und sie bekommt dafür einen theoretischen Heiligen-

20

Nietzsche hat darauf in HL· 8 (KSA 1, S. 308) angespielt und das Zitat in die folgenden Ausführungen eingebaut: „Eine solche Betrachtungsart [nämlich der Glaube, „ein Spätling der Zeiten zu sein"] hat die Deutschen daran gewöhnt, vom ,Weltprozess' zu reden und die eigne Zeit als das nothwendige Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine solche Betrachtungsart hat die Geschichte an die Stelle der anderen geistigen Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt, insofern sie ,der sich selbst realisirende Begriff, insofern sie ,die Dialektik der Völkergeister' und das ,Weltgericht' ist. [Absat^J Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird." — Auf diese Passage hat schon Seitter 1968, S. 55 f. Anm. und 1970, S. 100 hingewiesen.

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Unserigen"

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nerseits erst durch die Geschichte gemacht wird". 2 1

schein. Sie ist das Wandeln Gottes auf der Erde, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird.

6) III 29 [65], l 2 2 Grillparzer eifert „gegen den in neuerer Zeit prätendirten Nutzen der Litterargeschichte selbst für die praktische weitere Fortbildung der Litteraturzweige und zählt sie vielmehr jenen mitunter gefährlichen Bestrebungen zu, die, indess sie einerseits die Masse der oberflächlichen Kenntnisse, will sagen: Notizen vermehren auf der anderen Seite den Gesichtskreis in's Unermessliche erweitern, so dass endlich jene innere Concentration immer schwieriger wird, ohne die eine That oder ein Werk nicht möglich wird. Im Mangel dieser Concentration liegt aber der Fluch unserer Zeit."

IX, S. 159 Ich eifere nur gegen den in neuerer Zeit prätendirten Nutzen der Literargeschichte selbst für die praktische weitere Fortbildung der Literaturzweige, und zähle sie vielmehr jenen mitunter gefährlichen Bestrebungen zu, die, indeß sie einerseits die Masse der oberflächlichen Kenntnisse, will sagen: Notizen vermehren, auf der andern Seite den Gesichtskreis ins Unermeßliche erweitern, so daß endlich jene innere Concentration immer schwieriger wird, ohne die eine That oder ein Werk nicht möglich ist. Im Mangel dieser Concentration liegt aber der Fluch unserer Zeit.

21

22

Das Grillparzerzitat macht nur einen Teil des Fragments aus. Davor steht die Notiz: „Ungar und der liegelsche Professor", deren Herkunft und Bedeutung unklar ist. Vielleicht bezieht sie sich auf eine Reflexion Grillparzers zur Zeitgeschichte aus dem Jahr 1849 (IX, S. 48 —51), in der er gegen ungarische Bestrebungen polemisiert, den im ungarischen Herrschaftsbereich angesiedelten Slawen die ungarische Sprache als Amtssprache aufzuzwingen. Im Zuge seiner Argumentation schreibt Grillparzer u. a.: „Wenn Kant seine Kritik der reinen Vernunft in ungarischer Sprache geschrieben, so hätte er vielleicht [nur] drei Exemplare abgesetzt." Von Montinari bereits nachgewiesen (KSA 14, S. 550). — Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche das Zitat nicht verwendet.

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7) III 29 [65], 2 2 3 Wir empfinden mit Abstraction, sagt Grillparzer. Wir wissen kaum mehr, wie sich die E m p f i n d u n g bei unsern Zeitgenossen äussert; wir lassen sie Sprünge machen, wie man sie heut zu Tage nicht mehr macht. Shakespeare hat uns Neueren alle verdorben.

IX, S. 187 Wir wissen kaum mehr, wie sich die E m p f i n d u n g bei unsern Zeitgenossen äußert. Wir lassen sie (die Empfindung) Sprünge machen, wie sie sie heut zu Tage nicht mehr macht. Wir empfinden mit Abstraktion. [...] Shakespeare hat uns Neueren alle verdorben.

8) III 29 [65], 3 2 4 Wer wird an die Wahrheit der E m p f i n d u n g eines Heine glauben!

IX, S. 197 Wie es aber mit der Wahrheit der E m p f i n d u n g , der eigentlichen Quelle der Poesie, bei ihm [ = Heine] steht, zeigt sich schon daraus, daß er die scheinbar wärmsten Ergüsse meistens [...] selbst wieder vernichtet und lächerlich macht.

9) III 29 [68],1 25 „In die Z u k u n f t schauen ist schwer, sagt Grillparzer, in die Vergangenheit rein zurückblicken, noch schwerer. Ich sage rein, d. h. ohne von dem, was in der Zwischenzeit sich begeben oder herausgestellt hat, etwas in den Rückblick mit einzumischen."

IX, S. 270 In die Z u k u n f t schauen, ist schwer; in die Vergangenheit rein zurückblicken, noch schwerer. Ich sage: rein, d. h. ohne von dem, was in der Zwischenzeit sich begeben oder herausgestellt hat, etwas in den Rückblick mit einzumischen.

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24 25

Von Montinari (KSA 14, S. 68 u. 550) bereits nachgewiesen. — Nietzsche hat dieses Zitat in H L 4 (KSA 1, S. 277) verwendet. D o r t heißt es: „[•••] wie dies z u m Beispiel der bei Seite stehende und still betrachtende Grillparzer, von seiner dramatisch-theatralischen E r f a h r u n g aus anzunehmen scheint. ,Wir empfinden mit Abstraction,' sagt er, ,wir wissen kaum mehr, wie sich die E m p f i n d u n g bei unseren Zeitgenossen äussert; wir lassen sie S p r ü n g e machen, wie sie sie heutzutage nicht m e h r macht. Shakespeare hat uns Neuere alle v e r d o r b e n . ' " — Auf diese Stelle ist auch Seitter 1968, S. 39 und 1970, S. 96 f. eingegangen. Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche diese Anspielung nicht benutzt. Von Montinari (KSA 14, S. 550) bereits nachgewiesen. — Nietzsche hat dieses Zitat im veröffentlichten Werk nicht verwendet.

( Er

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10) III 29 [68],2 26 Grillpar^er. „Der Grundfehler des deutschen Denkens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht."

VIII, S. 353

11) III 29 [91] 27 Viele Schwachen machen noch nichts Furchtbares: wohl aber viele D u m m e n , die geben den Esel in concreto, ein furchtbares Thier. D u m m ist die Zeit nicht. Starker, freue dich der Kraft.

IX, S. 267 In gewissen Ländern scheint man der Meinung: drei Esel machten zusammen einen gescheidten Menschen aus. Das ist aber grundfalsch. Mehrere E,sel in concreto geben den Esel in abstracto, und das ist ein furchtbares Thier.

12) DS 4 (KSA 1, S. 182) 28 [...] wenn dieser unbezweifelte Kunstrichter [ = Gervinus] seinen angelernten Enthusiasmus und seinen Miethpferde-Galopp, von dem mit geziemender Deutlichkeit der ehrliche Grillparzer geredet hat, [...] weiter lehrt [...]

IX, S. 175

26

27

28

Der Grundfehler des deutschen Denkens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht.

Dieser angelernte Enthusiasmus, dieser Miethpferdgalopp geht nun durch das ganze Streben des Herrn Gervinus.

Nietzsche verwendet dieses Zitat in H L 4 (KSA 1, S. 274). D o r t heißt es: „[...] entsteht eine G e w ö h n u n g , die wirklichen Dinge nicht m e h r ernst zu n e h m e n , daraus entsteht die .schwache Persönlichkeit', zufolge deren das Wirkliche, das Bestehende n u r einen geringen E i n d r u c k macht [...]." — Schon Seitter hat 1968, S. 38 und 1970, S. 95 f. b e m e r k t , daß es sich u m ein Grillparzer-Xitat handeln m u ß . Nachweis bei Salaquarda 1984, S. 24, Anm. 54. — Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche die Anspielung nicht verwendet. Bereits von Montinari (KSA 14, S. 61) und von Seitter 1970, S. 56A, bzw. 1970, S. 99 nachgewiesen.

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13) H L 6 2 9 [...] aber dass er ein Mensch ist und doch [...] aus der seltenen Tugend der Grossmuth zur allerseltensten der Gerechtigkeit emporzusteigen versucht [...]

IX, S. 274 Von allen Tugenden die schwer ste und seltenste ist die Gerechtigkeit. Man findet zehn Großmüthige gegen einen Gerechten.

14) V 12 [184] 10 Grillparzer: „Schiller geht nach oben, Goethe kommt von oben"

IX, S. 229 Schiller geht nach oben, Goethe kommt von oben.

3. Wie man sieht, hat Nietzsche seine Grillparzer-Zitate vorwiegend, aber nicht ausschließlich, aus dem von ihm gegenüber Rohde genannten Bd. IX der ersten Werkausgabe bezogen. Denn er hat zumindest zwei nicht in diesem Band enthaltene Passagen korrekt im Wortlaut zitiert: Das Epigramm von 1856 (Text 1) und das wichtige Zitat über die „schwache Persönlichkeit" (Text 10) 31 . Woher er sie kannte, läßt sich nur vermuten. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß er auch die Bände 1 und VIII der Sämmtlichen Werke in der Hand gehabt hat, da seine Exzerpte mit den dort gebotenen Texten genau übereinstimmen. Der in Abschnitt 2 vorgelegte Textvergleich ist vermutlich nicht vollständig. Aber er läßt deutlich die Schwerpunkte von Nietzsches Interesse an Grillparzer erkennen. Ich gebe im folgenden kurze Kommentare zu den ermittelten Texten und hebe dabei die wichtigsten verbindenden Themen und Motive hervor. ad 1) Dies ist der einzige poetische Text Grillparzers, den Nietzsche sich notiert hat. Als Werk der Poesie kommt der Vierzeiler freilich nicht in Betracht. Nietzsche hat die Verse zu Recht als „ k n ö c h e r n " bezeichnet. Sein 29

10 31

Rinen generellen Hinweis auf diese Parallele, ohne genauen Stellennachweis, gibt Salaquarda 1984, S. 24, A n m . 54. Bereits v o n Montinari (KSA 14, S. 650) nachgewiesen. Dazu k o m m t möglicherweise noch das Gedicht, auf das R o h d e in seinem Brief vom 24. 3. 1874 anspielt (s.o. Anm. 6) — sofern Nietzsche es gekannt hat. Rohdes Anspielung ist freilich n u r dann sinnvoll, wenn er annehmen konnte, daß Nietzsche es kennt.

,F.r ist fast

immer einer der

Unserigen"

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Interesse gilt auch in diesem Fall nur dem gedanklichen Gehalt, nämlich der von ihm geteilten Meinung, daß nur der Kunst versteht, der selbst bis zu einem gewissen Grad Künstler ist. Grillparzer hat dies immer wieder betont, etwa in seiner Kritik an Gervinus (vgl. Text 12). ad 2) Das Zitat ist einer Reflexion Grillparzers „Ueber den Nutzen des Studiums der Geschichte" entnommen. Der Dichter hat dabei den möglichen Nutzen für die Poesie im Blick, aber dieser Abschnitt mußte Nietzsche im Zuge der Vorarbeiten zu seiner Zweiten Unzeitgemäßen besonders interessieren. Bei der Verwendung in HL 6 hat Nietzsche das Zitat mit einem anderen (Text 5) verbunden und es als Beleg für seine These verwendet, daß (empirische) historische Wahrheit 3 2 und überhistorische Objektivität zwei verschiedene Dinge sind. In diesem Punkte stimmten Grillparzer und er völlig überein. Das Handeln des Menschen ist durchgängig bestimmt, aber diese Notwendigkeit ist so komplex, daß sie sich strenger Erkenntnis entzieht. Wer behauptet, sie wahrnehmen und passiv abbilden, oder sie in einer umfassenden Theorie darstellen zu können, lügt oder irrt sich. Grillparzer vergleicht die Probleme mit denen der Wettervorhersage (IX, 40). Beide, er wie Nietzsche, ziehen daraus die Folgerung, daß die künstlerische Erfassung, „die stille Arbeit des Dramatikers" (Nietzsche, HL 6) deswegen das „objektivere" Bild zeichne. ad 3) Das organizistische Bild vom Werden und Vergehen der Völker hat Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen nicht direkt zitiert, aber es war ihm von seinen eigenen Überlegungen zur E n t w i c k l u n g der griechischen Kultur her vertraut. Noch stärker dürfte ihn in dieser Zeit das Motiv der je individuellen ,,hervorstechende[n] Kraft" angesprochen haben. Er selbst hat es in HL 1 als „plastische Kraft" zur Geltung gebracht, die s.M.n. ja nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch Völker und Kulturen kennzeichnet. Diese „plastische Kraft" ist wohl die Keimzelle dessen, was Nietzsche später als „Wille zur Macht" bezeichnet hat. — Grillparzers von Nietzsche zitierte Behauptung hat ihre Spitze aber darin, daß die je spezifische Kraft eines Volkes sich vorzüglich in der Überwindung von Hemmnissen äußert, nach deren Beseitigung aber selbstzerstörerisch zu werden pflegt. Nietzsche hat das im Zuge seiner Vorarbeiten zu HL notiert. Es mag ihn an die Ausgangsthese von DS erinnert haben, derzufolge die militärische Tüchtigkeit der Deutschen, die den Sieg über Frankreich gebracht hat, selbstzerstörerisch wird, wenn sie als kulturelle Überlegenheit aufgefaßt wird. Darüber hinaus aber trifft sich Grillparzers Reflexion mit einer zentralen Einsicht Nietzsches, nämlich daß alle großen Dinge durch sich selbst zu Grunde gehen! 3 3 . 12 Die er hier, wie in HL 3, mit der „Gerechtigkeit" identifiziert. " Nietzsches erstes Beispiel für diese These war seine in GT 11 ff. entwickelte These, daß die attische Tragödie „durch Selbstmord" starb.

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ad 4) Für diese Aufzeichnung gilt, was schon zu Text 2 gesagt wurde. Nietzsche konnte in H L 6 deswegen Teile der beiden Texte ineinanderarbeiten. In beiden w i r d der Hegelianismus der Historiker, besonders der Literaturhistoriker kritisiert. Grillparzer hat dabei an Gervinus, J . Schmidt u. a. gedacht, Nietzsche neben diesen vor allem an E.v.Hartmann. ad 5) Grillparzer setzt sich g e n a u s o w e n i g wie Nietzsche mit Hegel selbst auseinander 3 4 . „Es ist hier nicht der Ort, und ich bin w o h l auch nicht im Stande, die Hegeische Philosophie philosophisch abzuschätzen [...] M i r ist nur u m ihren Einfluß auf die übrige Literatur zu t h u n " (IX, 166; v g l . 157). Dieser Einfluß äußert sich nach Grillparzers M e i n u n g vor allem in d e m ungerechtfertigten Gefühl der Überlegenheit: Weil man die Geschichte überschaut und die geschichtliche E n t w i c k l u n g bis jetzt, ja auch in die Z u k u n f t hinein, in ihrer N o t w e n d i g k e i t zu begreifen vermeint, d ü n k t man sich früheren Geschlechtern überlegen. Grillparzer hält das, zumindest auf dem Felde der Poesie, für völlig verkehrt. Nietzsche folgt in H L 8 g e n a u diesen Uberlegungen. Allerdings weitet er die Kritik aus. Die „historisch [ g e b i l d e t e n " Epigonen sind den Vorgängern, denen sie sich überlegen fühlen, tatsächlich in allem (mit A u s n a h m e ihres historischen Wissens) unterlegen. Nietzsche ruft daher d e m „ueberstolzen i i u r o p ä e r des neunzehnten Jahrhunderts", der „hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses" zu stehen meint, weil er „oben darauf den Schlussstein seiner Erkenntniss legt", im Geiste Grillparzers zu: „du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine e i g e n e " ( H L 9). ad 6) Dieses Zitat führt das T h e m a von Text 5 weiter: Vieles zu wissen fördert das Handeln nicht, sondern droht es zu lahmen. Nietzsche hat den Text in H L nicht zitiert, aber das in ihm Formulierte gehört zu den Grundmotiven seiner Schrift. Dem „Gesichtskreis" Grillparzers entspricht der „Horizont" bzw. die „umhüllende A t m o s p h ä r e " 3 3 in H L 1. Wenn Nietzsche im selben Abschnitt schreibt, daß eine solche unhistorische Atmosphäre „der Geburtsschooss [ . . . ] jeder rechten T h a t " sei, dann reflektiert das jene „Concentration", die er und Grillparzer bei den Zeitgenossen vermissen. ad 7) „ E m p f i n d u n g " ist der zentrale Begriff von Grillparzers Ästhetik 3 6 . Wahre Kunst wurzelt im Inneren, im Erlebnis des Künstlers. Reflexion, Gestaltung, A u s d r u c k etc. dürfen nicht fehlen, sind aber sekundär. Grillparzer faßte „ E m p f i n d u n g " als eine ganzhcitliche, existenzielle Einstellung auf, nicht etwa als ein bloßes Gefühl. „Die Richtigkeit der E m p f i n d u n g , die erste und wesentliche Eigenschaft des Dichters, [ . . . ] besteht in der Fähigkeit, sich durch

Vgl. S a l a q u a r d a 1984, S. 2 0 - 2 3 . ^ A u c h Seitter 1968, S. 37 hat auf diese Parallele h i n g e w i e s e n . K Vgl. dazu L a u b e , S. X X X I - X X X 1 I I . J o d l 1900, S. 4 5 f f . , bes. S. 5 4 - 6 0 . 34

„ F r ist fast

i m m e r einer der

Unserigen"

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starke Anschauung in die G e m ü t h s l a g e eines w a h r Fühlenden zu versetzen. Verstand und Phantasie haben dabei eben so viel zu thun, als das G e f ü h l " (IX, 107). Das Problem der Moderne, und insbesondere des 19.Jahrhunderts, sieht Grillparzer im Verlust der Unmittelbarkeit. Die E m p f i n d u n g seiner Zeitgenossen entzünde sich nicht an den g e g e n w ä r t i g e n E r f a h r u n g e n und Problemen, sondern an historisch vermittelten. D e m entspricht die von Nietzsche in HL a n g e p r a n g e r t e Historisierung der Bildung. Vielleicht verallgemeinere er zu schnell, schreibt Nietzsche in H L 4 im A n s c h l u ß an das Zitat, aber „wie verzweifelt klänge der Satz: w i r Deutschen e m p f i n d e n mit Abstraction; w i r sind Alle durch die Historie verdorben". Denn eine Kultur, die diesen Namen verdient, könne nur aus der „Aechtheit und Unmittelbarkeit der [ . . . ] E m p f i n d u n g " bzw. aus einer ,,unversehrte[n] Innerlichkeit" erwachsen. ad 8) Während in den übrigen dreizehn Fällen Nietzsches E n t l e h n u n g v o n Grillparzer zweifelsfrei feststeht, handelt es sich in diesem Fall nur u m eine V e r m u t u n g . Nietzsche hat jedenfalls nicht zitiert, sondern allenfalls aus dem Gedächtnis notiert. Die Ü b e r e i n s t i m m u n g des M o t i v s ist freilich deutlich. — Grillparzer kannte Heine persönlich und hat ihn geschätzt 3 7 . Hier sagt er allerdings, w a s er bei ihm vermißt, nämlich die echte und eigentümliche „ E m p f i n d u n g " , die er als Grundvoraussetzung für künstlerisches Schaffen angesehen hat. Nietzsche hat sowohl der generellen These z u g e s t i m m t 3 8 , w i e auch ihrer A n w e n d u n g auf Heine und hat in dieser Phase Heine d e s w e g e n sogar v.Hartmann an die Seite gestellt. — Entfernte A n k l ä n g e an Formulierungen Grillparzers läßt auch die folgende A u f z e i c h n u n g erkennen: „Die W i r k u n g e n [ . . . ] Heine's. [... Fjr] zerstört das Gefühl für einheitliche Farbe des Stils und liebt die Hans Wurst Jacke, mit dem buntesten Farbenwechsel. Seine Einfalle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose aber alle Stilarten, um sie nun durcheinander zu werfen" 3 9 . ad 9) Grillparzers A p h o r i s m u s über die Schwierigkeit, das V e r g a n g e n e ohne Einmischung der seitherigen F^ntwicklung zu betrachten, hat Nietzsche wohl im Blick auf seine eigenen Reflexionen über den „historischen Sinn" festgehalten. Er ist bei der Veröffentlichung allerdings nicht mehr darauf z u r ü c k g e k o m m e n . Die drei „lebensdienlichen" Weisen der Historie in H L 2 und 3 streben keine „reine" Betrachtung des Vergangenen an. Die überhistorischen Weisen, mit der Geschichte umzugehen, die philosophische, religiöse

18 w

Vgl. Scheit, S. 72 f. Vgl. Texte 6 und 7 und die K r l ä u t e r u n g e n dazu. III 27[29J, v g l . auch 29[67], — Z u r späteren R e v i s i o n v o n Nietzsches H e i n e - V e r s t ä n d n i s v g l . Salaquarda 1984, S. 44, A n m . 79.

248

J ö r g Salaquarda

und künstlerische (HL 1 und 10), können zwar zu jener von Nietzsche wie von Grillparzer geforderten „künstlerischen Objectivität" vordringen 4 0 , aber gerade nicht zur empirischen Wahrheit. Nietzsche hat bekanntlich selbst daran Zweifel, ob die „Historie [... als] Wissenschaft" (HL 4) überhaupt zu der empirischen Wahrheit des „souverainen Werdens" vordringen könne. Aber selbst wenn sie es könnte, bliebe eine solche „historische Gerechtigkeit [...] eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Fall bringt" (HL 7). ad 10) Der Vorwurf der „schwachen Persönlichkeit" ist bei Grillparzer wie bei Nietzsche zentral. Für beide ist diese Schwäche Resultat der Uberfrachtung mit Wissen, Reflexion, Historie. Sie zerstört die Unmittelbarkeit, damit die richtige Empfindung (vgl. oben zu Text 7). Nietzsche verwendet das Zitat in HL 4, um den wachsenden Gegensatz von (behaupteter) Innerlichkeit und äußerer Formgebung, besonders bei den Deutschen, zu illustrieren. Das ist ganz im Sinne von Grillparzer, nur daß dieser dabei wiederum vor allem an die Poesie gedacht hat. Auf den Spuren Goethes hatte Grillparzer dabei, wie nach ihm Nietzsche, vor allem die Romantiker vor Augen. Tieck ζ. B. „kann" s.M.n. „nichts machen" (IX, 194). Daß die Deutschen alle Jahrzehnte ihr poetisches „Glaubensbekenntniß" ändern, und dabei Leuten wie Schelling, Tieck, Menzel u. a. nachlaufen, kommentiert Grillparzer mit dem Ausruf „Unmännlich! Herabwürdigend!" (IX, 185). „Die Formlosigkeit, welche ein Hauptingrediens der sogenannten Romantik ist, war von jeher ein Zeichen eines schwachen, kränkelnden Geistes, der sich selbst und seinen Stoff nicht zu beherrschen vermag" (IX, 179). Erzeugung von „Schwäche" im Sinne von: Unfähigkeit, ein Werk hervorzubringen, ist nach Nietzsches Darstellung die Hauptgefahr der „historischen Bildung". Wenn er dort, wo er Grillparzer zitiert, nicht wie dieser ausdrücklich von den Deutschen spricht, so holt er das im nächsten Absatz nach: „Ich will nun geradezu von uns Deutschen in der Gegenwart reden, die wir mehr als jedes andere Volk an jener Schwäche der Persönlichkeit und an dem Widerspruch von Inhalt und Form zu leiden haben" (HL 4). In HL 5 ist die „schwache Persönlichkeit" das Hauptthema, das Nietzsche zum Teil in drastischen Bildern darlegt: „[...] sollte als Wächter des grossen geschichtlichen Welt-Harems ein Geschlecht von Eunuchen nöthig sein?" (HL 5). ad 11) Der Textvergleich läßt (im Unterschied zu Text 8) keinen Zweifel daran, daß Nietzsche zu dieser Notiz von Grillparzer angeregt worden ist. Aber Nietzsche zitiert in diesem Fall weder wörtlich, noch auch nur sinngemäß. Absichtlich oder unabsichtlich verfehlt er den von Grillparzer gemeinten Sinn, nämlich daß eine Meinung auch dann nicht klug sein kann, 40

Vgl. Seitter 1968, S. 48.

„Er ist fast immer einer der Unser igen"

249

wenn sie von mehreren d u m m e n Menschen geteilt w i r d . Nietzsche kehrt das Bild Grillparzers geradezu um: mehrere d u m m e Menschen (Esel) ergeben seiner Notiz zufolge gerade den „Esel in concreto". Was er damit gemeint hat, wird nicht klar. — Fuchs hat die Stelle auch zitiert und im Gegensatz zu Nietzsche richtig erfaßt, wie seine kommentierende B e m e r k u n g zeigt: „Das ist nämlich der ,studirte Esel', oder sagen wir: der g e b i l d e t e ' " (146). ad 12) Dieses und das folgende Zitat hat Nietzsche direkt in einer von ihm veröffentlichten Schrift verwendet; zumindest sind keine entsprechenden Aufzeichnungen im Nachlaß dazu überliefert. — Nietzsche war schon v o r seiner Grillparzer-Lektüre der M e i n u n g , daß „der platte und d u m m e G e r v i nus" (III 1 [37]) „nicht einmal in die Vorhallen" der Musikästhetik v o r g e drungen sei ( G T 21). Unter Grillparzers „Aesthetika" fand er den Abschnitt „Zur Geschichte der deutschen Dichtung von Gervinus" 4 1 . Darin konnte er lesen, daß G e r v i n u s z w a r über gesunden Menschenverstand v e r f ü g e , im übrigen aber von seinem Gegenstand, der Literatur, „nicht das Geringste [ . . . ] versteht" (IX, 173). Daß ihm das ironische Bild v o m „MiethpferdGalopp" zugesagt hat, ist nur zu verständlich. In einer anderen Notiz (III 27 [9]) verbittet er es sich, daß Lessing von „stumpfen Gesellen" gelobt w i r d , die denen gleichen, die ihn zu Lebzeiten g e p l a g t haben. Diesen G e d a n k e n hat er in D S 4 ausgeführt. Die Notiz schließt mit den Namen G e r v i n u s und Grillparzer — jener offensichtlich als Repräsentant der „stumpfen Gesellen", dieser als G e w ä h r s m a n n für die Kritik an ihnen 4 2 . — Eine interessante Parallele, die Nietzsche nicht entgangen sein wird, falls er sich dabei nicht ohnehin direkt an Grillparzer orientiert haben sollte, besteht in der A u f f a s s u n g der Bedeutung eines Buchs. Grillparzer schreibt, daß der Erfolg des Buchs von G e r v i n u s etwas über Deutschland aussage: „daß dieses Land in der G e d a n k e n v e r m i s c h u n g immer weiter fortschreitet und da träumt, w o es denken, und da denkt, w o es fühlen sollte" (IX, 176). Ähnlich hat Nietzsche in DS 1 den Erfolg des Alterswerks von Strauß als Indiz für den kulturellen Tiefstand der deutschen „Bildungsphilister" g e n o m m e n . ad 13) Das T h e m a „Gerechtigkeit" hat Nietzsche im Z u s a m m e n h a n g mit der Diskrepanz zwischen historischer Wahrheit und überhistorischer Objektivität interessiert (vgl. oben zu den Texten 2 und 9). 4 1

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42

41

IX, S. 172 — 178. — Die Ausgabe von Laube und Weilen enthält nur einen kleinen Ausschnitt aus der viel umfassenderen Kritik Grillparzers. Den vollständigen Text bietet ζ. B. die Ausgabe von Frank und Pörnbacher in Bd. III. — Vgl. dazu Viviani II, S. 17 f. In der Auffassung Hessings gibt es überhaupt beachtliche Übereinstimmungen zwischen Nietzsche und Grillparzer. Vgl. dazu Seitter 1968, S. 123 f. Auch dieses Zitat hat Fuchs in seiner Rezension wiedergegeben (146) und ironisch auf die Kontroverse um Puschmanns „Nachweis" gemünzt, daß R. Wagner unzurechnungsfähig sei.

250

J ö r g Salaquarda

ad 14) Dies ist das einzige mir bekannte Grillparzer-Zitat Nietzsches aus späterer Zeit. Ich weiß nicht, ob Nietzsche 1881 noch einmal in dem Band I X der Grillparzer-Ausgabe gelesen hat, oder ob er aus anderer Quelle geschöpft hat 4 4 . Goethe haben beide, Grillparzer wie Nietzsche, aufs Höchste verehrt, ohne deswegen für Fehler und Mängel ihres Idols blind zu sein. Beide haben, im Unterschied zu vielen ihrer Zeitgenossen, Goethe eindeutig über Schiller gestellt. Aber Grillparzer hat Schiller deswegen nicht gering geschätzt. Zur Zeit der Unzeitgemäßen galt das auch für Nietzsche, der Schiller jedoch später „als Moral-Trompeter" verworfen hat 4 5 .

4. Es ist zuallererst die radikale Kritik an Tendenzen der zeitgenössischen deutschen Kultur, in der Nietzsche mit Grillparzer übereinstimmte. Das Überhandnehmen der Reflexion, zumal der historischen Reflexion, stört oder zerstört gar die Unmittelbarkeit der Empfindung. Als Ausdrucksformen des Übels sahen beide Autoren den Gegensatz von Innen und Außen und die Vernachlässigung der Form an. Sie wandten sich entschieden gegen die durch nichts gerechtfertigte Überheblichkeit der historisch „Gebildeten", die in Wahrheit den Alten in allen für eine Kultur entscheidenden Punkten weit unterlegen sind. Der Hegelianismus der (Literatur-)Historiker wird von Grillparzer wie Nietzsche für diese Entwicklung verantwortlich gemacht. Im Einzelnen wandten sie sich gegen die ironische Distanzierung von den eigenen Empfindungen, bes. durch die Romantiker, gegen die überhebliche Unbedarftheit von Autoren wie Gervinus, J . Schmidt, Menzel, gegen die didaktische Abzweckung und „Belehrungswut", gegen das Popularisieren, etc. Der entscheidende Begriff der übereinstimmend vorgetragenen Kritik ist „die schwache Persönlichkeit", die ihnen besonders bei den „historisch kranken" Deutschen ihrer Zeit überhand zu nehmen schien. Auch in einigen dieser Kritik zu Grunde liegenden positiven Wertungen fand Nietzsche in Grillparzers Reflexionen seine Position bestätigt und bestärkt. Im Bemühen um Kunst bzw. Kultur überhaupt haben beide Männer auf die deutsche Klassik, insbesondere auf Goethe zurückgegriffen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht der große Einzelne, der schaffende Künstler, dessen aus richtiger Anschauung und Empfindung erwachsendes Werk zur

44

43

E s ist möglich, daß er diesen einprägsamen Spruch aus dem Gedächtnis notiert hat. Seine Notiz stimmt zwar wortwörtlich mit der Vorlage überein, aber es fehlen die Hervorhebungen. G D , Streifzüge 1. — E i n e nähere Entfaltung dieses komplexen T h e m a s ist hier nicht möglich. Vgl. dazu Politycki, passim.

,Rr ist fast immer einer der

Unserigen"

251

Keimzelle der Kultur wird 4 6 . An ihm lesen sie ab, was dem Zeitalter fehlt, nämlich die organisierende, Wunden heilende, alles Fremde ins Eigentümliche umschaffende „(plastische bzw. concentrirende) Kraft" bei Einzelnen wie bei Völkern. Die Übereinstimmung läßt sich in einem Wort zusammenfassen, das Nietzsche zu dieser Zeit zur Bezeichnung seiner eigenen Absicht und Tendenz verwendet hat: Unzeitgemäßheit. „[...] gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit" zu wirken (HL, Vorwort), das war offensichtlich auch Grillparzers Anliegen 4 7 . Das vor allem mag Nietzsche gemeint haben, wenn er nach seiner ersten Lektüre Grillparzer einen der „Unserigen" genannt hat. Zugleich hat er einschränkend hinzugefügt, daß er nur ,J~ast immer einer der Unserigen" sei. Was bedeutet das? Worin war er es nach Meinung Nietzsches nicht? Nietzsche hat in seinen Notizbüchern offenbar nur Gedanken Grillparzers festgehalten, bzw. in den ersten beiden Unzeitgemäßen zitiert, mit denen er übereinstimmte. Er wird jedoch über den Gemeinsamkeiten die Unterschiede nicht ganz übersehen haben, etwa in der Einschätzung von Euripides, Napoleon, der Freiheitskriege, etc., vor allem hinsichtlich der von Grillparzer zeitlebens festgehaltenen Orientierung an moralischen Maßstäben 48 . Aber das dürfte nicht der Grund für Nietzsches Vorbehalte gewesen sein. Nehmen wir an, Rohde hätte noch nichts von Grillparzer gekannt, als Nietzsche ihm mit der Wendung „er ist [...] einer der Unserigen", die Lektüre der „Aesthetika" empfahl. Was konnte er vermuten? Anders gefragt: Was verband ihn damals mit Nietzsche und mit den gemeinsamen Bekannten und Freunden wie von Gersdorff, Romundt, Overbeck etc.? Rohde hätte gewiß zuerst an die von Nietzsche initiierte und propagierte Schätzung der Philosophie Schopenhauers gedacht, und in zweiter Linie an die ebenfalls durch Nietzsche vermittelte Wagner-Verehrung. Aber gerade in diesen beiden Punkten unterschied sich Grillparzer erheblich von der Einstellung des Freundeskreises um Nietzsche. Darauf dürfte Nietzsches Einschränkung gemünzt gewesen sein 49 . 4i'

„Bildungsziel" Grillparzers ist die harmonische Persönlichkeit" (Kainz S. 619; vgl. den gesamten Abschnitt S. 618 ff.). 4 Insofern ist die Kennzeichnung Grillparzers durch v.Martin (unter Berufung auf Burckhardt) gewiß in Nietzsches Sinn: s. oben Anm. 10. 48 Dies kann ich hier nicht mehr weiter ausführen. — Vgl. dazu Seitter 1968, S. 128 ff. und 1970, S. 105—107; Kainz S. 138 ff. — Übrigens lassen sich andrerseits auch weitere, von Nietzsche nicht eigens zitierte Übereinstimmungen konstatieren, etwa in der Einschätzung der Religion. Overbeck hat sich einige die Religion betreffende Äußerungen von Grillparzer offenbar zustimmend notiert (vgl. oben Anm. 11). 4') Das gilt unbeschadet der Tatsache, daß Nietzsche selbst Schopenhauer wie Wagner gegenüber immer seine Eigenständigkeit gewahrt hat. Das kann im folgenden nur angedeutet, nicht näher entwickelt werden.

252

Jörg Salaquarda

In philosophischer Hinsicht ist Grillparzer zwar, w i e der junge Nietzsche und die meisten seiner Freunde, ein kritischer Kantianer 5 0 gewesen. Und w i e sie hat er den Hegelianismus entschieden abgelehnt. Aber im Unterschied zu ihnen hat er auch dem Denken Schopenhauers nichts a b g e w i n n e n können 5 1 . Nietzsche war freilich selbst zu dieser Zeit kein vorbehaltloser A n h ä n g e r Schopenhauers (mehr) — wenn er je einer gewesen sein sollte. Von seinem an L a n g e orientierten „Standpunkt des Ideals" ist die kritische A n m e r k u n g Grillparzers nicht so weit entfernt 1 2 . Aber wie dem auch sei — offensichtlich konnte Nietzsche Grillparzer nicht w e g e n seiner Einstellung zu Schopenhauer zu den „ U n s e r i g e n " rechnen. — In die Begeisterung der Freunde für W a g n e r stimmte Grillparzer noch weniger ein. Er w a r ein entschiedener Gegner der U n t e r o r d n u n g der Musik unter ein P r o g r a m m oder auch nur unter einen Text. In den „Aesthetika" findet sich eine ironische „ E m p f e h l u n g " der Tannhäuser-Ouverture, die Grillparzer aus den genannten Gründen v e r w o r f e n hat 5 3 . Grillparzer kannte Wagner aus persönlicher B e g e g n u n g . Wagner hatte

52 33

I.aube, S. X X X I I bezeichnet Grillparzer als einen „in Kantischer Philosophie durchgebild e t e ^ ] Mann". Ahnlich Seitter 1968, 16: „Kants Kritizismus wurde ihm zum zentralen Erlebnis. An seinem Werk maß er [...] die Leistungen der Nachfolger." — Daß Grillparzer einzelne Kantische Lehrstücke verworfen hat, wie Jodl (1898, S. 7) betont, ändert nichts an der Grundhaltung. Grillparzer hat zwar Die Welt als Wille und Vorstellung durchgearbeitet, aber das Buch hat in philosophischer Hinsicht offensichtlich nur geringen Eindruck auf ihn gemacht. Es gibt überhaupt nur drei kurze Äußerungen von ihm zu Schopenhauer (abgedruckt in der Ausgabe Frank/Pörnbacher III, S. 1159). Alle drei sind kritisch-ablehnend (vgl. Seitter 1970, S. 87 — 89). — Kainz, passim (vgl. z. B. S. 619), macht allerdings zurecht darauf aufmerksam, daß Grillparzer nur die Metaphysik Schopenhauers verworfen hat, während er seine psychologischen Einsichten durchaus zu schätzen wußte. Typisch für die Ambivalenz ist ζ. B. die folgende Notiz: „Schopenhauers philosophische Entdeckungen haben mich nie überzeugt; er ist eben ästhetisch. — Da ist sonach die Überzeugung, die er vorher als Zweck der Wissenschaft aufgestellt hat, eins mit der Beruhigung, und dann hat er recht". — Da Grillparzers Äußerungen in der Ausgabe von Laube und Weilen nicht enthalten sind, dürfte Nietzsche sie nicht gekannt haben. Zumindest wird ihm aber Grillparzers Schweigen über Schopenhauer (dessen Zeitgenosse er war) aufgefallen sein. Vgl. Salaquarda 1978 und 1979. IX, S. 146 f. — Vgl. bes. S. 147: „Ein alter Herr [...] meinte [...], man solle lieber nur das Programm lesen und die Musik gar nicht hören, um die Meinung des Tondichters ganz zu fassen [...]". — Zumindest vor der persönlichen Begegnung mit Wagner hat Nietzsche ähnliche Vorbehalte gegen Wagners Tonmalereien angemeldet, wie seine Anmerkungen zum „Walkürenvorspiel" aus dem Herbst 1866 (BAW 2, S. 207 f.) zeigen. — Daß Fuchs in seiner Rezension in zentralen Punkten von Grillparzers Ästhetik eine von diesem zwar nicht erkannte, aber faktische Übereinstimmung mit der Wagners konstatiert hat, wurde schon gesagt (s. oben Anm. 13). Auf die Musiktheorie trifft das allerdings nicht zu, wie Borchmeyer gezeigt hat. In dieser Hinsicht sind die beiden Künstler geradezu Gegenspieler gewesen. Grillparzer war das bewußt, und Hanslick hat sich deswegen ab „der sechsten Auflage seines epochemachenden Versuchs Vom musikalisch Schönen [...] in ausführlichen Fußnoten auf Grillparzer" bezogen (Borchmeyer, S. 360). Dabei hat er sich vor allem auf vor dem Tod des Dichters kaum oder gar nicht bekannte allgemein ästhetische und insbesondere musiktheoretische Äußerungen Grillparzers berufen, die in den Bänden VIII und IX der selben

„ E r ist fast

immer einer der

253

Unserigen"

1 8 4 8 , kurz v o r A u s b r u c h der R e v o l u t i o n , in W i e n Pläne zur E r r i c h t u n g eines Nationaltheaters

unterbreitet.

In

diesem

Zusammenhang

m a c h t e er

auch

Grillparzer seine A u f w a r t u n g , der als ein G u t a c h t e r v o r g e s e h e n war. D a b e i dürften zwei v e r s c h i e d e n e W e l t e n a u f e i n a n d e r g e t r o f f e n sein; die b e i d e n M ä n n e r fanden keine V e r s t ä n d i g u n g s b a s i s 5 4 . D i e w e n i g e n späteren

Äußerungen

R . und C. W a g n e r s ü b e r G r i l l p a r z e r sind e n t s p r e c h e n d n e g a t i v . 55

5. I c h schließe mit einigen F r a g e n , die sich im Z u s a m m e n h a n g m i t N i e t z sches G r i l l p a r z e r - R e z e p t i o n stellen und weiterer E r ö r t e r u n g b e d ü r f e n : 1) Ist das ermittelte Material vollständig? Was die

tungen

Unzeitgemäßen

Betrach-

und den d a z u g e h ö r i g e n N a c h l a ß b e t r i f f t , wird der N a c h b e r i c h t s b a n d

zu K G W

I I I A u f s c h l u ß b r i n g e n . A b e r wie steht es bei späteren

Texten?

H a n d e l t es sich bei der N o t i z V 12 [184J u m eine isolierte R e m i n i s z e n z , o d e r hat N i e t z s c h e n o c h einmal G r i l l p a r z e r gelesen und dann eventuell a u c h a n d e r e Stellen notiert, o h n e den N a m e n Grillparzer zu n e n n e n ? 2) Hat N i e t z s c h e 1 8 7 2 — 7 4 a u ß e r B a n d I X auch n o c h andere B ä n d e der A u s g a b e v o n L a u b e / W e i l e n zur K e n n t n i s g e n o m m e n ? W o h e r k a n n t e er das E p i g r a m m ( T e x t 1), w o h e r die zentrale Ä u ß e r u n g über die „ s c h w a c h e Pers ö n l i c h k e i t " aus B a n d V I I I ( T e x t 10), w o h e r (eventuell) das G e d i c h t , a u f das R o h d e in seinem B r i e f v o m 2 4 . 3. 7 4 anspielt? 3) Bei den T e x t e n 2, 4 , 5, 7, 10, 12 und 13, die N i e t z s c h e in D S und H L v e r w e n d e t hat, m ü ß t e im einzelnen u n t e r s u c h t w e r d e n , o b N i e t z s c h e sich v o n Grillparzer n u r in einer v o n ihm s c h o n v o r h e r g e h e g t e n T h e s e b e s t ä t i g t g e s e h e n , o d e r o b er eine i h m neue E i n s i c h t ü b e r n o m m e n

hat. I n

beiden

Fällen w ü r d e es sich ferner l o h n e n , nach g e m e i n s a m e n W u r z e l n der M o t i v e bei G o e t h e o d e r ü b e r h a u p t in der deutschen K l a s s i k A u s s c h a u zu halten. 4) B e s o n d e r s H L , aber a u c h S E und W B sollten daraufhin d u r c h g e s e h e n w e r d e n , o b N i e t z s c h e in i h n e n T h e m e n und M o t i v e zur G e l t u n g b r i n g t , die Ausgabe von Laube/Weilen enthalten sind, die auch Nietzsches zeitweilige GrillparzerEnthusiasmus erweckt hat. Hanslick hat sich mit diesen Texten in zwei Essays von 1867 und 1888 auseinandergesetzt. O b Richard Wagner von den späteren Fußnoten in Hanslicks Hauptwerk und von dem Essay von 1876 noch Kenntnis genommen hat, ist nicht bezeugt, Borchmeyer läßt die Möglichkeit offen. 14

Vgl. Gregor-Dcllin, S. 243. — Wagner selbst schildert die Begegnung nur kurz, ohne auf den Inhalt des Gesprächs näher einzugehen: „Einen sehr sanften Eindruck machte mir [ . . . ] Herr Grillparzer, [...] wcichcn ich ebenfalls in Theaterreform-Angelegenheiten aufsuchte. E s schien ihn nicht unfreundlich zu berühren, von dem, was ich ihm vorbrachte, zu hören; nur suchte er auch das Befremden nicht zu verbergen, welches ihm meine unmittelbaren Bestrebungen und sogar an ihn gerichtete Zumutungen einflößten" (R. Wagner, S. 382). Vgl. C. Wagner, passim (Register s.v. Grillparzer).

254

J ö r g Salacjuarda

ihm aus dem I X . Band der Grillparzer-Ausgabe bekannt g e w e s e n sein könnten, ohne daß er sie notiert oder g a r ausdrücklich zitiert hat 5 6 . 5) Einige seiner in H L in U b e r e i n s t i m m u n g mit Grillparzer entfalteten Gedanken hat Nietzsche später weiterentwickelt, etwa den von der „plastischen K r a f t " zu seiner Lehre v o m „Willen zur Macht", und den von der „schwachen Persönlichkeit" zur Theorie der „decadence". Diese E n t w i c k l u n gen wären daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit in ihnen die Auffassungen Grillparzers weiterhin präsent bleiben oder zurücktreten. 6) Die bisher genannten A u f g a b e n ergeben sich als Desiderate aus dem von mir zusammengetragenen und erörterten Material. Es sollte aber noch mehr getan werden, u.z. halte ich einen umfassenden Vergleich der „Philosophien" Grillparzers und Nietzsches für wünschenswert 3 7 . Dabei wäre von den Grundeinstellungen zur Welt und den in ihnen zum Tragen kommenden „ E m p f i n d u n g e n " auszugehen. Anders als Nietzsche selbst — vielleicht gegen implizite Vorbehalte von ihm'' 8 — dürfte man dabei die dramatischen Werke Grillparzers nicht unberücksichtigt lassen 5 9 . ' ' Interessant ist, daß auch Grillparzer sich kritisch zu D. Fr. Strauß geäußert hat. Allerdings wendet sich sein satirisches Schreiben Gottes an den Bürgermeister Hirtel in Zürich (IX, S. 124 ff.), der Strauß 1839 als Theologieprofessor an die Züricher Universität berufen wollte, gegen die Religionskritik des jungen Strauß, die Nietzsche ausdrücklich von seiner Kritik ausgenommen hat. 3,7 Man mag einwenden, daß Grillparzer kein Philosoph gewesen ist, daß man ihn allenfalls als „Mausweisen" (Schlechta, S. 353) konsultieren könne. Auch er selbst hat seine Reflexionen nur als Ergänzungen zu seinem eigentlichen, dem dramatischen Werk verstanden. Bei dem hier vorgeschlagenen Vergleich geht es jedoch nicht nur und nicht einmal primär um seine als solche gekennzeichneten Reflexionen, sondern um seine Welt- und Lebensanschauung. Natürlich ist Grillparzer genausowenig wie Goethe, Schiller oder Th.iVlann ein Philosoph gewesen, wenn man unter „Philosophie" eine festumrissene (wissenschaftliche) Disziplin versteht. Aber auch Nietzsches Denken erschöpft sich zumindest nicht in einem solchen Philosophieren. Kainz schreibt zu Recht, daß „Philosophie" in einem weiteren Sinn des Begriffs „ein Denkanliegen von solcher Lebensbezüglichkeit [ist], daß seine Bearbeitung niemals bloß den wissenschaftlichen Fachvertretern der Philosophie als akademische Disziplin überantwortet war" (4). — Zu Grillparzers „Philosophie" in diesem weiten Sinn vgl. Jodl 1898, S. 1 - 6 ; Seitter 1968, S. 1 5 - 2 4 ; bes. Kainz, passim. 5* In Nietzsches Äußerungen über Grillparzer fehlt nicht nur jede Stellungnahme zum dramatischen oder überhaupt poetischen Werk; sie klingen außerdem ein wenig gönnerhaft. Von der verständlichen Kennzeichnung der Verse des F.pigramms als „knöchern" (III 24[10]) ist schon die Rede gewesen. Aber selbst dort, wo Nietzsche Grillparzer zustimmend zitiert, ist eine gewisse Distanzierung zu spüren. Fr führt seinen Gewährsmann als den „bei Seite stehende[n] und still betrachtende[n]" (HL 4), ,,ehrliche[n] Grillparzer" (DS 4) ein, der sich in ästhetischen Fragen „ereifert" (III 29[65]) und dabei „mit geziemender Deutlichkeit" (DS 4) Unzeitgemäßes „zu erklären [...] wagt" (HL 6). — Es scheint so, daß Nietzsche die bis heute virulente Unterschätzung, ja Geringschätzung des Dramatikers Grillparzer teilte. Beruhte seine Einschätzung (nur) auf dem verbreiteten Vorurteil, oder hat er selbst etwas von Grillparzers dramatischen Werken gelesen? — Fine Revision dieses Grillparzer-Verständnisses ist seit langem in Gang, wie man beispielsweise vielen Beiträgen in den von Kindermann und Pichl herausgegebenen Sammelbänden entnehmen kann. Einen ersten Baustein dazu hat Seitter (1968) geliefert, der allerdings nur den jungen Nietzsche

„ E r ist fast

i m m e r einer der

Unserigen"

255

Literatur Grillparzer, Franz: Sämmtliche Werke, hg.v. Heinrich Laube und Josef Weilen, 10 Bände, Stuttgart 1872. Grillparzer, Franz: Sämtliche Werk*. Histor.-krit. Gesamtausgabe. 42 Bde. in III Abt.n, hg.v. August Sauer, fortgeführt v. Reinhold Backmann, Wien 1909 — 1948. Grillparzer, Franz: Sämtliche Werke, hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher, 4 Bde., München 1 9 6 0 - 1 9 6 5 . Baeumer, Max L.: „Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ,Entdeckung' durch Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 1 2 3 - 1 5 3 . Borchmeyer, Dieter: „Franz Grillparzer als Antipode Richard Wagners. Ein Beitrag zu seiner Musikästhetik", in: Fran% Grillparzer, hg. v. Helmut Bachmaier (stm 2078), Frankfurt am Main 1991, S. 3 5 9 - 3 7 1 . Fuchs, Carl: „Gedanken aus und zu Grillparzer's Aesthetischen Studien", in: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, Leipzig, J g g . 5 , 1874 (Nr. 9 vom 27.2, S. 105 ff.; Nr. 11 vom 13.3., S. 129 ff.; Nr. 12 vom 20.3., S. 145 ff. und Nr. 13 vom 27.3., S. 161 ff.). Goedeke, Karl: Grundriß %ur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Zweite ganz neu bearbeitete Auflage, nach dem Tode des Vfs. in Verb.m. Fachgelehrten fortgeführt von Edmund Goetze, Bd. 8: Vom Weltfrieden bis zur französischen Revolution 1830, Dresden 1905. Gregor-Dellin, Martin: Richard Wagner. Sein lieben — sein Werk — sein Jahrhundert, München und Zürich 1980. Houben, Heinrich Herbert: „Heinrich Laube", in: Allgemeine Deutsche Biographie 51, S. 7 5 2 - 7 9 0 . Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bde., München und Wien 1978 und 1979. Jodl, Friedrich: „Grillparzer und die Philosophie", in: Jahrbücher der GrillparzerGesellschaft Bd. 8, 1898, S. 1 - 2 1 . Jodl, Friedrich: „Grillparzers Ideen zur Ästhetik", in: Jahrbücher der Grillparzer-Gesellschaft, Bd. 10, 1900, 4 5 - 6 9 . Kainz, Friedrich: Grillparzer als Denker, Wien 1975. Kindermann, Heinz (Hg.): Das Grillparzer-Bild des 20. Jahrhunderts, Wien-Köln-Graz 1972. Krümmel, Richard F.: Nietzsche und der deutsche Geist, 2 Bde„ Berlin/New York 1974 und 1982. Laube, Heinrich: „Einleitung", in: Fr.Grillparzer, Sämmtliche Werke, hg. v. Laube und Weilen, a. a. O. I, S . V - X L . Martin, Alfred v.: Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog, München 4 1947. Pichl, Robert (Hg.): Grillparzer und die europäische Tradition. Londoner Symposium 1986, Wien 1987. heranzieht und die weitere F.ntwicklung des P h i l o s o p h e n generell a b w e r t e t . — A u s f ü h r l i c h e r und mit g r ö ß e r e m Verständnis für B e r ü h r u n g e s p u n k t e auch des späteren Nietzsche mit Grillparzer hat dann Kainz das T h e m a bearbeitet ( v g l . R e g i s t e r s.v. „Nietzsche").

256

J ö r g Salaquarda

Politycki, Matthias: Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin 1989. Politzer, Heinz: Franζ Grillparzer oder das abgründige Biedermeier, Wien 1972. Salaquarda, Jörg: „Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung", in: NietzscheStudien 13 (1984), S. 1—45. Salaquarda, Jörg: „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236 — 260. Salaquarda, Jörg: „Der Standpunkt des Ideals bei Nietzsche und Lange", in: Annali Studi Tedeschi 22 (1979), S. 1 7 4 - 1 9 8 . Scheit, Gerhard: Grillparzer (rm 396), 1989. Schlechte, Karl: „Nietzsche über den Glauben an die Grammatik", in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 3 5 3 - 3 5 8 . Schönbach, Anton: „Franz Grillparzer", in Allgemeine Deutsche Biographie 9, S. 6 7 1 - 6 7 6 . Seidler, Herbert: „Die Entwicklung des wissenschaftlichen Grillparzer-Bildes im deutschen Sprachraum", in: Das Grillparzer-Bild des 20. Jahrhunderts, S. 33 — 107. Seitter, Walter: Franz Grillparzfrs Philosophie, Phil.Diss. München 1968. Seitter, Walter: „Franz Grillparzer und Friedrich Nietzsche. Ihre Stellung zueinander", in: Jahrbücher der Grillparzer-Gesellschaft, 3.Folge, Bd. 8, 1970, S. 8 7 - 1 0 7 . Viviani, Annalisa: Grillparzer-Kommentar, 2 Bände, München 1972 — 73. Wagner, Cosima: Die Tagebücher, hg. von M. Gregor-Dellin und D. Mack, 2 Bde., München und Zürich 1976 und 1977. Wagner, Richard: Mein lieben, hg. v. M. Gregor-Dellin, München 1983.

Verklärt-reine Herbstlichkeit Einige Anmerkungen von 1. Nietzsches

Nietzsches erster Bekanntschaft HANS GERALD HÖDL,

mit Goethe

Wien

Hrinnerung an seine erste Bekanntschaft

mit Goethe

Im Jahr 1888 schildert Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment seinen ersten und für ihn bestimmenden Eindruck von Goethe folgendermaßen: Was G o e t h e a n g e h t : so w a r der erste E i n d r u c k , ein sehr früher E i n d r u c k , v o l l k o m m e n entscheidend: die L ö w e n - N o v e l l e , s e l t s a m e r Weise d a s E r s t e , w a s ich v o n i h m kennen lernte, g a b mir ein f ü r alle M a l meinen B e g r i f f , m e i n e n G e s c h m a c k „ G o e t h e " . E i n e v e r k l ä r t — reine H e r b s t l i c h k e i t im G e n i e ß e n und im R e i f w e r d e n l a s s e n , — im Warten, eine O k t o b e r - S o n n e bis ins G e i s t i g s t e hinauf; etwas G o l d e n e s und V e r s ü ß e n d e s , e t w a s M i l d e s , nicht M a r m o r — d a s n e n n e ich G o e t h i s c h . 1

Durch diese Schilderung des Begriffs und Geschmacks „ G o e t h e " , der durch die herbstliche Stimmung der Löwennovelle bezeichnet ist, wird die in dieser Aufzeichnung vorgetragene ambivalente, perspektivenabhängige Wertung des „ F a u s t " 2 konterkariert. Dabei ergänzt Nietzsche die eingangs vorgetragene Reihe von Metaphern herbstlicher F ä r b u n g noch durch die Nennung von Stifters „ N a c h s o m m e r " 3 .

2. Nietzsches

Ilerbstlichkeit

und das „Glück der Kindheit"

Die von Nietzsche beschriebene herbstlich-abgeklärte Stimmung ist keineswegs „poetisches Beiwerk", sondern stellt, so Nietzsche 1888, den näheren 1

2

1

K S A 13, 634 (24 [10]); das F r a g m e n t ist von M a z z i n o M o n t i n a r i aus einer überklebten Seite des D r u c k m a n u s k r i p t e s zu G D ( D 21 nach Mettes S i g n a t u r e n ) entziffert und a u f O k t o b e r / N o v e m b e r 1888 datiert w o r d e n (vgl. K S A 14, 773). „— i'aust — das ist für den, der den K r d g e r u c h der deutschen S p r a c h e aus Instinkt kennt, für den Dichter des Z a r a t h u s t r a , ein G e n u ß ohne Gleichen: er ist es nicht für den Artisten, der ich bin, dem mit d e m F a u s t S t ü c k w e r k über Stückwerk in die H a n d g e g e b e n w u r d e , — er ist es noch weniger f ü r den P h i l o s o p h e n , d e m das v o l l k o m m e n Arbiträre und Z u f ä l l i g e — nämlich durch Cultur-Zufälle B e d i n g t e in allen Typen und P r o b l e m e n des G o e t h e s c h e n Werks widerstrebt. M a n studirt achtzehntes J a h r h u n d e r t , wenn man den , F a u s t ' liest, man studirt G o e t h e : man ist tausend Meilen weit v o m Nothwendigen in Typus und P r o b l e m . — " (α. α. Ο.) „ I c h habe später, u m dieses B e g r i f f s , G o e t h e ' halber, den , N a c h s o m m e r ' Adalbert Stifters mit tiefer G e w o g e n h e i t in mich a u f g e n o m m e n : im G r u n d e das einzige deutsche Buch nach G o e t h e , das für mich Z a u b e r h a t . " (α. α. Ο.)

Hans Gerald Hödl

258

I n h a l t e i n e r E n t s c h e i d u n g dar, die er b e r e i t s in s e h r f r ü h e n J a h r e n g e t r o f f e n h a b e . W a s d a m i t e n t s c h i e d e n w u r d e , b e z e i c h n e t er als s e i n e n — in k r i t i s c h e r

Distanzierung

zu a n d e r e n

„Geschmack"

Goethe-Auffassungen4.

Renate

M ü l l e r - B u c k ist d i e s e r B i l d l i c h k e i t in N i e t z s c h e s S c h r i f t e n b e r e i t s e i n d r i n g l i c h nachgegangen5.

Sie f a ß t i h r e B e o b a c h t u n g e n

folgendermaßen

zusammen:

„ R e i f e , F ü l l e , Ü b e r f l u ß , V o l l k o m m e n h e i t , das ist es, w a s N i e t z s c h e m i t d e m Herbst verbindet, aber auch Ruhe, Maß, Heiterkeit, H a r m o n i e . " 6 M i r w i l l s c h e i n e n , d a ß in d i e s e r B e d e u t u n g v o n „ H e r b s t l i c h k e i t " , die sich in d e n

von

Müller-Buck

analysierten

Formulierungen

manifestiert,

auch

( n i c h t : n u r ! ) N i e t z s c h e s N a t u r e r f a h r u n g , die f ü r das „ G l ü c k d e r K i n d h e i t " steht7 — mitschwingt. M a z z i n o M o n t i n a r i hat in e i n e m f ü r die B e s c h ä f t i g u n g m i t

Nietzsches

K i n d h e i t r i c h t u n g w e i s e n d e n A u f s a t z n a c h g e w i e s e n , d a ß d i e in d e n A p h o r i s -

mus 49 der Vermischten Meinungen und Sprüche hineingearbeitete Selbstbeschreib u n g N i e t z s c h e s „ . . . a u f die g l ü c k l i c h e n T a g e s e i n e r K i n d h e i t z u r ü c k " g e h t . 8 In e i n e m A b s c h n i t t aus d i e s e m A p h o r i s m u s v e r w e n d e t N i e t z s c h e n u n z u r B e s c h r e i b u n g d e s G l ü c k s im „ f r e i e n T e m p e l d e r N a t u r " 9 v o r w i e g e n d B i l d e r herbstlicher Stimmungen: Ist ein M e n s c h nicht z i e m l i c h g e n a u b e s c h r i e b e n , w e n n m a n hört, dass er g e r n z w i s c h e n g e l b e n h o h e n K o r n f e l d e r n g e h t , dass er die Waldes- u n d B l u m e n f a r b e n des a b g l ü h e n d e n u n d v e r g i l b t e n H e r b s t e s allen a n d e r e n v o r zieht, w e i l sie auf S c h ö n e r e s h i n d e u t e n als der N a t u r je g e l i n g t , dass er u n t e r g r o ß e n f e t t b l ä t t r i g e n N u s s b ä u m e n sich g a n z h e i m i s c h w i e unter BlutsV e r w a n d t e n f ü h l t , dass i m G e b i r g e seine g r ö ß t e F r e u d e ist, jenen k l e i n e n a b g e l e g e n e n Seen zu b e g e g n e n , a u s d e n e n ihn die E i n s a m k e i t selber mit

Zum zeitgeschichtlichen Kontext der naheliegendsten Passage aus einem Werk des Jahres 1888, den Aphorismen 49 — 51 von GD — der Auseinandersetzung mit der Heinekritik und Goetheverehrung von Viktor Hehn, Franz Sandvoß und Ferdinand Avenarius — vgl. Renate Müller-Buck: „Heine oder Goethe? Zu Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung mit der antisemitischen Literaturkritik des ,Kunstwart'", in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 265 — 288, bes. 2 8 1 - 8 4 . * Vgl. dazu ihren informativen Beitrag: „,Oktober-Sonne bis ins Geistigste hinauf. Anfängliches zur Bedeutung von Goethes ,Novelle' und Stifters ,Nachsommer' für Nietzsches Kunstauffassung", in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 5 3 7 - 5 4 9 . 6 a. a. O., 540. 7 Wieder: auch, nicht: nur! Zum „Glück der Kindheit" vgl. den gleichnamigen Abschnitt in: Mazzino Montinari: „Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875/79", in: ders., Nietzsche lesen. Berlin/New York 1982, 2 2 - 3 7 . 8 A. a. O., 32; dies hat auch Müller-Buck, a. a. O., 539 vermerkt. '' Der Ausdruck stammt aus Nietzsches Selbstbiographie aus dem Jahre 1858: „Von Kindheit an suchte ich die F.insamkeit und fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte. Und dies war gewöhnlich im freien Tempel der Natur, und die wahrsten Freuden fand ich hierbei." (BAW 1, 8); vgl. dazu auch R. Schmidt: „Auf der Suche nach dem Humanum. Elemente der frühen Kulturkritik Friedrich Nietzsches", in: NietzscheStudien 13 (\984), \29-\55, 130.

4

259

Verklärt-reine Herbstlichkeit

ihren Augen anzusehen scheint, dass er jene graue Ruhe der Nebel-Dämmerung liebt, welche an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenloses Geräusch wie mit Sammt-Vorhängen umschliesst... 1 0 D i e s e S e l b s t b e s c h r e i b u n g mit i h r e m B e z u g a u f N i e t z s c h e s

Kindheitser-

i n n e r u n g e n m a g als ein w i c h t i g e s Indiz dafür g e l t e n , d a ß die E r i n n e r u n g an den sehr frühen E i n d r u c k v o n G o e t h e in e i n e m w e s e n t l i c h e n Sinn an die „reine H c r b s t l i c h k e i t " , v o n der N i e t z s c h e in u n s e r e m F r a g m e n t aus d e m J a h r e 1 8 8 8 spricht, g e b u n d e n ist. D i e s läßt uns e r w a r t e n , daß die E r ö r t e r u n g der F r a g e , wie genau N i e t z s c h e s E r i n n e r u n g an seine erste B e k a n n t s c h a f t

mit

G o e t h e g e w e s e n ist, uns ü b e r die n ü c h t e r n e F e s t s t e l l u n g einer ersten K e n n t n i s n a h m e eines g o e t h e s c h e n Werkes h i n a u s g e h e n d e A u f s c h l ü s s e zur denkerischen B i o g r a p h i e N i e t z s c h e s g e b e n k ö n n t e . Im Rahmen

dieser F r a g e s t e l l u n g

will ich

— o h n e a u f die

umrissene

T y p o l o g i e N i e t z s c h e s w e i t e r e i n z u g e h e n , d e n n dies g e h ö r t in eine I n t e r p r e tation des S p ä t w e r k e s 1 1

— , hier den ersten Schritt u n t e r n e h m e n ,

nämlich

einige eher p h i l o l o g i s c h e A n m e r k u n g e n a n b r i n g e n , die eine V e r b i n d u n g s l i n i e zwischen N i e t z s c h e s frühesten V e r s u c h e n d i c h t e r i s c h e n S c h a f f e n s u n d autob i o g r a p h i s c h e r B e s i n n u n g einerseits und s e i n e m S p ä t w e r k andererseits aufzuzeigen v e r m ö g e n . O h n e Z w e i f e l b e d a r f eine g e n a u e und u m s i c h t i g e Interpretation des hier v o r g e s t e l l t e n F r a g m e n t e s einer B e r ü c k s i c h t i g u n g der beiden wesentlichen H i n w e i s e N i e t z s c h e s a u f die „ L ö w e n n o v e l l e " — daß ihre K e n n t n i s n a h m e ihm den ersten (und sehr f r ü h e n ) E i n d r u c k v o n G o e t h e g e g e b e n hat und daß dieser F2indruck „ v o l l k o m m e n e n t s c h e i d e n d " war. W a s dadurch entschieden w u r d e , ist ja das eigentliche T h e m a des F r a g m e n t e s . U n u m g ä n g l i c h ist in diesem Z u s a m m e n h a n g die F r a g e , o b sich N i e t z s c h e im O k t o b e r 1 8 8 8 r i c h t i g an seine erste B e g e g n u n g mit e i n e m W e r k G o e t h e s erinnert und wann diese stattgefunden hat.

3. Spuren von Nietzsches

erster Bekanntschaft der fahre

1857 und

mit Goethe

in den

Aufzeichnungen

1858

3.1. G o e t h e s „ L ö w e n n o v e l l e " als V o r l a g e eines n o v e l l i s t i s c h e n V e r s u c h e s des 1 2 — 1 3 j ä h r i g e n N i e t z s c h e D i e E r i n n e r u n g N i e t z s c h e s aus dem J a h r 1 8 8 8 erfährt eine B e s t ä t i g u n g durch einen

Bericht von

Elisabeth Förster-Nietzsche

in ihrer

Biographie

Nietzsches v o n 1 8 9 5 : 10

K S A 2, 4 0 1 .

"

V g l . dazu den A n m . 5 g e n a n n t e n B e i t r a g : „ , O k t o b e r - S o n n e bis ins G e i s t i g s t e h i n a u f ' " v o n Renate M ü l l e r - B u c k .

260

Hans Gerald Hödl Ich erinnere mich n o c h sehr gut, wie Herr Rath P. seiner Familie, selbst als die K i n d e r noch ziemlich klein waren, ausgewählte Stücke von G o e t h e vorlas, um das jugendliche O h r schon früh an den Wohlklang der edelsten Sprache zu g e w ö h n e n . Oftmals durfte Fritz, hie und da selbst ich mit zuhören. Lebhaft erinnere ich mich noch der Vorlesung der „ L ö w e n n o v e l l e " welche uns K i n d e r geradezu begeisterte. 1 2

Nietzsches erste Bekanntschaft mit Goethe dürfte also vom Vater seines Jugendfreundes Wilhelm Pinder, dem Oberlandesgerichtsrat E,duard Pinder (1810-1875), -

wie Gustav Krugs Vater Gustav Adolf Krug ( 1 8 0 5 - 1 8 7 4 )

Mitglied der Naumburger „Literaria", einem 1821 gegründeten Verein „zur Beförderung und Ausbildung wissenschaftlichen und sittlichen Lebens" 1 3 , — vermittelt worden sein. 1 4 Reiner Bohley konstatiert einen starken Einfluß dieser beiden Männer auf die Entwicklung Nietzsches, betont aber, daß sie ihm „nicht zu Ersatzvätern" werden, „es bleibt bei der Distanz, ein eigentliches Erziehungsverhältnis kommt nicht zustande." 1 5 Die Bedeutung dieses Einflusses sieht Bohley vor allem in einem Herauswachsen Nietzsches aus dem geistigen Einflußbereich der Mutter gegeben. 1 6 Seine kleine Anmerkung, daß der von Nietzsche mit seinen Freunden gegründete Bund „Germania" wohl in der „Literaria" ihr Vorbild hat, illustriert die Art dieser Beeinflussung sehr klar. 17 In einem von H. J . Mette nach 1857 datierten Fragment einer Novelle paraphrasiert Nietzsche den Beginn der „Novelle" von Goethe; in der linken Spalte der folgenden Konkordanz steht Nietzsches Text 1 8 — in der rechten der Beginn von Goethes Novelle, an den sich Nietzsche in dieser Variante des Anfangs seiner projektierten Erzählung anlehnt. 1 9 E. Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsche's, Erster Band. Leipzig 1895, 78. Zur „Literaria" vgl. M. Pernet: Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche. Opladen 1989, 56. 14 Zu Eduard Pinder und Gustav Adolf Krug vgl. Pernet, a. a. O., 52 — 57; außerdem: R. Bohley: „Nietzsches christliche Erziehung. I. Vater und Mutter", in: Nietzsche Studien 16(1987), 1 6 4 - 1 9 6 , 189ff. G. A. Krug war von 1837 - 1851 zweiter, von 1851 - 1 8 7 4 erster Vorsteher der „Literaria". Er hat 1827 Goethe besucht und darüber (nach 1846) einen Vortrag in der „Literaria" gehalten; (Bohley, a. a. 0 . , 191). 15 Bohley, a. a. O., 189. 16 „Über die Freunde kommt Nietzsche durch deren Väter auf den Weg in eine geistige Weite, dem die Mutter mit ihren Bildungsvoraussetzungen nicht mehr folgen kann. Sie hat ihn zwar angehalten, Gedichte zu lernen, zu schreiben und zu musizieren. Aber als Nietzsche dann mit seinen Freunden — der „Literaria" entsprechend — die „Germania" gründet, hat er sich schon weit von ihrem geistigen Horizont entfernt — mit ihrer Erziehung hat das längst nichts mehr zu tun." Bohley, a. a. O., 191. 17 Vgl. oben Anm. 8. 18 MP II, 2; BAW 1, 394. " Goethes Text nach der „Hamburger Ausgabe": Goethes Werke. Band VI. [Hrsg. Trunz E.; Wiese, B. v.], S. 491; Die Frage nach dem textus receptus von Nietzsche wird hier übergangen. 12

11

Verklärt-reine Herbstlichkeit

I. Ein schwerer Herbstnebel lag noch in den Räumen des fürstlichen Schlosses als es darin schon lebendig wurde, da heute eine Hauptjagd gehalten werden sollte. Lodernte Pechfackeln verbreiteten eine unsichre Helle und Uesen ein Reges Treiben bemerken. Hurtig eilten muntere Jäger über den Hof, Pferde am Zügel haltent und erwarteten mit Ungedult den Graf, welcher beim Abschied zu lange verweilte. Laut wieherten die Pferde die Hunde bellten und Waffen klirrten, aber der Graf hörte es nicht. Da kamen zur Wendeltreppe drei muntere Jünglinge herab in zierlichen Jagdgewand mit Hirschfängern an den Seiten. Die Jäger grüßten sie ehrerbietig und wünschten gern die Ursache des langen Ausbleibens zu wissen. Diese aber stellten sich als ob sie es nicht hörten und setzten sich schweigend um das Feuer. Endlich sagte Giso von Steinau: „Ich würde heute lieber allein jagen, da der Graf meine Willkür zu sehr in Zügeln zu halten wissen würde. E r ist heute nicht bestens gestimmt; Es drückt ihn etwas, und ich fürchte, ihn wird unsere Fröhlichkeit reizen. Ich vermuthe — Hi < e > r hörte man schwere Tritte durch die Hausflur. Mit Blitzesschnelle eilten alle an ihre Pferde und bildeten den Zug. Der Graf ein kräftiger Mann mit finstern unheimlichen Augen trat herein und fragte: Ist nun alles fertig? Habe der Herren un[d]gedultige Reden schon vernommen. Erschroken blickten die drei Jünglinge nieder

261

Ein dichter Herbstnebel verhüllte noch in der Frühe die weiten Räume des fürstlichen Schlosshofes, als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde und zu Fuß durcheinander bewegt sah. Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten ließen sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel, man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob die Dachsranzen zurecht, indeß die Hunde ungeduldig am Riemen den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen drohten. Auch hie und da geberdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger Natur getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst hier in der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen, nicht verleugnen konnte. Alle jedoch warteten auf den Fürsten, der, von seiner jungen Gemahlin Abschied nehmend, allzulange zauderte.

262

Hans Gerald Hödl

Die Passage „Lodernte ... bemerken", die die Goethesche Vorlage als man schon mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze Jägerei zu Pferde oder zu Fuß durch einander bewegt sah

erstaunlich frei umsetzt, ersetzt die gestrichene Vorstufe Dunkle Gestalten bewegten sich über den Hof, Pferde wurden herzugeführt und Jäger mit Sporen eilten umher. 20 ,

die wiederum eine freie, freilich ungeschicktere Bearbeitung der Goetheschen Schilderung der „eiligen Beschäftigungen" darzustellen scheint. Ein weiterer aus Goethes Text übernommener Zug der Schilderung scheint das Warten auf den Grafen — (bei Goethe: Fürsten) 21 — zu sein, das allerdings anders — und nur andeutungsweise — begründet wird als bei Goethe. Anscheinend wollte Nietzsche mittels der nicht erklärten Mißstimmung des Grafen Spannung in den Ablauf der Erzählung bringen; einerseits spannt sich dadurch das Verhältnis zu Giso von Steinau, andererseits harrt der Leser einer Erklärung für das Verhalten des Grafen. Dies deutet an, daß sich Nietzsche in der Gesamtkonzeption seines jugendlichen Versuches nicht an die Goethische Erzählung angelehnt hat. Wie stark diese jene beinflußt hat, läßt sich aufgrund des überlieferten Materials nicht mehr eindeutig bestimmen; auf jeden Fall läßt sich aus dem Textbefund außer dem bereits Gesagten noch das im Folgenden Dargelegte ableiten.

3.2. Zeit, Ort und Setting von Nietzsches Erzählung Der Text des Manuskriptes MP II 2 bricht so ab, wie hier zitiert, daran schließt sich eine Liste, übertitelt: „ C a p < i t e l > 1. Persones." Diese Liste wollen wir nun kurz im einzelnen untersuchen: 2 2 Zuerst nennt Nietzsche Casimir Margraf von Kulmbach (Plessenburg); Die Plassenburg — von Nietzsche „Plessenburg" genannt —, war von 1398 bis 1595 die Residenz der Markgrafen von Brandenburg-Kulmbach, der nachmaligen Markgrafen von Ansbach-Bayreuth; sie wird auch in MP II 1, dem zweiten überlieferten Fragment zu dieser Erzählung namentlich erwähnt. 2 3 Der Markgraf Casimir von Brandenburg-Kulmbach, der Sohn des Markgrafen Friedrich IV. von Brandenburg, an dessen Hof Götz v. Berlichingen seine 20 21

22 23

Nicht in BAW. Bemerkenswerterweise hat Nietzsche aber das „fürstliche Schloß" (bei Goethe genauerhin: Schloßhof) übernommen. Vgl. BAW 1, 394. Vgl. BAW 1, 393.

263

Verklärt-reine Herbstlichkeit

J u g e n d verbracht hatte, hatte sich im Bauernkrieg zunächst abwartend verhalten, unternahm aber, als sich die Lage der Bauern verschlechterte, einen grausamen Rachefeldzug. 2 4 Der nächste auf Nietzsches Liste heißt Gerold Graf von Kastell 19 Jahr alt. Die Grafen von Kastel oder Castell hatten eine Standesherrschaft in Unterfranken inne; W o l f g a n g V. v. Castell spielte ebenfalls eine Rolle im fränkischen Bauernkrieg. Er gehörte 1525 zu den Verteidigern des W ü r z b u r g e r Schlosses. Einer seiner Söhne hieß Georg; möglicherweise ist aus diesem bei Nietzsche Gerold g e w o r d e n . 2 5 Auf ihn folgt in der Aufzählung Schloßvoigt Hans von Giech. Zabelstein. Ob Zabelstein dem Vogt zugeordnet ist oder bloß in der A u f z ä h l u n g folgt, ist nicht ganz klar. Giech ist ein altes fränkisches Adelsgeschlecht; Zobelstein oder auch Zabelstein w a r das Stammhaus des fränkischen Adelsgeschlechtes der Zobel. 2 6 Darauf folgen drei Namen, deren Provenienz ich nicht klären konnte: Sara Letheimin, Cuno und ein Leutereo Klunk von Budeleben. Einzig der letzte von diesen drei Namen hat einen A n k l a n g an den N a m e n einer historisch fassbaren Gestalt, den M e r g e n t h e i m e r Pfarrer Bernhardt Bubenleben, der im fränkischen Bauernkrieg dem „Bauernrat" angehörte. 2 7 Auch die beiden letzten Zeilen in Nietzsches Liste weisen in die Reformationszeit, bzw. in den fränkischen Bauernkrieg: Es werden dort genannt:

Hans l . u f t , Schwarbe Hildegardis.

Rotte (Rothenburger),

die Schlacht

bei Königshofen

und

Hans Lufft (1495—1584) war ein Wittenbergischer Buchdrucker, der im J a h r 1525 seine eigene Druckerei g e g r ü n d e t hatte und im Jahr 1534 die Bibelübersetzung Luthers druckte; Mit der Schwarzen Rotte ( R o t h e n b u r g e r ) ist w o h l ein „ H a u f e " 2 8 von aufständischen Bauern gemeint: Die Reichsstadt R o t h e n b u r g Schloß sich d e m Bauernaufstand an; von ihr g i n g der Aufstand im Taubertal aus. 2 9 So ließ er 60 Kitzinger Bürgern, denen er das Leben zugesichert hatte, die Augen ausstechen; zu Casimir vgl. G. Franz, Der Deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 1977, 203 — 208; R. F.ndres, „Probleme des Bauernkrieges in Franken", in: R. Wohlfeil [Hrsg.] Der Bauernkrieg 1524 — 1526, München 1975, 9 0 - 1 1 5 , 103f; 108; 110. Die Angaben zu den Personen und Adelsgeschlechtern stammen, wo nicht eigens vermerkt, aus der Neuen Deutschen Biographie, aus Brockhaus' Universal-Lexikon Leipzig 1882 ff. und aus Zedier, J. H. v., Crosses ] Vollständiges Universal-Lexikon Graz [Repr.], 1961 — 1964. 26 Ein Hans Zobel von Giebelstadt war in der zweiten Hälfte des 16. Jhdts. hochfürstlicher würzburgischer Rath- und Hofmeister. 27 Vgl. Franz, a. a. ( ) . 184; der „Bauernrat" gehörte zur Organisation der „Haufen", der Zusammenschlüsse der aufständischen Bauern im Taubertal: „An der Spitze des ganzen Haufens stand der oberste Feldhauptmann, als sein Stellvertreter der Leutnant und der Schultheiß. Zur Seite trat ihnen der Bauernrat, ohne dessen Wissen kein Brief empfangen und abgesandt werden durfte." (Franz, a. a. ().). 2" vgl. oben Anm. 27. 2" vgl. Franz, α. α. 0 . , 177 ff. 24

264

Hans Gerald Hödl

A m 2. Juni 1525 siegten die Truppen des schwäbischen Bundes unter Georg Truchseß von Waldenburg bei Königshofen über die aufständischen Bauern. Der Name „Hildegardis" ist, soweit ich sehe, in den hier erarbeiteten Kontext nicht einordenbar. Aus dem bisher Gesagten läßt sich allerdings Zeit, Ort und Setting der von Nietzsche geplanten Erzählung erschließen: Sie spielt zur Zeit des Bauernkrieges, also 1525, in Franken, das Thema dürfte somit in einem mit der Reformation verbundenen Problemfeld angesiedelt gewesen sein. Damit scheint die „Novelle" von Goethe als inhaltliche Quelle für Nietzsches Text auszuscheiden. Eine solche Quelle ist für diesen Text bislang auch noch nicht erschlossen. 30 Die Hauptfigur dürfte, wie vor allem aus der Fassung, in der sich keine eindeutigen Spuren der Lektüre von Goethes „Novelle" finden, hervorgeht, „Giso von Steinau" gewesen sein. 31 Dafür spricht auch, daß sich in einer

Hier soll nur nach Goethes Spuren in diesen Texten gefragt werden; es ist allerdings sicher, daß in Nietzsches frühesten Texten über das von H. J . Mette in BAW schon bereitgestellte Material hinaus direkte und indirekte Zitate aus und Paraphrasen auf zeitgenössische und klassische Literatur enthalten sind. So hat Mette ζ. B. die hier aufgezeigte Parallele zu Goethes Löwennovelle ebensowenig vermerkt wie er die von Nietzsche angeführten Personennamen erläutert hat. Auch H. J . Schmidt gibt in seiner ausführlichen Interpretation der Schriften des jungen Nietzsche von 1854 — 1858 kaum Hinweise zu den hier besprochenen Texten. So wie er beim ersten Gang dort, w o er Textanalyse betreibt, zwar ausführlich die Gedichte Nietzsches aus dem Jahre 1857 heranzieht, aber aus den hier behandelten Texten nur den Eingangspassus von MP II 1 (mit Hinweis auf die Dominanz der Sonne in den Prosatexten des Zeitraums) kurz zitiert (Vgl. H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit, Berlin-Aschaffenburg 1991, 304), spricht er im Abschnitt C des Teiles „Nietzsche absconditissimus" von „wenig ergiebigen (konventionellen) Prosatexten" (Schmidt, a. a. O., 764). Die im Bauernkrieg spielende Novelle „Der Pfarrer von Weinsperg' von Franz Freiherr von Gaudy, (in: ders.: Poetische und prosaische Werke, Neue Ausgabe, hrsg. Mueller, A. Bd 5. Berlin 1854), die Nietzsche 1857 bereits gekannt haben könnte (vgl. die Erwähnung Gaudys in der Disposition zu seinem Lebenslauf von 1858, BAW 1, 446) läßt keine Parallelität (weder inhaltlich noch in den Personennamen) zu unserem Textfragment erkennen. 31

In dieser Fassung wird auch noch die J a g d geschildert, wobei Giso von Steinau bei der Verfolgung eines Hirsches von den Jagdgefährten so weit abkommt, daß er keine sofortige Möglichkeit sieht, sich dem Trupp wieder anzuschließen. Der Text bricht mit den Sätzen ab: „Da faßte er den Entschluß sich auszuruhen und dann mit neuen Kräften die andern wieder auf

Z u m Begriff des Extratexts vgl. Mazzino Montinari: „ Z u m Verhältnis Lektüre-NachlaßWerk bei Nietzsche". In: editio 1 (1987), S. 249; und ders.: „Aufgaben der NietzscheForschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts". In: Sigrid Bauschinger, Susan L . Cocalis u. Sara L e n n o x (Hgg.): Nietzsche

heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968. Bern/Stuttgart: 1988. S. 138.

"' Z u m Begriff des Intertexts vgl. insbes. Renate Lachmann: „ E b e n e n des Intertextualitätsbegriffs". In: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning (Hgg.): Das Gespräch. München: 1984 ( = Poetik und Hermeneutik 11). S. 133 — 138; und Karlheinz Stierle: „Werk und Intertextualität". In: Ders. u. Rainer Warning (Hgg.): Das Gespräch, a . a . O . S. 139 — 150. 31

K G W V I / 2 Nr. 24, S. 4 1 7 , G M , „Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?".

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn von VIVETTA VIVARELLI, Florenz Die Un^eitgemässe Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben enthält Bilder eines lähmenden, erdrückenden Wissens, die Nietzsche recht einseitig zur Beschreibung des enormen Aufschwungs benutzt, den die Altertumswissenschaften und die historisch-philologischen Disziplinen im Gefolge der historischen Schule im Deutschland der zweiten Jahrhunderthälfte erfahren. Dennoch ist Nietzsche sich, wie den Fragmenten aus dem Umkreis der zweiten Unzeit gern ässen Betrachtung zu entnehmen ist, schon seit den Basler Jahren bewußt, daß die Kritik an den historischen Disziplinen keineswegs den Verzicht auf die Geschichte und den historischen Sinn beinhaltet. In einem Rückblick auf die Jahre von der Betrachtung über die Historie bis zu Menschliches, All^umenschliches bekennt Nietzsche ausdrücklich, daß er das, was er gegen die „historische Krankheit" gesagt habe, als einer sagte, „der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf ,Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte". 1 Wie Mazzino Montinari in seiner Nietzsche-Monographie ausführt, konnte Nietzsche, obwohl unter der „ historischen Krankheit" leidend, nicht ohne den „historischen Sinn" auskommen; er sei sich bewußt gewesen, nur durch eine bestimmte philologische und historische Tradition — also über die Gebrüder Schlegel und K. O. Müller, Creuzer und Welcker, Burckhardt sowie seinen Lehrer Ritsehl — zu seiner Auffassung des griechischen Dramas gelangt zu sein. 2 Trotzdem konnte Nietzsche es in dieser Zeit nicht unterlassen, in den vier Un^eitgemässen Betrachtungen „einen persönlichen· Kampf zur Verteidigung der Kultur mit den Waffen der Metaphysik und der Kunst zu führen". Eben darum scheint Nietzsche in seiner Betrachtung über die Historie einerseits jede kritische Bemerkung Goethes im Hinblick auf eine fruchtlose Gelehrsamkeit aufzunehmen; andererseits greift er dagegen sämtliche Hinweise auf die Möglichkeit einer schöpferischen Nutzung des Wissens auf und benutzt somit ein anderes, bei Goethe regelmäßig wiederkehrendes Motiv, nämlich das einer aufs Handeln abzielenden Wissenschaft. 1 2

Vorrede zu ΜΑ II, 1 (1886); KSA 2, S. 370. Vgl. Mazzino Montinari: Che cosa ha veramente detto Nietzsche,

Rom 1975, S. 66.

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

277

In den Aufzeichnungen, die der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung vorangehen, notiert sich Nietzsche mehrere Stellen Goethes, in denen dieser seine A b n e i g u n g g e g e n jedes abstrakte Wissen und seine Vorliebe für praktische und lebenfördernde Kenntnisse zum A u s d r u c k bringt. Es lohnt, sich vor A u g e n zu führen, welche unterschiedliche Rolle die Zitate und M o t i v e Goethes vor und nach der Wende von Menschliches, All^umenschliches spielen. Bekräftigt Nictzsche noch in den Jahren der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung seinen Angriff auf die Historie, indem er Goethe zitiert, so w i r d er sich einige Jahre später eher auf die historische Sensibilität Goethes als vorbildliche und richtungsweisende B e g a b u n g beziehen.

1. Die fruchtlose

Gelehrsamkeit

Das Vorwort der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung wird mit einem Goethezitat eingeleitet, das sich im Brief Goethes an Schiller v o m 19. Dezember 1798 befindet 3 und als Epigraph des Antihistorismus gelten könnte: Ü b r i g e n s ist m i r Alles verhasst, w a s m i c h bloss b e l e h r t , o h n e m e i n e T h ä t i g keit zu v e r m e h r e n , o d e r u n m i t t e l b a r zu b e l e b e n .

Anschließend berichtigt Nietzsche diese Feststellung teilweise und fügt hinzu: G e w i s s , w i r b r a u c h e n die H i s t o r i e , a b e r w i r b r a u c h e n sie a n d e r s , als sie d e r v e r w ö h n t e M ü s s i g g ä n g e r i m G a r t e n des W i s s e n s b r a u c h t . 4

Es ist interessant zu beobachten, wie die Betrachtungen Goethes über Kultur und Geschichte — erst als direkte Zitate, dann als ständige W i d e r spiegelungen im Bildergeflecht — Nietzsches anscheinenden P e r s p e k t i v w a n del im Hinblick auf das Wissen und den historischen Sinn begleiten. In den Aufzeichnungen Nietzsches zu der Historie, aus denen später die zweite Un^eitgemässe Betrachtung werden sollte (vgl. die N a c h l a ß f r a g m e n t e 29 [77] ff.; K S A 7, S. 663 ff.), zitiert Nietzsche mehrmals die Gespräche mit Eckermann und die Briefe Goethes, u m die lähmende Kraft des Überflusses an Kultur und historischem Wissen zu belegen: W i e sehr das h i s t o r i s c h e W i s s e n t ö d t e t , hat G o e t h e e i n m a l a u s g e d r ü c k t . „ H ä t t e ich so d e u t l i c h w i e jetzt g e w u s s t , w i e viel V o r t r e f f l i c h e s seit J a h r -

3

4

Die Stellen, die Nietzsche Goethes Werk in den Jahren der zweiten IJn^eitgemässen Betrachtung entnommen hat, sind in KSA Bd. 14 (Kommentar zur Kritischen Studienausgabe) nachgewiesen. KSA 1, S. 245.

278

Vivetta Vivarelli

hunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes gethan".

Nietzsche bezieht sich hier (vgl. KSA 14, S. 550) auf das Gespräch vom 16. Februar 1826. Bei einer Untersuchung der nachgelassenen Fragmente, die als Vorstufe der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung angesehen werden können, entdecken wir, daß Nietzsche mehrmals Ausschnitte aus Goethes Briefen und Gesprächen mit Eckermann verwendet, die er gegen die „historische Krankheit" zu benutzen gedenkt, dann aber nur zum Teil verwertet. Aus den Gesprächen mit Eckermann führt Nietzsche eine Bemerkung an, in der die Geschichte als eine Art Krücke für die starken und schöpferischen Naturen in der Wüste der Gegenwart anerkannt wird. 5 Diese Bemerkung wird von Nietzsche im zweiten Kapitel der Betrachtung über die Historie zitiert: Die Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen, dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So gehörte sie Schillern: denn unsere Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, dass dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. (HL 2; KSA 1, S. 258)

Eine weitere Aussage Goethes, nach der die große deutsche Geschichtsschreibung einiges Verdienst habe, notiert Nietzsche in den Heften aus dem gleichen Jahr. Goethe drückt hier seine Schuldigkeit und Dankbarkeit gegenüber Niebuhr aus, dem es gelinge, sich in den Geist der Ackergesetze zu versetzen; sie interessieren Goethe zwar nicht als solche, aber es fasziniert ihn, wie der Historiker deren Sinn zu verdeutlichen versteht. 6 In seinen Aufzeichnungen notiert Nietzsche einige weitere Bemerkungen Lichtenbergs und Goethes, die dem Vergleich der historischen Bildung mit der Gelehrsamkeit dienen sollen (29[80], KSA 7, S. 664 f.). In der von Nietzsche aufgeschriebenen Stelle ( M a x i m e n und Reflexionen 770), wehrt sich Goethe gegen die Verbreitung einer Unmenge von gelehrtem Wissen, welches in einer sich immer schneller ändernden Welt den einzelnen fast zu überfluten droht: Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel daran sein. Das Wissen fördert nicht mehr, bei dem schnellen Umtrieb der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst. 7

Ferner finden wir eine weitere Feststellung 8 aus Goethes Maximen und Reflexionen in der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung. Goethe behauptet, die Wissenschaften, die eigentlich alle esoterisch seien, wirkten nur dank einer 5 6 7 8

29[78]; Vgl. 29 29[80]; 29[84];

KSA [78]; KSA KSA

7, S. KSA 7, S. 7, S.

664. (Gespräche mit E c k e r m a n n , 21. J u l i 1827). 7, S. 664. (Goethes Brief an Zelter v o m 17. J a n u a r 1831). 665. 666. Vgl. K S A 14, S. 550.

279

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

e r h ö h t e n Praxis auf die ä u ß e r e Welt u n d w ü r d e n exoterisch, i n d e m sie zur V e r b e s s e r u n g u n d F ö r d e r u n g i r g e n d e i n e s T u n s b e i t r ü g e n . Eine ü b e r t r i e b e n e V e r b r e i t u n g derselben f ü h r e h i n g e g e n z u m M i ß b r a u c h u n d b r i n g e m e h r S c h a d e n als N u t z e n . G o e t h e s B e h a u p t u n g w i r d von Nietzsche in der z w e i t e n Betrachtung zitiert:

Un^eitgemässen

Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden [...] Als letztes und natürliches Resultat ergiebt sich das allgemein beliebte „Popularisiren" (nebst „Feminisiren" und „Infantisiren") der Wissenschaft, das heisst das berüchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des „gemischten Publicums" [...] Goethe sah darin einen Missbrauch und verlangte, dass die Wissenschaften nur durch eine erhöhte Praxis auf die äussere Welt wirken sollten. (HL 7; KSA 1, S. 301) Schließlich w i r d in den N o t i z b ü c h e r n dieser P e r i o d e eine Ä u ß e r u n g G o e t h e s w i e d e r g e g e b e n , die den Unterschied z w i s c h e n W a h r h e i t u n d Schein mit Hilfe eines T e r m i n u s aus d e m Bereich d e r P h y s i o l o g i e v e r a n s c h a u l i c h t : D a s W a h r e sei i m m e r nützlich und fruchtbar, das Falsche erscheine d a g e g e n im wesentlichen als tot u n d u n f r u c h t b a r , g l e i c h einer N e k r o s e , bei w e l c h e r der a b s t e r b e n d e Teil den noch lebenden d a r a n hindert, die H e i l u n g v o r a n zutreiben/'' In den Gesprächen mit Eckermann (13. F e b r u a r 1831) hebt G o e t h e das Fehlen v o n M ä n n l i c h k e i t in der zeitgenössischen K u n s t ironisch h e r v o r : Allein doch fehlet diesen Bildern allen etwas, und zwar: das Männliche. — Merken Sie sich dieses Wort, und unterstreichen Sie es. Es fehlt den Bildern eine gewisse zudringliche Kraft, die in früheren Jahrhunderten sich überall aussprach und die dem jetzigen fehlt, und zwar nicht bloß in Werken der Malerei, sondern auch in allen übrigen Künsten. Es lebt ein schwächeres Geschlecht, von dem sich nicht sagen läßt, ob es so durch die Zeugung oder durch eine schwächere Erziehung und Nahrung. Auch Nietzsche, der die Geschichte f ü r „das F , w i g - M ä n n l i c h e " hält, beschreibt d i e j e n i g e n , die sich mit d e m A l t e r t u m u n d der V e r g a n g e n h e i t befassen, als „ein Geschlecht v o n fc^unuchen", die „das fc/wig-Weibliche nie hinanziehen w i r d " ( H L 5; K S A 1, S. 284). Nietzsche w e i ß sehr w o h l , d a ß G o e t h e s A b n e i g u n g g e g e n die G e l e h r s a m keit keinesfalls die A b k e h r v o n e i n e m historischen F e i n g e f ü h l v e r l a n g t . G e r a d e dieser A s p e k t w i r d Nietzsche letztendlich in den J a h r e n v o n Menschliches, All^umenschliches G o e t h e noch näher b r i n g e n . S o auch das f o l g e n d e

'' Vgl. 29[84]; KSA 7, S. 666. Goethes Bemerkung findet sich in den Schriften Naturphilosophie·. Jubiläums-Ausgabe, Bd. 38, S. 118.

^ur IJteratur

und

280

Vivetta Vivarelli

F r a g m e n t v o m S o m m e r - H e r b s t 1 8 7 3 , das einige T h e m e n des 3 3 7 der Fröhlichen

Wissenschaft

Aphorismus

v o r w e g z u n e h m e n scheint, in d e m N i e t z s c h e

die B e d e u t u n g des historischen Sinnes für den m o d e r n e n M e n s c h e n (und die z u k ü n f t i g e M e n s c h h e i t ) erläutert: Der historische Sinn des Deutschen wurde offenbar in dem Sturm der Empfindung, mit der Goethe an Erwin von Steinbach dachte: im Faust, in W < agner > 's R < ing > d < es > Ν < ibelungen > , in Luther, in dem deutschen Soldaten, in Grimm. Ein Hindurchfühlen und -Ahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein Herauslesen des Palympsest, ja Myriopsest — vieles Irren Vergreifen möglich! 10 D i e s e B e s c h r e i b u n g des h i s t o r i s c h e n Sinns k e h r t in der zweiten gemässen

Betrachtung

Un^eit-

wieder, in der die s o n d e r b a r e M i s c h u n g v o n intuitivem

V e r m ö g e n und p h i l o l o g i s c h e r B e g a b u n g n o c h klarer wird: f...] ein Hindurchfühlen und Herausahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein instinktives Richtig-Lesen der noch so überschriebenen Vergangenheit, ein rasches Verstehen der Palympseste, ja Polypseste das sind seine Gaben und Tugenden. Mit ihnen stand Goethe vor dem Denkmale Erwin's von Steinbach; in dem Sturme seiner Empfindung zerriss der historische zwischen ihnen ausgebreitete Wolkenschleier: er sah das deutsche Werk zum ersten Male wieder, „wirkend aus starker rauher deutscher Seele". 1 ' A n dieser Stelle wird der historische Sinn einerseits fast r o m a n t i s c h als die F ä h i g k e i t b e s c h r i e b e n , die V e r g a n g e n h e i t s p r e c h e n zu lassen, um mit ihr in E i n k l a n g zu k o m m e n und sie als einen S t u r m v o n E m p f i n d u n g e n wiederzuerleben. A n d e r e r s e i t s erscheint er als die rein a n s c h a u e n d e F ä h i g k e i t , s c h o n fast v e r l o s c h e n e S p u r e n zu „ w i t t e r n " und aufzufinden, w o b e i j e d o c h die p h i l o l o g i s c h e G e s c h i c k l i c h k e i t im L e s e n und I n t e r p r e t i e r e n der V e r g a n g e n h e i t — als handle es sich bei ihr um einen P a l i m p s e s t mit unzähligen S c h i c h t e n — n i c h t v e r n a c h l ä s s i g t wird. D e r s e l b e Sinn, fügt N i e t z s c h e m i t einem Zitat Jakob

Burckhardts

hinzu, führte die Italiener der R e n a i s s a n c e zu

„ w u n d e r s a m e n W e i t e r k l i n g e n des uralten

Saitenspiels".12

einem

W i e N i e t z s c h e einige

J a h r e später festhalten sollte, handelt es sich hier um eine B e f ä h i g u n g , die das Z e i c h e n ü b e r l e g e n e r K u l t u r ist: Die historischen Studien [...] fordern uns fortwährend auf, bei Anlaß eines Stückes Geschichte, eines Volkes — oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, daß man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen

11

12

29[136]; K S A 7, S. 691. H L 3; K S A 1, S. 265 f. In K S A 14, S. 67, wird die von Nietzsche zitierte Goethe-Stelle

angegeben (vgl. Goethe, Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini an Steinbach, Vgl. Die Kultur der Renaissance in Italien, Leipzig 1869, S. 200, BN.

1773).

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

281

schnell rekonstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehengebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. (MA 274)

Die historischen Studien bergen jedoch nach Nietzsche die Gefahr, daß man wie die romantische Bewegung aus Eitelkeit versucht, die Vergangenheit nachzuempfinden und damit „zu viel Kraft an alle möglichen Todten-Erwekkungen" wegwirft (M 159).

2. Urväter-Hausrat

oder unschätzbares

Erbe

Um die Distanz zwischen den Stellungnahmen aus der Zeit der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung und derjenigen der Fröhlichen Wissenschaft im Hinblick auf den historischen Sinn und das kulturelle Erbe ermessen zu können, kann es hilfreich sein, die Benutzung eines Goethezitates genauer zu untersuchen: Die Geschichte gehört [...] dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist; durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen — und so dient er dem Leben. Der Besitz von Urväter-Hausrath verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet. (HI. 3; KSA 1, S. 265)

Die poetische Wendung „Urväter-Hausrat" verweist den Leser auf die stickige, staubige Atmosphäre des faustschen Studierzimmers: Beschränkt von diesem Bücherhauf, Den Würme nagen, Staub bedeckt, Den, bis ans hohe Gewölb hinauf, Ein angeraucht Papier umsteckt; Mit Gläsern,Büchsen rings umstellt, Mit Instrumenten vollgepfropft, Urväter Hausrat drein gestopft — {Faust I, 4 0 2 - 4 0 8 )

Im Textzusammenhang bekommt Nietzsches Anspielung einen ironischen Beigeschmack. Dies wird klar, wenn Nietzsche den „Urväter-Hausrat" für „klein, beschränkt, morsch und veraltet" erklärt. In Aphorismus 337 der Fröhlichen Wissenschaft, worin sich Nietzsches Perspektive bedeutend ausweitet

282

Vivetta Vivarelli

und die gesamte Geschichte der Menschheit umfaßt, wird dieses Erbe dagegen als unerschöpflicher Reichtum bezeichnet, vergleichbar dem goldenen Erguß der Sonne beim Untergang ins Meer: [...] als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, las der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte: diess Alles auf seine Seele nehmen, Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit: diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: — diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, — eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in's Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Der Mensch des historischen Sinnes ist selbst zur Sonne, dem Sinnbild Gottes in der metaphysischen Tradition, geworden; er ist wie diese „gerecht, gnädig und sonnenhaft gegen alle Dinge". (12 [82]; KSA 9, S. 591)

Die Vergänglichkeit aller Dinge, die Mark Aurel in seinen Ermahnungen an sich selbst einprägsam beschrieb, wird von dem Schaffenden umgewertet, sie ist jetzt Verschwendung und Reichtum. Jener Kaiser hält sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht wichtig zu nehmen und ruhig zu bleiben. Auf mich wirkt die Vergänglichkeit ganz anders — mir scheint alles viel mehr werth zu sein als daß es so flüchtig sein dürfte — mir ist als ob die kostbarssten Weine und Salben ins Meer gegossen würden. (12 [1451; KSA 9, S. 601)

In der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung wurde eine solche geistige Errungenschaft nicht für möglich gehalten und lediglich in die ferne griechische Vergangenheit zurückprojiziert: Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befinden, nämlich an der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangene, an der „Historie" zu Grunde zu gehen [...] Die Griechen lernten allmählich das Chaos organisieren [...] sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden selbst [...] die glücklichsten Bereicherer und Mehrerer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker. (HL 10; KSA 1, S. 333)

Hier kommt meines Erachtens Nietzsches ambivalente Haltung zur Vergangenheit klar zum Vorschein: nur wenn man imstande ist, „das Chaos zu organisieren", kann „der ererbte Schatz" eine positive Wirkung haben und fruchtbar sein. Dieselbe Verbindung einer Ansammlung von Erkenntnissen mit einem wirtschaftlich zu verwaltenden Erbe findet sich auch in Goethes

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

283

G e s p r ä c h mit E c k e r m a n n v o m 18. N o v e m b e r 1828, der die K u l t u r des D a n t e A l i g h i e r i mit d e m Erbe des H a u s e s R o t h s c h i l d v e r g l e i c h t : Man muß etwas sein, um etwas zu machen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Kultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Rothschild ist reich, aber es hat mehr als ein Menschenalter gekostet, um zu solchen Schätzen zu gelangen. Dieser R e i c h t u m ist aber f ü r Nietzsche — anders als bei G o e t h e — nicht m e h r nur ein Erbe, das die b ü r g e r l i c h e L e b e n s f o r m b e w a h r t u n d v e r m e h r t , sondern er b r i n g t einen n e u e n g e i s t i g e n Adel hervor. D a s ist der G r u n d dafür, daß der historische S i n n den s o r g s a m g e h ü t e t e n , v e r s t a u b t e n F a m i l i e n hausrat in ein segensreiches Elrbe v e r w a n d e l t , das sich i m L a u f e v o n G e n e rationen a n g e s a m m e l t hat u n d n u n v o n a n t i k e m g e i s t i g e n A d e l z e u g t . Was die B e w e r t u n g des R e i c h t u m s betrifft, des m a t e r i e l l e n w i e des geistigen, scheint m i r G o e t h e auf jeden Fall ein w i c h t i g e s V o r b i l d f ü r Nietzsche g e w e s e n zu sein. Bei G o e t h e hat der Besitz auch f ü r die G e m e i n s c h a f t A u s w i r k u n g e n , i n d e m er z u m „ G e m e i n g u t " w i r d . Ich v e r m u t e s o g a r , d a ß das zentrale M o t i v des D i t h y r a m b u s Von der Armuth des Reichsten („Niemand d a n k t dir mehr,/ du aber d a n k s t Jedem,/ der v o n dir nimmt:/ daran e r k e n n e ich dich,/ du Überreicher,/ d u Ärmster aller R e i c h e n ! " ) 1 3 v o n G o e t h e s t a m m t . Nietzsche w i r d sicher die f o l g e n d e Stelle aus Wilhelm Meisters Wanderjahren g e k a n n t haben: Warum schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der Bedürftigste, überall Teilnehmer an seinem Uberflusse wünscht? Warum beneiden alle Menschen den Dichter? Weil seine Natur die Mitteilung nötig macht, ja die Mitteilung selbst ist. Der Musiker ist glücklicher als der Maler, er spendet willkommene Gaben aus, persönlich unmittelbar, anstatt daß der letzte nur gibt, wenn die Gabe sich von ihm absonderte. Nun hieß es ferner im allgemeinen: Jede Art von Besitz soll der Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann; er muß Egoist sein, um nicht Egoist zu werden, zusammenhalten, damit er spenden könne [...] Das Kapital soll niemand angreifen, die Interessen werden ohnehin im Weltlaufe schon jedermann angehören. (Erstes Buch, Sechstes Kapitel) Nietzsche s t i m m t e w o h l mit dieser A u f f a s s u n g G o e t h e s ü b e r e i n , die z u m Teil an den Sinn v o n M a n d e v i l l e s Bienenfabel erinnert, dessen Untertitel Private vices, public benefits er p a r a p h r a s i e r t e u n d v a r i i e r t e . 1 4 In d e m D i t h y r a m b u s und auch im N a c h t l i e d Z a r a t h u s t r a s w i r d aber der G e g e n s a t z Reichtum/ A r m u t h v o n Nietzsche in F o r m eines O x y m o r o n w e i t e r g e t r i e b e n ( „ D a s ist m e i n e A r m u t h , dass meine Hand niemals a u s r u h t v o m S c h e n k e n " ) , i n d e m er

" Dionysos-Dithyramben; KSA 6, S. 409. 14

Vgl. ζ. B. S E I ; KSA 1, S. 338, und MA 482; KSA 2, S. 316 und den Kommentar dazu.

284

Vivetta Vivarelli

das Gefühl der bitteren Einsamkeit aller Schenkenden unterstreicht, weil niemand imstande ist, die Gaben als solche zu erkennen und anzunehmen: Der Optimismus der Goethezeit — so wie der optimistische Akzent der Werke Nietzsches vor dem Zarathustra — ist nunmehr verschwunden.

3. Emerson

und Goethe: die schöpferische

Beherrschung

der

Mannigfaltigkeit

Die Neubewertung der Geschichte und des historischen Sinnes geschieht durch eine einfache Akzentverschiebung von der verstaubten Gelehrsamkeit zum Gefühl des Glückes und Reichtums des historischen Gedächtnisses. Sie scheint mit dem Verzicht auf alle metaphysischen und künstlerischen Illusionen einherzugehen, mittels derer Nietzsche die Modernität kritisiert hatte. Montinari hebt in seinem Nachwort zur Un^eitgemässen Betrachtung über Schopenhauer treffend hervor, daß „die von der neuen Philosophie für freie Geister gestellte Diagnose zur Zivilisationskrise zwar die gleiche war, Nietzsche aber zu anderen Antworten und Heilungsverfahren kam".' 3 Diese Entwicklung beginnt in den Jahren von Menschliches, All^umenschliches und findet ihren Höhepunkt in Morgenrötbe und in der Fröhlichen Wissenschaft. Nietzsche überdenkt seine eigene Ansicht in bezug auf die Geschichte, die er in der zweiten Un^eitgemässen Betrachtung geschildert hatte, wobei er einige Bemerkungen aus Emersons Aufsatz „Geschichte" hinzuzieht. Die eindrucksvolle Beschreibung Goethes, die Emerson innerhalb seiner Essays on Representative Menxb lieferte, war möglicherweise für die Wende in Nietzsches Denken entscheidend. Mit Emersons Augen wirft Nietzsche einen neuen Blick auf die historische Sensibilität des Genies, das den Reichtum eines Jahrhunderts in sich zu organisieren und aufzunehmen versteht und in künstlerischer Darstellung wieder hervorbringt, sich dabei jedoch leicht und frei von aller hemmenden Gelehrtheit und ,antiquarischen' Last bewegt. In Goethe, so wie ihn Emerson beschreibt, erkennt Nietzsche die belebende, statt lähmende Wirkung einer vom Genie organisierten und beherrschten Masse historischen Stoffs: Goethe, in ein Jahrhundert eintretend, in ein Land, in denen durch die Wucht übermäßiger Bildung jedes ursprüngliche Talent unter Büchern, unter mechanischen Hülfsmitteln, unter einem Ubermaße verschiedenartiger A n f o r d e r u n g e n ersticken mußte, lehrte die Menschen, dies G e b i r g e v o n Einzelheiten zu überwältigen und sich dienstbar zu machcn. Ich stelle Napoleon neben ihn. Beide waren sie Repräsentanten der ungeduldigen Reaction der

13 16

F. Nietzsche, Schopenhauer come educatore, Mailand 1983, S. 109. In Nietzsches nachgelassener Bibliotehk befindet sich die deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes: Ralph Waldo Emerson: Uber Goethe und Shakespeare. Aus dem Englischen nebst einer Kritik der Schriften Emersons v. Hermann Grimm, Hannover 1857.

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

285

Natur gegen das ewige Zurschaustellen conventioneller todtgeborener Dinge und Gedanken f...]. (R. W. Emerson, Uber Goethe und Shakespeare, Hannover 1857, S. 44 ) Und weiter: Das ist die letzte Lehre der heutigen Wissenschaft, daß die höchste Einfachheit des Organismus nicht durch wenige Elemente, sondern durch das complicierteste Zusammenwirken hervorgebracht wird.f...] Von allen (Kreaturen ist der Mensch diejenige, an deren Bildung das Meiste sich vereinigen muß.[...| Wir müssen es lernen, die ungeheure Erbschaft der alten und neuen Zeit zinsbringend anzulegen. {Ebd., S. 45) In e i n e m A p h o r i s m u s aus der Göti^endämmerung w e r d e n die N a t ü r l i c h k e i t u n d der R e a l i s m u s G o e t h e s (dessen g r ö ß t e s E r l e b n i s „jenes ens r e a l i s s i m u s , g e n a n n t N a p o l e o n , w a r " ) auch von Nietzsche h e r v o r g e h o b e n , d e m G o e t h e als „ g r o s s a r t i g e r V e r s u c h " galt, „das a c h t z e h n t e J a h r h u n d e r t d u r c h eine R ü c k k e h r zur N a t u r " zu ü b e r w i n d e n ( G D 49; K S A 6, S. 151). A m A n f a n g v o n E m e r s o n s Aufsatz über G o e t h e steht eine G e s a m t s c h a u der v o n der Geschichte hinterlassenen S p u r e n , die sich z u g l e i c h d e m Gedächtnis des M e n s c h e n e i n g e p r ä g t haben: Das in die Tiefe stürzende Felsstück hinterläßt seine Schrammen am Gebirge, der Fluß sein Bett im Boden, das Thier seine Knochen im Erdreich, Farnkräuter und einzelne Blätter ihr bescheidenes Denkmal in den Kohlenschichten; der fallende Tropfen arbeitet sein Bildniß in den Stein oder den Sand ein, und jeder Schritt durch den Schnee oder über das Feld hin, druckt in mehr oder weniger bleibenden Zügen die Karte des Weges, den er eingeschlagen. Jede Handlung eines Menschen ist im Gedächtnisse seiner Zeitgenossen, in seinem eigenem Benehmen, auf seinem Antlitze zu lesen. Voll von Klängen sind die Lüfte, voll von Thatsachen die Gewölke des Himmels, und der Grund und Boden, auf dem wir stehen, ist eine große Gedächtnistafel mit deutlicher Schrift beschrieben. (A. a. O., S. 4) P^in ähnliches G e f ü h l b r i n g t Nietzsche in A p h o r i s m u s 223 v o n Meinungen und Sprüche z u m A u s d r u c k :

Vermischte

Wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. E m e r s o n , der G o e t h e als einen P h i l o s o p h der V i e l f a l t darstellt, der ein reiches W i s s e n schöpferisch v e r w e n d e n u n d b e h e r r s c h e n kann, u n t e r s t r e i c h t die „ S o n n e n h a f t i g k e i t " des Genies, seine w a r m e Z u n e i g u n g zur W e l t u n d den D i n g e n . So regt er Nietzsche zu einer R e i h e v o n Bildern an, in d e n e n die s o n n e n h a f t e A u f f a s s u n g des g e n i a l e n I n d i v i d u u m s der w i n t e r l i c h e n S t r e n g e des S c h o p e n h a u e r s c h e n Genies g e g e n ü b e r s t e h t . Die S o n n e n h a f t i g k e i t

286

Vivetta Vivarelli

des Genies ist für Nietzsche auch Ergebnis der Ansammlung geschichtlicher Spuren im Gedächtnis. „Unser Auge ist sonnenhaft, sonst sähe es die Sonne nicht", schreibt Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen, in Anlehnung an eine Maxime Goethes, die auf Plotin zurückgeht, und spielt damit auf den Geist an, der „die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln muß". Diesen Vorlesungen, die er an der Universität Basel in den Wintersemestern 1868—1873 hielt, hat Nietzsche selbst beigewohnt. In den neuen Perspektiven, die sich Nietzsche durch die Geschichte eröffnen, spiegelt sich sicherlich auch die Freundschaft zu dem Basler Historiker wider, der im Bewußtsein seiner großen „Verpflichtungen gegen die Vergangenheit" den historischen Sinn folgendermaßen beschreibt: Und nun gedenken wir auch der Größe unserer Verpflichtung gegen die Vergangenheit als ein geistiges Kontinuum, welches mit zu unserem höchsten geistigen Besitz gehört. Alles, was im entferntesten zu dieser Kunde dienen kann, muß mit aller Anstrengung und Aufwand gesammelt werden, bis wir zur Rekonstruktion ganzer vergangener Geisteshorizonte gelangen. Das Verhältnis jedes Jahrhunderts zu diesem Erbe ist an sich schon Erkenntnis, d. h. etwas Neues, welches von der nächsten Generation wieder als etwas historisch Gewordenes, d. h. Überwundenes zum Erbe geschlagen werden wird. 1 7

Um in diesem Gedankenzusammenhang den Symbolwert des Sonnenuntergangs zu verstehen, der den Abschluß des Aphorismus über den historischen Sinn bildet (FW 337), muß an Schopenhauer erinnert werden, der in Paragraph 35 von Die Welt als Wille und Vorstellung seine Reflexionen zur Geschichte mit einem Bild von Vergeudung und Reichtum beendet. Die Geschichte erscheint ihm als eine blinde Kombination von Möglichkeiten: Könnten wir mit Hilfe von Goethes Erdgeist einen Blick in das Reich der unendlichen verpaßten Möglichkeiten werfen, die bei ihrer Entstehung durch den unbedeutendsten Zufall gehemmt wurden, dann würden wir „schaudern und wehklagen" über die Verschwendung herrlicher Kräfte, über die „verlorenen Schätze ganzer Weltalter". Dies alles — so Schopenhauer — „aufgrund des unerschöpflichen Charakters der Quelle potentieller Energien, die der Wille allein ist, das Ding an sich, die ewige Quelle aller Erscheinungen": Die Quelle, aus der die Individuen und ihre Kräfte fließen, ist unerschöpflich und unendlich wie Zeit und Raum: denn jene sind, eben wie diese Formen aller Erscheinung, doch auch nur Erscheinung, Sichtbarkeit des Willens. Jene unendliche Quelle kann kein endliches Maß erschöpfen.

17

J. Burckhardt: Gesamtausgabe, 1929, Bd. 7, S. 6.

hrsg. von A. Oeri und E. Dürr, Stuttgart, Berlin und Leipzig

287

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

Wenn Nietzsche mit Schopenhauer auch die tiefe Abneigung gegen alle Geschichtsphilosophie und geschichtliche Teleologie, gegen jegliches Hegelsche Entwicklungs- und Rationalitätsmodell teilt, so befremdet ihn doch Schopenhauers Pessimismus gegenüber der Welt der Erscheinungen, die für Nietzsche die einzig reale Welt ist. Er verlagert das Bild des unerschöpflichen Reichtums und der Vergeudung des Willens — der für Schopenhauer, wie die Sonne, verborgener Antrieb des Lebens und deshalb auch der Welt ist — bewußt auf das erkennende Subjekt, das seine Vergangenheit als etwas ihm Zugehöriges erfährt, zu dem es jederzeit Zugang hat. Dieser sichere menschliche Besitz, der sich in der langen Kette von Generationen angesammelt hat, ist für Nietzsche wahrer Reichtum. Dieser Reichtum des historischen Gedächtnisses begründet die großzügige Haltung und die „sonnenhafte" Verschwendung gegenüber der Menschheit. Diese Auffassung ist auch und vor allem vor dem Hintergrund der erneuten Lektüre von Emersons Aufsatz „Geschichte" zu sehen, die Nietzsche nach dem Jahre 1881 unternahm. Anhand der zahlreichen Exzerpte, die Nietzsche besonders aus dem genannten Aufsatz notiert, kann überprüft werden, welche Rolle Emerson bei Nietzsches Rückbesinnung auf die Geschichte spielt. Ausgehend von Emerson knüpft er an Gedanken aus der Zeit der zweiten Um^eitgemässen Betrachtung an, wobei sich das Gewicht vom Gefühl des Erdrücktseins auf das Gefühl des vom Erbe der Vergangenheit ausgehenden Reichtums verschiebt. Der Aphorismus über den historischen Sinn (FW 337), der in der Aufforderung gipfelt, die gesamte Menschheitsgeschichte als die eigene Geschichte zu erleben („wer die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss"), kann auf die folgende Paraphrase eines Satzes Emersons zurückgeführt werden, den Nietzsche in die erste Person setzt: Ich w i l l die g a n z e G e s c h i c h t e in e i g n e r P e r s o n d u r c h l e b e n f . . . ]

4. Der „unvornehme Sinn" und die Aneignung

des

18

Fremden

Diese Reflexionen stellen innerhalb der Phase des humanistischen Optimismus Nietzsches, der den Jahren des Zarathustra vorangeht, einen Endpunkt dar. Nachdem Nietzsche eine radikale historische Analyse aller moralischen Gefühle in der Morgenröthe vorgenommen hat, sucht er jetzt eine 18

17 [5]; KSA 9, S. 666. Das Fragment gehört zu den Exzerpten aus Emersons Versuchen, die zum ersten Mal von E. Baumgarten veröffentlicht wurden; vgl. KSA 14, S. 657.

288

Vivetta Vivarelli

Theorie der ästhetischen Wahrnehmung als Endergebnis der angesammelten Erfahrungen von Generationen von Künstlern des Sehens und des perspektivischen Blicks zu formulieren. Was zu diesem Zeitpunkt als Voraussetzung für einen neuen geistigen Adel erscheint, d. h. der „historische Sinn" und das Bewußtsein, Erben einer tausendjährigen Vergangenheit zu sein, wird einige Jahre später dagegen als ein „unvornehmer Sinn" und „Plebejer — Neugierde" bezeichnet, da jede vornehme Kultur sehr zurückhaltend in bezug auf alles Fremdartige sei ( J G B 224). Auch das Wort „fremd" erhält in dem neuen, erweiterten Gesichtskreis Nietzsches einen positiven Wert. Der „europäische Mischmensch" des historischen Sinnes sei als moderne Seele imstande, jede Halbbarbarei, die fremdesten Lebensweisen und jede „Geschmacks — Synthesis" wie zum Beispiel Shakespeare als etwas Vertrautes anzunehmen und zu genießen: [...] wir f...] lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaia Neapels: wo wir mit allen unseren Sinnen, bezaubert und willig, unseres Wegs gehen, wie sehr auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. ( K S A 5, S. 159)

In den Gesprächen mit Eckermann drückte Goethe seine Bewunderung für englische Schriftsteller wie Smollet oder Byron aus, die die Wirklichkeit getreu wiedergeben und die es wenig kümmert, ob ein Gegenstand poetisch oder unpoetisch ist: Eine unmittelbare Darstellung [...] das wirkliche Leben steht vor uns, wie es ist, oft widerwärtig und abscheulich genug, aber im ganzen immer heiteren Eindruckes, wegen der ganz entschiedenen Realität (5 Juli 1827).

Der „überzeugte Realist" Goethe bleibt für Nietzsche ein unübertroffenes Vorbild, einerseits wegen seiner unersättlichen Neugierde und seiner Fähigkeit, sich in Fremdes einzufühlen und es sich anzueignen, andererseits wegen seiner Toleranz, „nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehen würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss" ( G D 49; K S A 6, S. 151). Wie der moderne Mensch des „historischen Sinnes" sei Goethe voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend: er verneint nicht mehr. Nach einem Fragment vom Herbst 1887 (9[3]; K S A 12, S. 341) vermittelt er „zwischen dem Geschmack des 18. Jahrhunderts und dem des „historischen Sinnes" (— der wesentlich ein Sinn des Exotism ist)". In einem Fragment aus derselben Zeit (9[179]), das als Vorstufe zu Aphorismus 49 der Göt^endämmerung angesehen werden kann, schreibt Nietzsche: In einem gewissen Sinn hat das 19. Jahrhundert alles das auch erstrebt, was Goethe für sich gethan hat: eine Universalität des Verstehen, Gutheißens,

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

289

An sich-herankommen-lassens ist ihm zu eigen; ein v e r w e g e n e r Realismus, eine Eihrfurcht vor den Thatsachen — wie k o m m t es, daß das Gesamtresultat kein Goethe sondern ein Chaos ist, [...]. ( K S A 12, S. 444)

Goethe, der in der Sicht Nietzsches mit seinem weitgespannten Geist wesentliche Z ü g e der Modernität v o r w e g n i m m t , unterscheidet sich v o m 19. Jahrhundert, weil er mit seiner plastischen Kraft imstande ist, das Chaos zu beherrschen und Vergangenes und Fremdes in sich aufzunehmen.

5. Goethe gegen

Schopenhauer

In der Zeit zwischen Menschliches, All^umenschliches und der Fröhlichen Wissenschaft spürt Nietzsche ein weiteres Motiv bei Goethe auf, um Schopenhauers Genieauffassung anzugreifen. Gegen die seltsam statische Erkenntnisweise des Schopenhauerschen Genies erarbeitet er eine Auffassung der Philosophie und des Geniebegriffs, die an den Lauf der Geschichte g e b u n d e n ist und als Ergebnis einer Reihe unzähliger Vermittlungen und Erkenntnisse seitens des einzelnen und seiner Vorfahren dasteht. Goethe ist ihm das Modell einer durch S e h ü b u n g e n und g r o ß z ü g i g e H i n w e n d u n g zur Welt erworbenen Begabung. G e g e n ü b e r der Anschauung, mit der das Schopenhauersche Genie wie durch ein Wunder in das Herz der D i n g e dringt, behauptet Nietzsche eine Kunst des Lernens, die Goethe und Raffael als „grosse L e r n e r " vereinigt, da sie „nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten" (M 540) waren. Dieser Aphorismus der Morgenröthe, in dem Nietzsche als Modelle einer solchen Geistesauffassung Goethe und Raffael nennt, w u r d e durch eine Bemerkung Goethes angeregt, die Eckermann im Gespräch v o m 4. J a n u a r 1827 aufgezeichnet hat. Goethe geht hier von der B e h a u p t u n g aus, es gehe eine „Filiation" durch die gesamte Kunstgeschichte, denn ( . . . ] sieht man einen g r o ß e n Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner V o r g ä n g e r benutzte und daß eben dieses ihn g r o ß machte.

Und er schließt mit den Worten: M ä n n e r w i e Raffael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußten auf der Antike und dem Besten, was v o r ihnen gemacht w o r d e n . Hätten sie die A v a n t a g e n ihrer Zeit nicht benutzt, so w ü r d e w e n i g von ihnen zu sagen sein.

Für Goethe sprießt das Genie also nicht wie von selbst aus d e m Boden. Die Vorstellung eines plötzlichen, wurzellosen E m p o r w a c h s e n s widerstrebt ihm, wie man auch dem Anfang des dritten Gesanges von Hermann und Dorothea entnehmen kann:

290

Vivetta Vivarelli

Soll doch nicht als ein Pilz der Mensch dem Boden entwachsen Und verfaulen geschwind an dem Platze, der ihn erzeugt hat Keine Spur nachlassend von seiner lebendigen Wirkung! 1 5

In Aphorismus 145 von Menschliches, All^umenschliches macht Nietzsche das Goethesche Bild des „aus dem Boden Aufsteigens" zum Leitmotiv des vierten Hauptstücks und verbindet es mit der zauberhaften Atmosphäre, die von allem Vollkommenen ausgeht und somit die Frage nach dem Werden ausschließt. Die Anspielung auf den Geniebegriff Schopenhauers ist eindeutig. Was Menschen die Vollkommenheit oder das Genie als etwas Zauberhaftes zu bewundern veranlaßt, als handele es sich — mit Goethe zu sprechen — um eine von einem Tag auf den anderen gewachsene Pflanze, ist das Fehlen des historischen Sinnes. Schon im zweiten Aphorismus von Menschliches, All^umenschliches hatte Nietzsche als den Erbfehler aller Philosophen erkannt, daß sie nicht lernen wollen, „dass der Mensch geworden ist, daß auch das Erkenntnissvermögen geworden ist": Darum sei „das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung" . In den Gesprächen mit Eckermann wird Goethes Sensibilität für die Geschichte deutlich erkennbar, insbesondere dort, wo er seinem Gesprächspartner erläutert, daß auch die geniale Persönlichkeit — gleich jeder auffälligen kulturellen Erscheinung — das Ergebnis einer über Generationen andauernden, progressiven Ansammlung von Erkenntnissen und Errungenschaften sei. In dem Gespräch vom 18. November 1828 verspottet der alte Dichter jeglichen naiven Anspruch, die Natur zum Vorbild zu nehmen, ohne die kulturellen Vermittlungen und Instrumente zu berücksichtigen, welche allein eine künstlerische oder poetische Transfiguration erlauben. Eine noch schärfere Kritik Goethes an der romantischen Genieauffassung kommt im Gespräch vom 22. März 1831 zum Ausdruck, in dem Goethe den Eigendünkel und die Verirrung einiger junger deutscher Künstler (der sogenannten „Nazarener") beschreibt: Die Lehre war: der Künstler brauche vorzüglich Frömmigkeit und Genie, um es den Besten gleichzutun. Eine solche Lehre war sehr einschmeichelnd, und man ergriff sie mit beiden Händen. Denn um fromm zu sein, brauchte man nichts zu lernen, und das eigene Genie brachte jeder schon von seiner Frau Mutter.

An diesen und ähnlichen Äußerungen erkennt Nietzsche die tiefe Verwandtschaft zwischen seiner und Goethes Geisteshaltung. Nietzsche findet in Goethe sowohl die „genealogische" Methode als auch das klare Gespür für die Wichtigkeit des kulturellen Erbes, demzufolge nur derjenige „etwas sein" kann, der mit großer Anstrengung die ihm vorausgegangenen geistigen 15

Vgl. Goethe* Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 456.

Nietzsche, Goethe und der historische Sinn

291

und künstlerischen Errungenschaften assimiliert und aus sich heraus neu gestaltet. Zu Recht unterstreicht Peter Heller 20 , daß Nietzsche gerade in den Gesprächen mit Eckermann eine Intuition des alternden Goethe aufspürt, nach der dieser das biogenetische Grundgesetz — von Haeckel 1866 formuliert — vorauszuahnen scheint. Diesem Gesetz zufolge ist die Evolution des Individuums die abgekürzte Rekapitulation der Evolution des Geschlechts. Im Gespräch vom 17. Januar 1827 bemerkt Goethe nämlich, daß trotz des allgemeinen Fortschreitens der Welt „die Jugend [...] doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen" muß. Wenn Nietzsche in Aphorismus 272 von Menschliches, All^umenschliches behauptet, daß die Menschen immer schneller „die gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen" wurden, nachholen, dann meint er wohl die philogenetische Reproduktion des Individuums. Daß der intellektuelle Reifeprozeß des Individuums zugleich die Zerstörung jeglicher metaphysisch-künstlerisch orientierten Illusion bedeutet — wie Nietzsche besonders intensiv zu spüren bekam — geht noch eindeutiger aus Aphorismus 292 von Menschliches, All^umenschliches hervor. Schopenhauer beruft sich unzählige Male zur Unterstützung seiner Auffassung des Genies und der lebendigen Anschauung auf Goethe, während Nietzsche sich wiederum mit Goethe gegen Schopenhauers Thesen wendet. Goethe ist für Nietzsche insbesondere das Vorbild vielgestaltiger Genialität, die sich nicht endgültig einer Muse verschreibt, sondern sich geradezu menschlich, allzumenschlich bis in ihre Verirrungen und Abschweifungen hinein zeigt. Dadurch widerlegt sie das „monolithische" Ideal des Schopenhauerschen Genies, das dämonisch und übermenschlich das Wesen der Welt erblickt hat und durch einen Abgrund von Millionen gewöhnlicher Menschen getrennt ist. Goethe, wie er sich in den Briefen und autobiographischen Reflexionen darstellt, bedeutet für Nietzsche einen konstanten Bezugspunkt, und dies nicht nur im Hinblick auf die Analyse des genialen Individuums, sondern auch als Gegenpol zur mythischen Beschreibung, die Schopenhauer von der kontemplativen Einsicht gibt: Sie reiße „das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strohme des Weltlaufs" und halte somit das Rad der Zeit an (IVeit, § 36). Nietzsche glaubt, mit Goethes Beispiel nicht nur die von Schopenhauer behauptete Spaltung zwischen praktischer und kontemplativer Haltung widerlegen zu können. Er meint auch den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst, also zwischen der gewöhnlichen Erkenntnis (innerhalb der Formen Zeit, Raum und Kausalität) und einer genialen, von der Geschichte losgelösten Erkenntnis aufzuheben. 211

Vgl. Peter Heller: Von den ersten und letzten Dingen, Berlin/New York 1972, S. 66. Eine ähnliche Betrachtung Goethes findet sich im Gespräch vom 17. Februar 1829.

Quellenforschung und Deutungsperspektive: einige Beispiele von

A L D O VENTURELLI,

Urbino

Mazzino Montinari ließ sich bei seiner Beschäftigung mit Nietzsche u. a. von folgenden grundsätzlichen Forderungen leiten: Abkehr von jedem Nietzscheanismus und jeder vorgefaßten Nietzsche-Interpretation; Notwendigkeit, die ursprüngliche Absicht der Texte Nietzsches aufgrund ihrer Zusammenhänge mit den chronologisch geordneten nachgelassenen Fragmenten neu zu ermitteln; Wiederherstellung jener „Kette" von Bezügen, die vom ersten Auftauchen eines Gedankens oder eines Ausdrucks in den Fragmenten bis zu ihrer thematischen und stilistischen Kristallisierung im endgültigen Werk reicht. 1 Ein bedeutendes Moment dieser historisch ausgerichteten Lektüre von Nietzsches Werken stellt die Analyse seiner ideellen Bibliothek dar. Es handelt sich dabei einerseits um eine Untersuchung seiner vielfachen Lektüren, andererseits um eine Identifizierung der zahlreichen Quellen, die für Nietzsche zum Ausgangspunkt eigener Ideen oder Bemerkungen wurden. Dieses Referat, dessen Ausgangspunkt meine im 20. Band der Nietzsche-Studien erschie2 nenen Beiträge ^ur Quellenforschung sind , will durch einige Beispiele zeigen, was die Quellenforschung und die Analyse der ideellen Bibliothek für die Nietzsche-Deutung leisten können. Die Beispiele betreffen drei Punkte: Nietzsches Beziehung zu den Materialien \ur Geschichte der Farbenlehre von Goethe; Nietzsches Stellung zu bestimmten Aspekten der Aristotelischen Poetik, wie sie aus seiner Lektüre von Gustav Teichmüllers Aristotelische Forschungen hervorgeht; schließlich die Idee einer „Umdrehung des Piatonismus" beim jungen Nietzsche, die in einigen Fragmenten von 1870—1871 anklingt. Natürlich variiert hier die mögliche Beziehung zwischen Quellenforschung und Deutungsperspektive ebenso wie jene zwischen Lektüre, Fragmenten und definitiven Texten, die jeweils analysiert werden. Die ausgewählten Beispiele beschränken sich somit darauf, vereinzelt eine mögliche Beziehung zwischen Quellenforschung und Deutungsperspektive auszuloten. Bleibt der in diesem Referat unternommene Versuch, die beiden Ebenen zu verbinden, auch problematisch, so wird er doch hoffentlich nicht völlig willkürlich erscheinen. 1 2

Vgl. dazu M. Montinari: Vorwort i(um Nachbericht %ur siebten Abteilung ( K G W VII 4/1). Vgl. A. Venturelli: „Beiträge zur Quellenforschung", in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 4 3 3 - 4 4 2 .

Q u e l l e n f o r s c h u n g und D e u t u n g s p e r s p e k t i v e

1. Goethes „Materialien

%ur Geschichte

der

293

Farbenlehre"

Als erstes wende ich mich jenen Zitaten zu, die Nietzsche Goethes Materialien %ur Geschichte der Farbenlehre entnahm. Das wichtigste findet sich zweifellos im Fragment 24[2] vom Winter 1 8 7 2 - 1 8 7 3 (KSA 7, S. 561 f.), das mit der Vorbereitung von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen eng verbunden ist. Das Fragment besteht aus der Fortsetzung eines Auszugs aus der Rezension Goethes von Purkinjes Das Sehen in subjektiver Hinsicht, um die es bereits im vorhergehenden Fragment gegangen war, und einem umfangreichen Zitat über den Vergleich zwischen Kunst und Wissenschaft, das Nietzsche den Materialien %ur Geschichte der Farbenlehre entnimmt. Als Kern des Fragments kann folgender Passus gelten, den Nietzsche nahezu wörtlich von Goethe übernimmt: Erfordernisse zu einem wissenschaftlichen Kunstwerke: man müßte keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Thätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sey, entstehen kann (KSA 7, S. 561 f.).

Das Zitat ist der Beschreibung der frühesten Formen wissenschaftlicher Erkenntnis bei den Griechen entnommen, mit der Goethe seine Analyse der ersten Formulierung einer Farbenlehre bei den alten Griechen und Römern abschloß. Goethes Verzeichnis der verschiedenen, zur Entstehung eines Kunstwerkes sowie zu einer fruchtbaren naturwissenschaftlichen Beobachtung notwendigen Eigenschaften mußte das besondere Interesse Nietzsches wecken, denn hier erscheinen nebeneinander die verschiedenen Ausdrücke der vernünftigen Genauigkeit, der wichtigsten Kräfte der Phantasie und der Anschauung. Damals versuchte Nietzsche seinerseits, die ersten Umrisse einer noch nicht in starren, abstrakten Begriffen ausgedrückten Wahrheit zu entwerfen, wie sie in der vorsokratischen Philosophie aufgetaucht war. Dieses Zitat aus dem Winter 1872—1873 gewinnt an Bedeutung nicht nur im Licht anderer gleichzeitiger Zitate aus Goethe, sondern vor allem angesichts des allmählichen Erwachens von Nietzsches Interesse an der Farbenlehre. Zum ersten Mal zitiert Nietzsche ausdrücklich die Materialien an einer entscheidenden Stelle der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, an der er sich auf Goethes Analyse von Newtons Charakter bezieht. Hier greift er am Anfang des achten Kapitels ein von Goethe in der Persönlichkeit Newtons entdecktes Rätsel auf, um seinerseits ein Paradoxon zu beschreiben, das seiner Meinung nach im ironischen Bewußtsein, in der Vorahnung eines Endes

294

Aldo Venturelli

besteht, welche die Ausbreitung der historischen Kultur der Moderne begleiten: Ein ähnliches Räthsel in Betreff einzelner Persönlichkeiten hat uns Goethe, durch seine merkwürdige Charakteristik Newtons hingestellt: er findet im Grunde (oder richtiger: in der Höhe) seines Wesens „eine trübe Ahnung seines Unrechtes", gleichsam als den in einzelnen Augenblicken bemerkbaren Ausdruck eines überlegenen richtenden Bewusstseins, das über die nothwendige ihm innewohnende Natur eine gewisse ironische Uebersicht erlangt habe (HL 8; KSA 1, S. 303).

Zwar ist das von Goethe direkt übernommene Zitat sehr kurz, doch befindet es sich im Originalkontext am Schluß einiger grundlegender Seiten der Materialien, auf denen Goethe zur besseren Charakterisierung Newtons allgemeine Überlegungen zur Beziehung zwischen Charakter, Wahrheit und Irrtum anstellt und seine eigene Theorie des Irrens präzisiert. 3 Bei einer ersten Betrachtung kann dieses Zitat als eine Zustimmung zu Goethes Polemik gegen Newton erscheinen, die Nietzsche später als typisches Beispiel für die deutsche Feindschaft gegen die Aufklärung betrachtete. Diese Zustimmung erscheint aber problematischer, wenn der Brief an Gersdorff vom 12. Dezember 1870 betrachtet wird: Einen großen Triumph erlebte ich jüngst, als ich in den Berichten der Wiener Akademie der Wissenschaften einen Aufsatz des Prof. Czermak fand über Schopenhauers Farbenlehre. Dieser constatiert, daß Sch. selbständig und auf originellem Wege zu der Erkenntniß gekommen ist, die man jetzt als die Young-Helmholtzsche Farbentheorie bezeichnet: zwischen ihr und der Schopenhauerschen ist die wunderbarste, bis in die Bruchzahlen genaue Übereinstimmung. Der ganze Ausgangspunkt, daß die Farbe zunächst ein physiologisches Erzeugniß der Augen ist, sei zu allererst von Sch. dargelegt worden. Sehr bedauert wird, daß Sch. sich nicht von dem .wissenschaftlich unsinnigen' Goetheschen Theorem und seinem furor Anti-Newtonianus habe losmachen können (KSB 3, S. 161 f.).

Hier zeigt der Bezug auf einen Aufsatz des Physiologen Czermak über Schopenhauers Farbenlehre deutlich, daß Nietzsche schon damals von der Unbegründetheit von Goethes furor antinewtonianus und über die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Entwicklungen der Farbenlehre durch Young und Helmholtz wußte. 4 3

4

Auf die Bedeutung dieser Goethe-Passagen machte u. a. Paul Requadt aufmerksam: Goethes ,Faust V. Leitmotivik und Architektur, München 1972, S. 52 ff. Der Aufsatz von Czermak „Ueber Schopenhauer' s Theorie der Farbe. Ein Beitrag zur Geschichte der Farbenlehre" erschien im Jahr 1870 im Band LXII der Wiener akademischen Sitzungsberichte und wurde in seinen Gesammelten Schriften in \u>ei Bänden (Leipzig 1879) wiederabgedruckt (vgl. Bd. 1/2, S. 803 — 819). Zu Czermaks akademischer und wissenschaftlicher Tätigkeit vgl. A. Springer: Johann Nepomuk Czermak. Hine biographische Skin^e im zweiten Band der obengenannten Gesammelten Schriften. Zu Nietzsches Lektüre von Czermaks Aufsatz vgl. den Beitrag von Andrea Orsucci, in diesem Band S. 193 ff.

Q u e l l e n f o r s c h u n g und D e u t u n g s p e r s p e k t i v e

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Die Überzeugung von der naturwissenschaftlichen Unhaltbarkeit von Goethes Farbenlehre, die Nietzsche schon vor der Abfassung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung gewonnen hatte, erlaubt eine aufmerksamere Lektüre des achten Kapitels dieses Werks. Hier wird, wie gesagt, die Bedeutung von Goethes Analyse der Persönlichkeit Newtons erweitert, bis sie zu einer Charakterisierung der ironischen Existenz der Moderne wird. Diese ironische Existenz, diese unbestimmte Vorahnung eines Endes sind nicht einfach Folgen einer Hypertrophie des historischen Sinnes, die durch die Wiederherstellung einer Atmosphäre oder einer Illusion vermieden werden können, die einer ahistorischen, ,reichen' und lebensvollen' Bildung eigen sind. Im Gegenteil: der Nietzsche, der so scharfsinnig über eine der wichtigsten Stellen aus diesem oft vernachlässigten Goethe-Werk nachdenkt und der sich gleichzeitig der Unhaltbarkeit der Polemik gegen Newton bewußt ist, fühlt sich selbst als einen modernen Menschen und hat offensichtlich an sich selbst die möglichen negativen Folgen dieser ironischen Existenz erfahren, die die Entwicklung der historischen und wissenschaftlichen Bildung begleitet. Nietzsche muß übrigens gründlich die Bedeutung jener Beziehung zwischen Streben und Irren, zwischen dem Wachsen der Wahrheit und der Moral und der Erweiterung der Lüge und des Irrtums bedacht haben, die Goethe mit außerordentlicher Dichte auf diesen Seiten umreißt und die Nietzsche wahrscheinlich schon während der Abfassung von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne vor Augen hatte. Wenn dieses Kapitel der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung aus dieser Perspektive betrachtet wird, dann erscheint nicht mehr die Auseinandersetzung mit der historischen Krankheit der Moderne als sein Hauptthema und als sein ursprünglicher Kern, sondern die dringende Notwendigkeit, daß die historische Bildung sich selbst in Frage stellt, ihre Ursprünge historisch prüft und sich selbst zum Problem wird. Die mögliche Rückkehr zum ursprünglichen griechischen Modell einer ahistorischen Bildung ist von der Fähigkeit abhängig, das Erkenntnispotential der wissenschaftlich-kritischen, alexandrinisch-römischen Bildung durch die Historiographie selbst zu Fjnde zu entwickeln; nur sie ermöglicht es, ohne Willkür den Sprung rückwärts zu einem ursprünglichen Griechentum zu machen (vgl. HL 8; KSA 1, S. 306 f.) Wenn diese problematische Spannung betrachtet wird, die den Hintergrund des Zitats in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung bildet, wird die spätere Entwicklung von Nietzsches Reflexion über Goethes Auseinandersetzung mit Newton zwar eine Veränderung in der Bewertung zeigen, aber sie wird gleichzeitig einen Hinweis dafür geben, wie die verschiedenen Phasen seines Denkens miteinander verbunden sind. Bei dieser späteren Reflexion findet Nietzsche keine Gelegenheit mehr für ein ausdrückliches Zitat aus den Materialien, aber er hat wahrscheinlich die dort umrissene Charakterisierung

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Newtons nicht ganz vergessen. Von Menschliches, All^umenschliches an wird seine Kritik an den naturwissenschaftlichen Theorien Goethes, deren Unhaltbarkeit er schon vorher kannte, ausdrücklich und deutlich. Diese Theorien werden mit Schopenhauers Metaphysik und Naturphilosophie gleichgestellt und als Beispiel jener deutschen Feindschaft gegen die Aufklärung betrachtet, die Nietzsche jetzt ablehnt. Seiner Meinung nach sind diese Theorien das Ergebnis jenes alten „Pathos, daß man die Wahrheit habe", das durch das neue „freilich mildere und klanglose Pathos des Wahrheit-Suchens" (MA 633; KSA 2, S. 359) überwunden werden müsse. Dennoch benutzt Nietzsche in demselben Moment, in dem er dieses unterschiedliche Pathos der Wahrheit und diese neue Form von Aufklärung charakterisiert, ähnliche Bilder und Ausdrücke, wie er sie schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung verwendet hatte. Wenn Nietzsche in diesem Werk über das Wissen sagt, daß es sich trotz seiner mächtigsten Flügelschläge nicht ins Freie hat losreißen können (vgl. HL 8; KSA 1, S. 304), so sind es in Morgenröthe die alten Geister der Vergangenheit, die nun mit den viel breiteren Flügeln fliegen und zum neuen Genie der Aufklärung werden (vgl. Μ 197; KSA 3, S. 172). Ohne daß man sie unzulässig verallgemeinert, lassen auch diese stilistischen Ähnlichkeiten die Suche nach einem aus dem memento mori der Weltgeschichte befreiten Wissen und die Äußerungen einer neuen Aufklärung nicht als gegensätzliche Polaritäten erscheinen, sondern als die Widerspiegelung einer einheitlichen Fragestellung in immer veränderten Formen. Als Frucht einer ähnlichen Widerspiegelung erscheint der Aphorismus 227 aus den Vermischten Meinungen und Sprüchen. Aus seinem Titel geht hervor, daß er „Goethes Irrungen" gewidmet ist. Gerade durch seine Irrungen jedoch, so Nietzsche, habe Goethe zum einzigen deutschen Dichter werden können, der „eine rein litterarische Stellung zur Poesie" (vgl. KSA 2, S. 483) überwunden habe. Nietzsche sah bei Goethe vor allem zwei Grundirrtümer: seine Leidenschaft für die darstellende Kunst, welcher er sich in der ersten Lebenshälfte mehr als seinem Dichtertum verbunden fühlte. In seiner zweiten Lebenshälfte hingegen sei Goethe von der Überzeugung durchdrungen gewesen, einer der größten wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu sein. Nach Nietzsche besteht somit die Grundvoraussetzung für die höchste Goethesche Poesie in der inneren Notwendigkeit, diese Grundirrtümer restlos zu überwinden. Er bemerkt dazu u. a.: Die schmerzlich schneidende und wühlende Ueberzeugung, es sei nöthig, Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihn, dem „gesteigerten Werther", liegt das Vorgefühl von schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich Einer sagt: „nun ist es aus — nach diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!" (KSA 2, S. 482).

Quellenforschung und Deutungsperspektive

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Zwar zeigt dieser Aphorismus keinen direkten Bezug auf die Materialien %ur Geschichte der Farbenlehre, aber bei seinen Ausführungen über Goethes Irrtümer und Täuschungen im Hinblick auf die eigenen naturwissenschaftlichen Theorien scheint Nietzsche jenes Verhältnis zwischen Wahrheit und Irrtum nicht vergessen zu haben, mit dem er den Hauptzug von Newtons Persönlichkeit meisterhaft charakterisiert hatte. Nietzsche wendet bei Goethe selbst jenen Gegensatz zwischen den tiefsten Leidenschaften des eigenen Willens und der eigenen Natur und den schweigsamen Vorahnungen eines höheren Bewußtseins an, in dem die geheimnisvolle und unbestimmbare Seite jedes großen Charakters besteht. Gleichzeitig spiegelt er ohne Zweifel seine eigene Situation nach dem Bruch mit Wagner wider, wenn er in diesem Aphorismus vom quälenden Abschied Goethes von sich selbst in der Mitte seines Lebens spricht. Das Verhältnis des Charakters zu Wahrheit und Lüge, das Goethe in den Materialien untersuchte, wird so zur Analyse der ,Umschweife des Irrtums', durch die Goethe er selbst geworden ist und in denen Nietzsche seine eigene, tiefere Erfahrung widerspiegelt. Wenn wir die Kette rekonstruieren, die die Quellen der Zitate, ihre Bearbeitung in den Fragmenten sowie die Form und den Ausdruck dieser Zitate in den endgültigen Werken miteinander verbindet, nehmen wir nicht nur genauer das feine Filigran und das weite Netz von Veränderungen und Widerspiegelungen wahr, das jeden Nietzsche-Text ausmacht. Wir können außerdem verstehen, wie jedes Fragment, jede Spur seiner Lektüre keine zufällige Formulierung einer augenblicklichen Idee ist; vielmehr sind diese fragmentarischen Notizen schon in sich selbst Gedankensplitter, S c h w a n kungen', deren Resonanz sich oft unvorhergesehen auf jene vorläufige, immer wieder zur Diskussion gestellte Ordnung auswirkt, durch die sich Nietzsches Philosophie darstellt. 5 Bei der Rekonstruktion dieses Bezugsnetzes, das häufig Lektüre, Fragmente und definitiven Text untereinander verbindet, darf natürlich die spezifische Einmaligkeit jedes Fragments oder jeder Lektürespur nicht aus den Augen verloren werden. Nur so kann ein tieferes Verständnis des experimentellen und offenen Charakters jenes außerordentlichen intellektuellen Tagebuchs erreicht werden, welches der Nachlaß Nietzsches in seiner ,Komplexität' und ,Komplexivität' darstellt/' Diese Kette verleiht gleichzeitig dem jeweils betrachteten Text eine tiefere, historische Dimension. In derselben historischen Konstellation, in der Nietzsche sich mit Goethes Farbenlehre auseinandersetzte, dachte auch ein Physiker

1

6

Zum Begriff einer ,Ordnung durch Schwankungen' vgl. I. Prigogine/I. Stengers: IM nouvelle alliance. Metamorphose de la science, Paris 1979. Zur Charakterisierung des Nietzscheschen Nachlasses als eines intellektuellen Tagebuchs vgl. M. iMontinari: Nietzsche lesen, Berlin-New York 1982, S. 94.

298

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wie Helmholtz über die Folgen von Goethes Abschweifungen in den Irrtum bei der Polemik gegen Newton nach. Nach Helmholtz' Meinung wirft Goethes Farbenlehre — trotz ihrer naturwissenschaftlichen Unbegründetheit — das Problem einer aufmerksameren erkenntnistheoretischen Neubestimmung der Bereiche auf, die für die künstlerische Tätigkeit und die wissenschaftliche Forschung spezifisch sind. Die Notwendigkeit einer solchen Neubestimmung veranlaßt Helmholtz zu einer bedeutenden Revision seiner Analyse der Sinneswahrnehmung und seiner Auffassung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Diese Revision spiegelt sich in einer Neuformulierung der Wahrnehmungstheorie und ihres Zeichencharakters wider, die Helmholtz damals vornahm. Gerade wegen ihrer Möglichkeit zu irren bieten Sinne und Empfindungen nur ein Zeichen, eine symbolische Darstellung der äußeren Welt. Die Möglichkeit eines Irrtums bei den psychischen Vorgängen der Wahrnehmung veranlaßt Helmholtz außerdem zur Hypothese jener ,unbewußten Schlüsse', jener unmittelbaren Assoziationen zwischen Ideen und Gedächtnis, über die auch Nietzsche, durch Zöllner aufmerksam gemacht, nachdachte. 7

2. Teichmüllers

„Aristotelische

Forschungen"

Diese Kette von Bezügen, die sich von Goethe bis Helmholtz erstreckt, regt zu einer aufmerksameren Betrachtung der komplexen Beziehungen zwischen den zwei Seelen an, die schon Friedrich Ritsehl in seinem Schüler bemerkt hatte. Die Analyse von Nietzsches Lektüren in Basel kann einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis des paradoxen Nebeneinanders von methodisch-wissenschaftlicher Forschung und mystisch-ekstatischem Enthusiasmus leisten, welches den alten Lehrer negativ beeindruckt hatte. 8 Gerade dem Problem des Enthusiasmus in der Entstehungsgeschichte des Kunstwerks bei den Griechen ist eine Stelle aus Teichmüllers Aristotelischen Forschungen gewidmet, die Nietzsche im Fragment 1 [65] zitiert. In diesem 7

8

Hermann von Helmholtz widmete Goethes naturwissenschaftlichen Theorien zwei Vorlesungen: Im Jahr 1853, gerade am Anfang seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sprach er in Königsberg über Coethe's naturwissenschaftliche Arbeiten-, fast vierzig Jahre später hielt er bei der Goethe-Gesellschaft in Weimar eine Rede über Goethe's Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen (vgl. H. von Helmholtz: Zwei Vorträge über Goethe, Braunschweig 1917). F,r bezog sich allerdings mehrmals in seinen Werken auf Goethes Farbenlehre und naturwissenschaftliche Ideen, vor allem in seinem Handbuch der Physiologischen Optik. Zum Verhältnis Helmholtz-Goethe und zu seiner problematischen Entwicklung vgl. J . Barnouw: „Goethe and Helmholtz: Science and Sensation", in: F. Amrine/F. J. Zucker/H. Wheeler (Hg.): Goethe and the Sciences: a reppraisal, Boston 1987. — Zu Nietzsches Lektüre von Helmholtz und von Zöllner vgl. den Beitrag von Andrea Orsucci in diesem Band, a. a. O. Vgl. dazu Ritschis Brief an Wilhelm Vischer vom 2. Februar 1873 (KSA 15, S. 46).

Quellenforschung und Deutungsperspektive

299

Fragment vom Herbst 1869 faßt Nietzsche kurz einige Überlegungen zur Beziehung zwischen Kunst und Begeisterung aus der Aristotelischen Poetik zusammen, welche Gustav Teichmüller im zweiten Band der Aristotelischen Forschungen — der Philosophie der Kunst des Aristoteles gewidmet — angestellt hatte. Nietzsche übergeht den von Teichmüller angestellten Vergleich zwischen Ethik und Ästhetik bei Aristoteles, um sich ohne Umschweife auf jenen Punkt zu konzentrieren, der ihn offenbar am meisten interessiert: N a c h A r i s t o t e l e s hat die W i s s e n s c h a f t n i c h t s mit d e m E n t h u s i a s m u s zu t h u n , da m a n sich auf diese u n g e w ö h n l i c h e K r a f t nicht v e r l a s s e n k a n n : das K u n s t w e r k ist E r z e u g n i ß d e r K u n s t e i n s i c h t bei g e h ö r i g e r K ü n s t l e r n a t u r ( K S A 7, S. 30).

Dieser Zusammenfassung des Teichmüllerschen Passus fügt Nietzsche einen kurzen negativen Kommentar hinzu, der ohne Zweifel seine eigene Stellung widergibt: „Spießbürgerei" {ebd.). Im Gegensatz zum oben analysierten scheint dieses Fragment keine Kette von Brechungen und Spiegelungen auszulösen, sondern erscheint eher isoliert. Dennoch ist seine Bedeutung nicht zu unterschätzen, weil es einige Aspekte der für jene Periode seltenen Aristoteles-Kritik enthält 9 . Um die implizite Bedeutung dieses TeichmüllerZitats besser zu erfassen, sollen ihm einige spätere (1873 — 1874) Fragmente zur Seite gestellt werden, in denen Nietzsche eine Friedrich Adolf Trendelenburg — dem Lehrer, dem Teichmüller seine Aristotelischen Forschungen gewidmet hatte — entgegengesetzte Stellung bezieht. Was das erste Fragment 29[199] betrifft, so findet sich die Kritik an Trendelenburg in der Charakterisierung der „Bedrängniss", in welcher sich die zeitgenössische Philosophie befand und der Nietzsche das eigene Ideal von Schopenhauer als Erzieher entgegenzusetzen gedachte. In der Tat war diese „Bedrängniss" Thema des vorangehenden Fragments und wird dann im folgenden Fragment 30[15], in dem die Kritik an Trendelenburg erneut formuliert wird, auf systematischere Weise behandelt. Im Fragment 29[199] hält Nietzsche fest: D i e P h i l o s o p h i e rein z u r W i s s e n s c h a f t zu m a c h e n ( w i e T r e n d e l e n b u r g ) hcisst die Flinte ins K o r n w e r f e n ( K S A 7, S. 710).

Dieselbe Idee findet sich, etwas variiert, in Fragment 30[15]: hier wird festgestellt, daß die Reduktion der Philosophie auf die Wissenschaft, wie sie Trendelenburg nach Nietzsche vornimmt, nicht mehr in der Lage ist, das '' So zitiert Barbara von Reibnitz in ihrem Kommentar Friedrich Nietzsches ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kapitel 1—12J, Stuttgart-Weimar 1992, S. 328 das Fragment als Beispiel für Nietzsches Aristoteles-Kritik.

300

Aldo Venturelli

„Fundament einer Kultur" zu bilden und den „Strom der jetzigen Bildung" zu beherrschen (vgl. KSA 7, S. 737 f.). Im dritten Fragment 32[75] schließlich wird Trendelenburg zur Verkörperung einer „Universitätsphilosophie" „im Dienst der Historie", innerhalb derer der Philosoph nicht mehr als „Vorbild" erscheint, sondern vielmehr als einfacher „Gelehrter unter Gelehrten" (vgl. KSA 7, S. 781). Trotz ihrer Kürze zeigen die drei Fragmente, daß sich Nietzsche der Bedeutung Trendelenburgs innerhalb der zeitgenössischen akademischen Philosophie durchaus bewußt war. Zu diesem Bewußtsein trug die Tatsache bei, daß nicht nur Teichmüller, Nietzsches Kollege in Basel, sondern auch sein Nachfolger in den Jahren 1871 —1874, Rudolf Eucken — später in Jena Lehrer von Wilhelm Roux — ein ,junger talentvoller Aristoteliker' „mit der Fackel Trendelenburgs in der Hand" (vgl. KSB 3, S. 192) war. Trotz der anfänglichen Enttäuschung über den verfehlten Ruf auf Teichmüllers Lehrstuhl für Philosophie gewinnt man aus einigen seiner Briefe den Eindruck, daß Nietzsche eine gute Beziehung zum neuen Kollegen hatte. Wahrscheinlich hatte er Gelegenheit, die Antrittsrede zu hören, die Eucken am 21. November 1871 Über die Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Gegenwart hielt. Nahezu programmatisch faßte diese Rede Trendelenburgs Aristoteles-Deutung zusammen: wegen seiner gründlichen Untersuchung der Beziehungen zwischen der gesamten Philosophie und den einzelnen wissenschaftlichen Fächern wird Aristoteles hier zum Modell für eine moderne, naturwissenschaftliche Philosophie. Diese Aristotelische Methode vom Aufbau eines philosophischen Systems von den einzelnen Wissenschaften her, ohne irgendein Zugeständnis an die Phantasie oder die Intuition, schien Eucken besonders bedeutungsvoll für die Gegenwart zu sein, „insofern es sich in unserer Zeit um einen Aufbau der Philosophie auf Grund der positiven Wissenschaften, um gegenseitige Durchdringung des Philosophischen und exact Wissenschaftlichen handelt". 10 Es scheint, daß Nietzsche in seinen Fragmenten mehr die von Trendelenburgs Schülern vorgenommene Betonung des möglichen Beitrags der Naturwissenschaften zur Philosophie bedachte als das komplexe Verhältnis zwischen Realismus und Idealismus, zwischen wissenschaftlicher Objektivität und transzendentaler Logik, das Trendelenburg in seinen Logischen Untersuchungen 10

Vgl. R. Kucken: Lieber die Bedeutung der Aristotelischen Philosophie für die Gegenwart. Akademische Antrittsrede gehalten am 21. November 1871, Berlin 1872. Zu Euckens Erinnerungen an Nietzsche in Basel vgl. seine Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, Leipzig 1921, S. 53. Eucken liefert ein interessantes Zeugnis über die Hochschätzung, die Nietzsche damals in den akademischen Kreisen der Universität Basel genoß. So schreibt er u. a.: „Vischer aber erklärte mir damals, man wäre in Basel sehr froh darüber, diesen hervorragenden Mann an der Universität zu wissen" {ebd.).

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Quellenforschung und Deutungsperspektive

erarbeitet hatte. Er schreibt nämlich Trendelenburg eine Reduktion der Philosophie auf die Wissenschaft oder auf die einfache historische Betrachtung zu, durch die sie unfähig geworden sei, die moderne Zerrissenheit zu beherrschen und die Grundlage für die Schöpfung einer neuen und höheren Kultur zu legen. Die Tatsache, daß sich Nietzsche in der Genealogie der Moral erneut mit der Stellung der Philosophie ,auf streng wissenschaftlicher Grundlage' beschäftigte, zeigt, daß die Erwähnung Trendelenburgs in diesen Fragmenten nicht ganz zufallig ist. Übrigens ist hier das Echo des der neuen Ausgabe der Geburt der Tragödie aus dem Jahr 1886 vorangestellten „Versuchs einer Selbstkritik" noch ganz gegenwärtig: Der Reduktion der Philosophie auf die Wissenschaft stellt Nietzsche ausdrücklich das experimentelle Problem des Werts der Wahrheit gegenüber, d. h. die als Problem aufgefaßte Wissenschaft, den symbolischen Charakter der Kunst als Gegensatz zum asketischen Ideal. Ohne die Beiläufigkeit in Nietzsches negativem Kommentar zu Teichmüllers Aristotelischen Forschungen zu übersehen, scheint letzterer doch an Bedeutung zu gewinnen, wenn er den Trendelenburg gewidmeten Fragmenten zur Seite gestellt wird. Nietzsches Kommentar enthält nämlich eine Ablehnung der neuen Aristoteles-Deutung, die Trendelenburg und seine Schüler vorgenommen hatten. Sie schließt auch jene Reduktion der Philosophie auf die Wissenschaft ein, die Nietzsche als ihre Folge betrachtete. Diese Ablehnung übt einen Einfluß auf die Charakterisierung des Sokrates aus, der in der Geburt der Tragödie als frei von jedwedem ,,holde[n] Wahnsinn künstlerischer Begeisterung" (GT 14; KSA 1, S. 92) dargestellt wird. Zu einer besseren historischen Bestimmung einiger Aspekte von Nietzsches Aristoteles-Kritik kann also dieser Bezug auf Teichmüller und Trendelenburg nützlich erscheinen; er gewinnt zudem an Bedeutung, wenn wir an die Funktion denken, die Trendelenburgs Aristoteles-Deutung in der Entstehungsgeschichte von Brentanos Philosophie hatte, d. h. einer Denkrichtung, die über Husserl bis zu Heidegger reicht. 11

3. Die ,Umdrehung

des Piatonismus'

in der „Geburt der

Tragödie"

Gerade Heidegger betonte am Schluß seiner Vorlesungen über Die Grundb e g r i f f e der Metaphysik vom Wintersemester 1929 — 30 die Bedeutung des Enthusiasmus und des Staunens bei Nietzsche, ,dem letzten der Großen': Enthusiasmus und Entsetzen charakterisieren den Menschen als Übergang, " Vgl. dazu J . M. Werle: I'ranζ Brentano und die Zukunft der Philosophie, Amsterdam-Atlanta 1989; F. Volpi: Ueidepger e Brentano, Padova 1976; E. Berti: Aristotele ml Novecento, Bari 1992.

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Aldo Venturelli

der die Welt ,im Geschehen des Entwurfs' bildet. 1 2 Gegenüber der Reduktion der Philosophie auf Wissenschaft führt die unterschiedliche Beziehung, die Nietzsche zwischen Erkenntnis und Staunen, zwischen Wissenschaft und Kunst herstellt, wieder zu jener ,Umdrehung des Piatonismus', von der schon im Fragment 7[156] aus dem Jahr 1871 die Rede ist: „Meine Philosophie umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel" ( K S A 7, S. 199). Mit diesem Fragment verbunden ist die platonische Terminologie des Fragments 7[153], das Nietzsche zwischen Anführungszeichen setzt: „ D e r K e r n der Natur, das wahrhaft Seiende, das Sein an sich, das wahrhaft A n o n y m e , der Ball des ewigen Seins, das unnahbare E i n e und F.wige, ein Abgrund des wahren S e i n s " ( K S A 7, S. 198).

In diesem Fall markieren die Anführungszeichen wohl kaum ein Zitat: Auch in der Geburt der Tragödie macht Nietzsche gelegentlich von Anführungszeichen Gebrauch, um in begrifflicher Formel' auf fast sentenzenhafte Weise den tieferen Sinn eines Gedankens festzuhalten. Dies trifft zum Beispiel zu, wenn das „Doppelwesen" der aeschyleischen Natur ( G T 9; K S A 1, S. 71) charakterisiert wird, oder wenn die ,Mutter Natur' selbst mit ihrer „wahren, unverstellten Stimme" spricht: „ ,Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!'" ( G T 16; K S A 1, S. 108). Derlei Textpassagen aus der Geburt der Tragödie bezeugen die in ihr zum Tragen kommende Vielfalt der stilistischen Register: An einigen Höhepunkten seiner kritischen Analyse greift Nietzsche auf schöpferische Ausdrucksformen zurück, die gleichzeitig die Entfaltung eines möglichen Dialogs darstellen, in den offenbar die Aufmerksamsten unter den Lesern einbezogen werden sollen. Im Lichte dieser Überlegungen kann das Fragment 7[153] aus verschiedenen Perspektiven gelesen werden: als einfache Auflistung der verschiedenen möglichen Benennungen des Ur-Einen, welche Nietzsche in der definitiven Fassung der Geburt ohne namhafte Unterschiede erneut aufgreift; andererseits kann es jedoch als Vorbereitung und Präfiguration jener stilistisch gehobenen Passagen erscheinen, die in diesem Werk enthalten sind. In diesem Fall würde es innerhalb des Fragments eher um den Versuch gehen, das Wesen des Urbanen immer treffender zu bestimmen. Dieser Versuch führt zu keinerlei definitivem Resultat; das Nebeneinander verschiedener Benennungen scheint im Gegenteil fast bewußt eine gewisse Unbestimmtheit zu erzeugen, deren

12

Vgl. dazu M. Heidegger: „Die Grundbegriffe der Metaphysik", in: ders.: Frankfurt/M. 1977 ff., Bd. 2 9 - 3 0 , S. 531.

Gesamtausgabe,

Quellenforschung und Deutungsperspektive

303

Zweck im absichtsvollen Vermeiden jeglicher starrer konzeptioneller Abstraktion liegt. Auf jeden Fall stellt sich das Fragment als signifikative Synthese verschiedener Themenbereiche dar: platonische Elemente — oder auf Schopenhauers Platon-Interpretation zurückzuführende, wie etwa der Bezug auf das w a h r haft Seiende' — mischen sich mit neuplatonischen, wie der Vorstellung eines ,Abgrunds', die Nietzsche außerdem in jenen Aspekten der Philosophie des Unbewussten von Eduard von Hartmann finden konnte, welche sich am entschiedensten an Schelling anlehnten. Innerhalb dieser Synthese überrascht besonders das ,wahrhaft Anonyme': dieser Ausdruck wird in der Geburt nicht aufgegriffen. Auch taucht er selten in der vorhergehenden philosophischen Tradition auf, während die Vorstellung eines Anonyms für die Konzeption des transzendentalen Subjekts bei Husserl eine bedeutende Rolle spielen wird. 1 3 Möglicherweise gelangte Nietzsche zu diesem Gedanken und seinem Ausdruck aufgrund der von Hartmann formulierten Idee eines einzigen Unbewußten, von dem die einzelnen Individuen einfache Erscheinungsformen darstellen. 14 Gerade in Bezug auf das ,wahrhaft Seiende' schließt sich dieses Fragment an die in Fragment V[156] verkündete ,Umdrehung des Piatonismus' an. Mehr noch als der Zusammenhang zwischen den beiden Fragmenten trägt die Art, in der Nietzsche diese Terminologie in der Geburt der Tragödie wieder verwendet, dazu bei, die Bedeutung einer solchen ,Umdrehung' in dieser Phase von Nietzsches Denken genauer zu bestimmen. Man darf nämlich nicht vergessen, daß das Heft U I 2b, dem die oben genannten Fragmente entnommen sind, eine entscheidende Rolle in der Entstehungsgeschichte der Geburt spielt; es ist nämlich parallel zur Abfassung von Sokrates und die griechische Tragödie entstanden, dem Aufsatz, den Nietzsche im Juni 1891 als Privatdruck erscheinen ließ und der später vollständig in die Kapitel 8—15 des endgültigen Werks eingegangen ist. 15 Zu diesem Zeitpunkt bezeugen Nietzsches Lektüren noch sein Interesse für Plato, das in den Jahren 1871 — 1873 besonders stark war. So leiht Nietzsche erstmals im Mai 1871 aus der Basler Universitätsbibliothek Susemihls Werk Die genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie aus, auf das sich noch Paul Natorp 1902 in seinem grundlegenden Werk Piatos Ideenlehre beziehen wird. 13

14

15

Zu diesem Punkt vgl. K. Held: „Anonym", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 3 3 4 - 3 3 5 . Zum Einfluß von Hartmanns Philosophie des Unbewussten auf die Konzeption des Ur-Einen bei Nietzsche vgl. F. Gerratana: „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869 — 1874)", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), besonders S. 4 1 2 - 4 1 4 . Für eine genauere Darstellung der Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie vgl. die Ausführungen von Michael Kohlenbach in diesem Band, S. 351 ff.

304

Aldo Venturelli

Die Entstehung von Piatos Philosophie aus der Begegnung mit Sokrates und aus der Abkehr von der tragischen Kunst erscheint Nietzsche als beispielhaft für die Verarmung und Erstarrung des apollinischen Prinzips im logischen Schematismus. Dies habe eine Umkehrung im ursprünglichen Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst bewirkt, durch welche die Kunst zur einfachen ancilla der Dialektik geworden sei. In diesem inneren Gegensatz zwischen Plato als Künstler und Plato als Schüler des Sokrates liege jedoch vor allem der Ursprung seines ständigen Strebens, „über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen" ( G T 14; K S A 1, S. 93). Die „Umdrehung des Piatonismus", die sich in der Geburt verwirklicht, verweist einerseits auf die Vorstellung eines künstlerischen Sokrates und eines neuen Verhältnisses zwischen Kunst und Wissenschaft, das sich auf den symbolischen Charakter der Wahrheit gründet und die Kunst aus ihrer untergeordneten Stellung gegenüber der Philosophie befreit. Sie schließt sich andererseits an dieselbe neue Deutung des Gegensatzes zwischen Apollinischem und Dionysischem auf der Grundlage der platonischen Terminologie an, die Nietzsche am Anfang des 10. Kapitels der Geburt der Tragödie und in einigen seiner bedeutsamen Varianten vornimmt. 1 6 Aus dieser Perspektive ist Dionysos das ,wahrhaft Seiende'; als ursprünglicher Schmerz und Widerspruch ist er gleichzeitig „wahrhafte Realität" und „Idee" (vgl. K S A 14, S. 50). Diese dionysische Idee kann sich nur in der Vielheit der tragischen Masken ausdrücken, die auf den apollinischen, plastischen Begriff zurückführen. Die apollinisch-dionysische Doppelheit wirft so das Problem auf, sie ,nach der platonischen Terminologie' „als das gemeinsame Abbild zweier Ideen" zu bezeichnen und ein Zwischending „zwischen einer empirischen und einer idealen Wirklichkeit" (ebd.) darzustellen. In der Geburt der Tragödie scheint so die ,Umdrehung des Piatonismus' keine Folge eines neuen Verhältnisses zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem zu sein, sondern bezieht sich vielmehr auf das Spiel von symbolischen Brechungen, durch das sich der Gegensatz Apollinisches/Dionysisches ausdrücken kann. Dieser Prozeß der Symbolisierung bildet den Kern jener .purpurnen Dunkelheit', die Rohde in Sokrates und die griechische Tragödie wahrnahm und die Nietzsche als Folge des Gegensatzes zwischen Schopenhauers Philosophie und seiner eigenen „sonderbaren Metaphysik der Kunst" ( K S B 3, S. 216) deutete. Der Ausdruck ,purpurne Finsternis' war schon von Schiller in der Ballade Der Taucher benutzt worden und hatte Kömers Kritik hervorgerufen,

Eine genaue Analyse des betreffenden Passus aus Kapitel 10 der Geburt gibt Barbara von Reibnitz: a. a. O., S. 2 5 8 - 2 5 9 .

305

Q u e l l e n f o r s c h u n g und D e u t u n g s p e r s p e k t i v e

der jedoch anerkannte, „ d a ß die Alten einen solchen A u s d r u c k " g e b r a u c h ten. 1 7 E s ist wahrscheinlich, daß R o h d e bewußt einen A u s d r u c k der klassischen Tradition benutzte u n d daß er ζ. B. an den , p u r p u r n e n T o d ' bei H o m e r o d e r an Statius' lumine purpureo

d a c h t e . 1 8 N i e t z s c h e fand jedenfalls den A u s d r u c k

an sich sehr schön, o h n e ihn mit einer früheren T r a d i t i o n in V e r b i n d u n g zu bringen. D i e V o r s t e l l u n g der p u r p u r n e n D u n k e l h e i t scheint ihm vielleicht a m geeignetsten, das k o m p l e x e und verwickelte F i l i g r a n , aus d e m die

Geburt

der Tragödie besteht, zu beschreiben. Ü b e r die g e q u ä l t e E n t s t e h u n g

dieses

Werks und seine versteckten V e r b i n d u n g e n mit seinem späteren

Denken

spricht N i e t z s c h e in einem wichtigen F r a g m e n t aus d e m J a h r 1881, d a s sich in gewisser Hinsicht an den A n f a n g einer langen Selbstreflexion über seine J u g e n d w e r k e stellt: Sie machen' s sich leicht und suchen mich aus dem Ubergange in' s andere Extrem zu verstehen — sie merken nichts von dem fortgesetzten Kampfe und den gelegentlichen wonnevollen Ruhepausen im Kampfe, merken nicht, daß diese früheren Schriften solchen entzückten Stillen, wo der Kampf zu Ende schien, entsprungen sind und wo man über ihn schon nachzudenken und sich zu beruhigen begann. Es war eine Täuschung. Der Kampf ging weiter. Die extreme Sprache verräth die Aufregung, die kurz vorher tobte und die Gewaltsamkeit, mit der man die Täuschung festzuhalten suchte (10 [D84]; K S A 9, S. 432). D i e drei kurzen V e r s u c h e , die m ö g l i c h e B e z i e h u n g zwischen Q u e l l e n f o r s c h u n g und D e u t u n g s p e r s p e k t i v e zu b e s t i m m e n , sind weit d a v o n entfernt, eine e r s c h ö p f e n d e R e k o n s t r u k t i o n der verschiedenen E l e m e n t e dieses unendlichen K a m p f e s zu bieten; e b e n s o w e n i g sind sie in der L a g e , die „ e n t z ü c k t e n Stillen", aus denen N i e t z s c h e s erste Schriften h e r v o r g i n g e n , zu evozieren. Sie k ö n n e n lediglich dazu beitragen, einige A s p e k t e der k o m p l e x e n Stratifikation der Geburt der Tragödie u n d v o n Nietzsches J u g e n d w e r k e n ü b e r h a u p t besser w a h r z u n e h m e n . D i e s e s dichte N e t z , bestehend aus Z u s a m m e n h ä n g e n

und

V e r b i n d u n g e n , e r m ö g l i c h t e es d e m jungen N i e t z s c h e a u f o f t ü b e r r a s c h e n d e Weise, seine U n t e r s u c h u n g e n

über die griechische T r a g ö d i e o d e r

T h e m e n seines F o r s c h u n g s g e b i e t e s

andere

mit b e s t i m m t e n G r u n d p r o b l e m e n

der

Ästhetik und M e t a p h y s i k zu v e r b i n d e n .

' 18

D a z u vgl. den Briefwechsel £wischen Schiller und Körner, h g . ν. Κ . I.. B e r g h a h n . M ü n c h e n 1973, S. 268. Vgl. lipicedion in Priscillam, Statius, Silvae, V,1, v. 2 5 6 ; H o m e r , llias, V, v. 83; X V I , v. 334; X X , v. 477. Ich d a n k e Fritz B o r n m a n n für diesen H i n w e i s .

IV. Leben und Werk

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches Zum "Verhältnis von Biographie von

JOHANN FIGL,

und

Philosophie

Wien

Die Frage nach dem Lebensweg Nietzsches und seinem Zusammenhang mit den Etappen seines Denkens war schon zu einer Zeit, als der Philosoph noch — in geistiger Umnachtung — lebte, für viele Menschen, die ihn persönlich kannten, ein interessantes Thema. 1 Sie hat auch die philosophische Auseinandersetzung mit diesem Denker stark beeinflußt. Im folgenden soll zuerst (1.) auf drei typische Modelle der Deutung des Verhältnisses von Biographie und Philosophie bei Nietzsche in ,klassischen' Ansätzen eingegangen werden (M. Heidegger; K. Jaspers; E. Podach), vor diesem Hintergrund sodann (2.) auf aktuelle Beiträge zum biographischen und „tiefenphilosophischen" Verständnis vor allem des jungen Nietzsche, die abschließend (3.) im Horizont umfassender Interpretationsperspektiven und -postulate kritisch diskutiert werden.

1. Die Beurteilung des in ,klassischen'

Biographisch-Psychologischen Nietzsche-Deutungen

Das Verhältnis zwischen Biographie und Philosophie wurde bei Nietzsche im wesentlichen von drei Positionen her bedacht: 1. Im Rahmen einer prinzipiellen Gegenüberstellung von Sache des Denkens und dem Leben des Denkers. Eine solche Position, die paradigmatisch von M. Heidegger vertreten worden ist, 2 scheint vom Leben eines Autors abzusehen; de facto bezieht sie auch eine skeptische Haltung gegenüber einer historisch-kritischen Dokumentation der Schriften des betreffenden Autors, wie es ζ. B. Heidegger gegenüber der ,Historisch-Kritischen Gesamtausgabe' der 30er Jahre getan hat, über die er sagt: „In der Art der biographisch-psychologischen Erläuterung und des gleichfalls vollständigen Aufspürens aller ,Daten' über das 1

2

Vgl. dazu die Biographien von L. Andreas-Salome: Friedrich Nietzsche 1894; und seiner Schwester E. Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Bd. 1, Leipzig 1895, Bd. 2, 1897. M. Heidegger: Nietzsche, Band 1, Pfullingen 1961, S. 9.

in seinen Werken, Wien Nietzsches. Biographie,

310

Johann Figl

,Leben' Nietzsches und die Meinungen seiner Zeitgenossen dazu, ist sie eine Ausgeburt der psychologisch-biologischen Sucht unserer Zeit." 3 Eine zweite Position geht von einer gewissen Parallelität zwischen Leben und Werk aus bzw. sucht eine solche festzustellen, ohne daraus einen notwendigen oder gar kausalen Zusammenhang abzuleiten bzw. die Umbrüche im philosophischen Denken auf lebensgeschichtliche Veränderungen zurückführen zu wollen. Eine Stellungnahme dieser Art hat der andere große klassische Nietzsche-Interpret, der zugleich Psychiater und Philosoph war, nämlich Karl Jaspers, abgegeben. Ausführlich befaßt er sich in seinem bekannten Nietzsche-Buch mit Nietzsches Leben. 4 Einen besonderen Schwerpunkt darin sieht er in der Krankheit. 5 Im Hinblick auf die Frage nach der Beziehung von Krankheit und Werk schlägt er zu deren Beantwortung zwei Wege ein: Erstens sucht er nach „zeitlichen Koinzidenzen", die er in den beiden Thesen zusammenfaßt: „Die Entstehung der mannigfachen körperlichen Krankheiten seit 1873 geht parallel den geistigen ,Loslösungen' Nietzsches"; und: „den neuen Erlebnissen und veränderten Erfahrungsweisen seit 1880 geht parallel eine Veränderung seines ganzen Schaffens [,..]"; 6 zweitens sucht er nach Erscheinungen, die bei organischen Prozessen zu erwarten sind und frägt, ob sie bei Nietzsche auftreten; auch in diesem Fall findet er eine Reihe von Parallelen zwischen psychologischen Veränderungen (Hemmungslosigkeit, Entfremdung, Verwandlung, Ausbruch der Krankheit Ende 1888) und denkerischen Grundaussagen Nietzsches. Im Hinblick auf diese „kranken" Faktoren meint er, daß sie „nicht nur gestört, sondern vielleicht sogar ermöglicht (haben), was sonst nicht so entstanden wäre". 7 Aus den erwähnten Zitaten geht gewiß hervor, daß Jaspers den Weg der psychischen und somatischen Erkrankung Nietzsches in einer bestimmten Korrelation und Parallelität zum Werk und zu gewissen Grundtendenzen des Schaffens Nietzsches sieht. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß hier ein Zusammenhang in einem kausalen Sinn angenommen würde. Für Jaspers ist es klar: „Die Kausalität, unter deren Einfluß etwas entsteht, besagt nichts über den Wert des Entstandenen." 8 Diese klare Unterscheidung zwischen Genese ζ. B. eines Gedankens und dessen Inhalt, also der Sache, hat Nietzsche selbst mehrfach deutlich herausgestellt. Doch muß schon hier, bevor eine weitere Position

3

4

5 6 7 8

Vgl. a. a. O., 18; vgl. J. Figl: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, S. 41 ff. K. Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1989 (Nachdruck der 4. Auflage), Teil 1, S. 32 ff. Ebd., S. 91 ff. Ebd., S. 102 und 103. Vgl. ebd, S. 108. Vgl. ebd, S. 101.

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

311

dargestellt wird, angemerkt werden, daß die zentrale Frage eigentlich nicht ist, ob der Wert einer Aussage durch Kenntnis der sie vermutlich mitbedingenden psychologischen und bisweilen auch physiologischen Faktoren beeinträchtigt wird, sondern, und das soll schon hier herausgehoben werden, ob diese biographisch-lebensgeschichtlichen Momente zu einem besseren Verständnis der Sachaussage beitragen können oder nicht, d. h., ob die Kenntnis der biographischen Hintergründe zu einem in sich differenzierteren und überzeugenderen Verstehen der philosophischen und weltanschaulichen Aussagen eines Denkers — als dies ohne Wissen um dieselben möglich wäre — führt. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß aus der (vermuteten oder tatsächlichen) „Genese" einer Auffassung deren Inhalt „abgeleitet" werden könne; vielmehr wird durch die Einbeziehung der Umstände, die das Entstehen einer Anschauung beeinflußt haben, ein weiterer Aspekt an ihr sichtbar — um diese zusätzliche Dimension geht es, wenn die Philosophie eines Denkers im Zusammenhang mit dessen Biographie bedacht wird! Gegenüber der erwähnten Position, die von einem integrierenden Bezug zwischen Lebensschicksal bzw. -erfahrung und Denken ausgeht, wie dies auch in dem vorliegenden Beitrag im generellen geschieht, ist noch eine weitere, dritte Position zu nennen, die primär — in manchen Fällen sogar ausschließlich — von der psychologisch-biographischen Ebene her die philosophische Aussage zu verstehen und auf diese Weise zu kritisieren versucht, mit dem Argument, daß durch das Aufzeigen des faktischen oder vermeintlichen lebensgeschichtlichen Hintergrundes einer philosophischen Einsicht diese in ihrem Gehalt selbst korrumpiert würde. Im Hinblick auf Nietzsche konnte sie sogar zu der These gelangen, daß man bei ihm überhaupt nicht von einer Philosophie sprechen kann. In pointierter und schroffer Weise hat dies Erich F. Podach in seinen bekannten Werken Friedrich Nietzsches Werke 9 10 des Zusammenbruchs und Ein Blick, in Notizbücher Nietzsches getan. Vor allem das letztere Werk hat Eckhart Heftrich bewogen, seinen wichtigen Aufsatz „Die Grenzen der psychologischen Nietzsche-Erklärung" zu schreiben." Darin führt Heftrich eine überzeugende kritische Auseinandersetzung mit Podach. Im Kontext der vorliegenden Überlegungen kann es daher genügen, wenn Podachs Position in ihren wesentlichen Punkten in Erinnerung gerufen wird. Als Konsequenz aus dieser Kritik ergibt sich, daß Podachs Überlegungen, die sich noch auf „vorphilosophischem Felde" bewegen und die in die

* Heidelberg 1961. Heidelberg 1963. 11 In: Revue Internationale de Philosophie 67, 1964, S. 74 — 90; jetzt abgedruckt in: Nietzsche, von J. Salaquarda, Darmstadt 1980, S. 169ff. (danach wird hier zitiert). 10

hrsg.

312

Johann Figl

Alternative Psychologie contra Mythologie qua Nietzscheologie münden, abzulehnen sind: „Sowohl für die psychologische Erklärung, d. h. die Leugnung von Nietzsches Philosophie wie für die Nietzscheologie, d. h. die unkritische Hypostasierung Nietzsches ist jedoch die Zeit vorüber. Nicht aber für eine angemessene Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie." 12 Der letzteren Feststellung E. Heftrichs kann zweifellos ohne Vorbehalt zugestimmt werden, handelt es sich doch bei Friedrich Nietzsche um einen der bedeutendsten Denker der Neuzeit. Gleichwohl aber ist mit der sachlich richtigen Unterscheidung zwischen Philosophie und Psychologie im Hinblick auf die Interpretation Nietzsches nicht das Verhältnis dieser beiden Zugangsweisen zur Gänze erfaßt. Man kann sogar sagen, daß auch Podachs Position implizit auf einer solchen Differenzierung zwischen philosophischem und psychologisch-lebensgeschichtlich bedingtem Denken beruht; mit dem Unterschied freilich, daß er einen anderen Begriff von Philosophie hat, einen Philosophiebegriff, in dem eine hermeneutisch orientierte Lebens- und Existenzphilosophie, wie sie bei Brentano, Dilthey und Husserl anzutreffen ist, als eine pervertierte Einstellung im Verhältnis zur rationalen abendländischen Tradition erscheint, wie er in einer von Heftrich selbst zitierten Behauptung sagt: „Mit ihren [seil, der genannten drei Autoren; J. F. ] Ansprüchen, eine Philosophie zu sein, bedeutete sie das Ende nicht nur der Philosophie, sondern auch der ganzen abendländischen Wissens- und Gesinnungskultur, wäre sie nicht bloß ein Ausschlag am geistigen Antlitz der Zeit, ein hartnäckiger freilich, wie so manche schlimmen Dermatosen, gegen die nichts hilft; er verschwindet aber eines Tages infolge (politischer) Luftveränderung oder von selbst." 13 (Sic!) Eine solche Philosophie wird ebenso als Philosophie infragegestellt wie das Denken Nietzsches, das dann nur als bloßes Produkt psychologischer Probleme erscheinen kann. Und eben weil es psychologisch, d. h. lebensgeschichtlich biographisch aus gewissen Begegnungen (insbesondere mit Wagners Frau Cosima) zu erklären ist, deshalb sei es nicht als Philosophie zu beurteilen. Es ist ein ganz spezifischer Begriff von Philosophie, der hier die Grenze zu Texten ziehen zu können meint, die als „bloß" psychisch bzw. biographisch bedingt erscheinen. Die strikte Differenzierung aber zwischen Philosophie und Psychologie wird dadurch nicht nur relativiert, sondern in einem extrem kritischen Maße durchgeführt. Dieses Faktum zeigt, daß es sicher auch, ja sogar in erster Linie eine Frage des Philosophiebegriffs ist,

12 Ebd., 182. " F.. F. Podach: Ein Blick in Notizbücher Nietzsches, S. 34, zit. nach F. Heftrich, a. a. 0., S. 183 Anm. 1; vgl. F. F. Podach, „Nietzsches Ariadne", in: Nietzsche, hrsg. von J. Salaquarda, a.a.O. 153-168.

313

Interpretation der J u g e n d s c h r i f t e n Nietzsches

wie die A b g r e n z u n g zwischen philosophischen und psychologisch zu interpretierenden Texten g e z o g e n wird. Darüber hinausgehend aber macht dieses Problem offenkundig, daß es grundsätzlicher Ü b e r l e g u n g e n bedarf, ob überhaupt und inwiefern die lebensgeschichtliche Dimension in philosophischen Texten, die offenbar auf biographische Sachverhalte zurückzubeziehen sind, zu beachten ist. Damit w i r d die Trennung von verschiedenen Sachbereichen natürlich nicht geleugnet, auch nicht von verschiedenen Gesichtspunkten der Interpretation ein und desselben Textes. Aber es ist die Frage, ob trotz dieser Trennung nicht die biographische Dimension beim Verständnis, bei der Interpretation des philosophischen Sachgehaltes als eine spezifische Dimension mitzuberücksichtigen ist. Dieser prinzipiellen Frage ist im vorliegenden Beitrag ausdrücklich nachzugehen; und z w a r soll dies nicht allein vor d e m H i n t e r g r u n d der ,klassischen' Nietzsche-Interpretationen geschehen, die in den bisher genannten drei Lösungsversuchen eine u n b e w ä l t i g t e Problemlast zurückgelassen haben, sondern zugleich in Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen, die versuchen, das Denken Nietzsches von seiner Biographie, insbesondere von der Kindheit und Jugendzeit her, zu verstehen. Vor der W e i t e r v e r f o l g u n g der genannten Schlüsselproblematik seien darum kurz einige der aktuellen Beiträge zur lebensgeschichtlichen Bedingtheit des Denkens Nietzsches, im besonderen das umfassende Werk v o n H. J. Schmidt, zur Sprache gebracht.

2. Aktuelle Beiträge

Biographie und Denken des jungen

Nietzsche

Während 1963 Podach die Information geben konnte, daß zur Zeit eine Ausgabe vorbereitet werde, die „als erste nach den M a n u s k r i p t e n von unabhängigen Gelehrten gemacht sein w i r d " , und er ein Team italienischer Gelehrter e r w ä h n t , 1 4 liegt inzwischen diese von G. Colli und M . Montinari besorgte A u s g a b e in den größten Teilen vor. A u s s t ä n d i g sind noch — neben Nachberichtsbänden — die Nachlaßbände zu Abteilung II (Philologica) sowie die gesamte, in Vorbereitung befindliche Abteilung I der Schriften der Kindheit und der J u g e n d , also der Frühe Nachlaß, w i e dieser K o m p l e x von Aufzeichnungen im ganzen — im Unterschied zu den späteren Fragmenten und zum Späten Nachlaß ( K G W VII und VIII) — genannt werden sollte. O b w o h l also die Notizen der Kindheit und J u g e n d noch nicht in der neuen Edition erschienen sind, hat gerade das frühe Denken Nietzsches in den 14

Zit. nach E. Heftrich, a. a. O., S. 174. Podach sagt an dieser Stelle, d a ß er selbst zur H e r a u s g a b e h e r a n g e z o g e n w o r d e n sei; es w ä r e von e d i t i o n s g e s c h i c h t l i c h e m Interesse, diesen Z u s a m m e n h ä n g e n im P l a n u n g s s t a d i u m der K G W näher n a c h z u g e h e n .

314

Johann Figl

letzten Jahren ein großes Interesse gefunden. Darüber hinaus hat die Tatsache der Kritischen Gesamtausgabe als solche offensichtlich zu einem intensivierten Interesse an der Biographie Nietzsches beigetragen. Sie hat generell eine neue Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Nietzsche eröffnet, wodurch auch die biographischen Fragestellungen wiederum stärker in den Mittelpunkt rückten. Außer der dreibändigen Nietzsche-Biographie von Curt Paul Janz, die parallel mit der KGW erschienen ist, seien die Biographien von Werner Ross und Horst Althaus erwähnt. 1 5 Von der Aufgabe einer Lebens-Beschreibung („Bio-graphie") her war es für diese Autoren natürlich nicht möglich, eine solch strikte Zäsur zwischen Denken und Leben vorzunehmen, wie sie die einleitend skizzierte Position M. Heideggers kennzeichnet; H. Althaus lehnt diese Vernachlässigung des gelebten Lebens Nietzsches durch Heidegger und — wie er meint — auch durch Jaspers entschieden ab; für ihn liegt gerade in den Wirrnissen der Biographie der „Schlüssel für vieles sonst schwer zu Verstehende" 16 . W. Ross kritisiert — ausgehend von Heideggers berühmtem Satz „,Nietzsche' — der Name des Denkers steht für die Sache seines Denkens" — gerade das Faktum, daß in dem ganzen zweibändigen Werk nicht mehr „E,r", nämlich Nietzsche, sondern „nur noch Eis: sein Philosophieren" 1 7 vorkomme; daß Nietzsche als Philosoph, d. h. in seinen Ideen rezipiert worden ist, sei sein Unglück gewesen, wie überhaupt in der Rezeptionsgeschichte seit dem Jahr, in dem er ins Irrenhaus eingeliefert wurde, „sofort die Person hinter dem Werk (verschwand)" 1 8 . Gerade auf diese Person aber versucht Ross das gesamte über Nietzsche vorliegende Material „zurückzuspiegeln"; ihm geht es um die Darstellung des Lebens. Der Verfasser will sich dem Leben ohne Hinzufügung einer ,,neue[n] Dimension" nähern und weicht bewußt ζ. B. der soziologischerweiternden und der psychologisch-vertiefenden Analyse aus. 19 Hinter dieser Konzeption steht gewissermaßen ein nicht problematisierter Realismus, der die Dinge, wie sie waren, nachzuzeichnen versucht, ohne sich durch philosophische Reflexionen oder einzelwissenschaftliche Resultate dazwischenreden zu lassen. Der Zusammenhang zwischen Leben und Denken wird zwar auch in der sehr detaillierten dreibändigen Biographie von C. P. Janz nicht eigens und systematisch erörtert, jedoch kommt dieser Zusammenhang wiederholt und

15

u 17 18 19

C. P. Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1 und 2, München 1978, Bd. 3, München 1979; W. Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980; H. Althaus: Friedrich Nietzsche. Eine bürgerliche Tragödie, München 1985. H. Althaus, a. a. O., S. 10 f. W. Ross, a. a. O., S. 7; vgl. M. Meidegger (s. o. Anm. 2). Λ. a. O., S. 8. A . a . O., S. 10 f.

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

315

ζ. T. relativ ausführlich zur Sprache 20 ; zudem hat sich der Autor sehr grundlegend und wegweisend mit der Bedeutung von Textproblemen (der Briefe Nietzsches) für die Biographie (und Doxographie) beschäftigt. 2 1 Im Hintergrund der Konzeption von Janz steht im Grunde aber auch die Überzeugung, die schon R. Blunck bei der Darstellung der Kindheit und Jugend Nietzsches geleitet hat, die nun im Band I der Biographie von Janz integriert ist, nämlich daß man Nietzsches Denken — im Unterschied zu anderen Philosophen, wie ζ. B. Kant — ohne Kenntnis seines Lebens nicht verstehen könne. 2 2 Die genannten Biographien wenden sich in erster Linie dem Leben Nietzsches zu, und nicht so sehr dem Denken des Philosophen; und entsprechend diesem legitimen biographischen Interesse sowie in Beachtung der damit gegebenen Grenzen vertreten sie nicht den Anspruch, „seine Philosophie in ihren letzten Konsequenzen auszuweisen", selbst wenn die Absicht leitend ist, „die Lebensgeschichte mit ihren Stadien als Einführung in sein Denken, das Verständnis seiner Philosophie als Lebensphilosophie [ . . . ] " zu verstehen, wie H. Althaus schreibt. 23 Im Vergleich dazu ist der Anspruch von neueren Arbeiten, die sich schwerpunktmäßig der Kindheit Nietzsches zuwenden, weitreichender. Gewiß ist im Rahmen jeder Biographieforschung die Kenntnis der frühesten Phasen des Lebens einer Person von großer Bedeutung; und es ist gerade der psychologische Ansatz, der das Interesse auf die lebensgeschichtlich frühe und frühfeste Zeit hinlenkt, da — nicht allein für die psychoanalytische und tiefenpsychologische Betrachtungsweise — die Prägungen in der Kindheit von weittragender Bedeutung für die spätere Entwicklung sind. Die ersten Begegnungen mit weltanschaulichen Inhalten scheinen ebenfalls von großer Relevanz zu sein. Von diesem Hintergrund her ist die in der aktuellen Forschung wachsende Beschäftigung mit der emotionalen und denkerischen Entwicklung Nietzsches als Kind und Jugendlicher mitbedingt. Es sind eine Reihe von Arbeiten dazu erschienen. 24 Aus philo20 21

22

23 24

Vgl. ζ. B. Bd. I, S. 504 ff., 515 ff., 589 ff.; bes. Bd. II, S. 9 ff. C. P. Janz: Die Briefe Friedrieb Nietzsches. Textprobleme und ihre Bedeutung für Biographie und Doxographie, Zürich 1972; ders.: „Probleme der Nietzsche-Biographie", in: Studia philosophica, Basel 1964. Vgl. R. Blunck: Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend, Basel 1953, D. 9 ( = C. P. Janz: Friedrich Nietzsche, a. a. O. Bd. I, S. 17). H. Althaus, a. a. O., S. 11. Es sei verwiesen auf R. Kreis: Der gekreuzigte Dionysos. Kindheit und Genie I'riedrich Nietzsches. Zur Genese einer Philosophie der Zeitenwende, Würzburg 1986; A. Miller: „Das ungelebte Leben und das Werk des Lebensphilosophen (Friedrich Nietzsche)", in: Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt/M. 1988, S. 9 — 78; J . Kjaer: Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990; J . Köhler: Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft, Nördlingen 1989; P. D. Volz: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Würzburg 1990; vgl. dazu J. Figl: „Der junge Nietzsche. Deutung und Bedeutung von Biographie und Werk", in: Jahresschrift der border- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche, Bd. II (1991/92), S. 7 ff.

316

Johann Figl

sophischer Perspektive ist einer der wichtigsten Beiträge die sehr umfangreiche Arbeit von Hermann Josef Schmidt: Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit. An der Quelle: In der Pastorenfamilie, Naumburg 1854 — 1858 oder Wie ein Kind erschreckt entdeckt, wer es geworden ist, seine ,cbristliehe Erziehung unterminiert und in heimlicher poetophilosophischer Autotherapie erstes ,eigenes Land gewinnt.25 Die Arbeit betont den biographischen Hintergrund sehr stark, sie betrachtet von verschiedenen Perspektiven her — einschließlich der psychologischen und psychoanalytischen — die frühen Aufzeichnungen Nietzsches; sie will, wie H. J. Schmidt in dem Beitrag zu dem 1989 erschienenen Gedenkband für Mazzino Montinari im Hinblick auf seinen ,Nietzsche absconditus' sagt, der Versuch einer „historisch-genetischen, deskriptiven und kritischen, rationalen und meditativen, empathischen und reflektierten, integrierten und heterodoxen Physio-, Psycho- und Nooanalyse Friedrich Nietzsches" sein, den er einen ,,philosophische[n] Kriminalroman" nennt; 26 es wird ausdrücklich ein „Blick auf einen ,kleinen Philosophen'" versucht. Dieser verdienstvolle und beachtenswerte Aspekt ist hervorzuheben: es geht um die Würdigung der Schriften des Kindes Nietzsche im Hinblick auf die bei ihm schon implizierten philosophischen Aussagen, und darüber hinausgehend um den Anspruch, von ihnen her die spätere Philosophie besser verstehen zu können, also vieles von dem, was Nietzsche selbst noch in den späten Jahren, vor Ausbruch seines Wahnsinns, bewegte, schon in den frühesten Aufzeichnungen erkennen zu können. Diese dezidiert philosophische Orientierung unterscheidet sich bewußt von anderen, rein psychologisch ausgerichteten Arbeiten 27 , und macht sie zu einer philosophisch zu diskutierenden Interpretation. Worin kann nun die Grundthese dieser beiden über tausendeinhundert Seiten umfassenden Bände erblickt werden? Eine durchgehende einheitliche Grundthese zu erfassen ist nicht ohne weiters möglich, da sehr verschiedene Intentionen mit dem Werk verfolgt werden, und die Ausführungen bisweilen eine Vielzahl von Schichten bzw. Dimensionen an Nietzsches psychischem Erleben, an seinen Texten sowie auch an den Personen seiner Umgebung unterscheiden und zu berücksichtigen versuchen. 28 Trotz dieser Vielschich25

26

2

28

Berlin/Aschaffenburg 1991: Teil I/II, 567 S., Teil III, 553 S. Inzwischen ist der erste Teilband zur Jugend (1858—1861) erschienen (Berlin/Aschaffenburg 1993), der hier jedoch nicht mehr berücksichtigt werden konnte. H. J . Schmidt: „Mindestbedingungen nietzscheadäquaterer Nietzsche-Interpretation oder Versuch einer produktiven Provokation", in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 440 — 454, Zitat S. 454, Anm. 22. Ζ. B. von J . Kjaer, A. Miller, aber auch den stark analytisch-kritischen Zugang J . Köhlers (siehe Anm. 24). Vgl. ζ. B. die Aufschlüsselung der ,,innere[n] Pluralität Nietzsches" in Fritz,, Fritz 2 , usw. bis Fritz ä : S. 596 f.; im Lebensverlauf der Mutter werden hintereinander gar die „Persönlichkeiten" von Franziska 1 x l " geschildert: S. 869 ff.

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

317

tigkeit des Werkes scheinen meiner Meinung nach zwei sich wechselseitig bedingende Elemente von tragender Bedeutung zu sein: einerseits ein methodologisch-hermeneutisches und andererseits ein inhaltliches. Die methodische Grundprämisse gründet in der Uberzeugung, daß in Nietzsches Texten der Kindheit und J u g e n d „zumindest eine doppelte Lesart'''' vorgegeben sein muß: „Eine Lesart, die für seine Leser attraktiv, zumindest jedoch nicht verfänglich ist, und eine zweite Lesart, die für seine intellektuelle Entwicklung repräsentativ ist" (454). In inhaltlicher Hinsicht lautet eine leitende Grundauffassung, daß es in den Texten des Kindes „ein durchgängiges Thema und eine große Bewegung [gibt]: das Thema ist das Problem der Gerechtigkeit Gottes" (719); demnach ist die gesamte Naumburger Zeit von „dem Grundkonflikt ^wischen religiöser Tradition (Christentum protestantisch-puritanischer Ausprägung) einerseits und der Selbstseins- und Selbsterfahrung sowie Selbstbe- und Selbstermächtigungstenden^ Nietzsches andererseits [bestimmt]" (786). Oftmals wird von Schmidt wiederholt, was in folgendem Satz höchst pointiert zum Ausdruck kommt: „Der Gott seiner Väter, ER, war offenbar das große Problem des Kindes; und mit diesem Problem hat Nietzsche bis 1889 permanent gekämpft [ . . . ] " (719). Diese die ganze wache Lebenszeit Nietzsches umfassende D e n k e n t w i c k l u n g stellt Schmidt auch im Bilde einer großen Symphonie Überblickshaft am Ende der Kindheitsbände zu Nietzsche absconditus dar (vgl. 1075 ff.). In den Kindheitsaufzeichnungen selbst zeige sich das Gottesproblem, insofern er als Gerechter erscheint, unter anderem in einem Mosesgedicht; die erste Alternative zum christlich-jüdischen Gott J a h w e erblicke Nietzsche in griechischen Göttern und einer ihnen korrespondierenden Naturreligiosität (vgl. 722). Gleichzeitig mit dieser — gegenüber seiner Umwelt verheimlichten Religionskritik (vgl. 728) —, also der Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem, bildete sich der andere Pol, nämlich das Anthropodizee-Problem heraus (vgl. 733). Das zweite der erwähnten Basiselemente des Ansatzes von Schmidt, das methodologische, ist an sich das wichtigere; denn die inhaltliche These, daß die religionskritische Problematik für Nietzsche entscheidend war, bedeutet noch keine neue Einsicht, sondern erst die durch die spezifische hermencutische Prämisse hindurch gedeutete religiöse Thematik, nach der Nietzsche schon in der Kindheit als entschiedener Religionskritiker verstanden werden könne. Von diesen beiden Grundelementen her kann — sofern dies überhaupt angesichts der in sich ineinander vielfach verschachtelten Überlegungen Schmidts gesagt werden kann — der gesamte Ansatz verstanden werden. Die Würdigung — aber auch die Kritik — wird darum vorrangig bei diesem hermeneutischen Prinzip einerseits und bei der inhaltlichen These andererseits ansetzen müssen. Dies sei nun versucht, ausgehend von generellen Interpretationsprinzipien, deren Befolgung angesichts des J u g e n d w e r k e s Nietzsches erfordert ist.

318

J o h a n n Figl

3. Postulate

einer biographie-integrierenden Jugendschrijten

Interpretation

von

Nietzsches

Im Hinblick auf eine solche umfassende Hermeneutik möchte ich drei Aspekte unterscheiden, gewissermaßen drei konzentrische, immer weiter ausgreifende Interpretationshorizonte, die für eine solche Interpretation nützlich sind: erstens den lebens- und zeitgeschichtlichen, zweitens den kulturgeschichtlichen und drittens den universalgeschichtlichen Kontext; durch letzteren wird eine bloß kulturimmanente Fragestellung überschritten im Hinblick auf die außereuropäischen religiösen und philosophischen Traditionen. Wenn diese drei Dimensionen berücksichtigt werden, dann vermag eine solchermaßen biographie-integrierende Interpretation einen heuristisch vertiefenden Beitrag zum Verständnis der Philosophie eines Denkers zu leisten, wie abschließend herausgestellt wird. 2 9

a) Lebensgeschichtlicher Zusammenhang Wenn die Kindheits- und Jugendschriften Nietzsches interpretiert werden, so ergibt sich eine Perspektive gewiß aus der Tatsache, daß hier die frühen Äußerungen eines Menschen vorliegen, der später zu einem der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit geworden ist; jedoch darf die andere Perspektive dadurch nicht verdeckt werden, nämlich daß auch dieses Kind den allgemeinen Bedingungen des Kindseins und Erwachsenwerdens unterworfen war, daß es die normalen Stadien der Jugendentwicklung durchlaufen hat, die freilich mit spezifischen, individual geprägten Krisen verbunden sein konnten, jedoch nicht an sich ein „Sonderschicksal" darstellen; würde man diese allgemeinen Aspekte nicht beachten, und im Kind einseitig den „kleinen Philosophen" oder den verborgenen Religionskritiker suchen und sehen, so besteht die Gefahr einer Legendenbildung, einer „Heiligenbiographie" — nur mit entgegengesetzten Vorzeichen und Intentionen —, wie sie an E. FörsterNietzsches Darstellungen familiärer Vorkommnisse kritisiert wurde. Wenn man sich nun aber der Erforschung der Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen zuwendet, insofern diese schriftlich erfaßbar ist, wie dies in einer für die Kulturgeschichte der Neuzeit einmaligen Weise bei Nietzsche der Fall ist, dann legt es sich nahe, die entsprechenden Forschungsergebnisse 25

In einem in A u s a r b e i t u n g befindlichen u m f a s s e n d e r e n Beitrag mit d e m Titel „ B i o g r a p h i e und P h i l o s o p h i e " w i l l ich versuchen, diese hermeneutischen M a x i m e n im einzelnen zu b e g r ü n d e n und a m „ E x e m p l u m " Nietzsche (insbesondere an seinen J u g e n d s c h r i f t e n ) zu konkretisieren.

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

319

über die Sozialisation eines Kindes in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts sowie überhaupt die reichhaltige Literatur der Psychologie, der Pädagogik und anderer relevanter Disziplinen auch aus philosophischer Perspektive zur Kenntnis ζu nehmen. Eine interdisziplinäre Fragestellung wäre hier von besonderem Nutzen; eine selektive Auswahl, die vom Interesse der philosophischen Fragestellung geleitet ist, dürfte zu eng sein. H. J. Schmidt hat in seinem Werk Nietzsche absconditus verschiedentlich die Resultate nichtphilosophischer Disziplinen, wie psychologische und hirnphysiologische Arbeiten, einbezogen, jedoch ist nicht geklärt, welchen Stellenwert diese im Hinblick auf die philosophisch relevante Fragestellung haben, da es methodisch nicht ausreichend sein dürfte, wenn „die Berücksichtigung von einzelwissenschaftlichen Ergebnissen dann für förderlich" gehalten wird, „wenn sie in der Sache weiterführen und ohnedies auf dem Argumentationsstrang liegen" 3 0 . Denn es bedarf gerade der Diskussion jener einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse, die zu abweichenden Resultaten führen. Die Aufgabe, die die /«j^Wschriften eines Philosophen stellen, erfordert es, sich Rechenschaft zu geben, welche hermeneutischen Perspektiven bei der Auslegung leitend sind, wie der philosophische Zugang und die Beiträge anderer Disziplinen legitim miteinander verknüpft werden können. Es bedarf einer Interpretation, die bei der Deutung des Wortlautes eines Textes gezielt die altersspezifischen Komponenten miteinbezieht. Erst auf dieser Grundlage kann differenziert das Verhältnis von Jugend- und Erwachsenenalter nicht nur psychologisch bedacht, sondern auch die Werkentwicklung, d. h. die philosophische Entwicklung im Sinne auch des neu Gedachten — nicht nur als Explikation von schon im Kindes- und Jugendalter Angelegtem bzw. Antreffbarem —, in Betracht gezogen werden. Wenn die Lebensgeschichte im Zusammenhang mit der Werkgeschichte, also eine lebenszeitimmanente Interpretation vorgenommen wird, so muß man methodologisch klären, welche anthropologischen Vorstellungen vom Verhältnis Kindheit und Jugend zum Erwachsenenalter bestehen, welche Phasenmodelle philosophisch-psychologischer Art in Anlehnung an Freud, FIrikson, Jung oder andere verwendet werden, wie hier der Bezug zwischen Kindheitsnotizen und Erwachsenenverständnis hergestellt wird, welches Lebensalter-Konzept und Philosophieverständnis leitend ist. Dabei ist auch zu bedenken, daß es sich um einen Werdegang handelt, der den Bedingungen der europäischen Zivilisation unterliegt. Die individual-biographische Interpretationsperspektive öffnet sich darum organisch zur kultur- und zeitgeschichtlichen hin. 30

A. a. O., S. 586 Anm. 3.

320

Johann Figl

b) Kultur- und zeitgeschichtliche Interpretation Damit ist eine innerhalb der abendländischen, christlich geprägten Kultur verbleibende, gleichwohl sehr umfassende Perspektive gemeint. Hier sind das religiöse Milieu der Kitern, der Familie, die theologische P r ä g u n g seines Vaters, die F r ö m m i g k e i t der Zeit, die allgemein üblichen religiösen Praktiken und kultischen Feiern zu berücksichtigen, die Nietzsche v o r g e f u n d e n hat und die er selbst zu einem großen Teil gelebt hat; in einem weiteren Schritt sind die Erziehungsmaßstäbe u m die Mitte des v o r i g e n Jahrhunderts — einschließlich der zeitgenössischen und von Nietzsche praktizierten F o r m e n des Spielens (mit Soldaten, Spielfeldern usw.) — in ihrem neuzeitlichen Kontext zu beachten, v e r b u n d e n mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen, die das Phänomen der Kindheit, ebenso wie jenes der Herausbildung der Kleinfamilie, in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext sehen, aber auch die spezifische Konzeption einer Eliteschule zur Heranbildung des Beamtentums und des Klerus und anderer führender bürgerlicher Berufe zu berücksichtigen. Das psychologische Klima, dem Nietzsche in einem evangelischen Pfarrhaus in der Mitte des 19. Jahrhunderts sowie in einer protestantischen Eliteschule ausgesetzt war, ist seinerseits eingebettet in einen kulturgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g . Schon in der Gymnasialzeit konnte Nietzsche aufg r u n d der Beeinflussung durch wissenschaftlich-intellektuelle und philosophisch-geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts das Gefühl einer großen inneren Distanz zu dem nach außen hin noch gelebten Glauben bekommen. 31 Und sogar beim Kind Nietzsche treffen w i r sehr kritische Ü b e r l e g u n g e n hinsichtlich der Vorstellung Gottes an; schon als er 12 J a h r e alt war, so schreibt er in psychoanalytisch äußerst interessanten Erinnerungen, habe er sich kritisch mit dem Ursprung des Bösen aus Gott auseinandergesetzt. 3 2 Nietzsche w a r also in der Kindheit und J u g e n d schon von bestimmten geistesund theologiegeschichtlichen Strömungen beeinflußt, die er nicht teilnahmslos zur Kenntnis g e n o m m e n hat, sondern an denen er innerlich partizipiert hatte. Es ist zweifelsohne wichtig, diesen kultur- und denkgeschichtlichen Zusammenhang zu eruieren. Doch die Prämissen des Interpreten dürfen nicht zu Grenzen des Verständnisses werden, w e n n ζ. B. systematische Vorgaben so sehr leitend sind, daß Nietzsches eigene D e n k e n t w i c k l u n g verdeckt zu werden droht. Dies scheint dann der Fall zu sein, w e n n die Probleme des Kindes Nietzsche primär als „ P r o d u k t christlicher Zwangserziehung" betrachtet " Vgl. J . Figl: Dialektik der Gewalt, a.a. O., S. 55 ff. 52 M. Montinari: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, insbes. den Beitrag „Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879", S. 35 ff.

321

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

werden, wenn überwiegend vom „unterdrückte [n] Kind" die Rede ist, und vor diesem Hintergrund im Hinblick auf seine frühe Entwicklung von „christofugaler und vielleicht sogar antichristlicher Intention" gesprochen wird. 3 3 Eine solche Konzeption setzt generell die Annahme als gegeben voraus, nach der die Entwicklung zur Individualität und autonomen Subjektivität einem repressiven, vor allem religiös fundierten System gesellschaftlicher und sittlicher Normierungen gegenübersteht. In einer letzten Verallgemeinerung handelt es sich um ein antithetisches Verhältnis von Individuum und repressiver Gesellschaft bzw. Kultur, also um eine Antithese, in der sich Nietzsche selbst verstanden hat und er auch vielfach gelesen wurde, jedenfalls seit Veröffentlichung seiner ersten philosophischen Werke; es muß jedoch offen bleiben, ob dies auch schon für seine Kindheit zutrifft. Es handelt sich somit um eine verallgemeinernde anthropologische Grundkonzeption, wie sie ζ. B. außer in den kulturkritischen Schriften Nietzsches von Freud expliziert wird und in anderer Weise von Marx, nämlich unter der Perspektive des einer Kultur und Religion immanenten notwendigen Zwangs bzw. ökonomisch bedingter Repressionen, die insgesamt zur Triebunterdrückung führen. Die hier leitende Hermeneutik ist eine solche des Verdachts, eine hinterfragende Hermeneutik, wie sie P. Ricoeur nennt, der ihr eine Hermeneutik des Sinns bzw. des Logos gegenüberstellt. 3 4 Die Hermeneutik des Verdachts versucht, hinter den vorgegebenen, expliziten Aussagen des Textes eine verborgene, versteckte, verdrängte Implikation freizulegen, auf die es eigentlich ankäme. In einer solchen Richtung denkt zweifelsohne H. J. Schmidt. Zwar versucht jede Hermeneutik über den vorgegebenen Wortlaut hinausgehend einen umfassenderen Sinn der Aussage zu erfassen — sie ist ja nicht bloß Wiederholung des Wortlautes, sondern eben Interpretation —, jedoch ist dabei stets gefordert, die Evidenz der Interpretation anhand von Kriterien aufzuzeigen; auch von einer Hermeneutik des Verdachts muß diese Plausibilität verlangt werden. Hinsichtlich dieser methodologischen Prämisse ist zwar der Versuch, das Nichtgesagte, das Verborgene im Gesagten zu eruieren, als grundsätzliches Anliegen zu begrüßen. Jedoch die überzeugende Durchführung einer solchen — letztlich auf Nietzsche selbst zurückgehenden — ,Hermeneutik des Verdachts', die primär dem Manifesten das Latente gegenüberzustellen versucht, bedarf der Heranziehung umfassender Materialien. Gerade bei der Interpretation der biographisch grundlegenden Jugendschriften Nietzsches bedarf es genauer lebens- und quellengeschichtlicher Forschungen, die Aufschluß über die affektiven Einflüsse, denen Nietzsche ausgesetzt

11

14

H. J. Schmidt: „so anders ... als alle anderen". Nietzsches Kindheit(stexte) sche?, Dortmund 1992, S. 27. Vgl. P. Ricoeur: Die Interpretation, Frankfurt/M. 1969.

als Schlüssel

Nietz-

322

Johann Figl

war, geben können, bzw. auch über die Ideen und Motive, die er (ζ. B. durch Lektüre) kennengelernt hat. In diesem Kontext gewinnt die Eruierung des gesamten zeitgeschichtlich geprägten, geistigen und sittlich-emotionalen Umfeldes, in dem Nietzsche lebte, eine zentrale Bedeutung. Vermittels dieser Intention wird die kulturgeschichtliche Fragestellung mit der biographischen verbunden, die — im Unterschied zu Heideggers Auffassung — nicht als irrelevant ausgeklammert werden darf. Denn dadurch würden einige Momente des Denkens Nietzsches, die zweifelsohne gegeben sind, nicht angemessen gewürdigt werden, nämlich jene, die — bisweilen sogar nach dem Zeugnis des Autors — ihren Ursprung in biographischen Widerfahrnissen oder literarischen Begegnungen gehabt haben.

c) Transkultureller Interpretationshorizont Schließlich darf auch die europäische Kultur-, Religions- und Mentalitätsgeschichte nicht den letzten Horizont zum Verständnis des Lebens und Denkens Nietzsches darstellen. Es ist notwendig, im Sinne eines umfassenden Verstehens, gerade von Dokumenten, die Aufschluß über das Hineinwachsen in eine spezifische Kultur geben, diese eurozentrischen Einengungen aufzubrechen, hin zu einem interkulturellen Horizont, hin zur Begegnung mit den Überlieferungen anderer Kulturkreise. Nietzsche selbst hat übrigens in dieser Richtung gedacht, wie ζ. B. seine Auseindersetzung mit dem Buddhismus in exemplarischer Weise zeigt. 15 Und es ist zurecht anzunehmen, daß Nietzsche in seiner Kindheit Erfahrungen hatte, die in ihrer emotionalen Gestalt und bildlichen Symbolisierung angemessen im Kontext allgemein-anthropologischer religiöser Erfahrungen zu verstehen sind, und nicht im Rahmen der begrenzten Vorstellungen eines neuzeitlich-europäischen Religionsbegriffs. Dieser Aspekt kommt andeutungsweise bei H. J . Schmidt 3 6 und ebenso bei R. Kreis 3 7 zur Sprache; es gelingt jedoch nicht, den genannten umfassenderen Hintergrund aufzuzeigen, vermutlich deshalb nicht, weil einerseits — aufgrund einer spezifischen religionskritischen Position — ein entsprechend enger Begriff von Religion leitend ist, und andererseits nicht die anthropo35

36 37

Vgl. J. Figl: „Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens. Auf der Grundlage seiner unveröffentlichten Kollegnachschrift aus Philosophiegeschichte (1865)", in: NietzscheStudien 18 (1989), S. 455 — 471; ders.: „Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche. Unter Heranziehung seiner unveröffentlichten Vorlesungsnachschrift der Philosophiegeschichte", in: Das Gold im Wachs (Festschrift für Th. Immoos), hrsg. von E. Gössmann und G. Zobel, München 1988, S. 499 — 511; ders.: „Nietzsches Early Encounters with Asian Thought", in: Nietzsche and Asian Thought, ed. by Gr. Parkes, Chicago/London 1991, S. 51—63. H. J . Schmidt: Nietzsche absconditus, S. 768ff.; ders.: „so anders ... als die anderen", S. 31 ff. R. Kreis: Der Nietzsche-Mythos vom Erdenreich, Frankfurt a.M. usw. 1991, S. 317 ff.

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Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

logischen Einsichten über die religiöse Erlebnis- und Bilderwelt von K i n d e r n berücksichtigt werden, o b w o h l diese von philosophischer Relevanz w ä r e n . 3 8 E r s t v o r dem Hintergrund der allgemeinen religiösen Sozialisation, die nicht im Interesse des eigenen weltanschaulichen Standpunktes — sei er atheistisch, indifferent oder religiös

— einseitig interpretiert werden darf, ließe sich

zeigen, in welcher Hinsicht des K i n d e s Nietzsche Lebens- und Denkerfahrungen „extraordinär gewesen sein m ü s s e n " . 3 9 Generell kann gesagt werden, daß sich Nietzsche mit seiner extremen Distanziertheit g e g e n ü b e r der abendländischen Überlieferung an deren Rändern und Grenzen befunden hat und auf diese Weise in besonderer F o r m befähigt war, eine B r ü c k e zu anderen Kulturen zu schlagen. Auch aufgrund der Tatsache, daß er die Relativität und die geschichtliche Bedingtheit kultureller A u s d r u c k s f o r m e n — bis hinein in philosophische Artikulationen und weltanschauliche Grundbegriffe — so stark b e t o n t hat, scheint der trans- und interkulturelle D i a l o g gerade von seinem D e n k e n her ermöglicht zu werden und erfordert zu sein. E s ist darum billig und angemessen, Nietzsches D e n k e n selbst in diesen universalen Horizont hineinzustellen und es in Beziehung mit außereuropäischen Überlieferungen zu setzen (ζ. B. mit der islamischen Mystik oder dem Z e n - B u d d h i s m u s ) ; 4 0

erst dann kann die Tragweite

D e n k e n s in seiner anthropologischen, o n t o l o g i s c h e n , aber auch

seines

(a-)theo-

logischen Bedeutung angemessen verstanden und beurteilt werden.

d) Zusammenfassende Perspektiven D a s P r o b l e m des Verhältnisses zwischen B i o g r a p h i e und Philosophie war generell bei der Hermeneutik philosophischer Texte zu bedenken. E s stellte sich die Frage, o b dieses P r o b l e m zu lösen ist. In den vorliegenden Überlegungen konnte keine endgültige, im einzelnen ausgeführte A n t w o r t gegeben werden. E,s wurde nur auf einige P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e hingewiesen, im besonderen auch auf die Möglichkeit eines Modells des Erfassens verschiedener Aspekte ein und desselben Textes nach unterschiedlichen Dimensionen hin, im Sinne von immer weiter ausgreifenden K o n t e x t e n . Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß für die philosophische Zugangsweise der philosophische Sachgehalt g e w i ß der primäre und eigent18

w 40

In der in Anm. 29 genannten Abhandlung möchte ich diesen Dimensionen im Horizont eines umfassenden, die mystisch-ekstatischen Dimensionen betonenden Religionsbegriffs nachgehen. H. J . Schmidt, „so anders ... als die anderen", S. 31; vgl. R. Kreis, a. a. O., S. 325ff. Vgl. J . Figl: „Kultur, Kunst und Religion. Transkulturelle Perspektiven angesichts des Buddhismus-Verständnisses in Nietzsches ,Geburt der T r a g ö d i e ' " , in: Zen-Buddhism Today. Annual Report of the Kyoto Zen Symposium Nr. 9 (1992), S. 4 6 — 60.

324

J o h a n n Figl

liehe ist; doch davon abgehoben, wenn auch nicht von ihm getrennt, können weitere Dimensionen betrachtet werden, insbesondere jene Aspekte, die zurückweisen auf den lebensgeschichtlichen Zusammenhang sowie auf intrapsychische Konstellationen, die (möglicherweise) beim Zustandekommen des Textes mitgewirkt haben, und die es im Rahmen einer biographie-orientierten Hermeneutik zu erschließen gilt. Natürlich sind auch jene Aspekte nicht zu vernachlässigen, die der historischen, der quellengeschichtlichen, der kultur-, ideen- und religionsgeschichtlichen oder der soziologischen und sozialgeschichtlichen Interpretation zugänglich sind, wie sie am Schluß des vorliegenden Beitrags kurz angedeutet wurde. Hier ging es primär um den biographischen Aspekt philosophischer Aussagen. Dieser kann jedenfalls bei den Texten Nietzsches nicht als irrelevant ausgeklammert werden. Vielmehr muß gesagt werden, daß gerade bei diesem Denker die Sache des Textes und das existenzielle Anliegen enger als bei vielen anderen Philosophen verbunden sind, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst die philosophische Aussage auch als ein Symbol für Eigenerlebtes versteht — nicht zuletzt darum sind solche Zusammenhänge interpretatorisch zu erschließen. Von Nietzsches Denken selbst her ist diese Zugangsweise also nicht nur möglich, sondern nahegelegt. Nicht bloß auf die vielen autobiographischen Schriften der Jugendzeit sei verwiesen, sondern ebenso auf das Faktum, daß die autobiographische Selbstreflexion sein gesamtes Leben durchzieht. Die biographische Dimension sollte also nicht als schlechthin irrelevant für das Verstehen des Textes, auch nicht für das philosophische, betrachtet werden. Denn es gibt Fragen, die X.e.YXimmanent nicht ausreichend gelöst werden können, bzw. die erst dann beantwortet werden können, wenn zusätzliche biographische Informationen gegeben sind, also Informationen, die — meist — in anderen Texten und in Texten anderer Art, eben in lebensgeschichtlichen Zeugnissen, enthalten sind. Damit wird die philosophische Interpretation nicht nur nicht verdunkelt, sondern möglicherweise um eine neue Perspektive bereichert. Es sei aber festgehalten: Mit diesem Insistieren auf dem inhärenten biographischen Aspekt eines philosophischen Textes, insbesondere bei Nietzsche, ist in keiner Weise gemeint, daß die philosophische Dimension psychologisch relativiert würde; es ist auch nicht gemeint, daß die genetische Dimension über die Sachdimension den Vorrang erhalten würde. Es soll allerdings betont werden, daß die biographisch-psychologische Dimension einen partiellen Beitrag zum umfassenderen und klareren Verständnis eines Textes geben kann und durch die Kenntnis des lebens- und entwicklungsgeschichtlichen Hintergrunds manche Unstimmigkeiten und inneren Widersprüche, offene Probleme und Rätselhaftigkeiten zumindest teilweise einer Lösung zugeführt werden können, einer Lösung, die textimmanent allein, d. h. aus-

Interpretation der Jugendschriften Nietzsches

325

schließlich auf der inhaltlichen E b e n e des Textes, so nicht gefunden werden kann. Von diesen Überlegungen her ergibt sich die Angemessenheit, bei der Interpretation der Philosophie Nietzsches die Texte der K i n d h e i t und J u g e n d sehr ernst zu nehmen. In ihnen erschließt sich eine neue, wesentliche D i m e n sion seines D e n k e n s und der E n t w i c k l u n g seiner Vorstellungswelt.

Doch

bedarf dies eines m e t h o d o l o g i s c h umsichtigen V o r g e h e n s , dessen Postulate hier nur ansatzhaft skizziert werden konnten, und die in befriedigender Weise nur dann erfüllt werden können, wenn der gesamte Nachlaß aus der Kindheit und Jugendzeit Nietzsches in einer historisch-kritischen Edition zugänglich ist. Z u r Absicherung der Interpretationen wäre es zudem nützlich, weitere biographisch relevante D o k u m e n t e aus der Kindheit Nietzsches heranzuziehen. Dies ist ein A n g e b o t , keine N o t w e n d i g k e i t , um Nietzsches philosophisches D e n k e n zu verstehen. Dieses A n g e b o t vermag aber nur eine historisch, kritisch fundierte Edition der einschlägigen D o k u m e n t e zu gewährleisten. D a m i t würde nicht nur ein indirekter Beitrag zum Verständnis der Philosophie Nietzsches geleistet werden, sondern es würde auch manchen allzu g r o ß e n Spekulationen im Hinblick auf die biographischen Hintergründe des D e n k e n s Nietzsches Einhalt geboten.

„Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an" Ein Streifzug

durch Nietzsches Aufzeichnungen ζu einer „Geschichte litterarischen Studien" von

FEDERICO GERRATANA,

der

Berlin

Zu den vielen nicht verwirklichten literarischen Plänen Nietzsches, von den jugendlichen Dramen- und Novellenskizzen über das Basler „Philosophenbuch" bis zu „Wille zur Macht" und „Umwerthung aller Werthe", gehört, als einer der ersten und m. E. auch der wichtigsten, der Plan zu einer „Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit" (1867-1869). Die „Geschichte" sollte Nietzsches Leipziger philologische Studien krönen und in einer gewissen Weise zugleich auch rechtfertigen. In thematischer Kontinuität mit diesem Leipziger Projekt stehen in der Basler Zeit Nietzsches Vorlesungen „Encyclopädie der klassischen Philologie" (Sommersemester 1871) und „Geschichte der griechischen Litteratur" (Wintersemester 1874/75, Sommersemester 1875, Wintersemester 1875/76) sowie die unvollendete Unzeitgemäße Betrachtung Wir Philologen aus dem Jahre 1875. Auf die zahlreichen diachronischen wie synchronischen Querverbindungen dieses Planes zu anderen Texten Nietzsches kann im folgenden jedoch ebensowenig eingegangen werden wie auf das Problem des historischen Stellenwertes von Nietzsches zugleich philologiekritischem, -historischem und -theoretischem Projekt. Nach einer kurzen Einleitung werde ich zeigen, wie der in Zusammenhang mit Nietzsches radikaler Kritik an seinem Fach entstandene Plan der „Geschichte" (I) dieser Kritik gleichwohl ihren zerstörerischen Charakter nimmt, welches Erkenntnisinteresse Nietzsche an dieser „Geschichte" hat (II) und welche erkenntnistheoretischen Fragen sich in diesem Zusammenhang stellen (III). Abschließend wird es um die Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philologie gehen, in der sich Nietzsches Reflexion über die eigene philologische Arbeit und sein theoretischer Standpunkt am Anfang der Basler Zeit im allgemeinen in einer interessanten Konstellation zeigen (IV). Alles in allem stellen die Aufzeichnungen zur „Geschichte" einen wichtigen Leitfaden in einer entscheidenden Phase von Nietzsches geistiger Entwicklung dar. Nietzsches Leben vom Herbst 1867 bis zum Frühjahr 1869 läßt sich in zwei deutlich abgrenzbare Abschnitte teilen: die Militärzeit einschließlich der Krankheits- und Genesungszeit (Herbst 1867 bis Herbst 1868) und die letzten

„Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an"

327

Monate in Leipzig. Es ist, von außen betrachtet, eine Zeit des Übergangs: Nietzsches eigentliche Studentenzeit war im September 1867 zu Ende gegangen 1 , und der Militärdienst, den er wider Erwarten antreten mußte, machte eine rasche Promotion unmöglich; die Nachricht von der bevorstehenden Berufung nach Basel erreichte den sich als „zukünftige[n] Privatdocent[en] Leipzigs" 2 verstehenden ,,Privatgel{ehrten)" 3 im Januar 1869. Für die Entwicklung der philosophischen Reflexion Nietzsches ist es eine eminent wichtige Zeit: Höhepunkte dieser Reflexion sind die während der schwersten Krankheitszeit im Frühjahr 1868 entstandenen Aufzeichnungen Zu Schopenhauer sowie die unmittelbar danach niedergeschriebenen Notizen zu einer philosophischen Dissertation „Der Begriff des Organischen seit Kant". Richard Blunck konnte schreiben, daß sich während der Militärzeit „die philologische Versponnenheit der beiden ersten Leipziger Jahre bei Nietzsche wieder löste, und seine philosophischen Instinkte erneut durchbrachen" 4 ; diese Formulierung gibt freilich das grundfalsche Muster wieder, wonach Nietzsches philologische Tätigkeit ein bloßer Irrweg wäre, der ihn eine Zeitlang von seiner philosophischen Natur entfernt hätte. Unter NietzscheForschern und -Interpreten ist überhaupt die Neigung immer noch sehr verbreitet, bei der Beschäftigung mit Nietzsche die philosophische Berufung gegen den philologischen Beruf auszuspielen: als ob Nietzsche die wahre, die philosophische Identität nur dadurch hätte annehmen können, daß er die falsche, die philologische verwarf. 5 Dagegen gilt es festzuhalten, daß sich Nietzsches philosophisches Selbstverständnis in und aus seiner philologischen Tätigkeit entwickelt hat. Bei aller radikalen Kritik, die er sehr frühzeitig an seinem Fach übt, fühlt sich Nietzsche weiterhin dem Selbstverständnis eines Philologen verpflichtet: Nur in dieser Spannung entwickelt er die „fruchtbaren Gedanken" 6 , die ihn dann allerdings unweigerlich über die methodischen und sachlichen Grenzen seines Faches hinausführen. 1

2

5 4 3

6

Am 16. September 1867 holte Nietzsches Studienkamerad Otto Kohl im Auftrag Nietzsches dessen „Studien- und Sittenzeugnis" ab, das die Leipziger Universität am 6. September ausgestellt hatte (vgl. KGB 1/4, S. 464 und 380). Vgl. Nietzsches Brief an Paul Deussen aus der zweiten Oktoberhälfte 1868, K G B 1/2, Nr. 595, S. 329. Vgl. Nietzsches Brief an Erwin Rohde vom 27. Oktober 1868, KGB 1/2, Nr. 596, S. 333. C. P. Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, München/Wien 1978, S. 232. Es gibt freilich erfreuliche Ausnahmen: Dazu gehören ζ. B. die Arbeiten von Johann Figl. Zum Thema des vorliegenden Aufsatzes vgl. insb. Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, S. 96 — 113 sowie „Hermeneutische Voraussetzungen der philologischen Kritik. Zur wissenschaftsphilosophischen Grundproblematik im Denken des jungen Nietzsche", in NietzscheStudien 13 (1984), S. 111 — 128. — Ein eigenwilliger Versuch, aus der Analyse von Nietzsches Leipziger philologischen Studien (leider nur den veröffentlichten) auf seine philosophische Grundposition zu schließen, findet sich bei L. Cataldi-Madonna: II ra^ionalismo di Nietzsche. I'ilologia e teoria della conoscen^a negli scritti giovanili, Napoli 1983. Vgl. BAW 3, S. 344.

328

Federico Gerratana I.

Nietzsches Leipziger philologische Arbeiten können [...] sämtlich in den Zusammenhang resp. unter den Oberbegriff der literarhistorischen Studien gestellt werden: Die Studien zu Theognis, die Untersuchung über die Quellen des Diogenes Laertios, zu H o m e r und Hesiod und die Democritea, um nur die wichtigsten Themenkomplexe zu nennen, verfolgen alle Fragen der Pseudepigraphie, der Quellenkritik, sowie Fragen nach der Werkkonstitution innerhalb der antiken Tradition. 7

Bereits während seiner Studentenzeit plante Nietzsche eine systematische Darstellung seiner literaturhistorischen Studien: In einem Brief vom Februar 1867 erwähnt er den „Plan zu einer kritischen Geschichte der griech(ischen)> 8 Litteratur". Wie das von Nietzsche unterstrichene Wort zeigt, ging es ihm dabei nicht nur um eine Zusammenstellung seiner Resultate: Das „im Hintergrunde schweb[ende]" Projekt enthält das Moment der Kritik, der wertenden Stellungnahme. Binnen eines Jahres entwickelt Nietzsche, wohl vor allem im Zusammenhang mit seinen Forschungen über die kontroverse Demokrit-Uberlieferung 9 , das „Projekt einer Geschichte der antiken Literaturgeschichte als Basis für eine moderne Geschichte der antiken Literatur" 1 0 . Im Februar 1868 stellt er dem Freund Gersdorff für die Zeit nach seiner Promotion ein „Hauptwerk" in Aussicht, „eine Darstellung der litterarischen Studien der Alten, wobei sich die Entwicklung dessen, was man jetzt Litteraturgeschichte nennt, ergeben wird." 1 1 Von diesem Plan sind einige Dutzend Seiten fragmentarischer Aufzeichnungen, Dispositionen und Schemata aus der Zeit bis kurz vor Nietzsches Berufung nach Basel überliefert; sie sind in den Bänden 3, 4 und

5 der Historisch-Kritischen 7

8

Gesamtausgabe

enthalten.12

B . v. Reibnitz: „Vom ,Sprachkunstwerk' zur ,Leselitteratur'. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als G e g e n e n t w u r f zur aristotelischen P o e t i k " , in diesem Band, S. 51. B r i e f an Carl v. G e r s d o r f f vom 20. Februar 1867, K G B 1/2 Nr. 538, S. 201: „Thematen, die mich beschäftigen, sind / ,de Laertii Diogenis fontibus' / ,über die Büchertitel bei den Alten,' / im Hintergrunde schwebt ein Plan zu einer" usw.

9 Vgl. unten, Anm. 43 und 45. "' B. v. Reibnitz: a. a. O., S. 52. — Ein Schema zu den geplanten „ B e i t r ä g e [ n J %urgriechischen) Litteraturgeschichte" aus der Zeit von Frühjahr bis Herbst 1868 beginnt mit „1. Einleitung. Über die litterarhistorischen Studien der G r i e c h e n " ; es folgen Überschriften zu Einzelthemen: Väternamen, Todesarten, Pinakographie, die sieben Weisen, Theognidea, „Die Schriftstellerei D e m o k r i t s " sowie „ D e r Sängerkrieg auf E u b ö a " : B A W 4, S. 124. 11 Brief an Carl v. G e r s d o r f f v o m 16. Februar 1868, K G B 1/2, Nr. 562, S. 255 f.: „Später wenn ich mich von der Demokritarbeit frei gemacht habe, und eine Dissertation de H o m e r o Hesiodoque aequalibus glücklich v o m Stapel gelaufen ist: soll es mit frischen Sinnen an ein Hauptwerk gehen, an eine Darstellung" usw. 12 Und zwar nur teilweise im Rahmen der von Karl Schlechta herausgegebenen „Philosophi-

J e t z t zieht mich das Allgemein-Menschliche an"

329

D i e a u s f ü h r l i c h s t e B e s c h r e i b u n g v o n Nietzsches Plan findet sich in e i n e m Brief v o m F e b r u a r 1868 an E r w i n R o h d e : Außerdem bekommen alle meine Arbeiten ohne meine Absicht, aber gerade deshalb zu meinem Vergnügen eine ganz bestimmte Richtung; sie weisen alle wie Telegraphenstangen auf ein Ziel meiner Studien, das ich nächstens auch fest ins Auge fassen werde. Es ist dies eine Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit. Es kommt mir zunächst wenig auf die Details an; jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an, wie das Bedürfniß einer literar-historischen Forschung sich bildet und wie es unter den formenden Haenden der Philosophen Gestalt bekommt. 1 3 D i e hier benutzte, a u s f ü h r l i c h e B e z e i c h n u n g „ G e s c h i c h t e der litterarischen Studien im A l t e r t h u m u n d in der N e u z e i t " zeigt die K o m p l e x i t ä t des Vorhabens: Die „Geschichte der litterarischen S t u d i e n " (d. h. der P h i l o l o g i e ) sollte die „ N e u z e i t " m i t b e r ü c k s i c h t i g e n , also a u c h eine K r i t i k s o w i e eine A r t , M e t h o d e n l e h r e ' der P h i l o l o g i e enthalten. „ D i e , S u m m a ' der L e i p z i g e r Studien bilden die überlieferten Notizen [seil, zur „ G e s c h i c h t e der litterarischen S t u d i e n " ] insofern, als in ihnen s o w o h l P r o g r a m m a t i k als a u c h K r i t i k der P h i l o l o g i e als historischer W i s s e n s c h a f t e n t h a l t e n s i n d . " 1 4 D a b e i fällt die kritische H a l t u n g , die der P h i l o l o g e Nietzsche g e g e n ü b e r seinem F a c h , g e g e n ü b e r G e g e n s t a n d u n d M e t h o d e der P h i l o l o g i e e i n n i m m t , b e s o n d e r s auf. In den Briefen Nietzsches an seine F r e u n d e f i n d e n sich z a h l r e i c h e p h i l o l o g i e k r i t i s c h e S t e l l u n g n a h m e n . B e k l a g t w i r d die „ m o r a l i s c h e V e r s c h r o b e n heit", die den „ m e i s t e n P h i l o l o g e n " anhaftet u n d die mit d e m Z w a n g z u s a m m e n h ä n g t , „ein L e b e n g e g e n die N a t u r zu f ü h r e n , ihren Geist mit u n s i n n i g e r Z u f u h r zu ü b e r f ü t t e r n , ihre seelische E n t w i c k l u n g auf Kosten des G e d ä c h t nisses u n d des Urtheils zu v e r n a c h l ä s s i g e n " 1 5 ; ihnen fehle „jene e r h e b e n d e G e s a m m t a n s c h a u u n g des A l t e r t h u m s [ . . . ] , w e i l sie sich zu nahe v o r das Bild stellen u n d einen Oelfleck u n t e r s u c h e n anstatt die g r o ß e n u n d k ü h n e n Z ü g e des g a n z e n G e m ä l d e s zu b e w u n d e r n u n d — w a s m e h r ist — zu g e n i e ß e n . " 1 6

sehen Notizen" (vgl. BAW 3, S. 3 1 9 - 3 2 6 , 3 2 8 - 3 3 1 , 3 3 6 - 3 4 2 , 3 6 9 - 3 7 0 ) , teilweise auch in BAW 4 (vgl. vor allem S. 65, 105f., 1 2 7 - 1 2 9 ) und in BAW 5 (vgl. vor allem 1 8 4 - 1 8 8 , 1 9 3 - 1 9 6 , 206, 212f., 2 6 8 - 2 7 4 ) . Zur Datierung: Die hier in Frage kommenden Aufzeichnungen werden von BAW den drei Zeitabschnitten Herbst 1867 — Frühjahr 1868, Frühjahr — Herbst 1868 sowie Herbst 1868 — Frühjahr 1869 zugeordnet. Eine präzisere Datierung ist zur Zeit nicht möglich, wohl auch nicht auf der Grundlage der Reihenfolge der ArchivSignaturen der Hefte (P 1 1, Ρ 1 2 usw.). Wenn im vorliegenden Aufsatz kein Datum angegeben wird und sich eine Datierung auch nicht eindeutig aus dem Zusammenhang ergibt, handelt es sich um Notizen aus der Zeit vom Herbst 1867 bis zum Frühjahr 1868. " Brief an Erwin Rohde vom 1.-3. Februar 1868, K G B 1/2, Nr. 559, S. 248. B. v. Reibnitz: Fiin Kommentar ^u Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem der Musik" (Kapitel 1-12), Stuttgart/Weimar 1992, S. 24. 15 An Paul Deussen vom 2. Juni 1868, KGB 1/2, Nr. 573, S. 283 f. An Carl v. Gersdorff vom 6. April 1867, KGB 1/2, Nr. 540, S. 209 f.

14

Geiste

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Federico Gerratana

Daß „ ,der gestaltende Trieb, der nach dem Großen und Ganzen strebte'", „einer Forschung Platz gemacht hat, die sich ,an das Einzelne' ,verliert' und ,atomistisch zu zersplittern' droht", war zu Beginn der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, im philologischen „Zeitalter der Epigonen" 1 7 , eine verbreitete Klage. Gerade Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf wird im nachhinein „das Menschenalter, welches auf G. Hermanns Tod folgte", in dunklen Farben schildern: „Unbegrenzt" war damals „der Glaube an die philologische Methode", „die Konjektur war Selbstzweck geworden". 1 8 Und insbesondere in der einseitig auf Text-Kritik ausgerichteten Ritschl-Schule konnte „die hermeneutische Spannung zwischen dem einzelnen Werk [...] und dem Ganzen des epochalen Zusammenhang^]" ohne weiteres aus dem Blickfeld geraten und das Fach seine „normative Orientierung" verlieren. 19 Nietzsches Unbehagen an der Philologie muß auf dem Hintergrund dieses Prozesses gesehen werden, in welchem sich jene „zu einem sich aus sich selbst heraus weiter bewegenden Wissenschaftsbetrieb entwickelte" 20 . Immer wieder bedauert er die „Hypertrophie des Studiums" bei gleichzeitigem „Mangel oder Unselbständigkeit der Grundeinsichten", wendet er sich gegen eine „entartete[ ] Wissenschaft", die „den Zweck über den Mitteln aus dem Auge verliert" (BAW 3, S. 331), bezeichnet er die „Untersuchung losgerissner Einzelheiten" als einen Ausdruck von „schlechte) m j Geschmack" (BAW 3, S. 336). In einer Wissenschaft, der es „an großen Gedanken" mangelt (BAW 3, S. 338), hat die moderne Arbeitsteilung triumphiert: Die Arbeiter sind Fabrikarbeiter geworden. D e r Betrieb des Ganzen schwindet ihn aus den Augen. ( B A W 3, S. 3 3 8 ) Die meisten Philologen sind Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft. Die N e i g u n g erstirbt, irgend ein größeres Ganze zu umfassen oder weitere Gesichtspunkte in die Welt zu setzen. D a g e g e n arbeiten die Meisten mit emsiger Beharrlichkeit an einer kleinen Schraube. ( B A W 3, S. 329)

Nietzsche beschränkt seine Bemerkungen hier auf „die meisten" Philologen; in einem Brief an Deussen bezieht er zwar seine Kritik („Mangel an Vgl. M. Landfester, Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts, in Philologie und Hermeneutik. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hg. v. H. Flashar, K. Gründer und A. Horstmann, Göttingen 1979, S. 159; Landfester zitiert hier die Antrittsrede Adolf Kirchhoffs aus dem Jahre 1860 (in Monatshefte der Berliner Akademie, 1860, S. 393). 18 Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorf: Euripides Herakles, 1. Band, Hinleitung in die griechische Tragödie, Darmstadt 1981, S. 245 — 247; Geschichte der Philologie, Leipzig/Berlin 1921, S. 61; vgl. auch Erinnerungen 1848-1914, Leipzig 1928, S. 99 f. " Karlheinz Sticrlcs Diskussionsbeitrag, in Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, a. a. O., S. 370. 20 Karlheinz Stierle, ebd. 17

„Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an"

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ächter B e g e i s t e r u n g " , „ S e l b s t ü b e r s c h ä t z u n g u n d E i t e l k e i t " ) auf die j ü n g e r e P h i l o l o g e n g e n e r a t i o n ü b e r h a u p t , er setzt sie aber explizit v o n der älteren G e n e r a t i o n der „Ritsehl, H a u p t L e h r s B e r g k M o m m s e n u s w " 2 1 ab. U n d als er sich selbst in einer a u t o b i o g r a p h i s c h e n S k i z z e aus d e m W i n t e r 1868/69 z w e i f e l n d f r a g t , o b er nicht doch nur ein „ R e s i g n a t i o n s p h i l o l o g e [ ] " sei 2 2 , geschieht dies auf der Folie einer B e s c h w ö r u n g der „ p h i l o l o g i s c h e n H a l b götterf ]", „denen die N a t u r mit e h e r n e m Griffel auf die Stirne zeichnet: das ist ein P h i l o l o g , u n d die in vollster U n g e b r o c h e n h e i t , m i t der N a i v i t ä t eines K i n d e s den ihnen v o r g e z e i c h n e t e n W e g g e h n . " ( B A W 5, S. 251) Wen Nietzsche hier v o r allem i m A u g e hat, ist z i e m l i c h klar: den Philol o g e n , den er noch in Hcce

Homo

den , , e i n z i g e [ n ] g e n i a l e [ n ] G e l e h r t e [ n ] "

nannte, „den ich bis heute zu Gesicht b e k o m m e n h a b e " ( K S A 6, S. 295), Friedrich Ritschi. A b e r in e i n e m a n d e r e n Brief an D e u s s e n schreibt Nietzsche: Glaube mir nur, daß die Fähigkeiten, die dazu gehören, um mit Ehren philologisch zu produzieren, unglaublich gering sind, und daß ein Jeder, an den richtigen Platz gestellt, seine Schraube machen lernt. Fleiß vor allem, Kenntnisse zu zweit, Methode zu dritt — dies ist das ABC jedes produzierenden Philologen: vorausgesetzt, daß ihn jemand dirigirt und ihm eine Stelle anweist. Denn das gerade können nur Wenige von selbst. Es giebt eben Arbeitsgeber und Fabrikarbeiter — und nach e i n e m seiner typischen G e d a n k e n s t r i c h e fährt Nietzsche fort: — in diesem Vergleich soll aber nichts Geringschätziges liegen. Denn auch unsere größten p h i l o l o g i s c h e n ) Talente sind nur relativ Arbeitsgeber: stellt man sich noch höher und nimmt einen kulturgeschichtlichen Ausblick, so sieht man, daß auch diese Ingenien schließlich nur Fabrikarbeiter sind, nämlich für irgend einen großen philosophischen Halbgott (deren größter in dem ganzen letzten Jahrtausend Schopenhauer ist). 23 M a n b r a u c h t nicht zu wissen, d a ß F r i e d r i c h R i t s e h l e i n e m seiner S c h ü l e r z u f o l g e „nach S c a l i g e r der g r ö ß t e A r b e i t s g e b e r f ü r die P h i l o l o g i e " g e w e s e n ist 2 4 , u m hier eine v e r s t e c k t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g Nietzsches mit

seinem

L e h r e r zu v e r m u t e n , dessen A r b e i t g e b e r - F ü r s o r g e er z w a r mit D a n k b a r k e i t ,

21 22 23 24

An Paul Deussen vom 2. Juni 1868, KG Β 1/2, Nr. 573, S. 284. Vgl. unten S. 345 und Anm. 85. An Paul Deussen, September 1868, KG Β 1/2, Nr. 588, S. 316. Vgl. den Artikel Vriedrich Wilhelm liitschl, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 28, Berlin 1970 (1889), S. 659 f. Auch Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf, der Ritsehl sonst scharf kritisiert, räumt ein: „Großartig ist, [...] wie er durch die Zuweisung von Arbeitsgebieten und die Stellung von Themata für die Bedürfnisse seiner Wissenschaft zu sorgen weiß." (Geschichte der Philologie, a . a . O . , S. 61)

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Federico Gerratana

nie aber ohne Vorbehalt entgegengenommen hatte. 25 Die Entgegensetzung von „Arbeitsgebern und Fabrikarbeitern" stellt jedenfalls weniger — das scheint festzustehen — eine Rangordnung unter Philologen fest, als sie der ganzen Zunft einen untergeordneten Platz zuweist. Die Behauptung der wesentlichen Fremdbestimmtheit der Philologie setzt einen emphatischen Begriff geistiger Schöpfungskraft voraus: Auf diese gehe sowohl die Entstehung als auch die Wahrnehmung und Bewertung von Kunst zurück. Nicht nur kann der „gemeine[ J Intellekt [...] keine großen Werke schaffen": „er kann sie nicht einmal herauserkennen". 2 6 Daß wir alle aufklärenden Gedanken in der Litteraturgeschichte von jenen wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten leben und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren, daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung von solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des schöpferischen Funkens bar waren — diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend, beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die Geschichte darauf hin zu prüfen. An mir selbst

— fährt Nietzsche fort — stimmt die Probe; denn mir ist es so, als ob Du bei den niedergeschriebenen Zeilen den Duft von Schopenhauerscher Küche riechen müßtest. 27

Mit der letzten, ironischen Wendung bezieht Nietzsche den dargelegten Grundsatz auch auf sich selbst: Wie die Philologen, deren Mangel an echter 2:1

26

27

Hier m u ß m a n natürlich zunächst an Ritschis ,,mysteriös[e] [ . . . ] A u f f o r d e r u n g " an seinen Schüler d e n k e n , „einmal über die Q u e l l e n des Diog M e n g e latentes Alterthum o f f e n b a r " 4 6 ; es werden also die historischen Umstände erkennbar, die einen Text zu dem g e m a c h t haben, was wir kennen. Ü b e r die Textgeschichte wird

Kulturgeschichte

sichtbar 4 7 : Das A u g e n m e r k des Historikers richtet sich auf die F a k t o r e n , welche die literaturhistorischen Studien beeinflussen. Z u ihnen zählt Nietzsche „die z e i t g e n ö s s i s c h e n ) Dichter, Schriftsteller etc., ihre Stellung, ihre Bestrebungen, ihre aesthetur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes (1870), in K G W II/l, S. 1 9 3 - 2 0 1 . Vgl. auch etwa (BAW 4, S. 650 f.) die Bemerkungen über „Suidas" (den angeblichen Verfasser des byzantinischen Lexikons Suda), „einen unschuldigen fleißigen und sorgfältigen Gelehrten, dem die Nachwelt statt warmer Anerkennung nur Spott und Hohn gezollt hat". Ausführlich beschäftigt sich Nietzsche mit Valentin Rose, der ihn einerseits wegen seines konsequent .skeptischen' Ansatzes (vgl. BAW 3, S. 336), anderererseits wegen seines eigensinnigen Stils interessiert, mit dem er seine Forschungen „gegen unberufne Leser" schützt (BAW 3, S. 362; vgl. BAW 4, S. 6 9 - 7 2 ) . Nietzsche war von Roses in einer Polemik gegen Jacob Bernays aufgestelltem stilistischem Grundsatz „Sibi quisque scripsit" (vgl. Aristoteles pseudepigraphus, a. a. O., S. 717) besonders beeindruckt: vgl. auch seine Rezension von Roses Anakreon-Ausgabe ( K G W II/l, S. 368f.) sowie den späteren Gebrauch des Ausdrucks in V M 167 (KSA 2, S. 446) und im Brief an Rohde von Mitte Juli 1882 (KGB III/l, Nr. 267, S. 226). BAW 3, S. 370; vgl. auch BAW 4, S. 128: „Von Einfluß [...] die Stellung und Studien der Litteratoren" sowie S. 261 (über die „gebräuchliche Armut der Philologen", die ihren Studien im Wege steht).

„Jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an"

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Was man über Vergangenes wissen kann, hängt immer davon ab, wer man ist — und davon, wer diejenigen waren, denen wir das jeweilige Bild der Vergangenheit verdanken. Von der Kenntnis des Prozesses, „der sich hinter der Geschichte entwickelt", trennt uns nicht nur die „dicke und undurchdringbare Haut", mit der, wie der F. A. Lange-Leser weiß, „die Dinge an sich umhüllt sind" — von ihr trennen uns auch „die zwei Häute der Zeit und Quellenvorstellungen" (BAW 3, S. 324). Nietzsche betont immer wieder die unhintergehbare Individualität historisch-philologischen Wissens. Man hat es immer mit „einzelnen Kettenstückchen" (BAW 3, S. 323) eines Ganzen zu tun, das als solches immer unerreichbar bleibt; das mühsam zusammengebastelte Wissen ist so fragil, daß „ein einziges zufällig dazukommendes Zeugniss, das bisher übersehen war", oft reicht, „um eine lange Combination zu stürzen." 65 Deshalb 66 sind Philologen immer auf das „intuitiv gefundene Bild", auf die „poetische Zusammenschauung" 67 angewiesen. „Die dichtende Kraft und der schaffende Trieb haben das Beste in der Philologie gethan." (BAW 3, S. 339) Dieser intuitiv-individuelle Charakter der philologischen Methode ist aber für Nietzsche alles andere als unproblematisch: In einer Situation, in der „wenig Gesetzefn]" „zahllose Analogien" gegenüberstehen, kommt man über ein bloßes „Spiel mit Möglichkeiten" nicht hinaus, was Naturwissenschaftler durchaus mit Recht als „ein Greuel" empfinden würden (BAW 3, S. 336, 339 und 369). Weit davon entfernt, die methodische Selbständigkeit philologischer Forschung gegenüber den Naturwissenschaften konsequent zu behaupten, scheint Nietzsche zuweilen die Allgemeinheit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit als das Kriterium zu betrachten, woran sich auch die Philologie zu halten habe. „Von einer Einsicht", schreibt er in seiner letzten Leipziger Zeit, „kann nicht eher die Rede sein als bis wir etwas auf ein Gesetz zurückgeführt haben." 6 8 Bereits in den frühen 69 Notizen zur „Geschichte" scheint die Anwendung einer ,,naturwissenschaftliche[n] Methode" einen Ausweg aus den Schwierigkeiten des Historikers bei der „Betrachtung des einzelnen Dinges" zu ermöglichen. Hier scheinen die menschlichen „Bedürfnisse" eine sichere, objektiver Erkenntnis zugängliche Grundlage zu bieten: In der „Bedürfnißlehre der Menschen" erkennt man „eine Gesetzmäßigkeit". 70