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German Pages 207 [217] Year 2008
Friederike Felicitas Günther Rhythmus beim frühen Nietzsche
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 55
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Rhythmus beim frühen Nietzsche von
Friederike Felicitas Günther
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der Wissenschaft der VG Wort
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6−7, D-17487 Greifswald
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1862-1260 ISBN 978-3-11-020490-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Mai 2006 am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin verteidigt habe. Ich danke vor allem Professor Dr. Gert Mattenklott, der das Projekt eingehend betreut und gefördert hat. Mein Dank gilt ferner dem ev. Studienwerk Villigst für die Gewährung eines großzügigen Promotionsstipendiums. Den Herausgebern, insbesondere Professor Dr. Werner Stegmaier, danke ich für die Aufnahme in die Reihe der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung und Cheflektorin Dr. Gertrud Grünkorn für die zuvorkommende Betreuung der Publikation. Danken möchte ich an dieser Stelle auch meinen Eltern Waldtraut und Dr. Hans Graubner für die unablässige Unterstützung, mit der sie mein Studium begleitet und gefördert haben. Für wichtige Anregungen und zahllose Gespräche danke ich Dr. Timo Günther, Dr. Sebastian Graubner, Dr. Daniela Zimmermann, Christina Stehr, Mascha Bisping, Hartmut Schröder, Alison Borrowman und Carmen Pohle, der ich die Arbeit widme.
Inhaltsverzeichnis Einleitung Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus 1. Rhythmus im tragischen Zeitalter der Griechen
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1.1. Apollo als Gott der Rhythmen .............................................................. 1.1.1. Die Geburt der Kunst aus der Abstraktion .............................. 1.1.2. Architektonik des apollinischen Rhythmus .............................. 1.1.3. Maß und Rhythmus als Individuationsprinzipien ...................
20 20 26 34
1.2. Die Entfesselung des Prometheus ........................................................ 1.2.1. alogía und freier Faltenwurf ......................................................... 1.2.2. Rhythmus als symbolisierte Natur ............................................. 1.2.3. Der Wettkampf als Rhythmus ....................................................
42 50 66 81
2. Rhythmus im tragischen Zeitalter der Moderne
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2.1. Unzeitgemäße Rhythmik ........................................................................ 2.1.1. Der Soldat als Vorläufer der Kultur ....................................... 2.1.2. Ästhetik der Analogie ................................................................ 2.1.3. Betontes und Unbetontes in der Historienschrift ................
96 102 117 130
2.2. Die zwei Geschwindigkeiten von Mensch und Welt ...................... 2.2.1. Eugen Dührings Einheitsoptimismus .................................... 2.2.2. Nietzsches tragischer Optimismus ......................................... 2.2.3. Richard Wagners Kraftrhythmik .............................................
147 150 159 170
Schluss
..................................................................................................................
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Literaturverzeichnis ............................................................................................ Abkürzungen ....................................................................................................... Namenregister ..................................................................................................... Sachregister ..........................................................................................................
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Denn der (fromme) ictus, der Einschlag, und das lange Weben sind zwei Formen der Weltverarbeitung, die einander nicht behindern dürfen, eher möchten sie wechseln wie Werk- und Feiertag des Verstehens. Botho Strauß, Beginnlosigkeit
Einleitung Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus Im Frühwerk Nietzsches kann das Phänomen Rhythmus als eine anthropologische Technik verstanden werden, ästhetischen Strukturen unter den Bedingungen der Zeitlichkeit Dauer zu verschaffen. Wenn Nietzsche die Erscheinungsformen antiker und moderner Kultur veranschaulicht und kritisiert, so ist es der Leitfaden des Rhythmus, anhand dessen er ihre jeweilige kulturelle Kompetenz beurteilt, den Menschen als temporales Wesen im und gegen den Fluss der Zeit zu behaupten. Dabei zeigt sich, dass Nietzsche Antike und Gegenwart von ihren spezifischen Ausgangsbedingungen her grundlegend unterscheidet und anhand dieser Gegenüberstellung seine Kritik der zeitgenössischen Anthropologie, Wissenschaft und Ästhetik profiliert. In zwei Schritten, einem ersten Kapitel zu Nietzsches Sichtweise der antiken Rhythmik und einem zweiten zu seinem Blick auf rhythmische Erscheinungsformen zeitgenössischer Kultur, unternimmt es die vorliegende Studie, seine ästhetische Anthropologie des Rhythmus im Spannungsfeld von Antikerezeption und Modernekritik zu entfalten. Nietzsches Beschäftigung mit Rhythmus und Rhythmik geht bis in seine erste Studienzeit zurück und währt bis in seine letzte Schaffensphase.1 Während _____________ 1
Die Signifikanz von Nietzsches früher Auseinandersetzung mit der antiken Rhythmik für sein weiteres Werk zeigt James Porter, Being in Time. The Studies in Ancient Rhythm and Meter (1870–72), in: ders., Nietzsche and the Philology of the Future, Stanford 2000, 127– 166, hier 127: „The concept and phenomenon of rhythm are a constant motif in Nietzsche’s writing throughout his career. Their significance to his later thinking, though not well recognized, is indisputable.“ Von 1864 bis 1868 untersucht Nietzsche die Rhythmik des Danae-Fragments von Simonides; 1868 plant er bereits Vorlesungen und Seminare zur antiken Rhythmik und Metrik, die er 1869–74 in Basel hält, als deren Frucht er 1870–72 vier Notizbücher mit dem Vorhaben einer Publikation zum Rhythmus füllt; unabhängig davon finden sich verstreute, aber regelmäßige Einträge zum Rhythmus in seinen Notizbüchern, so z.B. der Plan zu einer „neue[n] Theorie der Rhythmik“ (N 1870/72: 8[52] VII 242, vgl. N 1873: 26[23] VII 585), zu einer „Geschichte der Rhythmik“ und zur „Sprache metrisch betrachtet“ (N 1872/73: 19[323] VII 518) wie auch zu der „zeitmessende[n] Rhythmik der Griechen“ (N 1872/73: 19[326] VII 519). Im mittleren und späten Werk wird die ästhetische und anthropologische Relevanz, die Nietzsche dem Rhythmus beimisst, weitaus expliziter als im Frühwerk ausgeführt. Vgl. zur Kultur stiftenden Bedeutung von Maß und Rhythmus MA I 1878: [221] 180ff.: Die Revolution in der Poesie; VM 1879: [119] 428f.: Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken; FW 1882: [84] 439ff.: Vom Ursprunge der Poesie und JGB 1886: [188] 108 zur „Tyrannei
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Einleitung
seiner intensiven Studien der antiken Rhythmik in den frühen 70er Jahren als Professor der Philologie in Basel2 kommt er zu dem Ergebnis, dass die Geschichte des Rhythmus in den Künsten seit der Antike die Geschichte und damit auch die Geschichtlichkeit ästhetischer Wahrnehmung nachzeichnet. Den Rhythmus antiker musiké können wir uns kaum mehr erarbeiten, weil unsere Ohren heute anders hören. Bei allem philologischen Ehrgeiz, den Nietzsche auf vielen Seiten seiner Notizen zur antiken Rhythmik beweist, müsse man sich eingestehen, wie er im Dezember 1870 an seinen Lehrer Ritschl schreibt, „daß man in wichtigen Punkten den Alten nicht mehr nachfühlen könnte [...].“3 Damit wendet er sich gegen die gängige Auffassung der Altphilologie seiner Zeit, der zufolge das „rhythmische Gefühl“ eine anthropologische Konstante sei.4 Nietzsche sieht solche scheinbaren Übereinstimmungen zwischen antikem und modernem rhythmischen Empfinden sehr skeptisch und weist darauf hin, „daß – nach meinem Nachweis – in die antiken Rhythmen erst wir aus unserer modernen Gewöhnung hineingetragen haben, was wir nachher bewundern“ (N 1870/71: RH 2685). Gerade weil der ästhetische Rhythmus allein in der sinnlichen Wahrneh_____________
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von Reim und Rhythmus“. Vgl. auch die aufschlussreichen Aphorismen in Auseinandersetzung mit Wagners Rhythmik, VM 1879: [134] 434f.: Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll; WS 1880: [159] 618: Freiheit in Fesseln; FW 1882: [368] 616f.: Der Cyniker redet und – beinahe identisch, NW 1888: 418f.: Wo ich Einwände mache sowie der detailliert auf die frühe Beschäftigung mit antiker Rhythmik zurückblickende Brief an Carl Fuchs, vermutlich vom Ende August 1888 (KGB III.5, 403–405): „Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik (‚Zeit-Rhythmik‘) von der barbarischen (‚Affekt-Rhythmik‘).“ In den nachgelassenen Notizen finden sich viele Einträge zur anthropologischen Relevanz des Rhythmus, so z.B. N 1883/84: 24[14] X 651: „Der Mensch glaubt an ‚Sein‘ und an Dinge, weil er ein formen- und rhythmenbildendes Geschöpf ist.“ Ein Forschungsüberblick zum Rhythmus beim mittleren und späteren Nietzsche ist in Anm. 9 aufgelistet. Friedrich Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen zur griechischen Rhythmik und Metrik im WS 1870/71: Aufzeichnungen zur Metrik und Rhythmik; Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik; Rhythmische Untersuchungen, KGW II3 99–338 (= RH). Brief Nietzsches an Ritschl vom 30. Dezember 1870 (KGB II.1 [Nr. 117] 173). Nietzsches Erkenntnis, dass die antike Musik immer nur rekonstruiert, nicht aber mehr zu Gehör gebracht werden kann, wird ausführlich behandelt bei Babette E. Babich, Musik und Wort in der antiken Tragödie und La gaya scienza, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), 230– 257, hier 233ff. Rudolf Westphal, Die Fragmente und die Lehrsätze der griechischen Rhythmiker. Supplement zur griechischen Rhythmik von A. Rossbach, Leipzig 1861, VII, nahm an, das „rhythmische Gefühl“ sei „bei uns Allen dasselbe und bis auf einige freilich sehr wichtige Puncte auch dasselbe wie bei den Alten“. Nietzsche schreibt im erwähnten Brief an Ritschl: „Mit Westphal bin ich fast in allen wesentlichen Punkten nicht mehr einverstanden“ (KGB II.1 [Nr. 117] 173). Zur Kritik Nietzsches an Westphals Deutung griechischer Rhythmik vgl. Fritz Bornmann, Nietzsches metrische Studien, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 472–489, hier 481; sowie M.L. West, Ancient Greek Music, Oxford 1992, 5. Allen Zitaten aus dem Nachlass werden ein N und das Entstehungsjahr vorangestellt, um sie vom veröffentlichten Werk zu unterscheiden. Dazu zählen auch alle nachgelassenen
Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus
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mung einer Zeit Bestand hat, kann er von anderen Zeiten mit anderen kulturellen und historischen Prägungen trotz schriftlicher Fixierung nicht mehr wahrgenommen werden; der ästhetische Rhythmus ist an die Körper der Menschen einer jeweiligen Zeit gebunden. Im Sinne einer historischen Anthropologie, die den Menschen nicht auf der Basis biologischer Konstanten, sondern vielmehr als Zeitwesen versteht, liest sich der Rhythmus bei Nietzsche daher als ein genuin anthropologisches Phänomen. Eine solche These setzt die Annahme einer Kontinuität in Nietzsches Auffassung ästhetischer Rhythmik voraus, was in der Forschung allerdings nicht als communis opinio gilt. Insbesondere eine gedankliche Verbindung zwischen Nietzsches ausführlichen philologischen Studien zum antiken Rhythmus von 1870/71 und dessen Behandlung in der zeitgleich entstehenden Geburt der Tragödie wird angezweifelt – in der Tragödienschrift lasse sich vielmehr eine „Unterbrechung in der Forschung über Rhythmik“ bei Nietzsche feststellen.6 Statt einen poetischrhythmischen Gesetzeskanon zu untersuchen, wie er es in seinen Aufzeichnungen zur Griechischen Rhythmik von 1870/71 am Beispiel der überlieferten Rhythmik des Aristoxenos zuvor ausführlich unternommen habe, lehne er in der Geburt der Tragödie die Vorstellung einer gesetzmäßigen Rhythmik nunmehr ab und betone statt dessen die Auflösung aller strengen poetischen Vorgaben zugunsten des ‚Dionysischen‘, das keine exakten mathematischen Unterteilungen wie diejenigen in Längen und Kürzen zulasse.7 Das Hauptargument für diese Annahme eines _____________
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Schriften, deren Kürzel wie auch die der publizierten Schriften Nietzsches im Abkürzungsverzeichnis zu finden sind. Héctor Julio Pérez López, Die doppelte Wahrheit von Nietzsches Tätigkeit 1870–1872. Zur Beziehung griechischer Rhythmik und moderner Musikästhetik im Umkreis der „Geburt der Tragödie“, in: Nietzscheforschung 2 (1995), 219–236, hier 224. Während in „den Schriften über Rhythmik [...] der Rhythmus als herausragendes Element in der griechischen Musik [gilt]“, trete er in der Geburt der Tragödie zugunsten von Melodie und Harmonie in den Hintergrund (ebd.). Éric Dufour, La physiologie de la musique de Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 222–245, hier 226f., liest in der Geburt der Tragödie eine Ablehnung der quantifizierenden Rhythmik (die dem französischen Muttersprachler vertraut ist): „Ce texte oppose en effet notre rythme apollinien, c’est-à-dire mathématique, dans lequel les durées sont toutes découpées et quantifiées, donc nettement individualisées, à un rythme dionysiaque dans lequel ce découpage mathématique des durées n’existe pas.“ Dieselbe Tendenz zur Ablehnung des Architektonischen als Widerpart des Dionysischen beim frühen Nietzsche im Gegensatz zu seinen mittleren und späten Schriften beobachtet auch Fritz Neumeyer, Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, Berlin 2001, 9. Vgl. jedoch Bertram Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik. Nietzsches „Geburt der Tragödie“ und die Wiener klassische Musik, Würzburg 1991, 11, der – anders als Neumeyer – bereits in Nietzsches frühem Musikbegriff klassische Tendenzen nachweist, diese allerdings in der Tragödienschrift nur indirekt und verborgen ausgedrückt sieht, was sich insbesondere daran zeige, dass Nietzsche die früheren philologischen Aufzeichnungen über antike Rhythmik nicht in die Geburt der
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Einleitung
Bruchs zwischen Nietzsches Behandlung des Phänomens Rhythmus in seinen Philologica einerseits und der Geburt der Tragödie andererseits besteht insofern darin, dass er in seinen philologischen Schriften die Gesetzmäßigkeit des poetischen Rhythmus der Griechen in den Vordergrund stelle, diesen in der Tragödienschrift dann aber zugunsten einer dionysischen Befreiung von solchen Fesseln fallen lasse. Erst im mittleren und späteren Werk kehre Nietzsche wieder zu einer ‚mathematischen‘ Auffassung des Rhythmus aus seinen frühen philologischen Studien zurück.8 Um diese Differenzierung zu widerlegen, konzentriert sich die vorliegende Studie auf Nietzsches Frühwerk bis 1876 mit Fokus auf seinen veröffentlichten Werken, wobei die Notate aus den entsprechenden Jahren berücksichtigt werden.9 Sie kann sich auf einige Positionen der jüngeren Forschung stützen: Der _____________
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Tragödie aufgenommen habe. „Durch die Ausklammerung der ‚apollinischen‘ Musik ist der explizite Musikbegriff der Geburt der Tragödie einseitig“ (ebd., 17). Dufour, La physiologie de la musique, 227, sieht Nietzsches frühe Auffassung der Musik von der modernen „Affektrhythmik“ Wagners bestimmt, die keine musikalischen Gesetze einhält und sich vom Wort leiten lässt („contre la tyrannie de la barre de mesure“). Erst nach dem Bruch mit Wagner kehre Nietzsche zu einer Wertschätzung der formalklassischen, d.h. ‚apollinischen‘ Rhythmik zurück (ebd., 222). Diese methodische Entscheidung bringt es mit sich, dass die späteren eindrücklichen Äußerungen Nietzsches zum Rhythmus (vgl. Anm. 1) nicht zur Interpretation seiner früheren Schriften herangezogen bzw. nur im abschließenden Ausblick (Schluss) auf Menschliches, Allzumenschliches kurz gestreift werden. Oft genug wird das Frühwerk Nietzsches „von seinem späteren Denkweg aus“ teleologisch gelesen – vgl. die diesbezügliche Kritik von Koenraad Hemelsoet/Benjamin Biebuyck/Danny Praet, „Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung“. Zur Funktion und Bedeutung der antiken Mysterien in Nietzsches frühen Schriften, Nietzsche-Studien 35 (2006), 1–28, hier 2. Dies gilt auch für viele der bislang noch überschaubaren Untersuchungen zum Rhythmus bei Nietzsche, die z.B. zur Erläuterung der Hinweise auf den Rhythmus in der Geburt der Tragödie mit Zitaten aus dem mittleren und späten Werk und Nachlass bzw. späteren Briefen argumentieren, vgl. z.B. die bereits erwähnten Studien von Dufour, La physiologie de la musique und Porter, Being in Time; Bornmann im Kommentarteil zu MUS II 399; Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, 26, wie auch allgemeiner gefasste Werke zum Thema Musik beim mittleren und späten Nietzsche (Martin Lorenz, Musik und Nihilismus. Zur Relation von Kunst und Erkennen in der Philosophie Nietzsches, Würzburg 2008; Éric Dufour, L’esthétique musicale de Nietzsche, Villeneuve d’Ascq 2005, bes. 227–317). Exemplarische Untersuchungen zum Rhythmus im mittleren und späten Werk beziehen sich u.a. auf Menschliches, Allzumenschliches (Éric Dufour, L’estétique musicale formaliste de Humain trop humain, in: Nietzsche-Studien 28 [1999], 215–233), Also sprach Zarathustra (Ferruccio Masino, Rhythmisch-metaphorische „Bedeutungsfelder“ in ‚Also sprach Zarathustra‘. Die metasemantische Sprache des ‚Also sprach Zarathustra‘, in: Nietzsche-Studien 2 [1973], 276– 307), auf Die fröhliche Wissenschaft (Gert Mattenklott, Der Taktschlag des langsamen Geistes. Tempi in der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, in: KörperDenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie, hrsg. von Frithjof Hager, Berlin 1996, 137–149; Werner Stegmaier, ‚Philosophischer Idealismus‘ und die ‚Musik des Lebens‘, in: Nietzsche-Studien 33 [2004], 90– 128, bes. 125ff.; Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom
Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus
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Annahme, dass zwischen Nietzsches Behandlung der griechischen Rhythmik in der Tragödienschrift und den ihr vorangegangenen und sie z. T. begleitenden philologischen Studien keine Kontinuität festzustellen sei, ist bereits widersprochen worden. Christian J. Emden zeigt in seiner Studie über Sprache, Musik und Rhythmus bei Nietzsche, dass die Vorlesungen und Notizen der 70er Jahre zur antiken Rhythmik durchaus in die Geburt der Tragödie eingegangen sind.10 Dies leuchte dann ein, wenn man die Schrift nicht primär auf den Einfluss Wagners, Schillers oder Schopenhauers zurückführe, sondern sie vielmehr unter dem Blickwinkel der anthropologischen Fragestellung nach der Entstehung von Kunst und Kultur verstehe.11 Emden zeigt zunächst, wie Nietzsche in seinen einschlägigen philologischen Arbeiten am Beispiel der Griechen die Herkunft von Sprache aus rituellen Praktiken einer mündlichen Kultur herleitet, mit denen als wesentliches Moment der Rhythmus einhergeht. Rhythmen stehen folglich am Beginn der oralen Kultur der Griechen. Emden überträgt seine These weitergehend auf die Geburt der Tragödie und bezeichnet diese als eine Geburt aus dem Rhythmus, da der tragische Chor die rhythmischen Rituale der mündlichen Kultur aufnehme.12 Wenn Nietzsche das Phänomen Rhythmus in Bezug auf die Antike betrachtet, so interessiert er sich laut Emden weder in seinen Notizen noch in der Tragödienschrift für eine wie auch immer geartete philologische Nachrechnung metrischer Gesetzmäßigkeiten, sondern vielmehr für die Bedeutung jener schriftlich nicht fixierbaren Strukturen am Beginn menschlichen Be_____________ europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996, 77–87) und auf Nietzsches bereits erwähnten Brief an den Musikwissenschaftler Carl Fuchs vom August 1888 (KGB III.5, 403– 405), in dem er auf seine frühe Beschäftigung mit der griechischen Rhythmik zurückblickt (vgl. dazu Dieter Schellong, ‚...und im Kleinsten luxurirt.‘ Zur Bedeutung von Nietzsches Diagnose der Décadence in der Musikpraxis, in: Nietzsche-Studien 13 [1984], 412–436). 10 Vgl. Christian J. Emden, Sprache, Musik und Rhythmus. Nietzsche über die Ursprünge von Literatur 1869–1879, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121, Heft 2 (2002), 203–230, hier 226: „Für ein Verständnis der ersten zwölf Kapitel von Nietzsches Tragödienschrift sind diese vier Texte [Nietzsches Studien zur griechischen Rhythmik, FFG] von entscheidender Bedeutung.“ 11 Diesen anthropologischen Blickwinkel beleuchtet Gert Mattenklott, Die dionysische Seele. Nietzsches Kunstpsychologie in der Tragödien-Schrift, in: Merkur 42 (1988), 741– 750, hier 743: Nietzsche verfolge in der Tragödienschrift die Absicht, „seiner Philosophie der Kunst auch eine Evidenz als psychologische Anthropologie zu geben.“ 12 Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, 224: „Die von Nietzsche wiederholt betonte ‚Geburt‘ der Tragödie aus dem Chor [...] ist tatsächlich ihre ‚Geburt‘ aus den rhythmischen und mimetischen Dimensionen ritueller Handlungen.“ Emden bezieht sich (ebd.) auf eine Vorlesungsnotiz Nietzsches (Geschichte der griechischen Litteratur) zur Primärstellung des Rhythmus als Ursprungsform von Sprache und Poesie: „Zuerst Rhythmus, erscheinend in einer kunstmäßig geordneten Abfolge von langen und kurzen Silben, beherrscht natürlich die ganze Poesie [...]“ (N 1874/75: KGW II5 18).
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Einleitung
wusstseins und menschlicher Kultur. Für Nietzsche stelle der Rhythmus insofern die symptomatische Form kultureller Selbstbehauptung in ihren Ursprüngen dar13: Erst „[d]ie Wahrnehmung und Erzeugung rhythmischer Strukturen ermöglicht die Apperzeption einer eigentlich ungeordneten Wirklichkeit“.14 Die ästhetische Produktion und Rezeption rhythmischer Formen konstituiert insofern die Wahrnehmung und die kulturelle Lebensordnung, zugleich aber auch die Vorstellung eines unrhythmischen bzw. ‚ungeordneten‘ Gegenüber, von dem sich das Rhythmische absetzt. Hans Ulrich Gumbrecht bestimmt diese ordnende Funktion des Rhythmischen als zeitliche Kategorie: In erster Linie dienen rhythmische Strukturen als kulturelle Mnemotechnik, d.h. sie widerstehen der Vergänglichkeit der durch sie transportierten Inhalte.15 Die rhythmisch-ästhetische Wahrnehmung bekommt in dieser Hinsicht einen grundsätzlichen anthropologischen Stellenwert als Selbstbehauptung gegen die Vergänglichkeit, indem durch wiederholte Abläufe Stabilität in der Zeit geschaffen wird. „Festigkeit und Vollkommenheit“, so Fritz Neumeyer in seiner Studie zu Nietzsches Architekturmetaphorik, „sind phänomenologisch nichts anderes als die perpetuierte Wiederholung eines Ritus und dessen Verewigung im Kultus.“16 _____________ 13 Vgl. Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, 212, der hervorhebt, dass hier Nietzsches Philologiekritik einsetzt. Die Philologie verkenne in ihrer Fixierung auf Schriftzeugnisse die tatsächlichen Grundlagen einer Kultur, weil die rhythmischen Formationen einer sich rituell stabilisierenden Kultur nicht in den überlieferten Texten enthalten sind. „[M]it einer Reduktion von Philologie auf Textkritik [lassen sich] keine Aussagen über die kulturelle Bedeutung mündlicher Überlieferungsmechanismen und damit auch nicht über den Ursprung literarischer Formen treffen [...].“ Vgl. auch Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, dem in seinem Buch daran gelegen ist, Nietzsches durchgängige Beschäftigung mit der Philologie als tatsächliche Philologiekritik nachzuweisen. Nietzsches Philologie wolle vor allem deutlich machen, dass die Erforschung der Vergangenheit mehr über die Gegenwart des forschenden Subjekts aussagt als über die Fakten der Vergangenheit. Philologie ist für Porter insofern gleichbedeutend mit Erkenntniskritik, d.h. der Veranschaulichung der Subjektivität aller Erkenntnis. 14 Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, 229. Vgl. Porter, Being in Time, 136: „For Nietzsche, music and rhythm lie at the root of all cultural perception, being as it were its simplest and most fully symptomatic form.“ Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2006, 9, weisen in ihrer empfehlenswerten und differenzierten Einleitung (9–33) darauf hin, dass „der alltägliche Sprachgebrauch rhythmische Phänomene in nahezu allen Lebensbereichen, als Grundprinzip der Wahrnehmung“ registriert, und Rhythmus und Rhythmik „im Prozess ästhetische Erfahrung“ zu einem Bewusstwerden der „Potentiale und Probleme der Wahrnehmung“ führen können. 15 Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, in: Materialität der Kommunikation, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988, 714–729, hier 716f., bestimmt diese Funktion des Rhythmus als „gedächtnisstützende Funktion (sprachliche Äußerungen in rhythmischer Form können leichter erinnert werden)“. 16 Neumeyer, Klang der Steine, 126.
Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus
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Doch nicht nur die Verfestigung und Stabilisierung von Strukturen gegen die Veränderung in der Zeit, sondern auch Zeit und Veränderung selbst spielt in rhythmischen Strukturen eine zentrale Rolle, die sich auch bei Nietzsche wiederfindet.17 In seinen Notizen aus den frühen siebziger Jahren bezeichnet er den Takt als „die ursprünglichste Zeitempfindung, die Form der Zeit selbst“ (N 1871: 9[116] VII 318). Er begreift Rhythmen als eben jene ästhetische Formen, welche die Zeit in der zeitgebundenen menschlichen Empfindung annimmt.18 Rhythmus als kulturelle Technik am Ursprung der Kultur wäre diesen Erkenntnissen gemäß einerseits selbst zeitlich, da er allein im Verlauf und als Performanz einer oralen Kultur vollzogen wird und der Wahrnehmung späterer Kulturen verschlossen bleibt, würde aber dem Vergehen in der Zeit zugleich widerstehen, indem er sie strukturiert.19 Für diese Aufgabe eignen sich Rhythmen insofern, als sie Vergangenes strukturell wiederholen und dadurch einen linearen zeitlichen Verlauf gleichsam ausbremsen, sich andererseits aber zeitlicher Entwicklung nicht vollkommen verschließen. Sie verschließen sich dieser deshalb nicht, weil sie in Nietzsches Darstellung grundsätzlich an Konventionen gebunden und daher historisch zu verstehen sind, wie auch Porter betont.20 In einem späten Rückblick auf seine rhythmischen Studien der Basler Zeit, einem Brief an den Musikwissenschaftler Carl Fuchs vom Winter 1884/85, wird Nietzsche seine diesbe_____________ 17 Vgl. Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, 228: „Rhythmus ist vor allem eine Erfahrung der Zeit [...].“ 18 Vgl. Porter, Being in Time, 142: „[W]hat is made sensible through rhythm is nothing other than time itself as a formal structure.“ Vgl. zur Absage an außermenschliche, zeitlose Transzendenz in Nietzsches Werk Werner Stegmaier, Nach Montinari. Zur NietzschePhilologie, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), 80–94, hier 82: „Nietzsche hat sich in der Nachfolge Heraklits wie kaum ein anderer vorbehaltlos auf die Zeit, auf die Zeitlichkeit aller Dinge und alles Denkens über die Dinge eingelassen“, und diese Einstellung mit allen ihren Konsequenzen macht auch vor dem Phänomen Rhythmus nicht Halt, wie man bereits an Nietzsches frühen Notizen zur antiken Rhythmik sieht und im Folgenden sehen wird. 19 „Ὁ ῥυθμός ἐστι χρόνων τάξις“ [Der Rhythmus ist eine Ordnung der Zeiten, FFG] (N 1870/71: RH 104). Es handelt sich um ein Zitat aus Aristoxenos’ Rhythmik. 20 Porter, Being in Time, 150: „But even for Aristoxenus, rhythms are conventional patterns, acquired through culture, reinforced by habit [...].“ Wir messen „in unsrer Empfindung die Fülle der wirklichen Zeiten“, heißt es entsprechend bei Nietzsche (N 1870/71: RH 309). Rhythmik ist insofern abhängig von der physischen Wahrnehmung und als solche zeitgebunden und flüchtig. Wiederholt weist Nietzsche in seinen Studien zum Rhythmus auf die Begrenztheit philologischen Erkenntnisstrebens hin, dass nämlich die rhythmischen Empfindungen der Antike uns heute nicht mehr zugänglich sind. Eine „objektive“ Analyse von in der Vergangenheit praktizierten Rhythmen ist nicht möglich. Vgl. Porter, Being in Time, 149: „At stake is nothing less than the objectivity of rhythm, which Nietzsche proceeds to put into doubt [...].“ Mattenklott, Die dionysische Seele, 747, weist entsprechend darauf hin, dass Nietzsche in der Tragödienschrift kein zeitloses Schönheitsideal postuliert.
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Einleitung
zügliche Kritik an der zeitgenössischen Philologie zuspitzen: sie suche der griechischen Rhythmik einen transzendentalen Rhythmus aufzusetzen, eine „Rhythmik an sich“, die es nach seinem historischem Rhythmus-Verständnis nicht geben kann.21 Die rhythmische Konturierung der Zeit in Wahrnehmung und Kultur wäre demnach selbst als ein zeitgebundener, da ausschließlich auf Konventionen fußender Vorgang zu verstehen: Rhythmen setzen eine offenbar selbst der Zeit unterworfene Struktur gegen die Zeit. Man könnte zunächst annehmen, dass die Rhythmen der Natur der ästhetischen Rhythmik vorangehen, da bereits primitive Organismen laut Nietzsche in diesem Sinne ‚rhythmische‘ Formungen kennen. „[M]it dem Organischen“, so eins seiner Notate, beginnt „auch das Künstlerische“ (N 1872/73: 19[50] VII 436), indem sich die einzelne organische Form in der Zeit für Augenblicke konstant hält. Doch der Begriff der Natur ist hier irreführend, da Nietzsche zwischen einer dionysischen Natur und den ‚natürlichen’ Formen der Erscheinungswelt differenziert. In der Geburt der Tragödie bezeichnet er das seinem Verständnis nach idealisierende Potenzial aller der Erscheinungswelt zugehörigen Wesen als Traum und Schein, denen gegenüber die wirkliche, die ‚dionysische‘ Naturzeit nicht still steht und keinerlei Andauern von Formen erlaubt. Mit Wahrnehmung begabte organische Geschöpfe idealisieren ihre Zeiterfahrung insofern grundsätzlich, sie bilden durch Rhythmisierungen bleibende Formen und Gestalten im unerbittlichen Verlauf der formlosen tatsächlichen Zeit.22 Daher bedingt der Rhythmus als Struktur der Zeit die Erscheinungswelt, wie Nietzsches Notiz am Ende seiner Untersuchungen zur Rhythmik andeutet: Rhythmus ist die Form des Werdens, überhaupt die Form der Erscheinungswelt. (N 1870/71: RH 338)
Aus einer primären Idealisierung der Wirklichkeit durch deren rhythmische Gestaltung, so das Fazit James Porters, sieht Nietzsche in seinen philologischen
_____________ 21 So der Brief Nietzsches an Carl Fuchs, vermutlich Mitte April 1886 geschrieben, KGB III.3 [Nr. 688] S. 178: „Von Bentley [...], ebenso von den deutschen Dichtern, welche antike Metra nachzubilden glaubten, ist ganz unschuldig unsere Art rhythmischer Sinn als einzige und ‚ewige‘ Art, als Rhythmik an sich, angesetzt worden: ungefähr wie wir allesamt geneigt sind, unsere Humanitäts- und Mitgefühls-Moral als die Moral zu verstehen und sie in ältere, grundverschiedene Moralen hineinzuinterpretieren.“ Vgl. zur „Rhythmik an sich“ Porter, Being in Time, 134. 22 „Raum und Zeit“, konstatiert Nietzsche etwas später, „sind nur gemessene, an einem Rhythmus gemessene Dinge“ (N 1872/73: 19[153] VII 467). Im Einzelnen wird der Prozess rhythmisierender, d.h. idealisierender Mimesis durch primitive Organismen in Kap. 2.1.2. dieser Arbeit nachvollzogen.
Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus
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Studien die Empfindung und schließlich auch die Sprache einer Kultur entstehen.23 Kann man jedoch im Sinne der zuletzt skizzierten Forschungspositionen davon ausgehen, dass Nietzsche einen stetigen, geradezu notgedrungenen kulturellen Übergang von der rhythmischen Wahrnehmung des primitiven Organismus hin zur oralen rhythmischen Sprachkultur der Griechen bis zur ästhetischen Rhythmik als einem konventionell festgeschriebenen poetischen Gesetz annimmt?24 Die vorliegende Untersuchung will zeigen, dass diese Lesart des frühen Nietzsche jenen in der Geburt der Tragödie als apollinisch gekennzeichneten Trieb, der von einer radikalen, in dieser Hinsicht der Tradition der Klassik nahe stehenden Trennung zwischen dem ‚Natürlichen‘ und seinen ästhetischen Repräsentationen zeugt, nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt.25 Zwar ist zweifellos richtig, dass er sich in seinen Notizen gegen eine metaphysische Grundierung des Rhythmus wendet, die eine zeitlose rhythmische Struktur als ideale Vorlage der geistigen Entwicklung der Menschheit annehmen würde. Das künstlerische Ideal eines Rhythmus mit der primitiven unbewussten Idealisierung der Wahrnehmungsorgane jedes organischen Lebens gleichzusetzen, hieße jedoch die Differenzierung zwischen organischer Natur und menschlicher Kunst völlig zu negieren, die in Nietzsches Frühwerk eine zentrale Rolle spielt.26 Es tut daher Not, _____________ 23 Vgl. Porter, Being in Time, 150: „This constitutes a primary level of idealization, or, if you like, of simplification. [...] ‚rhythmical feeling‘ is the principle accomplice in the formation of language [...].“ 24 In diese Richtung zielt beispielsweise der affirmativ gemeinte Hinweis von Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, 223, auf die These, „dass repetitive rhythmische Strukturen und die quasi-musikalische Mimesis der Natur ein zentraler Faktor für durch Oralität und Ritualisierung bestimmte Kulturprozesse sind [...]. Naturnachahmung und die durch das Ritual garantierte soziale Identitätsstiftung greifen ineinander.“ Zwischen den der organischen Natur verwandten Rhythmen und einer kulturkonstituierenden Rhythmik scheint mir bei Nietzsche kein Übergang, sondern ein Schnitt zu liegen, der die tragische Trennung von Mensch und Natur unhintergehbar macht, die ihn z.B. vom Tier unterscheidet (vgl. u.a. Kap. 2.1.2.). 25 Über die Tradition der Klassik hinaus geht Nietzsche, wie Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, Frankfurt a. M. 1981, 112f., gezeigt hat, indem er den Begriff des Scheins aus dem rein ästhetischen Bezug löst bzw. die ästhetische als Wirklichkeit schlechthin etabliert. 26 Damit lege ich in Bezug auf Nietzsches ästhetische Rhythmik eine andere Lesart des Rhythmus zugrunde als sie z.B. Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, 723, vertritt, der die Wirkung des Rhythmus als eine Form des Rückholens simultaner, urtriebhafter Verhaltensformen bestimmt, „wie ein ‚Zurückgespielt-Werden‘ menschlichen Verhaltens aus dem zivilisatorischen Stadium in das Stadium der Vorgeschichte“. Sehr viel fruchtbarer erweist sich in Bezug auf Nietzsches Lesart der Rhythmik die von Hans-Gerd von Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik, Tübingen 2005, überzeugend und anschaulich aufgezeigte Verbindung Nietzsches zur Klassischen Ästhetik. Die Forschung habe bislang Nietzsches von Schiller beeinflusste „‚Kriegserklärung‘ an den Naturalismus ignoriert“ (ebd., 24), wofür hier die Rezeption des Rhythmus, der als Begriff immer eine be-
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zwischen organischer und ästhetischer Rhythmik, zwischen Physiologie und poetischem Gesetz bei Nietzsche zu unterscheiden. Keinesfalls sieht er die vorbildliche tragische Kunst der Griechen und ihre Rhythmik gleichsam automatisch als Fortentwicklung gehobener Organismen und ihrer unbewussten Empfindungsrhythmik.27 Aus der Empfindung allein, wie sie als unbewusstes Idealisieren jedem Organismus zu eigen ist, kann für Nietzsche noch keine Kunst entstehen.28 Die griechische Kunst der Tragödie, die er als ästhetische Anthropologie profiliert, ist nicht deshalb von Bedeutung, weil sie rhythmisch zu empfinden und zu strukturieren, weil sie eine lebbare Scheinwelt zu erträumen vermag. Dies ist in seinem Denken zwar ihre Voraussetzung wie die jedes Lebens in der Erscheinungswelt, jedoch nicht die einzige: Nicht der Träumende erscheint in der Geburt der Tragödie als vorbildlicher Künstler, sondern derjenige, der wie der Tragiker Archilochos sich selbst beim Träumen zuschaut.29 Diese _____________ sondere Verführung zu Einheitsidealen von Kunst und Natur darstellt, exemplarisch stehen kann (vgl. Kap. 1.2.1. unten). 27 Treffend hat dies Volker Gerhardt, Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 12–45, hier 22, mit Blick auf Nietzsches frühe Ästhetik formuliert: „Der Stoffwechsel als solcher verleiht dem Leben noch keine Qualität. Erst dort, wo die Geschlechter schöpferisch werden, wo sie gestaltend und zerstörend aus dem Alltag hervortreten, wo sie ihre Kräfte gezielt einsetzen, entfaltet sich spezifisch menschliches Leben [...].“ 28 In einer Notiz bezeichnet Nietzsche es als „Grundirrthum [...], daß der naive Urmensch gedacht wird wie er in der Leidenschaft zum Musiker und Dichter wird: als ob Leidenschaften Kunstwerke erzeugen könnten“ (N 1871: 9[137] VII 325). Vgl. auch die längeren Ausführungen zu Musik und Gefühl in seinem Notizheft von 1871: „Das Gefühl, die leisere oder stärker Erregung jenes Lust- und Unlustuntergrundes ist überhaupt im Bereich der produktiven Kunst das an sich Unkünstlerische [...]“ (N 1871: 12[1] VII 364). Christoph Landerer/Marc-Oliver Schuster, Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragödie in ihrer Beziehung zur Musikästhetik Eduard Hanslicks, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), 114–133, hier 125, sehen in Nietzsches Ablehnung, dem Gefühl die Fähigkeit ästhetischer Formvorgaben zuzuschreiben, einen Hinweis auf seine bereits für die Tragödienschrift relevante Lektüre von Eduard Hanslicks Buch Vom Musikalisch-Ästhetischen, auf die in Kap. 1.2.2. unten (Anm. 66) eingegangen wird. 29 Vgl. Günter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999, 79: Es handle sich beim Träumen des Künstlers um kein unmittelbares Verhalten, sondern um „Dasein durch Vermittlung [...]: hier bedarf es eines Mittels, eines Mediums, damit etwas erscheinen kann [...]. Vermittlung ist das Wesen der Kunst.“ Axel Gellhaus, „Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“. Lessing und Schiller bei Nietzsche, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), Sonderheft, 112–121, hier 120, sieht dagegen im apollinischen Schein das Bewusstsein ausgeschaltet: „Die apollinische Erzeugung von Illusionen ist keine Reflexion, sondern Reflex.“ Von einer solchen Lesart Nietzsches will sich die vorliegende Arbeit absetzen, indem sie die moderne Rhythmik – entgegen Gellhaus’ Deutung einer Nihilierung des Individuellen (ebd., 120) – bei Nietzsche im Wesentlichen auf der bewussten künstlerischen stilistischen Leistung eines seiner Nichtigkeit tragisch bewussten Individuums ruhen sieht (vgl. Kap. 2.2.3. unten).
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wache Erkenntnis der unausweichlichen Gefangenheit im Traum angesichts einer lebensvernichtenden Wirklichkeit sieht Nietzsche als Besonderheit der tragischen Kunst. Der griechische Künstler erkennt die Scheinhaftigkeit seines Daseins, sieht diese Erkenntnis der Lebenstragödie jedoch nicht als Grund zur Verzweiflung an der Nichtigkeit seines Daseins, sondern als Aufforderung, diese Tragödie als das ihm einzig mögliche Leben künstlerisch zu gestalten. Erst die Reflexion über sein Leiden, und nicht allein das Erleiden selbst führt zur ästhetischen Gestaltungsfähigkeit. Zu den dem Künstler zur Verfügung stehenden Gestaltungsmitteln zählt Nietzsche, wie bereits erläutert, auch den Rhythmus. Insofern unterscheidet er, so die These dieser Arbeit, zwischen einem organischen Rhythmus als der unbewusst idealisierenden Basis jeder Wahrnehmung auf der einen und einem ästhetischen Rhythmus auf der anderen Seite, der diese Wahrnehmung im vollen Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit zu formen sucht.30 Weil die Kunst die Empfindungen mittels poetischer Gesetze gestaltet, die nicht in der organischen Natur vorgegeben sind, müssen ihre Rhythmen von den Abläufen der Natur unterschieden werden31 – ein Postulat, das der Wagner-Kritiker Eduard Hanslick seiner Ästhetik voranstellt, deren Lektüre deutliche Spuren in Nietzsches Frühwerk hinterlassen hat (vgl. Kap. 1.2.2.). Wenn Nietzsche die „Philosophie des Rhythmus“ in seinen Vorlesungsnotizen als „[I]dealismus“ bezeichnet32 bzw. behauptet, das rhythmische „Zeitproportionsschema“ schwe_____________ 30 Die „Grundfrage“ in Bezug auf den ästhetischen Rhythmus, wie sie Erwin Arndt/Harald Fricke, „Rhythmus“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Jan-Dirk Müller u. a., Berlin/New York 2003, Band III, 301–304, hier 301, stellen, nämlich „ob der Rhythmus den beschriebenen Phänomenen selbst oder dem menschlichen Gestalten bzw. Erleben zuerkannt werden soll“, beantwortet Nietzsche in Bezug auf die ästhetische Rhythmik, so die These der vorliegenden Arbeit, zugunsten des letzteren Arguments. Der künstlerische Rhythmus spiegelt nicht die organischen Rhythmen (und schon gar nicht eine Wirklichkeit jenseits der Erscheinungswelt), sondern prägt der Natur seine Formen ein, ähnlich der Definition von Trier, Rhythmus, 137f., der die Theoriebildung zum Rhythmus in der Nachkriegszeit bestimmt hat: Der Rhythmus-Begriff lasse sich nicht auf Phänomene ausweiten, die unwillentlich ablaufen, wie z.B. der Herzschlag oder das Atmen bzw. wie die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden „Schallwellen oder Lichtwellen“. Zum Rhythmus gehöre, „daß er intendiert ist und erlebt wird [...] nicht nur hingenommen.“ 31 In diesem Sinne sieht Mattenklott, Die dionysische Seele, 746, in der dionysischen Ästhetik der Tragödienschrift keine Aufforderung zu einer naturgetreuen Nachahmung des „Lebensrohstoffes“, sondern vielmehr dazu, „einen Gegenrhythmus zum natürlichen“ aufrecht zu erhalten. 32 „Philosophie des Rhythmus, der Accent im deutschen Worte (als Ton- und Empfindungsidealismus gegenüber dem Raum- und [Schein] Lichtidealismus der Griechen) [...]“ (N 1870/71: RH 309). Bereits Mitte der 60er Jahre exzerpiert Nietzsche aus Karl Otfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders, nach der Handschrift des Verfassers hrsg. von E. Müller, Breslau 1841, Band I, 409, dessen Einschätzung einer idealistischen Motivation des griechischen, insbesondere des dorischen Göt-
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be in der Poesie „ideal vor“ (N 1870/71: RH 309), dann ist der Terminus ‚Idealismus‘ im Sinne eines rein geistig zu bestimmenden und nicht aus dem Organischen hervorgehenden Gesetzes der Kunst durchaus ernst zu nehmen. Eine „sonderbare Metaphysik der Kunst“ sei seine Eigenleistung in der Tragödienschrift, schreibt Nietzsche am 4. August 1871 an Erwin Rohde (KGB II.1 [Nr. 149] 216). Er nimmt ein Kunstideal an, das sich von der organischen Natur unterscheidet, und dennoch nicht mit der traditionellen Metaphysik in eins zu setzen ist, denn es bleibt als zeitgebundenes eben ein ‚sonderbar‘ metaphysisches.33 Diese Unterscheidung zwischen organisch-rhythmischer Natur und einem künstlerisch-rhythmischem Ideal bzw. Gesetz erklärt die Relevanz der Rhythmik des antiken Rhythmikers Aristoxenos für Nietzsche, die er in seinen philologischen Untersuchungen zur Rhythmik ausführlich behandelt. Aristoxenos unterscheidet zwischen der Bedeutung des Rhythmus als eines Gestaltungsprinzips (rhythmós) und seiner Erscheinung in dem zu gestaltenden Material (rhythmizómenon) wie dem der Töne oder der Sprache.34 Der rhythmós gilt hier als eine abstrakte Vorgabe, nach der das sprachliche Material zeitlich geordnet wird. Als ideale Formel kann er zwar nur in einem Material sichtbar werden, fällt aber nie mit dem Stofflichen zusammen.35 Aristoxenos sieht rhythmós und rhythmizómenon als _____________ terhimmels: „Uebe[r] dorische Religiosität – zeigt sich durchweg eine idealist[ische] Geist[e]srichtung, die die Gottheit wenige[r] in Bezug auf das Lebe[n] der Natur als auf menschl[iche] freie Thätigkeit faßt und ihr Wesen und [sein] Sein sich mehr nach der Analogie der letztern als der ersten vorstellt“ (BAW 1864: III 14). 33 Nietzsches „Artisten-Metaphysik“, so seine rückblickende Charakterisierung der Tragödienschrift (GT, „Versuch einer Selbstkritik“ von 1886: 13), ist daher nicht als Ästhetizismus jenseits des zeitgebundenen menschlichen Lebens zu verstehen, sondern vielmehr als anthropologisch nicht hintergehbare Idealisierung einer lebensfeindlichen Wirklichkeit. Die Kunst ist für Nietzsche, so Gerhardt, Pathos und Distanz, 22, „anders als religiöser Glaube oder vernunftgeleitete Moral, eine Instanz des Lebens selbst.“ Nietzsche lehnt bereits in seiner Tragödienschrift nicht nur Schopenhauers metaphysisch anmutende Vorstellung einer abstrakten, ahistorischen Musik ab (vgl. Landerer/Schuster, Nietzsches Vorstudien, 129), sondern ebenso die Annahme einer organischen Ganzheit von Welt und Mensch, wie sie laut Dufour, L’esthétique musicale, 218, die Musikästhetik des 19. Jahrhunderts (Schumann, Liszt, Wagner) als Isomorphismus von Musik und Welt im Gegensatz zum starren Sein postulierte. 34 „Im philosoph. Sinne spricht Aristox. [...] über den ῥ[υθμός] [rhythmós, FFG]. Unterscheidung zwischen ῥυθμός und ῥυθμιζόμενον [rhythmizómenon, FFG] (der zu gestaltende Stoff zB. der Ton, die Sprache, der Marmor)“ (N 1870/71: RH 103). 35 Aristoxenos schreibt (in: Westphal, Fragmente, 86): „Der Rhythmus kann ohne ein Rhythmizomenon [...] nicht zur Erscheinung kommen, denn die abstracte Zeit kann sich nicht selber zerlegen [...] sondern bedarf eines zweiten, wodurch sie zerlegt wird.“ Nietzsche exzerpiert diese Passage auf griechisch: „ὁ χρόνος αὑτὸς οὐ τέμνει, ἑτέρου δέ τινος δεῖ τοῦ διαιρήσοντος αὐτόν.“ [Die Zeit teilt sich nicht selbst, es muss jemand anderen geben, der sie unterteilt, FFG]“ (N 1870/71: RH 104). Die abstrakte Zeit des rhythmós, so hier in Westphals Übersetzung von Aristoxenos, ist zwar ohne einen Stoff (wie den der Sprache), auf
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unüberwindlich getrennt an.36 Was er unter rhythmós versteht, ist gerade nicht mit dem rhythmisierten ‚Material‘ wie z.B. den Tänzen, Gesten oder der Sprache gleichzusetzen, die eine orale Kultur ausmachen. Die Sprache zählt Aristoxenos zum rhythmizómenon, sie ist nur einer von vielen möglichen Stoffen, in denen sich ein rhythmós realisiert. In Nietzsches Darstellung der antiken Rhythmik finden sich diese Gedanken wieder: der klassische griechische Rhythmus befreie sich, wie Dufour formuliert, von allen materiellen Gebundenheiten und verwirkliche seine Autonomie in den mathematisch proportionierten Zeitlängen und kürzen.37 Die griechische Zeitenrhythmik ist dafür besonders kennzeichnend, denn sie ignoriert, wie Nietzsche in seinen philologischen Studien erstmals entdeckt hat,38 die durchaus vorhandenen rhythmischen Betonungsstrukturen der gesprochenen griechischen Sprache und zwingt sie statt dessen in ein abstraktes rhythmisches System aus Längen und Kürzen: eine Länge kann völlig unabhängig von der jeweiligen ‚natürlichen‘ Wortbetonung gesetzt werden. Diese die Sprache und Empfindungen gestaltende Macht der antiken Poetik sieht Nietzsche jedoch nicht auf die Hellenen beschränkt: In jeder künstlerischen Rhythmik – sei es die moderne Akzent- oder die antike Zeitenrhythmik – „ist die unendli_____________ den sie angewandt wird, nicht wahrnehmbar, auf der anderen Seite verkörpert sie die Vorstellung einer ganzheitlichen, noch ungeteilten Ordnung. Die ideale abstrakte Zeitordnung des rhythmós stellt insofern eine internalisierte konventionelle Gesetzesstruktur dar, die den zeitlichen Verlauf der Wirklichkeit im Kunstwerk gestaltet. 36 Vgl. Porter, Being in Time, 142: „[T]he consequence of Aristoxenus’ insight into the sheer difference of rhythm to its objects, its virtual noncoincidence with them.“ 37 Vgl. Dufour, La physiologie de la musique, 226. Bereits 1869 notiert sich Nietzsche als „Aesthetische Grundanschauungen“: „Viel mächtiger als das Wort, das dürftige Zeichen, ist dazu der Schlag des rhythmischen Pulses“ (BAW 1869: V 206). Der ästhetische Rhythmus greift in den Sprachrhythmus ein und gestaltet ihn als eine übergeordnete Macht. 38 Vgl. seinen euphorischen Brief an Erwin Rohde vom 23. November 1870, KGB II.1 [Nr. 110] 159, in dem er diese Entdeckung kundtut: „[A]n meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe – nun, das klingt freilich nicht stolz, soll’s auch nicht sein! Jetzt arbeite ich an ihm herum. Wenn Du mir es glauben willst, so kann ich Dir erzählen, daß es eine neue Metrik giebt, die ich entdeckt habe, der gegenüber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G. Hermann bis Westphal oder Schmidt eine Verirrung ist. Lache oder höhne, wie Du willst – mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es giebt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust, weil ich diesmal die schönste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer größere Tiefe geben kann.“ Viktor Pöschl, Nietzsche und die klassische Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. von Hellmut Flashar u.a., Göttingen 1979, 141–155, hier 154, nennt dies „wirklich eine epochemachende Entdeckung“ Nietzsches, die allerdings wegen der späten Veröffentlichung seiner Vorlesung derselben Entdeckung von Maksymilian Kawczynski (Essai comparativ sur l’origine et l’histoire des rythmes, Paris 1889) und Charles E. Bennet (What was Ictus in Latin Prosody?, in: The American Journal of Philology 19 [1898], 361–383) erst 1912 nachfolgte.
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che Mannigfaltigkeit der Natur zu bändigen durch gewisse Grundformen [...]. Die strengen Grundproportionen sind nur ideal gegenwärtig, an ihnen messen wir in unsrer Empfindung die Fülle der wirklichen Zeiten“ (N 1870/71: RH 309). Die organische Natur mit ihren unendlich mannigfaltigen Rhythmen wird durch eine poetische Rhythmik einheitlich strukturiert, die „nur ideal gegenwärtig“ ist und insofern alles andere als ein natürliches Phänomen darstellt. Nicht zuletzt wird durch ihre ideale Vorgabe innerhalb einer Kultur erst eine allen gemeinsame Empfindung der Zeit geschaffen: wie Nietzsche beobachtet, dient die ästhetische Rhythmik der Koordination des Zeitgefühls und der allgemeinen Stabilisierung und Verfestigung der Empfindungen in der Zeit: Es ist die Poesie, welche die vorhandene Sprache nach rhythm. Zeitproportionen betrachtet und ein Gefühl dafür fest macht. (N 1870/71: RH 309)
Die Rhythmik des Aristoxenos will rückblickend vor Augen führen, dass ein konventionell empfundenes Muster als Vorlage der klassischen griechischen Rhythmik wirkte, das die Sprache im Kunstwerk organisiert,39 die Empfindungen trainiert und koordiniert und das in den griechischen Bildungseinrichtungen weiter getragen und unterrichtet wurde.40 Vorbildlich sind die Griechen für Nietzsche gerade deshalb, weil sie ein anthropologisches Grundbedürfnis, die Strukturierung der Zeit durch Rhythmen, erkennen und es zur bewussten ästhetischen Gestaltung einer kulturell einheitlich empfundenen Wirklichkeit nutzen. _____________ 39 Wilhelm Seidel, Rhythmus, Metrum, Takt, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, hrsg. von Ludwig Fischer, Weimar u. a. 1998, 257–317, hier 259, hebt hervor, dass Aristoxenos anders als Platon nicht von der Ordnung einer tatsächlichen Bewegung (die zum rhythmizómenon zählen würde), sondern von der Ordnung der Zeit als einer abstrakten Struktur spricht: „Maß des Rhythmus soll nicht das Element einer konkreten Materie sein – Aristoxenos nennt die Silbe – sondern eine davon abstrahierte Zeitdauer, der von ihm so genannte chronos protos.“ 40 Porter, Being in Time, 156, überlegt, ob Nietzsche die Rhythmik des Aristoxenos eher kritisch gelesen habe, weil diese nachträglich eine in klassischen hellenischen Zeiten gleichsam unbewusst gegebene rhythmische Empfindung zu klassifizieren und festschreiben sucht: „Could Aristoxenus’ theory of quantitative rhythm be a misreading of the classical practices, and even an attempt to ‚classicize‘ them, by endowing them with stately proportionalities and abstract (and soundless) beauties?“ Mir scheint dagegen, dass Nietzsche gerade die idealisierende Setzung rhythmischer Maße durch Aristoxenos als Merkmal des Klassischen interessiert hat. Dass Nietzsche die konservative Haltung des Aristoxenes zu Rhythmik und Poesie der Griechen (und nicht zuletzt auch dessen Beurteilung der alogía, vgl. Kap. 1.2.1. unten) übernimmt, verdeutlicht eins seiner Notate aus den Jahren seiner Beschäftigung mit dessen Schriften zur Rhythmik: „Bedeutung des Aristoxenos, seine oppositionelle Haltung der neueren Kunst gegenüber. Erinnerung an die alte μουσική [musiké, FFG]. Schon mit Sophocles Entartung“ (N 1870/71: RH 126). Vgl. dazu Westphal, Fragmente, 23: „In der Schule conservativer Pythagoreer gebildet, hat er früh eine Anhänglichkeit an die Normen der alten Kunst erhalten [...], schon Euripides und Sophokles werden nicht von ihm genannt.“
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Von einer Rückkehr zur Natur oder dem Postulat einer ursprünglichen Rhythmik, wie sie die Begeisterung für rhythmische Phänomene seit dem Fin de Siècle prägt, kann daher bei Nietzsche keine Rede sein: Während organische ‚Rhythmen‘ dem Bedürfnis nach einer Zeitgestaltung unbewusst und stets auf den Augenblick beschränkt folgen – denn die Natur kann nicht zeitübergreifend rhythmisch ‚planen‘ wie der Mensch – strukturiert die ästhetische Rhythmik diese anthropologischen Selbstbehauptungsmechanismen bewusst. Sie schafft so eine künstlerische Gegenwelt, eine dauerhafte, weil gemeinsame und über Generationen hin stabile Identität, die zugleich historisch bleibt, denn sie ist an das kollektive Gedächtnis einer Kultur gebunden: Solange eine Kultur durch Erziehung gewährleistet, dass ihre Rhythmik angewandt und wahrgenommen wird, kann sie der Vergänglichkeit trotzen. Eine Einschätzung der tragischen Rhythmik Nietzsches, die den Rhythmus der Geburt der Tragödie aus organischen Formbildungsprozessen bzw. wahrnehmungsspezifischen Eigenschaften des Menschen herleitet, weist zwar auf die grundsätzliche Relevanz von ästhetischer Formung gegenüber einer formlosen dionysischen Naturzeit für den Rhythmus hin, vernachlässigt aber den Aspekt von kulturellen Bildungsprozessen, die diese organische rhythmische Formbildung in Nietzsches Augen bewusst und künstlerisch zu steuern und dadurch zu stabilisieren vermögen, weil sie stets auf Dauer angelegt sind. Diese letzten Überlegungen zum Rhythmus aus den frühen philologischen Studien sind es, die im Frühwerk Nietzsches kontinuierlich aufgenommen werden, was in den folgenden Interpretationen gezeigt werden soll. Es wird nicht bezweckt, seine Auffassung des antiken Rhythmus mit den Erkenntnissen der Altphilologie abzugleichen, sondern vielmehr durch das Nachvollziehen seiner eigenen Definitionen, rhetorischen Figuren und Anwendungsbeispiele vor Augen zu führen, wie der Rhythmus als ästhetische Figur seine Anthropologie fundiert. Die Gliederung der Arbeit folgt daher chronologisch denjenigen Passagen im Werk und in den Notizen bis 1876, in denen Nietzsche rhythmische Phänomene metaphorisch oder explizit veranschaulicht und zu beschreiben sucht. Die Untersuchung ist in zwei Teile gegliedert, deren erster Nietzsches Blick auf die antike Rhythmik in der Geburt der Tragödie und in den ihren Entstehungsprozess begleitenden nachgelassenen Schriften und Notizen behandelt. Seine grundsätzliche Unterscheidung ästhetischer Rhythmik von den Struktur- und Formungsphänomenen der Natur steht im Mittelpunkt des ersten Abschnitts (1.1.). Wilhelm Worringers späteres Postulat einer Geburt der Kunst aus der Abstraktion soll die oft unterschätzte Tragweite der Funktion des Apollinischen für Nietzsches Ästhetik der Tragödienschrift in Bezug auf den Rhythmus veranschaulichen. Am Beispiel seiner ‚apollinischen‘ Metaphorik, die auf Bildfelder der Architektur, der ägyptischen Baukunst und des Mythos verweist, wird illustriert,
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inwiefern die Zuordnung des Rhythmus zum Apollinischen in dieser frühen dorischen Form auf das Ausklammern des zeitlichen Verlaufs als dem ‚Dionysischen‘ aus der Welt der apollinischen Kunst der Dauer abzielt. Im Folgenden wird deutlich, dass diese initiale Kulturphase einer rigiden und keine Abweichung erlaubenden Einübung starrer Formen in Nietzsches Ästhetik überhaupt erst die wenn auch krude Abgrenzung einer Erscheinungswelt ermöglicht, deren Gesetze zunächst ausreichend internalisiert werden müssen, um eine Auseinandersetzung mit der zeitlichen Wirklichkeit des Dionysischen zu überleben. Denn um das Überleben dieser anthropologischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit geht es ihm: der zweite Abschnitt (1.2.) macht deutlich, dass Nietzsche der radikalen künstlerischen Absage an Zeit und Vergänglichkeit keine Dauer zutraut. Denn mit der Zeitlichkeit verschwindet auch das Leben aus der Kunst und sie wird starr, spröde, leblos und damit zerstörungsanfällig. Nur durch eine Anpassung der künstlerischen Strukturen wie des Rhythmus an den Verlauf der Zeit sieht er die Überlebensfähigkeit der Kunst gewährleistet, jedoch ohne diese apollinischen Strukturen ganz in der Unerbittlichkeit der dionysischen Naturzeit aufzulösen, die keine Dauer kennt. Unter dem anthropologischen Blickwinkel dieser Arbeit, d.h. der Frage nach dem Bestand des Menschlichen unter den Bedingungen seiner Zeit- und Vergänglichkeit, erhält das Bewahren der apollinischen Formen durch Konzessionen an das Dionysische in der Geburt der Tragödie größere Relevanz als die oftmals ausschließlich darin gelesene emphatische Begrüßung dionysischer Lebendigkeit. Die fragile hellenische Balance zwischen einer zu starken Hemmung der Zeit durch leblose apollinische Strukturen und einer zu starken Anpassung an die dionysische Willkür und Vernichtung im Herz der Natur wird, so die These dieser Arbeit, durch einen ästhetischen Rhythmus umgesetzt, was u. a. am Beispiel der Struktur des griechischen Wettkampfes wie auch am Kunstwerk der griechischen Tragödie selbst gezeigt wird. Prometheus, der auf dem Titelbild der ersten Auflage der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik bei seiner Befreiung aus den ihm von Zeus angelegten Ketten abgebildet ist, erscheint sinnbildlich für diese die äußersten Potenziale des Menschlichen ausreizende rhythmische Ästhetik, und zwar gerade weil seine ‚dionysische‘ Befreiung vom Gott Apollo gebilligt wird (Kap. 1.2). Prometheus Entfesselung signalisiert daher nicht das Verschmelzen der Kunst mit einer dionysisch-titanischen Naturwahrheit, sondern entspricht einer Kulturleistung: Apollo bestimmt die Gesetze der Kunst auch dort, wo sie an dionysischer Beweglichkeit gewinnt. Die Übereinstimmungen zwischen dieser radikal ästhetischen Position Nietzsches und Eduard Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen, in der er die unüberwindliche Trennung von Natur und Kunst als Voraussetzung des Ästhetischen betont, das immer in einer
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symbolischen Übertragungsleistung besteht, schließen das Kapitel zu Nietzsches Auffassung ästhetischer Rhythmik in der Antike. Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit untersucht, ob sich die am Beispiel der Antike entwickelte ästhetisch-anthropologische Rhythmik auch in Nietzsches Analyse moderner Kunst und Kultur in seinen Schriften und Notizen der Jahre 1873 bis 1876 wiederfindet. Zunächst scheint dieser Hypothese die von ihm postulierte grundsätzliche Differenz von Antike und Moderne entgegenzustehen: Während er in der Antike eine Lockerung der starr konventionellen apollinischen Formen beobachtet, die dabei immer bestrebt ist, eine völlige Auflösung zu verhindern, konstatiert er in der Moderne das Fehlen jeder grundierenden Form, die man noch lockern könnte: sie ist der Zeit haltlos ausgesetzt.41 Dementsprechend wirkt die Besessenheit moderner Wissenschaft und Geschichtsbetrachtung, die kleinsten Details der Wirklichkeit wie auch der Vergangenheit exakt zu erfassen und alles unterschiedslos erhellen zu wollen, in seinen Augen zerstörerisch auf jeden Versuch, ästhetische und daher notgedrungen idealisierende Strukturen zu schaffen. Die moderne Kunst ebenso wie die moderne Lebenswelt hat, so Nietzsche, keinen Rhythmus, der sich dadurch jedoch als anthropologische Notwendigkeit für ihn keineswegs erübrigt, sondern dessen Voraussetzungen – mit dem antiken Beispiel körperlich-militärischer Dressur vor Augen – erst erneut wieder geschaffen werden müssten (Kap. 2.1.). Die rudimentäre organische Formenbildung der Natur – die in Nietzsches Notizen als Rhythmus erscheint und im Wesentlichen durch eine selektive Betonung der Wirklichkeit funktioniert – dient ihm zunächst als Beispiel der Bildung erster sinnlicher Anhaltspunkte in einer diffundierenden Wirklichkeit. Dass diese Art organischer Ästhetik des Hervorhebens betonter und der Vernachlässigung unbetonter Aspekte der Wirklichkeit allerdings in Bezug auf menschliche Kunst und Kultur für ihn einer gesellschaftlichen Systematisierung bedarf, durch die jedem Naturalismus in der Ästhetik eine deutliche Absage erteilt wird, zeigen Nietzsches Vorlesungen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten von 1873. Dort verschreibt ein alternder Philosoph der modernen Kultur, die sich gehen lässt und keine Form mehr kennt, die Übung im straff reglementierten soldatischen Marschtakt bzw. -rhythmus, um überhaupt erst wieder einen gemeinsamen Ausgangspunkt für körperliche Haltung und ästhetischen Stil zu gewinnen, denn „Kultur“ manifestiert sich, wie Nietzsche immer wieder betont, allein durch „Einheit des Stils“ (N 1873: 27[65] VII 606). In der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung vollzieht er am Beispiel der „monumentalischen Historie“ nach, wie das Verdun_____________ 41 Porter, Being in Time, 154, interpretiert bereits Nietzsches philologische rhythmische Studien in diesem Sinne: während die Antike, „[d]elicately balanced on an abyss“, das Gleichgewicht wahrt, verliert die Moderne diese Balance – „[b]y contrast, modern rhythm brutally overpowers this balance [...].“
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keln weiter Passagen der Geschichte Muster und Anhaltspunkte in die Vergangenheit zeichnet, indem das Ausgewählte und Betonte Leuchtfeuer ‚klassischer‘ Größe in den undifferenzierten Verlauf der Zeit treibt, die der Gegenwart zur Nachahmung dienen können. Im Alternieren von Hervorheben und Verdunkeln findet sich metaphorisch die rhythmische kulturstiftende Strukturierungsleistung wieder, die Nietzsche am Beispiel des Apollinischen und seiner Konzessionen an die dionysische Naturzeit in der Tragödienschrift demonstriert. Allerdings stützt sich die moderne Rhythmik nicht auf räumliche Kategorien wie die von Nietzsche als ‚architektonisch‘ apostrophierte Rhythmik der apollinischen Griechen, sondern operiert allein mit zeitlichen Maßstäben. Wie das Beispiel des Fragments zur so genannten „Zeitatomenlehre“ von 1873 zeigt, liegt die potenzielle rhythmische Gestaltungskraft der Moderne in der Verlangsamung des Zeitlaufs durch zeitlich möglichst weit voneinander platzierte Wiederholungsmomente. Je dichter die aufeinander bezogenen Zeitpunkte liegen, d.h. je kürzer die zeitliche Perspektive ist, desto mehr beschleunigt sich das Tempo und nähert sich der Geschwindigkeit der Atom- bzw. Naturzeit an. Je weiter jedoch die zeitliche Perspektive in Vergangenheit und Zukunft greift und hervorgehobene Momente einander gleich setzt, desto mehr verzögert diese ästhetische Rhythmik die Zeit und wahrt damit kulturelles Gedächtnis und zivilisatorischen Bestand. Im zweiten Abschnitt (Kap. 2.2.) wird dargelegt, dass sich Nietzsche bei aller Wissenschaftskritik nicht in eine Lebensphilosophie einreihen lässt, die gegen wissenschaftliche ‚rationale Entfremdung‘ eine Wiedergewinnung der Ganzheit von Lebenswelt und organischen Rhythmen postuliert.42 Dass es eine solche Ganzheit für Nietzsche auch in der Antike nicht gegeben hat, zeigt bereits der erste Teil dieser Arbeit, in dem seine Differenzierung von rudimentär organischer und gesetzmäßig-ästhetischer Rhythmik bzw. von rhythmós und rhythmizómenon deutlich gemacht wird. Seine kritische Auseinandersetzung mit Eugen Düh_____________ 42 Die Lebensphilosophie kontrastiert organische Rhythmen mit der mechanischen Vertaktung der Alltagswelt. Vgl. Holmrike Leiser-Maruhn, Rhythmik, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 8, Weimar u. a. 1998, 225–258, hier 252f.: „Idealisierte Sehnsüchte der Romantik prallen Ende des 19. Jahrhunderts auf die zunehmend von Maschinen bestimmte Gliederung der ‚Lebens-Zeit, die sich auch auf den Alltag ausdehnt. [...] Vertreter der Lebensphilosophie schließlich konstituieren das Schlagwort rhythmisch mit Vorstellungen von lebendig, gesund, natürlich und suggerieren die Möglichkeit der Veredelung des menschlichen Charakters durch Orientierung am Schönen und Einordnung in die Rhythmen der Natur.“ Rhythmus im Gegensatz zu Metrum und Takt wird so zum Stichwort des Unbehagens in der Moderne. Die Wirkung der Opposition von Metrum bzw. Takt und Rhythmus verfolgt u. a. Christine Lubkoll, Rhythmus und Metrum, in: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, hrsg. von Heinrich Bosse und Ulla RennerHenke, Freiburg i. Br. 1999, 103–121, wie auch Seidel, Rhythmus, Metrum, Takt und Corbineau-Hoffmann, Rhythmus.
Nietzsches ästhetische Anthropologie des Rhythmus
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rings Abhandlung Der Werth des Lebens von 1865 soll darauf aufbauend belegen, dass Nietzsches Ideal eines ästhetischen Rhythmus keinen ganzheitlichen, d.h. natur- bzw. weltumfassenden rein ‚dionysischen‘ Anspruch verfolgt. Vielmehr versteht Nietzsche die anthropologisch nicht hintergehbare Differenz zwischen dem ästhetischen Rhythmus des immer individuell zu verstehenden Menschen und der elementaren Natur – ob sie nun in Gestalt elementarer Gefühle, kosmischer Strömungen oder atomarer Bewegungen erscheint – als Grundlage anthropologischer Selbstbehauptung in der Zeit. Nietzsches vehemente Kritik an Dühring, die bei dem genauen Vergleich von Originaltext und Exzerpt deutlich wird, weist vornehmlich auf einen neuralgischen Punkt der Lebensphilosophie hin: Ganzheitlichkeit, wie sie oftmals und auch bei Dühring in Gestalt eines allumfassenden Rhythmus von Natur und Mensch imaginiert wird, schließt die besondere Perspektive des einzelnen Lebens aus. Die Natur kann daher kein Fluchtpunkt moderner Erlösungssehnsüchte sein, vielmehr muss das Individuum, will es seinen Rhythmus behaupten, unerlöst bleiben. Anhand eines Ausblicks auf Henri Bergsons Jahrzehnte später erschienenes Buch Materie und Gedächtnis, in dem dieser einen Rhythmus der Wahrnehmung als geistiges und nur dem Menschen gegebenes Prinzip des Gedächtnisses von den Bewegungen der Materie unterscheidet, werden diese Thesen noch einmal veranschaulicht. Anders als die Antike kann demgemäß die moderne Ästhetik ihre Bemühungen um zeitübergreifende rhythmische Gedächtnis-Strukturen weder auf ein allgemeines Bildungssystem noch auf eine Einheit stiftende ästhetisch vermittelte Mythologie stützen, sondern ist auf individuelle Künstler und ihre gestaltende Kraft angewiesen. Als einen solchen Künstler führt Nietzsche in der letzten Unzeitgemässen Betrachtung Richard Wagner vor, dessen geschilderter, für die Moderne exemplarischer ästhetischer Überlebenskampf um einen Rhythmus im letzten Abschnitt nachvollzogen wird. Wenn die Mythologie schwindet, notiert sich Nietzsche im Kontext seiner nachgelassenen Schrift über die tragischen Philosophen, dann liegt es am Einzelnen, ästhetische Figuren im Verfließen der Zeit herauszubilden und dadurch immer wieder „Hemmschuh im Rade der Zeit“ zu sein (N 1872/73: 19[17] VII 421).
1. Rhythmus im tragischen Zeitalter der Griechen 1.1. Apollo als Gott der Rhythmen Alle ältere Kunst war starr, steif; in Griechenland wie bei uns. Die Mathematik, die Symmetrie, der strenge Takt herrschten. (N 1876/77: 23[138] VIII 453)
1.1.1. Die Geburt der Kunst aus der Abstraktion Jede ernstzunehmende Kunst beginnt ihre Geschichte mit Formen von vollkommener geometrischer Anordnung. Diese These bildet den Ausgangspunkt von Wilhelm Worringers 1908 publizierter Dissertationsschrift Abstraktion und Einfühlung, mit der er sich gegen die Vorstellung eines Ursprungs künstlerischen Schaffens aus der Naturnachahmung richtet. Anstelle einer urwüchsigen Einbindung des primitiven Künstlers in die natürliche Formbildung, die er der Natur abschaut und sukzessive perfektioniert, sieht Worringer die Kunst mit der Kreation eigenständiger abstrakter Figuren beginnen.1 Jene abstrakten Schöpfungen kennzeichnet ein geometrischer Stil, dessen wesentliches Merkmal die absolute Symmetrie seiner Formen ist und der insofern den natürlichen Formen gänzlich fern steht. Worringer bezeichnet den Stil dieser gesetzmäßigen Geburt der Ästhetik unter anderem als rhythmisch: Der nach den obersten Gesetzen von Symmetrie und Rhythmus streng aufgebaute geometrische Stil ist vom Standpunkt der Gesetzmässigkeit aus der vollkommenste. (AE 22) _____________ 1
Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Bern 1910 (19081), 19 (im Folgenden im Haupttext = AE): „Der Abstraktionsdrang steht also am Anfange jeder Kunst [...].“ Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Band III. 2/4, Stuttgart 1857, 1129, dessen Band zur Musik Nietzsche im Mai 1870 aus der Basler Universitätsbibliothek auslieh, entwickelt ein ähnliches Modell wie später Worringer in Bezug auf die musikalische Ästhetik: nur auf der Basis der zunächst etablierten „leblosen“ Formen konnte sich der „Schmelz“ der Musik herausbilden: „Die Musik mußte aber mit diesem directen Idealismus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerst klar und scharf unterschied [...] und in ihnen einen unmittelbaren, einfach schönen Stimmungsausdruck suchte; erst im Gegensatz zu der hiermit gegebenen wirklichen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders scharf geschiedener Tongeschlechter und zu der Kälte und Leblosigkeit des monotonen Ein- und Oktavenklangs konnte sich der Schmelz [...] harmonischer Musik entwickeln.“
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Gesetz, Symmetrie und Rhythmus spielen in Bezug auf die Anfänge der Kunst unmittelbar zusammen. Worringer motiviert den Ursprung dieser ‚geometrischen‘ Ästhetik psychologisch, wie der Untertitel seines Buches Ein Beitrag zur Stilpsychologie bereits ankündigt. Der Abstraktionsdrang ist, wie er annimmt, „die Folge einer grossen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt [...]“ (AE 19). Künstlerische Werke mit ihren klaren Linien und Proportionen, ihrer Symmetrie und Gesetzmäßigkeit der rhythmischen Formen bieten Inseln der Erholung von einer willkürlichen und unberechenbaren Außenwelt: [D]ie einfache Linie und ihre Weiterbildung in rein geometrischer Gesetzmässigkeit musste für den durch die Unklarheit und Verworrenheit der Erscheinungen beunruhigten Menschen die grösste Beglückungsmöglichkeit darbieten. Denn hier [...] ist Gesetz, ist Notwendigkeit, wo sonst überall die Willkür des Organischen herrscht. (AE 26)
Werden die Eindrücke der Natur als willkürlich und unergründlich empfunden, dann hält ihr die Kunst geometrische Formen entgegen und schafft so Sphären der Dauer und Orientierung. „Der primitive Mensch, so Worringer, verschnürt den Schrecken der Welt in abstrakt-geometrische Ornamente.“2 Das einzelne Individuum, dem beunruhigenden plötzlichen Wechsel und der Vergänglichkeit ausgesetzt, behauptet sich durch die Formung sinnlich fassbarer und vor allem klar strukturierter Objekte gegen den ständigen Ansturm von Vernichtung und Willkür. In seinen kristallinen Kreationen gelingt es ihm, „das einzelne Ding der Aussenwelt aus seiner [...] Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden“ (AE 21). Der Widerstand der Kunstwerke gegen die erfahrene Naturwirklichkeit ist daher das primäre Anliegen der ersten Keime künstlerischen Schaffens, und gerade nicht die Imitation naturgegebener Formen, da sich in der organischen Welt keine absolute Symmetrie oder Identität der Formen findet. Das Kunstbedürfnis richtet sich vielmehr darauf, jegliche Brücken zwischen beiden Sphären z.B. durch den Anschein einer ‚Natürlichkeit‘ ästhetischer Kreationen nach allen Regeln der Kunst zu vermeiden. Das Kunstwerk ist selbständig und steht, so Worringer, „gleichwertig neben der Natur und in seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr“ (AE 1). So markiert das Gesetz in Gestalt geometrischer Strukturen, das Gesetz von Symmetrie und Rhythmus den Beginn der Kunst als einer genuin eigenen Sphäre, mit deren Hilfe sich eine Kultur gegen die erfahrene Willkür der Natur behauptet. _____________ 2
Hannes Böhringer, Einleitung, in: Wilhelm Worringer, Schriften, hrsg. von Hannes Böhringer, Helga Grebing und Beate Söntgen unter Mitarbeit von Arne Zerbst, München 2004, 16.
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Die antike griechische ebenso wie die ägyptische und byzantinische Kultur dienen Worringer als Belege für seine These. „Die Disposition zur Abstraktion“, führt er aus, steht „bei den Griechen wie bei allen anderen Völkern am Anfange der Kunstübung“ (AE 101). Obwohl diese Völker nachweislich anhand ihrer Spiel- und Werkzeuge technisch in der Lage waren, die sie umgebenden natürlichen Begebenheiten exakt nachzuahmen, demonstrieren ihre Kunstwerke einen abstrakt-geometrischen Stil. Er erklärt dieses Phänomen mit einer orientalischen Kulturen eigenen Weltsicht: sie begreifen die Welt als letztlich rational weder zu durchschauen noch zu beherrschen3 und realisieren in der Kunst das anthropologische Bedürfnis nach beherrschbaren und daher notwendig von der Natur abgegrenzten Räumen. Als Beispiele behandelt Worringer neben den ägyptischen Pyramiden auch den dorischen Tempel als Inbegriff abstrakter Kunst: Der dorische Tempel [...] basiert noch auf einer rein geometrischen oder vielmehr stereometrischen ausdruckslosen Gesetzmässigkeit, über deren klar beschriebene Grenzen sie nicht hinaus will. (AE 102f.)
Die Architektur der Dorer sieht Worringer als Verkörperung einer Kunst, deren Funktion allein in der sinnlichen Wiedergabe des Gesetzmäßigen besteht. Über dessen „klar beschriebene Grenzen“ hinaus zu gehen, die feine Abweichung vom Gesetz zu pflegen und dadurch Individualität und Bewegung in den künstlerischen Ausdruck zu bringen, liegt der Bestimmung dieser tektonischen Kunst in ihren Anfängen fern. Die räumliche Leblosigkeit einer Zeit und Zufall ausklammernden Kunst finde ihren charakteristischen Ausdruck in der gesetzmäßigen „Starrheit des dorischen Tempels“ (AE 104) wie auch in der „tote[n] Form“ der ägyptischen Pyramiden (AE 18). Die Baukunst ist Worringers Ansicht nach für einen geometrischen Stil symptomatisch, daher können alle über die reine Naturimitation hinausgehenden Kunstformen „architektonisch“ genannt werden (AE 2). Fritz Neumeyer weist in seiner Untersuchung zur Metaphorik der Architektur im Werk Nietzsches auf die Ähnlichkeit von Worringers Kunsttrieb der Abstraktion und dem von Ersterem fast 30 Jahre zuvor in der Geburt der Tragödie eingeführten apollinischen Kunsttrieb hin. Sowohl Nietzsches apollinischer Trieb als auch Worringers Abstraktionstrieb bilden den jeweils ersten Teil eines polaren Begriffspaares. Während Nietzsche bekanntlich dem apollinischen einen dionysischen Trieb zugesellt, sieht Worringer, wie bereits der Titel seiner Schrift _____________ 3
Vgl. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 21: „Nur die orientalischen Kulturvölker, deren tieferer Weltinstinkt einer Entwicklung im rationalistischen Sinne entgegenstand, sie, die in der äusseren Erscheinung der Welt immer nur den glänzenden Schleier der Maja sahen, sie blieben sich der unergründlichen Verworrenheit aller Lebenserscheinungen bewusst und [...] ihr Instinkt für die Relativität alles Seienden stand nicht, wie bei den primitiven Völkern, vor dem Erkennen, sondern über dem Erkennen.“
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anzeigt, den starren und leblosen Abstraktionsdrang in der Geschichte der weiteren künstlerischen Entwicklung von einem nur scheinbar natürlicheren, organischen Einfühlungsstreben abgelöst.4 Dass jedoch mit diesem Schritt „die kunsttheoretische Fanfare zum Angriff auf alles Apollinisch-Rechtwinklige“5 geblasen worden sei, ist schon für Worringer nicht zutreffend – ebenso wenig wie die Annahme, dass in Nietzsches dionysisch-apollinischer „Gunstverteilung“ in der Geburt der Tragödie das Architektonische ein „Odium des Anrüchigen“ habe.6 Die Rezeption des Apollinischen in Nietzsches Frühwerk steht von Beginn unter dem dominanten Eindruck seiner Proklamation des Dionysischen und vernachlässigt oftmals dessen durchweg zentrale Bedeutung insbesondere auch in den frühen Schriften. Das Aufrichten apollinischer Grenzpflöcke zwischen Kunst und Natur markiert bereits in der Geburt der Tragödie nicht nur den Beginn, sondern garantiert auch den Fortbestand der Kunst.7 Worringer verliert diesen Gesichtspunkt in seiner Schrift keineswegs aus den Augen und scheint in dieser Hinsicht Nietzsche sehr viel gründlicher gelesen zu haben als dessen emphatische Proklamation dionysischen Lebens zunächst nahe legt. Das „Einfühlungsstreben“ Worringers, eine fortgeschrittenere Kunstauffassung gegenüber dem ursprünglichen Abstraktionstrieb, kennzeichnet zwar mehr Lebendigkeit und Bewegung als dessen Starrheit und Gesetzmäßigkeit, ist jedoch von einer Naturnachahmung ebenso weit wie jede Art der Ästhetik entfernt. Für die ‚organischere‘ Kunstform der Einfühlung in die Natur gilt wie für die abstrakten geometri_____________ 4
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Vgl. Neumeyer, Klang der Steine, 91: „Das Apollinische und Dionysische, das schon aus Worringers Titel grüßen läßt, wird unter dem Gesichtspunkt der Stilpsychologie am Beispiel jener zwei Architekturen exemplifiziert, in die Nietzsches ‚Geburt‘ unterschieden hatte.“ Ebd., 91. Ebd., 79. In seiner Analyse des Schlussbildes der Geburt der Tragödie legt Neumeyer selbst eine andere Lesart von Nietzsches Bewertung des Apollinischen nahe. Neumeyer sieht in Nietzsches Bild des ionischen Tempels (anstelle des dorischen Tempels aus dem Eingangskapitel) nicht „eine wie auch immer geartete bombastische Verkörperung des Rauschs“ und keinen „strotzende[n] Naturalismus“ im Sinne des Dionysischen, sondern vielmehr „klassisch bemessene[ ] Baukörper[ ], die ein besonderes Raumangebot für ‚zart bewegte Menschen‘ bereitstellen“ (ebd., 89). Selbst wenn Nietzsche die Leblosigkeit abstrakter Formen wie z.B. einen mechanischen Pendelschlag kritisiert, so setzt er ihn doch für den künstlerischen Körper voraus: „Der Pendelschlag berührt uns peinlich: er giebt das mathematische Gerippe. Wie nun wird dies mit Fleisch umkleidet?“ (N 1870/71: RH 205). Nur auf der knöchernen Basis des Gerippes kann der Körper mit Leben gefüllt werden. Die durchgängige Notwendigkeit dieses apollinischen ‚Gerippes‘ als Ausgleich für das Dionysische bei Nietzsche zeigt Paul van Tongeren, Nietzsche’s Greek Measure, in: Journal of Nietzsche Studies 24 (2002), 5–24, hier 13: Die dionysische Wahrheit könne nur dann anerkannt und genossen werden, „when it is counterbalanced by the Apollinian appearance of unity and order“ in Gestalt des Maßes.
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schen Schöpfungen, „dass der Nachahmungstrieb, dieses elementare Bedürfnis des Menschen, ausserhalb der eigentlichen Aesthetik steht und dass seine Befriedigung prinzipiell nichts mit der Kunst zu tun hat“(AE 14). Eine Kunst, die natürlicher erscheint als ihr abstrakter Beginn, wäre demnach nicht das Ergebnis einer Auflösung der Grenze zwischen natürlicher und ästhetischer Form, sondern vielmehr eine Weiterentwicklung des künstlerischen Stils auf der Basis der strengen Formen ihrer Anfänge. Die „sogenannte Stilisierung, d.h. das Abstrakte, das Linear-Unlebendige“, so Worringer, ist „das Primäre gewesen, das dann im Sinne organischer Lebendigkeit umgestaltet und so langsam einem Naturobjekt angenähert wurde“ (AE 97). Die Annäherung der künstlerischen an die natürlichen Formen überschreitet jedoch nie die feine Linie zur Verschmelzung mit der Natur, vielmehr bleibt die schöne bzw. ästhetische Natur, um einen von Jutta Müller-Tamm profilierten Begriff zu gebrauchen, immer eine menschliche Projektion.8 Wenn steinerne Pflanzenornamente sich um die Säulen der Tempel ranken und immer mehr ihre ursprünglich geometrische Symmetrie verlieren, so wird nicht die Natur imitiert, sondern die abstrakte Form fortentwickelt.9 „Beide Stile“, folgert Worringer, sowohl der abstraktlineare wie der „vegetabile“ organische, „stellen also im Grunde eine Abstraktion dar [...]“ (AE 78). Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Folgen auch für die künstlerischen Gestaltungsmittel wie z.B. die rhythmische Organisation eines Kunstwerkes. Schrieb Worringer einerseits „Symmetrie und Rhythmus“ den abstrakten Schöpfungen zu, so zählt er den Rhythmus andererseits zu den Formen einer ‚naturalistischeren‘ Kunst der Einfühlung in die Natur, in deren Gestalt er eine „Ueberwindung des Schematisch-Mechanischen (also des Abstrakt-Gesetzmässigen) durch das Organisch-Rhythmische“ erkennt.10 Die ursprünglich abstrakte _____________ 8
Infolge der psycho-physiologischen Erkenntnisse, der Aufwertung menschlicher Wahrnehmung und Sinnlichkeit wird die ‚schöne Natur‘ von Worringer als Projektion anthropologischer Kategorien auf die Außenwelt verstanden. Wahrnehmung erscheint, so Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2004, 11, „als Folge von Übertragungen und zuletzt der wahrgenommene Gegenstand selbst als Effekt einer Übertragung“. 9 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 42: „[D]ie ästhetische Wirkung kann [...] nur von jenem höheren Zustand des Stoffes ausgehen, den wir Form nennen und dessen inneres Wesen Gesetzmäßigkeit ist [...].“ 10 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 114. Vgl. ebd., 115: „Die Griechen gingen also bald von dieser gewaltsamen Fassung in kubische Formen ab und versuchten [...], die tote geometrische Form durch den Rhythmus des Organischen zu überwinden.“ Vgl. ebd., 93: „Die klassische griechische Ornamentik [...] zeigt an Stelle der geometrischen Gesetzmässigkeit eine organische Gesetzmässigkeit“, die „lebendiger Rhythmus oder rhythmische Lebendigkeit“ auszeichnet. Diese organisch-rhythmische Bewegung, wie Worringer so-
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Gesetzmäßigkeit verliert in diesem Ablösungsprozess jedoch nicht ihre Gültigkeit, vielmehr sieht Worringer sie „äusserlich immer mehr in den Hintergrund“ treten: sie „wirkt nur noch gewissermaassen unbewusst im Verborgenen“ (AE 115). Die ursprünglich starren Formungsprinzipien sind durch lange und konsequente Anwendung zu einer ‚organischen‘ Rhythmik verinnerlicht worden und bleiben unbewusst wirksam, so dass man sich Abweichungen und Überschreitungen zwecks einer ‚Verlebendigung‘ wie in der griechischen Klassik nunmehr leisten kann, ohne dadurch die unabdingliche Voraussetzung eines die Kunst grundierenden geometrischen Gitters zu gefährden. Denn dieses leistet auch in einer lebendigeren ästhetischen Gestalt etwas, das keine Verschmelzung mit der Natur je vermag: es enthebt die ästhetischen Formen dem natürlichen Ablauf der Zeit, dem Wandel und der Zufälligkeit: Die Gesetze des Unorganischen zu Hilfe rufen, um das Organische in eine zeitlose Sphäre zu heben, es zu verewigen, das ist ein Gesetz aller Kunst [...]. (AE 114)
Bleiben die ‚naturalistischen‘ Kunstformen wie die Rankenornamente ihrem ursprünglichen abstrakten Ideal mit seiner Grenzziehung zur tatsächlichen Natur verpflichtet, so kann auch für ihre Kunstmittel wie den Rhythmus kein ‚natürlicher‘ Ursprung, geschweige denn eine Übereinstimmung natürlicher und künstlerischer Rhythmik angenommen werden.11 Eine Annäherung zwischen Kunst und Natur scheint mit dem Einfühlungsstreben stattzufinden, das jedoch die trennende Schwelle, die mittels der Abstraktion ursprünglich gezogen wurde, nie überschreitet. Wie in diesem Kapitel anhand des – zunächst analytisch getrennt vom Einfluss des Dionysischen betrachteten – genuin apollinischen Kunstmittels Rhythmus gezeigt wird, spielt der apollinische Kunsttrieb in Nietzsches Geburt der Tragödie eine ähnliche Rolle für die ursprüngliche anthropologische Selbstbehauptung wie später bei Worringer. Charakteristika des Geometrischen, Symmetrischen, Architektonischen und vor allem des Statischen eignen dem apollinischen Rhythmus in Nietzsches ästhetischem Kulturmodell bis zu seiner Überschreitung durch die dionysischen Kunsttriebe. Im Anschluss an die Überlegungen zu Worringer stellt sich die Frage, ob der apollinische architektonische Rhythmus, obwohl er von einer dionysisch beeinflussten Kunst überwunden scheint, auch bei Nietzsche seine fundierende Rolle beibehält. Geht die „Gesammtentfesselung“ _____________ gleich anschließt, findet sich jedoch nicht in der Natur: „Jeder Naturalismus in subalternem Sinne, jedes Abschreiben der Natur fehlt.“ 11 Vgl. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst. Leipzig 1854, der nicht die geringste Verwandtschaft zwischen den natürlichen Rhythmen des Vogelgesanges oder den Tänzen von Naturvölkern mit einer ästhetischen Rhythmik erkennen kann (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl., Darmstadt 1981, 89). Nietzsche las die Schrift bereits 1865 (vgl. Kap. 1.2.2.).
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einer nunmehr dionysischen verwandelten Rhythmik (GT 1872: 34), die Nietzsche als Ablösung von der apollinischen Rhythmik beschreibt, mit einer ekstatischen Verschmelzung von Kunst und Natur einher? Wird die feine Linie, die Worringer auch in organischen Kunstformen zwischen Kunst und Natur gezogen sieht, in Nietzsches Geburt der Tragödie überschritten? 1.1.2. Architektonik des apollinischen Rhythmus Auch thörichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüths, sofern sich nur Viele ihnen unterworfen haben. (VM 1879: [210] 468)
Nietzsche erwähnt den Begriff Rhythmus in der Geburt der Tragödie nur zweimal, jedoch an signifikanten Stellen. Zu Beginn der Schrift definiert er den musikalischen Rhythmus der Hellenen als ein durchweg apollinisches Kunstmittel: Wenn die Musik scheinbar bereits als eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber nur in angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. (GT 1872: 33)
Diejenige Musik, in deren Kontext der Rhythmus hier Erwähnung findet, ist nur „scheinbar“ als solche zu verstehen, denn ihr wesentliches Merkmal, die musikalische Tonalität, wird in der apollinischen Klangwelt nicht zur Geltung gebracht. Die „nur angedeuteten“ Töne der Kithara werden ausschließlich als rhythmische Mittel gebraucht und bringen keine Melodie zum Ausdruck.12 Rhythmus war in der Antike, wie Nietzsche bereits in seinen Untersuchungen zur Rhythmik 1870/71 erkennt, nicht gleichbedeutend mit seiner Anwendung in modernen akzentuierenden Sprachen.13 Im Unterschied zur modernen Rhythmik kennzeichnet die antike Rhythmik aus zeitlichen Längen und Kürzen kein bewegtes, ineinander übergehendes und fließendes Auf und Ab der Betonungen, es bilden sich in ihr keine gebündelten Konzentrationspunkte der Betonung bei gleichzeitiger Ver-
_____________ 12 „Behutsam“, heißt es gleich im Anschluss, „ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos [...]“ (GT 1872: 33). 13 Fritz Bornmann, Nietzsches metrische Studien, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 472–489, hier 483, schildert anhand von Nietzsches rhythmischen Untersuchungen dessen immer deutlicher werdende Einsicht in die Bedeutungslosigkeit der Wortbetonung für die antike Rhythmik.
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nachlässigung der restlichen Silben wie im akzentuierenden Rhythmus.14 Die tatsächliche gesprochene Wortbetonung spielt für die antike Rhythmik vielmehr überhaupt keine Rolle,15 sondern der Rhythmus gilt als reines zeitbegrenzendes Maß der Schrittlängen oder -kürzen, das durch Taktschläge oder eben durch das Zupfen der Saiten der Kithara markiert wird. So zeichnet die griechische Musik aus, wie er sich 1871 notiert, dass sie „auf Wortbetonung [...] gar keine Rücksicht nimmt. Sie kennt überhaupt das musikalische Accentuiren nicht: die Wirkung beruht im Zeitrhythmus [...] , nicht im Rhythmus der Stärken.“16 Dem antiken Rhythmus eignet insofern eine im Wesentlichen begrenzende Funktion: er gleicht der räumlichen Markierung von mathematisch genau definierten Zeiteinheiten. Die symmetrisch-rhythmischen Proportionen der Längen und Kürzen fallen „nicht in die Zeit“, wie Nietzsche in seinen Aufzeichnungen zur Rhythmik notiert; „wir genießen die räumliche Architektonik, nicht die zeitliche.“17 Das in der Zeit verlaufende musikalische Kunstwerk erhält insofern durch seine rhythmische Gestaltung räumliche Merkmale der Architektur und Plastizität und wird von ihm allein in dieser Eigenschaft als Kunst des Apollo gewürdigt. „Die Musik des Apollo“, hieß es im Eingangszitat, „war dorische Architektonik in Tönen“ (GT 1872: 33). Der Rhythmus gilt ihm in dieser Definition als genuin apollinisches Instrument, er wurde sogar überhaupt erst zum Nutzen Apollos entwickelt.18 In einer Vorfassung der Geburt der Tragödie ist dies noch deutlicher formuliert: Wenn die Musik auch apollinische Kunst ist, so ist es genau genommen nur der Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde: die Musik des Apollo ist Architektur in Tönen [...]. (N 1870: DW 557)
Der frühe Rhythmus der Griechen dient dem Festhalten von Momenten, von, wie man hier liest, „apollinischen Zuständen“ und daher der Beständigkeit. In der nachgelassenen philologischen Schrift Enzyclopädie der klassischen Philologie bezeichnet Nietzsche den Rhythmus als „das Hauptelement“, das die griechische vollendete Form geschaffen habe: „Hier haben wir einen Einfluß der plastischen _____________ 14 Nietzsche schreibt über die moderne Rhythmik: „[D]ie neue Accentsilbe saugt alles Leben in sich, während um sie herum alles verkümmert“ (N 1870/71: RH 308). 15 „Der Wortaccent ist in seiner rhythm. Eigenschaft im Altherthum nicht berücksichtigt“ (N 1870/71: RH 222). 16 N 1871: 9[111] VII 316; vgl. Dufour, La physiologie de la musique, 226. 17 N 1870/71: RH 136. Was die Griechen musikalisch empfanden – so analysiert Porter, Being in Time, 163, Nietzsches Aufzeichnungen zur Rhythmik – sind nicht die harmonischen Kräfte der Melodie, sondern die architektonischen „Raumdifferenzen“, die „Zeiträume“ zwischen den Tönen. 18 Vgl. Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1999, 58: Apollon gilt als „der Gott des Maßes und der Besonnenheit [...], der Städtegründungen und des Staates, der Führer der Musen und der Herr der Wissenschaften.“
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Begabung der Griechen auf ihre Sprache“ (N 1870/71: KGW II3 397). Rhythmus wirkt bauend und bildend, indem er in den Zeitstrom der Musik räumliche Grenzen einfügt und diese durch den Taktschlag wahrnehmbar macht. In seinen Vorlesungsnotizen zur antiken Rhythmik zitiert Nietzsche die Aussage des lateinischen Rhetorikers Quintilian zum Wesen des Rhythmus, den dieser nicht als Fließen, sondern vielmehr als die akustische Einteilung dieses Fließens begreift: Hier wird das Wesen des Rhythmus in die Aufeinanderfolge von gleichen, oft mannigfachen Zeiträumen gesetzt: wie er an anderer Stelle sagt, in cadentibus guttis [in fallenden Tropfen, FFG] wäre Rhythmus, nicht im Rauschen eines Stromes. (N 1870/71: RH 271)
Fallende Tropfen als Markierungspunkte von Zeitabschnitten gelten hier als „Wesen des Rhythmus“. Nicht das Fließen oder Strömen, das in der Darstellung der Geburt der Tragödie mit dem melodischen Instrument aulós assoziiert wird, sondern vielmehr das abgehackte Zupfen der Kithara-Saiten charakterisiert den Rhythmus.19 Anhand der Beschreibung des Daktylus als eines der ältesten antiken Maße erläutert Nietzsche in seinen Vorlesungsnotizen: Die Zeitverhältnisse werden hier durch Raumverhältnisse symbolisirt. (N 1870/71: RH 325)
Die räumliche Zeit-Symbolik des Rhythmus wird nicht nur durch die Konstanz der Wiederholung proportionaler Abschnitte in der Zeit erreicht, sondern auch _____________ 19 Vgl. die 1974 unternommene Rhythmus-Definition von Emile Benveniste, Der Begriff des „Rhythmus“ und sein sprachlicher Ausdruck, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, 363–374, hier 365f.: Benveniste kritisiert (wie bereits Trier, Rhythmus, 140f.) die etymologische Herleitung des Begriffs „Rhythmus“ von der Bedeutung des Fließens im Sinne einer regelmäßigen Wellenbewegung. Er bemerkt, dass Fließen überhaupt nichts mit Wellen zu tun hat, sondern vielmehr den Verlauf eines Flusses meint, „ein Wasserlauf jedoch besitzt keinen Rhythmus.“ Um dem zu begegnen, leistet er eine genaue etymologische Herleitung des Begriffs Rhythmus vom griechischen rhythmós. Die Antike gebraucht rhythmós im Sinne von „etwas eine Form geben, eine Form annehmen“; rhythmós „heißt immer Form, womit die distinktive Form gemeint ist, die charakteristische Anordnung der Teile in einem Ganzen“ (ebd., 367). Diese Form oder dieser Rhythmus zeichnet sich durch Proportion und Harmonie aus, „unrhythmisch“ dagegen wird im Sinne von „unproportioniert[ ]“ oder „nicht auf eine Form gebracht, unorganisiert“ verwendet (ebd., 369). Benvenistes Herleitung des Rhythmus als Form- und Ordnungsbegriff wird häufig dann ignoriert, wenn man versucht, den ästhetischen Rhythmus aus der Natur herzuleiten, um sich dadurch bewusst oder unbewusst in die Tradition der lebensphilosophischen Gegenüberstellung einer „natürlichen“, körpereigenen Rhythmik und einer kulturell-zivilisatorischen Vertaktung einzureihen, wie z.B. in der Einleitung von Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, hrsg. von Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi und Sabine Schouten, Bielefeld 2005, 13, durch die Gegenüberstellung von „rhythmischen Eigenzeiten [...] unseres Körpers“ und den „kulturelle[n] Setzungen, etwa durch Kalender“, die „schlecht mit unserer körperlichen Verfassung harmonieren.“
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ganz plastisch in der visuellen Darstellung des Rhythmus durch die Choreuten des griechischen Gesamtkunstwerkes, das nie auf eine rein musikalische Aufführung beschränkt war.20 Die Tatsache, dass der Rhythmus in der Bewegung visualisiert und nicht allein akustisch vorgegeben wurde, entspricht seinem apollinisch-bildnerischen Charakter: „die ‚Taktirmethode fürs Gesicht‘ [...] ist somit die älteste“, notiert sich Nietzsche (N 1870/71: RH 319). An anderer Stelle der Aufzeichnungen zum Rhythmus heißt es: Der Takt der Alten [...] geht bei ihnen ursprünglich auf die überschaubaren Raumverhältnisse des Chors hinaus dh. der höhere Rhythmus wird nur sichtbar, nicht hörbar./ Daher herrschen die Gesetze des sichtbaren Rhythmus. (N 1870/71: RH 225)
Die Choreuten bauen mit ihren Körpern eine rhythmische Architektur apollinischer Musik, die als Abgrenzung der Felder ihrer Schrittfolgen für das Auge wahrnehmbar wird.21 Die Schritte der Tanzenden wiederum charakterisiert Nietzsche in seinen Notizen nicht als fließende Bewegung, sondern als klar voneinander abgegrenzte punktuelle Markierungen, vergleichbar mit fallenden Tropfen oder dem Zupfen einer Saite: Ihr Tanz ist „kein Wirbeltanz [...], sondern ein schönes Gehen“ (N 1870/71: RH 270). Die Funktion des apollinischen Rhythmus besteht dabei allein in der zeitlichen Begrenzung und nicht im Nachvollzug der Bewegung: Der Ictus „ist reiner Zeitmesser u. Pendelschlag“ (N 1870/71: RH 272), der Rhythmus kennzeichnet den Schlag und nicht die schwingende Bewegung des Pendels. Nietzsche macht sich daher auch über die Verehrung und Begeisterung zeitgenössischer Philologen für die antike Rhythmik lustig, die für ihn allein den Charme eines Trommelschlages hat: Rechnet man den Triumph über die eigenen Entdeckungen ab, die mitunter zu einem dithyramb. Tone verleiten, so bleibt ein Genuß übrig, den ich mit dem am Trommelschlag vergleichen muß: für mein Gefühl hat eine pathetische Verherrlichung der Trommelschlägergenüsse etwas Komisches u. Heiteres. (N 1870/71: RH 267f.)22 _____________ 20 „So ein antikes Drama ist ein großes Musikwerk; man genoss aber die Musik nie absolut, sondern immer hineingestellt in die Verbindung mit Cultus, Architectonik, Plastik und Poesie“ (N 1869/70: 3[1] VII 57). 21 Trier, Rhythmus, 136, verbindet den (griechischen) Chor mit einem „ringförmigen Zaun von Menschen“, der sich dadurch von der äußeren Umgebung räumlich abgrenzt. 22 Ein Rhythmus stellt den Maßstab zum Messen der Zeit dar, er ist eine Richtlinie wie der Pendelschlag und insofern ebenso aufregend wie die Tonleiter. Ohne ein Maß wie die Tonleiter oder einen Sekundenzeiger kann eine Bewegung, sei sie musikalisch oder rein zeitlich, nicht anschaulich gemacht werden, schreibt Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig 18774 (1. Aufl. 1862), 417. Nietzsche lieh das 1862 erschienene Buch 1870 aus der Basler Universitätsbibliothek aus, vgl. Luca Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher 1869–1879, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), 388–442, hier 403. Eine Analyse des Einflusses von Helmholtz auf Nietzsche (al-
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Rhythmus im tragischen Zeitalter der Griechen
Den Ton der Kithara, den Nietzsche in der Geburt der Tragödie mit dem Rhythmus assoziiert, sieht er in seinen Untersuchungen zur antiken Rhythmik in derselben Funktion wie Trommel- oder Taktschläge: „Der Ton wirkt ursprünglich (bei der kitharod. Musik) im Sinne eines Zeitmessers“ (N 1870/71: RH 322). Die apollinische „Architektonik in Tönen“ (GT 1872: 33) wird von einem Rhythmus bestimmt, der als wesentliche Aufgabe die räumliche Umzäunung und Zerteilung, d.h. die Stillstellung der eigentlich durch ihre Bewegtheit ausgezeichneten Kunst der Musik übernimmt. Im diesem Sinne wäre die apollinische Musik dann keine wirkliche, sondern nur „scheinbar[e]“ Musik, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie formuliert und weiter ausführt: Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht [...]. (GT 1872: 33)
Streng genommen gehört der apollinische Rhythmus daher nicht zur Musik, sondern verhindert eher deren Entfaltung: er hält den eigentlichen „Charakter“ der Musik aus der apollinischen musiké fern. Als Widerpart dionysischer Musik erwähnt Nietzsche den Rhythmus auch in seinen Notizbüchern aus der Zeit der Niederschrift der Geburt der Tragödie: Er nennt „[d]ie apollinische Musik – in rhythmischer Bedeutsamkeit den bildenden Künsten verwandt“ und konstatiert gleich im Anschluss: „Dagegen die orgiastische Wirkung der Musik“ (N 1869/70: 3[40] VII 72). Die elementare Wildheit, die in der Musik als Potenzial schlummert, steht insofern im Widerspruch zum Rhythmus als apollinischem Gestaltungsmittel. Wie Nietzsche an anderer Stelle notiert, erscheint die Rhythmik gleichsam als der Gefangenenwärter des Musikalischen: Die Rhythmik in der Dichtung beweist, daß das musikalische Element noch in der Gefangenschaft lebte. (N 1870/71: 5[94] VII 118)
In einer Vorfassung der Geburt der Tragödie, der Dionysischen Weltanschauung (1870), beschreibt er die Bändigung der Musik durch die „Gewalt des apollinischen Genius“, der sie mit Hilfe einer „früher nur im einfachsten Zickzack sich bewegende[n] Rhythmik“ auf „der Stufe einer einfachen Architektonik verharren“ lässt (N 1870: DW 565). Der Rhythmus zeichnet sich hier durch strenge, geradezu monotone Symmetrie aus: Die Charakterisierung der apollinischen Rhythmik als einfachstes Zickzack erinnert an ein Metronom und weniger an natürliche Wel_____________ lerdings nicht in Bezug auf die hier genannten Textstellen) findet sich bei Sören Reuter, Reiz – Bild – Unbewusste Anschauung. Nietzsches Auseinandersetzung mit Helmholtz’ Theorie der unbewussten Schlüsse in ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘, in: Nietzsche-Studien 33 (2004), 351–372, sowie bei Hubert Treiber, Zur Genealogie einer ‚Science Positive de la Morale en Allemagne’, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), 165– 221.
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lenbewegungen, die in Nietzsches Formulierung vom apollinischen „Wellenschlag des Rhythmus“ (GT 1872: 33) anzuklingen scheinen. Doch wie in Bezug auf den Pendelschlag steht nicht die „Welle“, sondern der „Schlag“ im Fokus dieser Analogie von Rhythmus und Welle: den Taktschlag versteht er in seinen zeitgleich entstandenen Notizen als einen gleichsam abstrahierten Wellenschlag, der keine natürliche Bewegung imitiert, sondern als eine streng gleichmäßige Einteilung der Zeit seine ästhetische Aufgabe wahrnimmt, die elementare Wirkung der Musik einzugrenzen: Die Bedeutung des Taktes als Schranke der Musik, gegen ihre größte Wirkung [...]. Der Takt gänzlich vorbildlos in der Natur: was wäre das für eine Gewalt, die die Regungen des Willens mit gleichen Zeittheilen durchschnitte? – d.h. ursprünglich ist er Abbild des Wellenschlags. (N 1871: 9[116] VII 317)23
Die Wirkung der Musik – in Schopenhauers Terminologie hier auch als Regungen des Willens bezeichnet – wird mit Hilfe eines vom Naturvorbild unabhängigen mathematischen Taktes in Schranken gehalten und systematisch eingeteilt. Wie in Worringers späterer These von der Geburt der Kunst aus der Abstraktion besetzt das rhythmische Kunstwerk der Hellenen für Nietzsche einen von der Natur unabhängigen Raum, da diese keine ebenbürtige Symmetrie in ihren Erscheinungsformen kennt: Das Kunstwerk verhält sich ähnlich zur Natur, wie sich der mathematische Kreis zum natürlichen Kreis verhält. (N 1872/73: 19[252] VII 498)
Der apollinische Rhythmus mag ein Abbild des Wellenschlages sein, aber ein Abbild, das seinem Urbild zugleich gewaltsam eine leblose Ebenmäßigkeit vorschreibt, die diesem fremd ist.24 In besonders ausgeprägter Form erkennt Nietzsche das Apollinische – ebenso wie Worringer seinen Abstraktionstrieb – in der Kultur des griechischen Stammes der Dorer, dessen Name ihm oben bereits zur Charakterisierung apollinischer Rhythmik als „dorische Architektonik in Tönen“ diente (GT 1872: 33). In der dorischen „Kunst und Weltbetrachtung“ erhebe sich „das Apollinische zur starren Majestät“ (GT 1872: 41). Die Starrheit und Majestät der Kunst in der dorischen Blütezeit begründet er mit der unablässigen Notwendigkeit, dem überquellenden Leben des Dionysischen eine absolute Grenze zu setzen und es aus _____________ 23 In der Erklärung von Georg Curtius, auf die Nietzsche hier evtl. rekurriert, erscheint das Wort rhythmós etymologisch abgeleitet vom Wellenschlag des Meeres: „Dass aber der ῥυθ-μό-ς [...] von den Griechen dem Meer abgelauscht ward, steht mir fest.“ (Georg Curtius, Grundzüge der griechischen Etymologie. Leipzig 18795, 353). Die zweite Auflage von 1866 entlieh Nietzsche am 1870 aus der Basler Universitätsbibliothek. Vgl. Crescenzi, Verzeichnis, 396. 24 Diese Methode einer ‚verfälschenden‘ Analogiebildung, die aus dem Wellenschlag des Meeres eine metronomische Gleichmäßigkeit macht, wird als künstlerisches Prinzip im zweiten Teil der Arbeit behandelt (s. Kap. 2.1.2.).
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der apollinischen Kultur auszuklammern. So besteht der Zweck dorischer Kunst primär in ihrer Eigenschaft als Bollwerk: Ich vermag nämlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur im unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so trotzigspröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein. (GT 1872: 41)
Der Staat unter dorischer Herrschaft gleicht einer Trutzburg, die das dorische Leben umschließt, nach innen und außen hin ordnet und reguliert und auch für die Zukunft durch eine uniformierende Erziehung sichern will. Nietzsche sieht das apollinische Reich dadurch von einem Damm geschützt, gegen den eine elementare Naturkraft, die „plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen“ (GT 1872: 70) anbrandet.25 Die vor der dionysischen Überflutung bewahrte Kunstlandschaft bezeichnet er auch als „künstlich gedämmte Welt“ (GT 1872: 40) und unterscheidet sie hier strikt von der Natur des Dionysischen. Apollo als wehrhafter Verteidiger des Staates26 sichert seine Grenzen und hält die Ordnung innerhalb dieser Mauern mit militärischer Gewalt aufrecht. In seinem Reich herrschen strenge Gesetze, die jede Tendenz zu übermäßiger Bewegung oder Veränderung unterbinden. Die apollinische Kunst, deren Mechanismen sich, wie kürzlich überzeugend nachgewiesen, auch in ihrer Mysterienordnung spiegeln,27 besteht demnach im architektonischen Abschotten eines Raumes, der undurch_____________ 25 Anschaulich fasst Erich Heller, Nietzsches Terror. Die Zeit und das Unartikulierte, in: ders., Die Bedeutung Friedrich Nietzsches. Zehn Essays. Hamburg/Zürich 1992, 295–263, hier 246f., die existenzielle Konzentration Nietzsches auf den Erhalt der Form in ähnliche Bilder: „Daß alles Geformte gefährdet ist, ist offensichtlich. Form, sei sie sprachlich oder musikalisch, verdankt ihr Dasein einem komplizierten System von Dämmen, Deichen und Kanälen, die den zudrängenden Ozean des Formlosen bändigen. Formen sind Landgewinn, fruchtbar und gefährdet, erobertes Land, befestigt gegen die Flutzeiten des turbulenten Elements.“ 26 Apollo als Kriegsgott, der den Zwang und die Grausamkeit des Staates verkörpert, schildert Nietzsche in Der griechische Staat: „[S]o wird man mir einen gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg zu Gute halten müssen. Fürchterlich erklingt sein silberner Bogen: und kommt er gleich daher wie die Nacht, so ist er doch Apollo, der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates“ (N 1872: GS 774). Zum griechisch-apollinischen Staat vgl. Kap. 2.1.1. unten. 27 In ihrer erhellenden Studie über die Bedeutung der Mysterienordnung beim frühen Nietzsche erkennen Hemelsoet/Biebuyck/Praet, Mysterienordnung, 13, eine ähnliche konstitutive Ausgrenzung des Dionysischen durch die apollinische Mysterienordnung wie die hier ausgeführten Beobachtungen zur architektonisch-geometrischen Metaphorik Nietzsches nahe legen: „Die apollinische Mysterienordnung zielt also auf die Ausbildung einer geschlossenen Ordnung, die verschleiert, dass es außerhalb ihrer Welt noch etwas Anderes gibt.“
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lässig für alle äußeren Einflüsse bleiben will. Der Horizont dieses Reiches endet an diesem Limes, dessen Bedeutung als Wahrnehmungsschranke in griechischen Tempeln auch optisch in besonderer Weise markiert wird; so versetzt Nietzsche am Ende der Geburt der Tragödie den Leser an die Stelle eines althellenischen Tempelbesuchers, dessen Blick durch die Bauweise des Tempels limitiert wird, „aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist [...]“, unter dem Menschen mit „rhythmischer Gebärdensprache“ einherschreiten (GT 1872: 155). Die rhythmisch-apollinische Bewegung findet nicht extensiv, sondern ausschließlich innerhalb eines geradezu gewaltsam begrenzten, „abgeschnittenen“ Blickfeldes statt. Wahrscheinlich hat sich Nietzsche in dieser Tempelschilderung von Hermann Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen inspirieren lassen, die er 1870 aus der Basler Bibliothek auslieh. Dort wird hervorgehoben, dass gerade von den horizontalen Balken griechischer Tempel ebenso wie den tragenden Säulen eine gesetzmäßig strukturierende Funktion für den Gesamtbau ausgeht, die sich bei Nietzsche im Rhythmus von Schreiten und Gebärden spiegeln würde.28 Architekturbilder als Metaphern für die griechisch-apollinische Kultur finden sich auch an weiteren Stellen in Nietzsches Schrift, er schildert das Reich Apollos selbst als künstlerische Bauleistung, als „jenes kunstvolle Gebäude der apollinischen Cultur“ (GT 1872: 34). In einem Satz Ludwig Feuerbachs, den Nietzsche in seinem Vortrag Das griechische Musikdrama vom Frühjahr 1870 erwähnt, wird die wesentliche Aufgabe der Architektur als Mauern bildende und abschließende Kunst hervorgehoben. Feuerbach bezieht sich in dem von Nietzsche aufgegriffenen Gedanken auf frühe griechische Tempelfeste: [S]o bildet auch hier die Architektur den Rahmen und die Basis, durch welche sich die höhere poetische Sphäre sichtbar gegen die Wirklichkeit abschließt. (N 1870: GMD 518)
In vergleichbarer Funktion könnte man an die chinesische Mauer denken, die als einzige Linie in einer endlos weiten Landschaft die mongolischen Reiterheere in ihrer flutenden Bewegung zum Halt bringen sollte. Ähnlich lassen die dorischen Kunstwerke in Nietzsches Metaphorik die Bewegung dionysischer Kulte an ihren Stein gewordenen Gesetzen abprallen. _____________ 28 Vgl. Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 387f.: „Die senkrechte Stellung der tragenden Säulen, die meist horizontale des getragenen Gebälks zwangen auch alle untergeordneten Theile überwiegend nach horizontalen und verticalen Linien zu gliedern.“ Der dionysische Einschlag, den Neumeyer, Klang der Steine, 89, in dem von Nietzsche am Ende der Geburt der Tragödie geschilderten Tempel feststellt, wird meiner Ansicht nach durch dessen strukturierend-apollinische Merkmale aufgewogen. Mag es sich hier auch um einen ionischen, also bereits dionysisch verwandelten Tempel handeln, so bleibt die Funktion der Architektur des Tempels doch die der apollinischen Begrenzung des Blickfeldes und der Außenwelt.
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Die Architektur erhebt durch ihre Materialien und die Gesetze ihres tektonischen Aufbaus Anspruch auf Dauer, auf Beständigkeit in der Zeit: sie demonstriert, wie Nietzsche in seinen Notizen festhält, „die Ewigkeit und Größe des Menschen“ (N 1870/71: 5[73] VII 109), und wohlgemerkt nicht der Natur. Die tektonische Struktur der apollinischen Kunstwerke mit ihren klar abgegrenzten und proportionalen Formen – wenn man Tektonik im Sinne ihrer Wortbedeutung sowohl als Zusammenfügung von Bauteilen sowie als strengen kunstvollen Aufbau einer Dichtung versteht – gewährleistet die Dauer des apollinischen Kunstreiches, in dem zeitlose Gesetzmäßigkeit herrscht. Rhythmus und Takt als Charakteristika dieses Kunstreiches gehen nicht aus einer natürlich-organischen Bewegung hervor, sondern sind als abstrakte Formen, als rigide Zäsuren im Sinne von Bewegungsschranken zu verstehen. 1.1.3. Maß und Rhythmus als Individuationsprinzipien Das räumliche Abgrenzungsstreben der apollinischen Architektur sowie ihr rhythmisches Strukturprinzip entspricht in ihrer strikt normativen Funktion überraschenderweise ausgerechnet den von Nietzsche hervorgehobenen hellenischen Forderungen an die Erziehung des Individuums.29 Die Selbsterziehung zum Maß stellt in seiner nachgelassenen Schrift Die Geburt des tragischen Gedankens (1870) den Kernpunkt apollinischer Kunst und Weisheit dar: Das Mass als Forderung hingestellt ist nur dann möglich, wo das Mass, die Grenze als erkennbar gilt. Um seine Grenzen einhalten zu können, muss man sie kennen: daher die apollinische Ur-mahnung „Erkenne dich selbst.“ (N 1870: GG 593)
Das eigene Maß einzuhalten bedeutet in der apollinischen Kultur die Begrenztheit des Individuums anzuerkennen und jedes Hinausstreben über diese Grenzen hinweg einzudämmen. Mit der apollinischen Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist nicht im modernen Verständnis der Blick in Abgründe und Untiefen des Selbst gemeint, sondern das Anerkennen und Einhalten der Grenze, hinter der _____________ 29 Die von Nietzsche unterstrichene Verbindung von Rhythmus und Individuation (N 1870/71: RH 338), auf die unten noch genauer eingegangen wird, ist für sein Denken des Rhythmus konstitutiv und kann nicht, wie bei Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 1988, 229, als ‚Verunklärung‘ von Nietzsches „physiologische[r] Ästhetik zur Metaphysik hin“ gedeutet werden. Paul van Tongeren, Nietzsche’s Greek Measure, 11f., hat auf den Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Maß und dem Maß des Individuums als Selbsterkenntnis bei Nietzsche hingewiesen, die auf dem apollinischen Traum und Schein aufbauen: „Nietzsche explains the relation between the aesthetic and the ethical measure on several occasions. The measure that has to be kept is known in self-knowledge (gnothi seauton); but the self is known through the dream-image, the beautiful appearance of the Olympic gods.“
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diese dunklen Zonen beginnen, wodurch die Konturen des Individuums nur um so deutlicher hervortreten.30 Dieses Sich-Beschränken auf die gesetzten Grenzen beschreibt Nietzsche in der Geburt der Tragödie mit Hilfe der bekannten Metapher Schopenhauers vom Kahn auf dem wilden Ozean: Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis. (GT 1872: 28)31
Nietzsche beschreibt die conditio humana als prekäre Beschränkung auf den schmalen Raum im Bootsinneren, während hinter dem Bootsrand die Gischt tobt. Das apollinische Gebot des Maßhaltens entspricht dem principium individuationis, indem es den einzelnen Menschen in die Grenzen seines Kahns verweist. Weil das tobende Meer die Wahrnehmungsgrenzen des Individuums sprengen würde, klammert der apollinische Grieche es konsequent aus seiner Kunst aus. Der Tumult und die Dynamik des Ozeans bleiben außerhalb seines Blickfelds, und nur so kann der apollinische Schein einer geschützten Schale des Individuums bewahrt werden. Bekanntlich sieht Nietzsche die Grenzen des Individuums nicht als absolute Setzungen, vielmehr entfaltet der apollinische Kahn in seiner Ästhetik als bloß erträumter Kahn seine Wirksamkeit. Doch das Träumen hat für Nietzsche eine Wirklichkeit erzeugende Kraft: In den ersten Kapiteln der Tragödienschrift verweist er auf die Grundsteinlegung der hellenischen Kultur durch die Fähigkeit, in klaren Formen zu träumen. Im Traum gestaltet sich den Griechen – im genauen Gegensatz zur modernen Auffassung des Traumes – eine vollkommen verständliche Welt im Gegensatz zur tatsächlichen Wirklichkeit, die ihnen ungleich weniger begreiflich erscheint. Nietzsche versteht diese hellenische Traumwelt als „höhere Wahrheit“, er hebt in Bezug auf den Traum „die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit [...]“ hervor (GT 1872: 27). Der griechische Traum, wie ihn Nietzsche hier beschreibt, offenbart eine berechenbare Ordnung, die Geset_____________ 30 Vgl. Hemelsoet/Biebuyck/Praet, Mysterienordnung, 20, die diesen Zusammenhang als dem apollinischen Kult immanentes, mit allen Mitteln zu wahrendes Geheimnis am Beispiel des Mysterienkultes vor Augen geführt haben: „Die entsetzliche Wahrheit, dass ihre menschliche Autonomie nur eine Illusion ist, musste in der apollinischen Welt als fundamentalstes Geheimnis verhüllt bleiben, sonst würde die griechische Kultur [...] zusammenbrechen.“ 31 Der Originaltext von Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Band I, 457, den Nietzsche hier zitiert, lautet: „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis [...].“
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zen von Logik und Figürlichkeit, von Proportionalität und Maß gehorcht bzw. sie überhaupt erst etabliert.32 Die Griechen träumen klar differenziert und plastisch: man könne nicht umhin, „für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen [...] vorauszusetzen“ (GT 1872: 31). Die Gesetzlichkeit ihrer erträumten Welt beschränkt sich nicht allein auf den Schlaf, sondern sie wird zum Maßstab der Realität: Aus seinen Träumen gewinnt der Hellene Anhaltspunkte zur Deutung der Tageswirklichkeit, im Traum „übt“ er Wirklichkeit: [S]o verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. (GT 1872: 27)
Durch die Übung im Wirklichkeitsbauen am Modell des Traumes gelingt es, dessen traumgebundene Gesetze auf die zuvor nur lückenhaft verständliche Welt zu übertragen – eine Fähigkeit, die Nietzsche nicht auf die Griechen beschränkt sieht, sondern als allgemeine Fähigkeit von „künstlerisch erregbaren Menschen“ deutet. Die Realität ästhetischer Formen geht insofern der sinnlich wahrgenommenen Realität der Außenwelt voraus bzw. bedingt sie – ein ästhetisches Phänomen, das Worringer später als primären Abstraktionstrieb kennzeichnet.33 Entsprechend kehrt Nietzsche in einer Notiz gedanklich das Nachahmungsprinzip um: Die Kunstgestalten sind realer als die Wirklichkeit, die Wirklichkeit ist die Nachahmung der Kunstgestalten: ist die wachende Welt eine Nachahmung der Traumwelt? (N 1871: 9[133] VII 323)
Auch die Vorstellungen von Zeit, Raum und Kausalität zählt er in der Tragödienschrift zu den Kreationen der Traumwelt, die bis ins wache Leben wirken und nach einiger Übung schließlich in die Empfindung einer „empirischen Realität“ münden.34 Mit Hilfe seiner Fähigkeit zu träumen, d.h. von den erträumten Grenzen seines Kahns aus erobert sich der künstlerische Mensch eine zuvor ungestaltete Wirklichkeit, indem er in sie hinein die Formen seiner Träume treibt. Deren Konturen und Linien bilden die Grundlage seiner Empfindung und Wahrnehmung der Wirklichkeit, denn sie bestimmen die Funktionsweise der _____________ 32 Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, Kap. 1–12. Stuttgart/Weimar 1992, 71, liest den Traum in der Geburt der Tragödie ebenfalls als „analog zum rationalen, d.h. auf den Anschauungsformen des principium individuationis basierenden Bewußtsein [...], als potenzierte Welt der ‚Vorstellung‘.“ 33 Vgl. Kap. 1.1. 34 Der Traum ist zwar ‚nur‘ ein Schein, den wir jedoch, wie Nietzsche schreibt, „völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als [...] ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind“ (GT 1872: 38f.).
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Wahrnehmungsorgane: Nietzsche leitet in der Geburt der Tragödie die Fähigkeit formvollendeten Träumens aus der besonderen optischen Begabung der Griechen her.35 In seinen Notizen aus der Entstehungszeit der Tragödienschrift bezeichnet er den Drang nach einer formenden Anschauung der Außenwelt, respektive der Natur als einen ursprünglichen Kunsttrieb, „der den Künstler zum Idealisiren der Natur zwingt [...]. Zuletzt muß er die Construktion des Auges veranlaßt haben [...]“ (N 1871/72: 16[13] VII 397). Die Fähigkeit, Formen zu sehen, entspricht daher bereits einer primären Idealisierung der Außenwelt bzw. der Natur. Die erblickten Formen selbst sind durch die menschliche Wahrnehmung gekennzeichnet und sagen über deren tatsächliche Beschaffenheit wenig aus.36 Die ideale Welt der Träume, so lässt sich Nietzsches Verständnis einer die empirische Welt bestimmenden Traumwelt der Griechen deuten, wird auf die Realität ausgeweitet, indem die Wahrnehmungsorgane selbst ihre Gestaltungsprinzipien übernehmen. Durch die Bildung von Organen, die mit den Formen der Träume auf die Realität blicken, wird der Traum auf die Wirklichkeit appliziert, wird er zur Wirklichkeit. Der erträumte Kahn inmitten des Ozeans, in dem Nietzsche den apollinischen Schiffer sitzen sieht, umgrenzt tatsächlich die für diesen existente Welt. Stellt der hellenische Traum in der Tragödienschrift das empirische Raster zur Wahrnehmung von Zeit, Raum und Kausalität im Allgemeinen dar, so bildet der ästhetische Rhythmus eine ideale Strukturvorgabe im Besonderen. In der Kunst veranschaulicht Nietzsche dies am Beispiel der ‚apollinischen‘ Gattungen Epos und Plastik.37 Die apollinische ‚Musik‘ wird, wie oben gezeigt, durch rhythmische Vertaktung daran gehindert, den dionysischen Charakter ihrer bewegten Melodien und Harmonien zu entfalten. Konvention und Ethos sanktionieren die ritualisierten künstlerischen Aufführungen und prägen tradierte
_____________ 35 „[B]ei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges [...] wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnliche Folgen der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumenden Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu bezeichnen [...]“ (GT 1872: 31). 36 Zur mangelhaften Berechenbarkeit der tatsächlichen natürlichen Abläufe notiert sich Nietzsche bereits Jahre zuvor: „Es herrscht unbedingt der Zufall dh. der Gegensatz der Zweckmäßigkeit in der Natur. Der Sturm der die Dinge heru[m]treibt ist der Zufall. Das ist erkennbar“ (BAW 1867/68: III 386). 37 „[D]as Epos oder der beseelte Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen [...]“ (GT 1872: 150).
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Rhythmen über Generationen hinweg ein.38 Durch Konventionen, nicht durch metaphysische Seinspostulate, wird die Schranke zwischen Dauerhaftem und Wandelbaren aufrecht erhalten – Rhythmus kann demnach nicht vorausgesetzt, sondern muss geleistet werden. Die apollinischen Maßvorgaben sieht Nietzsche die Griechen daher unablässig ins Gedächtnis rufen und ihrem Körper und ihrer Wahrnehmung antrainieren, um einen Erziehungszweck zu erfüllen, der nicht zuletzt die Herausbildung von Individuen zum Ziel hat. In diesem Sinne heißt es in der Geburt der Tragödie: Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. (GT 1872: 70)
Die Grenzlinien Apollos sind offensichtlich keine unabänderliche Tatsache, sondern müssen „immer wieder“ ins Gedächtnis gerufen und trainiert werden. Durch die Wirkung des Apollinischen, mit Hilfe der wiederholten Übung einzelne Formen aus der Bewegung des Lebens herauszuschälen wie das Boot aus dem Meer, sie festzuhalten und zu verewigen und sie damit gegen den alles nivellierenden und auflösenden Ozean des Dionysischen zu behaupten, wird auch die abgegrenzte Welt des Individuums garantiert. Das principium individuationis, d.h. das Prinzip, mit Hilfe der Kategorien von Raum und Zeit eine Vielheit von Formen zu differenzieren, wird von Nietzsche – wie bereits gezeigt – als Bedingung der Möglichkeit von Individualität verstanden und dem Apollinischen zugeschrieben: Das Individuum: der differenzirende apollinische Trieb, Formen und damit – scheinbar – Individuen schaffend. (N 1871/72: 16[15] VII 397)
Das Individuum erscheint als apollinische Errungenschaft, es ist das Ergebnis einer künstlerisch-erträumten Unterteilung des Lebensflusses in die Bausteine einer menschlichen Ordnung.39 Als unterteilendes und formendes Strukturmerkmal des Apollinischen schlechthin, das dem Individuum Grenze und Form verleiht, bezeichnet Nietzsche in seinen Basler Vorlesungsaufzeichnungen den Rhythmus: Der Rhythmus ist ein Versuch zur Individuation [...]. Hier zeigt sich die Sucht zum Schönen als Motiv der Individuation. (N 1870/71: RH 338) _____________ 38 Zur strengen Konventionalität griechisch-apollinischer Rhythmik, die laut Nietzsche „in poetisch-musikalischen Innungen kastenmäßig fortgepflanzt [...] wurde“ (N 1870: DW 565), vgl. Kap. 1.1. unten. 39 Neumeyer, Klang der Steine, 12, nennt die Architektur bei Nietzsche treffend eine Funktion der Selbstbehauptung des Daseins: „In der Baukunst erblickte Nietzsche den grundsätzlichen Ausdruck eines natürlichen Behauptungswillens im Dasein.“
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Mit Hilfe eines Rhythmus und seiner stetigen Wiederholung durch die immer mahnende Erinnerung Apollos an seine Begrenztheit wird ein Individuum in der Zeit stabil gehalten, weil es in konventionelle Strukturen eingebunden ist, die über seinen Tod hinaus andauern. Dauer und Erhalt der einzelnen individuellen Form sind ein Merkmal des Apollinischen, und ihr Bestand wird durch den Rhythmus als nicht-natürliches tektonisches Kunstmittel in der Zeit festgehalten.40 Während die Form in der Natur jeden Augenblick dem Untergang geweiht ist, weil sie an keine über ihren Tod hinaus gehende Struktur bewusst anknüpfen kann,41 scheint das in ästhetische Strukturen eingebundene apollinisch-griechische Individuum von Dauer zu sein, weil es in einen größeren kulturellen Zusammenhang eingebunden ist. Die dorischen Griechen verstehen die Gegenwart, ihren Staat und ihre Kunst, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie formuliert, „sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos“ (GT 1872: 147). In diesem Streben nach einem Anhalten der Zeit, nach Bestanderhaltung der im zeitlichen Fluss befindlichen Formen liegt das zentrale Anliegen der apollinischen Kunst in Opposition zur dionysischen Macht: Apollo der ewige Gott des Weltbestandes./ Dionysus der der Veränderung und Verwandlung. (N 1870/71: 8[46] VII 240)42
Der Preis für diese erste Eroberung menschlichen Territoriums in einer unabgegrenzten Zeit ist hoch: Die apollinische Eigenschaft des Dauernden und Dauer Stiftenden vergleicht Nietzsche mit dem versteinernden Blick der Gorgo: Apollo richte „sein Medusenhaupt“ den dionysischen Kultfeiern entgegen, wodurch die Griechen „eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt“ gewesen seien, „verewigt“ in der dorischen Kunst.43 Gleich dem Blick der Medusa friert die dorische Ästhetik alles Bewegliche und Wandelbare ein, indem sie absoluten Gehorsam _____________ 40 Im apollinischen Kunstwerk steht durch sein wichtigstes Instrument, durch den Rhythmus, die Zeit still. Die Musarion-Ausgabe, MUS II 277, druckt ein Augustinus-Zitat ab, das Nietzsche seinen Vorlesungen zur griechischen Rhythmik als Motto vorangestellt haben soll: „in vestigiis NUMERORUM ad moras temporum pertinentium morati sumus“. Übersetzen lässt sich das als: „Wir verweilten in den Spuren des sich in den Pausen der Zeit erstreckenden Rhythmus“. Der Rhythmus in antiker Hinsicht würde sich – zumindest was den apollinischen Rhythmus in der Geburt der Tragödie betrifft – auf die Pausen, auf den Stillstand der Zeit beziehen. 41 Vgl. Kap. 1.2.2. 42 Bereits 1869 notiert sich Nietzsche: „Wesen des Dionys in der Veränderung und Umsetzung (Apollo alles Geregelte und bleibende)“ (BAW 1869: V 339). 43 „Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte [...]. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat“ (GT 1872: 32).
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gegenüber ihren schematischen Kunstgesetzen einfordert und keinerlei Abweichung erlaubt. Der Blick Apollos auf die dionysische Lebenslust wirkt versteinernd, er hält die Zeit fest und verewigt den von ihm geschauten Moment. Vergleichbar mit dieser ästhetischen Wirkung dorischer Kunst ist für Nietzsche – wie später auch für Worringer – die Kunst Ägyptens. In seiner nachgelassenen Schrift Das griechische Musikdrama von 1870 vergleicht er die erste künstlerische Reaktion der Griechen auf die dionysischen Orgien und Tänze mit „steifen ägyptisirenden Götterbilder[n]“ (N 1870: GMD 584). An anderer Stelle erscheint das Ägyptische als Sinnbild der Versteinerung einer Kultur: Es giebt auch Beispiele, daß mächtige Religionen auf lange Perioden hinaus einen bestimmten Kulturgrad gewissermaßen versteinern; man denke an die mumienhafte jahrtausendalte Kultur Aegyptens. (N 1871: 10[1] VII 340)
In seinen Notizen bezeichnet er schließlich „[d]ie Aegypter als eigentliches Bauvolk“ (N 1871/72: 16[12] VII 397), sie setzen ihre versteinerten räumlichen und geometrischen Figuren in und gegen die Zeit. Die mit der Erwähnung der ägyptischen Kultur verbundene Vorstellung entspricht daher einem Versuch der Entzeitlichung, des Festhaltens und Absolutsetzens des Momentes, eines Mumifizierens des Zeitlichen zum Zwecke seiner Verewigung und Enthistorisierung. Die apollinischen Mittel der plastischen Formung, der architektonischen Verräumlichung von Gesetzmäßigkeiten zeitlicher Abläufe, der rhythmischen Konturierung klar abgegrenzter Abschnitte und ihre Wiederholung im Fluss der Musik – all diese Mittel tragen zum eigentlichen Ziel der apollinischen Kunst bei, einer erträumten idealen Welt der klaren Linien und Formen, des Maßes und Gesetzes dauerhafte Realität, „Ewigkeit“ zu verschaffen.44 Nietzsches Geburt der Tragödie beschränkt sich hier nicht auf die Analyse der antiken Ästhetik, sondern konturiert ein anthropologisches Kulturmodell, in dem das Apollinische eine fundierende Signifikanz erhält.45 Denn von der dorischen Ästhetik der Verewigung des _____________ 44 Nietzsche nennt die apollinische, plastische Kunst „Versteinerungen des Moments“ (N 1870/71: 5[90] VII 117). In ihr wird die menschliche individuelle Form festgehalten und der Vergänglichkeit entzogen: „[D]ie Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen“ (GT 1872: 108). 45 Hartmut Böhme, ‚Auch die Gottlosen brauchen Räume, in denen sie ihre Gedanken denken können‘. Nietzsches Phantasien über Architektur im postreligiösen Zeitalter, in: Der Architekt 3 (2001), 16–23, hier 20, liest Nietzsches „Phantasien über Architektur“ ebenfalls als „Architektur mit Medusenblick“, die in ihrem Anspruch „ägyptisch“ wirke. Allerdings sieht er darin allein einen Selbstermächtigungsanspruch, ein überhebliches Streben nach „Herr-Werden über die Zeit“. Ich lese dieses Streben nach Dauer und Entzeitlichung eher als die zum menschlichen Überleben notwendige Geheimhaltung des dionysischen Grundes, dessen beständig mahnendes memento mori Nietzsche keineswegs in überheblicher „Selbstvergottung“ (Böhme, Nietzsches Phantasien über Architektur, 20) aus
Apollo als Gott der Rhythmen
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Momentes durch sein Einbetten in den Schein bleibender Gesetze leitet Nietzsche in seiner Tragödienschrift den Wert alles Menschlichen ab. Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit [...]. (GT 1872: 148)
Die Aufgabe, bleibende Strukturen in der Zeit zu schaffen, „Stempel des Ewigen“ in die reine dionysische Zeitlichkeit zu drücken, ist grundlegend für Nietzsches Deutung des Apollinischen. Vor dem Hintergrund dieser Aussage erscheint seine Schilderung der in Gesetz und Regelmaß erstarrenden Kunst der Dorer nicht nur als Übergangsstadium auf dem Weg zu einer dionysisch-revolutionären und lebendigeren Kunst, sondern versinnbildlicht vielmehr eine grundsätzliche Anforderung jeder kulturellen ästhetischen Entwicklung, die in ihren Anfängen nach Ewigkeit strebt und den Tod verleugnet. Bekanntermaßen lässt sich der Tod jedoch nicht lange verleugnen, daher versteht Nietzsche diese ästhetische wie anthropologische Voraussetzung des Apollinischen als eine – immerhin lebensnotwendige – Illusion. Der dorische Rhythmus, den er an den Anfang der hellenischen Ästhetik stellt, ist seinem apollinischen Ideal nach ewig, doch dieser Anspruch ist als alleinige Wirklichkeit, wie die Tragödienschrift demonstriert, nicht aufrecht zu erhalten. Einerseits nämlich betont Nietzsche zeitliche Dauer als Kultur stiftendes Moment, andererseits aber bedeutet sie in extremer Form die Abtötung allen Lebens. Bei der „apollinischen Tendenz“ der frühen hellenischen Dichtungen drohe die Gefahr, dass „die Form [...] zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre“ und „unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See’s ersterbe“ (GT 1872: 70). Einer einseitig apollinischen Kunstausrichtung, wenn sie uneingeschränkte Geltungsmacht gewinnt wie in der dorischen Kunst, droht der Tod bzw. das ‚Ersterben‘. Doch es ist nicht allein das innere Absterben des Lebens, mit dem Nietzsche die Überlebensunfähigkeit des genuin apollinischen Kunstreichs begründet, sondern vielmehr damit, dass es in dieser eisigen Gestalt dem Dionysischen gegenüber nicht bestehen kann. Denn eine absolute Ausklammerung der Zeitlichkeit aus der Kunst führt nicht zu einem tatsächlichen Stillstand der Zeit, sondern vielmehr zu einer immer intensiveren Spannung zwischen Zeitlosem und Zeitlichem, an der zuletzt das scheinbar Zeitlose zerbrechen muss. Diese nicht zu leugnende Evidenz mag man auch im Mythos der Medusa erkennen: Zwar liegt in ihrem versteinernden Blick ein Moment der Entzeitlichung, doch die Gorgo selbst wird als einzige der drei Gorgonen zu den Sterblichen gezählt. Nietzsche behält das dunkle Geheimnis der tatsächli_____________ den Augen verliert, sondern vielmehr in das apollinisch-dionysische Kunstwerk ohne den drohenden Verlust der apollinischen Strukturen zu integrieren sucht.
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chen Fragilität jener bis hier zunächst isoliert betrachteten anthropologischapollinischen, auf Dauer angelegten Konstruktionen immer im Blick. Dass es ihm nicht darum geht, sich in einem dionysisch verstandenen Impuls von solchen Konstruktionen zu befreien, sondern sie vielmehr für die Zeitlichkeit tauglich zu machen, weil sie sonst selbst ausgelöscht zu werden drohen, soll nun am Beispiel des Titanen Prometheus demonstriert werden.
1.2. Die Entfesselung des Prometheus
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig 1872 (Titelvignette). Klassik Stiftung Weimar.
Nietzsche lenkt bereits mit dem Titelbild der Erstausgabe von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik den Blick auf den Bruch mit Tradition und Gesetz apollinischer Prägung durch dionysische Einflüsse. In seinem ersten Vorwort an Richard Wagner von 1871 weist er darauf hin, dass gerade das Titelbild des entfesselten Prometheus auf den Ernst und die Eindringlichkeit dessen hinweise, was er in seinem Buch zu sagen habe.1 Der Titan Prometheus wird im _____________ 1
„[Ich] vergegenwärtige [...] mir den Augenblick, in dem Sie [...] den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat [...]“ (GT 1872: 23). Reinhard Brandt, Die Titelvignette von Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: ders., Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte. Köln 2000, 377–394, hier 378f., hat in seinem
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Augenblick der Befreiung von seinen Ketten gezeigt, die ihm vom olympischen Herrscher einst für seine Hybris angelegt wurden. Die mythologische Vorgeschichte dieser im Titelbild dargestellten Situation gibt Anhaltspunkte, wie Nietzsche diese Entfesselung deutet und als Motiv seiner tragischen Ästhetik voranstellt: Die Befreiung des Titanen zieht nicht die Destruktion der apollinischen Kunstwelt nach sich, sondern rettet sie vielmehr vor dem sicheren Untergang, indem sie sich dem Dionysisch-Zeitlichen annähert. Um dies zu veranschaulichen, wird der Mythos des Prometheus im Folgenden als Erzählung von den apollinischen Entstehungsbedingungen der Kunst gelesen. Nietzsche, so sei noch angemerkt, unterscheidet in der Geburt der Tragödie künstlerische Entwicklungsstufen, in denen sich das Dionysische und Apollinische jeweils vorherrschend abwechseln, bis sie schließlich im gemeinsamen Kunstwerk der Tragödie zusammenfinden. Als erste Stufe nennt er das Zeitalter der Titanenkämpfe (GT 1872: 41), aus der die apollinische Kunstwelt Homers entsteht, die er an anderer Stelle auch mit der Geburt des Olymps gleichsetzt.2 Im ersten Teil der Prometheus-Trilogie des Aischylos, Der gefesselte Prometheus (ΠΡΟΜΗΘΕΥΣ ΔΕΣΜΩΤΗΣ)3, würde diese frühe Auseinandersetzung der beiden Mächte des Apollinischen und Dionysischen den Kämpfen des Zeus mit den Titanen um die Herrschaft im Götterhimmel entsprechen, die Zeus letztlich gewinnt: er verbannt seinen Vater Chronos zusammen mit den anderen Titanen in die Unterwelt. Aus diesem Weltenwandel entsteht die apollinische Kunst und damit in Nietzsches Augen die griechische Kunst schlechthin.4 Das Motiv der Verbannung der Zeit durch das Apollinische, das im letzten Kapitel behandelt wurde, wird in Zeus’ olympisch-apollinischen Sieg über Chronos anschaulich. In der letzten seiner unveröffentlichten fünf Vorreden von 1872, Homer’s Wettkampf, schildert Nietzsche das Titanenzeitalter als „vorhomerische Welt“ von „Nacht und Grauen“, andererseits als den „Geburtsschooß alles Hellenischen“ (N 1872: HW 784f.). Der Sieg des Zeus über die Titanen ist gleichzeitig die Geburtsstunde der Kunst, die sich als Gegenmacht behauptet hat und nur aus dieser Opposition _____________
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Kapitel zu der Titelvignette von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nachvollzogen, wie genau Nietzsche das Bild plante und seine Entstehung kritisch mitverfolgte. Z.B. spricht er von „der im Homerischen Epos geschauten olympischen Götterwelt“ (N 1870: GMD 584). Nietzsche behandelte das Stück im Sommersemester 1869 und 1871 in Vorlesungen am Basler Pädagogium (vgl. Reibnitz, Kommentar, 238). Die deutschen Zitate folgen, wo nicht anders angegeben, der Übersetzung in Aischylos, Der gefesselte Prometheus, in: Werke in einem Band, hrsg. und aus dem Griechischen übertragen von Dietrich Ebener, Berlin/Weimar 1987. Die hellenische Kunst beginnt mit Apollo, nicht den dionysischen Titanen: „[U]rsprünglich ist nur Apollo ein hellenischer Kunstgott und seine Macht war es, die den aus Asien heranstürmenden Dionysos so weit mäßigte, daß der schönste Bruderbund entstehen konnte“ (N 1870: DW 556).
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zu ihrem titanischen Ursprung heraus zu begründen ist. Diese erste archaische apollinische Herrschaft basiert auf der völligen Ausklammerung des Dionysischen, es wird in Gestalt der Titanen in die Unterwelt verbannt, an einem Ort festgehalten und eingeschlossen. Prometheus erzählt dem Chor im Drama des Aischylos: Dank meinem Rate schließt der düstre, tiefe Schlund/ des Tartaros den hochbetagten Kronos ein/ samt seinen Kampfgenossen. (Prom. 219ff.)
Im Kampf gegen Chronos hatte sich Prometheus mit Zeus zunächst verbündet und nur durch seine Hilfe war dem Donnergott der Sieg gelungen („dank meinem Rate“). Die neue, mit Hilfe des Prometheus errichtete olympische Herrschaft gleicht einer unerbittlichen Bändigung der Natur5 durch eine von Zeus gestiftete Ordnung, wie es bei Aischylos heißt.6 Chronos, der Gott der Zeit, wird bewegungsunfähig gemacht, indem ihn Zeus in einen umgrenzten Raum – die Unterwelt – verbannt („schließt [...] ein“). Die Grenzen der apollinischen Welt, die oben in der Metaphorik von Dämmen und Burgmauern gefasst wurden, sind durch das Einschließen von Chronos gefestigt, bleibende Konturen heben sich hervor und das Individuum kann entstehen. Der Mythos von der auf das Titanenzeitalter folgenden olympischen Herrschaft des Zeus spiegelt die im vorigen Kapitel beschriebene apollinisch-dorische Befindlichkeit: durch die Kreation einer ästhetischen, durch Gesetze des Raumes strukturierten Gegenwelt des olympischen Scheins wird die undurchschaubare Wirklichkeit der dionysischen Natur und damit der Zeit außen vor gehalten. Dieses Reich Apollos wird in Nietzsches Kulturentwicklungsmodell der Geburt der Tragödie jedoch durch den „einbrechenden Strom[ ] des Dionysischen“ gefährdet (GT 1872: 41), dessen Wiedererstarken er mit der Prometheus-Figur und ihrer Entzweiung mit Zeus in Verbindung bringt. Prometheus wagt es, die von Zeus gesetzten Grenzen zwischen der Welt des Olymp und der Welt der Menschen zu untergraben, indem er den Menschen das göttliche Feuer zugänglich macht.7 Als nunmehr dionysischer, als titanischer Künstler durchbricht er _____________ 5
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So der Chor bei Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 430ff. (im Haupttext = Prom.) über die Folgen der neuen Gesetze des Zeus: „Es jammern die Wogen des Meeres laut/ im Steigen und Sinken, es stöhnt die Tiefe,/ die dunklen Klüfte des Hades unter der Erde/ dröhnen dumpf, und die Wasser der heiligen Ströme/ klagen über die trostlose Qual.“ Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 403ff. (Chor): „Denn schrecklich führt Zeus die Herrschaft hier/ nach Gesetzen, die selber er schuf“; vgl. „Neu am Ruder/ sind die Machthaber im Olymp,/ neu auch die Gesetze, nach denen Zeus [...] herrscht;/ was einstmals gewaltig war, wirft er jetzt nieder“ (ebd., 150f.). „[D]er Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden hat“ (GT 1872: 70). Die Grenzen zwischen diesen Welten sucht Prometheus, so
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mit diesem Akt das apollinisch-homerische vorgegebene Maß.8 Aber ist dieser prometheische Vorstoß mit dem vergangenen titanisch-dionysischen Zeitalter gleichzusetzen, dem Prometheus einst gemeinsam mit Zeus ein Ende bereitete? Ist das wieder erstarkte Dionysische in Nietzsches Kulturzeitrechnung mit seinem ursprünglichen, mit Prometheus’ Hilfe selbst gebannten Schrecken identisch?9 Prometheus, so betont Nietzsche in der Geburt der Tragödie, ist ein „Einzelne[r]“ (GT 1872: 68), ein „titanisch strebende[s] Individuum“ (GT 1872: 70), d.h. trotz seines Gesetzesübertritts, trotz seines ‚titanischen‘ Strebens bleibt er eine Einzelgestalt und daher eine apollinisch bedingte Figur. Auch seine Attribute ‚Lichtbringer‘ und ‚Wahrsager‘, seine Bezeichnung als Erfinder der Zahl und des Joches zur Zähmung wilder Tiere, die ihm im Drama des Aischylos zugeschrieben werden,10 weisen auf den apollinischen Charakter der Figur in Nietzsches Sinne hin. Nicht zuletzt erscheint Prometheus in Nietzsches Notizbuch mythologisch als Mitbegründer der apollinischen Individuation, denn er war an der Zerreißung des Dionysos-Zagreus beteiligt.11 Und wenn Nietzsche das künstlerische Schaffen des Prometheus als „lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt“, bezeichnet und auf seine „Heiterkeit“ hinweist (GT 1872: 68), dann gleicht der titanische Gott eher einem Licht spendenden Apollo als einem Dionysos. Wie Nietzsche am Ende seiner Auslegung des aischyleischen Prometheus zusammenfasst, trägt dieser Titan _____________ Nietzsches Interpretation, durch die Übermittlung des Feuers von einer zur anderen aufzulösen. 8 Vgl. „Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht – nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene Nothwendigkeit des Frevels – der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert“ (GT 1872: 70). 9 Hans Blumenberg, Der Titan in seinem Jahrhundert: Wieder am Felsen der stummen Einsamkeit, in: ders., Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996, 644–674, hier 659, verneint diese Frage, indem er in Bezug auf das Titanische im Verhältnis zum Olympischen schreibt: „Alles beherrscht auch hier die Vorstellung, daß im Mythos das Alte zwar gestürzt sei, aber überlebt werde von dem ungeheuren Mißtrauen gegen die titanischen Mächte der Natur. Obwohl Prometheus selbst Titan ist, wird er nicht zur Benennung dieses Mißtrauens herangezogen“, er unterscheidet sich insofern deutlich von der Naturmacht der Titanen. 10 Prometheus berichtet von seinen Taten für die Menschen: „Ja, auch die Zahl, des Geistes höchstes Werkzeug, sann/ ich für sie aus, dazu die Schrift, die alles im/ Gedächtnis wahrt, die Schöpferin der Musenkunst./ Als erster spannte wilde Tiere ich ins Joch,/ sie sollten dienen im Geschirr wie unterm Sattel,/ damit den Menschen sie die schwerste Last abnähmen“ (Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 459ff.). 11 „Prometheus – einer der Titanen, der den Dionysos zerrissen hat, darum ewig leidend, wie seine Geschöpfe [...]“ (N 1870/71: 7[83] VII 157).
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als „Doppelwesen“ nicht nur einseitig dionysische Züge: Trotz seines titanischen Dranges nach der Unterhöhlung olympischer Gesetze behauptet Nietzsche „seine väterliche Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen“ unter seiner „dionysische[n] Maske“ (GT 1872: 71). Prometheus schaut in seinem dionysischen Streben insofern nicht zurück in die vor-apollinische Welt, sondern er sieht in die Zukunft, und zwar in die Zukunft der Menschen, denen er helfen will.12 Sein revolutionärer Akt der Übergabe des Feuers an den Menschen, das Nietzsche als Schutzmacht, als „Palladium jeder aufsteigenden Cultur“ bezeichnet (GT 1872: 69), zielt nicht auf den Sturz der apollinischen Götterwelt, sondern vielmehr auf die Annäherung der Menschenwelt an die apollinische Sphäre des Olymp. Der Mensch, in’s Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden [...]. (GT 1872: 67)
Das Dionysische an diesem Streben liegt in der Tatsache, dass durch die partielle Annäherung der Sterblichen an die unsterblichen Götter dem apollinischen Olymp, aus dem durch Zeus die Zeit (Chronos) zugunsten ewiger Gesetze verbannt wurde, die Zeitlichkeit wiederum nahe rückt. Prometheus’ Tat sucht die (titanische) Zeit erneut in die apollinische Ordnung zu integrieren, er sucht Sterbliches und Unsterbliches, Vergängliches und Ewiges einander anzunähern. Für die olympischen Götter stellen die Menschen in dieser Hinsicht als Sterbliche und „Eintagsgeschlecht“13 ein dionysisches Element, den Einbruch des Zeitlichen dar, durch das sie sich in Frage gestellt und bedroht fühlen und ihnen ihr apollinisches Medusenhaupt entgegenhalten, wie an der Behandlung des Prometheus deutlich wird. Der Halbgott Prometheus in seinem Kampf gegen die Satzungen des Zeus steht insofern weniger für ein Streben nach der Rückkehr ins unkünstlerische naturhaft Dionysische, sondern er sucht vielmehr nach einer Einbeziehung der Zeitlichkeit in die apollinische Welt durch die Vereinigung von _____________ 12 Vgl. Reibnitz, Kommentar, 245: „Prometheus ist vor allem der Kulturbringer – und ‚Menschenschöpfer‘ nur insofern, als durch die Kultur die Menschen erst zu ‚Menschen‘ werden.“ Die kulturstiftende Tat des Prometheus liegt, wie Robert Bees, Das Feuer des Prometheus. Mythos des Fortschritts und des Verfalls, in: Prometheus: Mythos der Kultur, hrsg. von Edgar Pankow und Günter Peters, München 1999, 43–61, hier 52, in seiner Analyse des antiken Prometheus-Mythos festhält, in der über den eigenen Tod hinausweisenden Perspektive, die der Titan den Menschen ermöglicht: „Das Feuer führt die Menschen zu einem besseren Dasein [...]. Und die Hoffnung! Sie wird den Menschen noch vor dem Feuer geschenkt, um mit Prometheus zu sprechen: ‚blinde Hoffnung pflanzt ich ihnen ein‘ (V. 250). Vorher sahen die Menschen ihren Tod voraus und waren gelähmt, jetzt haben sie Hoffnung für die Zukunft und gestalten ihre Leben.“ 13 Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 82f. (Kratos zu Prometheus): „Hier sei jetzt überheblich, raube Göttergaben und schanze sie den Eintagswesen zu!“ Nietzsche nimmt diesen Gedanken in der Sage von Silen wieder auf, der die Menschen ein „[e]lendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal“ nennt (GT 1872: 35).
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Gott und Mensch. In diesem apollinisch-dionysischen, unsterblich-sterblichen Zusammenspiel verändern sich beide Partner: der Mensch wird göttlicher und der Gott menschlicher, wie es im „Doppelwesen“ Prometheus als Leidender und Mitleidender symbolisiert wird. Sein revolutionärer Feuerdiebstahl bedeutet kein Versinken in dionysischem Schrecken und Grauen, sondern einen ersten Versuch der tragischen Einheit von Apollinischem und Dionysischem durch die Einbeziehung der Sterblichen und ihrer zeitlichen Lebenswelt in das apollinische Kunstreich, den Olymp. Dafür wird er, wie in der aischyleischen Tragödie geschildert, von Zeus grausam bestraft. Auf die dionysischen Anwandlungen des Prometheus reagiert Zeus mit starrem Festhalten an der Unbedingtheit des von ihm gesetzten Rechts: dem Prometheus wird – ebenso wie zuvor den in die Unterwelt verbannten Titanen – jegliche Bewegung unmöglich gemacht, er wird festgekettet. Der apollinische Olymp gewinnt erneut Oberhand und erhebt sich, wie Nietzsche in seinem kulturellen Entwicklungsmodell der Tragödie schildert, „zur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung“ (GT 1872: 41). Gegenüber dem Streben des Prometheus nach Integration des Dionysischen in die apollinische Welt reagiert die apollinische Götterwelt mit starrer ‚dorischer‘ Strenge und setzt ihre härtesten Mittel ein, um dessen Tun Einhalt zu gebieten. Im Gefesselten Prometheus beschreibt Aischylos die Bändigung des Titanen metaphorisch mit dem Verb rhythmízein: Mitleid hegte ich den Menschen, doch ward ich selber/ Des nicht gewürdigt, sondern unbarmherzig hier/ In diesen Rhythmus festgebannt (ὦδ ἐρρύθμισμαι). (Prom. 239ff.14)
Als Strafe für den Versuch seiner Annäherung des ewigen Göttlichen an die zeitgebundenen Sterblichen fesseln die starren Ketten des Zeus Prometheus in Bewegungslosigkeit. Der ‚festbannende‘ Rhythmus des Zeus gleicht dem architektonischen, keine Abweichung erlaubenden starren Kunst- und Staatswesen der Dorer („Hartherzig und aus Stein geschaffen“15), das, wie Nietzsche betont, _____________ 14 Zitiert aus Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958, 81. Georgiades folgt mit dem deutschen Text einer Übersetzung von Werner Jäger, Paideia, Berlin/Leipzig 1936, I, 173f. (vgl. Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 239ff.) Jäger liest den Rhythmus-Begriff entsprechend seiner ersten Erwähnung bei Archilochos als dasjenige, was den Menschen „in seinen Banden hält“: „Daß der Rhythmus die Menschen ‚hält‘ – ich habe geradezu übersetzt ‚in Banden hält‘ -, schließt jeden Gedanken an einen Fluß der Dinge aus. Wir denken an den Prometheus des Aischylos, der in dem Eisengeflecht seiner Fesseln regungslos festgehalten ist und von sich sagt: Ich bin hier in diesen ‚Rhythmus‘ gebannt [...]“ (in: Georgiades, Musik und Rhythmus, 65). 15 So der Chor über die Feinde des Prometheus (Aischylos, Der gefesselte Prometheus, 242).
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gerade infolge seiner Infragestellung durch dionysische Strömungen nur um so lebenstötender waltet: [G]ewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm [des Dionysischen, FFG] ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. (GT 1872: 41)
In „unlöslichen Banden, Ketten, hart, aus Stahl“ wird Prometheus angeschmiedet (Prom. 5f.). Der Rhythmus des apollinischen Abwehrmanövers gegenüber einer Verbindung mit dem Dionysischen ist ebenso starr wie die dorische Rhythmik als „Architektonik in Tönen“, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie beschreibt (s. Kap. 1.1.2). Aber ebenso wenig wie Prometheus’ Titanismus den ursprünglichen unkünstlerischen Titanen gleicht, ist die Reaktion des Zeus mit dem einst gemeinsamen Kampf gegen die Titanen in Gestalt des ursprünglichen archaischen Apollinismus zu vergleichen. Was angesichts des titanischen Chaos als einzige Lösung erschien, die Absonderung eines genuin eigenen, vom dionysischen Untergrund abgegrenzten olympischen Reiches, wird nun zu einer überholten, weil nicht an die neuen Umstände anpassungsfähigen Ordnung. Zeus ist sich seiner Herrschaft nicht mehr sicher, Nietzsche diagnostiziert eine „göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung“ (GT 1872: 68). In der Tragödie des Aischylos spricht Prometheus aus, dass Zeus, wenn er sich nicht auf seine Veränderungsbestrebungen einlässt, letztlich an der eigenen Starrheit zugrunde gehen wird: Hart ist Zeus, ich weiß, und setzt das Recht/ nach seinem Belieben; trotzdem/ wird er einmal sich nachgiebig zeigen, dann,/ wenn er an seiner Härte zu scheitern droht./ Dämpfen wird er den jetzt noch unbändigen Groll/ und wird einen Freundschaftsbund schließen mit mir [...] (Prom. 186ff., Hervorhebung FFG)
Zeus, so sieht es der – ebenso wie Apollon – prophetisch begabte Prometheus voraus, wird an seiner Härte und an seiner Unfähigkeit, sich dem historisch notwendigen Wandel der apollinischen Welt anzupassen, scheitern. Ihm droht der Untergang, eine „Götterdämmerung“, wenn er sich nicht auf die prometheischen Integrationsversuche in Bezug auf das Dionysische einlässt. Auf diese Gefahr weist Nietzsche explizit hin: Der trotzige Titan Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. (GT 1872: 73)
In der Tragödie des Aischylos wird der angekettete Prometheus gefragt, ob Zeus irgendein Mittel haben wird, seinen solcherart prophezeiten Untergang abzuwenden? Prometheus antwortet: Kein Mittel – ausgenommen, meine Fesseln fallen. (Prom. 770)
Das Lösen der ‚rhythmischen‘ Fesseln, in die Prometheus gelegt worden ist, bedeutet nach dieser Aussage nicht den Untergang der apollinischen Herrschaft
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des Zeus, sondern vielmehr ihren Erhalt, an dem Prometheus durchaus gelegen ist. Der Untergang der olympischen apollinischen Herrschaft des Zeus wird durch die Befreiung des Prometheus insofern verhindert, und Nietzsche wählt als Titelvignette seines Buches eine Darstellung, die eben den Augenblick der Befreiung des Halbgottes zeigt. Weder die entfesselte Herrschaft der Zeit im titanischen Zeitalter noch die dorische Architektonik mit ihren Anspruch der Zeitlosigkeit stellt Nietzsche emblematisch voran, sondern das Nachgeben der göttlichen Herrschaft, des olympischen Kunstreichs, zum Zweck seines Fortbestehens. In der kulturellen Zeitrechnung Nietzsches folgt auf die dorische Vorherrschaft bekanntlich nicht wiederum eine dionysische Übermacht, sondern vielmehr ein Miteinander beider Kräfte: die Hochzeit des Dionysischen und Apollinischen in der gemeinsamen Kunstform der Tragödie.16 Zeus muss sich letztlich auf das prometheische Doppelwesen einlassen, um zu überleben. In den Fragmenten der Prometheus-Trilogie des Aischylos ist eine Stelle aus der Befreiungsszene des Prometheus überliefert, die Nietzsche bekannt war.17 Bevor Herakles endlich Prometheus von seinen Qualen erlöst, ruft er Apollon an, damit der Gott seinen Pfeil beim Schuss auf den Adler, der Prometheus quält, lenke. „Mit den Worten ’Αγρεὺσ δ’Απόλλων ὀρθὸν ἰθύμοι βέλοσ legt Herakles den Pfeil auf den Adler an [...].“18 Die Erlösung des Halbgottes aus der Bewegungsunfähigkeit durch die „heraklesmässige Kraft der Musik“ (GT 1872: 73) geschieht insofern unter Anrufung und mit Billigung Apollos. Es handelt sich demnach nicht um einen Umsturz, sondern um eine apollinisch-rhythmisch kontrollierte Befreiung des Dionysischen, die als Titelbild für die Erstausgabe der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik gezeigt wird, auf dem der Pfeil deutlich sichtbar im Körper des erlegten Tieres steckt.19 Der Befreiung des Prometheus geht in _____________ 16 „[H]ier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündnis, nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde [...] verherrlicht hat“ (GT 1872: 42). 17 Die Textstelle ist in Rudolf Westphal, Prolegomena zu Aeschylus Tragödien, Leipzig 18692, 212, zu finden. Laut der Aufstellung von Max Oehler, Nietzsches Bibliothek. Vierzehnte Jahresgabe der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942, 16, befand sich dieses Buch in Nietzsches Bibliothek. 18 Westphal, Prolegomena, 212. Vgl. die neuere Übersetzung des Anrufs von Herakles an Apollon („Apollon, Jäger, gönne diesen Fang“) von Ernst Buschor (Hg.), Griechische Tragödien, Band II: Aischylos, Zürich/München 1979, 139. 19 Nietzsche ließ den getöteten Vogel in der Vignette als Geier malen. Die mythologische Variante, dass Prometheus von einem Geier und nicht von einem Adler gequält wird, ist eher entlegen (vgl. Brandt, Titelvignette, 380f.). Die Bedeutung des Geiers in Nietzsches Titelvignette hat in der Forschung unterschiedliche Deutungen erfahren. So wurde z.B. versucht, durch den Verweis auf den Geier im Wappen Wagners die Titelvignette als einen versteckten Befreiungsversuch Nietzsches vom ‚Übervater‘ Wagner auszulegen – vgl.
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den überlieferten Fragmenten der Trilogie des Aischylos die Befreiung der mittlerweile zum Tragödienchor gebändigten Titanen, unter ihnen auch Chronos, voraus, wie Walter Nestle kommentiert.20 Die Wiederkehr der Titanen in gebändigter Gestalt und die Befreiung des titanischen Prometheus unter dem wachsamen Auge Apollos weisen darauf hin, dass Nietzsches Titelbild die Verbindung von Dionysischem und Apollinischem und nicht etwa die Überwindung des apollinischen Olymp thematisiert. Die Entfesselung des Prometheus verursacht keineswegs den ungezügelten Ausbruch der Naturkräfte und den Untergang des apollinischen Reiches, sondern vielmehr seine Öffnung und Verwandlung unter Beibehaltung der wenn auch gewandelten apollinischen Grenzziehungen, wie sie sich auch in der charakteristischen Kunstgestalt des „Gottes der Rhythmen“ (FW 1882: [84] 442) äußern. 1.2.1. alogía und freier Faltenwurf Das mythische Beispiel des Prometheus – seine unablässige Auseinandersetzung mit Chronos auf der einen und Zeus auf der anderen Seite – illustriert ein ästhetisches Grundgesetz, das Nietzsche gleich im Eingangssatz der Tragödienschrift formuliert. Die „Fortentwickelung der Kunst“ sei „an die „Duplicität des Apollinischen und Dionysischen“ gebunden, die sich in einem „fortwährende[n] Kampfe“ _____________ die Diskussion in Christoph Landerer/Marc-Oliver Schuster, „Begehrlich schrie der Geyer in das Thal“. Zu einem Motiv früher Wagner-Entfremdung in Nietzsches Nachlass, Nietzsche-Studien 34 (2005), 246–255. Brandt, Titelvignette, 390, sieht diese Lesart angesichts von Nietzsches Verehrung für Wagner in den frühen siebziger Jahren und seiner emphatischen Widmung der Schrift an den Komponisten allerdings eher aus dem Wissen um Nietzsches spätere Ablehnung Wagners motiviert. Pütz, Nietzsche, 145, vermutet, dass Nietzsche das düstere Geschäft des quälenden Vogels nicht mit dem kühnen Adler, der im Zarathustra so prominent auftreten wird, in Verbindung bringen wollte. Um diesem eine neue Deutung hinzuzufügen: im hier geschilderten Zusammenhang bekommt der Geier in seiner Bedeutung als Todesvogel neue Relevanz. Sieht man die Befreiung des Prometheus als eine notgedrungene Annäherung der unsterblichen Götter an die Sterblichen, d.h. als einen Einbruch des Todes in den zeitenthobenen Olymp an, dann weist das Erlegen des Todesvogels unter der Leitung Apollos auf dessen Rolle im apollinisch-dionysischen Kunstwerk hin. Bringt das dionysische Leben Vernichtung und Sterblichkeit mit sich, wie der dionysische Waldgott Silen verkündet, so hält das Apollinische diese Vernichtung immer wieder durch künstlerische Projektionen auf und besiegt dadurch den Tod. Da Apollo sich aber im tragischen Kunstwerk mit Dionysos verbündet hat, kann dieser Sieg jedoch immer nur ein Sieg auf Zeit sein, wie im folgenden Abschnitt u. a. am Beispiel des griechischen Wettkampfes gezeigt wird. 20 Vgl. Walter Nestle in: Aischylos, Die Tragödien und Fragmente, übertragen von Gustav Droysen, durchgesehen und eingeleitet von Walter Nestle, Stuttgart 1987, 396: „Sie sind aus dem Tartaros befreit, haben sich also der Herrschaft des Zeus gebeugt, und natürlich ist auch Kronos erlöst“.
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befinden (GT 1872: 25). Bereits hier erteilt er jedem zeitlosen Kunstbegriff eine Absage: Die lebendige und im ständigen Wandel befindliche Auseinandersetzung der Gegensätze gilt ihm als genuin ästhetisch, die Kunst ist damit an die Zeit gebunden. Doch im selben Atemzug gibt er diesem Kampf eine rhythmische Struktur: er sei von „periodisch eintretender Versöhnung“ durchkreuzt (ebd.). Anstatt als quasi ‚dionysische‘ Zeit zu einer Vernichtung aller Erscheinungen und Formen zu führen, gestaltet die Kunst die einbrechende Zeit selbst, indem sie der Auseinandersetzung mit ihr einen Rhythmus der versöhnlichen Atempausen verleiht. Nietzsche profiliert die griechische Tragödie als gemeinsame Kunstform von Apollinischem und Dionysischem, mit ihr wird eine der periodischen Versöhnungen im Kampf der beiden Triebe umgesetzt. Wenn die Tragödie also nicht den Sieg des Dionysischen, sondern eine apollinisch-dionysische Vereinigung ermöglicht, so soll im Folgenden die Frage nach ihrem apollinischen Anteil gestellt werden, der sich primär in ihrer rhythmisch-ästhetischen Gestalt zeigt: Über das Dionysische sagt Nietzsche 1870 in seiner Sophokles-Vorlesung, es sei „etwas Asiatisches u. Orientalisches das die Griechen mit ihrer ungeheuren rhythmischen u. bildnerischen Kraft, kurz mit ihrem Schönheitssinn bezwungen haben bis zur Tragödie [...] .“21 Nicht nur im dorischen, sondern auch im dionysisch-apollinischen Kunstwerk der Tragödie sieht Nietzsche folglich den Rhythmus als dasjenige ästhetische Mittel, das die Kunstwelt von der dionysischen Natur scheidet: nicht das Orientalische ist rhythmisch, sondern es wird durch einen Rhythmus „bezwungen“. In der Dionysischen Weltanschauung beschreibt Nietzsche ihn in ähnlicher Formulierung wie in seinem Vortrag als das wichtigste Instrument, mit Hilfe dessen die Griechen das Dionysische zu einem Kunstwerk formen: Der Gesang und die Mimik derartig erregter Massen, in denen die Natur Stimme und Bewegung bekam, war für die homerisch-griechische Welt etwas ganz Neues und Unerhörtes [...], das sie mit ihrer ungeheuren rhythmischen und bildnerischen Kraft erst bezwingen mußte [...]. Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug: es hat die gefährlichsten Elemente der Natur, ihre wildesten Bestien in das Joch gespannt. (N 1870: DW 558)
Die Griechen, zur Anerkennung des Dionysischen und damit zur Aufgabe ihrer genuin apollinischen Bastionen gezwungen, formen das Ungestüme, Erregte, Leidenschaftliche und Übermächtige mit Hilfe ihrer in dorischen Zeiten internalisierten rhythmischen Gestaltungsmacht zu Bildern und Formen. Als „apollinisches Volk“, wie Nietzsche hervorhebt, gelingt ihnen dieser Kraftakt. Der Rhythmus, der in der apollinischen Kultur die Grundlage der Erziehung bildete, dient nun neben anderen Mitteln der Reglementierung als Führungsinstrument _____________ 21 Vorlesungsnotiz vom Sommersemester 1870 (Einleitung in die Tragödie des Sophocles), N 1870: KGW II3 12.
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für die naturhafte Wildheit des Dionysischen. Dass der Rhythmus das Dionysische im tragischen Kunstwerk lenkt, führt Nietzsche mit dem Bild der Bestien vor Augen, die nun Teil des Kunstwerks sind, aber, wie Bertram Schmidt hervorhebt, in der tragischen Kunst keinesfalls raubend und mordend frei umherlaufen, sondern vielmehr in das Joch des göttlichen Wagens eingespannt bleiben.22 Wie Nietzsche die konkrete Gestalt dieses Joches im Zusammenspiel mit dem Dionysischen versteht, lässt sich anhand seiner Bemerkungen zu rhythmischen Erscheinungsformen in der griechischen Kunst zeigen, die meistenteils auf seinen philologischen Untersuchungen basieren. Eine dieser Formen findet man in seiner Analyse des Dithyrambus, den er später so prominent mit den DionysosDithyramben aufgreifen wird. In seinem frühen Werk zeichnet er eine Entwicklung dieser antiken Kunstform nach, die einiges Licht auf deren apollinische Grundierung wirft und an seine Genealogie der Kunst aus der Tragödienschrift gemahnt, die an diesem Beispiel noch einmal nachvollzogen werden kann. Diese Affinität lässt sich bereits daran ablesen, dass er die ästhetische Bedeutung des älteren Dithyrambus23 in der Geburt der Tragödie mit derjenigen der attischen Tragödie schlechthin gleichsetzt, d.h. mit dem Kunstideal der Versöhnung von Apollon und Dionysos.24 Zwei Jahre später führt er seinen Studenten in einer Vorlesung zur Geschichte der Griechischen Literatur dieses Zusammenspiel in Worten vor Augen, die an die Metaphorik vom Joch der dionysischen Bestie erinnert: Die kunstmässige Entfaltung des Dithyramb ist ein Versuch, diesen Dämon [i. e. Dionysos, FFG] zu bezwingen. (N 1874/75: KGW II5 81f.)
Den Dithyrambus als altgriechisches Reigenlied, in dem die Taten des Gottes Dionysos besungen wurden, versteht Nietzsche hier ebenso wenig wie die Tragödie als Ausdruck eines überwältigenden Durchbruchs und Sieges des Dionysischen, sondern vielmehr als die Form, die diesen Durchbruch mäßigend gestaltet. Nietzsche las bereits im Mai 1870 den vierten Band von Friedrich Theodor _____________ 22 Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, 49: „In der griechischen Dionysosfeier – d.h. übersetzt: in der Musik als Kunst – werden die ‚Bestien‘ gerade nicht losgelassen, sondern ziehen den Wagen des Dionysos: [...] Dieses Joch bedeutet eine Mäßigung und Bändigung.“ 23 Hier geht es nicht um den jüngeren Dithyrambus, den Nietzsche in der Tragödienschrift ausschließlich mit der von ihm angeprangerten Ästhetik des Euripides verbindet: „Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einer Schlacht, oder eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden“ (GT 1872: 112). 24 „[F]alls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: [...] bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe [...]“ (GT 1872: 42).
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Vischers Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, der die Darstellung von Bewegung und innerer Erregtheit in der griechischen Kunst in enger Verbindung mit Gesetz, Form und Maß ihrer Kunstmittel hervorhebt. Insbesondere den Dithyrambus führt er als Beispiel einer solchen Verbindung an und grenzt ihn in dieser Funktion vom barbarischen Dionysoskult ab.25 Wodurch vermag der Dithyrambus die naturhafte Gewalt des Dionysischen zu bändigen? Seine besondere Eignung erklärt sich für Nietzsche aus der Entwicklungsgeschichte dieser Kunstform, an deren Anfang er keine willkürliche, ekstatische Bewegung stehen sieht, die nach und nach an Form gewonnen hätte, sondern vielmehr eine von Beginn ihrer künstlerischen Existenz an genuin regelhafte und gesetzmäßige Gestalt. In seinen Vorlesungsnotizen heißt es entsprechend: Der klassische Dithyramb hat nichts Überschwängliches Maaß- und Regelloses, sein Rhythmus ist vorwiegend ein ruhiger [...]. (BAW 1874/75: V 348)26
Diese Auffassung einer ursprünglich maßvollen Wirkung und Gestalt des Dithyrambus findet sich bereits in den Vorfassungen der Geburt der Tragödie: Wenn man recht deutlich sehen will, wie gewaltig das apollinische Element [...] das Irrational-Übernatürliche des Dionysus niederhielt, der denke daran, dass in der älteren Musikperiode die eine Hauptgattung, die ruhige, auch den Beinamen der „dithyrambischen“ hatte, zum Beweise, dass der dionysische Dithyrambus in seinen ersten kunstmässigen Nachahmungen sich zu seinem Original, der Freudenhymne der dionysischen Masse verhielt, wie die steifen ägyptisirenden Götterbilder der älteren griechischen Kunst zu der im Homerischen Epos geschauten olympischen Götterwelt. (N 1870: GMD 584)
Die „ältere Musikperiode“ gleicht in Nietzsches kultureller Zeitrechnung aus der Geburt der Tragödie der apollinischen Vorherrschaft der Dorer, in der die künstlerischen Formen starren und unerbittlichen Gesetzen folgen (vgl. Kap. 1.1.). Obwohl der Dithyrambus im Zitat als ein „dionysisches“ Kunstmittel erscheint, dient er wie die apollinischen Kunstformen dem „Niederhalten“ des Dionysos und provoziert daher keinesfalls eine exaltierte, sondern vielmehr eine „ruhige“ Form. In seinen Anfängen wirkt er so „ägyptisch“ und „steif“ wie die dorische Kunst, er hemmt die Bewegung, die er künstlerisch wiedergeben soll. Die ersten _____________ 25 Vgl. Vischer, Aesthetik, Band VI: Die Musik, Teil 3, Abschnitt 2, § 826, 1128: Der Ehrgeiz des griechischen Gesamtkunstwerkes richtete sich darauf, „durch [...] das feste Taktmaaß [...] den Stimmungsausdruck zu idealisieren, ihm im Gegensatz zu allem Naturalismus leidenschaftlicher Erregtheit die Geschlossenheit in sich selbst [...] zu verleihen, welche der plastische Sinn des Hellenenthums von der Kunst als Pflicht forderte, weil sie auch das stärker erregte Leben in festem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Gesetzmäßigkeit darstellen sollte (wovon selbst nicht die belebtere dithyrambische Weise, sondern nur die orgiastische Musik dionysischer Culte eine Ausnahme machte).“ 26 In Bezug auf die Tragödie formuliert Nietzsche in späteren Vorlesungsnotizen: „In älteren Zeiten war [der] Dithyrambus ruhig, maßvoll, geordnet; die Strophe ist durch den Chor erfordert“ (BAW 1878/79: V 378).
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künstlerischen Versuche, das Dionysische rhythmisch-ästhetisch (in der Form des Reigens) zu verarbeiten, gleichen insofern den starren Figuren der apollinischen Architektonik, die das Lebendige und Bewegte bewusst ausklammern. Selbst der Dithyrambus, der in seiner weiteren Entwicklung als „dionysischer Dithyrambus“ für die Entfesselung der Kunstmittel steht, beruht auf dieser idealen Basis, seine Grundlage bildet ein apollinischer Rhythmus. Deutlich ist, dass Nietzsche mit seinem Blick auf die Genese des Dithyrambus die griechische dionysische Festkultur nach ihren strukturierenden Grundlagen befragt. Es mag kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet ein Architekt ähnliche Fragen wie Nietzsche zum ästhetischen Gefüge der hellenischen Feste gestellt hat und dass Nietzsche dessen Untersuchungen nachweislich gelesen hat. 1869 exzerpiert er zum ersten Mal aus Gottfried Sempers Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst.27 Nietzsches Exzerpt betrifft einen Punkt, der ihn eminent interessieren muss, denn Semper beschreibt hier den Übergang der Griechen von der Barbarei zur Kunst. Er vollzieht diesen Schritt nicht am Beispiel einer rhythmischen Form nach, sondern kennzeichnet ihn durch eine bestimmte Form der griechischen Bekleidung.28 Nietzsche exzerpiert fast wörtlich: Aeschylus erfand die Zierlichkeit und den Anstand der Toga [...]. Vorher barbarisirten die Griechen in ihrer Kleidung und kannten den freien Faltenwurf nicht [...]. Übergang zur freien Draperie war das Resultat eines plötzlichen Auffassens des Kunstschönen [...]. (N 1869: 1[17] VII 15)29
Warum hält Nietzsche gerade diesen textilen Aspekt der griechischen Kunstentwicklung fest? Was könnten Faltenwurf und Draperie an Neuem mit sich bringen, so dass mit ihnen „plötzlich“ die Kultur beginnt? Das Augenmerk soll hier _____________ 27 Gottfried Semper, Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, in: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Band I, Frankfurt a. M 1860. Zur Bedeutung dieser Schrift für Nietzsche vgl. Neumeyer, Klang der Steine, 2001. Neumeyer vermutet, dass Nietzsche Sempers Buch in Wagners Bibliothek las, denn er lieh es erst 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek aus (ebd., 35). 28 Den Zusammenhang von textiler Kunst und Kultur, insbesondere auch mit Blick auf Nietzsches Semper-Rezeption, habe ich an anderer Stelle näher ausgeführt (Friederike Felicitas Günther, Kultur als Faltenwurf. Nietzsches Blick auf die Textur von Antike und Moderne, in: Nietzsche als Philosoph der Kulturen, hrsg. von Andreas Urs Sommer, Berlin/New York 2008, 431–438). 29 Nietzsche exzerpiert hier Semper, Textile Kunst, 214: „[W]ir wissen aus dem Athenäus, dass Aeschylus die Zierlichkeit und den Anstand der Stola erfand [...]. Vorher barbarisirten die Griechen in ihren Kleidungen und kannten sie den freien Faltenwurf nicht [...]“ sowie 217: „Nur bei den Gräko-italern erhielt der Ueberwurf freieste Entfaltung [...]. Dieser Uebergang zur freien Draperie war das Resultat eines plötzlichen Auffassens und Erkennens des Kunstschönen [...].“
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zunächst nicht auf dem „Freien“ des Faltenwurfs liegen, wie in der Forschung meist unternommen,30 sondern vielmehr zunächst auf der kulturell vereinheitlichenden Wirkung eines in Falten fallenden Überwurfs. Bei Semper heißt es: „Der freie Faltenwurf, das Gewand als ein Schmuck der alle drei Schönheitsmomente, nämlich Proportion, Symmetrie und Richtung, gleichmässig hebt und wirken lässt [...]“ (Semper 1860: 214). An antiken Plastiken ist die symmetrische Anordnung nachvollziehbar, nach der man die Falten der Toga bzw. Stola zu drapieren hatte und die ihren Trägern eine gewisse Uniformität verleiht. Doch nicht nur die Draperie vermittelt diesen Eindruck einer identischen Strukturierung der Einzelgestalten, sondern auch die Wirkung der Stola auf ihren Träger, der ihren Sitz durch eine bestimmte Körperhaltung unterstreicht und wahrt. Nietzsche schreibt in seiner Notiz von „Zierlichkeit und Anstand“ der Toga und bezieht sich damit nicht nur auf das Kleidungsstück selbst, sondern auch auf das mit der Konvention übereinstimmende „anständige“ Gebaren desjenigen, der es trägt: Horaz vergleicht in einem Brief den falsch gelegten Faltenwurf mit dem Hervorblitzen von abgetragenem Unterzeug, so unanständig gelten ihm ungeordnete Falten.31 Die Erfindung der elegant gelegten Toga markiert das Ende der barbarischen Kleidung und distinguiert den Stand und die Eleganz des Trägers. Mit ihr wird die Schönheit der Bekleidung als Schmuck vor ihre Funktionalität gestellt, zugleich uniformiert sie die mit ihr Gewandeten, indem sie sie an eine gemeinsame Haltung und Gestik bindet. Durch die von Nietzsche wie Semper hervorgehobene „Plötzlichkeit“ ihres Auftretens suggerieren die Falten einen Bruch mit dem zuvor barbarisch-natürlichen Fall der Kleidung, und man kann diesen Umschwung auf die Anordnung der Kleidung, auf die Uniformität in Aussehen und Haltung ihrer Träger und damit nicht zuletzt auf eine kollektive Übereinstimmung mit einer geltenden Regel beziehen. Ein Moment normativer Strukturierung zieht mit dem Überwurf in die griechische Kultur ein. Nicht erst mit der Architektur, sondern bereits mit der textilen Kunst wird der hellenischen Kunst eine proportionierte Grundierung unterlegt.32 Wenn die plastische Wiedergabe von antiken gewandeten Figuren, die als Teil der architektonischen Bauten eingesetzt werden, vom Bildhauer ein hohes Maß an Gefühl für Proportion einfordern, so ist diese architektonische proportionierte Gestaltung für Semper _____________ 30 Vgl. Neumeyer, Klang der Steine, 52. 31 Horaz, Sämtliche Werke, 424f.: „[G]uckt unter noch wolligem Tuchstoff etwa abgetragenes Unterzeug hervor oder sitzt die Toga nicht im rechten Faltenwurf, so lachst du.“ 32 Neumeyer, Klang der Steine, 126, konzentriert sich statt dessen auf die Umwandlung des Bewegten ins Feste, auf die Transformation der Festkleidung in die „festen“ Figuren der Bauwerke, die er als wesentlichen Übergangsmoment bei Semper hervorhebt: „Das Fest wird fest, aus Festlichkeit wird Festigkeit – auf diese knappe Formel läßt sich das Gesetz des Werdens unter der Einheit von Kunst und Leben in Sempers Theorie vom Hervorgehen der Monumentalkunst aus dem Ephemeren reduzieren.“
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bereits in der textilen Kunst selbst angelegt. In seiner Schrift beschreibt er die Erfindung der Webkunst als Beginn der Kultur und vergleicht sie mit der Architektur. Wie Neumeyer hervorhebt, unterstreicht Semper diese Ähnlichkeit durch den Hinweis auf eine etymologische Verwandtschaft zwischen den beiden Begriffen „Wand“ und „Gewand“.33 Beiden Künsten liegt eine quasi geometrische Gesetzmäßigkeit zugrunde, die ihnen eine ‚feste‘ Basis verleiht. Denn die Webkunst beruht nicht zuletzt auf der Technik des Webstuhls, in der mathematisches Wissen und Verständnis für Symmetrien eine konstruktive Umsetzung finden. Die parallel gespannten Fäden (die ‚Kette‘) bilden die Grundlage jeder Textur, in die mit dem ‚Schuss‘, dem Weberschiffchen, verschiedene Muster eingearbeitet werden können. Die Schönheit und Variabilität des Musters setzt insofern die symmetrischen ‚Ketten‘ des Webstuhls voraus, auf deren Grundlage allein eine Bewegung der Formen und Farben mit dem Schiffchen umgesetzt werden kann. Die exakte ‚Bauart‘ des Stoffes erlaubt insofern erst seinen freie Gestaltung.34 Jedes Stückchen Stoff birgt insofern bereits das ästhetische Potenzial von strenger Grundform und freier Beweglichkeit. Im „freien Faltenwurf“, mit dem Semper das Kunstschöne beginnen sieht, ist dieses Potenzial gleichfalls umgesetzt. Eine weitere Quelle für Nietzsches Interesse am antiken Faltenwurf kann hier näheren Aufschluss geben: Friedrich Schillers von Nietzsche für die Geburt der Tragödie herangezogene Vorrede zur Braut von Messina (GT 1872: 54). Nietzsches Semper-Exzerpt zum Faltenwurf als „Resultat eines plötzlichen Auffassens des Kunstschönen“ (N 1869: 1[17] VII 15) scheint hier vorweggenommen: Schiller sieht „durch eine reiche Draperie“ die „gemeine Notdurft der Bekleidung [...] in eine Schönheit verwandelt“ und vergleicht den Faltenwurf in dieser Funktion mit der poetischen Kraft, die das tragische Gedicht „ausrüstet“.35 Die besondere _____________ 33 Laut Neumeyer, Klang der Steine, 51, will Semper mit dieser gemeinsamen Sprachwurzel, „die innere Verwandtschaft zwischen der Architektur und der textilen Kunst [...] beweisen.“ Er bezieht sich hier auf Semper, Textile Kunst, 198. 34 Die Webkunst nutzt Nietzsche wohl aus diesem Grund ein Jahr nach seinem SemperExzerpt als Metapher der Bändigung (des „Einspinnens“) exstatischer Räusche in der Ordnung der hellenischen Mysterien, in deren Bildern Lust und Schrecken zu „Knoten [...] zusammengebunden sind. Als sich jene ekstatischen Zustände in die Mysterienordnung eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt und jetzt konnte der Staatengott [i. e. Apollo], ohne Besorgniß, daß der Staat dadurch zertrümmert werde, und Dionysos ihren sichtbaren Bund schließen, zur Erzeugung des gemeinsamen Kunstwerks, der Tragödie [...]“ (N 1870/71: 7[123] VII 178). 35 Schiller, Die Braut von Messina, SW II 821: „Der Chor reinigt also das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert und eben durch diese Absonderung sie selbst mit poetischer Kraft ausrüstet; ebenso, wie der bildenden Künstler die gemeine Notdurft der Bekleidung durch eine reiche Draperie in einen Reiz und in eine Schönheit verwandelt.“
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poetische Rüstung, mit der die Tragödie sich von einer ungestalteten Natur absetzt, zeige sich gerade in der „faltigen Fülle“ ihres Gewandes: Aber ebenso, wie der bildende Künstler die faltige Fülle der Gewänder um seine Figuren breitet [...], um die getrennten Partien [...] in ruhigen Massen stetig zu verbinden [...] , ebenso durchflicht und umgibt der tragische Dichter seine [...] Figuren mit einem lyrischen Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand, die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen Würde und hoher Ruhe bewegen. (Schiller, SW II 820)
Die weiten Falten des tragischen Gewandes gewährleisten eine grundierende Stetigkeit, sie flechten ein lyrisches Gewebe, innerhalb dessen die „freie“ Bewegung der Figuren sich entfalten kann. Diese Dynamik charakterisiert Schiller als eine „gehaltene“, würdevolle und ruhige Bewegung. Die Kombination von Falte und Freiheit, von Schiller poetologisch profiliert und von Semper als Beginn des Kunstschönen gekennzeichnet, wird Nietzsche deshalb ins Auge gesprungen sein, weil sie seine Dichotomie des Apollinischen und Dionysischen birgt.36 Konvention, Struktur und Symmetrie sind durch die Falten gegeben, die als ästhetisches Phänomen in lebendige und freie Bewegung geraten. Diese Freiheit jedoch ist, ganz im Sinne der Schillerschen Poetik, nicht mit einer barbarischen Natürlichkeit gleichzusetzen. Sie basiert vielmehr auf der inhärenten Strukturierung der poetischen Textur, die im Folgenden am Beispiel konkreter rhythmischer Erscheinungsformen griechischer Kunst in Nietzsches Schriften nachvollzogen wird. Die Gestalt des griechischen Rhythmus nach seiner Verwandlung durch den Einfluss dionysischer Kulte untersucht Nietzsche schon 1870/71 in seinen Vorlesungsnotizen zur griechischen Rhythmik. Eine markante Veränderung erkennt er in Gestalt eines Phänomens, das dem symmetrischen und proportionalen Wesen der hellenischen Rhythmik bis dahin gänzlich fremd war: Der geniale Sinn für Proportion, der in der griechischen Sprache und Musik und Plastik ausgebildet ist, offenbart sich in dem Sittengesetz des Maaßes. Der dionysische Kult bringt die ἀλογία [alogía, FFG] hinzu. (N 1870/71: 7[2] VII 137)
Zunächst ist festzuhalten, dass in dieser Formulierung der dionysische Kult dem rhythmischen Maß Apollos etwas hinzufügt und ihn nicht etwa ablöst. Dieses neuartige, der alten Rhythmik Hinzugefügte hebt Nietzsche als Besonderheit der griechisch-dionysischen Kunst in Form der alogía hervor. Es läge nahe, alogía dem _____________ 36 Neumeyer, Klang der Steine, 52, sieht dagegen „[d]as Spiel der Falten als Symbol der Freiheit der Bewegung und Vielfalt“ im Gegensatz zu der „enge[n] Knotung einer Zwangsjacke [...], in die der gebundene Mensch“ zuvor „eingeschnürt war“, während die hier unternommene Deutung des „freien Faltenwurfs“ gerade zeigen will, dass die unter Zwang erworbene Gebundenheit auch im apollinisch-dionysischen Kunstwerk die Voraussetzung von Bewegung und Vielfalt bleibt.
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Ausdruck nach als Alogisches, als Formzerstörendes schlechthin zu verstehen. Doch ein näherer Blick auf die genaue Bedeutung des Begriffs im Rahmen der griechischen Rhythmik zeichnet ein anderes Bild. In der Zeitenrhythmik der Griechen bedeutet die alogía zwar eine Abweichung von der Regel, der genaue Umfang dieser Abweichung war jedoch, wie Nietzsche in seinen Untersuchungen in Übereinstimmung mit Aristoxenos’ Rhythmik hervorhebt, exakt festgelegt. Zu deren Erläuterung soll noch einmal daran erinnert werden, dass die griechische Zeitenrhythmik den Gesang und Tanz nicht wie die moderne deutsche Akzentrhythmik durch Betonungen strukturiert, sondern durch längere oder kürzere Zeitabschnitte, deren Verhältnis genau festgelegt waren: eine Länge hatte immer die Dauer zweier Kürzen. Die alogía jedoch, schreibt der griechische Rhythmiker Aristoxenos, meint z.B. eine Verzögerung der Dauer des eigentlich kurzen Taktteiles, so dass die Kürze nicht mehr die Hälfte, sondern vielmehr ¾ der Dauer einer Länge beträgt.37 Nietzsche exzerpiert und kommentiert aus Aristoxenos’ Schrift über die alogischen Takte (pódes álogoi): πόδες ἄλογοι [pódes álogoi, FFG] das Auffallendste in der Rhythmik. Gegensatz die
[...] pedes rationabiles. Der leichte Takttheil wird um ein weniges verlängert. (N 1870/71: RH 114)
Anders als einige seiner philologischen Kollegen versucht Nietzsche nicht, die rhythmische Abweichung der alogía im bekannten regelhaften Schema der griechischen Rhythmiken aufzulösen38 oder nach pragmatischen Erklärungen zu greifen, z.B. die leichte Verzögerung der Kürze durch die alogía als Pause zum Atemholen zu deuten. Ebenso wenig sieht er in der irrationalen Verlängerung der Kürze einen Einfluss der Wortbetonung, die er in Bezug auf die Rhythmik _____________ 37 Nietzsche notiert sich: „Aristox. behauptet auch das Vorkommen irrationaler [Takte], indem das eine Takttheil das legitime Maaß um ein kleines Zeitteilchen überschreitet“ (N 1870/71: RH 105). Aristoxenos bestimmt diese Verzögerung im „choreios alogos“ sehr genau, wie Nietzsche festhält: „Aristox. erklärt: [...] χορεῖος ἄλογος [choreios álogos, FFG] 2 + 1½“, d.h. Länge + Kürze (N 1870/71: RH 114). Als rational gilt nach den Regeln der Rhythmik allein das Verhältnis 2+1 oder 2+2, das Verhältnis 2+1½ wird daher als irrational bezeichnet. In seiner Paraphrase von Aristoxenos’ Schrift zur Rhythmik fasst Rossbach, Griechische Rhythmik, in: ders./Rudolf Westphal, Metrik der griechischen Dramatiker und Lyriker, Leipzig 1854, 171, die „Alogia“ folgendermaßen zusammen: „Hierher gehören alle trochäischen und jambischen Reihen mit Epitriten und alle Reihen mit spondeischer Basis, welche [...] den Tact retardiren oder acceleriren; nicht das Rhythmengeschlecht wird ein anderes, sondern nur der Zeitumfang der Thesis wird um eine halbe More [...] verändert [...]. So entsteht durch diese Metabole ein Tactwechsel, dem das Ritardando und Accelerando unserer Musik entspricht, nur dass es hier viel seltener ist als im antiken Melos.“ 38 So wendet sich Nietzsche z.B. gegen Westphals (Fragmente, 221f.) Rationalisierungsversuch der ‚irrationalen‘ alogía: „Gegen Westph. Messung: die Auflösung eines irrat. Taktes in 2 Kürzen.“ (N 1870/71: RH 188), vgl. Bornmann, Nietzsches Metrische Studien, 481 und West, Ancient Greek Music, 5.
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wiederholt für irrelevant erklärt.39 Auch versteht er die alogía nicht als Mittel, durch Verzögerungen des Tones die Proportionalität zum korrespondierenden Takt herzustellen. Er sieht in ihr vielmehr eine durch den dionysischen Kult initiierte Dissonanz, eine gewollte Unregelmäßigkeit im ansonsten regelmäßigen Gleichschritt der Rhythmik: Die ἀλογία ist nicht zu benützen für die Herstellung der Taktgleichheit: umgekehrt: sie ist eine leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit./ Also gleiche Takte [...] – mit leisen Dissonanzen der ἀλογία [...] (N 1870/71: RH 327)
Durch die „leisere Dissonanz in der sonstigen Taktgleichheit“, die leichte Veränderung gegenüber der rhythmischen Regel proportionaler Takte kommt unter dem dionysischen Einfluss Bewegung in die Musik, die zuvor von der beständigen mechanisch-symmetrischen Rhythmik des exakt erfüllten mathematischen Verhältnisses in eine zeitlose und abstrakte Bewegungslosigkeit (ein rhythmisches „Zickzack“, N 1870: DW 565) gebannt war. In einem Brief an Erwin Rohde vom Sommer 1872 gebraucht Nietzsche die alogía als Bild für eine zeitweilig nicht zu vermeidende Abweichung von einer ansonsten sorgfältig eingehaltenen Regel: Ich habe mich wahrhaftig im Punkte des Stils und der Ableitung durch strenge Anforderungen im Zaume gehalten, aber eine gewisse ἀλογία wird man bei solchen Dingen nicht los. (Brief an Erwin Rohde vom 4. August 1871, KGB II.1 Nr. 149] 216)
Er bezieht diese Selbstkritik auf seine im Privatdruck erschienene Vorfassung der Tragödienschrift, Sokrates und die griechische Tragödie. Die alogía wird hier zur Metapher einer Regelverletzung, die das verletzte Gesetz nicht außer Kraft setzt, sondern nur ab und zu – innerhalb eines berechenbaren Umfanges – über dessen Stränge schlägt.40 Obwohl er sich durchgehend „im Zaume“ hält, ist die Verlet_____________ 39 „Ich glaube: Der Reiz mit starken Dissonanzen des Zeitmaaßes zu wirken ist eine Frucht des Dionysuskult. Die logaoedischen [äolischen, FFG] Verse sind demnach nicht mit Pausen zu gleichen Takten auszuputzen“ (N 1870/71: RH 329). Vgl. Fritz Bornmann, Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre (1869–1878), in: ‚Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, hrsg. von Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli, Berlin/New York 1994, 67–80, hier 74, der darauf hinweist, dass der von Nietzsche entdeckte Verzicht der Griechen auf die Wortbetonung als rhythmisches Mittel auch die übliche Erklärung der alogía erübrigt, derzufolge eine Kürze nur deshalb „irrational“, d.h. länger wird, weil eine Betonung auf ihr läge. Wenn die Betonung gar keine rhythmische Rolle spielt, kann sie auch die alogía nicht erklären: „Es ist ein Verdienst Nietzsches, diese Erklärung aus dem Wege geräumt zu haben.“ 40 Die Differenz zwischen „apollinischer“ und „dionysischer“ Metrik, die Bornmann, Nietzsches metrische Studien, 74, in Nietzsches altphilologischen Studien aufzeigt, ist daher nicht als „scharfe Zweiteilung der griechischen Metren“ (ebd.) zu lesen, sondern als eine dionysische Belebung der statisch-regelhafteren apollinischen Metrik.
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zung des selbst auferlegten Gesetzes nicht gänzlich zu vermeiden. Seine Schrift ist insofern in Form und Inhalt durchaus strengen Anforderungen verpflichtet, mit denen er jedoch immer wieder unwillentlich bricht. Das Auftreten der alogía in der griechischen Rhythmik zeugt von einem Wandel: Der Rhythmus fungiert unter dionysischem Einfluss nicht mehr als eherne Grenze und Bollwerk gegen jede Veränderung und Verwandlung in der Zeit, sondern die alogía bezieht die Abweichung von diesem strengen Takt mit in den rhythmischen Ablauf ein und variiert ihn. Ein Konzept der Individualität im modernen Sinne scheint auf, das sich vom schematischen Eingefügtsein des einzelnen Bausteins in die strenge apollinische Ordnung durch abweichende Eigenmerkmale unterscheidet und ihr Bewegung verleiht. Die alogía als Merkmal des Einflusses dionysischer Kulte zeugt von der Veränderung, die der Rhythmus im dionysisch-apollinischen Kunstwerk der Tragödie erfährt. An ihrem Beispiel vollzieht Nietzsche den Wandel der starren apollinischen Taktierung zu einem durch „leise Dissonanzen“ bewegten und seine gesetzmäßigen Grenzen vorsichtig ausweitenden Rhythmus nach. Auch die solcherart verwandelte Tragödie zeigt in ihrer Aufführungspraxis nicht nur bewegtere, sondern auch erweiterte Konturen gegenüber der scharfen Begrenzung auf ‚individuell‘ abgegrenzte Einzelformen der rein apollinischen Kunst. Die Grenzen der apollinischen Individualwelten, die durch den Bootsrand markiert waren (vgl. Kap. 1.1.), weiten sich zu größeren Einheiten wie derjenigen der singenden und tanzenden Gruppe der Choreuten. Während die apollinischen Tänzer in der Geburt der Tragödie als differenzierte und durch ihre Namen und gesellschaftliche Stellung identifizierbare Individuen erschienen, verwandeln sie sich dionysisch bewegt zu einer ununterscheidbaren gemeinsam bewegten Masse.41 Nietzsche nennt ihren Tanz eine „gesteigerte[ ] Geberdensprache“, deren Ausdruck nicht mehr den Einzelnen, sondern die gesamte Gruppe umfasst.42 Die gegenüber der Gebärdensprache des Einzelnen gesteigerte Tanzgebärde bewirkt insofern zwar eine Überwindung der individuellen Form, jedoch zugunsten einer übergeordneten Struktur. Obwohl die gemeinsame Bewegung die Grenzen des Individuums _____________ 41 Während Apollos Chor ein Nebeneinander von Individuen zeigt, wandelt er sich in seiner dionysischen Gestalt: „Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden“ (GT 1872: 61). 42 N 1870: DW 575 (Hervorhebung FFG). Vgl. „Im urwüchsigen Frühlingsdithyrambus des Volkes will sich der Mensch nicht als Individuum, sondern als Gattungsmensch aussprechen. Daß er aufhört individueller Mensch zu sein, wird durch [...] die Geberdensprache [...] ausgedrückt [...] in der Tanzgeberde“ (N 1870: DW 575).
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auflöst, kann von einer ekstatischen Auflösung des Einzelnen ins Grenzenlose der Naturbewegung keine Rede sein: „Mit der Geberde also bleibt er innerhalb der Grenzen der Gattung, also der Erscheinungswelt“.43 Der Tanz des tragischen Chores folgt einer erweiterten rhythmischen Ordnung, durch welche die gemeinsame Bewegung weiterhin strukturiert und diszipliniert wird.44 Nietzsche beschreibt den Chor wie Schiller in der Braut von Messina gerade als dasjenige Element, durch das der Poesie Grenzen gesetzt werden45 und das sie reglementierend im Zaum hält: Der Chor ist es, der die Grenzen der in der Tragödie sich erweisenden Dichterphantasie vorgeschrieben hat: der religiöse Chortanz mit seinem feierlichen Andante umschränkte den sonst so übermüthigen Erfindungsgeist der Dichter [...]. (N 1870: GMD 526)
Wenn der Tanz auch in seiner erweiterten Form als Gruppe des Satyrchors seine umschränkende begrenzende Funktion bewahrt, so liegt die Vermutung nahe, dass der dionysische Einfluss nicht etwa eine größere Spontaneität und Freiheit für die Tänzer mit sich bringt, die den rauschhaften Volkstänzen dionysischer Kulte gleichen, sondern vielmehr eine wesentlich strengere Unterordnung und _____________ 43 Nur unter der Voraussetzung der solcherart begrenzenden „Tanzgeberde“ wird der Ton als grenzauflösendes Mittel überhaupt künstlerisch einsetzbar (N 1870: DW 575). Vgl. Tietz, Musik und Tanz, 82, der den Unterschied zwischen ästhetischem Tanz und den naturhaft kultischen Dionysien betont: „Der Tanz führt uns über die Grenzen der individuellen Existenz hinaus, ohne daß diese Grenze in einem anonymen Kollektivismus verschwände – etwa im Unterschied zur orgiastisch vereinigten Demokratie, die Nietzsche stets als pöbelhafte Herde verhöhnte.“ 44 „Dem musikalisch-rhythmischen Periodenbau, der sich im strengsten Parallelismus mit dem Text bewegte, lief nun andernseits, als äußerliches Ausdrucksmittel, die Tanzbewegung zur Seite, die Orchestik“ (N 1870: GMD 530). Vgl. die Bemerkung von Reibnitz, Kommentar, 122, zum Tanz der griechischen Tragödie: „Für die Eigenart des chorlyrischen Tanzes bleibt festzuhalten [...], daß die ‚Geberdensprache‘ eine streng konventionalisierte und stilisierte war.“ 45 „Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hat bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren“ (GT 1872: 54). Vgl. zu Nietzsches Anverwandlung dieser Passage aus der Braut von Messina: Reibnitz, Kommentar, 192. Lorenz, Musik und Nihilismus, 63, weist ebenfalls darauf hin, dass bei Nietzsche wie Schiller „die lyrisch-musikalische Abgrenzung die Voraussetzung ist, um eine gelungene Koalition mit der wirklichen Welt einzugehen“. Allerdings verwässert er m. E. diese Einsicht für Nietzsche, wenn er ausgerechnet im Satyrchor die Distanz zwischen Bildungsillusion und Natur aufgelöst sieht. Nietzsche führt hier nicht etwa „die Kunstsprache der Tragödie auf vitalistische Fundamente zurück“ (ebd., 59), sondern offenbart ihre geregelte ‚Künstlichkeit‘ als einziges Mittel, der vitalen Natur Spielraum zu geben. Der tragische Widerspruch liegt gerade in der Unvereinbarkeit beider Pole.
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Auflösung des einzelnen durch ein vereinheitlichendes Bewegungsgesetz zur Folge hat. Den Gedanken der Überwindung der Einzelform im Rahmen einer übergeordneten Struktur wendet Nietzsche in der Dionysischen Weltanschauung nicht nur auf den Tanz, sondern auch auf die poetische Sprache an. Das einzelne Wort lässt sich mit dem Einzelindividuum vergleichen: es steht für ein einzelnes „Ding“.46 Wenn aber etwas ausgedrückt werden soll, das über das Einzelne hinausgeht, dann erkennt Nietzsche eine höhere Potenz der künstlerischen Mittel: In der Wortfolge [...] soll nun etwas Neues und Größeres symbolisch dargestellt werden: in dieser Potenz werden wieder Rhythmik Dynamik und Harmonie nöthig. Dieser höhere Kreis beherrscht jetzt den engeren des Einzelwortes: es wird eine Wahl der Worte, eine neue Stellung derselben nöthig, die Poesie beginnt. (N 1870: DW 576)
Die bloße Aneinanderreihung von Einzelworten würde keinen größeren Zusammenhang ergeben, sondern nur dann, wenn die einzelnen Worte sich durch ein übergeordnetes System, einen „höheren Kreis“ bestimmen lassen, ergibt sich eine Steigerung der Ausdrucksmöglichkeiten, „Neues“ und „Größeres“ kann dadurch artikuliert werden. Um dies zu erreichen, muss neben der Bewegung („Dynamik“) und dem Zusammenklang („Harmonie“) auch die Rhythmik der Wortfolge eine Steigerung gegenüber dem Einzelwort erfahren und ihre Ordnung über die Abgrenzung separater Formen hinausgehend ausdehnen: D.h. durch Harmonie Dynamik und Rhythmik ist ein größeres Ganzes entstanden, dem das Wort eingeordnet wird. (N 1869/70: 3[16] VII 64)
Die gewonnene neue, größere Einheit zeichnet sich gegenüber der Einzelform nicht allein quantitativ durch einen größeren Umfang an Teilen oder Formen aus, vielmehr kommt eine qualitative Veränderung in Gestalt gesteigerter Ausdruckskraft zum Tragen, da sie nunmehr anstelle eines für sich stehenden Dinges einen Verlauf, d.h. Bewegung auszudrücken imstande ist: [D]ie Wortfolge soll Symbol eines Vorgangs sein: die Rhythmik, die Dynamik, die Harmonie werden wieder in der Potenz nöthig. (N 1869/70: 3[16] VII 64)
Um einen „Vorgang“, d.h. einen zeitlichen Ablauf wiederzugeben, ist demnach eine Umgestaltung der künstlerischen Mittel gegenüber der rein plastischen Formung von Einzelphänomenen bzw. –worten nötig. Den Rhythmus in höherer Potenz könnte man mit den syntaktischen Strukturen einer Sprache vergleichen, der sich die einzelnen Glieder des Satzes einzufügen haben, um nicht nur einen isolierten Begriff wie „Stein“ oder „Statue“ wiederzugeben, sondern um Bewegung und Handlung als Veränderungen in der Zeit auszudrücken. War die _____________ 46 „Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen des Dinges symbolisirt [...]“ (N 1870: DW 575f.).
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rein apollinische plastische Rhythmik eine Kunst der räumlichen Abgrenzung von Einzelabschnitten aus dem Bewegungsfluss durch Tropfen, Zupfen der Kithara und gesetzmäßigen Taktschlag (vgl. Kap. 1.1.2.), so wird die demgegenüber potenzierte Rhythmik in der Tragödie zur Darstellungsform einer Bewegung, die ebenso wie die Wortfolge im Satz „Symbol eines Vorgangs“ sein soll, nicht eines Zustandes außerhalb der Zeit zum Zwecke seiner Verewigung. In der Tat ist hier eine „Gesammtentfesselung“ und Steigerung von Rhythmus und Harmonie notwendig, die Nietzsche infolge des dionysischen Einflusses auf die Kunst beschreibt (GT 1872: 34).47 Die künstlerischen Organisationsstrukturen lösen sich angesichts des Anspruchs, einen Vorgang oder eine Bewegung darzustellen, jedoch nicht etwa auf, sondern die Komplexität ihrer Grammatik nimmt entscheidend zu, je bewegter das Auszudrückende sein und je weiter es über eine Zustandsbeschreibung des Einzeldinges hinausgehen soll. Auch in Nietzsches frühen Aufzeichnungen zur Rhythmik findet sich dieser Zusammenhang zwischen gesteigerter rhythmischer Ordnung und der Erweiterung des Ausdrucksvermögens gegenüber dem Einzelwort. In Bezug auf den griechischen „Ursinn für rhythmische Zeitverhältnisse“, der sich in der Zeitenrhythmik von Längen und Kürzen manifestiert, notiert er sich: Jedes Wort wird zugleich künstlerisch beim Aussprechen u. Hören als eine Gruppe von Zeiten percipirt. [...] So ist die Noth der Sprache zugleich die erste künstlerische Manifestation. (N 1871: RH 338)
Die rhythmischen Zeitverhältnisse lassen jedes Einzelwort als Teil eines größeren Zusammenhanges, als Teil einer „Gruppe von Zeiten“, von aufeinander abgestimmten Längen und Kürzen erscheinen. Diesen bereits erwähnten „Ursinn für Zeitverhältnisse“ versteht Nietzsche hier gleichbedeutend mit der Grundeigenschaft sprachlicher bzw. künstlerischer Form: der Aufgehobenheit des Einzelnen in einem übergeordneten proportionalen und symmetrischen Schema aus Zeitlängen und -kürzen. Die „Noth der Sprache“, mit jedem gesprochenen Wort auch dessen Gebundenheit an eine übergeordnete Struktur zu be_____________ 47 Vgl. Rudolf Fietz, Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche, in: ‚Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, hrsg. von Tilman Borsche/Federico Gerratana/Aldo Venturelli, Berlin/New York 1994, 144–166, hier 152, der in Bezug auf die Harmonie beim frühen Nietzsche eine ähnliche ‚dionysische‘ Entwicklung nachzeichnet wie hier in Bezug auf den Rhythmus unternommen, indem er die rein ‚syntaktische‘ Ordnung der Harmonie mit der Logik vergleicht: Während die Logik zum „stummen imperativischen Gesetz“ wird, zeigt die musikalische Harmonie „Elemente in ständiger hitziger Bewegung“. Doch eine Steigerung zu zerstörerischer dionysischer Totalität, die das Regelhafte vollständig hinter sich ließe (ebd.) und eine Auflösung der symbolischen Sphäre als Verschmelzung mit der dionysischen Natur suggeriert, vermag ich bei Nietzsche in Bezug auf die „Symbolkräfte“ der Musik jedoch nicht zu entdecken, vielmehr eine Dynamisierung des Regelhaften allein auf symbolischer Ebene.
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stätigen, stellt für ihn den Beginn der Kunst dar. Die Grammatik und ihre regelhafte Ordnung, das abstrakte Gesetz und in übertragenem Sinne die symmetrische Rhythmik als ideale Struktur entstehen demnach nicht als Nachahmung einer wahrgenommenen Bewegung, die sie ästhetisch idealisieren, sondern sie stellen die ästhetische Voraussetzung jeder artikulierbaren Bewegtheit, jedes „Vorganges“ in der Kunst dar. Die Bewegtheit des ästhetischen Ausdrucks von Wandel und Veränderung und die Bewegtheit der Natur sind durch diese ideale Ordnung grundsätzlich getrennt, die auch bei fortschreitender Flexibilisierung die Verschmelzung der beiden Sphären verhindert.48 Wenn Nietzsches Ästhetik die Form als dynamische und zeitgebundene vorführt, so demonstriert sie damit die Zeitlichkeit der Formen, nicht aber die formlose ‚dionysische‘ Zeitlichkeit selbst.49 Nietzsches rhythmische Grundierung der tragischen Kunst macht – wie der „freie Faltenwurf“ – deutlich, dass der Einbruch des Dionysischen kein Verschmelzen mit der Natur bewirkt, sondern vielmehr die notwendige Steigerung des Komplexitätsgrades der strukturierenden Kunstmittel nach sich zieht. Die Griechen bewältigen das maßlos Dionysische mit ihrem Rhythmus nach wie vor, doch dieser verändert sich und überschreitet seine ursprünglich statische Bedeutung als grenzmarkierendes, zeit- und bewegungsloses Strukturmoment.50 „Apollo und Dionysos haben sich vereinigt“, schreibt Nietzsche in der Dionysischen Weltanschauung: Wie in das apollinische Leben das dionysische Element eingedrungen ist, wie sich der Schein als Grenze auch hier festgesetzt hat, so ist auch die dionysisch-tragische Kunst nicht mehr „Wahrheit“. (N 1870: DW 571)51 _____________ 48 Anhand von Nietzsches Symbolbegriff wie auch des ästhetischen Analogieprinzips (vgl. Kap. 2.1.2. unten) wird eine anti-naturalistische Sprach- bzw. Zeichenauffassung deutlich, wie sie Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989, v.a. für die späteren Schriften Nietzsches herausgearbeitet hat. 49 Vgl. in Bezug auf die musikalische Ästhetik Nietzsches die treffende Formulierung von Michael Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 2000, 27f.: „So ist die Musik ja nicht das Formlose selbst, sondern die Kunstform, deren Eigenart es ist, dem Formlosen die ihm angemessene Erscheinungsform zu geben, d.h. diejenige Erscheinungsform, in der man Formen nicht als in sich ruhende, sondern auf ihr Werden hin versteht. Man versteht, anders gesagt, gerade in den Formen der Musik, daß sich Formen jederzeit verändern.“ 50 In seinen Vorlesungsnotizen zur Tragödie des Sophokles vom Sommersemester 1870 schildert Nietzsche die bereits erwähnte Bezwingung asiatischer Dionysoskulte zum tragischen Kunstwerk durch Bild und Rhythmus, betont jedoch zugleich, dass mit dieser neuen Rhythmik auch der „ägyptische[ ] Tempelstil“ überholt wird (N 1870: KGW II3 12). 51 Weder das Apollinische noch das Dionysische bleiben in der tragischen Kunst, was sie in Reinform wären. Die Tragödie erreicht dadurch eine schwebende Mitte zwischen apolli-
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Absolute Kunstgesetze mit dem Anspruch auf Ewigkeit kann das Apollinische nicht mehr etablieren, weil mit dem Dionysischen auch der zeitliche Wandel in das Kunstwerk eingedrungen ist. Eine Zunahme an Bewegung ist durchweg erkennbar: Die starren, apollinisch maskenhaften Figuren52 und steinernen Plastiken beginnen, ihre Glieder zu regen, die Hintergrundkulissen wandeln sich und das statische apollinische Kunstreich gibt der Veränderung Raum: Schon aber zeigt sich ein großer Unterschied gegen die frühere Kunst, daß [...] die Statue wandelt, die Gemälde der Periakten sich verschieben, bald der Tempel bald der Palast dem Auge durch dieselbe Hinterwand vorgeführt wird. Wir bemerken also eine gewisse Gleichgültigkeit gegen den Schein, der seine ewigen Ansprüche, seine souveränen Forderungen hier aufgeben muß. (N 1870: DW 571)
Der Einzug von Bewegung und Wandel in die Kunst verändert die Wirkung der zuvor auf dauerhaften Erhalt ausgerichteten apollinischen Ästhetik, denn ihr Ewigkeitsanspruch, demgemäß sie die Erscheinung als unwandelbar verherrlichte, ist nicht mehr aufrecht zu erhalten.53 Nicht mehr ein Stein als Teil eines architektonischen Bauwerks von ewiger Dauer wird vorgeführt, sondern ein „wandelnder“, ein „lebendiger“ Stein. Dennoch bleiben seine steinernen Eigenschaften zum Teil erhalten: Der ästhetisch verwandelte Dionysos, bemerkt Nietzsche in Das griechische Musikdrama, gleicht einer „lebende[n] Statue des Gottes: und in der That hat der antike Schauspieler etwas vom steinernen Gast bei Mozart“.54 In der griechischen Tragödie, so fährt er fort, hat der dionysische Einfluss eine ähnliche Funktion wie die Farben in einer Zeichnung, „welche nur dazu dienen, die Figuren zu beleben, ohne die Umrisse zu zerstören“ (N 1870: GMD 528). _____________ nischen schönem Schein und dionysischer Wahrheit, die Nietzsche als „Wahrscheinlichkeit“ bezeichnet. Der Schauspieler, der zugleich im Schicksal der von ihm dargestellten Helden dionysische Wahrheit wie in seiner Erscheinung als einzelnes Individuum auch apollinische Bildlichkeit verkörpert, ist weder ganz Wahrheit noch ganz schöner Schein: „In der Mitte zwischen beiden bleibt er schwebend. Er strebt nicht nach dem schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach Wahrscheinlichkeit“ (N 1870: DW 567). 52 Die Geringerschätzung des apollinischen Scheins im tragischen Kunstwerk macht Nietzsche in der Dionysischen Weltanschauung an der Maske fest: „Das deutlichste Anzeichen dieser Geringschätzung des Scheins ist die Maske“ (N 1870: DW 571). 53 „Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen [...]“ (GT 1872: 150). 54 N 1870: GMD 527. Nietzsche untermauert sein Bild vom Wandeln der Statue in Das griechische Musikdrama mit einem Zitat von A. W. Ambros (vgl. KSA XIV 99): „Die schmale antike Bühne, mit der nahe vorgerückten Hinterwand, machte die wenigen, sich gemessen bewegenden Figuren zu lebenden Basreliefs oder belebten Marmorbildern eines Tempelgiebels“ (N 1870: GMD 527f.).
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1.2.2. Rhythmus als symbolisierte Natur Das „Sein“ als die Erdichtung des am Werden Leidenden. (N 1885/85: KGW IX5 115)55
Wenn der zurückliegende Abschnitt deutlich gemacht hat, dass apollinische Formgesetze wie die der Rhythmik in Nietzsches tragischer Ästhetik Bestand halten, so sollte damit jedoch keinesfalls die drastische Veränderung relativiert werden, die er mit dem Einbruch des ‚Dionysischen‘ in die Kunst markiert wissen will. Der Mythos des Prometheus hat gezeigt, dass sich der apollinischolympische Gott Zeus mit den Titanen, die er einst in der Tiefe weggeschlossen hatte, nun verbünden muss, um seinen eigenen Untergang zu verhindern.56 Die Veränderung der apollinischen Kunstmittel durch diese Verbindung mit dem ‚Dionysischen‘ lässt sich demnach nicht als eine neue ästhetische Spielart verstehen, sondern vielmehr als existenzieller Überlebenskampf der Welt des Scheins, d.h. des Lebens schlechthin. „Kein Mittel“ gebe es gegen deren Untergang, so prophezeite Prometheus in Aischylos’ Tragödie, „ausgenommen meine Fesseln fallen“ (Prom. 770). Die Befreiung der titanischen Naturmächte, nicht zuletzt in Gestalt des Chronos, verursacht einen durchgreifenden Wandel in der Welt des ästhetischen Scheins: in ein abgestecktes Reich, aus dem bisher jede Bewegung sowie zeitliche Veränderung ferngehalten wurde, dringt die zerstörende Macht der Vergänglichkeit ein und stellt die bisherigen scheinbar ewig gültigen Grenzsetzungen, das Maß der apollinischen Welt, in Frage. Mit seiner Beschreibung ekstatischer Dionysoskulte der Griechen in der nachgelassenen Schrift Die dionysische Weltanschauung zeigt Nietzsche das Ausmaß dieser Revolution am Beispiel der Rhythmik: Was früher in poetisch-musikalischen Innungen kastenmäßig fortgepflanzt [...] wurde, was mit der Gewalt des apollinischen Genius auf der Stufe einer einfachen Architektonik verharren mußte, das musikalische Element, das warf hier alle Schranken von sich: die früher nur im einfachsten Zickzack sich bewegende Rhythmik löste ihre Glieder zum bacchantischen Tanz [...]. (N 1870: DW 565)
Während der ästhetischen Vorherrschaft Apollos bewegt sich die Rhythmik gleich einem Metronom im streng vorgegebenen Maß, das sich in den räumlichen Kategorien eines Rhythmus aus Längen und Kürzen spiegelt. Dieses apollinische Bauwerk der Kultur sanktionieren streng eingehaltene Traditionen und _____________ 55 Heft W I 8. Spätere Hinzufügung zum Vorentwurf vom „Versuch einer Selbstkritik“, den Nietzsche der Ausgabe von 1886 der Geburt der Tragödie voranstellt. 56 Vgl. „Der trotzige Titan Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündnis des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen“ (GT 1872: 73).
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Überlieferungen; die rhythmische Dressur der Eleven richtet sich auf das Einhalten einer vorgeschriebenen Gesetzmäßigkeit, die sich wie das indische Kastenwesen undurchlässig und invariabel zeigt. Da es keinen ‚Rhythmus an sich‘ gibt, muss seine Gestalt durch pädagogische Mittel über die Zeiten hinweg weiter getragen werden. Wie Nietzsche konstatiert, verändert sich diese traditionelle Rhythmik durch den zunehmenden Einfluss dionysischer Kulte und überschreitet die zuvor streng überwachten Grenzen und Gesetze.57 Im dionysischen Dithyrambus, auf den die homerisch-apollinische Welt mit „Grausen“ blickt (GT 1872: 34), wird schließlich die bereits erwähnte „Gesammtentfesselung“ aller Kräfte praktiziert. In der Musik „wachsen [...] Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm“ (ebd.). Das naturhaft Dionysische bewirkt ein „Zerbrechen des principii individuationis“ (GT 1872: 28); das Individuum, dessen Mauern Apollo mit Hilfe künstlerischer Grenzen der Selbstbeschränkung bestätigte und schützte, wird durch „jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet“, negiert. Jetzt [...] zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder „freche Mode“ zwischen den Menschen festgesetzt haben. (GT 1872: 29)
Seine Gestaltungsmacht gibt der Mensch auf, sofern er sich dieser Naturgewalt überlässt, und wird selbst zum Naturphänomen, „[d]er Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur“ (GT 1872: 30). Diese Wirkung der Naturmächte allerdings gilt, wie Nietzsche gleich darauf nachdrücklich unterstreicht, den dionysischen Kräften, „die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen“ (GT 1872: 30). Um die Verarbeitung des aus der Natur hervorbrechenden Dionysischen durch den griechischen Künstler jedoch, um genau jene Vermittlungsinstanz geht es in der tragischen Ästhetik der Hellenen, die Nietzsche als „historische[s] Beispiel“ (GT 1872: 102) in den ersten 15 Kapiteln der Geburt der Tragödie entwickelt. „Die Tragödie“, notiert er sich, „ist die Naturheilkraft gegen das Dionysische. Es soll sich leben lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich“ (N 1869/70: 3[32] VII 69). Nietzsches hier getroffene deutliche Unterscheidung zwischen einem naturhaft-ungestalteten „Dionysismus“ auf der einen Seite und einer dionysischen Kunst auf der anderen Seite wird in der Geburt der Tragödie anhand des Gegensatzes zwischen einer barbarischen und einer ästhetischen Erscheinungsform des Dionysischen deutlich, auf dessen Relevanz Barbara von Reibnitz hinweist,58 der _____________ 57 „Alles, was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als ein künstlicher Schein“ (N 1870: DW 565). 58 Vgl. Reibnitz, Kommentar, 90f.
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jedoch in Rezeption und Forschung häufig übergangen wird.59 Nietzsche betont unmissverständlich die „ungeheure Kluft [...], welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt“ (GT 1872: 31). Im Vergleich zu den dionysischen Griechen erhält der barbarische Dionysoskult bei Nietzsche eine negative Konnotation: er provoziere Maß- und Zuchtlosigkeit, fege Sitten und Konventionen hinweg und entfessele „die wildesten Bestien der Natur“ – eine Praxis, die Nietzsche „abscheulich“ findet: Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche „Hexentrank“ erschienen ist. (GT 1872: 32)
Die Flutung aller menschlichen Gesetze und Konventionen zugunsten einer Auflösung in unkontrollierten Triebäußerungen wird von ihm deutlich abgelehnt.60 Das griechische Dionysische, das Nietzsche bereits als ästhetische und _____________ 59 Die Unterscheidung zwischen barbarischem und ästhetischem Dionysischen übersieht z.B. Udo Tietz, Musik und Tanz als symbolische Formen. Nietzsches ästhetische Intersubjektivität des Performativen, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), 75–90, hier 78, wenn er in der Tragödienschrift eine „versöhnungsutopische Perspektive“ in Gestalt eines „dionysischen Taumel[s]“ zu erkennen meint: „ein Zustand, der als ein mystisches Vereinigungserlebnis konzipiert ist und wohl auch nur so verstanden werden kann.“ Anders dagegen Iris Därmann, Rausch als „ästhetischer Zustand“. Nietzsches Deutung der aristotelischen Katharsis und ihre platonisch-kantische Umdeutung durch Heidegger, Nietzsche-Studien 34 (2005) 124–162, hier 128, die – wie auch Reibnitz – das „orientalisch Dionysische“ vom Ästhetischen, „das abzuwehren der apollinischen Kultur nur kurzfristig gelingt, um der Unheimlichkeit des Dionysischen nunmehr mit der ganzen sublimierenden Kraft bildlicher Gestaltung zu begegnen [...]“, deutlich absetzt. 60 Vgl. Enrico Müller, „Aesthetische Lust“ und „dionysische Weisheit“. Nietzsches Deutung der griechischen Tragödie, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), 134–153, hier 151, der mit Recht bemerkt, dass das ästhetisch gestaltete Dionysische häufig wesentlich destruktiver verstanden wird als in der Geburt der Tragödie angelegt: „Es ist keineswegs amorph und chaotisch – so ließe es sich nicht für eine Ästhetik funktionalisieren –, sondern tendenziell aus der Form hervor- und herausgehend.“ Vgl. ders., Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York 2005, 46ff. Müller führt die Tragödie und damit auch das Dionysische als kultisch eingebundene Infragestellung der Zivilisation vor, durch deren Ausführung sie sich ihre eigene Fragilität und Begrenztheit in bewahrender Intention vor Augen führt. Das Dionysische der Tragödie dient in diesem Sinne dazu, das Apollinische, die kulturellen Errungenschaften, durch ihre Entgrenzung hervorzuheben, und nicht dazu, diese Errungenschaften zu zerstören (vgl. die „apollinische“ Mysterienordnung bei Hemelsoet/Biebuyck/Praet 2006). „Keineswegs“, schreibt auch Christian Schüle, „Apollinisch-dionysisch“, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk - Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, 187–190, hier 188, über Nietzsches Begriff des Dionysischen, „will der Philosoph das Dionysische per se: Den asiatischen Kult des Dionysos mit seiner Raserei und Ausschweifung lehnt N[ietzsche] als barbarisch ab [...].“ Zu demselben Schluss kommt Reibnitz, Kommentar, 91, in ihren Hinweisen auf die Philologie
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anthropologische Erscheinung begreift, unterscheidet sich grundsätzlich von der natürlichen und von ihm als barbarisch titulierten Erscheinung der orientalischen Kulte. Es ist offensichtlich, dass er keine völlige Zerstörung der „ehrwürdigen“ apollinischen Satzungen proklamieren will, aber ebenso wenig ist die neue dionysische Kunst mit den zeit- und bewegungslosen Kunstäußerungen der Dorer in Einklang zu bringen. Der Begriff, den Nietzsche für jene prekäre Mittlerposition zwischen reiner Triebnatur und lebloser Künstlichkeit profiliert, ist der des Symbols: „Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken“, so definiert er die Aufgabe der apollinisch-dionysischen Tragödie der Griechen (GT 1872: 33). Was aber ist das „Wesen der Natur“? Die Weisheit des Naturgottes Silen in der Geburt der Tragödie charakterisiert es als unaufhörliches Werden und Vergehen, das jeder endlichen Gestalt die schreckliche Erkenntnis seiner eigenen Nichtigkeit vor Augen führt (GT 1872: 35). Silen verhöhnt den Menschen als Eintagsgeschlecht, das ebenso dem Untergang geweiht ist wie alle organischen Erscheinungen – nur will der Mensch sich nicht damit abfinden und strebt nach Dauer und Erhalt seiner individuellen Form. „Die Natur“, notiert sich Nietzsche daher, „ist nichts so Harmloses, dem man sich ohne Schauder übergeben könnte“ (N 1870/71: 7[155] VII 199). Wenn also in der Tragödie das Wesen der Natur symbolisch ausgedrückt werden soll, dann liegen Schrecken und Todesahnung für die vergängliche Gestalt des Menschen, der sie zu formen versucht und anschaut, dicht bei dem Entzücken und der Anteilnahme an ihrer schöpferischen Kraft. Dem ‚Dionysischen‘ der Natur durch einen apollinischen, Dauer verleihenden Gegenpart die Waage zu halten ist daher eine anthropologische Notwendigkeit. Ohne den „apollinischen Widerschein“ des Dionysischen,61 der sein dem Menschenohr gemäßeres ästhetisches Echo formt, würden die Zuschauer in die Trostlosigkeit der Naturweisheit des Silens, dass nämlich ihr Leben sinnlos ist, abgleiten: Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann [...]. (GT 1872: 155)
Das „Wesen der Natur“, dessen symbolischen Ausdruck Nietzsche von der Tragödie fordert, dringt nicht als volle Wahrheit in das Kunstwerk ein, sondern nur _____________ des 19. Jahrhunderts, aus der Nietzsche schöpfte: „Bei den Griechen kann das Dionysische selbst gar nicht mehr nachgewiesen werden, da es – als Kunst und nicht als Natur – immer schon apollinisch, als schön geformte Natur, konstituiert ist. Insofern ist auch das Dionysische der griechischen Musik kein absoluter Gegensatz zum Apollinischen, sondern ein relativer: im Dionysischen ist immer schon ein formendes apollinisches Element enthalten.“ 61 „[E]s giebt keinen dionysischen Schein ohne einen apollinischen Wiederschein“ (N 1871: 10[1] VII 335).
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insoweit, als es durch formende und Gestalt verleihende Kunstmittel wiedergegeben bzw., wie Iris Därmann schreibt, „sublimiert“ werden kann.62 Die künstlerische Darstellungskraft sieht Nietzsche damit überfordert, die tatsächliche Beschaffenheit der Natur auszudrücken, denn die Natur als unaufhörliche Überwinderin und damit Vernichterin jeder von ihr geschaffenen Form ist mit einer ästhetischen Strukturierung, die auf den Erhalt der Form angelegt ist, unvereinbar. In der tragischen Kunst der Geburt der Tragödie soll dementsprechend mit aller Macht etwas jeder Form und Kunst Entgegengesetztes zur bildlichen Erscheinung gebracht werden. Nicht das apollinische Maß, sondern „[d]as Übermaass enthüllte sich als Wahrheit“ (GT 1872: 41) bzw. als Wesen der Natur, und für diese Wahrheit des Übermaßes sucht die Kunst der Tragödie einen Ausdruck. In erster Linie bedeutet dies eine Trennung von Form und Inhalt gegenüber der rein apollinischen Kunst. Im architektonischen dorischen Kunstwerk repräsentieren die künstlerischen Formen wie z.B. die musikalischen Rhythmen den Inhalt und Sinn der Kunst selbst: sie verkörpern die ideale Zeitlosigkeit bleibenden Ebenmaßes, sie stellen die Verewigung von maßgebenden Strukturen dar, deren Existenz und Dauer zugleich die zentrale Aussage des Kunstgottes Apollo ist.63 Darstellendes und Dargestelltes treten jedoch infolge der Integration des Dionysischen als Zeitliches und Wandelbares in die apollinische Kunst auseinander. Wenn der Inhalt das formzerstörende „Wesen der Natur“ sein soll, dann kann die darstellende apollinische Form mit ihrem Anspruch auf Dauer aufgrund ihrer diametralen Gegensätzlichkeit gar nicht mit ihm identisch sein. Die künstlerischen Ordnungen und Gesetze dienen also nunmehr als Mittel der Darstellung eines ihnen entgegen gesetzten, ja sie sogar existenziell in Frage stellenden Inhalts. Zugleich wandelt sich die ästhetische Scheinwelt von einem reinen Selbstbezug hin zur Öffnung ihrer Formen für die zeitliche Realität ihrer Existenz. Nietzsche formuliert diesen Wandel in der Dionysischen Weltanschauung: Durchaus nicht wird mehr der Schein als Schein genossen, sondern als Symbol, als Zeichen der Wahrheit. (N 1870: DW 571)
Während im apollinischen Kunstwerk die erträumte Scheinwelt sowohl die Form als auch die zu vermittelnde Aussage umfasst – der Schein wird durch die Form _____________ 62 Därmann, Rausch als ästhetischer Zustand, 128. 63 In dieser Hinsicht ist Nietzsches Kategorie einer rein apollinischen Kunst, die er u.a. in Homer verwirklicht sieht, mit Erich Auerbachs Analyse Homers in Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/Stuttgart 1988, 15f., vergleichbar. Die einzige Aussagekraft der Werke Homers, so Auerbach, liege darin, Wirklichkeit zu bilden. Sie seien deshalb so klar geformt, um Realität überhaupt erst zu etablieren, sie ‚sind‘, was sie darstellen. „In dieser ‚wirklichen‘, für sich selbst bestehenden Welt, in die wir hineingezaubert werden, ist auch nichts weiter enthalten als sie selbst; die homerischen Gedichte verbergen nichts, in ihnen ist keine Lehre und kein geheimer zweiter Sinn. Man kann Homer analysieren [...], aber man kann ihn nicht deuten.“
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etabliert und ausgedrückt – spricht aus dem Symbolbegriff Nietzsches keine Identität zwischen Zeichen und der bezeichneten „Wahrheit“.64 Vielmehr resultiert die Entwicklung symbolischer Kunstmittel gerade aus der Unmöglichkeit einer ästhetisch ungefilterten Darstellung der Natur. 1871 exzerpiert Nietzsche einen Kommentar Schillers zu Shakespeare Dramen: Zu bewundern ist’s [...], wie geschickt er das repräsentirt, was sich nicht repräsentiren läßt, ich meine die Kunst, Symbole zu gebrauchen, wo die Natur nicht kann dargestellt werden. Kein Shakespearesches Stück hat mich so sehr an die griechische Tragoedie erinnert. (N 1871: 9[77] VII 302)65
Symbole, so Schiller in diesem Exzerpt, werden von Shakespeare dann gebraucht, wenn die Natur nicht dargestellt werden kann und dennoch dargestellt werden soll, sie repräsentieren das nicht Repräsentierbare.66 Nietzsches Gebrauch des Symbol-Begriffs, so wenig theoretisch reflektiert er dabei vorgeht, schlägt eine Brücke zu Eduard Hanslicks Buch Vom MusikalischSchönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst von 1854, das Nietzsche gezielt bereits 1865 und nochmals 1871 gelesen hat. Hanslick ist ein vehementer Kritiker der Wagnerschen Musik, daher mag eine Affinität Nietzsches zu dessen Ästhetik in seiner Zeit der Wagner-Verehrung zunächst erstaunen, die jedoch in der Forschung bereits überzeugend belegt ist.67 Hanslick äußert sich in seinem _____________ 64 Zum Symbolbegriff Nietzsches vgl. Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin/New York 2006, 179f., der Parallelen zu Ernst Cassirers Symboltheorie aufweist. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, 176f., definiert das Symbol nicht als sprachlichen Ausnahmezustand, als „keine dem ‚eigentlichen‘ Sprachgebrauch entgegengesetzte Ausdrucksweise“, sondern es fasse vielmehr die Sprache überhaupt in „konkreten sinnlichen Zeichen“ und den empfangenen Eindruck des Äußeren in einen Rahmen ein, der sich nicht in „dem, was wir die objektive Wirklichkeit nennen“ auflöst, sondern ihm vielmehr gegenübertritt und „sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft“ behauptet. Vgl. Benne, Historisch-kritische Philologie, 180, Anm. 263. Den „Begriff der symbolischen Form“ führt Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2008, 21–33, u. a. in Bezug auf Cassirer weiter aus. 65 Aus einem Brief Schillers an Goethe vom 28. November 1797 (vgl. KSA XIV 539). 66 Vgl. Bernhard Lypp, Dionysisch-apollinisch: ein unhaltbarer Gegensatz. Nietzsches ‚Physiologie‘ der Kunst als Version ‚dionysischen‘ Philosophierens, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 356–373, hier 358, der den Symbolbegriff in Nietzsches späteren Schriften entsprechend behandelt: „In den Symbolen und Zeichen [...] ist das Leben, welches auf seinem Grunde unverständlich ist, erst einmal in menschliche Maße überführt, seine unverständlichen Züge sind dann wenigstens vermenschlicht.“ 67 Nietzsche las Eduard Hanslicks Abhandlung Vom Musikalisch-Ästhetischen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst von 1854 wahrscheinlich schon sehr früh; Lesespuren finden sich bereits in BAW 1865: III 98 (vgl. Schmidt, Der ethische Aspekt in der Musik, 31). Landerer/Schuster, Nietzsches Vorstudien, 120, belegen, „daß die für Nietzsches Musikästhetik folgenreichste Rezeptionsphase bereits im Frühjahr 1871 anzusetzen ist, also [...] mitten in den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie.“ Sie weisen dies anhand von Nietzsches
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Buch zur Beziehung zwischen der ästhetischen Gestalt der Musik und der elementaren Natur, die er nicht als ein Abbildverhältnis verstanden wissen will. Er stellt zwar eine Verbindung zwischen Musik und Natur fest, konstatiert aber ebenso, dass sich die Natur ästhetisch nicht imitieren, sondern nur symbolisieren lasse: Von einem Ausdrücken oder Darstellen ist solche Naturbeziehung weit entfernt. „Symbolisch“ nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs unmittelbar darstellt, sondern eine von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt. (Hanslick 1854: 17)
Die symbolische Wiedergabe der Natur durch die Kunst versteht Hanslick nicht als unmittelbar gegeben, ebenso wenig wie der konventionsfreie dionysische Massenrausch für Nietzsche der Kunst der Tragödie entspricht. Hanslick formuliert bewusst drastisch, dass eine mechanische Spieluhr wesentlich ästhetischer sei als der natürliche Vogelgesang (Hanslick 1854: 89). Eine von der Natur „wesentlich verschiedene Form“ symbolisiere deren Wesen, die Natur wird gleichsam in eine andere Sprache übersetzt. Dieser Gedanke der Übertragung, den Nietzsche 1873 in seiner von ihm nicht publizierten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als „ästhetisches Verhalten“ am Beispiel der Metapher ausformulieren wird68, findet sich bereits in seinen Notizbüchern aus der Zeit der Arbeit an der Geburt der Tragödie. Ende 1871 notiert er sich dort: Alle Kunstgesetze beziehn sich nur auf das Übertragen (nicht auf die originalen Träume und Räusche). (N 1871/72: 16[21] VII 402)
Die Gesetze der Kunst bewirken eine Entfernung vom „originalen“ Gehalt des Dargestellten. Sie stehen einer völligen Identifikation im Wege, gerade weil sie sich um einen Ausdruck für das Originale bemühen. Die Träume und Räusche, wie sie in der Geburt der Tragödie als Ausdruck der Natur ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers erscheinen (GT 1872: 30), werden durch die ästhetische Übertragung ihres ursprünglichen Charakters enthoben. Vornehmlich spricht aus Nietzsches Notiz, dass die Kunstgesetze nicht den „originalen Träumen und Räuschen“, sondern vielmehr einer genuin eigenen ästhetischen Ordnung entspringen. Diese symbolische Ordnung hat Realität, sie ist „wirklich“ und besteht nicht allein in einer Verweisfunktion.69 Sie stellt eine eigene bildliche Sphäre dar, _____________ so genannten Notat „Über Wort und Musik“ (N 1871: 12[1] VII 359ff.) nach. Vgl. dazu auch Landerer/Schuster, Begehrlich schrie der Geyer, 253. 68 „[E]in ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache“ (N 1873: WL 884). Die Metapher als ästhetische Form gleicht einem Wechsel der „Sphäre“: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ (N 1873: WL 879). 69 „Die Metapher“ als ein Mittel der Übertragung in die poetische Wirklichkeit des Dramas, schreibt Nietzsche in der Geburt der Tragödie, „ist für den ächten Dichter nicht eine rheto-
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die sich von der ursprünglichen Natur des Symbolisierten wesentlich unterscheidet. Für die ästhetische Funktion des Rhythmus bei Nietzsche ist dieser Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil er ihm im Wesentlichen eine symbolische Wirkung zuschreibt. Der Rhythmus erscheint als eines der wesentlichen Instrumente, die Grenze zwischen Symbol und Original näher zu bestimmen. Nietzsche notiert sich bereits Ende der 60er Jahre: Rhythmik schon symbolisch wirksam./ Symbol die Übertragung eines Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere. (N 1869/70: 3[20] VII 66)
Den Gedanken einer symbolischen Übertragung appliziert Nietzsche hier direkt auf die Rhythmik. Mittels eines Rhythmus wird der darzustellende Inhalt – das dionysische „Wesen der Natur“ – in eine symbolische Ordnung übersetzt, die sich von der Natur grundsätzlich unterscheidet. Hanslick nannte in dem oben angeführten Zitat die Symbolik eine von ihrem Inhalt „wesentlich verschiedene Form“, hier mag Nietzsche in seiner Notiz von dieser Formulierung beeinflusst worden sein. Beider Ästhetik ist gemeinsam, dass sie die Sphäre der Kunst einschließlich all ihrer Gesetze nicht mimetisch verstehen. Die Musik, die bei Nietzsche als „unbildliche[ ] Kunst [...] des Dionysus“ (GT 1872: 25) die Natur zu symbolisieren sucht, behält in der Tragödie ihren ästhetischen Charakter bei und verschmilzt nicht mit der elementaren Natur. Die Musik ist nicht die ganz orgiastische, aber sie ist rauschvoller als die apollinische. (N 1869/70: 3[12] VII 63).70
Nicht zuletzt verneint Nietzsche in der Geburt der Tragödie, hier das Dionysische mit Schopenhauers Willen gleichsetzend, eine Entsprechungsbeziehung zwischen Musik und Dionysischem: [D]ie Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre – denn der Wille ist das an sich Unaesthetische –; aber sie erscheint als Wille. (GT 1872: 50f.)
Auch die Musik als künstlerische Äußerung behauptet ihren eigenen symbolischen Bereich des apollinischen Scheins, in dem der Wille nur in übertragener Form gespiegelt wird. Sie gleicht, wie Nietzsche hervorhebt, dem „fingirte[n] _____________ rische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich [...] vorschwebt“ (GT 1872: 60). 70 Vgl. die Beobachtung Nietzsches, dass sich die Musik in der dramatischen Einbindung verändert: „Die Musik im Drama, ist, ebenso wie die Malerei, etwas Andres geworden: sie will täuschen, sie ist nicht reine Kunst des Scheins mehr. Sie wirkt elementarischer, sie ist Mittel, sie ist bewußter, weil sie plastisch sein soll“ (N 1870/71: 5[17] VII 96). Schmidt, Der ethische Aspekt in der Musik, 74, überlegt in seiner Studie über Nietzsches Geburt der Tragödie, welche anthropologische Konsequenz ihre tatsächliche Nachahmung haben würde, wenn man die silenische Natur in Nietzsches Sinne auffasst: „Im wörtlichen Sinne als eine Zersprengung des Individuums verstanden, müßte Musik tödlich sein.“
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Naturwesen“ der Satyrn (GT 1872: 55), sie spielt die Natur, ohne Natur zu sein.71 Die in der Rezeptionsgeschichte der Tragödienschrift anhaltende Deutung einer „Entsprechungsbeziehung zwischen Musik und dem ‚Ur-Einen‘“72 in Nietzsches tragischer Symbolik greift daher zu kurz, weil sie die anthropologisch entscheidende Differenz zwischen der apollinischen Symbolisierung des Dionysischen und der Natur in ihrer künstlerisch ungestalteten Realität nicht berücksichtigt.73 Alle Elemente der Musik sind bei Nietzsche in dieser Weise symbolisch zu verstehen, auch wenn er mit immer neuen Dualismen die Opposition von Apollinischem und Dionysischem aufzunehmen scheint. Nehmen wir das Beispiel der Opposition Rhythmus versus Harmonie in der Musik. In der Dionysischen Weltanschauung tritt der Rhythmus in der Funktion körperlicher Plastizität als Teil dieses Gegensatzpaares auf. Der Rhythmus stehe, so Nietzsche, als „Außenseite“ der Harmonie gegenüber, die ihrerseits den Schopenhauerschen „Willen“, d.h. die gestaltlose Potenz der Naturkraft symbolisiere: Während die Rhythmik und die Dynamik gewissermaßen noch Außenseiten des in Symbolen kundgegebenen Willens sind, fast noch den Typus der Erscheinung an sich tragen, ist die Harmonie Symbol der reinen Essenz des Willens. In Rhythmik und Dynamik ist demnach die Einzelerscheinung als Erscheinung noch zu charakterisiren, von dieser Seite kann die Musik zur Kunst des Scheins ausgebildet werden. (N 1870: DW 574f.)
Ähnlich wie der Rhythmus als zeiteinteilendes Moment zeigt die Dynamik akzentuierte Differenzierungen im Verlauf des musikalischen Stücks an, denn als musikalischer Begriff bezeichnet sie die Ton- bzw. Klangstärke. Als Gestaltungsmittel des Zeitflusses in der Musik gewährleisten Rhythmus und Dynamik daher die Zugehörigkeit der Musik zur apollinischen Kunst des Scheins, die mit Grenzen und Unterteilungen operiert. Das zwiefache Wesen der Tragödie als „eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung _____________ 71 In Bezug auf die dionysische Musik der Hellenen ist Nietzsche in der Geburt der Tragödie recht konsequent in ihrer Auffassung als symbolische Widerspiegelung der Wahrheit und nicht als Wahrheit selbst, ausgedrückt durch ihre stetige Charakterisierung als „Spiegel“, „Symbol“ oder „Abbild“. Vgl. „das Abbild dieses Ur-Einen als Musik“; „Wiederschein des Urschmerzes in der Musik“ (GT 1872: 44). Der grundsätzlich apollinische, d.h. künstlerische Charakter der Musik wird dadurch stets gewahrt. Vgl. Gellhaus, Ästhetische Erziehung, 119: „Da die Sprache der Musik, insofern sie eine Kunst und insofern sie eine Sprache ist, notwendig als apollinisch-maßvolle und begrenzt erscheinen muß, kann [...] das Dionysische selbst nur als das immer Abwesende und Nicht-Artikulierbare verstanden werden.“ 72 Tietz, Musik und Tanz, 85. 73 Als eine der „Mißdeutungen“ von Nietzsches Denken bezeichnet Thomas Böning, „Das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen“ – Metaphysik und Sprache beim frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 72–106, hier 78, eine solche Gleichsetzung der Musik mit dem „Willen“ oder dem „Dionysische[n]“.
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der Musik“ (GT 1872: 95) wird von Seiten der Rhythmik und Dynamik zu Schein, Symbol und Verbildlichung gebracht, während das dionysische Element durch den Ton und die Harmonie wiedergegeben wird.74 Doch das heißt nicht, dass mit der Harmonie ‚das Dionysische’ als Naturkraft in der Musik ausbrechen würde, vielmehr beharrt Nietzsche auf der feinen, aber essenziellen Unterscheidung zwischen Symbolisierendem und Symbolisiertem.75 Deutlich wird dies in seiner Vorlesung zur Geschichte der griechischen Litteratur, in der er die Harmonie der griechischen Musik nicht als zeitgleichen Zusammenklang verschiedener Tonlagen im modernen Sinne beschreibt, sondern vielmehr als Ordnung der Aufeinanderfolge der Töne.76 Durch Harmonie und Melodie – denn „die Melodie ist nur eine Abbreviatur der Harmonie“ (N 1869/70: 3[54] VII 75) – kommt demnach ein zeitliches Nacheinander anstelle des architektonisch-apollinischen Nebeneinanders, kommt Bewegung in die Musik. Beide Pole dieses Gegensatzpaares, der räumliche, unterteilende Rhythmus und die zeitliche Harmonie, gehören jedoch der symbolischen Ordnung der Kunst an. Auch der Ton und die Harmonie in der Musik sind keine Entsprechungsmomente des Dionysischen, sondern Symbole.77 Sie symbolisieren insofern Zeitlichkeit durch aufeinander folgende anstelle von gleichzeitigen Eindrücken, sie rücken dem ‚Dionysischen’ in diesem _____________ 74 Klaus-Detlef Bruse, Die griechische Tragödie als Gesamtkunstwerk. Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 156–176, hier 169, sieht die apollinische Interpretation des Rhythmus in diesem Zitat als eine Anlehnung an Wagners Beethoven-Schrift, der den Rhythmus der plastischen Welt zugeneigt sieht. Gegen den Einfluss Wagners auf Nietzsches Rhythmus-Konzept argumentieren dagegen Dufour, La physiologie de la musique und Klaus Kropfinger, Wagners Musikbegriff und Nietzsches „Geist der Musik“, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 1–12. 75 Auf die ‚Übersetzungsleistung‘ durch Symbole in Bezug auf Sprache und Musik bei Nietzsche weist Böning, Das Buch eines Musikers, 94ff., dezidiert hin. Claudia Crawford, Nietzsche’s Great Style: Educator of the Ears and of the Heart, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 210–237, hier 211 und 216, zeigt zusätzlich überzeugend auf, inwiefern rhythmische Symbolik als unbewusste eine stärkere emotionale Wirkung entfacht. Dass jedoch diese unbewusste Symbolik bereits dem frühen Nietzsche als Ergebnis einer stärkeren Internalisierung ästhetischer Konventionen gilt und daher ebenso ein – nur unbewusst gewordenes – „concept“ erfüllt wie die bewusste logische Semantik, berücksichtigt sie nicht. 76 „Vielstimmigkeit unerhört; das was die Griechen ἁρμονία nennen, hat mit unsrer Harmonielehre nichts zu thun“ (N 1874/75: KGW II5 20), sondern, wie er später notiert, die Harmonie „bezeichnet das richtige Verhältniß der Töne in der Aufeinanderfolge, nicht im Zusammenklang“ (BAW 1878/79: V 369). Seine Quelle für die Annahme einer homophonen Musik der Griechen könnte hier Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 390, sein, der eindeutig bestimmt: „Dass die Musik der hellenischen Blüthezeit, abgesehen vielleicht von einzelnen Instrumentalverzierungen, Cadenzen und Zwischenspielen, durchaus einstimmig gewesen ist, oder die Stimmen miteinander höchstens in der Octave gingen, kann jetzt wohl als festgestellt gelten.“ 77 „[D]ie Harmonie [ist] Symbol der reinen Essenz des Willens“ (N 1870: DW 574).
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Sinne näher als die apollinische Musik es vermochte, ohne jedoch mit dem pausenlosen Werden und Vergehen der Naturzeit, in der keine Form Dauer hat, zu verschmelzen. Doch auch der Rhythmus verändert sich durch das Eintreten dieser neuen Symbolik in die Musik. Nicht länger bezeichnet Nietzsche ihn als einen musikalischen Fremdkörper, wie er noch in seiner Charakterisierung der apollinischen Musik als architektonische Rhythmik erschien.78 Er trägt „fast noch den Typus der Erscheinung an sich“ (s.o., DW 574), aber er entspricht nicht mehr der in sich geschlossenen Bewegungslosigkeit starrer, durch klare Punkte, Tropfen oder Taktschläge abgegrenzter Zeiträume. Er gerät in Bewegung wie die „Oberfläche der bewegten See, während sie in der Tiefe stürmt“ – ein Bild, das Nietzsche für die Opposition von Wort und Gefühl gebraucht (N 1869/70: 2[10] VII 48) – und bleibt dennoch Oberfläche.79 Die Musik selbst, innerhalb derer die Bewegung der Harmonie und Melodie wie in einem geschützten Wasserglas den Ozean der tatsächlichen Naturbewegungen symbolisiert, wird nicht zur Natur, sondern findet in ihren dionysisch verfeinerten Gestaltungsmitteln einen Weg, das Potenzial der Natur angemessener auszudrücken als noch die apollinische Kunst. Nietzsches Ästhetik sucht nicht das Kunstgesetz im gestaltenfeindlichen Naturgesetz aufzulösen, sondern der formlosen Natur die Kunstgesetze wie einen Schleier überzuwerfen, um sie in erträglicher Gestalt sichtbar zu machen. Die anthropologische Bedeutung der Kunstgesetze, die einerseits die Annäherung an die Natur erlauben, dies jedoch andererseits nur unter der Bedingung der unüberschreitbaren Trennlinie des Symbolischen, wird hier unmittelbar ersichtlich. Hanslick sieht in seinem Buch Vom Musikalisch-Schönen diese symbolisierende Übertragung der Naturwirklichkeit durch mathematische Gesetzmäßigkeiten gewährleistet: für ihn ist es die Mathematik, die Natur und ästhetische Sphäre trennt: Die „Musik“ der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Uebergang von der ersten zur zweiten geht durch die Mathematik. (Hanslick 1854: 89) _____________ 78 Ton und Harmonie charakterisierte Nietzsche bereits zu Beginn der Geburt der Tragödie in der apollinischen Musik als dionysische Elemente, die durch die starre rhythmische Architektonik aus der Musik ausgeklammert werden (GT 1872: 33). 79 Ein Jahr nach Erscheinen der Geburt der Tragödie wird Nietzsche in seiner von ihm bewusst nicht veröffentlichten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne dieses Bild eindrucksvoll verwenden: die Kunst der Sprache (als apollinische Symbolik des Dionysischen) muss „ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden“ (N 1873: WL 882). Auf dieses Bild als Metapher für Nietzsches Auffassung vom Rhythmus wird in der Schlussbetrachtung noch einmal eingegangen.
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Er weitet seine musikalische Ästhetik hier zu einer grundsätzlichen Aussage über die Kunst aus: in jeder ihrer Erscheinungsformen, sei es Poesie, Malerei, Tanz oder Architektur, bildet die Mathematik die unabdingliche Grundlage der ästhetischen Übersetzungsleistung: Mathematik webt im Gleichmaß der Vers- und Strophenlängen [...] in den Figuren des Tänzers.80
Auch Hermann von Helmholtz betont in seiner Lehre von den Tonempfindungen81 die grundsätzliche Voraussetzung arbiträrer und stufenförmiger, d.h. quasi mathematischer Maßeinheiten wie der Tonleitern für jede musikalische Kunst, um sie überhaupt als solche wahrnehmbar zu machen. In dieser Bedeutung einer idealen mathematischen Messeinheit als Voraussetzung für die musikalische Wahrnehmung setzt Helmholtz den Rhythmus mit den Tonleitern gleich und bezeichnet dies als communis opinio der zeitgenössischen Musikwissenschaft. Die musikalische Tonleiter ist gleichsam der eingetheilte Maassstab, an dem wir den Fortschritt der Tonhöhe messen, wie der Rhythmus dasselbe für die Zeit ist. Die Analogie zwischen Tonleiter und Rhythmus ist deshalb auch den musikalischen Theoretikern der ältesten wie der jüngsten Zeit immer aufgefallen. (Helmholtz 1877: 418)
Nietzsche zählt entsprechend in seiner bereits erwähnten Notiz (N 1869/70: 3[20] VII 66) die Rhythmik zu den Kunstgesetzen der Übertragung in die symbolische Sphäre, sie formt die Gesetze einer künstlerischen, nicht einer natürlichen Sprache. In der griechischen Tragödie sind es die Bewegungen der Tänzer, die den gesetzmäßigen rhythmischen Rahmen der ästhetischen Sphäre markieren – ihr Tanzen bezeichnet Nietzsche, wie bereits erwähnt, nicht als Wirbeln, sondern als ein schönes und gemessenes Gehen (N 1870/71: RH 270). Der Rhythmus des Tanzes und der poetischen Sprache laufen gleichsam parallel zueinander als Verkörperung einer bemessenen Struktur, auf deren Grundlage das musikalische Kunstwerk als solches wahrgenommen werden kann, wie Nietzsche in seinem Vortrag Das griechische Musikdrama anschaulich macht: _____________ 80 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 48: „Am musikalischen Kunstwerk hat die Mathematik einen ebenso kleinen, oder ebenso großen Antheil, wie an den Hervorbringungen der übrigen Künste. Denn Mathematik muß am Ende auch die Hand des Malers und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß der Vers- und Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des Tänzers. In jeder genauen Kenntniß muß die Anwendung der Mathematik, als Vernunftthätigkeit, eine Stelle finden. Nur eine wirklich positive, schaffende Kraft muß man ihr nicht einräumen wollen [...].“ Neumeyer, Klang der Steine, 70, führt denselben Nachweis für Nietzsches Begriff der Architektonik als eines minimalen Bestandteils jeder Kunst und verweist in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Lektüre von Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, Hildesheim 1961, Band I, 38. 81 Nietzsche lieh sich das Buch, wie bereits erwähnt (Kap. 1.1.2., Anm. 22), 1870 aus der Basler Universitätsbibliothek aus.
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Dem musikalisch-rhythmischen Periodenbau, der sich im strengsten Parallelismus mit dem Text bewegte, lief nun andernseits, als äußerliches Ausdrucksmittel, die Tanzbewegung zur Seite, die Orchestik. In den Evolutionen der Choreuten, die sich vor den Augen der Zuschauer wie Arabesken auf der breiten Fläche der Orchestra hinzeichneten, empfand man die gewissermaßen sichtbar gewordene Musik. (N 1870: GMD 530)
Wie Schmidt annimmt, zitiert Nietzsche mit der Arabeske wahrscheinlich eine Passage aus Hanslicks Buch Vom Musikalisch-Schönen, in der dieses Ornament als „schöne Form[ ] ohne den Inhalt eines bestimmten Affekts“ bezeichnet und mit der Musik verglichen wird.82 An anderer Stelle zieht Hanslick die Arabeske als Beispiel für die Wirkung der Schönheit heran, die durch die „Harmonie ihrer Theile, ohne Beziehung auf ein außerhalb existirendes Drittes“ gefällt.83 Wenn Nietzsche sich in dieser Passage auf Hanslicks Erwähnung der Arabeske bezieht, so vergleicht er den getanzten Rhythmus der Tragödie mit einer Form, die sich selbst genügend eine abstrakte Schönheit darstellt, die durch klare Proportionen und Gesetzmäßigkeit ausgezeichnet ist. Ein weiterer, von der Forschung bislang unberücksichtigter Stichwortgeber für Nietzsches Wortwahl der Arabeske mag hier wiederum Helmholtz gewesen sein, der am Beispiel dieser Form wie Hanslick – und auch Worringer (vgl. Kap. 1.1.1.) – die Grundlagen der Ästhetik als mathematisch-symmetrische aufzeigt: Man könnte mir einwerfen, dass die Architektur in ihren Arabesken [...] vielfältig continuirlich gekrümmte Linien, statt stufenförmig gebrochener anwendet. Aber erstens begann die Kunst der Arabesken in der That mit der griechischen Mäanderlinie, welche aus rechtwinklig dargestellten, geraden Linien zusammengesetzt ist, die in genau gleichen Abständen von einander verlaufen und stufenförmig sich absetzen [...]. Während aber so in den einzelnen kleine Verziehrungen der Architektur freiere Formen zugelassen sind, wird für die Gliederung des grösseren Ganzen, sei es einer _____________ 82 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 45: „In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affects bringen kann, zeigt uns recht treffend ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske.“ Vgl. den Hinweis auf Hanslick in Bezug auf Nietzsches Verwendung der Arabeske bei Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, 46. 83 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 36f.: „Das Schöne [...] kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine andere Erklärung duldet, als höchstens die innere Zweckmäßigkeit der Erscheinung, die Harmonie ihrer Theile, ohne Beziehung auf ein außerhalb existirendes Drittes. Es gefällt uns an sich wie die Arabeske [...].“ Hanslick könnte hier von Kants in der Kritik der Urteilskraft entwickeltem Begriff der „freie[n] Schönheit (pulrchritudo vaga)“ beeinflusst sein, der sich auf die Ornamentik der Griechen bezieht: „So bedeuten die Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen, oder auf Papiertapeten u.s.w. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten. Man kann auch das, was man in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text, zu derselben Art zählen“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Darmstadt 1998, [B 49] 310).
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Arabeskenreihe oder der Reihe der Fenster, Säulen u.s.w. eines ganzen Gebäudes, doch immer das einfache arithmetische Gesetz der stufenweisen Wiederholung gleicher Theile in gleichen Abständen festgehalten. (Helmholtz 1877: 416f.)
Diese symmetrische Grundstrukturierung der Kunst als „stufenweise Wiederholung gleicher Theile in gleichen Abständen“ evoziert eine rhythmische Gestalt, wie Helmholtz am Beispiel der Tonleitern bereits hervorhob. Auch bei Hanslick folgt unmittelbar auf seine Ausführungen zur Arabeske ein Hinweis auf den rhythmischen Bau der Musik: Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus. Rhythmus im Großen, als die Uebereinstimmung eines symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß. (Hanslick 1854: 32)84
Wollte man Hanslicks Interpretation des Rhythmus als symmetrische Grundstruktur vorbehaltlos auf Nietzsches Beispiel der getanzten Arabeske übertragen, so müsste man behaupten, der Tanz der tragischen Choreuten sei nicht „sichtbare Musik“, sondern sichtbare Mathematik. Doch Nietzsche interessiert an dieser Deutung des Rhythmus wohl weniger deren Betonung einer absoluten Gesetzmäßigkeit, sondern vor allem die Kreation einer nicht mimetischen, eigenständigen Sphäre der Kunst. Dieter Borchmeyer weist bei Nietzsche und Hanslick auf den „a-mimetischen Charakter“ der Arabeske in der Tradition der Romantik hin.85 Doch am Beispiel der Arabeske werden nicht nur die Ähnlichkeiten im Denken Hanslicks und Nietzsches deutlich, sondern zugleich auch ihre entscheidende Differenz. Hanslick verfolgt in seinem Buch, dem Vorwort zur Auflage seines Buches von 1865 zufolge, zwei Grundsätze: erstens, dass sich aus dem Gefühl keinerlei musikalische Gesetze herleiten lassen und zweitens, dass die Schönheit musikalischer Werke allein in den der Musik immanenten Gegebenheiten begründet liegt und nicht ‚außerhalb‘, der Musik, d.h. im nicht Symbolisierten, zu finden ist.86 Dem ersten Grundsatz folgt Nietzsche mit seiner ästhetischen Symbolik als eigengesetzliche Sphäre unbedingt, bereits 1862 notiert er _____________ 84 Die folgende Notiz Nietzsches lehnt sich evtl. an Hanslicks Formulierung an: „Wodurch unterscheidet sich die Rhythmik der Bewegung und die Rhythmik der Ruhe (d.h. der Anschauung)? Große Verhältnisse der Rhythmik können nur von der Anschauung gefaßt werden. Dagegen ist die Rhythmik der Bewegung im Einzelnen und Kleinsten viel exakter und mathematischer. Der Takt ist ihr eigenthümlich“ (N 1869: 1[46] VII 23). 85 Dieter Borchmeyer, „Absolute Musik“ – Nietzsche, Hanslick und die Ästhetik des späten Wagner, in: ders., Das Theater Richard Wagners, Stuttgart 1982, 102–125, hier 118: „Die Arabeske ist für Friedrich Schlegel die Grundform der poetischen Phantasie und aufgrund ihres a-mimetischen Charakters die Chiffre der ‚absoluten Malerei‘, welche sich am Modell der Musik orientiert. Nach den Worten von Novalis sind Arabesken ‚sichtbare Musik‘.“ 86 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 18653, VIII und IX.
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sich (vielleicht schon da von Hanslick angeregt): „Das Gefühl ist gar kein Maßstab für die Musik“ (BAW 1862: II 114). Maßstab, Gesetz und Grenze der Musik bildet in der tragischen Ästhetik der a-mimetische Rhythmus, der jedoch – und hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Hanslick und Nietzsche – trotzdem ein Ausdruck des Dionysischen bzw. des Gefühls sein will. Bei Nietzsche tritt die Zeichnung von Arabesken mittels der rhythmischen Bewegung der Choreuten in der Tragödie an die Stelle des rein mathematischen Rhythmus als starre Architektonik in Tönen. Der Rhythmus zeichnet nunmehr bewegte Bilder, „Evolutionen“ (s. o. GMD 530), Veränderung und Bewegung. Es handelt sich nicht um eine genuin räumliche, eine architektonische Struktur, sondern um ihre Öffnung für Zeit- und Vergänglichkeit, die den apollinischen Kunstgesetzen diametral entgegengesetzt sind. In der sinnlichen und vergänglichen Gestalt der Körper im gemeinsamen rhythmischen Tanz wird ein Gleichnis oder Symbol des dionysischen Potenzials der Musik geformt und solchermaßen in eine bildliche Sphäre gehoben.87 Gefühle und Empfindungen mögen zwar, wie Nietzsche übereinstimmend mit Hanslick schrieb, keinen Maßstab der Kunst abgeben, denn sie weisen durch ihre Flüchtigkeit und Unkontrollierbarkeit Nähe zur elementaren Natur auf. Doch werden sie von Nietzsche nicht aus der Kunst ausgeschlossen, sondern vielmehr mittels der Rhythmik in einer symbolischen Ordnung und Bildlichkeit wiedergegeben: In der Wortsprache der Tragödie sind laut einem Notat Nietzsches „die Rhythmen, die Tempi’s, die Stärke und Betonung [...] symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt“ (N 1869/70: 2[10] VII 48). Es besteht insofern eine Verbindung zwischen Gefühlsdarstellung und Rhythmik, die gleichermaßen das bewegliche Gefäß des Gefühls bildet. Ein Jahr später notiert er sich: Die Gemüthsbewegung offenbart sich in einer analogen körperlichen Bewegung./ Diese wiederum wird in Rhythmus und Dynamik des Wortes ausgedrückt. (N 1870/71: 8[67] VII 248)
Die von der körperlichen Tanzbewegung getragene Rhythmik schafft eine spiegelbildliche Sphäre des unbildlichen emotionalen Vorganges. Mit dem zweiten Grundsatz Hanslicks, der die Kunstgesetze allein im immanenten Spiel einer mathematisch grundierten Ästhetik verwirklicht sieht, kann Nietzsche daher nicht übereinstimmen. Die tragische Rhythmik ist doppelbödig: sie gibt dem Dionysischen als dem Unmäßigen in Gestalt der Naturtriebe, der Emotionen oder auch einer haltlosen Zeit einen Ausdruck und bleibt dem Ausgedrückten zugleich unüberwindbar fern. Am Beispiel einer apollinischen Mysterienordnung _____________ 87 „[D]ie gesteigerte Geberdensymbolik des Menschen ist, an der ewigen Bedeutsamkeit der Musik gemessen, nur ein Gleichniß, das deren innerstes Geheimniß gar nicht, sondern nur ihre rhythmische Außenseite und auch diese nur sehr äußerlich, nämlich am Substrat des leidenschaftlich-bewegten Menschenleibes, darstellen kann“ (N 1871: 12[1] VII 359).
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entwickeln Hemelsoet, Biebuyck und Praet den hier am Symbolbegriff aufgezeigten Zusammenhang eindrücklich: Mit der „Mysterienlehre der Tragödie“ (GT 1872: 73) ist ein geordneter und institutionalisierter – in unserem Sinne ‚symbolischer‘ – Rahmen gegeben, innerhalb dessen die dionysische Wahrheit, die sich immer der Beschreibung entzieht, überhaupt erst bezeugt werden kann.88 Die Kunst symbolisiert die elementare Natur, ohne Natur zu sein. Hanslicks Konzept dagegen bliebe, wenn man Nietzsches mythologische Entwicklungsgeschichte der Kunst heranzieht, gleichsam auf der Stufe einer dorisch-apollinischen Kunst stehen, die sich in der Selbstbestätigung ihrer Gesetzmäßigkeit abstrakte Formen von Dauer und Ewigkeit schaffen will. Die Differenz zwischen apollinischem und tragischem Kunstwerk besteht für Nietzsche jedoch gerade darin, dass nicht allein die Gesetzmäßigkeit und Symmetrie der apollinischen Scheinwelt ausgedrückt und befolgt, sondern auch dem jenseits und gegen diese Formenwelt stehenden Einfluss des Zeitlichen innerhalb dieser Formen Platz eingeräumt wird, das sie zu vernichten droht. 1.2.3. Der Wettkampf als Rhythmus In seiner Basler Vorlesung zu Sophokles im Sommersemester 1870 betont Nietzsche in Bezug auf die Tragödie: [D]aß wir es mit einem Gefangenen zu thun haben, zeigt die große Behutsamkeit und Strenge der dramatischen Regel: die feststehenden Mythenstoffe, die geringe Zahl der Choreuten u. der Schauspieler, das Maaß im Genuß dieser dionysischen Festtage zeigt, wie gefährlich das Element sei, daß es die gefährlichsten Mächte der Natur seien, gleichsam die Panther u. Tiger, die den Wagen des Dionysus ziehn.89
Die Feier des Dionysischen wird auf bestimmte Zeiten und Orte festgelegt, die „das Maass im Genuss dieser dionysischen Festtage“ gewährleisten. Der kultische Ritus gibt jenem gefährlichen Element demnach nicht nur Raum, sondern beschränkt diesen zugleich streng auf bestimmte zeitliche Perioden.90 Die be_____________ 88 Hemelsoet/Biebuyck/Praet, Mysterienordnung, 26: „So ist die Mysterienordnung ein Phänomen der apollinisch strukturierten Welt; zugleich ist sie aber der einzige Weg zur temporalen Durchbrechung der apollinischen Ordnung und zur unmittelbaren Einsicht in die dionysische Existenzmöglichkeit dieser Welt.“ 89 Aus Nietzsches Vorlesungsnotizen (Sommersemester 1870) zur Einführung in die Tragödie des Sophocles, N 1870: KGW II3 12. 90 Ein Zusammenhang, auf den Enrico Müller, Aesthetische Lust, 145, in seiner differenzierten Studie zum Apollinischen und Dionysischen hinweist und ihn als Bestätigung des Apollinischen durch seine rituelle Überschreitung und Infragestellung deutet. „Die Geburt der Tragödie verbindet das tragische Geschehen in bis heute singulärer Weise mit der dionysischen Festkultur“, hebt er hervor. Das Dionysische der Tragödie dient in Nietzsche Ästhetik daher dazu, das Apollinische, die kulturellen Errungenschaften durch ihre Ent-
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grenzte Konzentration der Naturmächte auf die Festtage ermöglicht auf der anderen Seite auch Zeiten der Befreiung von ihnen und erreicht dadurch jene kultisch aufgehobene Dichotomie von Grauen und Kontrolle des Grauens, die Hemelsoet, Biebuyck und Praet am Terminus „Mysterienordnung“ bei Nietzsche herausgearbeitet haben.91 Diese kultische Ordnung lässt sich mit Nietzsche auch als Rhythmik verstehen. In Schopenhauers Terminologie bezeichnet er die Rhythmik in einer Notiz als ein zeitweiliges Stocken, als „Intermittenz“ des (dionysischen) Willens: Intermittenzformen des Willens – Rhythmik (N 1869/70: 3[19] VII 65)
Der Rhythmik gesteht er hier die Macht zu, den „Willen“, d.h. das unablässige ewige dionysische Werden als Naturkraft ohne Grenzen92 kurzzeitig zu unterbrechen. Diese Charakterisierung kann wiederum auf die periodische Wiederholung und Eingrenzung des Dionysischen bei den Festlichkeiten der griechischen Tragödie rückbezogen werden. Die rhythmische Wiederholung der Aufführungen strukturiert die natürliche dionysische Wildheit der barbarischen Kulte, indem sie sich ihr zugleich öffnet und verschließt. Die Festtage bedeuten Öffnung, alle übrigen Tage Ausschluss für den Gott. Dass Nietzsche dieses zeitliche rhythmische Ordnungsprinzip als Entstehungsbedingung der griechischen Kunst versteht, wird erneut an seiner Darstellung der hellenischen Wettkämpfe deutlich. Hier demonstriert er, wie die zerstörerische Naturgewalt durch zeitliche und räumliche Maßvorgaben ästhetisch fruchtbar gemacht wird. In der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie notiert er sich: Der Dichter überwindet den Kampf um’s Dasein, indem er ihn zu einem freien Wettkampfe idealisirt. (N 1871/72: 16[15] VII 398)
Die Anspielung auf Thomas Hobbes’ Darstellung des Naturzustandes als eines Kriegs aller gegen alle ruft Nietzsches Schilderung der dionysischen Natur in der Geburt der Tragödie in Erinnerung. Er beschreibt die Natur dort als eine Urkraft, die in ihrer ungeheuren Potenz keiner Erscheinung Bestand lässt, da immer wieder Unmengen neuer Erscheinungen ins Leben drängen: Die Natur kennzeich_____________ grenzung hervorzuheben und Selbstspiegelung zu betreiben, nicht aber es zu verwerfen (ebd., 147ff.). „[N]icht die Regression ins Chaos, sondern das Sichtbarwerden der Grenze als Grenze und die damit verbundene Erfahrung der Fragilität und Bedrohbarkeit der Form sind eigentlicher Sinn des diesbezüglichen ästhetischen Verhaltens“ (ebd., 152). 91 Vgl. Hemelsoet/Biebuyck/Praet, Mysterienordnung, 13: Zur „Mysterienordnung“ schreiben sie in Anknüpfung an den Begriff der „vermittelten Unmittelbarkeit“ von Figal, Nietzsche, 79: „Nur wenn in dieser Welt eine klare Ordnung herrscht, eröffnet sich dem Menschen ein Weg zu einer anderen Welt. Die kultische Organisation der Mysterien mit ihren festen Ritualen lässt sich also als eine Vermittlung der Unmittelbarkeit bestimmen.“ 92 Schopenhauer bezeichnet den Willen als „Naturkraft selbst“ (WWV I 228), die keine „Gränzen“ und kein Ziel kennt, die „endloses Streben“ und „ewiges Werden“ ist (ebd., 229).
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net eine, wie er dort schreibt, „unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen [...] bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens“ (GT 1872: 109). In der dionysischen Natur gleichen sich Schöpfung und Vernichtung in ihrer untrennbaren Dynamik einander an, die keiner Gestalt Dauer zugesteht.93 Der Kunst jedoch gelingt es in Nietzsches ästhetischem Konzept, beide Impulse zeitweilig voneinander zu trennen und einen kurzen Moment des Stockens zwischen ihnen zu erlauben, in denen eine Form sichtbar wird. Deutlich wird dies in seiner wiederholten Auseinandersetzung mit der besonderen Gestalt der griechischen Wettkämpfe. Hier macht sich die Kunst die Schöpfungskraft der Natur zu eigen, kann sich ihrer gnadenlosen Zerstörungskraft jedoch dadurch entziehen, indem sie deren unablässigen Vernichtungskampf als Wettstreit idealisiert. Der feine Unterschied, der Wettkampf und Daseinskampf der Natur voneinander trennt, liegt in der exakten Bemessung des Freiraums, der dem Vernichtungswillen gegeben wird. Den Wettkampf sanktionieren genaue Bestimmungen und Regeln: zwei Kämpfer messen ihre Kräfte an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt und unterliegen einer Bewertung durch eine festgelegte und tradierte Norm. Das Prinzip des Wettkampfes bringt es mit sich, dass zwei einzelne Gestalten aus der Masse als deutlich wahrnehmbare Individuen hervortreten, die als Einzelexistenzen im naturhaften ‚Kampf um’s Dasein‘ keinen Moment lang Bestand hätte. Die Regeln des Wettkampfes geben der brutalen Wildheit des Kampfes Raum und stellen zugleich die Gestalt der individuellen Kämpfer heraus. Gerade diese Betonung des Individuellen im Wettkampf ist es, die Nietzsche in einer Notiz mit Rhythmus in Verbindung bringt.94 Bereits in seinen Untersuchungen zur hellenischen Rhythmik wertete er den Rhythmus als „Versuch zur Individuation“ (N 1870/71: RH 338). In Bezug auf den Wettkampf heißt es nun: _____________ 93 Das Bild von der Natur als „Kampf um’s Dasein“ evoziert die Evolutionstheorie Darwins, mit deren Implikationen sich Nietzsche auseinandersetzte. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Verzeitlichung des Denkens, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 19 (1996), 17–28, hier 19: „Der entscheidende Anstoß, die Zeit nicht mehr durch den Begriff eines unveränderlichen ‚Wesens‘ zu tilgen, sondern das ‚Wesen‘ selbst als zeitliches zu denken, kam von der Biologie, von der Evolutionstheorie Darwins“. Vgl. ders., Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), 264–287. Die Konsequenz, so Stegmaier, Nach Montinari, 83, die Nietzsche aus der Absage an zeitlos gegebene Arten in der Natur zieht, ist die eines schutzlosen Ausgesetzt-Seins im unablässigen Wandel der Zeit: „Wird aber auf ein zeitloses Allgemeines überhaupt verzichtet, sind die Individuen einander und der Zeit unmittelbar ausgesetzt [...].“ Zu Darwin vgl. auch Kap. 2.2.2. dieser Arbeit. 94 „Der Wettkampf – als Rhythmus – Ehre, Individuum. Der Rhythmus“ (N 1871/72: 16[11] VII 396).
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Das Volk Apollo’s ist auch das Volk der Individuen. Ausdruck der Wettkampf. (N 1871/72: 16[15] VII 398)
Die Regeln des Kampfes bestimmen, dass es Sieger und Besiegte geben muss, dass das siegreiche Individuum gefeiert und verehrt wird, der Verlierer jedoch tragisch zugrunde geht. Doch handelt es sich hier um keine „Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung“, wie Nietzsche den Anspruch der apollinischen Kunst beschrieb (vgl. Kap. 1.1.). Denn der Sieger muss sich, den Regeln des Wettkampfes gehorchend, nach einer gewissen Zeitspanne wieder einem neuen Gegner stellen. So wahrt der Wettkampf ein ideales, über dem Geschehen waltendes Maß, denn keiner der aus der Masse hervortretenden Einzelkämpfer wird je auf Dauer alle Macht an sich reißen können. Diesen Gedanken führt Nietzsche Ende 1872 in Homer’s Wettkampf weiter aus: [M]an beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der „Exclusivität“ des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß, in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung [...]. (N 1872: HW 789)
Die Ringer im griechischen Agon bilden eine Mittlerposition zwischen Natur und Individuation: auf der einen Seite droht der gestaltlose Vernichtungskampf der dionysischen Natur, in dem so viel schöpferisches Gestaltungspotential miteinander konkurriert, dass keines zur Geltung kommt, und auf der anderen droht die absolute Dominanz einer Einzelgestalt, des „überragende Einzelnen“, der alles Lebendige außer ihm, der das „Wettspiel der Kräfte“ um sich herum abtöten würde. Dem Einzelnen wird im griechischen Wettkampf zwar für einige Zeit absolute Gültigkeit verliehen, jedoch auch ausreichend ebenbürtige Konkurrenz geboten, um diese Zeitspanne nicht allzu lang auszudehnen.95 Im Wettkampf offenbart sich für Nietzsche daher eine ideale und gerechte Ordnung (díke): Wunderbarer Prozeß, wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine δίκη anerkennt: wo kommt diese her? Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen. (N 1871/72: 16[22] VII 402)
Am Beispiel des Wettkampfes vollzieht Nietzsche nach, wie durch die Wirkmächtigkeit einer apollinischen Gesetzesordnung der gewalttätigen Grausamkeit der Natur Raum gegeben werden kann, ohne dass diese Entfesselung in eine _____________ 95 Herman Siemens, Agonal Configurations in the ‚Unzeitgemäße Betrachtungen‘, NietzscheStudien 30 (2001), 80–106, schließt aus diesem vorläufigen Charakter des Siegens im griechischen Wettkampf auf den Modellcharakter der griechischen Kultur und Bildung für Nietzsche (ebd., 103f.).
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totale Zerstörung mündet.96 Diese ideale Ordnung der Wettkämpfe, die der ausbrechenden Naturgewalt durch Individualisierung einen regulierenden Rahmen gibt, sieht Nietzsche erst mit dem apollinischen Zeitalter andämmern: „Die Titanenkämpfe wissen noch nichts vom Wettkampf“, in ihnen offenbare sich vielmehr noch der naturhaft dionysische Kampf ums Dasein selbst (N 1871/72: 16[22] VII 402). Entsprechend formuliert er in Homer’s Wettkampf: Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. (N 1872: HW 791)
Erst mit dem apollinischen Zeitalter Homers, erst mit den organisierten hellenischen Festen hält das an einer idealen Norm ausgerichtete geregelte Spiel unter dem wachsamen, über dem Kampf thronenden Richterauge Einzug in die griechische Kultur: Einheit der Griechen in den Normen des Wettkampfes. [...] Kampf vor einem Tribunal. (N 1871/72: 16[22] VII 402)
Der Wettkampf steht in Nietzsches Notizen schließlich seiner Ästhetik der Tragödie entsprechend sinnbildlich für das Miteinander des Apollinischen und Dionysischen, wie er es im nachhomerischen Zeitalter als Reaktion auf die erstarkenden dionysischen Einflüsse auftreten sieht.97 Die beiden gegensätzlichen Triebe nach schöpferischer Dynamik und gestalteter Form werden durch die Regeln der Spiele miteinander in einer idealen Ordnung, in einem Rhythmus gehalten: Das Apollinische und das Dionysische. Der Wettkampf – als Rhythmus – Ehre, Individuum. Der Rhythmus. (N 1871/72: 16[11] VII 396)
Der Rhythmus als rituelle bzw. regelhafte Ordnung dionysischer Ausbrüche gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen den dionysischen Kräften freier Lauf gelassen werden kann – jedoch nur innerhalb des Agons, nur zu festgelegten Tagen und unter den Augen eines wachsamen Tribunals. Der Rhythmus der Wettkämpfe, der sich zugleich im Gegeneinander zweier Kräfte wie auch in der rituellen Wie_____________ 96 Im Beispiel des Wettkampfes zeigt sich, was Pöschl, Nietzsche und die klassische Philologie, 148, als Nietzsches positive Beurteilung der griechischen Antike im Gegensatz zu Burckhardt bezeichnet: „Es ist tatsächlich ein Zug des archaischen Griechentums, daß es auch das Zerstörende als einen Teil des Lebens akzeptiert.“ 97 Die Parallele zwischen Wettkampf und tragischer Ästhetik tritt in der Geburt der Tragödie zu Tage, wenn Nietzsche den Helden als Kämpfer stilisiert, durch den die Tragödie „von dem gierigen Drange nach diesem Dasein zu erlösen weiss“. Der in der Tragödie regelhaft gewordene Untergang des Helden, nicht sein Sieg gemahnt an ein anderes Sein (GT 1872: 134). Auch die Idee der Intermittenz, der zeitlich begrenzten Entfesselung aller Kräfte zum Gewinn ruhigerer Phasen, klingt in Nietzsches Beschreibung der Tragödie als „Ruhigwerden durch Austobenlassen [...]“ an (N 1869/70: 3[33] VII 69).
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derholung dieser Kämpfe manifestiert, wird insofern zu einem übergeordneten Maßstab, wie er in der Natur nicht gegeben ist. Denn die Natur kennt keine Feier des Siegers, sie kennt kein Tribunal, das ihn als solchen markiert und nach einiger Zeit in den nächsten Zweikampf schickt. Genuin kulturelle Faktoren – Tradition, Bildung und Ethik („Ehre“) stabilisieren jenen Rhythmus als Maß der Wettkämpfe, der die Natur am Ausbrechen ihrer vollen Potenz und Zerstörungskraft hindert. Im ersten Kapitel wurde bereits dargelegt, wie Nietzsche die hellenische Welt aus ihren erträumten idealen Ordnungen entstehen sieht, indem die Griechen ihre rhythmischen und symmetrischen Traumwelten auf die Wirklichkeit übertragen und einüben. Der griechische Agon gleicht einem solchen Übungsfeld. Eine ideale rhythmische Abfolge und Regel wird festgelegt und nach diesem Gesetz findet der Kampf statt. Unter der Voraussetzung der staatlich sanktionierten Gültigkeit der Regeln des Wettkampfes, die bereits im Gymnasion antrainiert werden, kann nun dem Dionysischen in Gestalt des Vernichtungskampfes zweier Individuen Raum gegeben werden – an einem begrenzten Ort zu einer begrenzten Zeit. Das rhythmische Maß des Wettkampfes, das im natürlichen Kampf ums Dasein nicht gilt, bildet insofern die unabdingliche Voraussetzung der dionysischen Entfesselung in der griechischen Kunst.98 In der Fähigkeit zur Kreation einer symbolischen Ordnung, die ihre genuin eigenen Regeln etabliert, sieht Nietzsche eine kulturelle Leistung, die nicht zuletzt auch der menschlichen Sprache zugrunde liegt. Auch dieser grundlegenden anthropologischen Errungenschaft schreibt er einen Rhythmus zu – in seinen Notizen findet sich kurz nach der Erwähnung von „Krieg und Wettkampf“ die Bemerkung: „Der Rhythmus uralt in der Sprache thätig.“ (N 1871/72: 16[43] VII 408)
Nun könnte man denken, mit dieser Beobachtung sei ein gewissermaßen natürliches Erwachsen sprachlicher Laute aus organisch-natürlichen ‚rhythmischen’ Abläufen gemeint. Doch anstelle dessen weist Nietzsche erneut auch hier auf die _____________ 98 Vgl. die Bedingtheit von Zivilisation und dionysischem Ausbruch bei Nietzsche, auf die Figal, Nietzsche, 79, hinweist: „So bekommt es [das Dionysische, FFG] Gestalt und läßt sich im begrenzten Rahmen ausdrücklich erfahren. Das ist nur möglich gewesen, weil das Sich-Mitreißenlassen vom Leben jetzt im Rahmen der Zivilisation, unter ihren Bedingungen geschieht. Es ist vermittelte Unmittelbarkeit geworden [...].“ Auch an dem von Hemelsoet/Biebuyck/Praet, Mysterienordnung, wie auch bereits oben in Bezug auf die Webkunst behandelten Zitat zur Mysterienordnung lässt sich diese Bedingtheit von Ordnung und Einlass des Dionysischen demonstrieren: „Als sich jene ekstatischen Zustände in die Mysterienordnung eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt und jetzt konnte der Staatengott, ohne Besorgniß, daß der Staat dadurch zertrümmert werde, und Dionysos ihren sichtbaren Bund schließen [...]“ (N 1870/71: 1[123] VII 178f.).
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grundsätzliche Differenz zwischen naturhafter Eingebundenheit und symbolisch-kultureller Übersetzungsleistung hin (vgl. Kap. 1.2.2.). Ein Begriff sei nämlich „ursprünglich ein Bild“, wie er sich notiert: „Die Sprache, eine Summe von Begriffen./ Der Begriff, im ersten Moment der Entstehung, ein künstlerisches Phänomen: das Symbolisiren einer ganzen Fülle von Erscheinungen [...] . Also ein Bild anstelle eines Dings. [...] So beginnt der Mensch mit diesen Bilderprojektionen und Symbolen.“ (N 1870/71: 8[41] VII 238f.)
Am Ursprung der Sprache steht keine langsame Loslösung aus einer naturhaft dionysische Ganzheit, sondern nicht nur die Sprache, sondern der Mensch überhaupt beginnt erst mit „Projektion“ und „Symbol“. Die Vielfalt der Wirklichkeit wird bei dieser Übersetzung anschaulich gemacht, sie wird zum geformten Bild. Die Sprache entstehe, so heißt es in derselben Notiz, aus „apollinischen Spiegelungen des dionysischen Grundes“ (N 1870/71: 8[41] VII 238),99 und im Begriff der Spiegelung muss man – ähnlich wie im Begriff der Übersetzung oder Symbolisierung – die entscheidende kulturelle Leistung sehen, die Nietzsche in seiner tragischen Ästhetik als „künstlerisches Phänomen“ zu fassen sucht. Dieselben Mechanismen der Symbolisierung, der Verbildlichung eines unbildlichen Geschehens kommen in der originären Sprachbildung wie in der Tragödie zum Tragen. Die Tragödie demonstriere gleichsam „den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes“ und verdeutliche „das Werden des Wortes, von innen heraus“ (GT 1872: 138). Anders als im 1873 entstandenen Manuskript Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne hebt Nietzsche den Prozess der Begriffsbildung hier positiv hervor. Ein Wort „wird“, d.h. es gewinnt seine Existenz überhaupt erst dadurch, dass der Eindruck der ständig wechselnden Vielfalt natürlicher Erscheinungen in einen Begriff übersetzt wird, der diese Vielfalt zu symbolisieren sucht. Als Merkmal dieser anthropologischen Leistung nennt Nietzsche wiederholt das Vermögen, das in sich Unterschiedene und Variable zu Typen zusammenzufassen: Wie verhält sich der Begriff zur Erscheinungswelt? Er ist der Typus vieler Erscheinungen. (N 1872: 8[41] VII 239)
Der Begriff abstrahiert von den tatsächlichen und kurzlebigen Formen der natürlichen Erscheinungswelt, gliedert sie zu übergeordneten Typen und verleiht ihnen eben dadurch Dauer über ihre Einzelexistenz hinaus. Christian Benne hat den Prozess der ästhetischen Herausbildung von Typen auf Nietzsches philolo_____________ 99 Die Gegenüberstellung einer quasi authentischeren Symbolsprache gegen eine vernünftige Begriffssprache, wie sie Tietz, Musik und Tanz, 87, unternimmt, ist daher bei Nietzsche nicht nachvollziehbar. Tietz dagegen schreibt: „Die symbolische Sprache des Tanzes hat ihren Ort im Vorhof der propositional ausdifferenzierten Sprache des Alltags und schießt allenfalls in sie ein. Dagegen ist alle expressive Vernunft machtlos. Es gelingt ihr nicht, die symbolische Sprache auf Dauer unter Kontrolle zu halten [...].“
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gische Ausbildung bezogen, in der er lernte, aus der Vielfalt mittelalterlicher Abschriften einen „Archetypus“ herauszufiltern.100 Wie Benne zeigt, folgt Nietzsche einer ähnlichen Methodik, wenn er in seiner Basler Antrittsvorlesung den antiken Dichter Homer als eine ähnliche typisierende Konstruktion aus einer Vielfalt von Einzelphänomenen herausstellt. Dass man Homer als „Vater der Dichtkunst überhaupt“, als „unerreichbaren Prototyp“ (BAW 1869 V 300) begreift, liegt gerade nicht in seiner unverwechselbaren Originalität, sondern vielmehr in der ästhetischen Auswahl, deren Ergebnis er ist: Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Ueberlieferung, sondern ein aesthetisches Urtheil. (BAW 1869 V 299)
Nietzsche bezeichnet dieses Urteil auch als einen „aesthetischen Ausscheidungsprozess“ (BAW 1869 V 300), als formende Auswahl. Das ästhetische Urteil über Homer als Prototyp des Dichters ist das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden kulturell bedingten Selektions- und Bildungsprozesses, der nach und nach das Bild Homers als Inbegriff des Poeten hervortreten lässt.101 Eine ähnliche ästhetische Leistung liest Nietzsche in der antiken Tragödie, wenn sie dem ursprungslosen und undifferenzierten Göttlichen die Gestalt eines Helden verleiht. In der mythologischen, künstlerischen Sprache, die Nietzsche für die Tragödie voraussetzt, sind es insofern Typisierungen, die in Gestalt eines Helden Zusammenhang und bildliche Anschaulichkeit ins Undifferenzierte bringen. Die Helden des Mythos stellen gleichsam die viele Einzelerscheinungen zusammenfassenden Begriffe einer mythologischen Sprache dar. Der Held, so Nietzsche in der Tragödienschrift, sei das Ergebnis einer „Uebersetzung der instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes“ (GT 1872: 108), auch er ist ein Ergebnis jener Übertragungsleistung „in eine andere Sphäre“, wie er in Anknüpfung an Hanslick notierte (s. Kap. 1.2.2.). Wenn der Neuerer Euripides die Helden ‚natürlicher‘ erscheinen lassen will, sie also dem einzelnen und individuellen Menschen anpasst (GT 1872: 76), dann raubt er ihnen, so Nietzsches vehemente Kritik, die Symbolkraft der abstrahierenden Zusammenfassung vieler kurzfristiger Einzelleben und überführt sie wiederum in die Sphäre des Vergänglichen. Der tragische Held des Mythos dagegen soll kein _____________ 100 Vgl. Benne, Historisch-kritische Philologie, 100: „Der Philologe sucht nach den ‚Wurzeln‘ des Textes, um durch Vergleich einen Archetypus zu rekonstruieren, der dem Original, also einem mit der Absicht des Autors übereinstimmenden Text, nahe kommt.“ 101 Vgl. Benne, Historisch-kritische Philologie, 302: „Homer ist deshalb ein kanonischer Autor, weil er das ästhetische Erlebnis immer wieder zeitigt“. Auch bei diesem Beispiel steht für Benne Nietzsches philologische Grundausbildung Pate, denn die Archetypen antiker Texte, die der Philologe aus den mittelalterlichen Abschriften herausfiltert, werden nicht mit den Originalen gleichgesetzt, sondern als revidierbare Konstruktionen aufgefasst (ebd., 100). Dem Thema der Selektion und Analogiebildung widmet sich das zweite Kapitel dieser Arbeit.
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alltägliches Individuum darstellen, sondern steht beispielhaft für eine weit über ihn als individuelle Erscheinung hinaus gehende Wahrheit, er will „als ein einziges Exempel einer in’s Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden“ (GT 1872: 112).102 Der Held als Einzelner geht schicksalhaft unter; als Heldentypus aber trotzt er der unabänderlichen dionysischen Wahrheit des Untergangs, da er mit jeder Aufführung erneut ins Gedächtnis gerufen wird. Die Übersetzungsleistung in die Sprache des Bildes, in die Sphäre der symbolischen Sprache gewährleistet diese Teilhabe und gleichzeitig den Schutz vor der Verschmelzung. „[J]ene herrliche apollinische Täuschung“ nennt Nietzsche den Helden, das „Gleichnissbild des Mythus“ (GT 1872: 137). Das Leiden der Welt konzentriert sich im Bild des tragischen Helden und wird dem Zuschauer zum Mitleiden, das jedoch nicht zu einem Untergang gemeinsam mit dem Helden führt: [I]n einem gewissen Sinne rettet uns doch das Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmten Ergusse des unbewussten Willens rettet. (GT 1872: 136f.)
Die symbolische Sphäre der Sprache formt Bilder und Begriffe mit filigraner Umkleidung, durch die hindurch die Schöpfungskraft der Natur schimmert, ohne dass ihrem Vernichtungspotenzial tatsächlich stattgegeben würde. Gedanke, Wort und Körper des Helden sind Teil dieses Gewandes, das den Zuschauer vor dem ungedämmten Ausbruch des Natürlichen als Vergänglichen bewahrt. Nietzsches Trennungslinie verläuft nicht cartesianisch zwischen dem Geist als Unvergänglichem und der Physis als Vergänglichem103, sondern zwischen anthropologischer apollinischer Gestaltungskraft einerseits und der dionysischen Natur in ihrer gestaltenfeindlichen Vergänglichkeit andererseits.104 _____________ 102 Der mythologische Held der griechischen Tragödie agiert symbolisch für den dionysischen Urgrund: „[S]o ist jeder Held Symbol des Dionysos“, notiert sich Nietzsche, „[d]ies ist das Typische der antiken Figuren“ (N 1870/71: 7[81] VII 156). Die Vorstellung des Helden als Symbol, als Typus des Dionysischen erscheint in der Geburt der Tragödie als wesentliche Eigenschaft des Mythos. 103 Nietzsche zum Gegensatz von Seele und Körper in der Geburt der Tragödie: „[D]ie unphilosophische Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten Gründen, nichts lernen mochten“ (GT 1872: 139). 104 Die Differenzierung einer willkürlichen Naturzeit und einer nach festgelegten Regeln (des Wettkampfes, der Tragödie) gestalteten anthropologischen Zeit ließe sich auf die aristotelische Bewegungslehre beziehen, die Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1998, 11, in der Einleitung zusammengefasst hat: Es sei, wie er schreibt, „darauf hinzuweisen, daß Aristoteles Bewegung
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Die Gestalt des Helden und die Körper der tanzenden Choreuten können als zwei Ausprägungen einer gemeinsamen Symbolsprache verstanden werden.105 Sie bildet den apollinischen Teil der Tragödie, insofern man das Apollinische als Spiegelung des Dionysischen versteht: Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth. (GT 1872: 64)
Der Dialog der Tragödie ist in seiner vollendeten Form apollinisch – er gehorcht rhythmischen Gesetzen und Proportionen und spiegelt die Grundzüge des hellenischen Wesens, übereinstimmend mit den Tanzfiguren, die sich, wie bereits erwähnt, gleich arabesken Figuren auf dem Tanzboden als „sichtbar gewordne Musik“ abzeichnen (N 1870: GMD 530). Die Schilderung der schönen und durchsichtigen Oberfläche dieser Figuren, die zunächst an die rein apollinischen geometrischen Formen der Dorer erinnern könnten, bezieht Nietzsche jedoch auch auf das Dionysische: Die getanzten Formationen fungieren als bloße Andeutung eines immanenten Bewegungspotenzials, das in der Symbolsprache der Tragödie auf die dionysische Wandlungskraft der Natur verweist. Die Sprache in Form des Dialoges und das Schreiten in Form des Tanzes bilden zwei Elemente dieser auf jene zugrunde liegende Kraft hinweisende Symbolik. Diese Kraft äußert sich immer wieder dadurch, dass der Held der Tragödie vernichtet wird und so einem ewigen Wandel – zwar regelhaft – unterliegt. Der Held als Symbol, so lässt sich zusammenfassen, bezieht durch sein Sterben das Zeitpotenzial in das tragische Kunstwerk ein. Dem tragischen Helden gleicht der Wettkämpfer, der den in der Natur in jedem Augenblick stattfindenden und vernichtenden „Kampf um’s Dasein“ durch seine Person symbolisiert und irgendwann notgedrungen untergehen muss, weil ein anderer stärker sein wird. Anders als die mathematische, auf Ewigkeit bauende dorisch-apollinische Kunst mit ontologischem Anspruch ist der Apollinismus in der Tragödie nur mehr ein Anspruch auf Dauer, nicht auf Ewigkeit. Statt in jedem Augenblick um die Behauptung der Einzelexistenz zu kämpfen, vertritt der Wettkämpfer im räumlich und zeitlich kontrollierten Agon symbolisch den grausamen Kampf aller Einzelnen und verschafft ihnen dadurch einen Reflexionsabstand auf das eigene Schicksal. Als _____________ als den an den Dingen sich abspielenden Prozeß des Veränderns und Wechselns nur dann [...] glaubt fassen zu können, wenn er auf ein Bewegungs-Prinzip zurückgreifen kann, welches [...] von der Bewegung als akzidentiellem Prozeß [...] unterschieden und doch wesensmäßig gleichgeartet sein muß.“ 105 Jahre später wird sich Nietzsche notieren: „Wort des Simonides, der den Tanz ‚eine stumme Dichtkunst‘ nennt, wie [die] Dichtkunst redender Tanz ist“ (BAW 1878/79: V 377).
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Sieger vermag der Wettkämpfer symbolisch seinen Tod hinauszuzögern und demonstriert daher die Fähigkeit, den unausweichlichen Untergang des Lebens zu gestalten. Doch der Preis für diesen Gewinn an Gestaltungsfreiheit in der symbolischen Sphäre ist der ursprünglich apollinische Glaube an die ewige Dauer künstlerischer oder idealer Formen. Bezogen auf den Ursprung der Begriffsbzw. Symbolbildung, in der Nietzsche das Menschliche erst beginnen sieht, bedeutet dies notgedrungen auch die grundlegende Erkenntnis der Arbitrarität sprachlicher Formen und Typen. Wenn sich die ästhetischen Symbole nicht auf ewig gegebene Typen beziehen, sondern die jeweilige Typisierung von kulturellen Selektionsprinzipien abhängig ist, dann unterliegen sie notwendig der Geschichte und sind vergänglich. Gerade die Tatsache, dass Nietzsche die tragisch-symbolische Kunst nicht zeitlos, sondern vergänglich begreift, erklärt die ästhetische Bedeutung, die er der Rhythmik zuweist. Die Wahrnehmung rhythmischer Verhältnisse ändert sich mit der Zeit, worauf Nietzsche in seinen Aufzeichnungen zur Rhythmik wiederholt eingeht, so heißt es dort z.B.: „Diese Verzögerung des Achtels ist uns unbegreiflich“ (N 1870/71: RH 114), und er übt vehemente Kritik an Philologen, die von einer zeitlosen rhythmischen Wahrnehmung ausgehen (N 1870/71: RH 127).106 Der hellenische Rhythmus in Sprache und Tanz, den Nietzsche als Teil einer ästhetischen Symbolik versteht, gilt ihm nicht als unabänderliches natürliches bzw. kosmisches oder als unwandelbar gegebenes anthropologisches Strukturphänomen, sondern sein Bestehen ist abhängig von Tradition und Bildung. Nicht nur die dorisch-apollinische Rhythmik mit ihrem „Kastensystem“ der Übermittlung über Generationen hinweg, wie Nietzsche es in der Dionysischen Weltanschauung schildert (N 1870: DW 565), erhält sich durch Bildungstraditionen. Auch die Verbindung von Symbol und Symbolisiertem, wie z.B. der Konnex von einem Ton mit der durch ihn ausgelösten Empfindung, ist das Ergebnis eines langen kulturellen Trainings: Ausbildung der Symbolik des Tons: die Empfindung bei manchen Klängen wird durch Übung festgebannt. (N 1869/70: 3[13] VII 63)
Durch die Generationen überdauernde Einübung von Tonfolgen und simultan erweckten Empfindungen wird ein spezifischer Ton zum Symbol einer korrespondierenden Empfindung. Ebenso verhält es sich mit der Gebärde, die Nietzsche als Vorform des Chortanzes versteht. Die Gebärdensprache folgt in ihrer _____________ 106 Die wesentliche Aussage seiner Vorlesungen über die Rhythmik liegt darin, dass moderne und antike Rhythmik nicht nach den gleichen Prinzipien funktionieren, sondern durch ihre jeweilige historische Situation bedingt unterschiedliche Ausprägungen zeigen: „Die allgemeine Behauptung gilt, daß eine zeitmessende Rhythmik nothwendig auch accentuirend sein müsse. Historisch ist das falsch. Sogar der Ausdruck tactus gehört einer Periode an, die nichts vom rhythm. Ictus und schweren Takttheil wußte“ (N 1870/71: RH 269).
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Symbolik reflexhaft eingeübten Bewegungen, die auf eine bestimmte Gebärde automatisch einen inneren Zustand folgen lässt.107 Die Arbitrarität der ästhetischen Symbolsprache ist bei Nietzsche eindeutig. Es handelt sich bei Ton- und Gebärdensymbolik keinesfalls um eine gegebene oder freigelegte adamitische Ursprache, sondern vielmehr um eine ästhetische Auswahl, die durch Tradition und Übung gefestigt wird.108 Diese Symbolik, auch in der dionysischen Kunst der Musik, wird aufgrund einer kulturellen Übereinkunft erlernt: In der Musik fortwährender Übereinkommungsprozeß über die neue Symbolik: immerfort wird dieser wieder unbewußt. (N 1869/70: 3[20] VII 66)
In der Dionysischen Weltanschauung fasst Nietzsche schließlich zusammen: Symbol bedeutet hier ein ganz unvollkommnes, stückweises Abbild, ein andeutendes Zeichen, über dessen Verständniß man übereinkommen muß: nur daß in diesem Falle das allgemeine Verständniß ein instinktives ist, also nicht durch die helle Bewußtheit hindurchgegangen ist. (N 1870: DW 572)
Die ästhetischen Symbole, die Nietzsche aus diesem Prozess herleitet, beruhen auf einer willkürlichen Selektion, sie sind ein stückweise erlangtes und unvollkommenes Abbild des Symbolisierten und gewinnen ihre allgemeine Wirkung erst durch eine gemeinsame Übereinkunft und Einübung, bis sie instinktiv verstanden werden. Das Symbol gewinnt seine Wirkung nicht durch eine Entsprechungsbeziehung zu einer wie auch immer gearteten ontologischen Gegebenheit, sondern durch den gemeinsamen und über einen langen Zeitraum gewonnenen Gebrauch seiner zeichenhaften Bedeutung.109 Wenn Nietzsche in der Dionysischen _____________ 107 „Geberde und Ton! [...] Was bedeutet die Geberdensprache: es ist Sprache durch allgemein verständliche Symbole, Formen von Reflexbewegungen. Das Auge schließt sofort auf den Zustand, der die Geberde erzeugt. So steht es mit den instinktiven Tönen. Das Ohr schließt sofort. Diese Töne sind Symbole“ (N 1869/70: 3[18] VII 65). Tilman Borsche, Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche, in: ‚Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, hrsg. von Tilman Borsche, Federico Gerratana und Aldo Venturelli, Berlin/New York 1994, 112–130, hier 126, bezieht die von Nietzsche betonte Konventionalität und Traditionsabhängigkeit sprachlicher Bedeutungsfixierung auf Herders und Humboldts Sprachreflexionen. 108 Auch hier mag Nietzsche von Hanslick und Helmholtz inspiriert worden sein. Helmholtz betont – wenn auch nicht so radikal wie Hanslick – die Wandelbarkeit ästhetischer Stilprinzipien in der Zeit – so sind beispielsweise die Tonleitern für ihn auch historisch zu verstehen. Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, 386: „Daraus folgt der Satz, der unseren musikalischen Theoretikern und Historikern noch immer nicht genügend gegenwärtig ist, dass das System der Tonleitern, der Tonarten und deren Harmoniegewebe nicht bloss auf unveränderlichen Naturgesetzen beruht, sondern dass es zum Theil auch die Consequenz ästhetischer Principien ist, die mit fortschreitender Entwicklung der Menschheit einem Wechsel unterworfen gewesen sind und ferner noch sein werden.“ 109 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 87, erklärt die Entstehung arbiträrer Kunstformen aus einem „allgemeinen Geist“ heraus, nicht aus der individuellen Eingebung: „Wenn man unser Tonsystem ein ‚künstliches‘ nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem raffi-
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Weltanschauung die Entfesselung der Rhythmik durch den Einfluss des Dionysischen schildert, die „früher in poetisch-musikalischen Innungen kastenmäßig“ fortgepflanzt wurde und nunmehr alle Schranken von sich wirft (N 1870: DW 565), so ist dieses Glieder-Lösen der Rhythmik in Bezug auf ihre ästhetische Erscheinungsform in der Tragödie nur bedingt zu verstehen. Die Fortpflanzung in poetisch-musikalischen Innungen, die strenge Erziehung zur Rhythmik ist die unabdingliche Voraussetzung auch der tragischen überindividuellen Symbolsprache des Rhythmus wie des Mythos. Wenn die ästhetische Rhythmik weder im Organischen verankert noch metaphysisch-zeitlos gedacht ist, dann kann sie nur über wiederholte Praxis und Bildung, die in der hellenischen Kultur eine wesentliche Rolle spielen, ihre genuin anthropologische Sphäre behaupten. Man übt sich in der rhythmischen Gebärdensymbolik, bis sie instinktiv verständlich ist. Der Bildungsprozess wird insofern zum Kernpunkt des Fortbestands ästhetischer Symbolik, die in Nietzsches tragischer Kunstauffassung ein Leben möglich macht, das über den momentgebundenen Einzelkampf ums Überleben hinaus Form gewinnen will. Zum Erhalt der Symbolwelt, durch die der Mensch die Vergänglichkeit seiner Einzelexistenz erkennen, ertragen und formen lernt, ist die Bildung von Einzelformen unabdinglich. Am Beispiel der ästhetischen Formen „übt“ der künstlerische Mensch ein Leben, das in Nietzsches Augen Qualität hat, wie am Beispiel des Traumes gezeigt wurde.110 Am Beginn jeder Bildung stehen einfache und klare apollinische Formen, die nach und nach verfeinert und variiert werden können, bis sie instinktiven Charakter gewonnen haben. Das Instinktive ist insofern nicht als ‚natürlichere‘ Haltung gegenüber dem bewussten Handeln zu verstehen, sondern vielmehr als dessen nach und nach errungene körperliche Selbstverständlichkeit. In Nietzsches Exzerpten aus Platons Nomoi von 1870/71 wird der Rhythmus als das göttliche Instrument Apollos bezeichnet, mit dessen Hilfe der Mensch in seinem Kindheitsstadium sein chaotisches Herumtoben zu bändigen lernt.111 Dem solcherart gebildeten Menschen wird _____________ nirten Sinn einer willkürlichen conventionellen Erfindung. Es bezeichnet blos ein Gewordenes im Gegensatz zum Erschaffenen [...]. Gerade die Sprache ist in demselben Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugniß, indem beide nicht in der äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern unerschaffen sind und erlernt werden müssen [...]. So haben auch die ‚Tongelehrten‘ unsere Musik nicht ‚errichtet‘, sondern lediglich das fixirt und begründet, was der allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht mit Nothwendigkeit unbewußt ersonnen hatte.“ Damit ist das Grundproblem jedoch nicht unbedingt geklärt, denn was motiviert den „allgemeinen Geist“? Nietzsche scheint das zutiefst Willkürliche in der Herausbildung von sozialen und ästhetischen Formen wesentlich deutlicher zu betonen als Hanslick. Dieser Fragestellung ist das nächste Kapitel gewidmet. 110 Vgl. Kap. 1.1.3. 111 „Alles was noch jung ist kann seinem Körper und seiner Stimme keinen Augenblick Ruhe geben. Die Götter sind die Geber des Gefühls für Rhythmus und Harmonie. Unsere erste Erziehung stammt von Apollo und den Musen“ (N 1870/71: 5[14] VII 95f.).
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diese Rhythmik irgendwann zum Instinkt, und die Kultur der Griechen, in der die Bildung des Körpers und der Sprache in den Gymnasien, in der Politik und durch ihre künstlerischen Aufführungen als zentrale Aufgabe gesehen wurde, dient Nietzsche insofern nicht als Selbstzweck, sondern als Vorbild. Durch die Bildung erhält sich die Kunst und die Kunst wirkt wiederum auf die körperliche Bildung und den allgemeinen Stil zurück, so können wir beispielsweise „den Gang eine Nachahmung der Musik [...] nennen“ (N 1871: 9[116] VII 317). In dieser Hinsicht spiegelt die im ersten Teil dieser Arbeit geschilderte kulturelle Entwicklung der Griechen diesen Bildungsprozess: von einer rigide etablierten Gesetzgebung mit Ewigkeitsanspruch hin zu einer Öffnung dieser Struktur für Bewegung und zeitlichen Wandel, ohne dadurch die Schwelle zu einer unstrukturierten Zeitlichkeit zu überschreiten. Der gegen die starren Grenzen des Olymps rebellierende Prometheus löst seine Ketten unter dem billigenden Blick Apollos und bewahrt daraufhin die olympische Herrschaft vor dem Untergang. Die griechische Kultur scheint ein gelungenes Beispiel für einen Anpassungsprozess an die Zeitlichkeit, ohne durch diese Annäherung die eigene Identität dem Wandel der Zeit preiszugeben. Was aber geschieht in der Gegenwart, die Nietzsche als moderne Kultur der antiken kontrastiert, deren ästhetische Formen er anders als die der Antike nicht mehr auf der Basis einer gemeinsamen Erziehung und Tradition ruhen sieht, sondern gerade die Folge des Bruches mit Traditionen beobachtet? Müsste sie den Weg der Antike gleichermaßen von vorne beginnen und mit Hilfe der Vorgaben einfachster Formen wieder lernen, überindividuelle Strukturen verlässlich zu machen, bevor sie sich mit ihren ungefestigten Gestaltungsmitteln an den Ausdruck dessen wagt, was jenseits aller Ausdruckskraft liegt? Nietzsche attestiert der Moderne in seinen Notizen einen allmählichen Verlust der apollinischen Begabung,112 ohne die, wie er am Beispiel der antiken Kultur vorführt, _____________ Vgl. Platon, Sämtliche Dialoge, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig 1988, Band VII.1 Gesetze [672cd] 69f.: „In dieser Zeit nun, wo es [das noch nicht gereifte Wesen, FFG] noch nicht das Maß von Einsicht erlangt hat, dessen es fähig ist, gebärdet sich jedes solche Wesen wie toll und stößt regellose Laute aus, und sobald es sich aufrichten kann, ergeht es sich auch in regellosem Hin- und Herspringen; dies aber erklärten wir, wie doch wohl erinnerlich, für die Anfänge der Musik und Gymnastik [...]. Und so erinnert ihr euch doch auch der Behauptung, daß uns Menschen und uns allein unter allen Geschöpfen das Gefühl für Rhythmus und Harmonie zu diesen Anfängen verholfen habe, und daß von den Göttern Apollon und die Musen und Dionysos dazu den Grund gelegt haben?“ Zum Begriff des rhythmós bei Platon vgl. Ulf Schmidt, Der Rhythmus der Polis. Zeitform und Bewegungsform bei Platon, in: Primavesi/Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit, 87–100. 112 „Völlige Verkehrung des Verhältnisses zwischen Dionysisch und Apollinisch. Das Apollinische ist das uns schwer verständliche“ (N 1871: 9[10] KGW III3, 287). Vgl. „Die Grenzen der antiken Tragödie liegen in den Grenzen der antiken Musik: nur hierin hat die moder-
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dem Zeitlichen keine Strukturen von Dauer und Identität abgerungen werden können, sondern das einzelne Leben dem Selbstbehauptungskampf in jedem Moment unterworfen ist. Die Griechen, so notiert sich Nietzsche im Jahr nach der Publikation der Geburt der Tragödie, wollen durch ihre Bändigungsmittel „ein volles Entfesseltsein verhüten [...]: wir wollen den ganz entfesselten wieder zurückbändigen“ (N 1872/73: 19[34] VII 427).
_____________ ne Welt einen unendlichen Fortschritt auf dem Gebiet des Künstlerischen aufzuweisen: und auch dies nur durch ein allmähliches Erstarren der apollinischen Begabung“ (N 1871: 9[33] VII 283).
2. Rhythmus im tragischen Zeitalter der Moderne 2.1. Unzeitgemäße Rhythmik Wer besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit? Der Trommelwirbel. (FW 1882: [175] 501)
„Mein Ausgangspunct ist der preussische Soldat“, schreibt Nietzsche 1873 in sein Notizbuch. Er begründet seine Wertschätzung des Militärischen mit der perfekten körperlichen Dressur des Soldaten: [H]ier ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang, Ernst und Disciplin, auch in Betreff der Form [...]. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst geforderten Pflichttreue. (N 1873: 29[19] VII 685f.)
Der erzwungene Gehorsam des Soldaten, seine Gefolgschaft gegenüber einem übergeordneten Regelwerk ist ausschlaggebend für die von Nietzsche hier gefeierte Kultur des Militärischen. Sie kennzeichnet den ersten Schritt eines Formwillens, als dessen Ausgangspunkt er die einheitliche Gestaltung körperlicher Bewegungsabläufe versteht. Im Marschtritt der preußischen Soldaten, der extremen und wenig natürlich anmutenden Gestaltung ihrer Bewegungen nach einem exakt aufeinander abgestimmten Ablauf liegt für ihn eine ästhetische Lust der Stilisierung.1 Apollo, die griechische Kunstgottheit, dient Nietzsche hier wieder als Vorbild: in seinen Notizen zieht er eine direkte Entwicklungslinie zwischen den Charakteristika Apollos als Gott des Krieges und der Kunst.2 Die militärische Gestalt Apollos versteht Nietzsche als eine frühe Phase von dessen Entwicklung zur Kunstgottheit, deren Reglementierung sowohl des einzelnen als auch des gesellschaftlichen Körpers sich in seiner Eigenschaft als Gott des griechischen Staates verdeutlicht. „Apollo, der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates“, tituliert ihn Nietzsche in Der griechische Staat, der dritten seiner unveröffentlichten fünf Vorreden von 1872 (N 1872: GS 774). Der griechische Staat zeige ein genuines Interesse an der strengen militärischen Disziplinierung und Unterjochung des Einzelnen zugunsten der Staatszwecke. Bei Nietzsche erscheint diese staatli_____________ 1 2
„Die Kunst entweder Convention oder Physis“, notiert er sich nur wenig früher (N 1872/73: 19[266] VII 502). „Der apollinische Genius – Entwicklung des militärischen Genius [...] zum Dichter, zum Bildhauer Maler“ (N 1871: 9[130] VII 322).
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che Vereinheitlichungstendenz als Voraussetzung ästhetischer Empfindung, die sich im antiken Griechenland ganz im Sinne staatlicher Interessen herausgebildet habe: Der griechische Künstler richtet sich mit seinem Kunstwerk nicht an den Einzelnen, sondern an den Staat: und wiederum war die Erziehung des Staates nichts als die Erziehung Aller zum Genuß des Kunstwerks. Alle großen Schöpfungen, der Plastik und Architektur sowohl als der musischen Künste, haben große, vom Staate gepflegte, Volksempfindungen im Auge. (N 1870/71: 7[121] VII 168f.)
Das Anerziehen gemeinsamer „Volksempfindungen“ im Sinne des Staates gilt Nietzsche hier als Motivation der griechischen Kunst. Von klein auf wird der Grieche auf das Staatsinteresse hin erzogen – „das Kind wuchs für den Staat und an der Hand des Staates“ (N 1870/71: 7[122] VII 171). Körperliche, militärische und künstlerische, stilistische Ausbildung gingen im Gymnasion Hand in Hand. Am Körper des Einzelnen und der Gleichschaltung seiner Ausdrucksformen in Gestik, Stimme und Gang implementierte der frühe griechische Staat seine Ordnung und schuf einen gleich empfindenden und marschierenden Staatskörper. Als Bild für die gewaltsame Formung3 der einzelnen Menschen zu einem einheitlichen Gebilde durch staatliche Ordnung gebraucht Nietzsche das Bauwerk der ägyptischen Pyramide und erinnert damit an die geometrisch-architektonische Metaphorik, die er zur Beschreibung der dorischen Rhythmik anwendet (vgl. Kap. 1.1.2.): [E]rst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt jene chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen muß. (N 1872: GS 769)
Die stählerne Klaue des griechischen Staates zerteilt eine zuvor „chaotische Masse“ in dauerhaft abgegrenzte Bereiche, deren Überschreitung unerbittlich geahndet wird.4 Was Nietzsche hier am Beispiel der griechischen Polisbildung nachvollzieht, lehnt sich an sein kulturelles Entwicklungsmodell aus der Geburt der Tragödie an: In ein unberechenbares Durcheinander werden unnatürliche apollinische Strukturen getrieben, um überhaupt erst einmal Formen und Formbewusstsein zu kreieren. Entsprechend sieht Nietzsche die Griechen in der gleichsam _____________ 3 4
Die „Grausamkeit [...] im Wesen jeder Kultur“ (N 1872: GS 768) zeigt sich in ihrer forcierten Disziplinierung durch eine vom Staat bestimmte Form. In seinen Notizen beschreibt Nietzsche die „Zertheilung der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyramidenförmig [...] der Bau der ‚kriegerischen Gesellschaft‘ erhebt“ (N 1871: 10[1] VII 347). Die Pyramide als starres, geometrisches Konstrukt, das in die Ewigkeit hineinragt und das sich als Sinnbild der mumifizierenden ägyptischen Kultur dem Lauf der Zeit entgegenzustellen sucht, wurde bereits im ersten Kapitel als metaphorisches Äquivalent Nietzsches zum apollinischen „Medusenhaupt“ erwähnt, mit Hilfe dessen die als chaotisch empfundene Realität bzw. „Tageswirklichkeit“ in kristalline und berechenbare Formen gegossen werden kann (vgl. Kap. 1.1.).
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titanischen Wildheit eines „natürlichen bellum omnium contra omnes“ (N 1871: 10[1] VII 344) leben, ehe diese „eiserne Klammer“ des Staates ansetzt.5 Das Chaos eines Kampfes aller gegen alle schlägt sich in diesem vor-apollinischen Stadium auch in ihrem Kulturstand nieder, der ein babylonischen Durcheinander der verschiedensten kulturellen Einflüsse zeitige: [I]hre „Bildung“ war [...] lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen aegyptischen Formen und Begriffen [...] (HL 1874: 333)
„Die Alten schreiben nicht von Natur gut“, notiert sich Nietzsche Ende 1874 (N 1874: 37[3] VII 829). Ihre Stilsicherheit gewannen die Griechen für Nietzsche erst unter der Voraussetzung einer einheitlichen und durch den Staat überwachten Bildung ihres Körpers und ihrer künstlerischen Empfindungen und Äußerungen. Ästhetische Bildung im frühen griechischen Staat ähnelt in dieser Lesart der soldatischen Ausbildung zum militärischen Gleichschritt. Eine stilbildende Erziehung, wie sie Nietzsche am Beispiel der griechischen Polis vor Augen hält, beginnt mit dem Gehorsam. Der griechische Staat steht bei Nietzsche jedoch nicht allein für die Bändigung der ‚dionysischen‘ Natur, denn der Natur wird in Maßen ihr Lauf gelassen. Das apollinische Gesetz stoppt den dionysisch-naturhaften Kampf aller gegen alle nicht gänzlich, sondern strukturiert ihn, indem es ihm sein eigenes Tempo aufprägt: Jetzt, nach der allgemein eingetretenen Staatenbildung, concentrirt sich nun zwar jener Trieb des bellum omnium contra omnes zum schrecklichen Kriegsungewitter der Völker und entladet sich gleichsam in seltneren, aber um so stärkeren Schlägen. In den Zwischenpausen aber ist der Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach Innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um [...] die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen. (N 1871: 10[1] VII 344)
Die Schönheit und Blüte der griechischen Kultur ist gleichsam das Ergebnis eines verzögerten Lebensrhythmus, in dem die natürliche chaotische Bewegung, der naturgegebene Kampfestrieb aller gegen alle nicht etwa verleugnet wird oder erstarrt, sondern vielmehr dank der überindividuell geregelten Gesetzesstruktur mit Atempausen durchsetzt wird. In den Pausen zwischen den verdichteten Schlägen der Triebentladung hat das einzelne Genie Zeit und Raum, sich zu entwickeln, während sein Potenzial sonst im momentgebunden Überlebenskampf sofort vernichtet würde. Das Genie als individualisierte Zusammenfassung der höchsten Fähigkeiten, als „Blüthe“ der Menschheit, wie Nietzsche es im _____________ 5
1875 reflektiert Nietzsche in einer Notiz zu Thukydides die Folgen eines Kontrollverlusts des Staates und sieht sie als „gegenseitige Zerfleischung und Auslassung aller Affekte. Da tritt die menschliche Natur rein hervor, durch den Staat ist sie im Zaum gehalten“ (N 1875: 12[21] VIII 257).
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zuletzt angeführten Zitat beschreibt, gleicht dem griechischen Wettkämpfer, der als Idol der Massen deren Stärke symbolisiert, indem er sie individualisiert zur Darstellung bringt und ihr dadurch die selbstzerstörerische Anlage nimmt bzw. sie bis zu seiner eigenen Niederlage unter einen stärkeren Gegner hinauszögert.6 Wie die strengen Regeln des Wettkampfes sorgen im griechischen Staat die pyramidale Ordnung der Gesellschaft und die überwachte Gesetzestreue für eine räumliche und zeitliche Rhythmisierung der für sich belassen chaotischen Bewegung der Menschenmassen. Nicht alle kämpfen, sondern nur Einzelne, die als typisierte Helden-Individuen erscheinen. Dementsprechend werden auch nicht alle vernichtet, sondern nur wenige Einzelne, wodurch für die Übrigen Freiräume entstehen, in denen ihre Existenz für einige Zeit möglich ist. Ohne den Staat, so impliziert Nietzsche, würde die Grenzenlosigkeit einer immer in Überschreitung begriffenen willkürlichen Bewegung herrschen, wie sie in der Natur vor sich geht. Der militärische Staat in seiner von heute aus gesehenen Starrheit und Freiheitsfeindlichkeit erscheint insofern bei Nietzsche als unbedingte Voraussetzung für die Genese eines wenn auch typisierten Individuums, weil er diesem überhaupt erst einen Entwicklungsspielraum erkämpft.7 Garant dieser Entwicklung ist wiederum Apollo, der Gott des Staates und der Individuation.8 Das einzelne Individuum ist zugleich Ergebnis als auch Instrument der Interessen des Staates, der die Triebe auf gemeinsame, übergeordnete Ziele umlenkt, dadurch verstärkt und sich nutzbar macht. Die Triebe des Neides und der Konkurrenz etwa, die ohne den Staat zu gegenseitiger Zerstörung und Chaos führen, werden unter den Voraussetzungen des Wettkampfes der Stadtstaaten zu Grundpfeilern ihrer Kraft und Stärke. Im Staat dienen die Triebe einer überindividuellen Motivation, denn er lässt die konkurrierenden Einzelnen gemeinsam für ein Ideal kämpfen und kanalisiert ihre bellizistische Neigung so zu seinen eigenen Zwecken, er lässt das Individuum – in einer bestimmten, instrumentalisierten Form –
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Durch den Wettkampf wird der in der Natur angelegte gegenseitige sofortige Vernichtungsprozess zugunsten immer neuen Lebens, innerhalb dessen kein Einzelwesen Bestand hat, durch klare Regeln strukturiert und gebändigt. Gleichsam verzögert findet der Auslöschungsprozess nunmehr statt, und durch die Verzögerung wird dem Einzelkämpfer Zeit zur Individuation gegeben. Das Individuum kämpft dann symbolisch für den naturgegebenen Zerreißungsprozess und wird so möglich (vgl. Kap. 1.2.3.). „[S]o spricht aus alledem die ungeheure Nothwendigkeit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen“ (N 1872: GS 770f.). „Apollo, noch nicht als Kunstgott, aber als heilender sühnender warnender Staatengott, der den Staat immer auf der Bahn erhält [...], wie er andererseits rastlos bemüht war, durch neue Configurationen neue Einzelne zu erzeugen und durch wundersame Vorzeichen um sie herum einen schützenden Bann zu ziehen“ (N 1870/71: 7[22] VII 175).
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gelten.9 Die staatliche Bildung, die auf Homogenisierung aus ist, ermöglicht in Nietzsches Lesart der antiken Polis somit gerade durch ihre überindividuelle Ausrichtung eine erste Form der Individuation: In dem Denken an das Wohl größerer Organismen, als das Individuum ist, liegt die Bildung. (N 1870/71: 5[91] VII 117)10
Der Wunsch, zugunsten der Polis zu glänzen, bringt den Egoismus des Individuums hervor und zügelt ihn zugleich in selbem Maße. „Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein“, schreibt Nietzsche in Homer’s Wettkampf, „darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt“ (N 1872: HW 789f.). Bereits vor Erscheinen der Geburt der Tragödie nimmt Nietzsche in seinen Notizen diesen Gedanken vorweg: Der griechische Wille sorgte dafür, daß nicht die Abgeschiedenheit eines engen Kreises sich das Kulturbedürfniß zu befriedigen wußte. Vom Staate hatte der Einzelne alles zu empfangen, um ihm alles wiederzugeben. (N 1870/71: 7[122] VII 171)
Nur unter der Schirmherrschaft des Staates kann sich das griechische Individuum entwickeln, gerade dessen auf Dauer angelegte Ordnung ermöglicht die Grenzen, die das einzelne Wesen in einer über den Moment hinaus beständigen Form ausmachen. In dieser Hinsicht unterscheidet Nietzsche das griechische vom modernen Individuum: Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z.B. sollte sein Selbst im Wettkampfe soweit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe. Es war kein Ehrgeiz in’s Ungemessene und Unzumessende, wie meistens der moderne Ehrgeiz [...] (N 1872: HW 789)
Während die Griechen die Entwicklung ihres Selbst an die Regeln des Wettkampfes und des Staates binden und so klare Ziele und Handlungsanweisungen verfolgen, in denen sie sich selbst immer besser hervortun können, fehlen dem modernen individuellen Streben solche Anhaltspunkte, wie Nietzsche hier konstatiert. Als „Ungemessenes und Unzumessendes“ scheint dem heutigen Konzept des Individuellen das Maß verloren gegangen: Ohne überindividuelle Ziele, _____________ 9
Den Gedanken der Nutzbarmachung von Trieben wie dem des Neides führt Nietzsche in Homer’s Wettkampf ausführlich aus. „Um sie [die griechische Geschichte, FFG] zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, daß der griechische Genius den einmal so furchtbar vorhandenen Trieb gelten ließ und als berechtigt erachtete [...]. Der Kampf und die Lust des Sieges wurden anerkannt: und nichts scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren, als die hieraus abzuleitende Färbung einzelner ethischer Begriffe z. B. der Eris und des Neides“ (N 1872: HW 785f.). 10 Vgl. „Bildung ist ein fortwährendes Wechseln von Wahnvorstellungen zu den edleren hin, d.h. unsre ‚Motive‘ im Denken werden immer geistigere, einer größeren Allgemeinheit angehörige [...]“ (N 1870/71: 5[91] VII 117).
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und sei es das eines diktatorischen Staates, so pointiert Nietzsche hier, werden der natürlichen Selbstsucht der Einzelnen keine Grenzen gesetzt. Die Nähe zwischen seiner Schilderung des vor-apollinischen Griechen im naturhaften „Kampf aller gegen alle“ und des modernen Individuums scheinen auf der Hand zu liegen. Ohne die Akzeptanz allgemeingültiger Gesetze – ohne den rhythmós des Aristoxenos – wird der Mensch zum rhythmizómenon, zum reinen Stoff der willkürlichen und augenblicksgebundenen Naturzeit, jeder überindividuellen Gestaltungsmacht beraubt. Doch in seiner Verurteilung des modernen Individuums geht Nietzsche über den Vergleich mit den barbarischen, vor-apollinischen Titanen hinaus: nicht die schrecklich-schöne dionysische Wildheit der Natur zeichnet es aus, die zwar keine Formen, aber unendliche Schöpferkraft im „Kampf aller gegen alle“ erkennen lässt. Die Maßlosigkeit des modernen Individuums weist bei Nietzsche in eine andere Richtung: es verliert sein menschliches Maß nicht im Chaos der Natur, sondern in unanschaulicher Abstraktion: Deshalb waren die Individuen im Alterthume freier, weil ihre Ziele näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit, wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein. (N 1872: HW 790)
Sah Nietzsche das Durcheinander von Bildungseinflüssen als Grund an, der den vor-apollinischen Griechen im Stadium der Natürlichkeit hielt, so versteht er in Bezug auf den modernen Menschen die wissenschaftliche Erkenntnis als Verursacher seiner Formlosigkeit. Nicht zuletzt unterscheidet er in diesem Beispiel den antiken vom modernen Menschen dadurch, ob er seine Ziele mittels des eigenen organisch gegebenen Körpers umsetzen kann. Die Moderne verliert das Gefühl für die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Physis, wie Nietzsche an Zenos Paradox deutlich macht: nicht mehr der tatsächliche laufende Körper Achills zählt, der als realer Körper natürlich die Schildkröte einholen würde, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis unendlich teilbarer Zeiträume, die sich zwischen den beiden Kontrahenten unüberwindlich auftürmen.11 Die zunehmende Erkenntnis immer kleinerer und immer abstrakterer Details, d.h. hier die unendlich fortführ-
_____________ 11 Nietzsche erzählt Zenos Beispiel in der nachgelassenen Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: „Achill kann die Schildkröte, die einen kleinen Vorsprung hat, im Wettlaufe nicht einholen: denn um nur den Punkt, von dem die Schildkröte aus läuft zu erreichen, müßte er bereits zahllose, unendlich viele Räume durchlaufen haben, nämlich zuerst die Hälfte jenes Raumes, dann das Viertel, dann das Achtel, dann das Sechzehntel und so weiter in infinitum. Wenn er thatsächlich die Schildkröte einholt, so ist dies ein unlogisches Phänomen, also jedenfalls keine Wahrheit, keine Realität, kein wahres Sein, sondern nur eine Täuschung“ (N 1873: PhtZ 848).
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bare Zerteilung des Abstandes zwischen Achill und der Schildkröte, führt zur Unfähigkeit, einen Überblick zu behalten und klare Formen zu sehen.12 Vor diesem Hintergrund erscheint Nietzsches Favorisieren einer gewaltsamen Disziplinierung des Formbewusstseins in neuem Licht. Sein Interesse an der Herausbildung des griechischen Staates mittels der Militärkultur und die Hervorhebung des Apollinischen als Kriegs-, Staats- und Kunstgottheit ist als ein Abwägen der hellenischen kulturellen Techniken hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die zeitgenössische Situation zu verstehen. Wenn auch die Formlosigkeit der ‚titanischen‘ Griechen auf einer zumindest potenziell formgebenden dionysischen Natur beruht, deren sich der moderne Mensch infolge wissenschaftlicher Erkenntnisse beraubt, erkennt Nietzsche doch Parallelen zwischen der vorapollinischen Antike und der Situation der Moderne. Sie beruhen für ihn auf der Unfähigkeit, dauerhafte anthropologisch taugliche Strukturen in die Realität zu treiben und so dem Individuum Form zu verleihen. Wäre das, was einst der Kunstgott Apollo durch die militärische Bildung im griechischen Staat initiierte, mit echt preußischem Soldatentum auch in der Moderne zu erreichen? 2.1.1. Der Soldat als Vorläufer der Kultur Nietzsches betonte Vorliebe für den preußischen Soldaten steht in Zusammenhang mit seiner in mehreren Vorträgen und vielfältigen Notizen geäußerten Kritik an Bildung und Stil der deutschen Kultur, der er jede Disziplin und Formstrenge abspricht. Gerade die körperliche Haltung seiner Zeitgenossen lässt seinem Urteil nach zu wünschen übrig, sie sei schlampig und bequem, man lässt sich gehen – eine Haltung, die er zutiefst verabscheut. Die vernachlässigte physische Erscheinungsform sieht er als Indiz für den mangelhaften Stil der zeitgenössischen Kultur: _____________ 12 Es wäre jedoch ein Irrtum, Nietzsches Gegenüberstellung von Antike und Moderne als Opposition zwischen griechischer Körperlichkeit und einer zu starken Rationalität des modernen Menschen zu verstehen, sondern vielmehr als dessen Degeneration zur Maßlosigkeit. Nietzsche leitet die griechische Funktion der Erkenntnis aus dem apollinischen Leitspruch „erkenne dich selbst“ her, den er im Sinne der Aussage ‚erkenne dich selbst in deinen menschenmöglichen Restriktionen und respektiere diese‘ versteht. Die moderne Funktion der Erkenntnis dagegen sieht er gerade im Sprengen dieser Restriktionen. Dass im Zuge dessen die Orientierung an den Empfindungen des eigenen Körpers verloren geht, wie Nietzsches Auslegung des Zeno vorführt, ist dieser modernen Maßlosigkeit anzulasten und nicht etwa einer körperfeindlichen Rationalität im Allgemeinen. Denn die restriktive rationale Gesetzgebung ist, wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt, in Nietzsches Auffassung der griechischen Kultur gerade erst die Voraussetzung zur Wahrnehmung eines über den Moment hinaus bestehenden Körpers wie dem des Wettkämpfers oder des tragischen Helden als typisierte Individuen.
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Dazu lebt man doch in einer bummelig-inkorrecten Convention, wie all unser Gehen Stehen Unterhalten anzeigt. Es scheint, man will die Convention, die am wenigsten Selbstüberwindung kostet, bei der jeder recht schlampen kann. (N 1873: 29[121] VII 686)
Er attestiert seiner Zeit eine Unfähigkeit zu formvollendeter Haltung, zu Takt und Stil der Bewegung13 und folgert daraus die Notwendigkeit einer körperlichen Zucht wie sie in der militärischen Ausbildung durchlaufen wird. Bereits in seinen früheren Notizen steht der einheitsbildende Gehorsam, „die strenge militärische Subordination“ als Kontrapunkt zur „verschliffene[n] und ekelhafte[n] Bildung des Tages“.14 Eine „imperativische[ ] Behörde der Kultur“ (N 1870-72: 8[113] VII 266) sei zur Vereinheitlichung der Bildung notwendig, ebenso wie „Correctionshäuser“ zu ihrer Implementierung.15 _____________ 13 Eine Position, die sich auch in den Notizen der nächsten Jahre findet: „[W]ir haben noch keinen Stil der Bewegung“ (N 1874: 32[27] VII 762); „Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren und der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung“ (N 1875: 12[24] VIII 260). Bis in die letzten Jahre seines bewussten Lebens taucht die soldatische Dressur als kulturell notwendige physische Erziehungsform auf. In den späten Notizbüchern und Werken Nietzsches heißt es u. a.: „Niemand verlangt strenger als ich, daß Jedermann Soldat ist: es giebt durchaus kein anderes Mittel, ein ganzes Volk zu den Tugenden des Gehorchens und Befehlens, zum Takt, in Haltung und Gebärden [...] zu erziehen – es ist bei weitem unsere erste Vernunft in der Erziehung, daß Jedermann Soldat [ist] [...]“ (N 1888: 25[15] XIII 645). 14 „Eine neue Bildungssekte, als die Richterin und Herrscherin über die verschliffene und ekelhafte Bildung des Tages. Anzuknüpfen an die wirklichen Bildungselemente [...], an die strenge militärische Subordination [...].“ (N 1870/71: 5[26] VII 98f.) 15 Letzteres Zitat (N 1873: 29[126] VII 688) ist einem Exzerpt Nietzsches aus einem Brief Schillers an Goethe vom 23. Juli 1798 entnommen (vgl. KSA XIV 551), in dem die schöne Naivität der Griechen aus deren Formung durch Muster abgeleitet und infolgedessen eine strenge Zucht für die Gegenwart angemahnt wird: „[I]ch kann nicht anders glauben, als dass der naive Geist, welchen alle Kunstwerke aus einer gewissen Periode des Alterthums gemeinschaftlich zeigen, die Wirkung und folglich auch der Beweis für die Wirksamkeit der Überlieferung durch Lehre und Muster ist. Nun wäre aber die Frage, was sich in einer Zeit wie die unserige von einer Schule für die Kunst erwarten liesse. Jene alten Schulen waren Erziehungsanstalten für Zöglinge, die neueren müssten Correctionshäuser für Züchtlinge sein [...]“ (N 1873: 29[126] VII 688). Zur Nähe Nietzsches zu Schillers klassischer Konzeption der Bildung vgl. Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik; LarsThade Ulrichs, Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers ‚Ästhetischen Briefen‘, in: Nietzscheforschung 12 (2005), 111–124; mit Bezug zur Geburt der Tragödie Nicholas Martin, Nietzsche and Schiller. Untimely Aesthetics, Oxford 1996. Gegen eine parallele Lektüre von Nietzsches frühen Schriften und Schillers klassischer Ästhetik wendet sich Gellhaus, Ästhetische Erziehung.
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In seinen sechs Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten vom Frühjahr 1872 in Basel beschäftigt sich Nietzsche ausführlich mit der Kritik an den existierenden Bildungsinstitutionen in Deutschland und entwickelt Vorschläge zu ihrer Besserung. Getarnt unter der Maske eines alten Professors rechnet er zunächst mit dem deutschen Bildungssystem ab. Seine zentrale Kritik richtet sich dabei gegen die pädagogische Intention der Gymnasien, die Schüler zu ‚freien Persönlichkeiten‘ bilden zu wollen und ihnen zu diesem Zweck früh die größtmögliche Freiheit des Ausdrucks zu gestatten. Verbittert schildert der Philosoph die Ergebnisse dieser Erziehung: den Schülern werde „in einem Alter, in dem jeder gesprochne oder geschriebene Satz eine Barbarei ist“ (N 1872: BA 680), suggeriert, sie seien bereits abgeschlossene Persönlichkeiten genug, um einen eigenen Ausdruck haben und sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Infolge dieser Einbildung verharren sie nach Meinung des greisen Lehrers bis ins Erwachsenenalter stilistisch auf jener jugendlich-barbarischen Stufe des Ausdrucks und prägen fortan die „hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit“, deren Ergebnis der „Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos“ ist und die er als zentrale Charakteristika der literarischen Kultur seiner Zeit anprangert (N 1872: BA 681). Dem Glauben an eine rousseauistische Natürlichkeit, die sich frei von allen Zwängen entfaltet, hängt der alte Philosoph offensichtlich nicht an und spricht damit Nietzsches Gedanken aus.16 In seinen Notizen konstatiert dieser ein Jahr _____________ 16 Nietzsche lässt in den Vorträgen, so Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst. Annäherung an einen Denkartisten, Frankfurt a. M./Leipzig 2000, 118, „andere für ihn sprechen.“ Zur Absage Nietzsches an eine rousseauistische Naturvorstellung zugunsten von Kultur vgl. Volker Caysa, „Natur, das Natürliche“, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, 289–293, hier 289f. sowie Keith AnsellPearson, Nietzsche contra Rousseau. A study of Nietzsche's moral and political thought, Cambridge u.a. 1991. Kritisch betrachtet Karol Sauerland, Der Bildungsgedanke des jungen Nietzsche, in: Nietzscheforschung 7 (2000), 31–36, hier 31, Nietzsches Ablehnung eines frühen Entfaltungsspielraums der „freien Persönlichkeit“ der Schüler: „Dieses Gewährenlassen würde man heute Vertrauen in den jungen Menschen nennen“. Er schließt sich damit an die kritische und mitunter etwas selbstgerechte Rezeption von Nietzsches Bildungsvorträgen und Der griechische Staat an, die ihn als quasi präfaschistischen Denker einer schwarzen Pädagogik profiliert – vgl. u.a. Christian Niemeyer, Nietzsches ‚Bildungsvorträge‘ von 1872. Einige Deutungshinweise zu einem überaus fragwürdigen Text, in: Nietzscheforschung 12 (2005), 35–52; Josef Leonhard Blaß, Modelle pädagogischer Theoriebildung, Band 2: Pädagogik zwischen Ideologie und Wissenschaft, Stuttgart u. a. 1978, 13–44. Demgegenüber steht eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen, die Nietzsches Bildungsüberlegungen in einen weiteren philosophischen und historischen Kontext stellen, der seiner ‚Pädagogik‘ in ihrer Zeit sehr viel gerechter wird, weil er die Schattenseite aufgeklärter Pädagogik und ihre anthropologischen Implikationen, die Nietzsche in rhetorischkritischer Intention zuspitzt, vor Augen führt. Vgl. Erwin Hufnagel, Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie: Versuch, den „Griechischen Staat“ zu lesen, in: Nietzscheforschung 7 (2000), 37–58; Holger Gutschmidt, ‚Bildungsanstalten‘ beim frühen
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später, dass die Befreiung vom Kanon der französischen Ästhetik seit dem späten 18. Jahrhundert keine natürliche Schönheit und Freiheit zur Folge gehabt habe, sondern vielmehr nur eine laxere Handhabung der ehemals verbindlich geltenden Gesetze der Kunst: Nachdem wir aus der Schule der Franzosen heraus sind, sind wir hülflos geworden: wir wollten natürlicher werden, sind es auch geworden, indem man sich möglichst gehen liess und im Grunde nur schlotterig und beliebig nachmachte, was man früher peinlich nachmachte. (N 1873: 29[118] VII 685)
Das Ablegen von Konventionen und stilistischen Vorgaben setzt seiner Einschätzung nach keine von allen Banden befreite ‚natürliche‘ Schönheit frei, sondern führt vielmehr zu einer Art rudimentärem Gehorsam, der vielerlei unbewusst gespeicherten Restbeständen ehemaliger Gesetzesvorgaben folgt, ohne einer von ihnen klaren Ausdruck verleihen zu können. Wer sich gehen lässt, so Nietzsches Urteil, kommt nicht zu kultivierter Freiheit des Ausdrucks, sondern gehorcht zwar nicht den Gesetzen der Eltern, gegen die er aufbegehrt, so doch unbewusst einem Durcheinander von Diktionen der Groß- und Urgroßeltern.17 Dieser Gedanke impliziert die grundsätzlich historische Beschaffenheit künstlerischer Eingebung und Formung. Wer versucht, sich von allen ästhetischen Gesetzgebungen freizumachen, entfaltet nicht eine der Natur immanente Schönheit des Ausdrucks und wird keinesfalls ungezwungen, sondern folgt den unter_____________ Nietzsche. Die Universitätsidee Nietzsches zwischen Fichte und Humboldt, ebd., 97– 109; Jürgen Oelkers, Friedrich Nietzsches Basler Vorträge im Kontext der deutschen Gymnasialpädagogik, ebd., 73–95; Christiane Thompson/Gabriele Weiss, Das Bildungsgeheimnis. Herausforderung und Zumutung der Lektüre von Nietzsches Bildungsvorträgen, ebd., 53–72; Jörg Schneider, Nietzsches Basler Vorträge ‚Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ im Licht seiner Lektüre pädagogischer Schriften, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), 308–325; Martin A. Ruehl, Politeia 1871: Young Nietzsche on the Greek State, in: Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, hrsg. von Paul Bishop, Rochester/New York 2004, 79–97. Vor diesem und dem in der vorliegenden Studie erarbeiteten Hintergrund kann die soldatische Disziplinierung von Sprache und Leib, die Nietzsche hier als notwendige Voraussetzung jeder Bildung beschreibt, im Kontext jener durchaus gewaltsamen primären apollinischen Vereinheitlichung verstanden werden, die er nicht als Ziel, wohl aber als unabdingliche Grundvoraussetzung einer Kultur, die sich dionysisch entfalten will, möglichst drastisch vor Augen führt. Das Unbehagen an einer solchen Instrumentalisierung des Rhythmus als zwanghafte Vereinheitlichung seit der Nachkriegszeit begründen Primavesi/Mahrenholz, Geteilte Zeit, 13, mit der „spezifisch deutschen“ Ideologie des Rhythmus der zwanziger und dreißiger Jahre, welches Unbehagen jedoch auch dazu führen kann, das Potential der Rhythmik als Bewusstmachen der eigenen „bereits geformte[n], kodifizierte[n]“ Körperlichkeit zu verkennen, das Nietzsche hier noch ganz unverkrampft einsetzt. 17 „Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charaktere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grund durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtnis“ (N 1873: 29[172] VII 702).
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schiedlichsten Fragmenten von Gebräuchen der Vergangenheit, die allen seinen Handlungen als durchweg historischen eingeschrieben sind. Der „Nachklang und Überrest“ vergangener Geschlechter sei „nun einmal unsre Existenz, so gern sich das Individuum als etwas ganz Neues und Unerhörtes zu empfinden geneigt ist“ (N 1873: 26[13] VII 580). Selbst wenn es dem sich unabhängig von allen Vorgaben glaubenden Menschen nicht bewusst ist, trägt er doch „das Gedächtniß aller vorigen Generationen mit sich herum“ (N 1872/73: 19[162] VII 470).18 Die Vorstellung einer Befreiung des scheinbar unverbildeten Heranwachsenden von allen historischen Vorlagen entlarvt er daher als Illusion; sie führt nur zu einem unbeherrschten Durcheinander – „Anarchie“ nennt dies der Philosoph in dem Zitat aus Nietzsches Vorträgen oben – von Restbeständen der unterschiedlichsten vergangenen Bildungseinflüsse. In seinen Unzeitgemässen Betrachtungen betont Nietzsche wiederholt, dass Kultur als Gegensatz zur Barbarei sich durch Einheitlichkeit ihres Stils auszeichnet, und nicht durch die Mannigfaltigkeit ihrer Kenntnisse. Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile. (DS 1873: 163)
Ein unbeherrschtes Durcheinander der Stile zeigen sowohl die ungeschulten Schüler als auch diejenigen, die zuviel wissen und ihr Wissen nicht mehr strukturieren und vereinheitlichen können. Ihr Stilchaos ist gleich bedeutend mit Kulturlosigkeit und Barbarei: „Kultur“ dagegen ist, wie Nietzsche immer wieder betont „– Einheit des Stils“ (N 1873: 27[65] VII 606).19 Als wirkliche Bildungsaufgabe wäre angesichts der vorherrschenden Stillosigkeit demnach eine einheitliche Schulung notwendig. Mit der in Nietzsches Bildungsvorträgen kritisierten pädagogischen Intention einer Erziehung der Schüler zu ungebundenen, von kanonischen Vorgaben freien Persönlichkeiten geschieht jedoch das genaue Gegenteil, wie der Philosoph _____________ 18 Auch ein Jahr später nimmt Nietzsche diesen Gedanken in seinen Notizen immer wieder auf: „Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind [...]“ (N 1875: 3[69] VIII 33f.); vgl. „[d]as von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung: selbst das was uns zu diesem angeblichen ‚Anfang‘ trieb, ist Wirkung und Resultat des Vorhergehenden“ (N 1875: 5[1] VIII 41). 19 Nietzsche wiederholt dies nochmals in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: „Die Cultur eines Volkes als der Gegensatz jener Barbarei ist einmal, wie ich meine, mit einigem Rechte, als Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes bezeichnet worden [...]; das Volk, dem man eine Cultur zuspricht, soll nur in aller Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in Inneres und Aeusseres, in Inhalt und Form auseinanderfallen“ (HL 1874: 274).
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am Beispiel der sprachlichen Ausbildung zeigt: Anstelle einer strengen Schulung der sprachlichen Form herrsche „Barbarei und Anarchie“ des sprachlichen Ausdrucks (N 1872: BA 683). Diesem Missstand kann, so der Philosoph, nur durch eine frühe Disziplinierung begegnet werden: [A]ber hoffe auch Niemand auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urtheile zu kommen als auf dem dornigen Pfade der Sprache und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht (N 1872: BA 684).
Um diesen mühsamen Bildungsprozess jedoch drückt sich seiner Meinung nach die moderne Pädagogik. Eine Anerkennung der eigenen Sprache – „aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist [...]“ (N 1872: BA 683) – ergibt sich für Nietzsche nur aus der Begegnung mit einer klar geformten musterhaften Sprache, die man zunächst imitieren lernt. Als Beispiel dafür dient ihm das Erlernen der antiken Sprachen an den Gymnasien, denn mit der „strengen Zucht des Lateinischen und des Griechischen“ werden die statischen, nicht mehr wandelbaren und eindeutigen Vorgaben toter Sprachen vermittelt: [H]ier lernt man den Respekt vor einer regelrecht fixirten Sprache, vor Grammatik und Lexikon, hier weiß man noch, was ein Fehler ist [...]. (N 1872: BA 688)20
Zwar findet an den Gymnasien der Unterricht in den alten Sprachen statt, als gravierenden Mangel pointiert der Philosoph jedoch das Fehlen des entscheidenden nächsten Lernschrittes: das Übertragen dieser sprachlichen Schulung auf die eigene Muttersprache. Die vorgegebene, nicht mehr dem zeitlichen Wandel unterliegende Form der toten Sprachen müsse der lebendigen Muttersprache antrainiert werden, damit auch diese an Stil gewinnt – z.B. durch die strenge stilistische Kontrolle der deutschen Übersetzungen der Schüler seitens der Lehrer. Genau dies jedoch leistet die gymnasiale klassische Bildung – so der Tenor von Nietzsches Vortrag – nicht. Statt dessen glauben Lehrer und Schüler, sich als Erholung vom anstrengend exakten Latein im Gebrauch der eigenen Sprache gehen lassen zu dürfen: „Gewöhnlich pflegt vielmehr der lateinische oder griechische Lehrer selbst mit dieser Muttersprache wenig Umstände zu machen“, meint Nietzsches Philosoph, und die Lehrer behandeln das Deutsche „von vorn herein als ein Bereich, auf dem man sich von der strengen Zucht des Lateini_____________ 20 Vgl. den Brief an Ritschl vom 28. März 1870, KGB II.1 [Nr. 68] 109: „Mich freut es übrigens, wieder einmal eine Nöthigung zum Lateinschreiben zu haben, um durch Übung meinen bald fadenscheinigen bald fetten, immer ungesunden Stil etwas zu bessern.“ In einer Notiz von 1875 erwähnt Nietzsche „die Dinge, wo man vom Alterthum lernen müsste, wenn man es überhaupt könnte (z.B. Schreiben Sprechen usw.)“ (N 1875: 3[37] VIII 25). Görner, Nietzsches Kunst, 174f., weist in seinem Kapitel „Stilfragen“ auf einen Brief Nietzsches an Malwida von Meysenburg von 1873 hin, in dem Nietzsche es als „wahres Glück“ für ein deutsches Kind bezeichnet, „zuerst in einer regelrechten strengen Cultursprache, Französisch oder Latein, erzogen zu werden, damit sich ein kräftiges Stilgefühl entwickle [...].“
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schen und des Griechischen wieder erholen darf, auf dem wieder die lässige Gemüthlichkeit erlaubt ist [...]“ (N 1872: BA 688).21 An die Kritik der öffentlichen „Bildungsanstalten“ schließt sich im Vortrag eine Kritik der Sprachkunstwerke an. Gekonntes und stilvolles Schreiben wird zu diesem Zweck mit einer körperlichen Bewegung, mit dem geschulten und eleganten Gehen verglichen. Eine frühe bewusste Formung des Schreibens in Analogie zu der des Gehens gilt Nietzsche als Vorbedingung für künstlerisch schöpferische Tätigkeit im Bereich der Sprache: Unsere „elegant“ genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie Gehen gelernt: und an unsern Gymnasien lernt man, wie unsere Schriftsteller beweisen, nicht gehen. Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung [...]. (N 1872: BA 684f.)
Da am Gymnasium keine sprachliche Form antrainiert wird, haben die Schüler auch kein Urteilsvermögen in Bezug auf künstlerischen Stil in der Sprache der Kunst und lernen es auch als spätere Künstler nicht. Denn erst auf Grund einer strengen künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Klassiker [...]. (N 1872: BA 683)
Form und Stil im eigenen Ausdruck sind nur möglich, wenn es eine lange und bewusste Anpassung an Formungsregeln und –muster gegeben hat: Wer dichten will, soll erst einmal nach der Marschtrommel gehen lernen. Die „richtige[ ] Gangart der Sprache“ (N 1872: BA 685) muss durch einen langen Zwang, durch das bewusste und konzentrierte Anpassen der eigenen Gangart an einen strikten Takt, der keine Abweichung erlaubt, indoktriniert werden. Als Lösung der Bildungsmisere sieht der Philosoph demnach einzig und allein die frühe Erziehung zum Gehorsam, für die ihm der Soldat als Vorbild dient (N 1872: BA 745).22 Die _____________ 21 Ähnlich wie um die Gymnasiasten steht es nach Ansicht des Philosophen aus Nietzsches Bildungsvorträgen um die Studenten, die mit der Selbstständigkeit, „jener akademischen Freiheit“ an den Universitäten überfordert sind, zwischen „überspannter Thätigkeit und melancholischer Erschlaffung“ wechseln, weil sie sich auf der Suche nach Orientierung an beliebig sich bietenden Stützen festhalten, die ihnen unter den Fingern zerbrechen. Denn als wesentliches Merkmal der begabteren Jugend bezeichnet der Philosoph das Bedürfnis nach Hingabe und der Nachahmung bewunderter Vorbilder, dem weder in der Schule noch in der Universität Rechnung getragen und eine produktive Bahn geebnet werde. Und so sieht er Schüler und Student orientierungslos dastehen, allein gelassen unter dem Vorwand, ihm Freiheit zu geben. Ihm ist „die unerträgliche Last aufgebürdet, allein zu stehen“, er wird „in einem Alter zur Selbständigkeit angereizt, in dem Hingebung an große Führer und ein begeistertes Nachwandeln auf der Bahn des Meisters gleichsam die natürlichen und nächsten Bedürfnisse zu sein pflegen“ (N 1872: BA 745f.). 22 Wenn Nietzsches Bildungsvorträge allein auf seine Forderung nach einer ästhetischen Selbstständigkeit durch die „Bildung der einzelnen“ (N 1872: BA 698) bezogen werden (vgl. Görner, Nietzsches Kunst, 119), dann übergeht dies den provokativen Widerspruch zu
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Jugend soll einer Taktvorgabe gehorchen lernen, bevor sie überhaupt in der Lage ist, selbständige Schritte zu unternehmen, so sein Fazit: Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. (N 1872: BA 750)
Zucht, Gehorsam und Dienstbarkeit als soldatische Tugenden sollen auf Universität und Schule übertragen werden. „Gymnasien und Universitäten./ SoldatenKultur“, notiert sich Nietzsche im direkten Anschluss aneinander (N 1873: 29[163] VII 699). Der Philosoph in seinen Vorträgen hält die beiden Studenten – einer von ihnen der Ich-Erzähler – während ihrer Begegnung dazu an, einer Melodie, die aus dem Tal zu ihnen hinauf auf den Berg tönt, mit ihren Pistolen im selben Takt zu antworten. „Hört ihr den strengen Rhythmus jener uns begrüßenden Melodie? Diesen Rhythmus merkt euch und wiederholt ihn“, weist er sie an (N 1872: BA 734). Die Studenten gehorchen zunächst, dann aber werden sie „ihrer rhythmischen Aufgabe untreu“ (ebd.), denn plötzlich taucht eine Sternschnuppe am Himmel auf, die sie ablenkt und nach der sie zielen: „Falscher Takt! schrie der Philosoph, wer heißt euch nach Sternschnuppen zu zielen! Das platzt schon von selbst, ohne euch; man muß wissen, was man will, wenn man mit Waffen hantiert.“ (N 1872: BA 734).
Er sieht es als die unabdingliche Aufgabe der Studenten, den Takt der fremden Melodie genau zu imitieren und nicht von ihm abzuweichen, um Träumen von Selbständigkeit und Freiheit nachzugehen, die auf ihrer Entwicklungsstufe seiner Meinung nach nur zum Verharren in barbarischer Stillosigkeit führt. Ebenso wenig sollen sie naturgegebenen oder kosmischen Phänomenen folgen, sondern vielmehr sich allein an die Vorgaben einer kulturell gebundenen Bildungsrhythmik halten. Man kann in dem Bild von der Sternschnuppe auch eine Anspielung auf das Geniedenken sehen, dem Nietzsche hier eine Absage erteilt.23 Durch den _____________ der von Nietzsche zugleich geforderten Unterwerfung des Individuums unter vorgegebene Strukturen, auf die es seine Freiheit überhaupt erst gründen kann, indem es sich von einer demgegenüber „fessellosen Freiheit“, den „Saturnalien der Barbarei“ (N 1872: BA 698) durch eine einheitliche Disziplinierung absetzt. 23 Die Sternschnuppe als Metapher des Genies, das aufstrahlt und verglüht, wird im 18. Jahrhundert wiederholt den ewigen gesetzlichen Abläufen der Planetenbahnen gegenübergestellt. Johann Wolfgang v. Goethe., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Waltraud Loos et al., München 1998, Band X, 12, vergleicht den ‚Stürmer und Dränger‘ Jacob Michael Reinhold Lenz mit diesem kosmischen Phänomen: „Lenz jedoch, als ein vorübergehendes Meteor, zog nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen.“ Aus dem beschriebenen Kontext der Sternschnuppen-Passage in Nietzsches Bildungsvorträgen wird hinlänglich deutlich, dass er hier nicht auf die abweichlerische Potenz des „tanzenden Stern[s]“ (ZA 1883: 19) abzielt, die sich als vielzitierte Passage in seinem späteren Werk findet (und auch dort kontextabhängig interpretiert werden sollte).
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Mund des Philosophen wie auch in einigen seiner Notizen plädiert Nietzsche damit für eine frühe Kunsterziehung, die nicht etwa die Konventionen von sich wirft, sondern die Auferlegung tradierter Fesseln als Grundlage künstlerischer Meisterschaft und als Voraussetzung für die Bildung einer ernstzunehmenden Kultur befürwortet.24 Begabung ist nur die Voraussetzung für die Cultur, die Hauptsache ist Zucht nach Mustern. (N 1872/73: 19[298] VII 511)
Und was könnte die Zucht nach Mustern besser illustrieren als das Militär? Der Soldat, der einem vorgegebenen Rhythmus zu folgen hat und dem der Marschtakt schließlich in Fleisch und Blut übergeht, ist nicht von ungefähr Nietzsches bevorzugtes Bild für die Anerziehung einer neuen Kultur. Bereits 1870 fragt er in seinen Aufzeichnungen zur Rhythmik nach der physiologischen Wirkung des Rhythmus – „Was heißt das physiologisch?“ schließt er an die in der Einleitung erwähnten Notizen zur Idealität des antiken und modernen Rhythmus an (N 1870/71: RH 309), d.h. er überlegt, wie sich ein vorgegebener Rhythmus auf den menschlichen Körper auswirkt. In einem Abschnitt derselben Aufzeichnungen zur „Kraft des Rhythmus“ gibt er eine Antwort darauf. Ein Rhythmus wirkt auf den Körper wie auf die anderen Stoffe auch, indem er dessen natürliche Abläufe seiner idealen und damit übergeordneten Struktur anpasst. Der Leib selbst funktioniert nach körpereigenen Rhythmen wie Atem und Puls; ein ‚idealer‘ Rhythmus jedoch vermag sich all diese Bewegungen und Rhythmen zu unterwerfen und seinem Gesetz gemäß umzuformen: [D]a der ganze Leib eine Unzahl von Rhythmen enthält, so wird durch jeden Rhythmus wirklich ein direkter Angriff auf den Leib gemacht. Alles bewegt sich plötzlich nach einem neuen Gesetz: nicht zwar so, daß die alten nicht mehr herrschen, sondern daß sie bestimmt werden. Die physiologische Begründung und Erklärung des Rhythmus. (und seiner Macht.) (N 1870/71: RH 322)
Ein idealer Rhythmus hat die physische Überzeugungskraft, sich sämtliche rhythmische Bewegungen des Organismus unterzuordnen, die dadurch nicht ausgelöscht, sondern in das rhythmische Ideal integriert und einheitlich geformt werden. Einem Marschrhythmus beispielsweise schreibt Nietzsche bereits in diesen früheren Vorlesungsnotizen das Vermögen zu, seinem Takt auf Dauer die organischen Rhythmen wie den der Schritte und sogar des Herzschlags anzupassen: Die rhythmischen Bewegungen des Pulses etc. (des Ganges,) werden durch eine Marschmusik wahrscheinlich neu gegliedert, wie dem Schritt sich der Pulsschlag akkommodirt. (N 1870/71: RH 322) _____________ 24 „In Deutschland ist die Furcht vor der Convention epidemisch. Aber bevor es zu einem nationalen Stile kommt, ist eine Convention nöthig“ (N 1873: 29[121] VII 686).
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Der Marschrhythmus fungiert hier als ideales Instrument, um körperliche Abläufe nach einem externen Gesetz umzuformen und zu vereinheitlichen: Wenn ein Marsch lange genug ertönt und den Schritt in seinen Rhythmus zwingt, dann schlägt irgendwann auch das Herz des Marschierenden in seinem Takt.25 Der künstliche Marschrhythmus als Strukturvorgabe kann in seiner Wirkung auf die natürlich-organischen Rhythmen des Körpers insofern als Metapher der angemahnten Ausbildung eines einheitlichen Stils gelten, die in Nietzsches Vorträgen so vehement eingefordert wird.26 Das Implementieren eines einheitlichen Rhythmus, wie es der Soldat in seiner Dressur erfährt, ist insofern tatsächlich, wie es im Eingangszitat hieß, Nietzsches „Ausgangspunct“, der nicht zuletzt durch persönliche Erfahrungen motiviert ist. Während seiner Militärzeit im Sommer 1870 hatte Nietzsche täglich am eigenen Körper schmerzhafte Gelegenheit zu erfahren, welche Probleme das Erlernen des soldatischen Marschierens für Anfänger aufwirft. An Carl von Gersdorff schreibt er aus seinem Militärdienst: Jetzt ist mein Dienst durchschnittlich derart, daß ich von 7- ½11 und von ½12 – 6 Abends beschäftigt bin und zwar den größten Theil dieser Zeit mit Fußexercieren.27 _____________ 25 Die Ordnungsfunktion des rhythmós als ideales Prinzip gegenüber einem von ihm grundsätzlich unterschiedenen rhythmizómenon wie der gesprochenen Sprache, die Nietzsche Aristoxenos’ Schriften entnimmt (wie oben in der Einleitung ausgeführt), wird hier am Beispiel des menschlichen Körpers im wahrsten Sinne des Wortes durchexerziert. Die Rhythmen des letzteren sind die einer organischen Natur, während erst durch den von ihnen grundsätzlich unterschiedenen Marschrhythmus ästhetische Gestaltungsmacht gewonnen wird. 26 Zehn Jahre später wird Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft diesen Gedanken zum Rhythmus weiter ausarbeiten: der Rhythmus wirkt so stark beeinflussend auf alles Leben, dass er vielleicht auch die Götter beeinflusst: „[D]er Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um“ (FW 1882: 440). Vgl. Daniel Payot, Der Rhythmus des Kunstwerks: zwischen Atmen und Beschwörung, in: Primavesi/Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit, 171–177, der diesen Aphorismus in den Mittelpunkt seiner Analyse des Rhythmus stellt und bemerkt, „dass Nietzsche dem Rhythmus die Eigenschaften zuerkennt, und zwar gleichzeitig zuerkennt, die seine früheren Texte zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen aufgeteilt hatten.“ 27 Brief an Carl von Gersdorff vom 1. Dezember 1867, KGB I.2 [Nr. 554] 240f.; vgl. die Erwähnung seines Militärdienstes in einem Brief an Friedrich Ritschl vom 1. Dezember 1867, KGB I.2 [Nr. 556] 242: „[T]äglich vom Anbruche des Morgens bis in die Winterabende hinein mit einfältigen Rekruten langsamen Schritt üben [...] stumpft in seinem ewigen Einerlei so den Kopf ab [...]“. Nietzsche musste als Kavallerist auch die Ausbildung der Infanterie durchlaufen.
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Ein Jahr später wird er seine Beobachtungen zum Lernprozess vom untrainierten Gehen bis zum letztlich gelungenen Marschieren in seinen Notizbüchern festhalten. Besonders betont er hier, wie unbeholfen sich der angehende Soldat in der Übergangsphase zwischen dem gewohnten Gehen und dem schließlich gelungenen Marschieren vorkommt. Seine peinliche Unbeholfenheit resultiert daraus, dass er sich einen an sich automatischen körperlichen Ablauf plötzlich bewusst macht. Das ungewohnte Augenmerk auf die Bewegung der eigenen Füße wirkt sich verunsichernd auch auf das spontane Gehen aus und eine Zeit lang kann der Lernende kaum mehr normal laufen, geschweige denn marschieren. „Man denke an den Fußsoldaten“, notiert sich Nietzsche ein Jahr nach seinen eigenen soldatischen Erfahrungen, „der zuerst fürchtet das Gehen überhaupt zu verlernen, wenn er angeleitet wird mit Bewußtsein den Fuß zu heben und dabei seine Fehler im Auge zu behalten“ (BAW 1868: III 291). Durch die bewusste Auseinandersetzung mit seinen eigenen Bewegungen verlieren diese ihre Selbstverständlichkeit. Das stolpernd Plumpe jenes diffusen Zwischenzustandes des Lernenden nimmt Nietzsche ausführlich in seine Vorträge über die Bildungsanstalten auf, wenn er die vom alten Philosophen geforderte Bildung der Sprache an den Schulen als körperliche Dressur beschreibt.28 Auf dem „dornigen Pfade der Sprache“ zur Selbstzucht lernt man vor allem die eigene Unfähigkeit erkennen: Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat genöthigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. (N 1872: BA 684)
Hier spricht offensichtlich jemand aus eigener Erfahrung. Das ungeschulte Gehen des bereits Erwachsenen – nicht des Kindes – erscheint dem Lernenden in der Auseinandersetzung mit der strikten Formvorgabe des Marschtaktes roh und ungeschickt – ein Erlebnis, das Nietzsche bereits Jahre zuvor während seiner stilistischen Bemühungen um einen formvollendeten Ausdruck widerfuhr.29 In _____________ 28 Nietzsche spielt mit der geforderten Analogie von körperlicher und geistiger Bildung in der Schule auch auf die ursprüngliche Bedeutung des antiken Gymnasiums als militärische Schulung des Körpers an. 29 Nietzsche rekurriert hier auf eigene Erfahrungen des Bemühens, seinen Schreibstil zu verbessern, wie er sie in einem Brief an Carl von Gersdorff vom 6. April 1867: KGB I.2 [Nr. 540] 208f., schildert: „Ich will zu Deiner Belustigung gestehen, was mir die meiste Mühe und Sorge macht: mein deutscher Stil [...]: Mir fallen die Schuppen von den Augen: ich lebte allzulange in einer stilistischen Unschuld. Der kategorische Imperativ ‚Du sollst und mußt schreiben‘ hat mich aufgeweckt. Ich suchte nämlich [...] gut zu schreiben, und plötzlich erlahmte die Feder in der Hand. Ich konnte es nicht und ärgerte mich. Dazu
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jener Phase der Konfrontation mit der eigenen Unbeholfenheit, die man zuvor einfach gar nicht bemerkt, sondern vielmehr als ‚natürlich’ hingenommen hat, ist die Verzweiflung an der eigenen Natur groß und jede Besserung scheint aussichtslos. Doch Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Infanteristen kündigt an, dass diese peinliche Phase nicht von Dauer ist, sondern das Marschieren nach einiger Übung zur Gewohnheit wird: es wird vielmehr zur zweiten Natur: Es kommt nur darauf an, ihm eine zweite Natur anzubilden; dann geht er ebenso frei als vorher. (BAW 1868: III 291)
Das Marschieren wird dem Soldaten schließlich ebenso selbstverständlich wie sein zuvor stilloses Gehen, sein Schritt hat sich der neuen Ordnung angepasst. Die Freiheit und Ungezwungenheit der erneuerten Bewegung beruht nunmehr auf einer bewussten, zu Beginn als artifiziell empfundenen Vorlage, von der man nach „Monate[n]“ der Übung merkt, „daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist [...]“ (N 1872: BA 684). Die künstliche Grundlage der schließlich gewonnenen zweiten Natur verliert im Laufe des langwierigen Lernprozesses alles Ungelenke, und dennoch bleibt das Bewusstsein von der Komplexität des Zusammenspiels körperlicher Abläufe im Gedächtnis: jetzt versteht man erst, dass eine wohlgeformte Grazie der eigenen Schritte nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Der wesentliche Lernfortschritt gegenüber der unstilisierten Gehweise ist es, zu wissen, dass die Schönheit der eigenen Bewegungen keine Naturgegebenheit ist, sondern als „Natur zweiten Grades“30 erst einer stillosen ersten Natur eingeprägt werden muss. Während der ungeschulten Bewegungen jener ersten Natur wird der Soldat als „Empiriker“ bezeichnet (N 1872: BA 684),31 womit aus ästheti_____________ dröhnten mir die Ohren von Lessingschen, Lichtenbergschen, Schopenhauerschen Stilvorschriften. Ein Trost war mir immer, daß diese drei Auktoritäten einstimmig behaupten es sei schwer gut zu schreiben, von Natur habe kein Mensch einen guten Stil, man müsse arbeiten und hartes Holz bohren, ihn zu erwerben.“ 30 Mattenklott, Die dionysische Seele, 747. 31 In seiner zweiten Unzeitgemässen Betrachtung wird Nietzsche diesen Gedanken wiederholen, ihn jedoch nicht auf ein unstilisiertes Gehen, sondern vielmehr auf ein ungefiltertes Erinnern historischer Fakten als Postulat einer ‚empirisch‘ anmutenden Geschichtsschreibung beziehen. Das ungeformte Wiederholen von „Geschichtsfluctuationen“ ohne ihre bewusste Formung gleicht der empirischen „ersten Natur“ des stümperhaften Soldaten, über die es sich gerade hinwegzusetzen gilt: „[Ü]berall ist er [der Mensch, FFG] dadurch tugendhaft, dass er sich gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen empört und sich Gesetzen unterwirft, die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluctuationen sind“ (HL 1874: 311). Vgl. Kap. 2.1.3.
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scher Sicht der Wunschvorstellung eine klare Absage erteilt wird, die natürliche Gegebenheiten ‚objektiv‘, d.h. ungefiltert und ungeformt belassen will. Eine solche Haltung ist nicht etwa frei, sondern wird von der „Tyrannei des Wirklichen“ (HL 1874: 311) diktiert, in der die Realität einer Vielfalt von Fakten ohne subjektive Auswahl und Gestaltung und daher ohne Stil herrscht. Das Einfache und Schöne, so spitzt Nietzsche in seinen Notizen weiter zu, ist keine Eigenschaft der für sich belassenen Natur, sondern es ist nur durch die Unterwerfung unter künstliche Gesetze zu erringen: „Einfach und natürlich“ zu sein ist das höchste und letzte Ziel der Cultur: inzwischen wollen wir uns bestreben, uns zu binden und zu formen, damit wir zuletzt vielleicht ins Einfache und Schöne zurückkommen. (N 1873: 29[118] VII 685)
Mit der Rückkehr zum „Einfachen und Schönen“ als Ziel der Kultur bezieht sich Nietzsche in dieser Notiz nicht auf eine natürliche Ursprünglichkeit, sondern auf die strenge stilistische Schule der Franzosen und auf die griechische Kultur (ebd.). ‚Einfachheit‘ des Ausdrucks, Grazie der Schritte und Klarheit des Stils sind der Zielpunkt einer langwierigen Übung anhand solcher vorgegebener Muster.32 Deutlich wird dieses grundsätzlich Künstliche jeder ästhetischen Natürlichkeit auch anhand von Nietzsches Einschätzung der literarischen Prosa, die er als zunehmende Ästhetisierung gegenüber der Poesie begreift, obwohl die Prosa eigentlich durch die Wiedergabe gesprochener Sprache und durch freie Rhythmik naturnäher erscheint als die Poesie. Die Wendung zur ‚natürlichen‘ Sprache der Prosa in der Geschichte der Dichtung bedeutet statt dessen für Nietzsche eine Weiterentwicklung der poetischen Ordnungsstrukturen und keine Rückkehr in ein Stadium der Befreiung von künstlerischen Formvorgaben.33 Zwei Jahre _____________ 32 Der Klavierspieler dient Nietzsche in seinen Notizen drei Jahre später zum Nachweis dafür, dass es keine angeborene künstlerische Umsetzung gibt, keine natürliche Begabung zur Form, wenn sie nicht zuvor antrainiert wurde. „Der Finger des Klavierspielers hat keinen ‚Trieb‘ die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit“ (N 1876/77: 23[9] VIII 406). 33 Im 20. Jahrhundert nimmt der russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1993 (19721), 146, diesen Gedanken auf. Er versteht die Natürlichkeit als höchste Kunststufe einer „sekundären Einfachheit“, der er die Prosa zuordnet. Entgegen der Erwartung, dass Prosa das Natürlichere gegenüber der ‚künstlicheren‘ Poesie sei, nimmt er die Poesie als die ursprünglichere Kunstform an, die ähnlich wie bei Nietzsche den ‚Sprung‘ in die Sphäre der Kunst (vgl. Kap. 1.2.2. oben) überhaupt erst gewährleistet: „Um Material für die Kunst werden zu können, wird die Sprache zunächst der Ähnlichkeit mit der Alltagssprache entkleidet. Und erst die weitere Fortentwicklung der Kunst leitet dann zurück zur Prosa, aber nicht etwa zu einer ursprünglichen ‚Nichtkonstruiertheit‘, sondern zu deren Imitation. So kommt es zum Vordringen der Prosaismen, der ‚dichterischen Freiheit‘ in Poesie und Prosa, in der ganzen Literatur. Diese sekundäre Einfachheit erzeugt jedoch nur vor dem Hintergrund einer umfangreichen und ständig anwesenden poetischen Kultur im Bewußtsein des Lesers eine künstlerische Wirkung.“ D.h. nur wenn die Regel und der Zwang als absoluter Bestandteil der
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nach seinen Bildungsvorträgen notiert er sich dementsprechend zur „Einfachheit des Stils“: [E]s ist das Höchste, was man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte. Man denke daß die klassische Prosa der Griechen auch ein spätes Resultat ist. (N 1875: 5[44] VIII 52)34
Der ästhetische Anschein der Einfachheit ist insofern die höchste Stufe der Künstlichkeit – ein Gedanke, den Worringer später als ästhetisches „Einfühlungsstreben“ ausformulieren wird.35 Als Empfehlung für die zeitgenössische ästhetische Erziehung spricht Nietzsche sich zwar durchaus für mehr ‚Natürlichkeit‘ aus, versteht diese aber nicht im Sinne eines ‚Sich-Gehen-Lassens‘, sondern vielmehr als eine im Laufe der Zeit durch Konventionen erlernte und internalisierte Einheitlichkeit des Ausdrucks: „Natürlich“ zu sprechen ist in der höchsten Kunst wieder nöthig: da es aber jetzt auch im Leben keine Natürlichkeit des Sprechens giebt, so übe man die Schauspieler _____________ künstlerischen Erwartung internalisiert sind, kann ein ästhetisch wirkungsvoller Loslösungsprozess davon stattfinden. Damit ist keine Identität mit dem natürlichen, ästhetisch ungestalteten Leben gemeint (ebd., 147): „Der künstlerische Text sucht ja gerade deshalb dem Leben so nahe zu kommen wie irgend möglich, weil er schon von der Voraussetzung seiner Ausgangsposition her eben nicht ‚Leben‘ ist.“ 34 Porter, Being in Time, 148, analysiert diesen Zusammenhang bereits anhand von Nietzsches früher Veröffentlichung zum Simonides-Fragment. Nietzsche demonstriere dort, wie sich die griechische Metrik der Prosa annähert: „At the other extreme, Greek lyric, through the sheer profusion of its polyrhythms, was felt to approach the fluid rhythms of prose again [...] in which the precision of measure effaces itself to the point of unrecognizability.“ Genau darin lag jedoch Porters Ansicht nach für Nietzsche der ästhetische Wert der griechischen Zeitenrhythmik, weil sie trotz dieser Abweichungen stets als implizite Regel empfunden wurde. Wenn Dionysius ein Gedicht in Prosa-Form wiedergibt, dann spielt er mit dem vorhandenen rhythmischen Regel-Gefühl der Leser und zerstört die Rhythmik nicht, denn (ebd., 149): „Canons of aesthetic judgement are the function of culturally ingrained, or manipulated, perception – as our ‚incomprehension‘ in the face of Greek rhythmical pattern verifies [...].“ 35 Vgl. Kap. 1.1.1. Diesbezüglich unterscheidet sich Nietzsches Denken in seiner Konsequenz sowohl von Schillers in Über naive und sentimentalische Dichtung als auch von Kleists in seinem Marionettentheater. Beide nehmen eine naturgegebene Grazie bzw. eine naive, unverbildete Schönheit an, der sich der kultivierte und erkennende Mensch – als sentimentalischer Dichter oder als Nacheiferer der Marionette – nur unendlich annähern, sie aber nie erreichen kann. Nietzsche dagegen sieht die Grazie pessimistischer allein im vom Menschen gestalteten ästhetischen Schein. Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, SW V 695, zu Blume, Quelle und Stein: „Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen“; sowie Kleist, Über das Marionettentheater, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. III, hrsg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, 563, der aus dem Sieg eines Bären über den kunstvollen Fechtmeister folgert: „Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.“
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in der Convention des Rhetorischen und verachte die Franzosen nicht. Der Weg zum Stil muss gemacht, nicht übersprungen werden: dem hieratisch bedingten „Stile“, das heisst einer Convention, wird man nicht ausweichen können. (N 1873: 29[118] VII 684f.)
Als Ziel der Kunst sieht Nietzsche hier wiederum eine Natürlichkeit in Anführungsstrichen, die eine Phase der vereinheitlichenden Strukturierung voraussetzt. Diese Übungsphase kann ebenso wenig wie beim Marschieren-Lernen ausgelassen werden, denn nur durch die Befolgung von gesetzmäßigen Vorgaben lernt der Körper die Einheitlichkeit seiner künstlerischen Äußerungen spontan und ‚natürlich‘ zu beachten. Die zeitgenössische ästhetische Bildung sieht Nietzsche jedoch, wie seine Bildungsvorträge deutlich machen, bar jeder einheitlichen Struktur.36 Es muss daher von vorne begonnen werden, am Anfangspunkt des Soldaten, der sich einem Marschtakt unterwirft. Doch sollte hier daran erinnert werden: nicht die genuin apollinische Kultur stellt Nietzsche in seiner Tragödienschrift als vorbildlich hin, sondern er betont vielmehr, wie grundlegend sie für die Entfaltung einer gelungenen Kultur wie der apollinisch-dionysischen ist. Der im Gleichschritt marschierende Soldat ist insofern ebenso wenig als kulturelles Ziel Nietzsches zu verstehen, seine metronomische Disziplin ist noch „weit entfernt vom ‚Einfachen und Natürlichen‘“ – letzteres wiederum in Anführungsstrichen –, wie er seine Notiz fortführt (N 1873: 29[19] VII 685f.). Doch auch wenn Nietzsches Verordnung eines kulturellen Marschtaktes irritiert: die soldatische einheitliche Nachahmung eines geradezu mechanischen Musters kann nach den zurückliegenden Kapiteln nicht etwa als von Nietzsche verurteilte ‚schwarze Pädagogik‘ gelesen werden,37 sondern es ist anzunehmen, dass sie ihm vielmehr _____________ 36 Das bewusste Marschieren-Lernen des Soldaten bedeutet für Nietzsche daher nicht die Vergewaltigung einer an sich unschuldigen Natürlichkeit, sondern vielmehr die Bekämpfung eines inkonsequenten Gehorsams gegenüber einem Durcheinander unwissentlich befolgter Vorgaben durch einen bewusst unternommenen einheitlichen Zwang. „Wir bringen es im besten Falle [...] zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her Angezogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt“ (HL 1874: 270). Durch eine regelmäßige anders geartete Gewohnheit wird das unbewusste Chaos vergangener Bildungsresultate überfärbt und eine einheitliche instinktive ‚Natürlichkeit‘ erarbeitet. 37 Vgl. zum Thema militärische Dressur bei Nietzsche Timo Hoyer, „Höherbildung des ganzen Leibes“. Nietzsches Vorstellungen zur Körpererziehung, in: Nietzsche-Studien 32 (2003), 59–77. Hoyer differenziert bei Nietzsche eine positiv und eine negativ zu bewertende Pädagogik. Zum Positiven zählt er alles, was dem Individuum in seiner Selbsterziehung hilft und Kreativität fördert. Negativ bewertet er die (in der Nazizeit ausschließlich betonte) militärische Züchtungs-Pädagogik Nietzsches. Problematisch an diesem Ansatz ist, dass der Begriff des Individuums hier nicht hinterfragt wird. Denn ein Individuum kann nach Nietzsches Philosophie gerade nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern ist geformt durch Geschichte. Die militärische Dressur sieht Nietzsche daher, wie der zu-
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als eine unabdingliche Voraussetzung ästhetischer und kultureller Entfaltung vorschwebt. Stand in Bezug auf die Antike in der Geburt der Tragödie am Beispiel des Prometheus die maßvolle Öffnung der allzu rigiden dorisch-apollinischen Bildung für Naturzeit und Wandel im Mittelpunkt, so stellt sich für Nietzsche in Bezug auf die Moderne demnach ein gänzlich anders geartetes Problem. Sie kennt keine allen gemeinsame Stilvorgabe im Sinne eines apollinisches „Zickzacks“. Eine den Bereich des Anthropologischen absteckenden Rhythmik ist ihr fremd, die den ästhetischen Schein als Dauerhaftes vom beständig im Wandel begriffenen Gestaltungspotenzial der Natur zunächst einmal abgrenzt. Nur auf Basis einer solchen apollinischen Abgrenzung sieht Nietzsches tragische Ästhetik überhaupt eine Möglichkeit zeitlicher Belebung, ‚Verlebendigung‘ oder ‚Vernatürlichung‘ zweiten Grades in der künstlerischen Äußerung. Nietzsches Notizen aus den Jahren 1872/73 drehen sich daher großteils um die Frage, wie sich einem unstrukturierten Durcheinander dauerhafte und einheitliche Strukturen einprägen lassen und welche Rolle die Ästhetik bei deren Erhalt spielt. In erster Linie fragt man sich dabei, welches die ästhetischen Kriterien für die Auswahl der normativen Vorgaben wären, denen gefolgt werden soll. 2.1.2. Ästhetik der Analogie Wir ahmen nach und halten dagegen. (Botho Strauß, Beginnlosigkeit, 67)
Die Disposition zur Nachahmung eines vorgegebenen Musters – das mag aus dem zurückliegenden Abschnitt zum soldatischen Marschtakt bereits deutlich geworden sein – ist für Nietzsche die Grundvoraussetzung eines ästhetischen Bildungsprozesses schlechthin. Jeder Künstler fängt unehrlich an, nämlich redend wie sein Meister [...]. (N 1874: 32[14] VII 758)
„Die aesthetische Bildung“, so heißt es in einem Entwurf zur Einführung in die Geburt der Tragödie, „leitet unsre Produktion: wir sind gelehrte Künstler. Tasten nach Mustern“ (N 1871: 9[34] VII 283). Schönheit gilt ihm insofern nicht als Ausdruck natürlicher Freiheit, sondern vielmehr als ein Resultat einer kulturellen _____________ rückliegende Abschnitt gezeigt hat, im frühen Stadium der Individualisierung als notwendig an, um überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein der eigenen instinktiven Abläufe zu bekommen. Erst auf dieser Basis kann mit Nietzsche von ‚Freiheit‘ und ‚Kreativität‘ gesprochen werden. Hinter diese dialektische Erkenntnis des aufgeklärten Menschen lässt sich bei der Interpretation seiner Bildungsüberlegungen nicht zurückgehen.
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Gebundenheit. Die Imitation der Muster und Meister schafft die Grundlagen der Ästhetik und mit ihr die Grundlage der Kultur, wie er an anderer Stelle betont: Das Nachahmen ist das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmählich der Instinkt erzeugt. (N 1872/73: 19[226] VII 489)
Wenn Nietzsche hier behauptet, dass der Instinkt durch Nachahmung „erzeugt“ werde, fügt er seiner Kulturanthropologie ein weiteres provozierendes Element hinzu. Nicht nur, dass sie einem musterhaften Gehorsam entspringt, anstatt sich organisch-natürlich zu entfalten, zudem wird hier mit dem Instinktiven das scheinbar Natürliche und Spontane schlechthin desavouiert. Etymologisch wie semantisch evoziert der Instinkt eine naturhafte, triebartige Verhaltensweise, die Mensch und Tier verbindet. Doch Nietzsche impliziert hier, dass Instinkte nichts Naturgegebenes sind, sondern vielmehr das Ergebnis eines Lernprozesses: gewohnheitsmäßige körperliche Abläufe „werden erzeugt“, sie sind bereits eine kulturelle Errungenschaft. Man kann den Instinkt bei Nietzsche daher kaum als Gegenpol zum ‚Bewusstsein‘ oder Geist verstehen, wie in der Forschung suggeriert wird.38 Vielmehr bringt er jenen kulturellen Prozess der Aneignung von Instinkten durch Imitation gerade mit dem Erkenntnisvermögen in Verbindung: es sei nicht „von Natur“ gegeben, sondern entspreche vielmehr einem allein durch Wiederholung gewonnenen Instinkt: Von Natur ist der Mensch nicht zum Erkennen da [...]. Instinkt ist [...] eben Gewohnheit, oft so zu schließen und daraus κατὰ ἀνάλογον eine Pflicht überhaupt immer so schließen zu müssen. (N 1872/73: 19[178] VII 474)
Nur durch die repetitive Gewöhnung an einen bestimmten Erkenntnisschluss wird dieser irgendwann instinktiv, d.h. seine Gültigkeit wird damit unbewusst vorausgesetzt. Durch Wiederholung und Nachahmung einer bestimmten Folgerung, hier der Gewohnheit, „oft so zu schließen“, wird sie dem Gedächtnis antrainiert und allmählich zur Selbstverständlichkeit. Mit Hilfe des Analogieschlusses – kat’ análogon – wird fortan das Leben erschlossen. Die fundamentale Bedeutung der Nachahmung als Grundlage der Erkenntnis und damit der Wirklichkeitsaneignung reflektiert Nietzsches in seinem nur wenig später entstandenem Fragment zur „Zeitatomenlehre“ (N 1873: 26[12] VII 575ff.). Inspiriert wurden seine Notizen u. a. durch die Lektüre von African Spirs im selben Jahr erschienenen Buch Denken und Wirklichkeit, das er sich mehrfach aus der Basler Bibliothek auslieh.39 In einer Zusammenfassung von _____________ 38 So setzt beispielsweise Albert Vinzens, Friedrich Nietzsches Instinktverwandlung, Basel 1999, 126, den Instinkt bei Nietzsche als Gegenpol zum Bewusstsein und bezieht die Schulung der Instinkte als bewusste Dressur nicht mit in Nietzsches Konzept ein. 39 Nietzsche entlieh das Buch Spirs im März 1873 zweimal, vgl. Karl Schlechta/Anni Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart/Bad Cannstatt 1962, 119ff. Die Autoren weisen auf den Einfluss Spirs, Zöllners und Bosco-
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Spirs Philosophie hebt Friedrich Albert Lange, dessen Geschichte des Materialismus Nietzsche bekanntlich intensiv studiert hat, insbesondere Spirs Nachdruck hervor, mit dem dieser das Identitätsprinzip als Illusion entlarvt: Daß dem Satze A = A streng genommen nirgend Wirklichkeit entspricht, hat neuerdings A. Spir mit Energie hervorgehoben und zur Grundlage eines eignen philosophischen Systems gemacht.40
A kann nicht gleich A sein, denn die zeitliche Realität kennt nichts Identisches. Wie Lange im Anschluss an Spir hervorhebt, liegt die ungeheure Wirkung des Identitätsprinzips vielmehr darin, dass es durch seine idealisierende Gleichsetzung dem Denken Anhaltspunkte und „Beharren“ in der Wirklichkeit ermöglicht: Der Satz A = A ist zwar die Grundlage alles Erkennens, aber selbst keine Erkenntnis, sondern [...] ein Akt ursprünglicher Synthesis, durch welchen als notwendiger Anfang alles Denkens eine Gleichheit oder ein Beharren gesetzt werden, die sich in der Natur nur vergleichsweise und annähernd, niemals aber absolut und vollkommen vorfinden. Der Satz A = A zeigt also auch gleich auf der Schwelle der Logik die Relativität und Idealität alles unseres Erkennens an.41
Wenn etwas als identisch erkannt wird – und dieser Analogieschluss liegt jeder Erkenntnis als „ursprüngliche Synthesis“ zugrunde – dann findet bereits eine Idealisierung statt, denn das Gleichgesetzte ist tatsächlich niemals so vollkommen gleich wie die Vorstellung suggerieren mag. Die Wirklichkeit wird demnach immer nur in idealisierter Form erkannt. Erkenntnis blendet insofern immer das Ungleiche und dem Ideal nicht Anpassbare aus. Was übrig bleibt, ist das Identische und damit auch der Eindruck, dass die erkannten Dinge andauern. In seiner von ihm nicht publizierten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne dekonstruiert Nietzsche bekanntlich dieses gleichmacherische Prinzip der Erkenntnis am Beispiel der Begriffe, die nur aus dem „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen“ entstehen und solcherart auf unterschiedlichste Kontexte applizierbar erscheinen. Dass diese Kritik eine Aufforderung zur Reflexion über die tatsächlichen Mechanismen der Formbildung darstellt, nicht aber eine aus anthropologischer Sicht selbstzerstörerische Verabschiedung des idealisierenden Potenzials des Analogisierens selbst,42 soll im Folgenden anhand der Interpreta_____________ vichs auf Nietzsches „Zeitatomlehre“ hin (ebd., 153); s. speziell zum Einfluss Boscovichs die differenzierte Studie von Greg Whitlock, Examining Nietzsche‘s ‚Time Atom Theory‘-Fragment from 1873, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 350–360; vgl. zu dem Fragment auch Böning, Metaphysik, 22–38. 40 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1974 (18751), Band II, 1010, Anm. 40. 41 Ebd. 42 Den Zusammenhang von Nachahmungstrieb und sprachlicher Symbolbildung unterstreicht auch ein Notat, das wahrscheinlich aus den Vorarbeiten zu Ueber Wahrheit und
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tion seiner zeitgleich entstandenen Notate zur „Zeitatomenlehre“ und weiteren Notaten aus dieser Zeit deutlich gemacht werden. In ersteren weist Nietzsche darauf hin, dass jede Form bzw. jeder Körper nicht mehr als die Wiederholung eines durch die Wahrnehmung räumlich abgegrenzten identischen Punktes ist: Man müßte sich somit als Wesen eines Körpers [...] den einen Punkt in bestimmten Zwischenräumen gesetzt [denken]. (N 1873: 26[12] VII 576)
Ein gleicher Punkt wird in zeitlichen Abständen immer wieder als analog erkannt, woraus die Empfindung von Kontinuität oder, mit Lange, von „Beharren“ entsteht. Aus einer Wiederholung in der Zeit wird demnach die Vorstellung von Kontinuität im Raum. Figuren und Körper entstehen durch dieses analogisierende Aneinanderreihen eines Zeitmomentes, durch das Nebeneinander der Wiederholung eines identischen Punktes: Man müßte sich somit als Wesen eines Körpers Zeitpunkte distinkt denken, d.h. den einen Punkt in bestimmten Zwischenräumen gesetzt [...]. Die Zahl und die Art der Aufeinanderfolge jenes einen oft gesetzten Punktes macht dann den Körper aus. (N 1873: 26[12] VII 576f.)
Die Wiederholung von homogenen Punkten kristallisiert räumliche Körper aus der an sich nie verharrenden Bewegung der Zeit heraus, indem diese einzelnen Punkte ein Verbindungsnetz der Konstanz über sie hinweg spannen. Je höher die Zahl der Wiederholungen, desto konstanter erscheint der Körper, den sie immer wieder nachbilden. Aus diesem Beharrungsvermögen räumlicher idealisierender Vorstellungen innerhalb der Zeit entstehen die festen Anhaltspunkte zur Strukturierung der Welt. Ohne diese Idealisierung in einer stets und überall Veränderung bewirkenden Zeit (die in der Geburt der Tragödie als das Dionysische erscheint, vgl. Kap. 1.2.2.) wäre eine Orientierung in der Welt nicht vorstellbar. Bereits in einer frühen Notiz Nietzsches aus seiner Studienzeit findet sich dieser Gedanke: Nun erfassen wir an einem Lebenden überhaupt nichts als Formen. Das ewig Werdende ist das Leben; durch die Natur unsres Intellekts erfassen wir Formen: unser Int[ellekt] ist zu stumpf, um die fortwährende Verwandlung wahrzunehmen: das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt. (BAW 1867/68: III 387)
In unserer Vorstellung vermengen wir beständig räumliche und zeitliche Elemente, die als Kontinuität zusammengefasst werden. „Zeitfiguren“ nennt Nietzsche in seinen Notizen der frühen 70er Jahre diese Raum-Zeit-Konstruktionen, _____________ Lüge im außermoralischen Sinne stammt: „Metonymien. Reize, nicht volle Erkenntnisse. Das Auge giebt Gestalten. Wir hängen an der Oberfläche. Die Neigung zum Schönen. Mangel an Logik, aber Metaphern. Religionen. Philosophien. Nachahmen“ (N 1872/73: VII 489).
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die durch mimetische Wiederholungen Identität suggerieren und Ordnung und Halt in der Welt schaffen: Die Ordnung der Welt wäre die Regelmäßigkeit der Zeitfiguren [...]. (N 1873: 26[12] VII 577)
Zeitfiguren entstehen demnach durch die Übersetzung der zunächst räumlichen Vorstellung von Gleichförmigkeit in die Zeit, die diese an sich nicht kennt. Nun findet sich dieses Vermögen zur Analogiebildung Lange zufolge auch „in der Natur [...] vergleichsweise und annähernd [...]“– jedoch niemals so „absolut und vollkommen“ wie in Gestalt der menschlichen Erkenntnis (Lange 1974: II 1010). Auch Nietzsche weist für den Gewinn einer instinktiven Erkenntnis auf organische Vorläufer hin.43 So wird die Herausbildung von Arten und Gattungen in der Natur, wie er notiert, erst durch die Fähigkeit des Gleichsetzens verschiedener Erfahrungskontexte möglich: Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. So bilden sich Arten, daß die ersten nur ähnliche Exemplare stark nachahmen, d.h. dem größten und kräftigsten Exemplare es nachmachen. (N 1872/73: 19[226] VII 489f.)
Die Entscheidung darüber, was in der Natur nachgeahmt wird, begründet Nietzsche hier in biologischer Metaphorik mit einer ‚imitation of the fittest‘: Das kräftigste Exemplar einer Art dient als Vorbild der Imitation und damit als Vergleichsobjekt für das Training der Bewegungen der anderen Artgenossen. Doch unterscheidet sich Nietzsche von einer darwinistischen Sichtweise bereits dadurch, dass er nach den Voraussetzungen fragt, die überhaupt erst eine Nachahmung des Anderen möglich machen: Der Imitator muss sich nämlich zunächst selbst so definieren, dass er sich seinem Vorbild vergleichbar fühlt, er muss sich, wie es im Zitat heißt, dem Nachzuahmenden „ähnlich“ empfinden – niemals käme, bildlich gesprochen, ein besonders schwächlich geratener Wurm auf die Idee, einen starken Affen zu imitieren. Wenn die Nachahmer ihren Vorbildern „nur ähnlich“ sind, ist die Voraussetzung gegeben, sich durch das Ausklammern der Unterschiede mit ihnen zu vergleichen. Dieser Akt der Hervorhebung des Ähnlichen und der Verdrängung des Unähnlichen bildet die „Arten“ als umfassendere Kategorien der Vergleichbarkeit. Erst das „starke“ Nachahmen des an sich Unterschiedlichen bzw. nur Ähnlichen schafft und betont die Identität der Einzelexemplare, wobei ihre Differenzen in den Hintergrund treten. Die nachahmenden und nachgeahmten Wesen gewinnen gemeinsame Bestimmungsmerkmale und erscheinen so als Angehörige einer gemeinsamen Art. „Alles Vergleichen ist Nachahmen“ bedeutet in diesem Sinne, dass das Vergleichbare erst _____________ 43 Zu Nietzsches Annahme eines ‚geistigen‘ Potenzials organischen Lebens s. Günter Abel, Bewusstsein – Sprache – Natur. Nietzsche Philosophie des Geistes, Nietzsche-Studien 30 (2001), 1–43, hier 7.
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durch die Imitation bestimmter hervorgehobener Merkmale eines Wesens durch das andere entsteht und nicht von vornherein als gegeben vorausgesetzt werden kann. Eine ursprüngliche Identität wird hier nicht vorausgesetzt, vielmehr muss vor dem Vergleichen und Nachahmen, das in die Subsumierung unter einen gemeinsamen Nenner bzw. eine Art oder Gattung mündet, die Imagination einer Ähnlichkeit stehen, die tatsächlich nicht vorhanden ist. Der Ursprung der Arten wäre demnach ein Akt der Einbildungskraft: Die erste Kraft bewirkt ein Gleichsetzen des Ungleichen, ist also Wirkung der Phantasie. (N 1873: 29[8] VII 625)
Die „erste Kraft“ am Ursprung des Ästhetischen besteht in der Imagination von Analogien zwischen an sich ungleichen Gegebenheiten durch die Einbildungskraft.44 „Die Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeitenschauen“, notiert Nietzsche an anderer Stelle (N 1872/73: 19[75] VII 444).45 Diese quasi verfälschende oder, positiver formuliert, gestaltende Wirkung der Phantasie ermöglicht überindividuelle Zusammenschlüsse und Formen, wie es Nietzsche am Beispiel der natürlichen Artenbildung demonstriert.46 Nachgeahmt wird nur das in der Phantasie als _____________ 44 Dass Nachahmung bzw. Mimesis nicht nur die Abbildung von Seiendem, sondern vielmehr einen kreativen Akt meint, zeigen Gunter Gebauer und Christoph Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1998, 15: Wie sie am Beispiel Platons demonstrieren, „ist Mimesis auch die Kraft, die Bilder und damit Ästhetik schafft.“ 45 Vgl. zur Funktion der Phantasie als Analogiebildung: „Aber wie kommt der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das Entdecken irgend einer Analogie findet statt“ (N 1872/73: 19[75] VII 444). Auch hier ist es interessant, wie bereits in Bezug auf die Typenbildung unternommen (vgl. Kap. 2.1.2.), mit Benne, Historisch-kritische Philologie, 97f., einen Vergleich zur philologischen Methodik Nietzsches zu ziehen, in der der Analogieschluss eine entscheidende Rolle spielt: „Auf allen Ebenen der Kritik ist es immer wieder der Vergleich, dessen sich Nietzsche als bevorzugtem Verfahren der Philologie bedient“. Benne führt verschiedene Nachweise aus dem Nachlass dazu an, z.B. aus den Vorlesungen über lateinische Grammatik im Wintersemester 1869/70: „Es gilt Gleichförmiges nachzuweisen, das sich mit Gesetzmäßigkeit wiederholt“ (N 1869/70: KGW II2 188); vgl. auch in der Vorlesung Encyclopädie der klassischen Philologie seine Bemerkung zur Annäherung an vergangene Ereignisse: „Wir müssen also mittelst Analogien uns zu nähern suchen. Insofern ist unser Verstehen des Alterthums ein fortwährendes, viell. unbewußtes Parallelisiren“ (N 1871, evtl. 1873/74: KGW II3 373). 46 In polemischer Absicht – gegen den absoluten Wahrheitsanspruch des Begriffsdenkens gerichtet – findet sich diese Bedeutung einer primären ästhetischen Wirkung der Phantasie für die Gestaltung der Wirklichkeit auch in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als „[e]in bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken [...]“ (N 1873: WL 880). „Metapher heißt „etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat“ (N 1872/73: 19[249] VII 498). V. a. in der französischen Philologie hat Nietzsches rhetorische Sprachauffassung Schule gemacht, jedoch vor allem mit Blick auf deren inhärente Begriffs- und Metaphy-
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identisch Vorgestellte, und durch die ständige Betonung und Wiederholung der eingebildeten ähnlichen Züge entstehen aus einer Vielzahl an widersprüchlichen Aspekten einheitlichere Formen. Nachahmung, auch wenn es angesichts des Beispiels vom gehorsam in Reih und Glied marschierenden Soldaten kaum so scheinen mag, entspricht damit einer Art von Kreativität. Es ist gerade die Imitation, die Formen und Gestalten ermöglicht, indem sie der imaginierten Ähnlichkeit durch motorische Repetition einen Körper verschafft. Diesen Vorgang bezeichnet Nietzsche als „Anerziehung einer zweiten Natur durch Nachahmung“ (N 1872/73: 19[226] VII 490).47 Welchen Bezug haben die voranstehenden Ausführungen zu Nietzsches ästhetischem Konzept des Rhythmus? In seinem Vortrag Die dionysische Weltanschauung kennzeichnet er die selektive, auf Analogiebildung beruhende Nachahmung als eine ästhetische Haltung: eine Rose finden wir „schön“, weil sie in der Wahrnehmung mit unserer Vorstellung ihrer Gattung übereinstimmt: [S]ie entspricht nach ihrem Scheine der Gattungsbestimmung. Je mehr sie das thut, um so schöner ist [sie] [...]. (N 1870: DW 573)
Wir gleichen die individuelle Pflanze unserem Ideal der Gattung Rose an und nehmen die einzelne Blume in ihrer Zugehörigkeit zu diesem Ideal wahr. Schönheit bedeutet hier ein Entsprechungsverhältnis zwischen einem gesetzten Ideal und der an es angeglichenen einzelnen Form. Diese Fähigkeit des Analogieschlusses ist, wie Nietzsche am Beispiel der Artenbildung zeigt, auch eine Grundlage natürlicher Formenbildung, durch die in einem langen Evolutionsprozess Gestalt gewonnen wird. Die Herausbildung von Organismen und Gattungen durch Nachahmung von nicht Identischem zeugt bereits von einer rudi-
_____________ sikkritik und weniger in Bezug auf ihr konstruktives Potential. Vgl. Paul de Man, Rhetoric of Tropes, in: ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven/London 1979, 103–118. 47 Zum Begriff der „zweiten Natur“ bei Nietzsche findet sich ein ideengeschichtlicher Überblick in Volker Caysa, Natur, das Natürliche. Parallelen zu Nietzsches Konzept der zweiten Natur, die durch forcierte ‚Imitation‘ des Differenten möglich wird, finden sich bei Arnold Gehlen, Anthropologie und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbeck 1986, 155. Die „zeitunterworfene und notwendig wandelbare Wirklichkeit“ provoziert das Bedürfnis nach einem Höchstmaß an „Stabilität in einer automatischen, periodischen Wiederholung des Gleichen“, aus dem eine zweite, kulturelle und dauerhaftere Natur hervorgeht. Auf diese Parallele weist Christian Lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation der Geschichte, Würzburg 1999, 182, hin, sieht diese Strategie allerdings weniger als anthropologische Überlebensstrategie im Sinne Nietzsches, sondern vielmehr postmodern als Abwehr von Veränderungen in einer technizistisch orientierten modernen Gesellschaft.
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mentären organischen Ästhetik, wie Nietzsche in seinen Notizen betont.48 Doch selbst höheren organischen Formen wie den Tieren obliegt über diesen Prozess keine Kontrolle und sie besitzen infolgedessen auch keine bewusste Gestaltungsmacht. Nur allein der Mensch gewinnt diese Macht über den Formungsprozess. Was unterscheidet die menschliche Empfindung des Schönen wie z.B. der Rose von der Artenbildung in der Natur? Nietzsche identifiziert sie nicht deshalb als schön, weil sie „etwas Schönes darstellt“ wie ein schönes Gemälde (N 1870: DW 574), sondern weil sie unserer Vorstellung von einem Ideal des Schönen angepasst wird. Anders als die natürliche Artenbildung, die auf der beständigen ‚anfälschenden‘ Analogiebildung zu gegebenen Formen beruht, ist die menschliche ästhetische Analogiebildung in der Lage, ihre eigenen Ideale als Symbole der Schönheit zu entwerfen, die Wirklichkeit ihnen entsprechend zu gestalten und ihren phantasievollen Kreationen dadurch eine weitaus längere und allgemeinere Gültigkeit zu verleihen als die Natur.49 In der Musik, so schließt Nietzsche an sein Beispiel von der Rose an, wird ein solches abstraktes Ideal instinktiv durch die Rhythmik vermittelt: „von dieser Seite kann die Musik zur Kunst des Scheins ausgebildet werden.“ (N 1870: DW 574f.) Nach den bisherigen Beobachtungen zur Nachahmung als organische und als ästhetische Formenbildung gilt es nun also, die letztere als rhythmisch gesteuert vor Augen zu führen. Dazu ist ein Rückgriff auf die vorausgegangenen Ausführungen zu Nietzsches „Zeitatomenlehre“ nötig. Je öfter ein Punkt in der Zeit über weite Zeitabschnitte hinweg wiederholt wird, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, es handle sich um eine Form von Bestand, hieß es dort. Denkt man nun an das beschriebene Vermögen der phantasievollen Nachahmung in der Natur, so würde eine Form nur dann eine längere Dauer erlangen, wenn sie immer wieder nachgeahmt und auf die unterschiedlichsten Kontexte bezogen würde. Diese Bedingung eines zeitlichen Andauerns des nachzuahmenden Ideals bringt neben der Einbildungskraft, der Fähigkeit zum Analogieschluss und der Imitation als organisch gegebenem ästhetischem Potenzial zusätzlich eine zeitliche Dimension mit ins ästhetische Spiel: das geistige Potenzial des Erinnerungs_____________ 48 „[D]ie höhere Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt“ (N 1872/73: 19[50] VII 436). 49 Auf der Gleichsetzung durch die Phantasie beruht auch „die Existenz der Begriffe, Formen, usw.“ (N 1873: 29[8] VII 625). In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne beschreibt Nietzsche am Beispiel der Benennung des Blattes, wie dieser sprachliche Formbildungsprozess bereits über den natürlichen hinausgeht: „So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet [...]“ (N 1873: WL 880).
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vermögens. In seinen Notizen betont Nietzsche daher auch unmissverständlich den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Analogieschluss und Erinnerung: Alles Erinnern ist Vergleichen d.h. Gleichsetzen. (N 1873: 29[29] VII 636)
Die durch phantasievolle Gleichsetzung ermöglichte und durch Nachahmung manifestierte Identität in der Zeit kann nur durch eine nachhaltige Speicherung, durch ihre Einschreibung ins instinktive Gedächtnis zu dauerhaften Formen führen. Henri Bergson, der Jahrzehnte nach Nietzsche seine Gedanken zum Gedächtnis formuliert, bezeichnet es in gedanklicher Nähe zu Nietzsches Überlegungen als „jene innere Kraft, die dem Wesen erlaubt, sich von dem Ablaufsrhythmus der Dinge frei zu machen“.50 Während es im Rhythmus der Dinge, der atomaren Bewegung der Materie, die im Tempo der ‚Realzeit‘ abläuft, keine Form und kein Innehalten gibt, gelingt es bereits dem ersten organischen Leben mit Hilfe des Gedächtnisses Formen zu gestalten, indem imaginierte Analogien über einen Zeitraum hinweg wiederholt und konstant gehalten werden. Allem organischen Leben, so Nietzsche, ist diese formgebende Kraft durch sein Erinnerungsvermögen zu eigen: Das Leben erfordert also das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangnen; so dass immer eine gewisse Gewaltsamkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist. (N 1873: 29[29] VII 636)
Wiederholt betont Nietzsche die Abhängigkeit der Erkenntnis des Identischen von der Existenz eines Gedächtnisses. Es sei „ein reproduzierendes Wesen nöthig, welches frühere Zeitmomente neben den gegenwärtigen hält. Darin sind unsere Körper imaginirt“ (N 1873: 26[12] VII 577). Unsere Empfindung des eigenen Körpers wäre insofern – ebenso wie die Gattungen51 – Resultat einer Verlangsamung der Zeit, die keine andauernden Gestalten und Empfindungen kennt. _____________ 50 Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1908, autorisierte und vom Verfasser selbst durchgesehene Übertragung mit Einführung von W. Windelband (= MG), 234. Im Originaltext von 1896, Henri Bergson, Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris 1919, 248 (= MM) heißt es: „[La mémoire, c’est] la force intérieure qui permet à l’être de se dégager du rythme d’écoulement des choses [...].“ Abel, Nietzsche, 205 (Anm. 27) und 274, hat darauf hingewiesen, dass es Ähnlichkeiten in der Philosophie Nietzsches und Bergsons in Bezug auf das Verständnis von Veränderung und Bewegung sowie in Bezug auf das der Intuition gibt. Bergsons Schrift Materie und Gedächtnis wird unten noch einmal in Kap. 2.2.1. zu einem Vergleich mit Nietzsche herangezogen. 51 In Anknüpfung an eine späte Notiz Nietzsches – „die Gattungen sind nur relative Verlangsamungen des tempos“ (N 1887: 9[100] KGW VIII2 56), stellt Bernhard H. F. Taureck, Nietzsches Alternativen zum Nihilismus, Hamburg 1991, 190f., die Differenz Nietzsches zu Darwin heraus. Diese Annahme in Bezug auf Nietzsches Herleitung der Gattungen als Verlangsamungen des zeitlichen Wandels kann bereits für das Frühwerk gelten (anders Taureck, ebd., 189).
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Obwohl daher auch der organischen Natur wie allem Leben bereits ein Gedächtnis und damit die Bildung von Formen zuzusprechen ist, so unterscheidet Nietzsche den Menschen durch sein geistiges Vermögen der Erinnerung über ungleich weitere Zeiträume hinweg maßgeblich von ihr. Über die organische Natur hinausgehend ist es ihm möglich, den Formen durch Abstraktion zu Prototypen über eine längere kulturelle Zeitspanne hinweg Beständigkeit zu gewährleisten. Das Schaf dagegen – mit dem in einer Parabel Nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung beginnt – vergisst augenblicklich jeden seiner gerade geformten Gedanken.52 Das Tier ist durch sein kürzeres Gedächtnis dichter an den Augenblick und damit an das Verfließen in der Zeit gebunden, wenn es auch durch sein Vergessen ebenso vor der Tragik dieser Erkenntnis geschützt ist.53 Der Mensch dagegen kann seinen Formen längeren Bestand gewähren, weil er einer kulturellen, die Einzelerscheinungen überschreitenden Bildungstradition fähig. Er vermag der Zeit widerstehende Muster durch Analogisierungen mit der Vergangenheit zu bilden, worin für Nietzsche der tiefere Sinn einer klassischen Bildung besteht.54 Diesen Trieb [das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen, FFG] bezeichne ich als den Trieb nach dem Klassischen und Mustergültigen: die Vergangenheit dient der Gegenwart als Urbild. (N 1873: 29[29] VII 636)
Klassisches und Mustergültiges dienen in Nietzsches Vorträgen über die Bildungsanstalten als Anhaltspunkte einer Herausbildung von Kultur und Stil, von denen vermeintlich ‚unverbildete‘ Kinder nicht einmal träumen können (vgl. Kap. 2.1.1.). Als musterhaft anerkanntes Bildungsgut weiter zu tragen, wie es der Philosoph mit der exakten rhythmischen Wiederholung der Pistolenschüsse von seinen Schülern verlangt, bekommt im hier aufgezeigten Sinne eine anthropolo_____________ 52 Nietzsche führt das Tier ein, „welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht. So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart [...]“ (HL 1874: 249). Zur Metaphorik rhythmischer Wiederholungsstrukturen in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben siehe das nächste Kapitel. 53 Das Tier ist aufgehoben in der Formenwelt der Natur, wenn diese auch der Einzelform keine Dauer verleihen kann. „Der metaphysische Trost, [...] dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben“ (GT 1872: 56). 54 „[Die Bildung, FFG] ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äusserungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt“ (SE 1874: 341).
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gische Dringlichkeit. „Die Bildung überträgt sich nicht einfach durch die Generation“, notiert sich Nietzsche: Sie ist viel gefährdeter: sie kann Jahrhunderte lang wirklich vernichtet werden. Es ist möglich die Bildung zu vernichten. (N 1873: 26[14] VII 580)
Die aus dem Vergangenen gezogenen und erinnerten „Urbilder“, die der Gegenwart als Vorbild dienen sollen, sind demnach selbst nicht unvergänglich. Damit gehört auch die idealtypische Vergangenheit in den Bereich des Gewordenen und Zeitlichen, wenn ihr auch eine größere Kontinuität eignet als den organischen Formen.55 Die idealen Muster der Vergangenheit sind selbst ästhetische Produkte, das Vergangene wird, wie Nietzsche notiert, „mit Kunst und künstlerischer Verklärungskraft“ behandelt (N 1873: 29[29] VII 636). Die Wiederholung derselben Formen ist kein passiver reproduktiver Akt, sondern schöpferisch, da sie Gestalten aus der Diversität des Vergangenen herauslöst und hervorhebt, die allein durch diesen wiederholten Akt der Betonung Dauer bewahren. Diesen schöpferischen Akt einer selektiven Nachahmung bezeichnet Nietzsche in einer für unseren Zusammenhang zentralen Notiz als einen Rhythmus: Es ist eine Kraft in uns, die die großen Züge des Spiegelbildes intensiver wahrnehmen läßt, und wieder eine Kraft, die den gleichen Rhythmus auch über die wirkliche Ungenauigkeit hinweg betont. Dies muß eine Kunstkraft sein. Denn sie schafft. Ihr Hauptmittel ist weglassen und übersehen und überhören. Also antiwissenschaftlich: denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse. (N 1872/73: 19[67] VII 440f.)56
Das Festhalten eines Rhythmus fordert das Ausblenden alles Unbetonten, aber zweifellos Vorhandenen und wissenschaftlich Erkennbaren: eine „wirkliche Ungenauigkeit“. Der Rhythmus erscheint demnach als ästhetische Setzung, die der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegensteht, indem sie ihre Gestalt aus dem beharrlichen Übersehen aller Unähnlichkeiten zwischen den betonten Akzenten gewinnt. Dank dieser Fähigkeit zur selektiven, rhythmischen Wahrnehmung gelingt die Herausbildung von Formen, die Dauer, d.h. „Sein“ gewinnen:
_____________ 55 Durch Selektion herausgebildete Typen sind demnach als Muster der Zukunft zu verstehen. Vgl. die Anmerkungen zu „Muster“ und „Typus“ in Nietzsches Notizen über Thukydides, allerdings erst von 1878, bei Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin/New York 1997, 146, Anm. 260. 56 Schlechta/Anders, Verborgene Anfänge, 108, weisen darauf hin, dass sich Nietzsche mit diesem Satz gegen die Annahme eines unbewussten Wahrnehmungsaktes wendet: „Das Wahrnehmen ist ein ständiges Erzeugen und Auswählen von Bildern: es ist ein ‚Bilderdenken‘.“
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Zu jedem wahren Sein verhalten wir uns oberflächlich, [...] mit künstlerischer Kraft, indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen. (N 1872/73: 19[67] VII 441)
Wahrheit wird nur um den Preis der Verfälschung, d.h. durch ästhetische Selektion gewonnen. In einem Brief Schillers an Goethe, aus dem Nietzsche 1871 exzerpiert, gewährleistet „der Rhythmus“ eine „Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das Gröbere bleibt zurück“ (N 1871: 9[77] VII 302).57 Die rhythmische Kraft zur Lüge im außermoralischen Sinne des Scheins, d.h. zur Verschleierung und Verdunklung von unzähligen Aspekten verbürgt die Existenz von betonten Formen und Mustern, die folglich ‚nachgeahmt‘ werden können. Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem Verschleiern – das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeineren Reizungen. (N 1872/73: 19[50] VII 435)
Es ist demnach die rhythmische Fähigkeit, ein idealisiertes Muster zu erinnern, wahrzunehmen und ihm zu gehorchen, wodurch die vielzähligen Rhythmen – die „gemeineren Reizungen“ der ‚ersten‘ Natur überfärbt werden und Stil gewinnen. Die organische Natur erweist sich durch die Existenz von analogisierenden Rhythmen bereits als eine Art jungfräuliche Ästhetik, denn sie kennt Formen und Arten. Eine menschliche ästhetische Kultur jedoch beginnt mit dem weitaus übergreifenderen Vereinheitlichen ihrer Rhythmen, wie Nietzsche am Beispiel des Soldaten demonstriert. In seinen Notizen zur Rhythmik zwei Jahre zuvor hatte Nietzsche dem Rhythmus die Fähigkeit zugeschrieben, eine Vielzahl von Bewegungen zu strukturieren, ohne die Bewegung selbst dabei still zu stellen. Am Beispiel des Körpers verdeutlicht er hier, dass der ideale und strukturierende Rhythmus wie z.B. der eines Marschtaktes auf zellulare unendlich schnelle Rhythmen trifft, die er gleichsam bündelt, indem er sie nach seinen Betonungen formt: Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen. Der Einfluß des Rh. scheint mir eine unendlich kleine Modifikation jener rhythm. Bewegung zu sein[.] (N 1870/71: RH 325)
Die feine Veränderung, die der Rhythmus im künstlerisch formenden Sinne vornimmt, liegt in den gegenüber den organischen Rhythmen weiter gespannten und konsequenter identisch wiederholter Zäsuren, die in die ohnehin erfolgen_____________ 57 Brief Schillers an Goethe vom 24. November 1797 (vgl. KSA XIV 539). Vgl. die Interpretation in Venturelli, Aldo, Das Klassische als Vollendung des Modernen. Nietzsche als Leser des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe, in: ders., Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Berlin/New York 2003. 163f. Nachdrücklich zeigt Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik, 19f., u. a. auch an diesem Beispiel, wie die Rezeption von Schiller Nietzsches „(anti-)naturalistische Ästhetik“ bestimmt hat.
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den Bewegungen gesetzt werden und diese dadurch vereinheitlichen und strukturieren. Dieses Zentrieren der Aufmerksamkeit auf selektierte Momente schafft nicht nur Hervorhebungen, sondern wirft notgedrungen auch weite unbetonte Passagen in den Schatten: [D]ie neue Accentsilbe saugt alles Leben in sich, während um sie herum alles verkümmert. Die Worte äußern sich jetzt durch Explosionen, die auf einen Punkt gedrängte physische Anspannung fehlt dafür den andren Punkten. (N 1870/71: RH 308)
Die rhythmischen Betonungen gleichen Inseln, auf denen sich das Leben zu erkennbaren Figuren ballt, während um diese Inseln herum die Wirklichkeit abgedunkelt wird. Diese rhythmische Ästhetik der Formschulung, so scheint es, besteht im Wesentlichen in der Anpassung an eine bestimmte Auswahl oder ein bestimmtes Betonungsmuster des zeitlichen Verlaufes, um so ihren anthropologischen Formen eine größere Beständigkeit zu gewährleisten.58 Wenn eine spätere Ästhetik und Philosophie des Rhythmus die moderne Betonungsrhythmik als gleichsam leere, der objektiven Wissenschaft verpflichtete Zeitmessung dem antiken Rhythmus gegenüberstellt, so kann sie sich nicht auf Nietzsche als ihren Vorläufer berufen.59 Denn die ästhetische Leistung der Akzentrhythmik erweist sich für ihn gerade darin, der modernen Zeit eine lebbare Gestalt zu verleihen. Es hat sich im zurückliegenden Kapitel gezeigt, dass Nietzsche in seinen ästhetischen Überlegungen in Bezug auf die Moderne den Rhythmus nicht in seiner konkreten musikalischen, choreographischen oder poetischen Gestalt wie noch am Beispiel antiker Kunst behandelt. Doch der metaphorische Gebrauch rhythmischer Strukturen, welche die selektive Herausbildung eines kulturerhaltenden Ideals veranschaulichen, weist in seiner Kritik der Moderne strukturelle Analogien mit dem im ersten Kapitel gezeigten rhythmisch-ästhetischen Modell _____________ 58 Siemens, Agonal Configurations, 84–97, der das Prinzip der Mimesis in Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen ebenfalls als „instrument of culture“ demonstriert, geht auf die rigide Selektion, die der ‚Nachahmung‘ bei Nietzsche zugrunde liegt, weniger ein. 59 Am Beispiel von Thrasybulos Georgiades führt Cathrin Nielsen, Rhythmus. Zum Wesen der Sprache bei Heidegger. Prolegomena 2 (2003), N. 1, 3–17, hier 3, die Gegenüberstellung einer „erfüllten“ Zeit des archaischen Quantitätsrhythmus und einer „leeren“ Zeit der modernen Betonungsrhythmik im Denken des Musikwissenschaftlers vor Augen, „mit der das arhythmische Prinzip des Zählens in den Vordergrund tritt.“ Überzeugend überträgt sie dieses Modell auf Heideggers Verurteilung der modernen Zeit als „Gestell“, als „Metrum reiner Prozessualität“. Nietzsches Auffassung moderner Betonungsrhythmik dagegen, so zeigt das zurückliegende Kapitel, lässt sich nicht auf Heideggers lebensphilosophische Gegenüberstellung beziehen. Die Akzentrhythmik wird weniger als Degenerationsphänomen angeprangert, sondern zeigt vielmehr Wege des Umgangs mit einer degenerierten Kultur. Sie liefert in Nietzsches frühen Schriften mittels ihrer selektiven Analogisierung eine ästhetische, und das heißt bei ihm menschliche Gestaltung der aus allen Maßen geratenen Zeit, die dem wissenschaftlichen Objektivitätsstreben, wie das nächste Kapitel zeigen wird, gerade entgegen gehalten werden soll (vgl. auch Kap. 2.2.3.).
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der Antike auf. Eine Kultur, so betont Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, kann nur aus den gewissermaßen apollinischen Schematisierungen erwachsen, die Nietzsche sogar noch in dieser stets als begriffskritisch gedeuteten Schrift als „menschlicher“ bezeichnet: [I]m Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulicheren Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische. (N 1873: WL 881f.)
Die Forderung nach einer apollinischen Grundrhythmik als Fundament der Kultur gewinnt durch den von Nietzsche beklagten Verlust von Anhaltspunkten in der unendlich teilbaren Zeit der Wissenschaft eine besondere Dringlichkeit, denn sie droht unmenschlich zu werden. Seine adhäsiven Denkfiguren zur Korrektur dieses modernen Defizits sollen im folgenden Kapitel anhand seines Blicks auf die moderne Behandlung von Geschichte und Wissenschaft dargestellt werden. Sie demonstrieren, wie er das bislang entwickelte Modell einer rhythmischen Konturierung und Verlangsamung der Zeit in der Moderne mit Inhalt gefüllt wissen will. 2.1.3. Betontes und Unbetontes in der Historienschrift Nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung lässt sich als kritische Überlegung zu einer ästhetischen bzw. ‚rhythmischen‘ Strukturierung der Geschichtszeit lesen. Ein Bild aus Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, das Assoziationen zur Titelvignette der ersten Ausgabe der Geburt der Tragödie weckt, mag dies vorausgreifend veranschaulichen. Nietzsche visualisiert hier den Erhalt der Kultur durch nacheinander entzündete Leuchtfeuer auf den Gipfelpunkten der menschlichen Geschichte und hebt hervor, dass durch deren „schwierigen FackelWettlauf [...] allein das Grosse weiterlebt!“ (HL 1874: 259) Das Bild eines Fackelwettlaufs ruft den Titel von Aischylos’ nur in wenigen Fragmenten überliefertem dritten Teil der Prometheus-Trilogie Fackelträger Prometheus (ΠΡΟΜΗΘΕΥΣ ΠΥΡΦΟΡΟΣ) in Erinnerung. Am Ende des Stücks soll das dem Feuergott Prometheus gewidmete Fest der Prometheia eine Rolle gespielt haben, das eine Staffellauf-ähnliche Fackelübergabe als Wettkampf inszeniert. Dieser Kultus wird bei Aischylos als die Vereinigung von Prometheus und Zeus gefeiert,60 de_____________ 60 Vgl. die Deutung des Titelbildes der ersten Ausgabe der Tragödienschrift in Kap. 1.2. Westphal, Prolegomena zu Aeschylus Tragödien, 220, erwähnt, dass Aischylos in Fackelträger Prometheus sowohl die Titelfigur wie auch Zeus als Fackel-(bzw. Blitz-)träger bezeichnet.
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ren Verbindung Nietzsche ebenfalls an die zentrale Stelle seiner Ästhetik der Tragödie rückt (vgl. Kap. 1.2.). Wenn er von einem „Fackel-Wettlauf“ als Notwendigkeit der historischen Betrachtung spricht, so klingt hier bereits die sensible ästhetische Balance der tragischen Griechen zwischen der apollinischdorischen strikten Abgrenzung von allem Vergänglichen in Gestalt des Zeus und einer Einbeziehung des Zeitlichen in dieses ästhetische Konzept durch Prometheus an, wie sie die Titelvignette der Tragödienschrift zeigt. Wie sich dieses Bild der tragischen Ästhetik mit Nietzsches Forderung nach wiederholten Gipfelpunkten in der modernen Geschichtsbetrachtung verbinden lässt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Die zweite Unzeitgemässe Betrachtung von 1874 beginnt, wie bereits erwähnt, mit einem Blick auf das Herdentier. Es ist ein sehnsüchtiger Blick, denn Nietzsche schätzt das Schaf als genuin glücklich ein, weil es immerfort vergisst, während der Mensch um die Vergangenheit niemals herumkommt und sie als Bürde mit sich herumträgt (HL 1874: 249). Denn auch beim Menschen ist das Glücksempfinden an das Vergessen gebunden. Nietzsche bezeichnet das Glück als Vermögen, während der Dauer eines Momentes „unhistorisch zu empfinden“, d.h. nicht zu erinnern (HL 1874: 250). Der Mangel an Erinnerung gleicht insofern einer lebensbejahenden organischen Grundkonstituente, die beim Tier deutlicher zutage tritt als beim Menschen. Nietzsche bindet nicht nur das Glücksempfinden, sondern die Existenz des Lebens selbst an Momente des Vergessens: Die Schöpfung alles Lebens, wie er bemerkt, geschah durch Gottes Vergesslichkeit (HL 1874: 269).61 Das Vergessen wird in der Metaphorik der Historien_____________ In der Übersetzung von Droysen (Aischylos, Die Tragödien, 400), heißt es über den prometheischen Kultus: „Sein Fest, Prometheia, wurde alljährlich mit einem Fackellauf begangen [...]. Die einzelnen Phylen konkurrierten miteinander in der Form des Stafettenlaufs. Man wollte nämlich zu bestimmter Zeit das durch den langen Gebrauch verunreinigte Feuer durch neues ersetzen, das man vom Altar des Feuergottes holte. Je rascher man es ans Ziel brachte, desto mehr behielt es von seiner Heiligkeit. Die Freude des Hellenen am Wettkampf tat das übrige.“ Die Vereinigung von Zeus und Prometheus wird dort ebenfalls geschildert: „Nachdem nämlich Prometheus, so heißt es hier, den Menschen das Feuer geschenkt hatte [...] entstand also ein Kampf aller gegen alle, der sie dem Untergang nahe brachte. Zeus aber rettet sie, indem er [...] zwei Göttinnen zu ihnen sendet, Ehrfurcht und Gerechtigkeit, damit ihre Kräfte seien ‚die Ordner des Staats‘ und ‚der Liebe verknüpfende Bande‘.“ Letztere Zitate deutet Droysen als der AischylosTragödie zugehörig (ebd., 401). 61 Nicht von ungefähr nennt Jacques Le Rider, Erinnern, Vergessen und Vergangenheitsbewältigung, in: Zeitenwende – Wertewende, hrsg. von Renate Reschke, Berlin 2001, 101, Nietzsche einen der Philosophen, „die in der Aufwertung des Vergessens am weitesten gegangen sind. Für ihn ist das Leben selbst, der gesunde Wille, eine kreative Vergeßlichkeit.“ Kathrin Meyer, Ästhetik der Historie. Friedrich Nietzsches ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘, Würzburg 1999, 181, hat die Notwendigkeit des Vergessens für das Erinnern treffend als „Figur einer konstruktiven Negation“ bezeichnet. In Nietzsches
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schrift durch den Kontrast von hell und dunkel relevant. Erst durch die Dunkelheit des Vergessenen entsteht die Kontrastfolie, die zur Konturierung des demgegenüber erhellten Geschaffenen notwendig ist. Als Bedingung auch für die menschliche Schaffenskraft, für „Gesundheit“ (HL 1874: 252) und für das Leben schlechthin gilt Nietzsche diese Trennung von Beleuchtetem und Verdunkeltem, von Episoden des Erinnerns und des Vergessens: Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. (HL 1874: 250)
Weder ein vollkommenes Vergessen noch ein vollkommenes Gedächtnis würden diese lebensnotwendige Trennungslinie erlauben, sondern allein die Kombination von beiden schafft abgegrenzte Felder, Formen und Körper.62 Doch was geschieht, wenn diese organische Grundsicherheit fehlt, wenn die Linie zwischen hell und dunkel nicht klar gezogen wird, wenn es kein Vergessen und daher auch keine Erhellung von individuierten Formen gibt? Dann entschwinden die Konturen und Abgrenzungen und alles zerfließt in einer unablässigen Bewegung: Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens [...]. (HL 1874: 250) _____________ Denken der Erinnerung ohne Vergessen offenbare sich demgegenüber der Verlust von „Beständigkeit, Form, Kontinuität und Sinn“, die Vergangenheit zeigt sich als zielloses Werden und muss durch das Konzept des Vergessens ausgeglichen werden (ebd., 90). Bereits Joan Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959, 50, hat in ihrer grundlegenden Untersuchung zum Thema Zeit bei Nietzsche diesen Aspekt in der Historienschrift hervorgehoben: „Das Leben, wenn es einmal entfesselt ist, muß immer wieder neu geformt und gebändigt werden, sonst verzehrt es sich, leidet und geht an diesem Leiden zugrunde.“ Vgl. zum „menschlichen Dasein im Zeichen der Zeit“ in dieser Schrift Nietzsches auch Achim Geisenhanslüke, Der Mensch als Eintagswesen. Nietzsches kritische Anthropologie in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien 29 (1999), 125–140, hier 130. Die relevante Literatur zum Thema Zeit bis 1987 bei Nietzsche hat Werner Stegmaier, Zeit der Vorstellung. Nietzsches Vorstellung der Zeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41.2 (1987), 202–228, zusammengestellt. 62 Die göttliche Unterscheidung von Licht und Dunkel als erste schöpferische Tat in Analogie zur Helligkeit der Erinnerung und Dunkelheit des Vergessenen dient Nietzsche als Vorbild auch für die Kreativität des Menschen. Jede „Heiterkeit“ und „frohe That“ hängt davon ab, „dass es eine Linie giebt, die das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet, davon dass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon dass man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nöthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden“ (HL 1874: 251). Vgl. die Interpretation des Vergessens als Abstoßen des „nicht Assimilierbare[n]“ bei Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen 1, Berlin/New York 1999, 182.
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Das Vergessen enthält eine schöpferische Kraft, die nicht zuletzt das Bild der eigenen Gestalt gewährleistet: ohne sie glaubt man nicht mehr an das eigene Sein und „verliert sich“. Für Nietzsche gleicht die Wirklichkeit ohne Konturierung durch das Vergessene einer unaufhörlichen Bewegung, die keiner Gestalt Bestand gewährt. Denn das partielle Vergessen verdunkelt nicht nur, sondern hebt zugleich andere Passagen in den hellen Vordergrund des Bewusstseins, es isoliert Momente von Dauer. Das Vergessen als eine Art Hintergrundschwärze lässt die hellen Formen des Lebens erst hervortreten, es ist „einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt [...]“ (HL 1874: 252). In Nietzsches Metaphorik erscheint die Schutzhülle des Vergessenen bzw. in seinen Worten „das Unhistorische“ als notwendig begrenzender Horizont,63 der das Lebendige umschließt und ohne den kein gesundes Leben möglich ist: Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen [...], so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin. (HL 1874: 251)
Anders als in der Geburt der Tragödie, wo der Lichtkreis apollinischer Helligkeit vor dem dunklen Chaos wechselnder Formen der Natur beschützt,64 zeigt sich nunmehr in Bezug auf die Moderne der Schrecken als Übermaß an Licht, vor dem sie sich durch Verdunklung, durch Vergessen zu schützen hat. Eine Umkehrung der ästhetischen Anthropologie aus der Tragödienschrift wird hier deut-
_____________ 63 „Mit dem Worte ‚das Unhistorische‘ bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen“ (HL 1874: 330). Vgl. die Herleitung der Parallele zwischen Horizont, Schema und Muster bei Nietzsche von Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche. Göttingen 1992. 324ff. 64 In der Geburt der Tragödie ist Prometheus die Symbolfigur, die Licht und Gestalten vermittelt und erzeugt. Als Sinnbild des Künstlers schlechthin schlägt er Funken in die Dunkelheit, die er jedoch nie auszuleuchten vermag: „[V]ielmehr ist die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt“ (GT 1872: 68). Wenn Prometheus Gestalten schafft und das Feuer und Licht den Göttern aus der Hand nimmt, dann bleibt er dennoch nur ein Funke in der herrschenden Dunkelheit. Die griechische Heiterkeit sieht Nietzsche vor dem Hintergrund der dunklen Weisheit des Silen und seiner Verkündung der „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“, vor die der Grieche laut Nietzsche, „um überhaupt leben zu können“, seine Kunst als „glänzende Traumgeburt“ stellen musste (GT 1872: 35). Silen als Begleiter des Dionysos weist den Menschen darauf hin, dass dessen Dasein der unablässigen Überwältigung jedes Lebens durch die dionysische Natur geweiht ist. Für das „Eintagsgeschlecht“ der Sterblichen lohnt es sich nicht zu leben, spottet der düstere Gott. Es lohnt sich doch, lächelt die griechische Heiterkeit mit Hilfe der kurzlebigen Lichtbilder ihrer Mythen, setzt Nietzsche dagegen.
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lich: Das ästhetisch-apollinische Leben des Menschen65 hat sich nicht mehr wie in der Antike von der unbegriffen dunklen organischen Natur abzusetzen, sondern von der zu großen Helligkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Entsprechend erscheint Nietzsches Charakterisierung der Wissenschaft in der Metaphorik greller Ausleuchtung. Er kritisiert sie als ein der Objektivität verpflichtetes Erkenntnisstreben, das alles bislang Unbeleuchtete ohne auszuwählen erhellen und wahrnehmen will. Die moderne Wissenschaft hat gerade den Anspruch, nicht nur partielle Segmente der Realität zu erfassen, sondern sie vielmehr gänzlich auszuleuchten, sie wird daher zur Feindin des Lebens: Die Wissenschaft [...] lebt in einem innerlichen Widerspruche [...] gegen die aeternisirenden Mächte der Kunst und der Religion, als sie das Vergessen, den Tod des Wissens, hasst, als sie alle Horizont-Umschränkungen aufzuheben sucht und den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hineinwirft. (HL 1874: 330)
Gleich im Anschluss daran folgt ein Ausruf Nietzsches, der sowohl die Sehnsucht nach jenem unbegrenzten Meer des Wissen als auch das Lebensbedrohliche dieses Lichtwellen-Meeres ausdrückt: Wenn er nur darin leben könnte! (HL 1874: 330)
Ein Zuviel an historischem Wissen, der Wunsch nach lückenloser und objektiver Erhellung aller historischen Fakten lässt die Grenzen des Horizonts ins Unendliche zurückweichen.66 Doch nur allein mit Hilfe eines Horizontes, d.h. auf einer dunklen Leinwand des Vergessenen, können die Formen des Lebens erscheinen. _____________ 65 Wie in dieser Arbeit unternommen, versteht Herbert Schnädelbach, Nietzsches Kritik der historischen Bildung, in: Études Germaniques 55 (2000), N. 2, 169–183, hier 176, Nietzsches Begriff des „Lebens“ in der Historienschrift grundsätzlich nicht auf die Natur bezogen, sondern vielmehr anthropologisch als „das vom Menschen gelebte und erlebte Leben unter dem Gesichtspunkt der Bildung“. Damit betont er, dass Nietzsche mit seinem Abwägen des ‚Nutzens und Nachteils der Historie für das Leben‘ nicht allein Erkenntniskritik übt, sondern seine Auffassung von der Historie zugleich auch von der vegetativen Natur absetzt. Dagegen vernachlässigt die Gegenüberstellung von „Lebenswelt“ (d. h. „Kreativität und Vitalität“) und „rationale[r] Ordnungsstiftung und Kalkulierbarkeit“, wie sie Dietrich Harth, Das Gedächtnis in den Kulturwissenschaften, Dresden/München 1998, 195, in Nietzsches Schrift ausmacht, die Abgrenzung des menschlichen von einem ‚natürlichen‘ Lebensbegriff, den Nietzsche in der Historienschrift unternimmt. 66 Albrecht Koschorke analysiert in seinem Buch Die Geschichte des Horizontes. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a. M. 1990, 225, einen ähnlichen Abgrenzungsversuch gegenüber einem übertriebenen Objektivitätsstreben in der Geschichtsbetrachtung: Den Ästhetizismus der nachromantischen Epoche kennzeichnet er in der Kapitelüberschrift als „Wiederkehr der Grenze“, die angesichts eines „übermächtig gewordenen Geschichtsproze[sses]“ und einer „Weltzeit“, die „sich fortwährend zu beschleunigen scheint“, notwendig wird. Zum Horizont in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung vgl. Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit, 111ff.
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Verstehen ist nur auf der Folie des Dunklen und Unverstandenen, der „ungetilgten Zeit“ (Simon) möglich.67 Nietzsches Bild eines „Lichtwellen-Meer[s] des erkannten Werdens“ suggeriert insofern, dass die Wissenschaft hinter den Bereich des ersten sinnlichen Begreifens, der ersten organischen Lebensformen zurückgeht, die bereits auf Ausklammerung und Selektion von Wahrnehmungseindrücken beruhen. Die Wissenschaft führt direkt in die Welt der formlosen und lebensfeindlichen Bewegungen anorganischer Materie.68 Ohne Anhaltspunkte lösen sich alle Konturen – auch die eigenen, in indistinkte Lichtwellen auf. Den daraus resultierenden Orientierungsverlust illustriert Nietzsche durch den Verlust der Sinneswahrnehmung und des Gleichgewichts: Der Mensch werde durch ein „allzu helles, allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht“ gleichsam geblendet (HL 1874: 299), ohne festen Boden unter den Füßen muss er im Meer des Lichts schwimmen, dabei ist doch, wie Nietzsche im letzten Teil seiner Schrift proklamiert, „der schlechteste Nothafen [...] besser als wieder in die [...] Unendlichkeit zurückzutaumeln. Halten wir nur erst das Land fest [...]“ (HL 1874: 324). Die Entwicklung des modernen Erkenntnisstrebens, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie mit Sokrates beginnen sieht, führt bis in die Gegenwart hin zu einem Meer erkannter Fakten, innerhalb dessen kein Halt mehr zu gewinnen ist. Alles Erkennen ist ein Messen an einem Maßstabe. Ohne einen Maßstab, d.h. ohne jede Beschränkung, giebt es kein Erkennen. (N 1872/73: 19[155] VII 467)
„Raum und Zeit“ so betont Nietzsche kurz zuvor, „sind nur gemessene, an einem Rhythmus gemessene Dinge“ (N 1872/73: 19[153] VII 467). Ohne einen solchen Taktstock wird die unbeschränkte, maßlose Menschheit in einen Zustand zurückgeworfen, in dem sich die ersten Wassertiere noch vor ihrer Eroberung des Festlandes fanden. „Ueberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest!“, mahnt Nietzsche, „[d]ein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene“ (HL 1874: 313).69 Im Meer der erkannten Details und _____________ 67 Vgl. Simon, Philosophie des Zeichens, 276: „Die Farben des Lebens resultieren daraus, daß in allem Verstehen Unverstandenes, Dunkles [...], als ungetilgte Zeit, durchschimmert.“ Vgl. dazu auch Böning, Das Buch eines Musikers, 106: „Absolute Erkenntnis ist [...] das Ende jeder Entwicklung, weil sie keine Perspektive und keinen Horizont, nämlich keinen Gesichtspunkt mehr kennt [...].“ 68 Der Utopie Kleists, dass der Mensch über ein unendliches Bewusstsein die Schönheit erlangen kann, folgt Nietzsche daher nicht. In Kleist, Über das Marionettentheater, 563, ist sowohl das Tier (der gegen den Fechtchampion siegende Bär, s.o.), die bewussteinslose Marionette als auch der grenzenlos erkennende Mensch dieser Schönheit fähig: „[S]o findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat [...].“ 69 In der Geburt der Tragödie dient ihm Faust als Beispiel dieser Orientierungslosigkeit des zu viel Wissenden, dem er Sokrates gegenüberstellt: „Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der [...] moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten
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Fakten fehlt ihm die Sicherheit des antiken Schiffers, der durch die apollinisch gesetzte Eindeutigkeit der Grenze zwischen seinem Kahn und dem dionysisch stürmischen Ozean, „vertrauend auf das principium individuationis“, das wenn auch begrenzte Reich des Menschlichen steuert (GT 1872: 28).70 Die Moderne nähert sich dem orientierungslosen Ausgeliefertsein an eine unendliche Vielzahl des Erkannten und Möglichen, die eine Gewinnung langfristiger und notgedrungen beschränkter Perspektiven unmöglich macht: sie ist allzu hell, allzu wechselnd und allzu plötzlich, als dass man wirklich etwas sehen könnte. Den ungebremsten Wissenstrieb bezeichnet Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift über die Vorsokratiker daher auch als „blinde[ ] Begierde“, weil sie sich ohne Auswahlkriterien auf „alles Wißbare“ stürzt (N 1873: PhtZ 816). Die Wahrnehmungsorgane als Grundvoraussetzung jeder durch den apollinischen Schein umgrenzten organischen Lebenswelt, wie sie Nietzsche in der Tragödienschrift begreift, versagen. Der Mensch lässt mit seinem Ehrgeiz, nichts zu verdunkeln und zu vergessen, die zwischen Hellem und Dunklem konturierte Sphäre des Organischen hinter sich und verliert damit auch die qualitative Wahrnehmungskapazität seiner Sinnesorgane. Welchen Ausweg zeichnet Nietzsche, um diesem Geworfensein in die formenfeindliche Wirklichkeit des wissenschaftlich Erkennbaren zu begegnen? Anstatt sich auf das wimmelnde Durcheinander aller erkennbarer Fakten einzulassen und folglich gar nichts mehr zu erkennen, da die Gesamtheit des Unendlichen das menschliche Fassungsvermögen ohnehin immer überfordert, plädiert er für eine Erkenntnis, die bewusst selektiert, was sie sehen will. Die Moderne sieht er in einem existenziellen Sinne auf diese ästhetische Steuerung ihrer Erkenntnis angewiesen, denn sie muss ihre dauerhaften Formen nicht allein in eine unheimlich wechselhafte, dabei aber kreative Natur treiben wie noch die _____________ unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnislust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt“ (GT 1872: 116). In Bezug auf Nietzsches Kritik der modernen Rhythmik konstatiert Angelika CorbineauHoffmann, Rhythmus, Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt 1992, Band VIII, 1026–1036, hier 1031: „Dem Gewinn der Freiheit entspricht der Verlust des dem Menschen noch erkennbaren Maßes. Traditionelle Unterscheidungen [...] fallen, und das Ende der normativen Rh[ythmus]Vorstellungen scheint unwiderruflich.“ 70 In seinen Vorträgen zum Stand der deutschen Schulen und Universitäten beschreibt Nietzsche die Orientierungslosigkeit der modernen Bildungsbedürftigen als ein Gegenbild gegen die apollinische Sicherheit und Selbstgenügsamkeit des antiken Schiffers: „[A]lles wirft ihn hin und her, zum Zeichen daß alle Sterne über ihm erloschen sind, nach denen er sein Schiff lenken könnte“ (N 1872: BA 745).
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Griechen, sondern in die genuin formenfeindliche, anorganische Welt wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dennoch kann die Moderne von den Griechen lernen, denn diese haben in einer in Nietzsches Augen einzigartigen Weise verstanden, die Naturwirklichkeit durch das bewusste Training ihrer idealisierenden apollinischen Fähigkeiten zu gestalten. Bereits in der nachgelassenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen verdeutlicht er, inwiefern eine bewusste Steuerung und Begrenzung des Erkenntnistriebes durch Gesetze erst Wahrnehmung ermöglicht und die Blindheit überwindet: [S]o beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe [...]: „Das ist groß“ sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb [...] (N 1873: PhtZ 816f.)
Am Anfang der gesunden und lebensbejahenden hellenischen Erkenntnis steht ihre Begrenzung: der Philosoph beginnt mit einer „Gesetzgebung der Größe“. Dieses Gesetz bestimmt, worauf sich der Erkenntnistrieb beschränken sollte: auf das, was es als Großes definiert. Im Gegensatz dazu unterstellt Nietzsche der modernen Wissenschaft einen Erkenntnisanspruch, der keine Grenzen kennt, weil er auch das allerkleinste Detail noch einbeziehen will. Eine Erkenntnis, die den Kapazitäten des Menschen entspricht, muss dagegen einer solchen Wissenschaft Einhalt gebieten. Diese Haltung gegenüber den erkennbaren Fakten nimmt Nietzsche auch in Bezug auf die Herangehensweise an Geschichte ein. Versteht man die Geschichte als Versuch einer objektiven, positivistischen Bewahrung aller noch so kleinen Fakten, dann liefert sie der Gegenwart keine Erkenntnis, sondern überantwortet sie der Konfusion und führt unausweichlich in die Blindheit: Geschichte – schwächt das Handeln und macht blind gegen das Vorbildliche, durch masse verwirrend. (N 1873: 27[81] VII 611)
In seiner Historienschrift betont Nietzsche daher die Notwendigkeit von Auswahlkriterien gegenüber dieser verwirrenden Masse historischer Daten. Der Blick auf die Geschichte hat sich an Vorgaben zu halten, die sich nicht von selbst aus dem ‚faktischen‘ Verlauf der Geschichte ergeben. Der Mensch, der einen Standpunkt gegenüber den historischen Details bewahren will, darf gerade nicht nach größtmöglicher Erkenntnis streben: [Ü]berall ist er dadurch tugendhaft, dass er sich gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen empört und sich Gesetzen unterwirft, die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluctuationen sind. (HL 1874: 311)
Es ist sein Widerstandsvermögen gegen den Strom der unbegrenzten Zeit, gegen das Unbegrenzte überhaupt, das für Nietzsche den Menschen auszeichnet: Er schwimmt immer gegen die geschichtlichen Wellen [...]. (HL 1874: 311)
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Wiederum ist es das Bild des Meeres, in das ein ungebändigtes Erkenntnisstreben führt und in dem man der elementaren Willkür seiner unzähligen Wellenbewegungen ausgeliefert ist: ein „Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens“ (HL 1874: 330) ohne Bodenhaftung. Die ungeheure Gleichgültigkeit des historischen Faktenmeeres gegenüber dem Einzelnen birgt die Gefahr der Auslöschung des Lebens, heißt es in einem Goethe-Exzerpt71 Nietzsches aus dieser Zeit: Das Wissen fördert nicht mehr, bei dem schnellen Umtrieb der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst. (N 1873: 29[80] VII 665)
Die Aufgabe einer für das Leben nützlichen Geschichtsbetrachtung sieht Nietzsche daher nicht darin, sich auch noch den feinsten Strömungen der Geschichtsbewegungen zu überlassen, sondern ihren „Fluctuationen“ einen Widerstand entgegenzuhalten, gerade indem man sich an ideale Vorgaben hält. Es sind „grosse[ ] Kämpfer gegen die Geschichte“, denen es gelingt, sich „gegen die blinde Macht des Wirklichen“ zu stellen; sie nehmen die Verfälschung des Faktischen gerne in Kauf, um einem eigenen Gesetz zu folgen und stellen das „So soll es sein“ über das „So ist es“.72 In seiner späteren Schrift aus den 80er Jahren, Jenseits von Gut und Böse, wird Nietzsche gerade den Rhythmus explizit als ein solches willkürliches Gesetz bezeichnen, das eine gestaltende Emanzipation von den Gegebenheiten der Wirklichkeit ermöglicht.73 _____________ 71 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Hamburger Ausgabe, Band XII, [Nr. 176] 382 (vgl. KSA XIV 550). 72 Die Geschichte birgt auch die Erinnerung an diejenigen, die ihrem blinden Verlauf widerstehen: „Glücklicher Weise bewahrt sie aber auch das Gedächtnis an die grossen Kämpfer gegen die Geschichte, das heisst gegen die blinde Macht des Wirklichen und stellt sich dadurch selbst an den Pranger, dass sie Jene gerade als die eigentlich historischen Naturen heraushebt, die sich um das ‚So ist es‘ wenig kümmerten, um vielmehr mit heiterem Stolze einem ‚So soll es sein‘ zu folgen“ (HL 1874: 311). Nietzsche zeigt hier eine gewisse Affinität zu Schillers Geschichtsphilosophie, z.B. exzerpiert er in dieser Zeit aus Schillers Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte (vgl. KSA XIV 550): „[E]ine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen – das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist – als ein passendes Glied einzureihen“ (N 1873: 29[75] VII 663). 73 „Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt [...], sich erst vermöge der ‚Tyrannei solcher Willkür-Gesetze‘ [des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus, FFG] entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies ‚Natur‘ und ‚natürlich‘ sei – und nicht jenes laisser aller! Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein ‚natürlichster‘ Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der ‚Inspiration‘, – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht [...]“ (JGB 1886 [188] 108).
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Worin besteht die Wirkung dieses Gesetzes, das von der Geschichte selbst nicht vorgegeben wird? Es verdunkelt weite Passagen der historischen Bewegungen, denn die Konfrontation mit der faktischen Wahrheit wäre lebensfeindlich bzw. „tödtlich“.74 War es in der Geburt der Tragödie ein ‚umgekehrtes optisches Phänomen‘, das zur Konturierung des Schrecklichen der Natur diente, indem der Mythos „leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes“ produziert (GT 1872: 65), so erfolgt in der Metaphorik der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die Wiederherstellung der organischen Umstände: Zum Schutz vor der Blendung durch die sonnenhelle Wissenschaft bildet das Leben schwarze Flecken des Vergessens. Anders als der Licht bringende griechische Prometheus ist der moderne Künstler damit befasst, den Menschen Inseln der Dunkelheit im Lichtwellen-Meer der Erkenntnis zu ermöglichen, mit deren Hilfe sie die Macht zur Gestaltung des Lebens wiedererhalten: [W]ährend die Griechen in der dämmerigen Luft des Mythischen lebten und dafür in ihren Dichtungen, im Contrast klar und linienbestimmt sein konnten [...] [suchen] wir die Dämmerung in der Kunst [...], weil das Leben zu hell ist. (N 1873: 29[116] VII 683f.)
Statt des Kontrasts einer griechischen lichten Heiterkeit auf der vorausgesetzten Folie einer unergründlichen dionysischen Natur scheint die Moderne angesichts ihres einheitlich blendenden Positivismus der Düsterkeit unerkannter Regionen zu bedürfen, um ihre Souveränität und ihr Handlungsvermögen zu bewahren bzw. zurück zu gewinnen. Nicht nach dem Lichtbild sehnt sich der moderne Mensch, sondern es überwiegt anstelle dessen ein „Sehnen nach der Umschattung des Kunstwerks: in dem leben wir wenigstens auf Stunden unhistorisch“ (N 1873: 29[142] VII 693). Erst wenn die Umhüllung eines Horizontes durch die Abdunklung gewisser Passagen gesichert ist, kann Licht ästhetisch wirksam und damit auch eine umschränkte Erkenntnis möglich werden: erst dann gewinnt der Mensch an Gestaltungsmacht. Nur wenn die dunkle Leinwand des Übersehenen und Vergessenen aufgezogen ist, vermag er Einschnitte zu machen und das Maß der einfallenden Lichtstrahlen, der zugelassenen Erkenntnis und Erinnerung zu formen. Erst auf Basis der Verdunklung, die in der Antike noch als schreckliche Gewissheit erschien, kann auch das Licht der Moderne wieder schöpferisch werden: Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch [...] jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Le_____________ 74 „[D]ie Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier – Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte [...]“ (HL 1874: 319).
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ben zu gebrauchen [...], wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf [...]. (HL 1874: 252f.)
Hier drückt sich aus, was Herbert Schnädelbach Nietzsches „dialektische[ ] Anthropologie des Historischen“ nennt.75 Das Vergessen, das „unhistorische Element“ muss durchbrochen werden, weil sonst eine rein vegetative Existenz als Herdentier droht. Auf der anderen Seite bedingt das Vergessen- und Übersehen-Können das menschliche wie alles organische Leben, denn in einem Übermaß von historischen Fakten verschwindet die einzelne Form und Kultur: Es ist möglich, dass ein Volk durch Geschichte sich selbst tödtet: etwa wie ein Mensch, der sich dem Schlaf entzieht. (N 1873: 29[31] VII 638)
Sieht man den Menschen selbst als ebenso durch das Vergessene bedingt wie jedes Leben, was Nietzsche in diesem Zitat nahe legt, dann verschwindet er ebenso wie alle anderen Umrisse im Falle einer Vernichtung der organischen Schutzhülle. Die partielle Verdunklung, eine Art Rhythmik von beleuchteten und unbeleuchteten Elementen der Geschichte durch eine selektive „Gesetzgebung der Größe“ (N 1873: PhtZ 816), die Nietzsche an den Anfang der griechischen Philosophie stellt, scheint daher auch für die moderne Geschichtsbetrachtung eine anthropologische Notwendigkeit. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben vollzieht Nietzsche am Beispiel einer „monumentalischen Historie“ diese für das Leben notwendige gesetzmäßige Beschränkung der Geschichte nach, an der eine rhythmische Struktur kenntlich wird. Der monumentale Blick auf die Geschichte rückt einen Großteil der Vergangenheit in den Hintergrund, um einzelne erinnerte Momente um so stärker hervorzuheben. [G]anze grosse Theile derselben [der Vergangenheit, FFG] werden vergessen, verachtet, und fliessen fort wie eine graue ununterbrochene Fluth, und nur einzelne geschmückte Facta heben sich als Inseln heraus [...]. (HL 1874: 262)
Als Muster für nachfolgende Generationen betont die Monumentalhistorie selektiv Personen und ihre Werke76, die sie als erinnerungswürdig ansieht: sie beab_____________ 75 Vgl. Schnädelbach, Nietzsches Kritik der historischen Bildung, 176: Nietzsche sehe „die Historie als den Ort der schmerzhaft gestörten Unmittelbarkeit des Lebens und Erlebens, die aber für den Menschen offenbar zugleich lebensnotwendig ist, denn nur durch sie kann er handeln und kreativ sein [...]. Auf der anderen Seite aber droht der Verlust der Ummittelbarkeit des Lebens in der Hypertrophie der Erinnerung, die das Handeln und Schaffen bis zur Erschöpfung lähmt, und darum muß das Menschliche jeweils in einen Horizont des Vergessens eingeschlossen bleiben, um möglich zu sein.“ 76 Seinen Versuch, politische Entwicklungen zu durchschauen, beschreibt Nietzsche in einem Brief als notwendige Selektion einzelner Persönlichkeiten aus der Vielzahl des Geschehenen: „Ich staune über die Ereignisse und kann sie mir nur dadurch näher bringen, daß ich mir die Wirksamkeit bestimmter Männer aus dem Flusse des Ganzen
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sichtigt eine ausschließliche „Beschäftigung mit dem Classischen“ (HL 1874: 260) und ignoriert alles übrige.77 Ein solchermaßen verengter Blick sichert die Größe menschlicher Potenziale für die Zukunft: „was einmal vermochte, den Begriff ‚Mensch‘ weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen“ muss im Gedächtnis gehalten werden, es muss „ewig vorhanden sein, um dies ewig zu vermögen“.78 Nietzsche betrachtet hier die hervorstechende Größe und Schönheit vergangener Menschen als Ansporn für Gegenwart und Zukunft, denn sie zeigen, was schon einmal menschenmöglich war.79 Ihre Selektion und damit auch ihre Gleichsetzung als jeweils Hervorragendes beruht nicht auf einer historischen Wahrheit, sondern auf einer ästhetischen Gesetzgebung, denn, wie er schreibt, „die monumentale Historie täuscht durch Analogien“ (HL 1874: 262). Das Schöne und Große ist Produkt vorgetäuschter Ähnlichkeitsbezüge, die der phantasievollen Gleichsetzung von Idealen mit dem Vergangenen entspringen. Nietzsche verfolgt hier eine ähnliche Begründung der Ästhetik durch idealisierende Nachahmung wie sie in Kap. 2.1.2. am Beispiel der Herausbildung der Arten durch imaginierte und verstetigte Prozesse der Analogisierung beschrieben wurde. Als nachzuahmendes Ideal der Geschichte führt er nun die Kultur der Renaissance an: sie beschäftigte sich mit ausgewählten ‚Größen‘ der Vergangenheit, als sie „sich auf den Schultern einer solchen Hundert-Männer-Schaar heraushob“.80 Eine solchermaßen geschaffene Verkettung des Mustergültigen in Ver_____________
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herausscheide und einzeln betrachte“ (Brief an Carl von Gersdorff vom 16. Februar 1868, KGB I.2 [Nr. 562] 258). In seinen früheren Notizen schreibt Nietzsche diese Betrachtungsweise des Vergangenen auch den Philologen zu. Die Philologie sieht er als eine ästhetische Selektion aus dem Fundus der Geschichte „mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten“ (BAW 1869: V 285). HL 1874: 259. Nietzsche fügt dem hinzu: „Dies ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht“ (ebd.). Diese Beschränkung auf das Große und Monumentale gerät zu einem notgedrungen brutalen vereinheitlichenden Akt: „[W]ie gewaltsam muss die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Uebereinstimmung zerbrochen werden!“ (HL 1874: 261); Alles, was nicht in das ideale Muster der Gegenwart für die Vergangenheit passt, hervorstehende Kanten und individuelle Schnörkel, werden radikal abgeschnitten. HL 1874: 260f. Nietzsche bezieht sich mit diesem Bild möglicherweise auf ein Zitat Bernhard von Chartres, der die „moderni als Zwerge“ bezeichnet, die „auf den Schultern von Riesen sitzen“, das Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, 20f., wiedergibt. Jauß deutet das Zitat im Sinne einer typologischen Geschichtserfahrung, die auf dem Alten aufbaut und dadurch über es hinwegzublicken vermag: „Es bezeugt Bewunderung für die antiqui, aber eine Bewunderung, aus der zugleich
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gangenheit und Gegenwart durch idealisierende Imitation schafft eine Wirkungsbeziehung unabhängig vom tatsächlichen Verlauf der Zeit, die Nietzsche als monumentalische Historie versteht und die nicht zuletzt auch die Voraussetzung jeder Kultur bildet: Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangnen Zeit auch groß ist [...], das ist der Grundgedanke der Kultur. (N 1872: PW 756)
Ein Gipfelzug großer Gestalten, wie Nietzsche entsprechend in der Historienschrift formuliert (HL 1874: 259), zieht sich unter dem monumental formenden Blick durch die Jahrtausende, und auf jeder dieser einsamen Bergkuppen vollendet sich das kulturelle Potenzial der Menschheit, bevor es wieder in die – von der Monumentalgeschichte grundsätzlich verdunkelten – Niederungen historischer Wellen hinab geht. Dieses Geschichtsbild ist nicht linear und fortschreitend zu verstehen, denn sein Telos liegt in einer selektiven ‚rhythmischen‘ Wiederholung des Großen, nicht am Ende einer langen fortschreitenden Entwicklung: Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren. (HL 1874: 317)
Die Häupter hervorragender Persönlichkeiten durchstoßen immer wieder den Verlauf der Realzeit und heben sich damit gleichsam über deren unaufhörliche Bewegung hinweg. In der monumentalen Höhe, die allein schon durch Nietzsches Wortwahl des „Monumentalischen“ eine Entzeitlichung suggeriert, steht die Zeit still: Die „Spitzen“ der Menschheit stehen, wie Nietzsche sich notiert, „außerhalb der Zeit“ (N 1871: 11[1] VII 354). Die Monumentalgeschichte, schreibt er entsprechend zu Beginn seiner Historienschrift, bedeutet einen „Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit“ (HL 1874: 260), indem sie ihr Medusenhaupt auf die analogisierten Höhepunkte der kulturellen Entwicklung richtet. Gleich der dorisch-apollinischen kulturellen Selbstbehauptung der Griechen (vgl. Kap. 1.1.) soll sie ägyptisch mumifizierend und monumental wirken und ihre postulierte Höhe im Wandel der Zeit stabil halten. Mit dem Bild eines Totengesprächs81 auf zeitenthobener Gipfelhöhe fasst Nietzsche die monumentalische ideale Sicht auf die Geschichte zusammen: Die Kronen der Menschheit verkehren miteinander hoch über den belanglosen Kleinigkeiten der Zeit und Geschichte: [S]ie leben als die Genialen-Republik, von der einmal Schopenhauer erzählt; ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört _____________ das Bewusstsein typologischer Steigerung des Alten in das Neue spricht: die Gegenwart sieht weiter als die Vergangenheit!“ 81 Vgl. N 1872/73: 24[4] VII 562 und N 1873: PhtZ 808, wie auch spätere Notizen: „Ich lebe wie in anderen Zeiten: meine Höhe giebt mir Verkehr mit Einsamen und Verkannten aller Zeit[en]“ (N 1883: X 355), s. a. N 1883: X 468.
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durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort. (HL 1874: 317)
Die Kultur-Riesen monumentalischer Geschichtsschreibung sind in Nietzsches Darstellung von der enormen zeitlichen Distanz, die zwischen ihnen liegt, unabhängig.82 Von dem detailgetreuen Gewimmel der Zwergenwelt lassen sich die kulturellen Größen in ihrer Kommunikation nicht stören. Nun betrachtet Nietzsche weder in der Tragödienschrift die dorischapollinische, nach monumentaler Ewigkeit strebende Kunst als Endpunkt der ästhetischen Entwicklung, noch sieht er in den Notaten zur „Zeitatomenlehre“ die Homogenisierung identischer Punkte zu einer von der Zeit unabhängigen Form als Ziel seiner Betrachtung. In beiden Fällen interessiert ihn kein metaphysisch-zeitloses Ideal, sondern vielmehr die Wiederannäherung des menschlich Verräumlichten und Statischen an die Zeit, wie sie am Beispiel der prometheischen Inkorporation des Zeitlichen in die zeitlos-göttliche Sphäre des Olympischen veranschaulicht wurde (vgl. Kap. 1.2.). Auch in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung weist die Tatsache, dass Nietzsche die Beziehung zwischen den Kultur-Riesen monumentaler Geschichtsbetrachtung als ein wechselseitiges Gespräch charakterisiert, darauf hin, dass auch in der monumentalen Historie die Zeit nicht vollkommen still steht.83 Symbolisiert wird dieser belebte Kontakt in der Sphäre des Großen durch das Feuer, das Nietzsche als Metapher für die Verständigung der Riesen untereinander, d.h. für das Medium ihres Geistergespräches gebraucht. Vor dem Hintergrund des ausgeblendeten bzw. verdunkelten „Gezwerges“ erscheint die Verbindung zwischen den einzelnen Größen wie das sukzessive Entzünden von Leuchtfeuern auf Bergkämmen – ein Bild, das er aus Aischylos’ Agamemnon übernimmt: Das Große wirkt nur auf das Große: wie die Fackelpost im Agamemnon nur von Höhe zu Höhe springt. (N 1872/73: 19[37] VII 430) _____________ 82 In seiner vierten Unzeitgemässen Betrachtung wird Nietzsche daher von der Zeitgenossenschaft von Aischylos, Wagner, Empedokles und Schopenhauer schreiben (WB 1876: 446). 83 ‚Gesprächsoffenheit‘ des Vergangenen gegenüber der Gegenwart kann demnach als ein Kriterium für bleibende kulturelle Größe gelten: Joachim Küpper, Kanon als Historiographie, in: Kanon und Theorie, hrsg. von Maria Moog-Grünewald, Heidelberg 1999, 41– 64, hier 58, geht anhand von Nietzsches Historienschrift der Frage nach, durch welche Kriterien sich vergangenes Kulturgut in der Gegenwart ästhetisch als „groß“ rechtfertigen lässt und antwortet mit Gadamers Ausspruch aus Wahrheit und Methode, dass ein Klassiker ein Klassiker sei, „weil er immer noch antwortet“. Dass Nietzsche mit der „Gesetzgebung der Größe“ keinen teleologischen Fortschrittsgedanken bezweckt, macht Wolf Zachriat, Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001, 80f., deutlich. Die von Nietzsche angestrebte „Kulturaristokratie“, wie sie in der Historienschrift artikuliert wird, ziele auf eine „höhere Qualität des kulturellen Lebens“, nicht aber auf ein jenseitiges Ziel als unendlicher Progress.
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In Aischylos’ Tragödie überwindet die Siegesnachricht Agamemnons, von Bergspitze zu Bergspitze durch entzündete Feuer weitergegeben, eine große räumliche Distanz, bevor sie Klytaimestra erreicht (Aischylos 1987: 164ff.). In Nietzsches Bild wird diese räumliche Distanz auf die Zeit übertragen, denn mit den Leuchtfeuern der erinnerten menschlichen Größe monumentalischer Geschichtsbetrachtung werden Jahrtausende durchlaufen. Das Große, das Nietzsche in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung als Gespräch unter Riesen mit dem prometheischen Fackellauf untermalt, ist nicht ewig und zeitlos gegeben wie die apollinisch-dorische Alleinherrschaft des Zeus, sondern bereits von der Vereinigung mit Prometheus gezeichnet. Es ist zeitlich, denn es kann untergehen, wenn ein Feuer zu zünden versäumt wird. Jedes der monumentalen Leuchtfeuer ist unerlässlich für den Erhalt der Größe, denn mit ihm gehen Erhalt oder Untergang der Kultur einher. Klytaimestras Beschreibung des über die Berge wandernden Feuers weist auf diese Gefahr des Erlöschens hin: So hatte ich die Fackelposten eingeteilt,/ sie führten ihren Auftrag aus von Hand zu Hand;/ den Sieg errang im Lauf der erste wie der letzte. (Aischylos 1987: 312ff.)
Jedes der einzelnen Feuer steht hier für Sieg und Ziel, und jedes einzelne hätte mit seinem Versagen den Verlust der Botschaft und damit des Sieges selbst bedeutet. An diesem Punkt rückt Nietzsches Betonung der Relevanz des Einzelnen und seiner kulturellen Erinnerung und Bildung für die Moderne in den Vordergrund.84 Nicht nur sind es Einzelgestalten, die, einer tradierten „Gesetzgebung der Größe“ folgend, aus dem Strom der Zeit hervorgehoben werden, sondern es sind auch große Einzelne, die diese Tradition immer wieder von neuem erinnernd bestätigen müssen. Der Fackelzug des Großen wird nur dadurch fortgesetzt, dass die großen Einzelnen der Gegenwart die großen Einzelnen der Vergangenheit überhaupt hervorheben, indem sie sie in Erinnerung rufen.85 Dass immer wieder Einzelne die Größe vergangener Jahrhunderte erreichen, indem ihr idealisierendes Gedächtnis auch die zeitlich und kulturell weit entfernten Möglichkeiten des Menschlichen erfasst, bedeutet insofern eine existentielle Notwendigkeit in Nietzsches Konzept der ästhetischen Strukturierung der Geschichte. Die kulturellen Errungenschaften der Menschheit sind auf ein durchaus _____________ 84 Dass die Größe, die Nietzsche von einer Gesetzgebung durch Bildung fordert, durch einen „gerechten“ Menschen stets von neuem geschaffen werden muss, hat Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit, in Nietzsches Frühwerk vor Augen geführt. 85 Diese Absonderung des Einzelnen in Vergangenheit und Gegenwart bezeichnet Nietzsche entsprechend der Geburt der Tragödie in einer früheren Notiz als apollinisch: „Und so sorgte Apollo, durch solche ehrwürdige Spiegelungen des ‚Einzelnen‘ in der grauen Volksvergangenheit dafür, daß der Blick der Menge für die Erkenntniß des ‚Einzelnen‘ in der Gegenwart geschärft blieb, wie er andererseits rastlos bemüht war, durch neue Configurationen andere Einzelne zu erzeugen und [...] um sie herum einen schützenden Bann zu ziehen“ (N 1870/71: 7[122] VII 175).
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fragiles Übertragungsmedium, auf den einzelnen Menschen angewiesen und können nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Wie bereits oben zitiert, hält Nietzsche es für möglich, „die Bildung zu vernichten“ (N 1873: 26[14] VII 580). Die Aufgabe des Weitertragens jener vergangenen Größe ist jedoch, wie bereits an seiner wiederholten Einschätzung der Zeitlichkeit menschlicher Maßstäbe deutlich wurde, keine einfache Frage der Imitation von selbstverständlich gegebenen und auf ewig klassischen Mustern. Die Nachahmung großer Gestalten der kulturellen Geschichtszeit – wie Nietzsche am Beispiel Homers in seiner Basler Antrittsvorlesung verdeutlicht (vgl. Kap. 1.2.3) – erfordert keine passive Imitation einer vergangenen Realität, sondern meint eine kreative Leistung, fordert ein persönliches Urteilsvermögen. „Nun ist der Begriff der Größe wandelbar“, schreibt Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift über die Vorsokratiker (N 1873: PhtZ 816), und drückt damit aus, dass die Gegenwart stets ihren eigenen Begriff der Größe entwickelt und auf die Vergangenheit rückprojiziert: Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt – immer ein gefährlicher Versuch, weil es schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden [...]. (HL 1874: 270)86
Die Wirklichkeit wird diesen Anforderungen seiner Ansicht nach jedoch nicht gerecht. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie kritisiert Nietzsche an seinen Zeitgenossen die Schwäche ihrer Persönlichkeit. Sie imitieren die Wirklichkeit nicht etwa selektiv durch eine starke Hervorhebung des Ausgewählten, sondern vielmehr ohne jeden ästhetische Maßstab. Daraus folgt – in musikalischer Metaphorik gesprochen –, dass gegenwärtig keine Haupttöne, sondern nur Obertöne erklingen, die sich in strukturlosem Durcheinander verlieren: Nun stelle man sich den historischen Virtuosen der Gegenwart vor Augen [...]: er ist zum nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen wieder auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die ganze Luft einer Zeit von solchen durcheinander schwirrenden zarten und verwandten Nachklängen erfüllt ist. (HL 1874: 288)
Anders als die schöpferische Nachahmung in Gestalt einer Analogisierung des Vergangenen mit einem Ideal der Gegenwart trägt diese Art der Imitation keine Früchte, sondern verursacht eher ein konturloses Flimmern, durch das die moderne Persönlichkeit in die Niederungen des „Gezwerges“ gezogen wird. Da _____________ 86 Porter, Being in Time, 348 (Anm. 97), macht ein ähnliches Phänomen des rückblickenden Etablierens einer Struktur in der Vergangenheit am Beispiel des musikalischen Rhythmus aus. Für den Hörer entwickelt sich die für das Erkennen eines Rhythmus notwendige Struktur erst während des Hörens. Im Verlauf des Musikstückes erkennen wir einen Rhythmus durch seine Wiederholung und projizieren ihn auch schon auf den Anfang zurück, obwohl wir ihn zu Beginn gar nicht wahrgenommen hatten: „A complex rhythmic pattern, allowing for a great number of substitutions, might take several bars before its rhythm becomes plain“.
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keine kräftige subjektive Betonung auserwählter ‚großer‘ Töne unternommen, da das Vergangene „ohne harte Accente“ erzählt wird (HL 1874: 289), fehlt die Hervorhebung von distinkten Gestalten in Vergangenheit und Gegenwart. Der modernen Persönlichkeit droht daher auch die eigene historische Auslöschung, denn die Geschichte in ihrem vielfältigen Gewimmel „wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen“, wie Nietzsche unterstreicht, „die schwachen löscht sie vollends aus“, weil sie keinen eigenen Maßstab an das Vergangene anlegen.87 Es scheint fast unmöglich, dass ein starker und voller Ton selbst durch das mächtigste Hineingreifen in die Saiten erzeugt werde: sofort verhallt er wieder [...]: es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten, eure Thaten sind plötzliche Schläge, keine rollenden Donner. (HL 1874: 280)
Nietzsches Aufforderung zum Festhalten des Erhabenen88, d.h. dem Unfassbaren Kontur und Kontinuität zu verleihen, ist an die Fähigkeit zur eigenen Akzentsetzung und an der Verwandlung dieses einen Akzentes in einen kontinuierlichen ‚Rhythmus‘ durch die Zeiten gebunden, an der die moderne Persönlichkeit jedoch scheitert. Wenn sich die Gegenwart überhaupt zu Ton oder Akzent aufschwingt, dann verhallt er kraftlos, weil er nicht als eine Wiederaufnahme von starken Akzenten der Vergangenheit erscheint (als „rollender Donner“), sondern höchstens einen verbindungslos dastehenden Schlag ausführt, der keine Fackel in Vergangenheit und Zukunft entzündet. Anders als die moderne ‚objektive‘ Wahrnehmung, die durch ihre Undifferenziertheit diesen Missstand immer weiter potenziert, würde eine künstlerisch-rhythmische Wahrnehmung nur das hervorheben, was sie idealisierend nachahmen will. „[D]ie Kraft, welche das Ähnliche auswählt und betont“, nennt Nietzsche dieses rhythmische Vermögen in seinen Notizbüchern.89 Bei dieser ästhetischen Kraft handelt es sich nicht um das Kopieren eines klassischen und auf ewig festgelegten Betonungsmusters, sondern vielmehr um die zu erlernende Fähigkeit, Maßstäbe zu gewinnen und anzulegen: um eine Art handwerkliche Grundfertigkeit des modernen Lebens.90 Die_____________ 87 HL 1874: 283. Vgl. ebd.: „Das liegt darin, dass sie [die schwachen modernen Persönlichkeiten, FFG] das Gefühl und die Empfindung verwirrt, wo diese nicht kräftig genug sind, die Vergangenheit an sich zu messen.“ 88 vgl. N 1872/73: 19[22] VII 423. Der moderne Mensche, der „im Augenblick verstehen, berechnen, begreifen will“, sollte statt dessen, „in langer Erschütterung das Unverständliche als das Erhabene festhalten [...]“ (HL 1874: 280). 89 N 1872/73: 19[78] VII 445. Gleich darauf fährt Nietzsche fort:„Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählende“ (N 1872/73: 19[79] VII 445). 90 „Es muß ein Handwerk entstehen, damit daraus einmal eine Kunst werde. Auch unsre Klassiker waren Stil-Naturalisten“ (N 1876: 15[3] VIII 279); „Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt“ (N 1873: 29[195] VII 709).
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jenigen Individuen, die das Handwerk künstlerischer Selektion beherrschen und die durch Selbsterziehung gelernt haben, eine Erbfolge der Schönheit in der Vergangenheit zu begründen, setzen das Gespräch der kulturellen Riesen fort. Dieses Gespräch stellt einen Widerstand gegen die Zeit dar, das einem genuin eigenen Gesetz der rhythmischen Erinnerung und Nachahmung folgt. Anders als in der Antike ist die moderne Bildung jedoch nicht mehr, wie Nietzsche in Der griechische Staat nahe legt, staatlich forciertes Allgemeingut, sondern obliegt den Einzelnen. Es sind, wie Nietzsche immer wieder betont, „die Einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden“ (HL 1874: 317). Die gesamte Aufgabe der Bildung, d.h. der Bestimmung des Klassischen und Vorbildhaften sieht Nietzsche in der Moderne auf den Schultern von einzelnen Individuen liegen. Man kann die Geschichtsbetrachtung, die er in seiner Historienschrift vorschlägt, als eine inhaltliche Fortsetzung der rhythmischen Kulturgründung verstehen, die er am Beispiel des Soldaten und seines Bildungsprogramms vorgeführt hat. Der ‚Rhythmus‘ einer Verkettung ‚großer‘ akzentuierter Persönlichkeiten über einen weiten Zeitraum hinweg schafft eine Eigenzeit von kultureller Dauer, denn durch die gegenwärtige Analogisierungsleistung der historisch kulturell gebildeten Einzelnen, die im Rahmen ihrer Erziehung nachzuahmen gelernt haben und dadurch instinktiv ein Maß zu setzen verstehen, wird die vergangene Akzentkette der Großen sowohl geschaffen als auch fortgesetzt. Das moderne Individuum sieht sich dadurch geradezu übermenschlichen Anforderungen ausgesetzt. Nach dieser Auffassung von Moderne obliegt ihm allein, sich die gesamte kulturelle Bildung und die Maßstäbe zu ihrer Beurteilung selbst zu erkämpfen. Dass Nietzsche nur solche Individuen für fähig hält, der Zeit ein Gesetz bzw. einen ‚Rhythmus‘ aufzuprägen, wird im nächsten Kapitel am Beispiel Richard Wagners in der letzten Unzeitgemässen Betrachtung nachvollzogen.
2.2. Die zwei Geschwindigkeiten von Mensch und Welt [M]an [thut] allemal wohl, hinter seiner Zeit zurückzubleiben, wenn man sieht, dass sie selbst im Zurückschreiten begriffen ist. (N 1874: 35[13] VII 819)
Der moderne Mensch, klagt Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher, plant nicht mehr für die Ewigkeit, sondern hat bei seiner unablässigen Jagd nach Glück ausschließlich den nächsten Tag im Blick (vgl. SE 1874: 367). Die zeitliche Perspektive des Menschen, heißt es entsprechend vier Jahre später in Menschliches, Allzumenschliches, habe sich mit dem zunehmenden Zweifel an ewigen Wahrheiten unendlich verkürzt; die „langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter“ sei abhan-
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den gekommen.1 Nietzsche beschreibt die Moderne als kurzatmig, ihr Atem kommt in flachen, schnell aufeinander folgenden Stößen anstatt in langen und tiefen Zügen weite Zeiträume zu umfassen. Zwischen ihren Taten und den beabsichtigten Wirkungen liegen keine Jahrhunderte mehr, sondern sie folgen unmittelbar aufeinander wie die Reiz-Reaktionsmechanismen der Materie. In Schopenhauer als Erzieher vergleicht Nietzsche daher die Geschwindigkeit der Gegenwart mit der Atomzeit: Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. (SE 1874: 367)
Die Bewegungen der Atome und ihre Wirkungen aufeinander sind von ungeheurer Schnelligkeit. Jeder Versuch, die Welt aus der Perspektive der Atome zu betrachten, überfordert das rhythmisierende Vermögen der Wahrnehmung und resultiert in Maßlosigkeit und Chaos, in „atomistische[s] Chaos“. Warum zieht Beschleunigung notgedrungen Desorientierung nach sich? Was uns erkennbar und geordnet erscheint, ist gemäß Nietzsches tragischer Ästhetik ausschließliches Produkt unserer eigenen historisch gewachsenen Maßstäbe und endet auch mit ihnen. In den Notaten zur „Zeitatomenlehre“ hat er die Empfindung von Identität, die Wahrnehmung von dauernden Figuren sowie des eigenen Körpers an die Fähigkeit gekoppelt, räumlich differenzierte Punkte durch Wiederholungen über weite Zeiträume hinweg andauern zu lassen.2 Nietzsche schließt in seinem Fragment von der zeitlichen Nähe oder Ferne der abgegrenzten und wiederholten Zeitpunkte auf eine Beschleunigung oder Verlangsamung der tatsächlichen Bewegung der Zeit. Liegen zwischen den einander gleich gesetzten Punkten enorme Zeiträume, dann bremst diese zeitliche Setzung gleichsam den Verlauf der Zeit, während zeitlich dicht aufeinander folgende Punkte sich dem Tempo der Atomzeit beinahe anpassen. D.h. die Kräfte, als Funktionen der Zeit, äußern sich in den Relationen naher oder ferner Zeitpunkte, nämlich schnell oder langsam [...]. Die allerhöchste Beschleunigung läge in der Wirkung eines Zeitmomentes auf das nächste [...]. Je größer die Langsamkeit, um so größer die Zwischenräume der Zeit, um so größer das distans./ Also Relation entfernter Zeitpunkte ist Langsamkeit [...]. (N 1873: 26[12] VII 578)
Mit der selektiven Betonung bestimmter Momente im Verlauf der Zeit und ihrer Bezugnahme bzw. Wirkung aufeinander wird eine Bewegung etabliert, die in ihrer Aufeinanderfolge nicht derjenigen einer atomaren Zeit entspricht. Die Wirkung zwischen entfernten Zeitpunkten, so heißt es hier, bedeutet Langsamkeit, _____________ 1
2
MA I 1878: 43. Vgl. „Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in’s Auge faßt und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt [...]“ (ebd.). Vgl. Kap. 2.1.2.
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während die einander nächsten Zeitpunkte die höchste Geschwindigkeit bewirken. Daraus folgt, dass Festigkeit und Dauer von Körpern um so mehr zunehmen, je größer der Zeitraum ist, den sie durch ihre nachahmende Wiederholung umspannen. Die Körper sind damit der Vergänglichkeit nicht entzogen, aber sie können die Zeit bis zu ihrem Zerfall durch die Ausdehnung ihrer punktuell wiederholten Identität verlangsamen. Die Verlangsamung der Zeit erscheint daher als das lebensspendende Moment der Kultur. Doch der Faktenwahn der Moderne, ihr Streben nach der Erfassung auch noch des kleinsten Details der Wirklichkeit ergibt anstelle dessen eine Anpassung an den Verlauf der Realzeit und damit eine ungeheure Beschleunigung ihrer Lebenswirklichkeit,3 die sich für Nietzsche als lebensfeindlich erweist. Mit ihr beraubt sich der Mensch der Bestimmung eines zeitübergreifenden ‚Rhythmus‘, der durch seine dauerhafte Wiederholungsstruktur die Zeit zu verlangsamen vermag. Wen alles interessiert, so spitzt Nietzsche zu, dem geht der Maßstab für die Auswahl konstanter Fixpunkte verloren, die Untersuchungsperspektive reduziert sich auf den nächsten Augenblick und der Untersuchende selbst löst sich in der indifferenten Vielzahl der Bewegungen und Wirkungen auf: Wenn alles, was wird, interessant, des Studiums würdig erachtet wird, so fehlt bald für alles, was man thun soll, der Maassstab und das Gefühl, der Mensch wird in der Hauptsache gleichgültig. (N 1873: 29[32] VII 638)
Aus einer faktenzentrierten Wahrnehmung der Wirklichkeit ohne ein selektives Sieb folgert Nietzsche letztlich das Zurücktreten des individuellen Menschen aus der modernen Perspektive – er wird hinfällig. Der Gewinn an Erkenntnis im Zuge der Moderne hat insofern ihren Preis: sie birgt die Gefahr der Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen selbst, denn die Wissenschaft hat ihm Felder der Erkenntnis eröffnet, die ihn selbst ausschließen. Die fortwährende Sehnsucht nach neu eröffneten Räumen geht einher mit dem Bewusstsein eigener Beschränktheit: „Wenn er nur darin leben könnte!“, ruft Nietzsche aus, d.h. wenn er als Individuum in jener zerrinnenden Wirklichkeit des Erkannten doch bestehen könnte (HL 1874: 330)! Eine Kluft tut sich zwischen dem sehnsüchtigen Streben nach Erkenntnis mit ihren diffundierenden Resultaten und der Relevanz des Humanen auf. Der Hiatus zwischen beiden Realitäten drückt sich, wie Nietzsches „Zeitatomenlehre“ zeigt, durch die unterschiedliche Geschwindigkeit bzw. Langsamkeit ihrer jeweiligen Rhythmen aus. Der wissenschaftliche Anspruch einer ‚atomaren‘ Perspektive der unendlichen und unendlich schnellen Bewegung ist für die beschränkten Kapazitäten der menschlichen Wahrnehmung nicht zu _____________ 3
„Wenn man nach der Seite des unendlich Kleinen hinsieht, ist jede Entwicklung immer eine unendlich schnelle“ (N 1872/73: 19[174] VII 473).
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leisten – ein Gedanke, den Nietzsche 1875 aus Die Erhaltung der Energie von Stewart exzerpiert: Unsterblich ist das Grundatom, aber fortwährend bewegt. Dies ist eine neue Schranke für unsere Erkenntniß, es sitzt nicht still. (N 1875: 9[2] VIII 183)
Sinnlich, d.h. mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat erkennbar ist nur die anthropologisch verlangsamte Zeit. Die atomare Wirklichkeit der wissenschaftlich erkennbaren Zeit und die Lebenswirklichkeit des Menschen sind durch diese Schranke unüberwindlich voneinander getrennt. 2.2.1. Eugen Dührings Einheitsoptimismus Im Sommer 1875 füllt Nietzsche ein Notizbuch mit Exzerpten aus Eugen Dührings 1865 erschienenen Buch Der Werth des Lebens.4 Dühring vertritt in seinem Werk einen optimistischen Materialismus, demzufolge nur eine einzige Wirklichkeit existiert, und zwar die des erkennenden Bewusstseins und der Empfindungen, die mit der tatsächlichen Realität der Natur und der Dinge übereinstimmen.5 Was wir sehen, gilt ihm als das wahre und einzige Sein, und was wir verstandesmäßig daraus schließen, versteht er als eine nur komplexere Betrachtungsweise dieses Seins. Demnach existiert für ihn keine absolute Teilung der tatsächlichen und der wahrgenommenen Welt, ebenso wenig ist ein Auseinanderdividieren der körperlichen und geistigen Regungen des einzelnen Menschen möglich: Leidenschaften und Gefühle wären demzufolge keine vom verstandesmäßigen Bewusstsein zu unterscheidende Phänomene. Die spezifische Natur der Gefühle _____________ 4
5
Der kritische Blick auf diese Quelle für ausgiebige Exzerpte und eigene Kommentare Nietzsches wird in den folgenden beiden Abschnitten nicht nachbuchstabiert, sondern als eine „Selbstpostitionierung[ ], die Nietzsche in der Zwiesprache mit seinen Lektüren vornimmt“ aufgefasst, deren Interpretation Andreas Urs Sommer, Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 29 (2000), 303–316, hier 316, als eine der zentralen Aufgaben kritischer Quellenforschung ansieht. Eugen Dühring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865, 3: „Es kann nur eine einzige Wirklichkeit geben.“ Dass Dühring alle Komponenten der Wirklichkeit auf ein Prinzip zurückführt, betont auch Venturelli, Asketismus, 112, in seinen Ausführungen zu Dührings Einfluss auf Menschliches, Allzumenschliches: Es sei „die feste Überzeugung von Dühring [...], daß die Verfassung der Welt und des Lebens sich in eine Anzahl von Bestandstücken zerlegen lässt; sie kann so auf einige Grundelemente und Grundformen zurückgeführt werden, die wie Prinzipien wirken, deren Wert, sobald sie einmal erworben sind, nicht nur auf den unserer Erkenntnis unmittelbar zugänglichen Bereich ausgedehnt werden kann, sondern auch auf all das, ‚was jenseits der Tragweite unserer speciellen und ausreichenden Wahrnehmung liegt‘.“ Venturelli zitiert hier aus Eugen Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, 9.
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und Empfindungen ist in Dührings holistischem Weltbild daher umgekehrt ein Schlüssel zur Erkenntnis des Daseins schlechthin.6 Durch die Beobachtung der Empfindungen lassen sich seiner Ansicht nach Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der geistigen und natürlichen Abläufe ziehen, denn beiden Sphären liegt ein gemeinsamer Typus der Bewegung zugrunde. Diese Grundbewegung, die als basso continuo alle natürlichen, emotionalen und geistigen Vorgänge verbindet, bezeichnet Dühring als einen Rhythmus. Im Kapitel zur „Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen“ geht er der spezifischen Bewegungsgestalt von Gefühlen nach und findet eben im Rhythmus die gemeinsame Struktur von Gefühlsleben, geistigem abstrahierenden Leben, dem Leben der organischen Natur und der anorganischen Materie. Die rhythmische Wellenform versteht er daher als innerstes Verbindungsmerkmal der organischen und anorganischen Natur (von Nietzsche nahezu wörtlich exzerpiert7): [S]o ist der Wechsel von Hebung und Senkung der einfachste Typus des Empfindungslebens. Die Wellenform hat sich fast in allen Vorgängen der Natur als die Grundgestalt der Fortpflanzung von bewegenden Erregungen ergeben. Der Rhythmus beherrscht das ganze sogenannte todte Dasein. Es ist zu vermuthen, dass er wenn auch in weniger einfacher Gestalt auch der Gesetzmässigkeit der lebendigen Vorgänge inwohne. (Dühring 1865: 40)
Dem Empfindungsleben wie auch der Natur unterstellt Dühring einen ständigen Wechsel von Hebungen und Senkungen und findet diese Bewegung im „toten Dasein“, d.h. in der wellenförmigen Eigenschaft des Lichts und den elektromagnetischen Wirkungen wieder, deren Erforschung in die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts Einzug hielt. Anorganisches und organisches Dasein erscheinen insofern bei Dühring durch die ihnen gemeinsame rhythmische Wellenform verwandt und beinahe eins; der Rhythmus wird damit zur bewegten Form der Einheit und Ganzheit schlechthin, weil er die Realität naturwissenschaftlicher Erkenntnis und die der eigenen individuellen Lebenswelt verbindet: der Rhythmus bildet den „gemeinsame[n] Typus [...], welcher allen sich in Raum und Zeit entfaltenden Wirkungen eigen ist“ (Dühring 1865: 41). So führt er u. a. die ständige rhythmische Bewegung des Atmens und des Pulsschlages als ein Anzeichen der Verwandtschaft des menschlichen Lebens und der anorganischen Materie an. Das „Athmen, ebenfalls ein einfacher Rhythmus“ und zugleich der Inbegriff des Austausches zwischen „objectiver“ und „subjectiver“ Welt symbolisiert deren _____________ 6 7
Dühring, Werth des Lebens, 16: „Wir werden später den Nachweis führen, dass das Spiel der Affecte auf der Grundlage der niedern und höhern Triebe hinreicht, alle Lebensäusserungen bis zur Production der abstractesten Ideen hinauf begreiflich zu machen.“ Nietzsche notiert sich dazu: „Wechsel von Hebung und Senkung, das Wogen ist der einfachste Typus. Die Wellenform fast in allen Vorgängen der Natur: in ihr pflanzen sich Bewegungen fort. Der Rhythmus beherrscht das ganze sogenannte todte Dasein“ (N 1875: 9[1] VIII 145).
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auf einem Rhythmus basierende Einheit (Dühring 1865: 41). Infolge dieser angenommenen Verwandtschaft lässt die Bestimmung der „objectiven“ anorganischen Materie auch Rückschlüsse auf das „subjective“ organische Leben zu: In den abstracten Stufen des Daseins, ja geradezu im Unorganischen und in den Gesetzen, welche die abstracte Materie beherrschen, müssen wir die einfachsten Grundzüge der höheren Lebensformen aufsuchen. (Dühring 1865: 43)
Doch auch wenn man einen solchen gemeinsamen Grundrhythmus von individuellem Leben und Materie annimmt, scheint die Parallele zwischen dem Rhythmus des individuellen Gefühlslebens und der anorganischen Materie auf den ersten Blick wenig einleuchtend. Wenn sich die abstrakten Gesetze der anorganischen Materie in den menschlichen Empfindungen spiegelten, so müssten Emotionen denselben mathematisch exakten Bewegungsabläufen und berechenbaren Rhythmen wie etwa Licht- oder Schallwellen folgen. Statt dessen erweisen sich Bewegung und Entwicklung des Gefühlslebens bekanntermaßen keineswegs als berechenbar. Keine gleichmäßige Schwingung, keine ebenmäßigen Wallungen – vielmehr präsentiert sich die Gefühlswelt innerhalb eines Menschenwesens und lebens als Komplex unterschiedlichster und unterbrochener, sich überlagernder Empfindungen.8 Lässt sich das menschliche Empfindungsleben, lassen sich Leidenschaften daher wirklich in Einklang mit den gesetzmäßigen Rhythmen der Materie bringen? Dühring konstatiert selbst: Der einfache Rhythmus, welcher die abstracteren Sphären des Daseins beherrscht, scheint sich in der Gestaltung des gesteigerten Lebens zu verleugnen. (Dühring 1865: 43)
Doch obwohl die Bewegung menschlicher Leidenschaften sich kaum auf einen gesetzmäßigen Rhythmus herunterbrechen lässt, sondern vielmehr ein chaotischen Durcheinander der verschiedensten Emotionen von unterschiedlichster Intensität und Dauer bildet, hält Dühring an seiner Theorie eines einheitlichen Grundrhythmus sowohl des Gefühlsleben als ganzem als auch der Einzelempfindungen fest: [M]an wird die anscheinende Unregelmässigkeit im Bilde des Gefühlslebens mit der Voraussetzung eines einfachen Grundtypus vereinbaren können. (Dühring 1865: 44) _____________ 8
Dühring, Werth des Lebens, 43: „Wir finden keineswegs einen ebenmässig periodischen Wechsel, sondern anscheinend eine Unregelmässigkeit von Auf- und Niedergängen vor, welche mit beharrlichen durch keine besondere Steigerung unterbrochenen Zuständen in allen möglichen Combinationen der Art, Grösse und Dauer vermischt sind.“ Vgl. diesen Abschnitt mit Nietzsches Zusammenfassung: „Also: in den stetigen Zuständen der Empfindung ist ein elementarer Rhythmus. Aber in den unterbrochenen Empfindungen? Giebt es da ebenmäßig periodischen Wechsel? Innerhalb jeder Classe von Empfindungen ist Hebung und Senkung ganz offenbar. Aber verschiedene Gemüthszustände scheinen unregelmäßig zu folgen“ (N 1875: 9[1] VIII 145f.).
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Wie jedoch will er das Gefühlsleben als das genuin Unberechenbare und Unkontrollierbare, wie will er das Triebleben mit dem regelhaften Gleichmaß eines elementaren rhythmischen „Grundtypus“ zusammenbringen? Er löst dieses Problem, indem er nicht die einzelnen Emotionen eines individuellen Lebens betrachten, sondern in einer weiteren Perspektive das Leben als Ganzes schauen will. Die höchsten und intensivsten Gefühle stehen dann nicht als isolierte Augenblicksphänomene da. Vielmehr reihen sie sich aneinander wie die Gipfel einer Bergkette, die in Dührings Metaphorik ähnlich wie in Nietzsches Historienschrift als kontinuierlicher Rhythmus erscheint: Gerade die Höhenpunkte des Lebens haben das Ansehen vereinzelter Gipfel, und man könnte daher die Gestalt der Gemüthserregungen, welche die Ausdehnung eines Daseins erfüllen, eher mit der Formation der Bergketten als mit einem Wellensystem vergleichen. (Dühring 1865: 44)9
Was vom Standpunkt des Individuums als ein einziger, unwiederholbarer Moment intensiver Empfindung erscheint, wird von einem solchen Standpunkt außerhalb des Individuums zum Glied einer Kette auf- und absteigender Bergkämme. Die ganz vereinzelten Erhebungen, die im ganzen Laufe eines Daseins nicht zweimal vorkommen, sind jede als ein System für sich zu betrachten, welches [...] aber nur von einem Standpunkte, welcher das individuelle Dasein und damit zugleich das Bewusstsein und dessen Schranken nicht kennt, als Glied in der unterbrochenen Einheit des Lebens erscheint. (Dühring 1865: 44)10
Das Einzelphänomen löst sich, unabhängig von der Beschränktheit eines speziellen Bewusstseins, in der Einheit einer allgemeinen rhythmischen Bewegung auf. Auch Geburt und Tod, die aus individueller Sicht die absoluten und einmaligen Grenzmarkierungen der eigenen Existenz darstellen, kann Dühring aus einer außerindividuellen Perspektive in einen allgemeineren Lebensrhythmus einreihen, dessen jeweilige Hebungen das aufsteigende, die Senkungen das absteigende Leben kennzeichnen würden. _____________ 9
Nietzsche exzerpiert diese Passage knapp: „Die Höhenpunkte des Lebens haben das Aussehen vereinzelter Gipfel“ (N 1875: 9[1] VIII 146). 10 Eine solche Perspektive findet sich auch bei Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Band II, 558: „Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit einem Blick das Menschengeschlecht, in seiner ganzen Dauer, umfaßte, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen wie eine anhaltende Vibration, und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserem Blick der schnell gedreht Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrierende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Seite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen.“
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Das Phänomen selbst, welches sich zwischen Geburt und Tod in immer neuen Weisen ergeht, kann von jenem Standpunkt aus als eine oscillatorische Bewegung aufgefasst werden. (Dühring 1865: 44)
Das menschliche Leben im Allgemeinen erscheint dann als ein ständiges rhythmisches Pendeln zwischen den Punkten der Geburt und des Todes und nähert sich so dem mathematischen Auf und Ab eines ‚Lichtwellen-Rhythmus‘ an. Mag man die vereinzelten Gipfel der Leidenschaften vom individuellen Lebensstandpunkt aus auch als einmalig und unwiederholbar empfinden, „von jenem Standpunkt aus“, der nicht den Menschen, sondern die Menschheit ins Auge fasst, erscheint der einzelne Gipfel, so Dühring, als eine von vielen gleich wiederholten Erhebungen innerhalb einer rhythmischen Ganzheit: Stellt man sich [...] auf den Standpunkt der Einheit des Gattungslebens, so kann man [...] mit vollem Rechte die Vorstellung einer Art Rhythmus in den Hebungen und Senkungen zum individuellen Dasein fassen. (Dühring 1865: 45)
Die Gesetzmäßigkeit des einfachen Lebensrhythmus, auf der Dührings optimistische holistische These von einem allem unterliegenden Grundrhythmus basiert, ist demnach allein durch eine Überschreitung der Wahrnehmung des individuellen menschlichen Bewusstsein erkennbar: durch die, wie Dühring selbst betont, vom individuellen Bewusstsein nicht zu leistende Vorstellung eines außerhalb der Zeit stehenden quasi göttlichen Blickes auf das Werden und Vergehen der Menschheit, der vom Untergang des einzelnen Lebens nicht berührt ist. Zwar warnt Dühring vor der Vorstellung eines Standpunktes außerhalb des individuellen Bewusstseins;11 Tatsache ist jedoch, dass er seine Vorstellung eines holistischen rhythmischen Grundtypus in Bezug auf die Empfindungen nur aufrecht erhalten kann, wenn er eben dieses individuelle Bewusstsein zugunsten einer außermenschlichen Perspektive transzendiert. So gesehen muss sein Postulat einer allgemeinen rhythmischen Harmonie alles Daseins dem einzelnen Menschenleben notgedrungen gleichgültig gegenüber stehen. Ein Rhythmus, der Natur und Mensch vereint, löscht das Einzigartige des individuellen Lebens aus. Ähnlich verhält es sich mit Dührings Argumentation bezüglich einer weiteren Schwierigkeit, die bei der Rückführung des Empfindungslebens auf einen elementaren Rhythmus auftritt. Während die Wellen des „toten Daseins“, der „abstracten Materie“ in ständiger Bewegung begriffen sind, existieren im individuellen Gefühlsleben durchaus konstante Empfindungen wie z.B. die Wahrnehmung von dauerhaften Zuständen bzw. von festen Körpern. Doch auch in diesem Punkt sieht Dühring keinen Widerspruch zu seiner These der rhythmischen _____________ 11 Dühring, Werth des Lebens, 45: „Wir müssen uns hüten, auch nur einen Schatten jener Vorstellungen zu pflegen, welche den Verstand so weit verleugnen, von einem Bewusstsein jenseits einer sogenannten Schwelle des individuellen bewussten Lebens zu reden [...].“
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Einheit von Empfindungsleben und Außenwelt, denn auch die als dauerhaft empfundenen Zustände entsprechen seiner Ansicht nach einer rhythmischen Bewegung, die lediglich nicht ins Bewusstsein tritt: Die beharrlichen Zustände selbst sind Nichts als ein gleichmässig wiederkehrender elementarer Rhythmus, dessen einzelne Pulse wir nicht unterscheiden. (Dühring 1865: 41)
In dieser von Nietzsche ebenfalls exzerpierten Feststellung Dührings12 beruht die Unterscheidung zwischen beharrenden Körpern und der elementaren rhythmischen Bewegung allein auf der begrenzten Wahrnehmung des Menschen, die immer schon Bewegung ‚verfestigt‘. Was empirisch betrachtet einer bewegten rhythmischen Wellenform gleicht, wird als Zustand empfunden, weil die elementaren rhythmischen Intervalle zu kleinteilig und schnell verlaufen, um von der Wahrnehmung realisiert werden zu können. Dühring konstatiert, dass „die Bewegung erst verschwinden, d.h. in die Form einer statischen Wirkung verwandelt werden muss, ehe sie zu einer Empfindung führt“ (Dühring 1865: 42). Der elementare Rhythmus wird, so die Annahme hier, durch die menschliche Empfindung und Wahrnehmung in eine Form, in einen statischen Eindruck verwandelt. Als Beispiel für das Erstarren der tatsächlichen Bewegungen durch die Wahrnehmung führt Dühring die „Licht- und Tonempfindungen“ an, die „unbestritten einer rhythmischen Erschütterung ihre Entstehung verdanken und dennoch als stetige Eindrücke wahrgenommen werden“ (Dühring 1865: 41). Der tatsächliche ‚Rhythmus‘ äußerer Reize wandelt sich im menschlichen Empfindungsapparat zu unbewegten Eindrücken. Nietzsche paraphrasiert diese Textstelle in seinen Notizen und unterstreicht dabei die Stetigkeit des Empfundenen: So empfinden wir Licht- und Toneindrücke als stetige, während sie rhythmisch sind. (N 1875: 9[1] VIII 145)
Die Verwandtschaft dieses Beispiels mit einigen der drei Jahrzehnte später erschienenen Überlegungen des französischen Philosophen Henri Bergson zum Problem der Zeit sei hier Anlass zu einem kurzen Exkurs, um das von Dühring aufgeworfene Problem für den Begriff des Rhythmus zu profilieren. Bergson wählt 1896 in Matière et mémoire ebenfalls die Lichteindrücke, und zwar speziell die Farbwahrnehmung als Beispiel für die Diskrepanz zwischen der Bewegung der Materie und ihrer menschlichen Wahrnehmung und stellt eine beeindruckende Berechnung an. Er überlegt, wie stark sich die Wellenbewegung z.B. des roten Lichtes verlangsamen müsste, damit sie uns als Wellenform tatsächlich sichtbar würde. Ein sekundenlanger Blick auf die Farbe Rot müsste sich dieser Rechnung zufolge auf 25 000 Jahre ausdehnen, um die Lichtwellen unserem _____________ 12 Vgl. Nietzsche: „[D]ie beharrlichen Zustände sind ein gleichmäßig wiederkehrender Rhythmus, dessen einzelne Pulse wir nicht unterscheiden“ (N 1875: 9[1] VIII 145).
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Wahrnehmungstempo anzupassen.13 Obwohl damit einsichtig wird, dass sich die Zeit bzw. die Dauer (durée) unseres Bewusstseins von der physikalischen Zeit der Materie gravierend unterscheidet,14 sieht Bergson ähnlich wie Dühring diesen Unterschied jedoch nur als einen des „inneren Spannungsgrades“ der jeweiligen Rhythmen von Bewusstsein und Materie, nicht aber als einen Wesensunterschied oder gar als zwei wesensmäßig verschiedene Wirklichkeiten von Materie und menschlichem Bewusstsein.15 Auch Bergson geht von einem holistischen Weltbild aus,16 dem ein Rhythmus – zum unaufhörlichen Rhythmus der Materie ausgedehnt oder zum Bewusstseinseindruck zusammengezogen – eine Allem gemeinsame Basis verleiht. Die Eigenschaft einer rhythmischen Bewegung bildet trotz der unterschiedlichen Zeitabstände ihrer Aufeinanderfolge die gemeinsame Grundlage der verschiedenen Lebensformen und der atomaren Materie. In Wirklichkeit gibt es nicht nur einen einzigen Rhythmus der Dauer; man kann sich sehr wohl verschiedene Rhythmen vorstellen, welche, langsamer oder schneller, den _____________ 13 Bergson, Matière et mémoire, 229: „Dans l’espace d’une seconde, la lumière rouge [...] accomplit 400 trillions de vibrations successives. Veut-on se faire une idée de ce nombre? On devra écarter les vibrations les unes des autres assez pour que notre conscience puisse les compter ou tout au moins en enregistrer explicitement la succession, et l’on cherchera combien cette succession occuperait de jours, de mois, ou d’années [...]. Un calcul fort simple montre qu’il faudra plus de 25 000 ans pour achever l’opération.“ Dt. Materie und Gedächtnis, 215f: „In dem Zeitraum einer Sekunde vollführt das rote Licht [...] 400 Billionen aufeinanderfolgende Schwingungen. Will man sich eine Vorstellung von dieser Zahl machen, dann müßte man diese Schwingungen so weit voneinander entfernen können, daß unser Bewußtsein sie zählen oder wenigstens deren Aufeinanderfolge ausdrücklich unterscheiden könnte, und dann hätte man herauszufinden, wie viele Tage, Monate oder Jahre diese Aufeinanderfolge in Anspruch nehmen würde [...]. Eine ganz einfache Berechnung wird feststellen, daß es zur Ausführung dieses Vorhabens mehr als 25 000 Jahre bedarf.“ 14 Bergson, Matière et mémoire, 229: „La durée vécue par notre conscience est une durée au rythme déterminé, bien différente de ce temps dont parle le physicien [...].“ Dt. Materie und Gedächtnis, 215: „Die Dauer, wie sie von unserem Bewußtsein erlebt wird, ist eine in ihrem Rhythmus bestimmte Dauer, ganz verschieden von jener Zeit, von welcher der Physiker spricht [...].“ 15 Bergson, Matière et mémoire, 277: „Entre les qualités sensibles envisagées dans notre représentation, et ces mêmes qualités traitées comme des changements calculables, il n’y a donc qu’une différence de rythme de durée, une différence de tension intérieure.“ Dt. Materie und Gedächtnis, 262: „Zwischen den Empfindungsqualitäten, als Elemente unserer Vorstellung, und diesen selben Qualitäten, als berechenbare Veränderungen [d.h. als Rhythmus der Materie, FFG] angesehen, besteht also nur ein Unterschied im Rhythmus der Zeitdauer, ein Unterschied des inneren Spannungsgrades.“ 16 Vgl. Victor Klemperer, Bergson als Trägergestalt, in: ders., Geschichte der französischen Literatur, Band V, Teil 3, 1. Hälfte, Leipzig/Berlin 1931, 10: Das allen seinen Werken grundlegende mystische Erlebnis ist Bergsons „Überzeugung von der Unteilbarkeit alles Wirklichen, von der notwendigen Verzerrung aller Realität durch verstandesmäßige Zerlegungen.“
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Grad der Spannung oder Abspannung der Bewußtseinsarten messen würden und damit die respektiven Stellungen derselben innerhalb der Reihe der Wesen feststellten.17
Die Differenz zwischen der tatsächlichen Bewegung der Materie bzw. ihrem Rhythmus und dem durch die Sinnesorgane gefilterten Eindruck dieses Rhythmus versteht Bergson als eine Differenz der Geschwindigkeiten, als „Vorstellung von mehreren Zeitdauern von ungleicher Elastizität“.18 Die Bewegung der menschlichen Empfindung wäre demnach ebenso rhythmisch wie die Bewegung der Materie, nur findet sie in einem wesentlich langsameren Takt statt, der lang andauernde Bewegungen der Materie komprimiert, gewissermaßen die Zeit zusammenzieht und dadurch den Eindruck von Stetigkeit erzeugt. Bergson koppelt diesen Akt der Zusammenfassung von Bewegungsabläufen der Materie an das Erinnerungsvermögen eines entwickelten Bewusstseins, denn nur wenn das Gedächtnis in der Lage ist, über einen gewissen Zeitraum hinweg den Rhythmus der Materie in der Erinnerung festzuhalten, kann es gleich einer photographischen Langzeitaufnahme, bei der der Kameraverschluss geöffnet arretiert wird, eine länger andauernde Bewegung in ein Bild oder einen Zustand verwandeln. Durch seine Spannkraft über den Moment hinaus befreit das Gedächtnis vom Ablaufrhythmus der Materie und verleiht dem Bewusstsein die Macht, eigene Akzente zu setzen: Indem es [das Gedächtnis, FFG] uns in einer einzigen Anschauung vielfache Augenblicke der Zeitdauer erfassen läßt, entbindet es uns von der Ablaufsbewegung der Dinge, d.h. von dem Rhythmus der Notwendigkeit. Je mehr dieser Augenblicke es in einen einzigen zusammenzuziehen vermag, um so größer ist die Macht, die es uns über die Materie gibt [...].19
Kehren wir zurück zu Dühring. Bergson führt auf der einen Seite den ausgedehnten und unendlich schnellen Rhythmus der Materie vor Augen, während er _____________ 17 Bergson, Materie und Gedächtnis, 217f.: „In Wirklichkeit gibt es nicht nur einen einzigen Rhythmus der Dauer; man kann sich sehr wohl verschiedene Rhythmen vorstellen, welche, langsamer oder schneller, den Grad der Spannung oder Abspannung der Bewußtseinsarten messen würden und damit die respektiven Stellungen derselben innerhalb der Reihe der Wesen feststellten.“ Frz. Matière et mémoire, 231: „En réalité, il n’y a pas un rythme unique de la durée; on peut imaginer bien des rythmes différents, qui, plus lents ou plus rapides, mesureraient le degré de tension ou de relâchement des consciences, et, par là, fixeraient leurs places respectives dans la série des êtres.“ 18 Bergson, Materie und Gedächtnis, 218. Frz. Matière et mémoire, 231: „Cette représentation de durées à élasticité inégale [...].“ 19 Bergson, Materie und Gedächtnis, 240. Frz. Matière et mémoire, 254: „En nous faisant saisir dans une intuition unique des moments multiples de la durée, elle [la mémoire, FFG] nous dégage du mouvement d’écoulement des choses, c’est-à-dire du rythme de la nécessité. Plus elle pourra contracter de ces moments en un seul, plus solide est la prise qu’elle nous donnera sur la matière [...].“
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auf der anderen Seite auf die unterschiedlichen Grade der Verlangsamung jenes Rhythmus durch das Erinnerungsvermögen organischen Lebens hinweist. Diese Unterscheidung findet sich auch in Dührings Werth des Lebens. Dühring sieht das Bewusstsein in dem Moment beginnen, in dem es in der Lage ist, über den Augenblick hinausgehende Zeiträume im Gedächtnis zusammenzufassen. Das Kind, das noch zu keiner größeren Gedächtnisleistung und insofern zu keiner umfassenderen Zusammenfassung der Zeit in der Lage ist, lebt – so Dühring – „einen kürzer gemessenen Rhythmus“ als das geistig entwickeltere erwachsene Individuum (Dühring 1865: 57). Das Kind scheint den Impulsen und Reizen, die von außen auf es eindringen, kaum Widerstand entgegenzusetzen und mit jeder empfangenen Wahrnehmung und Empfindung mitzugehen. Das „Pendel“ des kindlichen Empfindungsrhythmus hat eine „geringere Ausdehnung“ und „schwingt“ daher „rascher“ (ebd.). Im Sinne von Bergsons Annahme, dass sich die Wahrnehmung und die Außenweltbewegungen nur durch die Geschwindigkeit bzw. Ausdehnung ihrer Rhythmen unterscheiden, kann man insofern hier die Geschwindigkeit des kindlichen Wahrnehmungsrhythmus näher an den elementaren Reiz-Reaktions-Mechanismen ansiedeln als den des gebildeten Erwachsenen. Erst wenn seine Kapazität, Auseinanderliegendes miteinander zu kombinieren wächst, kann das Kind sich vom Ablaufrhythmus der Dinge befreien. Es vermag Bilder und Erscheinungen im Gedächtnis zu behalten, während es sie zuvor stets vergaß, weil es – wie Nietzsches Herdentier in der Historienschrift – nur im Augenblick lebte: Wir rechnen also die Periode des in einem höheren Grade bewussten Kindeslebens von dem freilich ziemlich unbestimmten Zeitpunkt an, in welchem die [...] Fähigkeit der zusammenfassenden Kraft des Bewusstseins bereits so gross ist, um die Erscheinungen des Augenblicks oder vielmehr deren Bild für eine länger Dauer zu bewahren. (Dühring 1865: 58)
Bewusstsein ist insofern nur unter der Voraussetzung eines Austritts aus dem elementaren Rhythmus der Materie denkbar. Erst wenn es sich mittels seines Gedächtnisses von den Abläufen der Materie löst, wird die Dauer eines Lebens möglich. „Die Differenz ist das Grundgesetz [...] alles Bewusstseins“, konstatiert er (Dühring 1865: 30). Die Konsequenz, dass genau aus diesem Grund zwischen dem Individuum und der allgemeinen Lebensbewegung, die als ein elementarer Rhythmus erscheint, ein größtmöglich zu denkender Hiatus klafft, zieht er jedoch nicht. Er übersieht den aus seinen eigenen Beobachtungen sich ergebenden Schluss, dass der holistische Traum, d.h. der Übergang eines Individuums in die Geschwindigkeit eines elementaren Rhythmus den Verlust seines Bewusstseins bedeuten würde. Sowohl seine mikrokosmische als auch die makrokosmische Herleitung einer für alles Dasein geltenden Grundrhythmik geht bei Dühring insofern mit einer
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Aufgabe des individuellen Bewusstseins einher. War es auf der einen Seite die Voraussetzung eines dem Individuum gleichgültig gegenüber stehenden außermenschlichen Blicks auf die Menschheitsgattung, dem sich das rhythmische Pendel des einzelnen Lebens als Teil einer oszillierenden Bewegung zeigte, so ist auf der anderen Seite eine Erkenntnis der rhythmischen Grundlage aller stetigen Empfindungen und Wahrnehmungen nur mit der Konsequenz der Vernichtung des individuellen Bewusstseins vorstellbar, d.h. der Rückkehr in das kindliche Bewusstsein und schließlich die Auflösung in der Materie.20 Eine makrokosmische Einheit mit „Leben und Tod“, mit dem unendlichen Pendel des Werdens und Vergehens organischer Prozesse ist allein durch die Preisgabe des Bewusstseins vorstellbar – ebenso wie die mikrokosmische Einheit mit den Wellen der Materie. Dührings Unterfangen, eine allem Dasein unterliegende Harmonie induktiv aus dem Empfindungsleben des einzelnen Bewusstseins herzuleiten,21 ist daher zum Scheitern verurteilt, weil ein Blick, der das einzelne Individuum in eine umfassende Weltrhythmik im Großen oder im Kleinen einzubetten trachtet, niemals der Blick eines einzelnen Individuums sein kann. 2.2.2. Nietzsches tragischer Optimismus Im Affekt enthüllt sich nicht der Mensch, sondern sein Affekt. (N 1882: 3[1] X 103)
Auf diesen Widerspruch legt Nietzsche, während er sich mit Dühring auseinandersetzt, seinen Finger. Er stimmt dessen Argumentation zu, solange sie auf dem Ausgangspunkt des individuellen Bewusstseins und Maßes beharrt. In sein Exemplar von Dührings Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung von 1875, das Nietzsche noch im Erscheinungsjahr las, notiert er sich an den Rand: _____________ 20 „Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären./ Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor./ Leben und Tod, Befruchten und Gebären/ Glitte aus unseren stummen Säften vor“ – so fasst Gottfried Benn zu Beginn des nächsten Jahrhunderts in letzter Konsequenz die unerfüllbare Sehnsucht nach einer vollendeten Einheit mit der Natur in durchaus nicht ironisch zu verstehende Worte (Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1987, 309). 21 Vgl. Dühring, Werth des Lebens, 1865, 6, zu seinem induktiven Vorgehen: „Geht man nun von den einzelnen praktischen Entscheidungen zu einem Gesammturtheil über, so heisst dies so viel, als die Resultante der Elementarbestimmungen angeben. Das praktische Gesammturtheil kann also nicht die Form der Unterordnung unter einen theoretischen Begriff haben, welcher im Voraus feststellte, wie das Leben beschaffen sein müsste, um unsern Beifall zu erhalten.“
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Aber vom Individuum ist auszugehen! Und wo ist dies Erste!22
Auch Nietzsche geht von einem harmonischen Grund-Maß aller Dinge aus, allerdings ausschließlich als Maß eines individuellen Bewusstseins und nicht als Charakteristikum einer wie auch immer gearteten objektiven, kosmischen oder elementaren Realität.23 So notiert er sich zwischen seine Dühring-Exzerpte: Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige Harmonie, welche wir kennen. (N 1875: 9[1] VIII 136)
Der Satz der Identität, d.h. die Fähigkeit des menschlichen Verstandes, homogene Formen zu erkennen bzw. zu setzen und dadurch in der Zeit durch stetige Wiederholung konstant zu halten, bildet für Nietzsche das Grundmaß menschlicher Wahrnehmung und ermöglicht die Empfindung von Harmonie und Ordnung der Lebenswelt (vgl. Kap. 2.1.2.). Das Messen der Realität an identischen und wiederkehrenden Formen unterstreicht er in dieser Notiz als die „einzige Harmonie, welche wir kennen“; seine Interpretation der Harmonie beschränkt sich also auf die Kapazitäten des individuellen Bewusstseins und geht nicht darüber hinaus. Vielmehr „scheint es so, daß die disharmonische Welt existirt, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist“ (N 1875: 9[1] VIII 136). Die Harmonie, die aus dem Identitätsprinzip erwächst, ist für Nietzsche ausschließlich an das Bewusstsein, an die Welt der Vorstellung und daher einen logisch gestalteten Traum von der Wirklichkeit gebunden, ähnlich der griechisch-apollinischen Welt der Tragödienschrift. Ohne die Fähigkeit der Identifikation, des Gleichsetzens mit vorherigen Eindrücken, ohne ein Bewusstsein ist auch gar keine Empfindung möglich, wie er in seinen Notizen fortfährt: [O]hne Logisches auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung. (N 1875: 9[1] VIII 137)
Das zu Grunde liegende Maß der Empfindungen ist daher nicht in den elementaren Vorgängen der Natur zu suchen, sondern allein im menschlichen Bewusst_____________ 22 Die Randbemerkung Nietzsches ist im Kommentarband der KSA wiedergegeben (zu N 1975: 8[3] VIII 569). Dührings auch in seinem Cursus der Philosophie zu findende These, dass sich die „allgemeine Verfassung des Daseins auf Grundelemente und Grundformen“ zurückführen lasse, „ähnlich wie die chemische Constitution der Körper“, kommentiert Nietzsche mit „Bedenkliches Gleichnis!“ am Rande (vgl. KSA XIV 568f.). 23 Bereits Venturelli, Asketismus, 115, weist auf diese Kritik Nietzsches an Dührings Philosophie hin, allerdings in Bezug auf Nietzsches den Dühring-Notizen folgende Buch Menschliches, Allzumenschliches: Dühring „beschränkt sich tatsächlich darauf, das Dasein auf der Grundlage des Satzes der Identität zu messen, vernachlässigt es aber, alle logischen Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß auch dieser Satz der Identität eine einfache Vorstellung ist: durch ihn erfinden wir eine fiktive Harmonie, aufgrund derer wir die uns umgebende disharmonische Welt bewerten.“
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sein. Nietzsche nimmt eine völlige Umwertung von Dührings Grundannahme vor: Der Wertmesser des Daseins ist nicht aus den Empfindungen zu erschließen, die als bewusstseinsüberschreitend an einen natürlichen Grundrhythmus angebunden gelten sollen, sondern der Wert des Lebens liegt im menschlichen Maß bzw. Rhythmus selbst, dem der Welt angelegten Identitätsprinzip, durch das die einzige vorstellbare Harmonie und Wertvorstellung im Leben möglich wird und das auch den Empfindungen zugrunde liegt. In Nietzsches Augen ist es gerade die größtmögliche Loslösung von den elementaren Bewegungen, die den tatsächlichen Wert des Lebens ausmacht: je weiter sich der Mensch von der elementaren Natur zu lösen sucht, desto mehr konturiert er seine individuelle Form. Daß ein solcher Trieb [vom Weltwillen loszukommen, FFG] gerade bei den edleren Menschen entstehen kann, ist doch ein Werthmesser des Daseins, man kommt mit Schimpfen nicht darüber hinweg; selbst wenn ein ungeheurer Irrthum darin läge [...]. (N 1875: 9[1] VIII 140)
Als einen Ausdruck dieser für den Wert des Lebens notwendigen Verfälschung dessen, was tatsächlich die Welt bewegt (im Vokabular Schopenhauers ist dies der „Weltwille“), sieht Nietzsche das Asketentum. Hier liegt ein wesentlicher Dissens mit Dühring, anhand dessen sich das zuvor Gesagte verdeutlichen lässt. Denn Dühring verurteilt die Askese als „geistige[n] Selbstmord“ (Dühring 1865: 19).24 Da er die Leidenschaften als Schlüssel zum Wert des Lebens und zugleich als Grundlage einer quasi ‚natürlichen‘ Moral ansieht,25 verurteilt er ihre versuchte Abtötung durch Askese vehement. Nietzsche dagegen sieht den Wert und die Größe des Lebens keinesfalls im alleinigen Befolgen der Triebe und Leidenschaften begründet. Er konstatiert: „Der Advokat des Pathos nimmt sich als LebensVerherrlicher übel aus“ (N 1875: 9[1] VIII 140) – aus der reinen Leidenschaft, dem Pathos, kann das Leben nicht verherrlicht werden. Damit stellt er Dührings Postulat in Frage, dass etwas wahrhaft Großes nur aus Pathos entstehen könne. _____________ 24 In seiner vehementen Verurteilung des Asketismus als Abtötung der Leidenschaften geht Dühring, Werth des Lebens, 19, noch darüber hinaus: „Nun erscheint aber der gemeine Selbstmord der unbefangnen Betrachtung als ein verhältnissmässig unschuldiger Act im Vergleich zu jenem Beginnen, welches die raffinirte Ertödtung nicht eines bestimmten Lebens, sondern des Wesens der Gattung selbst will. Selbst der gemeine Mord kann bisweilen als ein geringeres Verbrechen erscheinen, als das finstrere Werk derjenigen Lehren, welche das Leben mit ihren Anklagen vergiften.“ 25 Vgl. Dühring, Werth des Lebens, 21f.: „Die Moral will über den Werth der verschiednen Arten des Verhaltens entscheiden. [...] Woher soll [...] dieses Werthmaass anders genommen werden, als aus dem Bereich derjenigen durch die Natur gegebenen unwillkürlichen Bestimmungen, in denen bereits die Form des Sollens enthalten ist? Man bedarf der Triebe und der Affecte als einer Grundlage, auf welcher die Verstandeseinsicht ihr abstractes System von Regeln über das, was sein soll und nicht sein soll, errichten könne.“
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Ganz im Gegenteil offenbart Nietzsche im Rahmen seiner Dühring-Kritik sein anders geartetes Credo zugunsten des Ethos: Dühring ist besonders über die erwähnte Affektlosigkeit wüthend; wenn nun aber jemand dem Pathos entsagt und ganz ἠθος [ethos, FFG] zu werden versteht, so gilt das uns viel höher und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist gerade für uns ein Objekt der Sehnsucht. (N 1875: 9[1] VIII 140)
Der „edlere Mensch“, wie er zuvor notiert hatte, versucht seinen Trieben zu widerstehen, um dadurch einen wenn auch illusorischen Abstand zu den Bewegungen des Weltwillens zu gewinnen. Diesem edleren Menschen gilt, weil er ethisch und nicht affektgebunden handelt, Nietzsches Respekt und an seine Existenz bindet er jegliche Vorstellung eines Lebenswertes. In Richard Wagner in Bayreuth bezieht Nietzsche „Das, was die Griechen Ethos nennen“ auf die „bleibende[n] Zustände des Menschen“ (WB 1876: 491).26 Diese bleibenden Zustände sollen „durch eine gewisse auffallende Gleichartigkeit der Form und durch die längere Andauer dieser Gleichartigkeit“ hervorgerufen werden (ebd.).27 Wenn man mit Nietzsche annimmt, dass außerhalb der Vorstellungswelt keine Harmonie und kein Gleichmaß erkennbar sind, dann kann man Dührings – und auch Bergsons – Beispiel von der Farbwahrnehmung als eine ‚ethische‘ Tat des Bewusstseins verstehen. Da eine beständige Form bzw. Qualität – die der Farbe Rot – wahrgenommen wird, muss in Nietzsches Sinne vorausgesetzt werden, dass das Bewusstsein hier identische Formen über einen Zeitraum hinweg bestimmt und zusammengezogen hat. Die Wahrnehmung handelt insofern aus Gewohnheit nach dem Identitätsprinzip: sie projiziert identische Rhythmen und dadurch Qualitäten in die Zeit hinein und zieht sie zu dauerhaft wahrgenommenen Zuständen wie den Farben zusammen. Bewusst wird nach der Generationen übergreifenden Übung dieses Vorganges allein das Ergebnis: nämlich die bleibende Farbe Rot in der Zeit. Diese Form hat ebenso Bestand wie der menschliche Körper, der ebenfalls Ergebnis einer wiederholten Nachahmung gleich ge_____________ 26 Pathos liest Koecke, Zeit des Ressentiments, Zeit der Erlösung. Nietzsches Typologie temporaler Interpretation und ihre Aufhebung in der Zeit, Berlin/New York 1994, 111, bei Nietzsche entsprechend als „Formel für die Unabschließbarkeit, Ethos oder Moral“ dagegen als Formel „für den jeweiligen Abschluß eines Horizonts.“ 27 Ethos im griechischen Sinne meint bleibende Sitten, die der wechselnden Sinnesart des Pathos entgegengesetzt gedacht wurden. Apollo, den Nietzsche in der Geburt der Tragödie als „ethische Gottheit“ bezeichnet (GT 1872: 40), gilt ihm dort als Wächter der Nachahmung und Wahrer der Sitten, indem er an Gesetz und Maß gemahnt. In übertragenem Sinne praktiziert Apollo das Identitätsprinzip, denn er forciert die Wiederholung gleicher Praktiken über den Verlauf der Zeit hinweg. Konvention und Ethos sind somit die Wahrer jener harmonischen Welt des Scheins, die dem Leben seinen einzigen Wert zumessen, weil sie bleibende Zustände gewähren.
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setzter Bewegungen ist, wie Nietzsche in seinem Fragment zur „Zeitatomenlehre“ ausführt (vgl. Kap. 2.1.2.). Ob die Materie wirklich eine regelhafte Wellenform bzw. einen Rhythmus verkörpert, ist gar nicht festzustellen, weil eine Wirklichkeit jenseits des Verstandes und des Identitätsprinzips, so Nietzsche, nicht denkbar ist. Seiner Ansicht nach kann es keine authentischen Annahmen über eine jenseits der vom Bewusstsein bestimmten Lebenswelt geben, denn jede Annahme wird bereits mit dem Maßstab der Verstandeswelt gemessen. Eine nähere Bestimmung der „Wirklichkeit“ jenseits der Vorstellungswelt ist nicht denkbar, wie er in einem Kommentar zu Dühring erläutert: [W]enn z.B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der „wirklichen“ Welt an einer, die uns für wirklicher gilt. (N 1875: 9[1] VIII 136)
Eine Beurteilung der „wirklichen“ Welt der Natur und der Materie ist nur am Maßstab der uns als „wirklicher“ geltenden Vorstellungswelt möglich. Mit der Annahme, dass es eine rhythmische Grundierung der elementaren Welt gibt, folgen dem auch Dühring und Bergson, indem sie ein anthropologisches Phänomen, den Rhythmus, als Maß an die außerhalb unsres Bewusstseins liegende Welt anlegen: sie messen die wirkliche Welt an einer, die uns für wirklicher gilt, nämlich an einem anthropomorphen Maß. Es wäre aber auch eine ganz anders geartete, unabhängig von unserem Bewusstsein existierende Realität als die einer unendlich schnellen, aber wissenschaftlich berechenbaren Atomzeit denkbar, die beide als Wirklichkeit zugrunde legen: Nach der griechischen Vorstellung der Naturnotwendigkeit ließe sich durchaus annehmen, dass die Materie das Reich des Unbestimmbaren, der Beliebigkeit und Regellosigkeit darstellt, während Ordnung und Regelmaß Zeugnis von Spuren anthropomorpher Götter ablegen. Die ethischen Gesetze des menschlichen Bewusstseins und das Reich der anánke, der Naturnotwendigkeit, die – anders als die Wortbedeutung nahe legt – im griechischen Sinne laut Nietzsche Beliebigkeit und Zufall bedeutet,28 können für ihn _____________ 28 „Wenn die Alten von Nothwendigkeit: ἀνάγκη reden, so meinen sie das Reich, wo es beliebig zugeht (zufällig), wo nicht auf jede Ursache ihre Wirkung folgen muß. Nur der teleologische Bereich, wo die Gottheit ihre Spuren sichtbar werden läßt, macht eine Ausnahme: der Geist bringt Ordnung und Regelmäßigkeit hinein“ (N 1880: 4[288] IX 171). Edith Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München 2006, 15 zeigt in ihrer eindrucksvollen Studie den Einfluss Darwins auf diese Natursicht Nietzsches auf: „In Nietzsches Vorstellung, der Mensch sei in Wahrheit nur ohnmächtig Spielball von gnadenlosen Welttendenzen, liegt der Koinzidenzpunkt von darwinistischem Zufallsgedanken und archaisch-heidnischem Gedanken einer furchtbaren Treulosigkeit Gottes. Die Seele findet sich im Schatten des finster drohenden Deus absconditus vor, der in antiker Religion Ananke, naturphilosophisch Zufall heißt.“ Zum Einfluss
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keinem gemeinsamen Gesetz unterliegen. Vier Jahre nach seiner DühringLektüre wird Nietzsche diesen Gedanken der Ungesetzlichkeit des Notwendigen erneut mit der (ethischen) Gesetzmäßigkeit der Vorstellungswelt kontrastieren: Man soll da, wo etwas gethan werden muß, nicht von Gesetz reden, sondern nur da, wo etwas gethan werden soll. Gegen die sogenannten Naturgesetze [...]. (N 1879: 44[6] VIII 612)
Gesetze bedeuten kein ‚So ist es‘, sondern ein ‚So soll es sein‘. Die apollinischgesetzmäßige ethische Welt des Verstandes und des Bewusstseins steht insofern der wirklichen Welt, den beliebigen und zufälligen Reizen der Außenwelt gegenüber. Die „Periode der Atome“ bezeichnet Nietzsche daher in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung, wie eingangs bereits zitiert, nicht als mathematische Gesetzmäßigkeit, sondern als „atomistische[s] Chaos“ (SE 1874: 367). Die Bewegung der Atome gehört in das Reich der anánke und kann für die menschliche Vorstellung niemals mit den apollinischen Gesetzen der lebenswerten Scheinwelt des Bewusstseins in Übereinstimmung gebracht werden.29 In Dührings Gegenüberstellung von organischem, d.h. mit Bewusstsein ausgestattetem Leben und der bewusstseinsüberschreitenden Außenwelt, die von der Wissenschaft als atomare Abläufe beschrieben wird, sieht Nietzsche Parallelen zu seiner „Auffassung des Dionysischen und Apollinischen“ (N 1975: 9[1] VIII 146), und dies insbesondere in Bezug auf seine Ästhetik des Rhythmus. Das Dionysische behält wie in der Geburt der Tragödie auch hier die Bedeutung desjenigen, das sich der Einordnung in die menschliche Welt entzieht. Hatte er in den Notizen zuvor das Maß der Vorstellung als die einzige uns bekannte Harmonie beschrieben, so gilt ihm entsprechend das Dionysische als das Disharmonische schlechthin: Das Dionysische ist dann der disharmonische Grund, welcher nach dem Rhythmus, der Schönheit usw. verlangt. (N 1875: 9[1] VIII 146)30 _____________ Darwins auf den frühen Nietzsche vgl. Dirk Robert Johnson, Nietzsche’s Early Darwinism: the ‚David Strauss’ Essay of 1873, Nietzsche-Studien 30 (2001), 62–79. Wie Düsing weist er auf die primär ethischen Implikationen der Darwin-Rezeption Nietzsches hin (ebd., 69). 29 Taureck, Nietzsches Alternativen, 156, beschreibt die Notwendigkeit des Wirklichen in Bezug auf Nietzsches Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873) im Sinne des oben Gesagten: „Dieses Notwendige ist, so bestätigt die frühe Schrift die späteren Überlegungen, das Werden als Chaos.“ 30 Dem Dionysischen entspricht hier die grundsätzliche Unvereinbarkeit und unüberwindliche Getrenntheit des Daseins in die apollinische Sphäre des „principium individuationis“ und dem allgemeinen schöpferischen Werden der Natur, das sich, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie schreibt, nach der Erlösung im Schein sehnt „Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als
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Das Disharmonische als dasjenige, das sich jedem vom Bewusstsein auf die Welt projizierten Maß entzieht, verlangt in anthropologischer Hinsicht nach eben dieser Formung durch ein Maß. Die notwendigen Erkenntnisstrukturen zum Harmonisieren des Disharmonischen findet Nietzsche nicht in den Berechnungsprinzipien der Wissenschaft, sondern in ästhetischen Rhythmen. Das Unbestimmbare, Disharmonische bedarf nicht der Errechnung, sondern der rhythmischen Formung, die anders als das Maß der Wissenschaft kein ein für allemal gültiges Gesetz zu sein beansprucht, sondern als zeitgebundenes ästhetisches Phänomen der Veränderung anheim gegeben ist: Sodann ist das Maaß, womit wir messen, unser Wesen, keine unveränderliche Größe [...]. (N 1875: 9[1] VIII 136)
Gegenüber Dührings Vision der einen, auf einem gemeinsamen harmonischrhythmischen Grund beruhenden Welt stellt Nietzsche ein grundsätzlich tragisches Wesen des Daseins wie in der Geburt der Tragödie beschrieben. Die einzige Quelle von Harmonie und Lebenswert bildet die Sphäre des Bewusstseins, dem es zugleich gegeben ist, seine eigene Scheinhaftigkeit und Unzulänglichkeit zu erkennen. Man kann – so Nietzsche – nicht leben, ohne zu urteilen,31 und so ist das einzelne Leben selbst in den unauflöslichen Widerspruch verfangen, in den es auch in der Konfrontation mit der Außenwelt gerät. In seinen Notizen zu Dühring heißt es entsprechend: Wir sind von vornherein unlogische und daher auch ungerechte Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten Disharmonien des Daseins! (N 1875: 9[1] VIII 136)
Das Bewusstsein stellt sowohl die einzig mögliche Realisation von Harmonie und Lebenswert dar als auch den Weg zur Erkenntnis, dass eben dieser Harmonie eine ungeheure Lüge (im außermoralischen Sinn) zugrunde liegt.32 In diesem Dilemma gefangen gibt es zwei Möglichkeiten: an der unveränderlichen Disharmonie des Lebens zu verzweifeln oder die apollinische scheinhafte Harmonie im _____________ das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht [...]“ (GT 1872: 38). 31 „Wenn man aber nur leben könnte, ohne zu schätzen [...]!“ (N 1875: 9[1] VIII 136). 32 Nietzsches Ablehnung eines Optimismus, der annimmt, der Mensch könne sich harmonisch ins Weltganze einfügen, zeigt sich auch an seiner spöttischen Ablehnung der Vegetarier in einem Brief an Gersdorff vom 28. September 1869: KGB II.1 [Nr. 32] 58: „Das wichtigste für mich ist, daß hier wieder ein Stück jenes Optimismus mit Händen zu greifen ist, der unter den wunderlichsten Formen, bald als Socialismus [...] bald als Pflanzenkostlehre und unter unzähligen Formen immer wieder auftaucht: als ob nämlich mit Beseitigung einer sündhaft-unnatürlichen Erscheinung das Glück und die Harmonie hergestellt sei. Während doch unsre erhabne Philosophie lehrt, daß wo wir hin greifen, wir überall in das volle Verderben, in den reinen Willen zum Leben fassen und hier alle Palliativkuren unsinnig sind.“
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vollen Bewusstsein ihrer genuin anthropologischen, d.h. scheinhaften und zeitlich gebundenen Gestalt zu pflegen und auszufeilen. Nietzsche proklamiert zweifellos letzteren Weg, was anhand eines weiteren Kommentars zu Dühring deutlich wird. Aus Dührings Einleitung in Der Werth des Lebens nimmt Nietzsche die Kritik auf, dass die Philosophie oftmals vor den unveränderlichen Aspekten des Daseins kapituliert und von ewigen Ideen spricht, wo Taten noch Veränderungen bringen können: [E]inen grossen Theil der Philosophie kann man nicht davon freisprechen, Unveränderlichkeiten angenommen zu haben, wo menschliche Thatkraft noch Chancen hat [...]. (Dühring 1865: 12)33
In Richard Wagner in Bayreuth nimmt Nietzsche ein Jahr später diesen Gedanken wörtlich auf und radikalisiert ihn: Mir scheint [...] die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen. (WB 1876: 445)
Der erste Schritt dieser Forderung ist das entscheidende Argument gegen jeden blinden Optimismus. Die Erkenntnis der eigenen Beschränktheit geht bei Nietzsche jedem Veränderungswillen voraus, und die Kunst besteht darin, letzteren nicht an der Verzweiflung über die niemals umfassende eigene Wirkungskraft sterben zu lassen. Die Philosophie stößt an ihre Grenzen: Hier „erreicht die Erkenntniß im Philosophen einen Grad, daß der einzelne Mensch in seiner Hülflosigkeit gegen die allgemeine ἀνάγκη sich gerade wie ein bewußt gewordenes Kind vorkömmt!“ (N 1875: 9[1] VIII 148) Es ist die Aufgabe der Kunst, über den zwischen der ethischen Vorstellungswelt des Menschen und seiner Erkenntnis der unveränderlichen Disharmonien klaffenden Spalt Brücken zu bauen und Bögen zu spannen. Die einzig mögliche Harmonie und Schönheit muss eine ästhetische Illusion bleiben und kann nicht zum wirklichen Einklang mit der Welt werden. Die Kunst bzw. der einzelne Künstler allerdings verbindet durch diese Illusion, durch das Aufprägen eines vereinfachenden Rhythmus auf die disharmonische und das menschliche Bewusstsein sprengende Welt die elementare, radikal zeitliche Bewegung mit dem menschlichen Leben. Im Gegensatz dazu arbeitet die moderne Wissenschaft gerade auf die immer genauere objektive Erkenntnis einer ästhetisch ‚unverfälschten‘ Realität hin, um zu jenem „Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens“ zu gelangen, das Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung als lebensfeindlich beschreibt. Doch diese Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen. Daher weist Nietzsche auf die existenziellere Bedeutung der Kunst für die Mo_____________ 33 Nahezu wörtlich von Nietzsche exzerpiert (N 1875: 9[1] VIII 135).
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derne hin: Je detaillierter die Erforschung der Welt wird, desto mehr muss die Kunst leisten, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Hilfe ihrer illusionären Vereinfachung noch mit dem individuellen Bewusstsein verbinden zu können. Die Leistung des Künstlers gleicht insofern einem immer stärker gespannten Bogen zwischen zwei zunehmend unvereinbaren Welten: Je schwieriger die Erkenntniss von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so grösser wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des Einzelnen. Damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da. (WB 1876: 452f.)
Wie kann sich diese Art einer angespannten Überlebenskunst gestalten? In Nietzsches Übertragung der apollinisch-dionysischen Attribute auf seine Lesart von Dührings Werk zeichnet sich eine Art Philosophie des ‚Trotzdem‘ ab, was Nietzsche wiederum anhand des Aufeinanderprallens von individuellem organischen Leben und der Bewegung der elementaren Zeit verdeutlicht. Infolge der Annahme eines grundsätzlich disharmonischen, also dionysischen Grundes des Daseins, der eine unveränderliche Tatsache des Lebens darstellt, die von der Philosophie zunächst anzuerkennen ist, fragt Nietzsche nach den Handlungsmöglichkeiten des individuellen Lebens. Während die Disharmonie der Welt unaufhebbar ist, bezieht sich die Verbesserung der als veränderlich erkannten Welt, die Nietzsche fordert, auf ihre ästhetische Rhythmisierung. Daher ist seine zentrale Frage: Der Rhythmus des organischen Lebens – wie weit passt er sich der Form der andringenden Reize an? (N 1875: 9[1] VIII 146)
Passt sich der Rhythmus des einzelnen Lebens Reiz-Reaktions-Mechanismen der elementaren Zeit ungehindert an, dann löst er sich auf und die spezifischen Empfindungen dieses Lebens verschwinden: Es kann [...] der Rhythmus des organischen Lebens ganz den andringenden Reizen nachgeben, in sie übergehen – dies alles ist das dionysische Phänomen. (N 1875: 9[1] VIII 146)
In diese Kategorie würden auch die holistische Weltvorstellung Dührings und Bergsons fallen.34 Eine Auflösung des individuellen Lebens in der umgebenden Welt der Materie, die mit all ihren Reizen auf es eindringt, kommt einer Elimination des einzelnen Bewusstseins gleich. Zur Schönheit und Harmonie führt nicht die dionysische Selbstaufgabe und Auflösung des Bewusstseins, sondern viel_____________ 34 Hier setzt auch die philosophische Kritik an Bergsons Konzept der Dauer an. In seinem Vorwort zu der Neuübersetzung von Materie und Gedächtnis zitiert Erik Oger die Kritik von Walter Benjamin wie auch von Max Horkheimer, dass Bergson den Tod aus seiner Konzeption der Dauer ausklammere (in: Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, mit einem Vorwort hrsg. von Erik Oger, Hamburg 1991, LIII).
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mehr die Bewahrung eines eigenen Rhythmus, das Setzen eines eigenen Maßstabes und schließlich die Formung der andringenden Reize nach diesem eigenen Maß: Dagegen ist das maßvolle Verhalten gegen die andringenden Reize, das Festhalten des eignen Rhythmus, das Einordnen von zwei Rhythmen-gestaltungen in einander, endlich die Übertragung des eignen Rhythmus auf die andringenden Reize (= Schönheit) das apollinische Phänomen. (N 1875: 9[1] VIII 146)35
Das eigene Maß des Menschen, die Behauptung eines eigenen Rhythmus gegen die andringenden Reize aus dem ‚disharmonischen Grund‘ bedeutet eine künstlerische Leistung. Das „Festhalten des eigenen Rhythmus“ als ethische Selbstbehauptung des Individuums rückt an die erste Stelle von Nietzsches anthropologischer Ästhetik – im vollen tragischen Bewusstsein, wohlgemerkt, dass diese Art Selbstbehauptung eine lebensnotwendige Verfälschung der wirklichen, disharmonischen Welt darstellt. Die höchste Aufgabe der Kunst muss es daher sein, der elementaren Zeit, der ultimativen Geschwindigkeit des Lichtwellen-Meeres ein menschliches Maß entgegenzuhalten, diesen Rhythmus zu festigen und mithilfe der ästhetischen Vereinfachung und Illusion der Welt einen anthropologischen rhythmischen Stempel aufzudrücken. Nicht in der Erkenntnis der ‚wahren‘ oder ‚objektiven‘ Welt mit der Konsequenz der Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschlichen aufzugehen, sondern vielmehr das Menschliche gegen die Erkenntnis dieser Wahrheit zu behaupten und den Anschein von Harmonie und Schönheit zu wahren ist die Aufgabe der Kunst. Nietzsches Plädoyer für das Apollinische, das ihm bereits in der Tragödienschrift als Voraussetzung aller Kunst – auch der dionysischen – gilt (vgl. Kap. 1.), tritt hier deutlich zu Tage. Es besteht im Bewahren eines anthropologischen Rhythmus angesichts einer durch die Wissenschaft entfesselten Geschwindigkeit der dionysischen, d.h. inkommensurablen Zeit, die anders als das antike ‚inkommensurable‘ Dionysische, die Natur des Silen, nicht einmal kurzlebige Formen kennt.36 Das Festhalten des eigenen _____________ 35 Dühring, Werth des Lebens, 49, sieht den Anpassungsprozess zwischen organischen Rhythmen und elementaren Reizabläufen genau umgekehrt: dem wissenschaftlichen Blick gemäß sollen die ‚subjektiven‘ organischen Rhythmen den andringenden ‚objektiven‘ Reizen angepasst werden: „Da die menschliche Subjectivität das Maass aller Dinge ist, so wird es sich bei der Harmonie zunächst um die innere Gesetzmässigkeit des subjectiven Seins handeln. Es wird darauf ankommen, ob der Rhythmus des organischen Lebens der Form der andringenden Reize angepasst werden kann.“ 36 In dieser anorganischen Natur, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen resultiert, gibt es überhaupt keine Formen, anders als in der dionysischen Natur der Geburt der Tragödie, die aufgrund der Vielzahl ihrer Formen keiner Einzelform über den Augenblick hinaus Dauer verleihen kann: „Die Natur kennt keine Gestalt, keine Größe, sondern nur für ein Erkennendes treten die Dinge so groß und so klein auf. Das Unendliche in der Natur: sie
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Rhythmus, das Nietzsche als Schönheit bezeichnet, bedeutet demnach eine in der Moderne noch existenziellere Notwendigkeit, das Tempo der Zeit zu verlangsamen. In einem eindringlichen Bild aus der Nibelungen-Sage hält Nietzsche diese rein ästhetische Dehnung des kulturellen Überlebens in der Zeit bereits vor Erscheinen der Tragödienschrift in seinem Notizbuch fest. Der Sänger Gunnar wird vom König in eine Schlangengrube geworfen und verzögert seinen Tod dadurch, dass er den giftigen Tieren auf seiner Harfe etwas vorspielt und sie dadurch so verzaubert, dass sie innehalten und ihn so lange nicht beißen, bis er schließlich mit seinem Spiel aufhört. Nietzsche interpretiert das lebensverlängernde Harfenspiel in einem allgemeineren ästhetischen Sinne: Einfluß der Kunst, die uns eine Zeit im Leben festhält – Atli [d. i. Gunnar, FFG37], dem die Schlangen zuhören. Wenn ihm das Saitenspiel entsinkt, so tödten ihn die Schlangen. (N 1870/71: 7[20] VII 141)
Die Kunst zögert den Tod hinaus.38 Sie bietet eine andere Zeitgestalt als die der wissenschaftlich erkennbar gewordenen elementaren Bewegung, die immer direkt und ohne Zögern ihre Wirkungen aufeinander folgen lässt, und sie baut damit das schöpferische Potenzial jedes natürlich-organischen Lebens in einem genuin menschlichen Maße aus. Was die organische Natur nur unvollkommen umsetzt, die rudimentäre ästhetische Rhythmik der Analogisierung des Disparaten in der Zeit,39 wird dem modernen Künstler wie auch dem Philosophen notgedrungen zum bewussten Instrument.40 Dieser bildet, wie sich Nietzsche notiert, einen „Hemmschuh im Rade der Zeit“: Es sind die Zeiten großer Gefahr, in denen die Philosophen erscheinen – dann wenn das Rad immer schneller rollt – sie und die Kunst treten an Stelle des verschwindenden Mythus. (N 1872/73: 19[17] VII 421) _____________
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hat keine Grenze, nirgends. Nur für uns giebt es Endliches“ (N 1872/73: 19[33] VII 462). Hier unterläuft Nietzsche ein Irrtum, wenn er Atli an Stelle Gunnars setzt. Zuvor hatte er die Sage aber richtig exzerpiert: „Gunnar wurde von Atli gebunden und unter die Schlangen geworfen. Doch selbst die Schlangen bezaubert er, indem er mit den Zähnen auf der Harfe spielt, bis endlich eine der Vipern an ihm emporkriecht und ihn tödtet“ (N 1870/71: 5[65] VII 108). Auch der Gesang, so Nietzsche in einer anderen Notiz, verlangsamt durch seine künstlerischen Mittel die Zeit, die das Gesagte in einem normalen Sprechtempo angedauert hätte: „Der gesungene Affekt ist unendlich verzögert gegenüber dem gesprochenen“ (N 1872/73: 25[1] VII 567). Vgl. Kap. 2.1.2. „Der Philosoph ist ein Sich-offenbaren der Werkstätte der Natur – Philosoph und Künstler reden von den Handwerksgeheimnissen der Natur. Über dem Getümmel der Zeitgeschichte lebt die Sphäre des Philosophen und des Künstlers, abseits der Noth“ (N 1872/73: VII 421).
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2.2.3. Richard Wagners Kraftrhythmik Zeitgleich mit seinen Notizen und Kommentaren zu Dührings Werth des Lebens konzipiert Nietzsche seine vierte Unzeitgemässe Betrachtung, die er ein Jahr später im Sommer 1876 als Geschenk für Wagner zu den Bayreuther Festspielen mitbringt. Nietzsche führt in dieser Schrift Wagners Leben als Künstlerleben in der Moderne exemplarisch vor. Die zentrale Aufgabe für den apollinischen Künstler in der Geburt der Tragödie hieß: Erkenne dich selbst.41 In der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung beschreibt Nietzsche die Rettung der Griechen vor dem Chaos durch diese apollinischen Forderung nach Selbsterkenntnis42 und überträgt dann diese Forderung auf die moderne Kultur als mögliche Rettung vor einem Übermaß an Historie: jeder einzelne „muss das Chaos in sich organisieren“ (HL 1874: 333). In Richard Wagner in Bayreuth schließlich nimmt er die individuelle Entwicklung Wagners als Vorbild für eine notwendige Entwicklung des modernen Künstlers: Der erste Blick des (Lebens-) Künstlers muss dem Triebchaos in sich selbst gelten, das er als Wahrheit unausweichlich zur Kenntnis zu nehmen hat; der zweite gilt der scheinhaften und daher notwendig tragischen Organisation und Bändigung dieses Chaos.43 Da die Kunst, wie Nietzsche festhält, immer nur die Mitteilung eigener Erlebnisse an andere sein kann, so kann dem Künstler diese tragische Auseinandersetzung mit der eigenen Natur nicht erspart bleiben – so „[i]st die Kunst überhaupt eben nur das Vermögen, Das an Andere mitzutheilen, was man erlebt hat [...]“ (WB 1876: 484). Was also hat Richard Wagner erlebt, das Nietzsche zur Darstellung seiner tragischen Ästhetik nutzen kann? Seine innere Natur, wie Nietzsche sie schildert, offenbart in seiner Jugend die Tendenz zur Verflechtung der verschiedensten Triebe, von denen jeder einzelne zugleich wirken und Macht gewinnen will: Jeder seiner Triebe strebte in’s Ungemessene, alle daseinsfreudigen Begabungen wollten sich einzeln losreissen und für sich befriedigen, je grösser ihre Fülle, um so grösser war der Tumult, um so feindseliger ihre Kreuzung. (WB 1876: 439) _____________ 41 „Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss“ (GT 1872: 40). 42 „Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen [...]“ (HL 1874: 333). 43 Vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, 66: „Die Produktivität der Imagination gilt nicht mehr [...] als zentrale Fehler- und Täuschungsquelle des Menschen, sondern als Vermögen, das individuelle [...] Weltansichten synthetisieren kann. Für den modernen Künstler ist es daher wesentlich, von sich selbst aus zu sprechen, nicht im Namen von etwas anderem, Höherem; der indexikalische Verweis auf die eigene Individualität läuft bei allen seinen künstlerischen Hervorbringungen mit.“
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Der Blick in Wagners Natur gleicht der kurzzeitigen Vereinigung des Zuschauers mit dem Urwesen der Natur aus Nietzsches Tragödienschrift: Alle Triebe drängen zugleich ins Dasein, eine Vielzahl an Schöpfungen zeugt von der unendlichen Fruchtbarkeit der Natur und von ihrer gleichgültigen Grausamkeit gegenüber den einzelnen Erscheinungen, die sofort wieder vernichtet werden, um Platz für neue sich ins Leben drängende und stoßende Daseinsformen zu machen.44 Wagners innerer Tumult spiegelt diese gesetzlose, aber notwendig ablaufende Grausamkeit der Natur, in der die einzelne Begabung vor lauter Fülle der Triebe kaum eine Chance hat, Früchte zu tragen, bevor sie von anderen nach Macht strebenden Begabungen überwältigt und vernichtet wird: je mehr es von ihnen gibt, desto kürzer der Funke ihrer Lebensdauer. Die ungeheure Geschwindigkeit der Ablösung verschiedener Stimmungen, die Unfähigkeit, Momente andauern zu lassen und eine Art Atemlosigkeit zeugen von Wagners derartiger Verfassung in der ersten Phase seines Lebens: Er selbst scheint noch gar nicht angekündigt [...]: ein Geist der Unruhe, der Reizbarkeit, eine nervöse Hast im Erfassen von hundert Dingen, [...] ein unvermitteltes Umschlagen aus Augenblicken seelenvollster Gemüthsstille in das Gewaltsame und Lärmende. (WB 1876: 435f.)
In dieser Nähe zu dem im Augenblick verhafteten Wesen der Natur ist die künstlerische Individualität gleichsam ausgelöscht bzw. „noch gar nicht angekündigt“. Der Zwang, jedem Trieb und Reiz, jeder Stimmung seiner inneren bzw. auch der äußeren Natur nachzugeben, erinnert an Nietzsches Beispiel des Kindes in seinen Notizen zu Dühring. Übernimmt das einzelne Leben den Takt der Reize seiner Umgebung, ohne ihr seinen Rhythmus entgegenzuhalten – das „dionysische Phänomen“ (N 1875: 9[1] VIII 146) – dann löst es sich in deren Impulsen gleichsam auf und wird Teil von ihnen. Das ungehemmte Nachgeben gegenüber aufsteigenden Stimmungen und äußeren Reizen lässt auch Wagner keine innere Distanz zu sich selbst gewinnen, die eine bewusste Selbsterkenntnis ermöglichen würde: „Er selbst scheint noch gar nicht angekündigt“, wie Nietzsche unterstreicht. Diese Lebensperiode des Tumultes und des Chaos, in der sich die Vielzahl von Wagners Begabungen in ihrem Kampf um Vormachtstellung gegenseitig am Leben hindern, bezeichnet Nietzsche als „vor-dramatisch“ und daher unkünstlerisch.45 _____________ 44 „Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens“ (GT 1872: 109); vgl. Kap. 1.2.2. 45 „Nun gab es aber einen vordramatischen Theil im Leben Wagner’s [...]“ (WB 1876: 435).
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Nicht nur Wagner selbst, sondern auch seine Zeit und ihre künstlerischen Manifestationen sieht Nietzsche von Atemlosigkeit und Mangel an Festigkeit und Dauer geprägt: Man muss eben denken, was für eine Zeit sich hier eine Kunst schafft: ganz ungebunden athemlos unfromm habsüchtig formlos unsicher in den Fundamenten [...]. (N 1874: 32[54] VII 773)
Das Kunstbedürfnis der Gegenwart, so heißt es in Richard Wagner in Bayreuth, äußert sich in der Sehnsucht danach, von einer Vielzahl an Trieben zerrissen zu werden. Wie in der Geburt der Tragödie im Bild der Zerstückelung des Dionysos (Zagreus) durch die Titanen macht Nietzsche auch bei seinen Zeitgenossen die ungebändigten Triebe, die maßlosen titanischen Leidenschaften für den ständig wiederholten zerstörerischen Gewaltakt der Selbstzerreißung verantwortlich: so „ruft man alle bösen Dämonen auf, um sich durch diese Jäger wie ein Wild treiben zu lassen“ (WB 1876: 460) und von ihnen schließlich lustvoll zerrissen zu werden: [D]er Künstler [...] von ganz modernem Schlage [...] führt die ganze kläffende Meute zusammengekoppelter Leidenschaften und Scheusslichkeiten am Strick mit sich, um sie nach Verlangen auf die modernen Menschen loszulassen: diese wollen ja lieber gejagt, verwundet und zerrissen werden, als mit sich selber in der Stille beisammenwohnen zu müssen. (WB 1876: 461)46
Der moderne Mensch lässt sich in seinem ästhetischen Erleben von vielfältigen und extremen Leidenschaften jagen und zerreißen und erinnert in dieser Eigenschaft an die barbarischen Dionysos-Kulte, von denen sich Nietzsche in der Geburt der Tragödie angeekelt abwendet: Jene „abscheuliche[ ] Mischung von Wollust und Grausamkeit“ (GT 1872: 32), wie er sie dort charakterisiert,47 ähnelt der modernen Verfassung in der Hemmungslosigkeit ihrer Triebe. Im Wesentlichen zeichnet sich diese moderne Barbarei – ebenso wie die Untiefen der grausamgleichgültigen Natur in der Tragödienschrift – durch eine ungeheure Geschwindigkeit des Wechsels und der Vernichtung der Leidenschaften aus, „man lechzt nach Leiden, Zorn, Hass, Erhitzung, plötzlichem Schrecken, athemloser Spannung [...]“ (WB 1876: 460). Der kurze Atem als Bild für die kurze Dauer jedes erlebten Augenblickes wird zum kennzeichnenden Merkmal des modernen Menschen. Das zuckende Auftreten der einen oder anderen Empfindung und ihre _____________ 46 In Dantes Divina commedia werden diejenigen, die im Leben ihren nackten Leidenschaften ohne Kontrolle erlegen sind, im dritten Höllenkreis von Hündinnen gejagt und in Stücke gerissen. Vgl. Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, in Prosa übersetzt von Walter Naumann, Darmstadt 2004, 13. Gesang, V. 124–128, 72: „Hinter ihnen war der Wald voll von schwarzen Hündinnen,/ gierig und flink wie eine Meute,/ die von der Kette losgelassen wäre./ In den, der sich niederduckte, gruben sie die Zähne/ und zerfleischten ihn Fetzen um Fetzen,/ dann schleppten sie die schmerzenden Glieder hinweg.“ 47 Vgl. Kap. 1.2.2.
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sofortige Verdrängung durch die nächste gleicht einem unentwegt geschüttelten Kaleidoskop: Man sehe nur etwas schärfer hin und zerlege sich den Eindruck dieses heftig bewegten Farbenspiels: ist das Ganze nicht wie das Schimmern und Aufblitzen zahlloser Steinchen und Stückchen [...]? (WB 1876: 456)
Gleich dem „unendlich-unbegrenzte[n] Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens“, in das Nietzsche seine Zeitgenossen infolge ihrer Unfähigkeit, zu vergessen und dadurch Ruhepunkte zu schaffen, geworfen sieht (HL 1874: 330),48 zeigt auch das Bild eines schimmernden und blitzenden Farbenspiels der Leidenschaften eine haltlose Bewegtheit. Die Erkenntnis einer grundsätzlichen Bewegtheit der Materie – „nirgends ein Seiendes, Ewiges“ (HL 1874: 330) – ahmt der moderne Mensch in der Enthemmung seiner Gefühle nach, und seine Kunst nähert sich der Geschwindigkeit und der vom Augenblick bestimmten Gesetzlosigkeit der Elementarkraft der Materie, die beständig auf alle Reize ohne Hemmungen reagiert. Er wird in der passiven Opferrolle eines von der kläffenden Meute der Leidenschaften Gejagten vorgeführt, denn die Geschwindigkeit der elementaren Bewegung schließt den Menschen als Handelnden aus, sie lässt ihn ohnmächtig werden, wie Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth fortfährt: Und dazwischen, nur durch die Schnelligkeit der Bewegung und des Wirbels verhüllt und verhehlt – graue Ohnmacht [...]. (WB 1876: 457)
Das Mithalten-wollen mit der Geschwindigkeit der ungehemmten elementaren Leidenschaften und Triebe führt zur Handlungsunfähigkeit, weil keine Anhaltspunkte für eine mögliche Formung durch das Individuum gegeben sind. Als eine solche Haltlosigkeit erscheint das unverhüllt Dionysische in der Geburt der Tragödie in Gestalt eines Wirbels und treibt Euripides – der in Nietzsches Darstellung der erste moderne Künstler ist – in die tiefste Ohnmachtshandlung: in den Selbstmord.49 Die Schwindel erregende Schnelligkeit der Bewegungen unterhalb dessen, was Nietzsche als die zum Überleben notwendige ästhetische oder auch apollinische Scheinwelt versteht, ist zur selbstzerstörerischen Lebensrealität des modernen Menschen geworden. In beschränkteren und durch Tradition gebundeneren Zeiten, so schreibt Nietzsche, galt die Losung, nicht an die gegenwärti_____________ 48 Vgl. Kap. 2.1.3. 49 Euripides erscheint ihm als der „Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat – um am Ende desselben mit einer Glorifikation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufbahn zu schließen, einem Schwindelndem gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehen, sich vom Thurme herunterstürzt“ (GT 1872: 82). Vgl. auch den Selbstmord des Empedokles, den Nietzsche als Mangel an Kunst und Übermaß des Wissenstriebs deutet: „Sein Sprung in den Aetna aus – Wissenstrieb! Er sehnte sich nach Kunst und fand nur das Wissen“ (N 1870/71: 5[94] VII 118).
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gen Dinge und das Heute die Hoffnungen zu heften und den Augenblick nicht zu ernst zu nehmen, sondern vielmehr für die Ewigkeit zu planen: Ehemals warnte man vor Nichts mehr, als den Tag, den Augenblick zu ernst zu nehmen und empfahl das nil admirari und die Sorge für die ewigen Anliegenheiten [...]. (WB 1876: 462)
In der Gegenwart jedoch gilt als anderes Extrem der Planungshorizont der Tageszeitungen. Das solchermaßen beschleunigte moderne Leben färbt sich in Nietzsches Darstellung auf Wagner ab und er lebt und schafft ebenso atemlos wie die Zeit, die ihn prägt. Auf der grösseren Hälfte seines bisherigen Lebens liegt eine schwere Luft; es scheint, als hoffte er nicht mehr in’s Allgemeine, sondern nur noch von heute zu morgen [...]. Hundertmal warf er sich von Neuem wieder mit jener kurzathmigen Hoffnung in’s Leben [...]. Aber in der Art, wie er es that, lag fast immer eine Maasslosigkeit [...]. (WB 1876: 440f.)
Die Kurzatmigkeit, der Wirbel, das Farbblitzen in der Vielfalt der Farben – dies sind die Eigenschaften der modernen Kunst, denen auch Wagner entspricht. Sie erweckt keinen Handlungswillen, sondern macht ohnmächtig – „Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern oder betäuben!“, so verurteilt Nietzsche ihre Wirkung (WB 1876: 463). Der Weg zu einer Kunst, wie sie ihm in Gestalt von Wagners letztlichem Werdegang vor Augen steht, kann daher nur in einer Ablösung von der modernen Konstitution und Kurzatmigkeit gelingen: Wer die Kunst befreien [...] wollte, der müsste sich selber erst von der modernen Seele befreit haben [...]. (WB 1876: 463)
Die Befreiung der modernen Seele bedeutet für Nietzsche in erster Linie eine Befreiung von zu großer Freiheit, d.h. von einer ungebundenen und, wie es in den Bildungsvorträgen50 und der Historienschrift heißt, chaotisch vielfältigen „ersten“ Natur. Anstelle der mannigfaltigen nachhallenden Obertöne vergangener Traditionen, anstelle der stilistischen Rudimente von Ur- und Ururgroßeltern, anstelle einer sich im flimmernden Faktenmeer verlierenden Wissenschaft, anstelle der jeweils momentgebundenen aufflackernden und kurzatmigen Leidenschaften gilt es, sich wie die Griechen eine „zweite“ Natur, d.h. eine Einheit verleihende Form zu erarbeiten. [S]ich selbst erziehen, und zwar sich selbst gegen sich selbst, zu einer neuen Gewohnheit und Natur, heraus aus einer alten und ersten Natur und Gewohnheit: so dass sie mit sich altspanisch reden könnte Defienda me Dio de my[,] Gott behüte mich vor mir, nämlich vor der mir bereits anerzognen Natur. (HL 1874: 328)
Jahre später wird Nietzsche an Erwin Rohde schreiben, dass es bei diesem Prozess nicht um die Auslöschung der ersten Natur geht, sondern vielmehr um ihre _____________ 50 Vgl. Kap. 2.1.1.
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Bewältigung in einem menschlich erträglichen Sinne51 – eine Definition, die sich auch auf Nietzsches Begriff der Schönheit übertragen lässt. Schönheit, so schreibt er in seinen Dühring-Notizen, wird erst möglich, wenn es gelingt, nicht mehr allein von vielfältigen inneren und äußeren Reizen getrieben zu werden, sondern vielmehr diesen Reizen gegenüber ein Maß zu wahren und ihnen einen eigenen Rhythmus aufzuprägen.52 Wagners Schritt aus der „vor-dramatischen“ Phase seines Lebens heraus, seine Befreiung vom vielfältigen Tumult der modernen Seele53 beginnt auch in Richard Wagner in Bayreuth erst dann anzudämmern, wenn sich in der Vielfalt seiner Begabungen eine herrschende Leidenschaft durchsetzt, indem sie alle anderen vereinnahmt: Das Dramatische im Werden Wagner’s ist gar nicht zu verkennen, von dem Augenblicke an, wo die in ihm herrschende Leidenschaft ihrer selber bewusst wird und seine ganze Natur zusammenfasst [...]. (WB 1876: 435)
Eine dramatische, d.h. künstlerische Gestaltung von Wagners Entwicklung zeigt sich erst ab dem Moment, in dem ein Trieb sich aus der Vielfalt der Triebe herausdifferenziert und die Macht ergreift. An diesem Vorgang ist das Bewusstsein maßgeblich beteiligt: eine Leidenschaft wird „ihrer selbst bewusst“ und bildet fortan einen Teil dauerhafter Identität seiner Natur, indem sie deren Fülle komprimiert bzw. sich unterordnet. Das Durcheinander lichtet sich, weil sich alles auf den herrschenden Trieb bezieht und alle konkurrierenden Machtbestrebungen von ihm absorbiert werden. [D]amit ist dann das Tastende, Schweifende, das Wuchern der Nebenschösslinge abgethan, und in den verschlungensten Wegen und Wandelungen, in dem oft abenteuerlichen Bogenwurfe seiner Pläne waltet eine einzige innere Gesetzlichkeit [...]. (WB 1876: 435)
Mit dem Walten eines ausgewählten Triebes in Wagners innerer Natur erhält eine zwar abenteuerliche, aber immerhin doch vorhandene Planbarkeit Einzug, und der Gestaltung wird Raum gegeben, wo vorher dem Bewusstsein keinerlei Ein_____________ 51 Vgl. den Brief an Erwin Rohde, Anfang Dezember 1882, KGB III.1 [Nr. 345] 291: „Gut, ich habe eine ‚zweite Natur‘, aber nicht um die erste zu vernichten, sondern um sie zu ertragen. An meiner ‚ersten Natur‘ wäre ich längst zugrunde gegangen – war ich beinahe zu Grunde gegangen.“ 52 Vgl. das vorige Kapitel 2.2.2. 53 Richard Klein, Nietzsche – Philosoph der Musik, in: Merkur 58 (2004), 1020–1026, hier 1020, deutet die hier geschilderte Abkehr Wagners von der modernen Seele ebenfalls als Abkehr vom auf das Detail fixierten Historismus, wie sie Nietzsche in seiner Historienschrift anprangert. „Wagners Musikdrama verkörpert den radikalen Aufstand der Kunst gegen den Historismus. Es stellt einen Typus von Werk dar, der das ganze Arsenal der Relikte, Spuren und Erinnerungsbilder, in denen ich mich nur verlieren kann, zur Präsenz umschaffen und mittels Form, Verdichtung und Reduktion dem gegenwärtigen Lebenszusammenhang einfügen kann.“
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flussmöglichkeit auf den Verlauf der Leidenschaften und Triebe gegeben war. Seine Natur, die zuvor kein Gesetz, sondern nur die Notwendigkeit ihrer vielfältigen Machtgier darbot, wird nunmehr durch die bewusste Dominanz einer individualisierten Leidenschaft gestaltet und lässt infolgedessen ein gewisses Maß an Struktur erkennen. Nach allem, was bislang zu Nietzsches Auffassung ästhetischer Rhythmik herausgearbeitet wurde, ist es kaum erstaunlich, dass er diese Strukturierung des Mannigfaltigen und Kurzlebigen als eine rhythmische Bändigung charakterisiert, in der sich Wagners Kunstmacht schließlich zeigt: Ungestüme, widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen bändigen, durch eine verwirrende Mannichfaltigkeit von Ansprüchen und Begehrungen, Einen Willen durchführen – Das sind die Aufgaben, zu welchen er sich geboren, in welchen er seine Freiheit fühlt. (WB 1876: 494)
Die Verwirrung des Vielfältigen durch die Dominanz eines herrschenden rhythmischen Impulses zu beseitigen sieht Nietzsche als Wagners große Befreiungstat an. Er wird nicht mehr von den ungestümen Massen umher geworfen, mit denen er sich konfrontiert sieht, sondern er prägt ihnen seine Rhythmen auf. Nietzsche kennzeichnet in seinen Vorlesungsnotizen von 1870/71 diese Art der Rhythmik als Kraftrhythmik, die mit der Ballung und dem Abklingen von Energien operiert: Eine ganz verschiedene Rhythmik [als die griechische, FFG] ist die der Kraftverhältnisse. Auch hier ist die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur zu bändigen durch gewisse Grundformen (regelmäß. Wechsel von „stark“ und „schwach“)[.] (N 1870/71: RH 309)
Während die griechisch-apollinische Längen- und Kürzenrhythmik die Vielfalt durch festgelegte Zeiteinheiten bändigt, deren Dauer mathematisch und proportional einem idealen Gesetz angepasst wird, so nährt die moderne Kraftrhythmik ihr Ideal gewissermaßen aus dem Potenzial der gesprochenen Sprache selbst, indem sie diese durch eine Auswahl bereits bestehender Akzente dominiert, andere bestehende Akzente dafür aber zurücktreten lässt.54 Das Unbetonte wird dann unter der Herrschaft des Betonten zurückgedrängt, ähnlich wie in Richard Wagners innerer Natur eine Leidenschaft die anderen zu beherrschen beginnt und die wuchernden „Nebenschösslinge“, wie es oben hieß, zurücktreten lässt. In Der Werth des Lebens schildert Eugen Dühring die Auswahl eines Reizes aus der Vielfalt der Triebe des unbestimmten Lebensdranges als den Eintritt in das Leben und als Ursprung des Individuums. Nietzsche paraphrasiert diese Passage in seinem Notizbuch: _____________ 54 „[D]ie neue Accentsilbe saugt alles Leben in sich, während um sie herum alles verkümmert“ (N 1870/71: RH 308) – Vgl. oben die Behandlung von Nietzsches Vorlesungsnotizen zur Akzentrhythmik im Kap. 2.1.2.
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Der Eintritt in’s Leben ist auch ein Übergang: der völlig neue Reiz hebt sich auf das Stärkste gegen die verhältnißmäßige Leerheit und Unbestimmtheit des Lebensdranges ab. Jedes Individuum ist ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten läßt. (N 1875: 9[1] VIII 144f.)55
Gegen die Unbestimmtheit der Lebenseinheit auf einer primitiven Stufe steht bei Dühring das Hervortreten und Bewusstwerden eines neuen Reizes, wodurch sich in seiner Darstellung eine differenziertere Stufe des Lebens offenbart. Im Spiel zwischen dem noch unbestimmten vielfältigen Potenzial eines allgemeinen Dranges und der Individualisierung einzelner Reize besteht für Dühring die „lockende Arbeit“ der von ihm unangezweifelten „Einheit des Lebens“ (Dühring 1865: 39). Nietzsche kommentiert dazu: Nun, das ist doch auch Mythologie [...]! (N 1875: 9[1] VIII 145)
Inwiefern ist für Nietzsche die Absonderung eines Reizes aus der Vielfalt der unbestimmten Triebe und die daraus resultierende Individualisierung des Lebens eine Mythologie? Nietzsche begreift das Individuum und seinen neuen Standpunkt nicht als Teil einer „lockenden Arbeit des Lebens“, sondern versteht es vielmehr als Resultat einer verkürzten Perspektive auf die Wirklichkeit. Im akzentuierenden Formen des Vielfältigen liegt seiner Ansicht nach eine ungeheure Vereinfachung der Perspektive, eine Art Beschränkung des Blickes auf einen dominanten Reiz und seinen Erhalt, die einer Mythologisierung der tatsächlich undifferenzierten Wirklichkeit durch den Menschen und sein Augenmaß gleichkommt. Am Beispiel Wagners und seines Ausgangs aus der Phase der Unbestimmtheit durch die Beschränkung auf einen nunmehr dominierenden Reiz oder Rhythmus versucht Nietzsche, die mythologische Komponente des individualisierenden Blickes zu veranschaulichen: [D]eshalb ist er ein Vereinfacher der Welt; denn immer besteht die Vereinfachung der Welt darin, dass der Blick des Erkennenden auf’s Neue wieder über die ungeheure Fülle und Wüstheit eines scheinbaren Chaos Herr geworden ist [...]. (WB 1876: 454)
_____________ 55 Vgl. die Textstelle bei Dühring, Werth des Lebens, 39: „Der Eintritt in das Leben ist auch ein Uebergang, und der Unterschied, mit welchem sich der noch nie gekannte völlig neue Reiz von der Grundlage des ganz allgemeinen, unbestimmten und unentfalteten Lebensdranges abhebt, ist wohl der grösste, welcher gedacht werden kann. Ohne diesen Unterschied, ohne diese Spannung zwischen der verhältnissmässigen Leerheit des anfänglichen Zustandes und der [...] sich darbietenden objectiven Welt, würde das Leben als Ganzes keine Theilnahme zu erwecken vermögen [...]. Jedes Individuum ist gleichsam ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewusstsein treten lässt. Aber die Welt ist alt und die Form des Bewusstseins, welche sich in der Erfassung der objectiven Reize ergeht, ist ebenfalls alt. Neu ist nur die Differenz, nur die Spannung, mit welcher die Einheit des Lebens ihre lockende Arbeit beginnt.“
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Die Formulierung von der „Wüstheit“ des undifferenzierten Lebens bezieht sich auf die Ordnung der Welt durch Gottes Schöpfungskraft. Unmittelbar bevor Gott Licht werden lässt, heißt es von der Erde: „es war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe“ (1. Mose 1, 2-3). Nietzsche allerdings fasst das Tohuwabohu vor dem biblischen Schöpfungsakt nicht als Leere, sondern als chaotische Fülle, in die der ordnende Lichtstrahl des künstlerischen Blickes dringt. Es ist bereits etwas vorhanden, dessen Präsenz aber eine formende Kraft benötigt, um im menschlichen Sinne ertragen werden zu können. Bereits in der Geburt der Tragödie nennt Nietzsche den Mythos ein „zusammengezogenes Weltbild“ und zugleich eine Abkürzung, eine „Abbreviatur der Erscheinung“.56 Als anschauliches Bild für diese mythologische Formungsweise zieht Nietzsche ein Beispiel aus der physikalischen Forschung des 18. Jahrhunderts, die „Chladni-Figuren“ heran: Wie sich die Musik ausnimmt für einen Tauben, der nur die Chladnischen Sandfiguren sieht, so ist der Mythus für den Nichtdenker, das Volk; und für dies dichtet der Dichter, der darin selbst zum Volk, ich meine zu den Nichtdenkern, gehört. (N 1875: 11[18] VIII 203)57
Das Mitteilbare des Mythos gleicht den Sandfiguren des Experimentes von Ernst Florens Chladni insbesondere in Bezug auf das, was in seinem Versuch nicht anschaulich wird. Chladni zeigte Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Versuchen zur Akustik die Existenz von Schallwellen auf, indem er mit einem Geigenbogen an einer mit Sand bestreuten Platte entlang strich. Die Schallwellen der erzeugten Töne ließen die Platte vibrieren und der Sand sammelte sich an den Ruhepunkten der Bewegung zu Mustern auf der Platte an: den „Chladnischen Sandfiguren“. Die Bewegung der Schallwellen wurde so gleichsam in ein räumliches Bild gefasst.58 Bereits 1872/73 gebraucht Nietzsche in seinen Notizen dieses Bild zur Veranschaulichung des künstlerischen Schaffensprozesses: Das Kunstwerk gilt ihm nicht als ein aus dem Nichts Erfundenes, sondern es bedeutet die Umformung einer ihm zugrunde liegenden schwingenden und zitternden Bewegung zu Figuren: Sieht man jene [künstlerische, FFG] Kraft an, so ist hier auch kein künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die _____________ 56 „Daran nämlich wird er [der ästhetische Zuhörer, FFG] messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann“ (GT 1872: 145). 57 Zu Nietzsches Verwendung der Chladni-Figuren s. Schlechta/Anders, Verborgene Anfänge, 107f. 58 Die Wirkung von Chladnis Experimenten, durch die um 1800 der Mensch „als ‘Resonanzkörper’ von ‚Schwingungen‘ gedacht“ wurde, beschreibt Bettine Menke, TöneHören, in: Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. von Joseph Vogl. München 1999, 69–96, hier 82.
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feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni’schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! (N 1872/73: 19[79] VII 446)
Die Chladnische Klangfigur macht eine nicht wahrnehmbare Bewegung – hier die zarte, zitternde und schwingende Nerventätigkeit – durch die optische Ballung des Sandes an den unbewegteren Phasen ihres Verlaufs sichtbar. In der vorigen Notiz oben verglich Nietzsche dieses Experiment mit der plötzlich möglichen Wahrnehmung von Musik für einen Tauben. Eine für den Gehörlosen zuvor unerreichbare Sphäre wird anschaulich gemacht, er kann sie fassen und beurteilen: Anstelle der für ihn nicht wahrnehmbaren Tonschwingungen bieten sich seinem Auge Bilder dar. Dass eigentlich jeder Mensch so gesehen taub ist, weil viele existente Schwingungen die Kapazitäten unserer Sinne übersteigen und daher erst ‚ästhetisch‘ geformt werden müssen, um sie wahrzunehmen, zeigte das Beispiel Bergsons aus der späteren Naturwissenschaft: die tatsächliche Schwingung der Lichtwellen nimmt das Auge als konstante und unbewegte Qualität, als Farbe wahr und ignoriert ihre intrinsische Bewegung.59 Das Experiment von Chladni kann insofern auch als Metapher der menschlichen Wahrnehmung gelten, die in Nietzsches Sinne eine unbewusste Mythologie darstellt, weil sie eine Vielzahl von Bewegungen, Reizen und Potenzialen vereinfachend zusammenfasst und daher ein „zusammengezogenes Weltbild“ wiedergibt. Zugleich erkennt Nietzsche in dieser Fähigkeit die ästhetische Kraft des Menschen, seine Möglichkeit, bewusst „auf das Veränderliche der Welt loszugehen“, ihr seinen eigenen Standpunkt und Rhythmus aufzuprägen. Das dionysische Wesen der Welt, der zugrunde liegende Lebensdrang ohne Differenz und ohne Halt bleibt davon unangetastet, und daher ist jede Mythologie, jeder dem Leben abgerungene individuelle Rhythmus letztlich tragisch, denn er bleibt der Zeit und dem Untergang unterworfen. Nietzsche vergleicht die mythologischen Figuren des Dichters mit den Sandfiguren Chladnis, die in einem anderen Medium die subtile Beweglichkeit der Welt durch Zusammenballungen wiedergeben. Der tragische Mythos wirkt ebenso an der Oberfläche im sichtbaren Handeln seiner Heldenfiguren, während unter dieser Oberfläche unergründliche Schicksalsbewegungen deren Leben steuern. Die Individualität dieser Helden erscheint aus dieser Perspektive als eine frevelhafte Verletzung der natürlichen Abläufe. So verdankt Wagners Siegfried – ebenso wie der antike Ödipus – sein Dasein einem Frevel an der Natur, da er durch Inzest entstanden ist, wie Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth schildert. Er ist ein ‚widernatürlicher‘ Spross und doch gerade deshalb in Nietzsches Schil_____________ 59 Vgl. Kap. 2.2.1.
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derung der freiste Mensch.60 Die Freiheit und Individualität der mythologischen Schöpfungen ist nur durch eine zeitweilige Verletzung der natürlichen Abläufe möglich. Im Tumult ihrer Potenz gibt es an sich kein Verharren einer abgesonderten Existenz. Die dauerhafte Abgrenzung eines organischen Individuums, so die dionysische Weisheit des Silen in der Geburt der Tragödie, ist ein solcher Frevel an der Augenblicksgebundenheit der elementaren Natur, so dass es in deren Augen besser wäre, wenn der Einzelmensch gar nicht geboren würde. Letztlich spiegelt auch der tragische Mythos diese Weisheit: Die Helden gehen schließlich allesamt tragisch zu Grunde, ihre Existenz ist nicht von Dauer, sondern bedeutet nur eine perspektivische Hinauszögerung, die mit dem sicheren Untergang erkauft ist: [W]ir [sehen] wie in ungeheuren Luft-Spiegelungen uns und unsres Gleichen im Ringen, Siegen und Untergehen als etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles, wir haben Lust am Rhythmus der Leidenschaft und am Opfer derselben, wir hören bei jedem gewaltigen Schritte des Helden den dumpfen Widerhall des Todes und verstehen in dessen Nähe den höchsten Reiz des Lebens [...]. (WB 1876: 469)
Die Heldengestalten als Luftspiegelungen bieten ein verzerrtes Bild der natürlichen Abläufe: ihr Ringen, Siegen und Untergehen ist wie eine verzögerte Wiedergabe eines Augenblickes in der Schöpfungsvielfalt der Natur, in deren Realzeit keiner ihrer möglichen Schöpfungen eine eigenständige Existenz zugebilligt wird – Nietzsche verdeutlicht dieses Prinzip in Homer’s Wettkampf am Beispiel des antiken Agon. Die vereinfachte Darstellung einer einzigen Leidenschaft in Gestalt des Helden, wo tatsächlich eine Unzahl von Trieben sich feindselig kreuzt, lässt einen Rhythmus entstehen, einen „Rhythmus der Leidenschaft“, der sich durch jeden widerhallenden Schritt auf der Bühne in Auge und Ohr der Zuhörer festsetzt. Allerdings ist diesem Rhythmus keine Ewigkeit beschieden, er wird mit der Figur des Helden geopfert, die wie Chladnis Figuren aus Sand gebaut ist: bei jeder Akzentuierung des Erhabenen hallt sein Tod gleich mit. In seinen Notizen wiederholt Nietzsche die unbedingte Bindung des starken Individuums an das Wissen um seinen Untergang: „Bei jedem starken Schritt des Lebens auf dem Bretterhaus resonirt dumpf der Tod.“ (N 1875: 11[18] VIII 204)
Der tragische Optimismus Nietzsches erreicht hier seinen Höhepunkt: der dem Dasein abgerungene Rhythmus, die besondere mythologische Perspektive, die der Künstler in seinen Werken übt, und nicht zuletzt das individuelle Leben des Menschen sind nicht von Dauer. Doch ist „[d]er Tod [...] nicht der Feind des Lebens überhaupt“, wie Nietzsche schreibt, „sondern das Mittel, durch welches _____________ 60 „[D]er freie furchtlose Mensch erscheint, er ist im Widerspruche gegen alles Herkommen entstanden; seine Erzeuger büssen es, dass ein Bund wider die Ordnung der Natur und Sitte sie verknüpfte: sie gehen zu Grunde, aber Siegfried lebt“ (WB 1876: 508).
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die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird“ (N 1875: 9[1] VIII 166). Zwar stellt der moderne Rhythmus keine abstrakte ewige Zeitform vor, sondern ist der elementaren Zeit abgerungen, indem er einzelne Aspekte ihres Verlaufes hervorhebt und betont und andere verdunkelt – so ist er letztlich diesem Verlauf unterworfen und kann ihn nur verzögern, nicht aber anhalten. Doch für Nietzsche besteht genau in dieser Verzögerung die Kunst des Lebens.
Schluss Cultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos. (N 1883: 9[48] X 362)
In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne bewundert Nietzsche die Sprache als menschliche Schöpfung, die sowohl dem Streben nach Veränderung als auch dem nach Festigkeit gerecht zu werden vermag: Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt [...]. (N 1873: WL 882)
Der wackligen Konstruktion drohen jedoch von zwei Seiten Gefahren. Auf der einen Seite lauert die oft als eine grundsätzliche Sprachkritik Nietzsches verstandene Gefahr, dass die Flüssigkeit ihrer Fundamente in Vergessenheit gerät und die Begriffe in Anknüpfung an metaphysische Kategorien auf ewig festgeschrieben werden sollen – eine Tendenz, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie als lebensfeindlichen Apollinismus des Medusenhauptes charakterisiert. Ein apollinischer Rhythmus, der die Wellenbewegungen, auf denen er beruht, „zu ägyptischer Steifigkeit“ erstarren lässt (GT 1872: 70), wird der Einsicht Nietzsches in die flüssigen Fundamente kultureller Erscheinungen wie der Sprache nicht gerecht. Auf der anderen Seite droht dem Begriffsdom die Gefahr zu starker Verflüssigung; eine Tendenz, die Nietzsche vor allem an seinen Zeitgenossen und der modernen Kultur kritisiert. Ihre zu starke Konzentration auf das Augenblickliche, Kleine, unterschiedslos „objektiv“ Erkannte veranschaulicht er in seiner Historienschrift als Auflösung in den Fluten: Der moderne Mensch versinkt in einem „unendlich-unbegrenzte[n] Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens [...]. Wenn er nur darin leben könnte!“ (HL 1874: 330) Ein ungezügelter Erkenntnistrieb, so Nietzsche in seinen frühen Schriften, endet in einem „weiten wüsten Wissensmeere“ (GT 1872: 116), dem „Meere des Werdens und Vergehens“ Heraklits (N 1873: PhtZ 823) und bedeutet ein Eintauchen in die Naturwahrheit, wie sie Thales als erster beschreibt: „nicht der Mensch, sondern das Wasser ist die Realität der Dinge“. Nietzsche kommentiert dazu: „er fängt an, der Natur zu glauben“ (N 1873: PhtZ 815). Diese elementare Naturwahrheit als ausschließliche ist nicht für den Menschen gemeint, wie bereits der Waldgott Silen in der Geburt der Tragödie nahe legt, der es angesichts dieser Wahrheit für besser befand, die Sterblichen würden gar nicht erst geboren.
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Der Rhythmus bewegt sich wie die Sprache in Nietzsches Bild vom Begriffsdom zwischen den Polen der architektonischen Erstarrung und der Auflösung, zwischen „Columbarium“ der Begriffe und Verflüssigung aller Bedeutungsgrenzen, zwischen Ketten und Entfesselung. Aus diesem Grund bezeichnet er bei Nietzsche grundsätzlich kein ausschließlich poetologisches, sondern ein anthropologisches Phänomen. Den Menschen sieht Nietzsche stets gebunden an die Existenz von Oberflächenspiegelungen, die ähnlich den zu Beginn dieser Arbeit geschilderten Träumen der Griechen klare Formen und Gestalten differenzieren lassen – immer jedoch auf einem Untergrund, dessen Beweglichkeit unendlich und unberechenbar, und nicht zuletzt „wahr“ ist. Die Fragilität des menschlichen Lebens-Scheins auf diesem Grunde drückt Nietzsche in der Mahnung aus, die er gleich auf sein Sprachbild vom Begriffsdom auf flüssigen Fundamenten folgen lässt: [F]reilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. (N 1873: WL 882)
Das Netz auf der Oberfläche des Wassers passt sich den Wellenbewegungen an, ohne sich im Wasser oder der Luft aufzulösen. Es behält seine Grundstruktur, die aber von den Bewegungen gedehnt und weiter getragen werden kann. Der Rhythmus ist von seiner ersten Erwähnung in der Geburt der Tragödie an bildlich mit einer Wasseroberfläche verbunden: der apollinische „Wellenschlag des Rhythmus“ (GT 1872: 33) folgt den Bewegungen des Meeres. Zugleich ist er wie das Spinnennetz auf dem Wasser kein Produkt des Meeres, Nietzsche hält ihn in der Sphäre der Vorstellung und des Geistes fest, indem er ihn als „gänzlich vorbildlos in der Natur“ bezeichnet, als „Gleichnißrede“ vom Wellenschlag, als „etwas Äußerliches, [...] was festgehalten wird“ (N 1871: 9[116] VII 317). Nietzsche wahrt die Dichotomie von Natur und Kultur, wenn er sie auch durch seine Überlegungen in der Geburt der Tragödie dadurch abmildert, dass er der Natur ein Bedürfnis nach dem schönen Schein zuschreibt, als wäre dieser doch irgendwie von der Natur gemeint und angeregt (GT 1872: 38). Dagegen steht jedoch seine weitaus nachdrücklicher betonte Ansicht, dass die Individualisierung von dauerhaften Formen und Gestalten einschließlich der menschlichen eine Freveltat gegen die Naturwahrheit des Silen bedeutet, in der es keine Festigkeit und Dauer geben kann. In seinen Kommentaren zu Dühring mahnt Nietzsche gerade diese unüberschreitbare Grenze an: es gibt vom Standpunkt des Individuums aus keine rhythmische Harmonie mit der Natur, denn deren ‚Rhythmus‘ ist einem Andauern des Lebens feindlich: „[D]ie Natur in ihrem organischen Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen“, wird er in Menschliches, Allzumenschliches schreiben, „hiesse in jedem Falle: auf Wasser säen“ (VM 1879: [146] 439). Weder durch eine Aufgabe aller menschlichen Scheinwelten wie z.B. durch das „Sich-Gehen-
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Lassen“ der scheinbar unverbildeten Schüler (vgl. Kap. 2.1.1.), noch durch die Hintertür menschlicher Erkenntnis ist diese Einheit zu erlangen – der Traum von Kleists Marionettentheater, der am Ende des Wegs der Erkenntnis doch noch den Weg zurück ins Paradies aufscheinen lässt, ist ausgeträumt. Statt dessen gilt es für Nietzsche die unüberwindlich zwischen Realzeit und anthropologischer Zeit bestehende Differenz positiv zu nutzen, heiter die eigene Beschränktheit wahrzunehmen und nicht in Schwermut zu verfallen. Wenn der Mensch nun einmal notgedrungen falsch, d.h. selektiv und rhythmisch wahrnimmt, dann soll er es auch bewusst tun, sein mangelhaftes Wesen positiv nutzen und daraus etwas schaffen, das ihm größer vorkommt als die Schöpferkraft der Natur, weil es mittels seines Gedächtnisses andauert. Die rhythmische Formung der Geschichte in der Historienschrift, das propagierte „Festhalten des Erhabenen“ durch selektierte Gipfelkämme im Zeitgetümmel und Nietzsches Forderung, gegen die Geschichte „anzuschwimmen“ sind als Beispiele einer rhythmischen Formung der Zeit zu verstehen, die deren unablässigen Strom zugunsten des Menschen mit Anhaltspunkten versieht, die allein die Grundlage einer schöpferischen Tätigkeit bilden. Ausgangspunkt für diese Art der rhythmischen Wahrnehmung ist als Grundlage der Ästhetik der Körper. Seine Entstehung als organische Form begreift Nietzsche in seinen Notizen von 1872/73 als unbewusst künstlerische Tat – aus phantasievollen, gewissermaßen erlogenen Analogien in der Zeit entsteht die Empfindung des Körpers (vgl. Kap. 2.1.2.). Diese Fähigkeit des Organischen bewusst zu nutzen ist Nietzsches vornehmliches Ziel, daher hebt er die künstlerisch-rhythmische Einflussnahme auf die gegebenen Körperrhythmen hervor, wie sein Beispiel des Soldaten als Vorläufer der Kultur verdeutlicht (Kap. 2.1.1.). Die griechische Kultur mit ihrer gymnasialen Körperdisziplinierung, ihren aus Ritual und Rhythmus entstandenen und durch ihre Aufführungen Erziehungsfunktion bewahrenden Künsten sowie ihren rhythmisch-agonalen Kämpfen, in denen das Individuum symbolisch geformt wird, dienen Nietzsche gerade durch die strenge Implantation einer gemeinsamen Rhythmik als immer wieder herangezogenes Beispiel. Die griechische Zeitenrhythmik formt die Bewegung und Sprache der Choreuten nach ihrem Gesetz, gleicht die Bewegung des Gehens und Atmens dem anfangs optisch und akustisch eindeutig vorgegebenen Takt an. Dadurch erzieht sie die Vielfalt körperlicher Rhythmen ebenso wie die der Triebe zu Einheit und Berechenbarkeit und erlangt so eine über das einzelne Individuum und über seine kurze Lebensspanne hinausgehende Formung, die der Zeit für eine Weile standhält. Ein ästhetischer Rhythmus meint bei Nietzsche ausschließlich diese Art der ursprünglich bewussten Formung und nicht die Hingabe an eine ohnehin gegebene ‚natürliche‘ Rhythmik des Organismus oder an eine
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elementaren Reiz-Reaktions-Rhythmik, die Dühring mit der menschlichen in Einklang zu bringen sucht. Natur- und Kunstrhythmik tragen jedoch nicht von ungefähr auch bei Nietzsche denselben Namen. Wenn das Spinnennetz einmal geknüpft, der Schritt marschierend geformt ist, Atem und Sprache einen gemeinsamen Rhythmus erlernt haben, wenn die Muster klassischer Größen als Fundamente einer Kultur in die haltlose Zeit getrieben sind, dann gilt es, sie zu sichern. Da Nietzsche von der grundsätzlichen Zeitgebundenheit, d.h. der Vergänglichkeit aller menschlichen Formen wie auch des Rhythmus ausgeht, kann er sie nur dann als dauerhaft begreifen, indem er sie dem Zeitlichen wiederum anpasst. Die Konzessionen des Zeus an seinen Widersacher Prometheus liefern für diese Notwendigkeit die entsprechende Illustration – Du, Zeus, wirst in deiner unnachgiebigen Härte untergehen, „ausgenommen meine Fesseln fallen“, lässt Aischylos seinen Prometheus sagen. In Nietzsches metaphorischer Beschreibung der Sprache in Ueber Wahrheit und Lüge muss der starre Begriffsdom entsprechend zum Netz werden und die Bewegung der Zeit als Wellenbewegung aufnehmen, um von ihnen getragen und nicht zerstört zu werden. Worringer bezeichnet diesen Übergang von der erkennbar künstlich-abstrakten zur natürlichen organischen Form als eine gewissermaßen natürlichere Künstlichkeit, Lotman als eine sekundäre Natürlichkeit und Nietzsche als eine zweite, eine „anerzogene“ Natur. Wenn der Soldat nach Monaten der künstlichen Verkrampfung sich irgendwann frei und natürlich, „mit einiger Grazie“ bewegt, wenn die Zeit läuft, aber langsamer, weil die individuelle Erinnerung die Vergangenheit mit Hilfe weitreichender Analogieketten immer wieder festhält und in der Bildung des eigenen Körpers und seiner Wahrnehmung manifestiert, dann hebt und senkt sich das kulturelle Netz mit den Wellen. Sobald aber eine zu starke Verfestigung eintritt, plädiert Nietzsche für eine dionysische Belebungskur, wie er sie in der Geburt der Tragödie nachvollzieht: Bei zu starker apollinischer Erstarrung erscheint eine „hohe Fluth des Dionysischen“, die „alle jene kleinen Zirkel“ zerstört (GT 1872: 70). An eine gänzliche dionysische Zerstörung der Form, wodurch die Grenze zwischen silenischer Naturzeit und anthropologischer Zeit aufgehoben würde, denkt Nietzsche jedoch, wie das erste Kapitel dieser Arbeit zeigte, auch in seinem Frühwerk nicht. „Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken [...]“, fährt er gleich im Anschluss fort (GT 1872: 70). Die Individuen geraten in Bewegung, aber bleiben bestehen – anders als in der Naturzeit, die ihnen diesen Bestand nach dem dunklen Urteil des Silen nie gewähren würde. In der vierten Unzeitgemässen Betrachtung porträtiert Nietzsche Richard Wagner, der sich in dieser Darstellung seiner Persönlichkeit nicht wiedererkannte, als Bild des modernen Rhythmikers schlechthin. Wagner entwickle die Musik in
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ihrer Bedeutung als Darstellung bleibender Zustände des Menschen zur Darstellung von Leidenschaften und Verwandlungen (WB 1876: 491). Doch kann er für Nietzsche die damit einhergehende Tendenz zur Auflösung nur in der Gewissheit seiner Kompetenz wagen, erneut rhythmische Gesetze in das dadurch offenbarte Chaos unter dem Boden des Menschlichen treiben zu können (WB 1876: 468). Bereits in Richard Wagner in Bayreuth deutet Nietzsche jedoch an, dass im derzeitigen Stadium der Kunst und Kultur zu ihrem Erhalt gerade nicht die zu starke Auflösungstendenz, sondern eher eine erneute Verfestigung des anthropologischen Sicherheitsnetzes Not tut, das – ganz in Nietzsches Bild vom Spinnennnetz aus Ueber Wahrheit und Lüge – Gefahr läuft, im Winde zerblasen zu werden: Es sind Künstler nötig, „welche die mächtigste Kraft haben, zusammen zu ziehen und zu binden, die entferntesten Fäden heran zu langen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren“ (WB 1876: 447). Die Griechen, gehalten von ihrer Mythologie, ihrer rhythmisch-proportionalen Kunst und den ihnen in Gymnasion und Agon körperlich eingeschriebenen apollinischen Gesetzen überstehen derartige dionysische Fluten der Auflösung und halten ihre Netze ins Licht, wie Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches schildern wird, ihnen gelingt kurzzeitig die Hochzeit aus Apollinischem und Dionysischem: Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überfluthet – denn Europa war damals sehr klein –, aber immer kommen sie auch wieder an’s Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus. (VM 1879: 472)
Die moderne Persönlichkeit dagegen, mahnt Nietzsche, drohe unterzugehen. Ihre Mythologie besteht in der wesentlich fragileren, weil auf dem künstlerischen Vermögen und damit auch der Erudition des Einzelnen beruhenden Kultur, die auf keiner gemeinsamen „Taktung“ bzw. Bildung mehr aufliegt. Der Faden des mythologisch-kulturellen Netzes ist dünn geworden, und im anthropologischen Schwanken zwischen Verhärtung und Verflüssigung der eigenen Fundamente, das Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth als rhythmisches Pendel zwischen Hellenismus und Orientalismus beschreibt (WB 1876: 446), muss das Pendel angesichts der derzeitigen kulturellen Situation wieder in Richtung Hellenentum ausschlagen, die Notwendigkeit liegt für Nietzsche auf der Hand. Im Zusammenhang dieser Überlegungen beginnt er, an Wagners Kompetenz zu zweifeln, die von ihm gerufenen Geister auch wieder loszuwerden. Nur der monumentale, selektive, d.h. ästhetische Blick in die Zeit schafft in seinen Augen Dauer der Verknüpfung und weit gespannte Rhythmen, Wagner dagegen, so Nietzsche bereits in einer Notiz von 1874, legt seine Emphase auf das Gewimmel kurzer rhythmischer Phrasen:
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Das Aufhören der grossen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit, des Meers: [...] Wir haschen zuerst darnach, suchen uns Perioden, werden immer wieder getäuscht, und endlich wirft man sich in die Wellen. (N 1874: 32[42] VII 767)
Er sieht Wangers dionysisch-revolutionäres und damit das moderne Streben schlechthin letztlich zu weit gehen, weil die notgedrungene erneute Verknüpfung nicht mehr gelingt und so in der Zeit keine Zäsuren mehr gesetzt werden. Der Gesetzlose, der sich von allen Traditionen und Bindungen löst, muss in der Lage sein, sich eigene Gesetze aufzuerlegen, eigene Tänze zu schaffen, wie Nietzsche in den Liedern des Prinzen Vogelfrei singen wird: Tanze nun auf tausend Rücken,/ Wellen-Rücken, Wellen-Tücken –/ Heil, wer neue Tänze schafft! (FW 1882: 650)
Am Schaffen neuer Tänze sieht Nietzsche Wagner schließlich scheitern. Es ist „immer ein gefährlicher Versuch“, sich eine neue Mythologie zu verleihen, formuliert er bereits in der Historienschrift, „weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden“ (HL 1874: 270). Diese Grenze sieht er in Wagners Musik, die exemplarisch für die moderne Kultur steht, überschritten. Im weiteren Verlauf seines Werkes wird er deren Wirkung mit einem ungezügelten Erkenntnisstreben gleich setzen: beide fokussieren das Kleine, das „Gezwerge“, die „Taktphrasen“, und beide verlieren gänzlich den Boden unter den Füssen und versinken: Wagners „unendliche Melodie“ könne man sich dadurch klar machen, so Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, „dass man in’s Meer geht“ (VM 1879: [134] 434). Wagners Auflösungstendenzen kritisiert er im Folgenden scharf, er vermisst die körperliche Wahrnehmbarkeit und damit die formende Wirkung seiner Musik. Der Mensch mit seinen beschränkten Kapazitäten ist gerade dann, wenn er sich mit wissenschaftlichem Anspruch hemmungslos den Elementen ausliefert, auf einen Rhythmus angewiesen, und eben diesen, so Nietzsches Vorwurf, verliert Wagner aus den Augen. Die Sehnsucht nach wahrhaftiger Leidenschaft und echtem Gefühl, das Streben nach dem Natürlichen und Elementaren lässt vergessen, dass die Empfindung selbst nur als kulturelle Leistung denkbar ist. Nur so ist zu verstehen, warum Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches so vehement daran erinnert, dass jedes Gefühl auf Konventionen beruht, die insbesondere durch Rhythmen dem kulturellen Gedächtnis eingeimpft wurden. „Sich so zu binden“, schreibt er dort, „kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken [...]“ (MA I 1878: [221] 181).
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Nietzsches Abkehr von Wagner bedeutet keine entscheidende Wende in seiner ästhetischen Anthropologie des Rhythmus. Bereits seit seinen frühen Schriften sieht er das Menschliche von zwei Seiten her gefährdet: auf der einen Seite in Bezug auf die Hellenen durch eine zu starke Verhärtung kultureller Formen – aus Angst und Sicherheitsbedürfnis, wie Worringer schreibt –und andererseits durch eine zu starke Hinwendung zur Naturzeit, zum Elementaren und Strukturlosen, das menschlichen Formen keine Dauer gestattet. „Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden“, so ruft Nietzsche die Grundsteinlegung der Kultur ins Gedächtnis, und fährt fort: „[n]un stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden [...]“ (WS 1880: [350] 702). Es wäre ein großes Missverständnis, diese an Prometheus erinnernde Entfesselung als Nietzsches Befreiungsschlag von allen tradierten kulturellen Bindungen zu verstehen. Vielmehr ist diese Entfesselung für ihn nur in einem Stadium der kulturellen Entwicklung denkbar, in dem die traditionellen rhythmischen Ketten zur Genüge internalisiert und als instinktive Sicherheit und Grazie der einzelnen Künstlerindividuen zu einer überlebensfähigen Gestaltung der Wirklichkeit eingesetzt werden können. Zwischen Lichtwellen-Meer und Medusenhaupt den anthropologischen Spielraum rhythmisch zu wahren und auszureizen ist der Anspruch von Nietzsches früher Ästhetik, den er in einem Brief vom 19.12. 1876 an Cosima Wagner (KGB II.5 [Nr. 581] 210) unmissverständlich artikuliert: „Mir lag alles am Menschen.“
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Abkürzungen AE BA BAW
DS DW FW GG GMD GOA GT GS HL HW KGB KGW
KSA
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Bern (Piper) 1910 (1. Aufl. 1908). Friedrich Nietzsche: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), nachgelassene Schrift, in: KSA, Band I, 641–797. Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften (Nachdruck der Ausgabe: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, München 1933–42, hrsg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta) Band I–V, München (Beck) 1994. Friedrich Nietzsche: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller (1873), Unzeitgemässe Betrachtungen, erstes Stück, in: KSA, Band I, 157–242. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung (1870), nachgelassene Abhandlung, in: KSA, Band I, 551–577. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: KSA, Band III, 343–651. Friedrich Nietzsche: Die Geburt des tragischen Gedankens (1870), nachgelassene Abhandlung, in: KSA, Band I, 579–599. Friedrich Nietzsche: Das griechische Musikdrama (1870), nachgelassenes Vortragsmanuskript, in: KSA, Band I, 513–532. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke (= Großoktavausgabe), wechselnde Herausgeber unter der Leitung von Elisabeth Förster-Nietzsche, Leipzig 1894ff. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1872), in: KSA, Band I, 7–156. Friedrich Nietzsche: Der griechische Staat (1872), Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Nr. 3, nachgelassene Schrift, in: KSA, Band I, 764–777. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), Unzeitgemässe Betrachtungen, zweites Stück, in: KSA, Band I, 243–334. Friedrich Nietzsche: Homer’s Wettkampf (1872), Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Nr. 5, nachgelassene Schrift, in: KSA, Band I, 783–792. Friedrich Nietzsche: Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York (de Gruyter) 1975ff. Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter, Karl Pestalozzi u.a., Berlin/New York (de Gruyter) 1967ff. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York (dtv/de Gruyter) 1999.
200
KSB
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Abkürzungen
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York (dtv/de Gruyter) 1986. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (1878), in: KSA, Band II, 1–366. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, autorisierte und vom Verfasser selbst durchgesehene Übertragung mit einer Einführung von W. Windelband, Jena (Diederichs) 1908. Henri Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris (Alcan) 1919 (1. Aufl. 1896). Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke, München (Musarion) 1920–29. Das Sigel steht in dieser Arbeit für alle nachgelassenen bzw. von ihm nicht publizierten Arbeiten sowie für alle Notate Nietzsches. Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), nachgelassene unvollendete Schrift, in: KSA, Band I, 799–872. Friedrich Nietzsche: Ueber das Pathos der Wahrheit (1872), Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Nr. 1, nachgelassene Schrift, in: KSA, Band I, 754–760. Aischylos: Der gefesselte Prometheus, in: ders.: Werke in einem Band, aus dem Griechischen übertragen und herausgegeben von Dietrich Ebener, Berlin/Weimar (Aufbau) 1987. Friedrich Nietzsche: Vorlesungsaufzeichnungen zur griechischen Rhythmik und Metrik im WS 1870/71, bearbeitet von Fritz Bornmann und Mario Carpitella, in: KGW, 3. Band, 2. Abteilung, 99–338. Friedrich Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher (1874), Unzeitgemässe Betrachtungen, drittes Stück, in: KSA, Band I, 335–427. Friedrich Nietzsche: Sokrates und die griechische Tragoedie (1871), im Privatdruck erschienen, in: KSA, Band I, 601–640. Friedrich Nietzsche: Socrates und die Tragoedie (1870), nachgelassenes Vortragsmanuskript, in: KSA, Band I, 533–549. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München (Hanser) 1981. Friedrich Nietzsche: Vermischte Meinungen und Sprüche (1879), Teil von MA II, in: KSA, Band II, 379–534. Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth (1876), Unzeitgemässe Betrachtungen, viertes Stück, in: KSA, Band I, 429–510. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), von ihm nicht publizierte Schrift, in: KSA, Band I, 873–890. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich (Haffmans) 1988.
Namenregister Abel, Günter 89, 121, 125 Aischylos 43–50, 66, 130, 131, 143, 144, 185 Anders, Anni 118, 127, 178 Ansell-Pearson, Keith 104 Aristoteles 68, 89 Aristoxenos 3, 7, 12–14, 58, 101, 111 Arndt, Erwin 11 Auerbach, Erich 70 Auerochs, Bernd 71, 170 Babich, Babette E. 2 Bees, Robert 46 Benjamin, Walter 167 Benn, Gottfried 159 Benne, Christian 71, 87, 91, 122 Bennet, Charles E. 13 Bentley, Richard 8 Benveniste, Émile 28 Bergson, Henri 19, 125, 155–158, 162, 163, 167, 179 Biebuyck, Benjamin 4, 32, 35, 68, 81, 82, 86 Blaß, Josef Leonhard 104 Blumenberg, Hans 45 Böhme, Hartmut 40 Bohrer, Karl Heinz 9 Böhringer, Hannes 21 Böning, Thomas 34, 74, 75, 119, 135 Borchmeyer, Dieter 79 Bornmann, Fritz 2, 4, 26, 58, 59 Borsche, Tilman 59, 63, 92 Boscovich, Ruggero Giuseppe 119 Brandt, Reinhard 42, 49, 50 Bruse, Klaus-Detlef 75 Brusotti, Marco 127 Brüstle, Christa 28 Buschor, Ernst 49 Cassirer, Ernst 71
Caysa, Volker 104, 123 Chartres, Bernhard von 141 Chladni, Ernst Florens 178–180 Corbineau-Hoffmann, Angelika 18, 136 Crawford, Claudia 75 Crescenzi, Luca 29, 31 Curtius, Georg 31 Därmann, Iris 68, 70 Dante Alighieri 172 Darwin, Charles 83, 121, 125, 163, 164 De Man, Paul 123 Droysen, Johann Gustav 50, 131 Dufour, Éric 3, 4, 12, 13, 27, 75 Dühring, Eugen 19, 150–168, 170, 171, 175-177, 183, 185 Düsing, Edith 163 Emden, Christian J. 5, 6, 7, 9 Empedokles 143, 173 Euripides 14, 52, 88, 173 Feuerbach, Ludwig 33 Fietz, Rudolf 63 Figal, Günter 10, 82, 86 Fricke, Harald 11 Fuchs, Carl 2, 5, 7, 8 Gadamer, Hans-Georg 143 Gebauer, Gunter 122 Gehlen, Arnold 123 Geijsen, J. A. L. J. J. 134, 144 Geisenhanslüke, Achim 132 Gellhaus, Axel 10, 74, 103 Georgiades, Thrasybulos 47, 129 Gerber, Gustav 77 Gerhardt, Volker 10, 12
202
Namenregister
Gersdorff, Carl von 111, 112, 141, 165 Ghattas, Nadia 28 Goethe, Johann Wolfgang von 71, 103, 109, 128, 138 Görner, Rüdiger 104, 107, 108 Gumbrecht, Hans Ulrich 6, 9 Günther, Friederike Felicitas 54 Gutschmidt, Holger 104 Hanslick, Eduard 10, 11, 16, 25, 71– 73, 76–81, 88, 92, 93 Harth, Dietrich 134 Heidegger, Martin 68, 129 Heller, Erich 32 Helmholtz, Hermann von 29, 30, 33, 75, 77–79, 92 Hemelsoet, Koenraad 4, 32, 35, 68, 81, 82, 86 Hermann, Gottfried 13 Hobbes, Thomas 82 Homer 37, 43, 51, 67, 70, 85, 88, 145 Horaz 55 Horkheimer, Max 167 Hoyer, Timo 116 Hufnagel, Erwin 104 Jauß, Hans Robert 141 Johnson, Dirk Robert 164 Kant, Immanuel 78 Kawczynski, Maksymilian 13 Klein, Richard 175 Kleist, Heinrich von 115, 135, 184 Klemperer, Victor 156 Koecke, Christian 162 Koschorke, Albrecht 134 Kropfinger, Klaus 75 Küpper, Joachim 143 Landerer, Christoph 10, 12, 50, 71, 72 Lange, Friedrich Albert 119, 120, 121 Le Rider, Jacques 131 Leiser-Maruhn, Holmrike 18 Lipperheide, Christian 123 López, Héctor Julio Pérez 3 Lorenz, Martin 4, 61 Lotman, Jurij M. 114, 185
Lubkoll, Christine 18 Lypp, Bernhard 71 Mahrenholz, Sabine 6, 94, 105, 111 Martin, Nicholas 103 Masino, Ferruccio 4 Mattenklott, Gert 4, 5, 7, 11, 113 Menke, Bettine 178 Meyer, Kathrin 131 Meysenburg, Malwida von 107 Müller, Enrico 68, 81 Müller, Karl Otfried 11 Müller-Lauter, Wolfgang 132 Müller-Tamm, Jutta 24 Nestle, Walter 50 Neumeyer, Fritz 3, 6, 22, 23, 33, 38, 54–57, 77 Nielsen, Cathrin 129 Niemeyer, Christian 104 Oehler, Max 49 Oelkers, Jürgen 105 Oger, Erik 167 Orsucci, Andrea 4 Ottmann, Henning 27, 68, 104 Payot, Daniel 111 Platon 14, 93, 94, 122 Porter, James 1, 4, 6, 7, 8, 9, 13, 14, 17, 27, 115, 145 Pöschl, Viktor 13, 85 Praet, Danny 4, 32, 35, 68, 81, 82, 86 Primavesi, Patrick 6, 94, 105, 111 Pütz, Peter 4, 50 Quintilian 28 Reibnitz, Barbara von 36, 43, 46, 61, 67, 68 Reuter, Sören 30 Risi, Clemens 28 Ritschl, Friedrich Wilhelm 2, 107, 111 Rohde, Erwin 12, 13, 59, 174, 175 Rossbach, August 2, 58 Rousseau, Jean-Jacques 104, 123 Ruehl, Martin A. 105
203
Namenregister
Sauerland, Karol 104 Schellong, Dieter 5 Schiller, Friedrich 5, 9, 10, 56, 57, 61, 71, 103, 115, 128, 138 Schlechta, Karl 118, 127, 178 Schmidt, Bertram 3, 13, 52, 73 Schmidt, Ulf 94 Schnädelbach, Herbert 134, 140 Schneider, Jörg 105 Schopenhauer, Arthur 5, 12, 31, 35, 73, 74, 82, 113, 142, 143, 153, 161 Schouten, Sabine 28 Schüle, Christian 68 Schuster, Marc-Oliver 10, 12, 50, 71, 72 Seggern, Hans-Gerd von 103, 128 Seidel, Wilhelm 14, 18 Semper, Gottfried 54–57 Shakespeare, William 71 Siemens, Herman 84, 129 Simon, Josef 64, 135 Simonides 1, 90, 115 Sommer, Andreas Urs 54, 150 Sophokles 14, 51, 64, 81 Spir, African 118, 119 Stambaugh, Joan 132 Stegmaier, Werner 4, 7, 83, 132, 133 Steinmann, Michael 64 Strauß, Botho VII, 117, 121
Taureck, Bernhard H. F. 125, 164 Thompson, Christiane 105 Thukydides 98 Tietz, Udo 61, 68, 74, 87 Tongeren, Paul van 23, 34 Treiber, Hubert 30 Trier, Jost 11, 28, 29 Ulrichs, Lars-Thade
103
Venturelli, Aldo 59, 63, 92, 128, 150, 160 Vinzens, Albert 118 Vischer, Friedrich Theodor 20, 53 Wagner, Richard 2, 4, 5, 11, 12, 19, 42, 49, 50, 54, 71, 75, 79, 143, 147, 170–177, 179, 185–188 Weiss, Gabriele 105 West, Martin Litchfield 2 Westphal, Rudolf 2, 12–14, 49, 58, 130 Whitlock, Greg 119 Worringer, Wilhelm 15, 20–26, 31, 36, 40, 78, 115, 185, 188 Wulf, Christoph 122 Zachriat, Wolf 143 Zeno 101 Zöllner, Johann Friedrich 118
Sachregister Abstraktionstrieb/abstrakt 12–15, 20–25, 31, 34, 36, 59, 64, 78, 81, 101, 124, 126, 152, 181, 190 Agon (s. u. Wettkampf) Akzent-/Betonungs-/Stärkerhythmik 13, 26, 27, 58, 129, 176 Akzent/akzentuierend 74, 127, 146, 147, 157, 176, 177, 188; vgl. Ictus, Betonung alogía 14, 57–60 Analogie/Analogisieren 31, 64, 88, 118–126, 128, 129, 141, 142, 147, 169, 184, 185 anánke 163, 164 Anorganisch/-es 135, 136, 151, 152, 168 Anthropologie/anthropologisch 1–6, 10, 12, 14–19, 22, 24, 25, 40, 41, 42, 69, 73, 74, 76, 86, 87, 89, 91, 93, 102, 104, 117-119, 123, 129, 132–134, 140, 150, 163, 165, 167, 168, 183–187, 188 Apollo/-n 16, 26, 27, 32, 33, 38–40, 43–46, 48–50, 52, 56, 57, 60, 64, 66, 67, 70, 84, 93, 94, 96, 99, 102, 144, 162, 170 Arabeske 78–80, 90 Architektur/architektonisch 3, 6, 15, 18, 22, 23, 25–27, 29–34, 38, 40, 47–49, 54–56, 65, 66, 70, 75, 76– 78, 80, 97, 183 Art/Gattung (biol.) 60, 61, 83, 121– 123, 125, 128, 139, 141, 153, 154, 159, 161 Askese 161 Atem 110, 148, 171, 172, 174, 185 Atempause 51, 58, 98 Atom/-zeit 18, 19, 125, 148–150, 156, 163, 164 aulós 28
Auswahl (s. u. Selektion) Barbarei, antike 32, 53–55, 57, 67–69, 82, 101, 172 Barbarei, moderne 2, 104, 106, 107, 109, 172 Begriff/-e 87–91, 98, 119, 122, 124, 130, 139, 159, 182, 183, 185 bellum omnium contra omnes (s. u. Kampf um’s Dasein) Bestie 51, 52, 68 Betonung/Betontes/betonen 13, 17, 18, 26, 27, 58, 59, 80, 121, 123, 127, 128, 129, 140, 146, 148, 176, 181; vgl. Akzent, Ictus Betonungsrhythmik (s. u. Akzentrhythmik) Bildung/Erudition 14, 15, 17, 19, 61, 84, 86, 88, 91, 93, 94, 97, 98, 100– 112, 116–118, 126, 127, 136, 144– 147, 185, 186 Chaos 48, 82, 98, 99, 101, 104, 106, 116, 133, 148, 164, 170, 171, 177, 182, 186 Chladnische Klangfiguren 178–180 Chor 5, 29, 50, 53, 56, 60, 61, 91, 126 Choreuten 78–81, 90, 184 Chronos/Kronos 43, 44, 46, 50, 66 Dauer/dauerhaft/andauern 1, 8, 15, 16, 21, 32, 34, 38–42, 65, 69, 70, 76, 81, 83, 87, 90, 91, 95, 97, 100, 102, 117, 119, 123–127, 133, 147– 149, 152–158, 162, 168, 171, 172, 175, 176, 180, 183–186, 188 Dauer/durée 154–157, 167 díke 84 Disharmonie 160, 164–168
Sachregister
Disziplin/Disziplinierung 61, 96, 97, 102, 105, 107, 109, 116, 184; vgl. Dressur Dithyrambus 29, 49, 52–54, 60, 67 Dorische Kunst 11, 12, 16, 22, 23, 26, 27, 31–33, 39–41, 44, 47–49, 51–53, 69, 70, 81, 90, 91, 97, 117, 131, 142–144 Dressur 17, 67, 96, 103, 111, 112, 116, 118; vgl. Disziplin Dynamik 35, 57, 64, 83, 85 Dynamik, musikalische 62, 63, 67, 74, 75, 80 Elemente/Elementares (Natur) 19, 30–32, 46, 51, 66, 72, 73, 80, 81, 138–140, 152–155, 158–161, 163, 166–169, 173, 180-182, 185, 187, 188 Empfindung/-sleben 7, 9–11, 13, 14, 36, 80, 91, 97, 98, 102, 124, 125, 146, 148, 150–161, 167, 184, 187 Entfesselung, dionysische 16, 25, 42, 43, 49, 50, 54, 63, 67, 68, 84–86, 93, 95, 132, 168, 183, 188 Ethos 37, 162 Ewigkeit Ewigkeitsanspruch, apollinischer 6, 8, 21, 25, 38–41, 46, 47, 63, 65, 66, 70, 81, 84, 90, 91, 94, 97, 141, 143–147, 173, 174, 180–182 Ewigkeit des Dionysischen 45, 80, 82, 90, 120, 165; vgl. Werden und Vergehen Faltenwurf/Draperie
54–57, 64
Gattung (s. u. Art) Gebärde 33, 60, 61, 80, 91–93 Gedächtnis 6, 15, 18, 19, 38, 45, 105, 113, 118, 125–127, 132, 134, 138, 144, 157, 158, 184, 187, 188 Gehen 29, 77, 103, 108, 112, 113 Geometrie/geometrisch 20–25, 32, 40, 56, 90, 97 Geschwindigkeit 18, 148, 149, 157, 158, 168, 171–173; vgl. Tempo Gewebe (s. u. Weben)
205
Gipfel/Höhenkamm 130, 131, 142, 153, 154, 184 Grammatik 63, 64, 107 Grazie 113–115, 135, 185, 187, 188 Held, tragischer 65, 85, 88–90, 99, 102, 179, 180 Herdentier (s. u. Schaf) Herzschlag 11, 110, 111 Höhenkamm (s. u. Gipfel) Horizont 33, 133–135, 139, 140, 162 Ictus 9, 13, 29, 91; vgl. Akzent, Betonung Ideal/Idealisieren 7–14, 17, 19, 20, 25, 37, 40, 41, 53, 54, 61, 64, 70, 77, 82–86, 91, 99, 110, 111, 119, 120, 123, 124, 127–129, 137, 138, 141–146, 176 Imitation (s. u. Nachahmung) Individuum 10, 19, 21, 22, 34–40, 44–46, 60–62, 65, 67, 69, 73, 83– 86, 98–102, 106, 109, 116, 117, 119, 123, 124, 132, 141, 147–149, 152, 154, 158–161, 167, 168, 170, 171, 173, 176, 177, 179, 180, 183– 185, 188; vgl. principium individuationis Instinkt 22, 51, 92–94, 116–118, 121, 124, 125, 147, 188 Intermittenz 82, 85 Kampf um’s Dasein/bellum omnium contra omnes 19, 82, 83, 85, 86, 90, 93, 98 Kind 93, 97, 100, 112, 126, 158, 159, 166, 171 Kithara 26–28, 30, 63 Klassik/klassisch 3, 4, 9, 13, 14, 18, 23–25, 27, 53, 107, 108, 115, 126, 141, 143, 145–147, 185 Konvention 7–9, 13, 14, 17, 37–39, 55, 57, 61, 68, 72, 75, 92, 105, 110, 115, 162, 187 Kosmos/kosmisch 19, 91, 109, 158– 160 Krieg 32, 82, 86, 96–98, 102
206
Kürzen und Längen, rhythmische 13, 26, 27, 58, 63, 66, 176
Sachregister
3,
Längen, rhythmische (s. u. Kürzen) Lebensphilosophie 18, 19, 28, 129 Leidenschaft 10, 51, 53, 80, 152, 154, 161, 172, 173, 175, 176, 180, 186, 187 Licht 45, 132, 133, 135, 139, 151, 155, 156, 178, 186 Lichtwellen 11, 134, 135, 138, 139, 154, 155, 166, 168, 173, 179, 182, 188; vgl. Welle Marsch/-takt 17, 96, 97, 108, 110– 113, 116, 117, 123, 128, 185; vgl. Takt Mathematik/mathematisch 3, 4, 13, 20, 23, 27, 31, 56, 59, 76–80, 152, 154, 164, 176 Medusenhaupt 39, 40, 46, 97, 142, 182, 188 Meer/Ozean 31, 35, 38, 44, 134–136, 138, 139, 166, 168, 174, 182, 183, 187, 188 Metapher 72, 120, 122 Metaphysik/metaphysisch 9, 10, 12, 34, 38, 93, 126, 147, 148, 164, 182 Militär 17, 32, 96–99, 102, 103, 110– 112, 116 Monumentalhistorie/monumentalisch 17, 140–144, 186 Muster 14, 18, 56, 103, 107, 110, 116–118, 126–129, 133, 140, 141, 145, 146, 178, 185 Mysterien/-ordnung 4, 32, 35, 56, 68, 80–82, 86 Mythos/Mythologie 19, 45, 52, 88, 89, 93, 133, 139, 169, 177–180, 186, 187 Nachahmung 9, 11, 18, 20, 23, 24, 36, 53, 64, 73, 103, 108, 116–127, 129, 141, 145–147, 149, 162 Natur, elementare (s. u. Elemente) Natur, organische (s. u. Organisches) Natur, zweite 113, 116, 123, 174, 175, 185
Natürlichkeit 21, 57, 101, 104, 114– 116, 185 Obertöne 145, 174 Olymp 34, 43–50, 53, 66, 94, 134 Organisches 8–12, 14, 15, 17, 18, 21, 23–26, 34, 69, 86, 93, 103, 111, 115, 118, 121, 124–128, 131, 132, 134–137, 139, 140, 151, 152, 158, 159, 164, 167–169, 180, 183–185 Organischen, Rhythmen des 8– 12, 14, 15, 17, 18, 24, 25, 86, 110, 111, 128, 151, 167, 168, 183 Ozean (s. u. Meer) Pathos 161, 162 Philologie/philologisch 2, 6–8, 29, 58, 88, 91, 122, 141 principium individuationis 35, 38, 136, 164; vgl. Individuum Pyramide 22, 97, 136 Reiz-Reaktions-Mechanismus 148, 158, 167, 185 Rhythmik, körperliche (s. u. Atem, Herzschlag) Rhythmik, organische (s. u. Organisches) rhythmizómenon 12–14, 18, 101, 111 rhythmós 12, 13, 18, 28, 31, 94, 101, 111 Riesen, auf den Schultern von 141, 143, 144, 147 Ritus/Ritual 5, 6, 81, 82, 184 Schaf/Herdentier 131, 140, 158 Schallwellen 11, 152, 178; vgl. Chladnische Klangfiguren Selbstmord 161, 173 Selektion/Auswahl 17, 88, 91, 92, 114, 117, 123, 127–129, 135–137, 140–142, 145–149, 176, 184, 186 Silen 46, 50, 69, 73, 133, 168, 180, 182, 183, 185 Sitte 57, 68, 108, 162, 180 Soldat 96, 98, 102–113, 116, 117, 123, 128, 147, 184, 185
Sachregister
Spinne/Spinnweben 56, 76, 183, 185, 186 Sprache 5, 9, 12–14, 62–64, 71, 72, 74–77, 86–93, 105, 107, 108, 112, 114, 122, 182–185 Staat, griechischer 27, 32, 39, 47, 57, 86, 96–102, 131, 147 Stärkerhythmik, moderne (s. u. Akzentrhythmik) Stern/-schnuppe 109 Stil/stilisieren 17, 20–24, 59, 92, 94, 96–98, 102–117, 126, 128 Symbol 17, 28, 57, 62–64, 66–76, 79, 80, 81, 86–93, 99, 119, 133 Takt/Taktschlag 7, 18, 20, 27–31, 34, 37, 53, 58–60, 63, 76, 79, 91, 103, 108–112, 135, 157, 171, 184, 186, 187; vgl. Marschtakt Tanz 29, 58, 60–62, 66, 77–80, 90, 91, 138, 187 Tempo 18, 98, 125, 148, 156, 169; vgl. Geschwindigkeit Titan/titanisch 16, 32, 42–50, 66, 98, 102, 172 Tod 39, 41, 46, 50, 69, 91, 151, 153, 154, 159, 167, 169, 180 Toga/Überwurf 54, 55 Ton 11, 12, 26, 30, 59, 61, 62, 74–76, 91, 92, 146 Tonleiter 29, 77, 79, 92 Tradition 42, 66, 86, 91, 92, 94, 105, 126, 144, 173, 174, 187 Traum, apollinischer 8, 11, 34–37, 86, 93, 133, 160, 184 Typus/typisieren 87–89, 99, 102, 122, 126, 127, 139, 151–154 Überwurf (s. u. Toga) Vegetarier
165
207
Vergänglichkeit (s. u. Zeitlichkeit) Vergessen 67, 124, 126, 128, 131– 136, 139, 140, 173 Verlangsamen/-ung 18, 125, 130, 148–150, 155, 158, 169 Wahrnehmung, rhythmische 2, 6–9, 11, 13, 15, 19, 28, 29, 33, 35–38, 77, 83, 91, 102, 120, 123, 127, 135–137, 146, 148–150, 154–156, 158–160, 162, 184, 187 Weben/Webstuhl/Gewebe VII, 56, 57, 92, 186 Welle/-nschlag 26, 28, 31, 41, 68, 76, 137, 138, 151, 153–155, 159, 163, 182, 183, 185, 187; vgl. Lichtwellen Werden und Vergehen 69, 76, 154 Wettkampf/Agon 16, 50, 81–86, 90, 91, 100, 130, 131, 180, 184, 186 Wiederholung 6, 7, 18, 28, 38–40, 79, 82, 93, 109, 113, 118, 120–128, 131, 142, 145, 148, 149, 154, 160, 162 Wirbel 29, 77, 173, 174 Wissenschaft, moderne 1, 17, 18, 101, 102, 127, 129, 130, 134–137, 139, 149, 150, 163–169, 174, 187 Zeit-/Vergänglichkeit 1, 6, 7, 11, 13, 15, 16, 21, 39, 40–43, 46, 47, 64, 66, 69, 70, 75, 80, 81, 88, 89, 91, 93–95, 119, 125, 127, 131, 142– 145, 149, 166, 185 Zeitatomenlehre 18, 118–120, 124, 143, 148, 149, 163 Zeitenrhythmik, antike 13, 58, 63, 115, 184 Zucht/Züchtung 96, 103, 107–110, 112, 116 Zwerge 141, 143, 145, 187