Morphem, Wort und Satz im Englischen [Reprint 2021 ed.] 9783112583661, 9783112583654


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German Pages 92 [94] Year 1970

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Morphem, Wort und Satz im Englischen [Reprint 2021 ed.]
 9783112583661, 9783112583654

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SITZUNGSBERICHTE DER DEUTSCHEN AKADEMIE D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N Klasse für Sprachen, Literatur Jahrgang

und Kunst

1969 • Nr. 1

MARTIN

LEHNERT

MORPHEM, WORT UND SATZ IM E N G L I S C H E N Eine kritische Betrachtung zur neueren Linguistik

AKADEMIE-VERLAG 1969

• BERLIN

Vorgetragen und für die Sitzungsberichte angenommen in der Sitzung der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst am 22. 6. 1967 Ausgegeben am 28. 11. 1968

Erschienen im Akademie «Verlag GmbH. 108 Berlin. Leipziger Straße 3—4 Copyright 1969 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/157/69 Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 2010/69/V/l . ES 7 F + 7B 10,-

Bei der Darstellung und Analyse der G r a m m a t i k , des grammatischen Systems oder der grammatischen Struktur einer Sprache 1 zu einer bestimmten Zeit ihrer Entwicklung steht der Linguist einem ganz anders gearteten Bereich gegenüber als bei der Behandlung ihrer P h o n o l o g i e . Während der Gegenstand der Phonologie das lautliche Material einer Sprache ist, die Untersuchung der Sprachlaute als wort- und formunterscheidende sprachliche Zeichen oder P h o n e m e innerhalb eines Lautsystems, hat es die Grammatik mit jeweils höheren nach bestimmten und bestimmbaren grammatischen Mustern im Sprachsystem gebildeten Einheiten zu tun, und zwar mit M o r p h e m e n (morphemes), W ö r t e r n (words), S y n t a g m e n (syntagms)2 und S ä t z e n (sentences). In dieser sprachlichen Hierarchie, "an 1

Während das S y s t e m einer Sprache ein relatives Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen Sprachelemente einer bestimmten Sprache voneinander zum Zwecke des kommunikativen Effekts darstellt (vgl. S. 26 unter Saussure), handelt es sich bei der S t r u k t u r einer Sprache entweder um das Ergebnis einer meist im Verlauf größerer Zeiträume durch viele Teilveränderungen im Sprachsystem bewirkten völligen Veränderung des sprachlichen Gesamtsystems (etwa vom Altenglischen zum Mittelenglischen und zum Neuenglischen) oder um den Kontrast zu einer anderen Sprache mit anderer Sprachstruktur. — Über die philosophischen Voraussetzungen des Strukturgedankens im historisch-sozialen Bereich handelt Lucien S e b a g , Marxisme et Structuralisme. Paris 1964. Er wirft (p. 114) die grundsätzliche Frage zur Beantwortung auf, ob es sich bei der Annahme eines autonomen Funktionierens der Struktur nicht um eine unzulässige idealistische Einsicht a priori handele: « Cette idée d'un fonctionnement autonome de la structure s'opposant à la production par l'homme des significations peut paraître absurde. D'où viendrait la structure elle-même? et n'est-ce pas là retomber dans un idéalisme qui ne pourrait trouver sa justification dernière que dans une théologie? Ce reproche a pu être formulé à plusieurs reprises. » Vgl. S. 82. 2 Unter dem S y n t a g m a oder S p r e c h t a k t verstehen wir eine phonemische, semantische und syntaktische Sprech- und Verständigungseinheit, ein Satzglied, das aus einer rhythmischen Sprech- oder Sinngruppe von Wörtern oder Morphemen mit einem bestimmten kommunikativen Effekt besteht und durch eine Intonationskurve zusammengehalten wird. Das kleinste Syntagma bzw. der kleinste Sprechtakt als Gruppe von Morphemen, die innerhalb dieser Gruppe nicht austauschbar sind, ist das 1*

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orderly hierarchy of levels, each dependent on those below and describable without dependence on any above. ... They are not, however, wholly independent" 3 , gibt es zahlreiche Übergänge und fließende Grenzen, da in jeder vorausgehenden Sprachebene bereits die folgende enthalten (inhärent) ist. So führt N i d a mit Recht aus: "No part of a language can be adequately described without reference to all other parts. This principle means that the phonemics, morphology, and syntax of a language cannot be described without reference to each other. A language is not a departmentalized grouping of relatively isolated structures; it is a functioning whole, and the parts are only fully describable in terms of their relationship to the whole." 4 Auch die heutige Prager Linguistenschule lehnt die Auffassung vieler neuerer amerikanischer deskriptiver Grammatiker ab, daß die verschiedenen Sprachebenen voneinander unabhängig dargestellt werden könnten oder sollten: "The Prague phonologists have never denied the fact that each of the language levels has its own units and regularities and its own particular problems calling for solution. But the Prague conception wants to avoid the very opposite kind of error, typical exactly of the American descriptivist group, viz. the so-called separation of levels (or, to use K. L. Pike's term, compartmentalization). The Prague scholars want to stress the fact that a change in one of the language levels may be reflected in some other levels as well." 5 Von der Seite der Sprachpraxis kommt der Lexikograph W a h r ig zu dem gleichen Ergebnis: „Die Sprache ist ein System, das keine theoretisch saubere Einteilung in verschiedene Ebenen zuläßt. Bei der praktischen Arbeit stellt es sich immer heraus, daß diese Ebenen nicht reinlich voneinander zu scheiden sind, sondern daß ständig die Verbindung zwischen ihnen aufrecht erhalten werden muß." 6 Begriffswort (full word), vgl. S. 36f. Die von einem Sprechbogen überspannten einzelnen Sprechtakte sind die eigentlichen Intonationsträger. 3 H. A. G l e a s o n , An Introduction to Descriptive Linguistics, Revised Edition. New York - London 1955, 1961, 1966, p. 66. 4 Eugene A. N i d a , Morphology. The Descriptive Analysis of Words. Second Edition. . Ann Arbor 1949 2 , Tenth printing 1967, pp. 2—3. 5 Josef V a c h e k , "Prague Phonological Studies Today". In: "Travaux Linguistiques de Prague", vol. 1: L'École de Prague d'aujourd'hui. Éditions de l'Académie Tchécoslovaque des Sciences. Prague 1964, pp. 7—20 (Zitat p. 11). Auf S. 19, Anm. 14 weist V a c h e k auch darauf hin: "As is well known, also N. Chomsky disagreed with the descriptivist maxim of the inadmissibility of 'mixing' language levels (see his Syntactic Structures, 's Gravenhage 1957, pp. 56f.)". 6 Gerhard W a h r i g , Neue Wege in der Wörterbucharbeit. Verlag für BuchmarktForschung Hamburg 1967, S. 42.

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Die Zahl der die verschiedenen Ebenen konstituierenden Sprachelemente steigt von Ebene zu Ebene sprunghaft an: Es bestehen im Englischen 44 Phoneme (im Russischen 40, im Deutschen 36, im Französischen 35)', rund eine halbe Million Wörter (Wurzelmorpheme und Morphemverbindungen), nahezu unbegrenzt viele Syntagmen und unzählig viele Sätze: "The English language is made up of an infinite number of sentences. Every individual sentence, however, is finite in length. And every sentence is constructed from a relatively limited number of elements." 8 Nicht zufällig existieren keine den Wörterbüchern entsprechenden Sätzebücher. Da die Auffassungen über das Wesen und die Bedeutung der M o r p h e m e , W ö r t e r und S ä t z e heute noch und gerade heute wieder weit auseinandergehen, wollen wir uns im folgenden mit diesen sprachlichen Grundeinheiten näher beschäftigen. Für den Laien wie für den herkömmlichen Grammatiker baut sich eine Sprache aus einzelnen W ö r t e r n auf. I n den traditionellen Schulgrammatiken werden die Wörter seit Jahrhunderten gewöhnlich in neun bzw. zehn W o r t k l a s s e n eingeteilt, je nachdem man den Artikel als eigene Wortart oder zum Pronomen zählt: (Artikel), Pronomen, Substantiv, Adjektiv, Verb, Numerale—Adverb, Präposition, Konjunktion, Interjektion; also in fünf bzw. sechs früher und teilweise noch heute flektierte sowie in vier unflektierte Wortklassen. Die Interjektion stellt eigentlich keine eigene Wortklasse dar und ist dem Einwortsatz (s. S. 37, 65) zuzurechnen. Der einflußreiche römische Grammatiker V a r r o , der sein Werk De Lingua Latina C i c e r o widmete, unterschied dagegen nur vier Redeteile: (1) Wörter mit Fällen, (2) Wörter mit Zeitformen, (3) Wörter mit Fällen und Zeitformen, (4) Wörter ohne Fälle und Zeitformen. Da die Wortklassen an verschiedenen Stellen der Rede verwendet werden, gebrauchten die Römer nach dem Vorbild der Griechen dafür die Bezeichnung -partes orationis .Redeteile', die in den englischen Grammatiken bis heute als parts of speech weiterlebt. Nun erkannten die Sprachforscher in unserem Jahrhundert, als sie die von den Sprachträgern verwendeten sprachlichen Systeme mit ihren Einheiten näher beschreiben wollten, daß es teils sehr schwierig, teils unmöglich ist, die durch die Orthographie gestützten und konservierten traditionellen Redeteile oder Wortklassen zu systematisieren 7

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M. V. D a v i d o v , Segmental Phonology. (A Summary of lectures based on the course in Modern English Phonology given by Prof. O. S. Akhmanova.) Moscow State University, Philological Faculty, English Department. Moscow 1967, p. 11. Owen Thomas, Transformational Grammar and the Teacher of English. New York — London 1966, p. 26.

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und zu begründen. Für die englische Sprache ist eine strikte Verwendung von Wortklassen auch deshalb sehr problematisch und widerspruchsvoll, weil in ihr der Wortartwechsel, die Verwendung einer Wortform in mehreren Funktionen, seit langem eine besonders große Rolle spielt. Außer dem semantischen und historischen ist hier auch und vor allem der syntaktische Aspekt innerhalb des Sprachsystems von ausschlaggebender Bedeutung, da die Wortklassen weitgehend auf der syntaktischen Fügung beruhen. Man gelangte überdies zu der Feststellung, daß diese Wörter ihrerseits aus weiteren austauschbaren Sprachelementen mit selbständiger Funktion und Bedeutung, wenn auch in unselbständiger Form, zusammengesetzt sein können, etwa aus Endungen und Affixen. Diesen kleinsten bedeutungtragenden und nicht weiter aufspaltbaren meaningful molecules verlieh man die Bezeichnung M o r p h e m e . Eine solche einheitliche Rückführung auf ein eindeutigeres sprachliches Grundelement empfahl sich auch deshalb, weil die traditionelle Einteilung nach ,Wortklassen' oder 'parts of speech' so unbestimmt, unzweckmäßig und widerspruchsvoll ist, daß " I n short, the traditional definitions of parts of speech are largely unworkable." 9 In einem in deutscher Sprache in der DDR erschienenen modernen Lehrbuch über die Sprache heißt es daher: „Die linguistische Analyse zerlegt komplexe sprachliche Einheiten stufenweise bis zu den Morphemen, den letzten Elementen, denen noch eine eigene Bedeutung zu eigen ist. Sie löst dann diese kleinsten Bedeutungsträger in ihre letzten Komponenten auf, die noch imstande sind, ein Morphem vom anderen zu unterscheiden." 10 Während die P h o n e m e und Phonem Verbindungen mit ihren phonologisch relevanten, funktionell wichtigen Merkmalen wie Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit oder ihrer Bildung an unterschiedlichen Artikulationsstellen im Munde meist keine Bedeutung an sich haben und erst durch Vertauschung im Morphem eine bedeutungunterscheidende Funktion ausüben, 11 9 10

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H. A. G l e a s o n (Anm. 3), p. 93. Roman J a k o b s o n und Morris H a l l e , Grundlagen der Sprache. Berlin 1960, S. 3f. Deutsche Übersetzung der englischen Originalausgabe Fundamentals of Lamjuage, The Hague 1956, von Georg F. Meier. A. V. I s a ö e n k o , Sprachwissenschaft und Akustik. „Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin", Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jahrgang 1966, Nr. 4, Berlin 1966, S. 11: „Phoneme können als Bündel relevanter akustischer Merkmale definiert werden, die zum Aufbau der einzelnen Sprachzeichen, etwa der Wörter und Sätze einer Sprache, dienen und die die einzelnen Sprachzeichen voneinander unterscheiden." — S. 9: „Ganz allgemein ist nur etwa ein Prozent der im Redesignal enthaltenen akustischen Information für die Kommunikation relevant." Vgl. S. 13 u.

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besitzen dagegen die Morpheme und Wörter eine eigene Art von Bedeutung. Von den Strukturgrammatikern werden Morphem und Wort als sprachliche Grundeinheiten recht uneinheitlich interpretiert und charakterisiert: "Linguists have debated a definition [of the morpheme] for nearly thirty years, and they are still a long way from agreement. For our purposes, however, we can resort to an illustrative — rather than notional — definition." 12 Es lassen sich im wesentlichen zwei Richtungen unterscheiden: Die erste, kleinere Richtung betrachtet das W o r t , die zweite, größere Richtung das Morphem als erste sprachliche Grundeinheit. Wir schließen uns der zweiten Richtung an. Doch auch innerhalb dieser zweiten Gruppe bestehen wiederum zwei Richtungen. Die erste Richtung sieht im Morphem eine rein formale sprachliche Grundeinheit ohne Bedeutungsgehalt. Die zweite Richtung betrachtet das Morphem als morphologische und semantische Einheit zugleich und geht daher bei der Analyse und Einteilung der Morpheme sowohl von der Form als auch von der Bedeutung aus. Wir schließen uns auch hier aus wohlüberlegten Gründen der letzten Gruppe an und sehen in den Morphemen die kleinsten feststehenden Bedeutungsträger der Sprache, aus denen sich alle weiteren sprachlichen Bedeutungsträger wie die Wörter, Syntagmen und Sätze aufbauen. Das Wort 'Morphem' (morpheme) ist aus einer Zusammensetzung von griech. morphe ,Form, Gestalt' + griech. Suffix -eme in Analogie zum vorher geprägten sprachwissenschaftlichen Terminus .Phonem' (phoneme) aus griech. phöne ,Stimme, Laut' entstanden. Danach ist -eme zum produktiven Suffix geworden, das in der Linguistik13 unseres Jahrhunderts zur Bezeichnung der jeweils kleinsten sprachlichen Einheit oder des kleinsten sprachlichen distinktiven Merkmals dient. So bildete man z. B. .Graphem' (grapheme) als die dem Phonem entsprechende kleinste eigenständige und unteilbare Schrifteinheit, ,Taxem' (taxeme) als kleinste Einheit der grammatischen Form, .Tagmem' (tagmeme) als kleinste bedeutungtragende Einheit der grammatischen Form, ,Semem' (sememe) als kleinste Bedeutungseinheit des Morphems, oder ,Lexem' (lexeme), aus griech. lexis .Wort, Rede', als kleinste Wortschatzeinheit. Der Terminus .Morphem' wurde schon lange vor 12 13

Owen T h o m a s (Anm. 8), p. 48. Die Wissenschaftsbezeichnung Linguistik zu Linguist Sprachforscher', der im Deutschen, Französischen und Englischen bereits seit Ende des 16. Jhs. verzeichnet ist, kam erst gegen Ende des 18. Jhs. auf und findet sich im Deutschen zuerst bei M. D e n i s , Einleitung in die Bücherkunde, Wien 1778 (II, 366). Als la linguistique erscheint sie im Französischen zuerst 1826, als linguistic (ohne -s) im Englischen zuerst 1837, als linguistics (mit -s) 1855.

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der Zeit des Strukturalismus geprägt und in der Sprachwissenschaft verwendet. Allem Anschein nach wurde er zuerst von Nor een gebraucht, sicher aber durch sein verbreitetes und einflußreiches Buch Einführung in die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache allgemein eingeführt. In dem entsprechenden Kapitel „Zur Bedeutungslehre" schreibt er: „Man kann also einfach sagen: die Semologie handelt von Sememen wie die Phonologie von Phonemen und die Morphologie von Morphemen. Der Terminus .Semem' wurde von mir nach Analogie der beiden entsprechenden aus dem Französischen entlehnten Ausdrücke Phonem und Morphem neu geschaffen. ... Nach dem Terminus Semem habe ich das Wort,Semologie' gebildet — man vergleiche Phonem : Phonologie und Morphem : Morphologie — zum Ersatz für das bisher gebrauchte, aber schwerfällige ,Semasiologie'."14 An späterer Stelle ergänzt er Sweets Definition des Wortes: "A word may be defined as an ultimate independent sense-unit"15 durch: „d. h. in meiner Terminologie als ein solches selbständiges Morphem, das nicht in kleinere aufgelöst werden kann." 16 Mit den Begriffen Morphem und Wort arbeitete bereits der russische Sprachforscher S c e r b a in seiner Dissertation 1915: " I do not share the scepticism in respect to the 'word'. There are of course transitional cases between the word and the morpheme, on the one hand, and between the word and a combination of words, on the other. But in nature there are no absolute boundaries ; in most cases, after all, the concept of word is very clear to the mind of the speaker .. .". 1 7 Von dem Prager Linguistenkreis Adolf Noreen, Einführung in die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache. Beiträge zur Methode und Terminologie der Grammatik. Übers, von Hans W. P o l l a k . Halle 1923, S. 200. Im Original als Vârt Sprâk, Lund 1903—1918 erschienen. Noreens vorgeschlagener linguistischer Terminus .Semologie' für die vor ihm geprägten Bezeichnungen .Semasiologie' und .Semantik' (zu griech. semasia .Bedeutung') für die Bedeutungslehre hat sich dagegen nicht durchgesetzt. Der Terminus .Semasiologie' wurde von C. Chr. Reisig um 1825 in seinen in Halle gehaltenen Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft für die Bedeutungslehre geprägt, während die Bezeichnung .Semantik' als la Sémantique von dem französischen Sprachgelehrten M. B r é a l für la science des significations, wenn auch nicht geschaffen, so doch 1883 eingeführt und verbreitet wurde. Semasiologie und Semantik werden heute in zwei Bedeutungen gebraucht: in der weiteren Bedeutung als Wissenschaft von den Wortinhalten, in der engeren Bedeutung als Inhaltsentwicklung eines einzelnen Wortes. 16 Henry Sweet, A New English Grammar, Logical and Historical. Oxford 1891, Repr. 1955, vol. I, p. 20. 16 Adolf Noreen (Anm. 14), S. 441. " L. V. S ¡Serb a, The East-Luiica Dialect. Petrograd 1915, p. 75. (Zitiert nach V. M. 2 i r m u n s k i j , „The Word and its Boundaries". In: "Linguistics", An International Review, vol. 27, The Hague 1966, p. 65.)

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wurde das Morphem 1931 wie folgt definiert: "a part of the word which, in a number of words, has the same formal function and is indivisible into smaller parts endowed by that function." 18 Diese Definition wurde dann mit stärkerer Betonung der semantischen Seite des Morphems von T r u b e t z k o y , der mit der Prager Schule sehr eng verbunden war, folgendermaßen geändert: "a complex of phonemes which occurs in a large number of words and is found to be linked with the same material or formal meaning." 19 Das ,Morphem' wurde dann auch von dem zu seiner Zeit erfolgreichsten und populärsten dänischen Sprachwissenschaftler und Anglisten Otto J e s p e r s e n (1860—1943) übernommen und weitergetragen, der zugleich über frühere Definitionen dieses sprachwissenschaftlichen Begriffes berichtet. 20 Über weitere nachfolgende recht uneinheitliche Auffassungen vom Morphembegriff in den späteren strukturalistischen Richtungen handelt Pike. 2 1 Als working definition betrachten wir das Morphem als die kleinste, unter gleichen syntaktischen Bedingungen austauschbare und bedeutungtragende sprachliche Einheit, die für gewöhnlich aus einem Phonem oder aus mehreren Phonemen (denen selber keine Bedeutung innewohnt) aufgebaut ist. I n ähnlicher Weise wird das Morphem auch von vielen heutigen Linguisten aufgefaßt : "Morphemes are the smallest individually meaningful elements in the utterances of a language." 22 — "The morpheme is the smallest meaningful unit of form." 2 3 — "Morphemes are structural elements that occur again and again through the language and that always perform the same structural function." 24 — "A morpheme is an element or a unit (or a form) which bears no partial phonetic-semantic resemblance to any other form, while being recurrent and structured", wozu die Autorin ergänzend bemerkt : "Although this is a negative definition of a morpheme it is very important because it is the only workable operational' definition to be used in practical work." 25 18

Josef Vachek, The Linguistic School of Prague. Bloomington — London 1966, p. 79. — Josef Vachek, Dictionnaire de Linguistique de l'École de Prague. Utrecht — Anvers 1960, p. 49 (morphème). 19 Nikolaj S. T r u b e t z k o y , Grundzüge der Phonologie. „Travaux du Cercle Linguistique de Prague" vol. 7, Prag 1939, p. 225. Neudruck Göttingen 1958. 20 Otto Jespersen, Analytic Syntax. Copenhagen 1937, pp. 106—108. 21 Kenneth L. Pike, Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior. Part I, pp. 96ff., Glendale, California, 1954. 22 Charles P. H o c k e t t , A Course in Modern Linguistics. New York 1958, 196610, p. 123. 23 1. V. Arnold, The English Word. Moscow — Leningrad 1966, p. 51. 24 Owen Thomas (Anm. 8), p. 70. 25 V. D. B e l e n k a y a , Modern English Morphology. Moscow State University, Philological Faculty, English Department. Moscow 1966, p. 11.

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Auf weitere Vertreter dieser Form-Inhalt Interpretation des Morphems kommen wir später (S. 33f.) noch zu sprechen. Es liegt in der Natur der Sache und nicht am Unvermögen der Linguisten, wenn es bis heute nicht gelungen ist, die sprachlichen Grundkategorien M o r p h e m , W o r t und S a t z eindeutig zu definieren. Wie Owen T h o m a s im Anschluß an Robert B. L e e s hierzu ausführt,26 kann etwa auch der Biologe nicht den Grundbegriff seiner Wissenschaft, die Zelle, die allen seinen Überlegungen und Operationen zugrunde liegt, einwandfrei definieren. Mit Ausnahme der Linguistik haben auch alle anderen Wissenszweige, einschließlich der Mathematik, Physik und Chemie, in unserem Jahrhundert das müßige Unterfangen aufgegeben, ihre Grundelemente als solche genau und absolut zu definieren. Man stellt vielmehr nur ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander fest, etwa wenn der Chemiker mit einer Kreisdefinition (circular definition) Sauerstoff als ein Element definiert, das sich mit zwei weiteren Teilen Wasserstoff zu Wasser verbindet, oder umgekehrt Wasser als eine Zusammensetzung aus zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff definiert. Der Verlauf und die Ergebnisse der bisherigen Sprachwissenschaft haben erwiesen, daß man auch mit den sprachlichen Grundelementen ohne die Möglichkeit ihrer absoluten Definition arbeiten kann. Daher wird auch bei unseren weiteren Ausführungen zum Morphem, Wort und Satz ihr Verhältnis zu den über- und untergeordneten sprachlichen Einheiten eine wichtige Rolle spielen. Indem auch G l e a s o n in der verbesserten Auflage seines Buches 1966 als bestmögliche Definition für das Morphem "the smallest unit which is grammatically pertinent" bzw. "the smallest meaningful unit in the structure of the language" vorschlägt, ergibt sich daraus für ihn die Folgerung, die G r a m m a t i k als das Studium der Morpheme und Morphemverbindungen zu definieren, womit auch er zwangsweise zu einer circular definition, also zu keiner echten und zwingenden Definition gelangt: "Nevertheless, it does serve to point out something significant. As a basic concept, a morpheme cannot be defined beyond some such circular Statement. In place of a definition, therefore, we must merely describe certain features of morphemes and give some general rules for their recognition."27 Die Aufgabe für die strukturalistischen Grammatiker besteht somit in der Beschreibung des Systems der MorphemVerbindungen (s. Anm .215). Soweit sie zur Bildung von Wörtern dienen, werden sie in der Morphologie, sofern sie aber Sätze aufbauen, in der Syntax behandelt.

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Owen Thomas (Anm. 8), pp. 27—28. H. A. Gleason (Anm. 3), pp. 53 und 67.

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Die D e f i n i t i o n d e r G r a m m a t i k durch die Strukturalisten, wie sie von ihnen allgemein verwendet wird, zeigt deutlich die Füllung einer alten Bezeichnung mit neuem Inhalt. Es lassen sich verschiedene Formen und Betrachtungsweisen der grammatischen Darstellung unterscheiden: die p r ä s k r i p t i v e oder vorschreibende Grammatik (prescriptive grammar)16, die Anweisungen für guten und richtigen Sprachgebrauch geben will; die d e s k r i p t i v e oder beschreibende Grammatik (descriptive grammar), die eine Querschnittanalyse des Zustandes einer bestimmten Sprache zu einer bestimmten Zeit geben will; die s t r u k t u r e l l e oder gefügehafte Grammatik (structural grammar), die das System bzw. die Struktur einer Sprache darstellen will; die k o n t r a s t i v e oder gegenüberstellende Grammatik (contrastive grammar), die die grammatischen Strukturen zweier Sprachen vergleicht ("e. g., to see what the differences in structure are and hence what difficulties there will be for native speakers of the one in learning the other" 29 ); die h i s t o r i s c h e oder geschichtliche Grammatik (historical grammar), welche die Entwicklung der Struktur einer Sprache verfolgt; die k o m p a r a t i v e oder vergleichende Grammatik (comparative grammar), die sich mit dem vergleichenden Studium der Geschichte und der Auseinanderentwicklung mehrerer Sprachen oder Dialekte aus einer ursprünglich gemeinsamen Quelle befaßt; und schließlich die T r a n s f o r m a t i o n s - oder Umgestaltungsgrammatik (transformational grammar), die alle in einer Sprache möglichen Sätze beschreiben und erfassen und die unmöglichen aussondern will.30 Oft werden von den Grammatikern verschiedene Ziele und Darstellungsweisen bei der Sprachbeschreibung gekoppelt. 31 Das aus einem Phonem oder gewöhnlich aus einer Folge von zwei bis sechs Phonemen bestehende Morphem ist weder mit dem Wort noch mit der 28

Punya Sloka R a y , Language Standardization. Studies in Prescriptive Linguistics. The Hague - Paris 1963. 29 Robert A. Hall, Introductory Linguistics. Philadelphia — New York 1964, Second Printing 1967, p. 125. 30 R. Zatorski, "Early and Later Versions of the Theory of Transformational Grammar". In: „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Band 20, 1967, S. 259—270. S. 264: "Of the class of possible grammars we selected the transformational grammar as the one most likely to account for this competence [i. e. our ability to generate sentences] because of its concern with our capacity to utter and comprehend previously unheard sentences." 31 Karl V. Teeter in "Language" vol. 39, Baltimore 1963, p. 342: "I thoroughly agree that our ultimate aim should be a truly explicit grammar, which exhibits the structure of a language in the light of the best available general theory of language, and

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Silbe in jedem Falle identisch. Es kann aus einem Teil einer Silbe, aus einer Silbe oder aus mehreren Silben bestehen, und im allgemeinen fallen Morphem- und Silbengrenzen nicht zusammen. Jedes Morphem hat innerhalb jeder Sprache eine bestimmte Anordnung, Verteilung oder D i s t r i b u t i o n (distribution). Unter der Distribution versteht man die Summe aller Kontexte, in welchen ein Morphem auftreten kann im Gegensatz zu den Stellen, wo es nicht steht. In jeder Sprache herrscht ein verschiedenes, geregeltes System der Morphemanordnung. Während in der englischen S y n t a x noch gewisse Variationsmöglichkeiten bestehen, wie John ran away, Away ran John, Away John ran32, die jedoch Bedeutungsnuancen zum Ausdruck bringen, ist die Morphemanordnung in der englischen M o r p h o l o g i e wie in den meisten Sprachen streng geregelt; so auch in unserem auf S. 15f. segmentierten Beispiel unchangeableness, das bei anderer Morphemanordnung wie *unablechangeness, *changeableunness, *changeunableness, *ableunchangeness, *ablechangeunness usw. 33 unverständlich wird. Daraus ergibt sich für die Analyse der menschlichen Rede die Forderung, nicht nur Form und Funktion bzw. Bedeutung der Morpheme, sondern auch ihre Distribution, ihre Anordnung und Verteilung zu untersuchen und Morphemfolgeregeln aufzustellen. Die Distribution eines Morphems ist zugleich auch einer der Schlüssel zu seiner B e d e u t u n g . Unter .Bedeutung' (meaning) wird in etwas erweitertem Sinne des allgemeinen täglichen Begriffes der lexikalischen Bedeutung (lexical meaning) auch die gegenseitige Beziehung zwischen den Morphemen als Teil des Ausdruckssystems der Sprache, der syntaktischen Beziehungsbedeutung oder strukturellen bzw. grammatischen Bedeutung (structural or grammatical meaning)3* und den entsprechenden Einheiten im Inhaltssystem

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is predictive (prescriptive), not simply descriptive.'' Charles F . H o c k e t t , "Two Models of Grammatical Description". In: "Word" vol. 10, 1954, pp. 210—234, reprinted in Martin J o o s (Ed.), Readings in Linguistics. Washington 1957, pp. 386—399. Eugene A. N i d a (Anm. 4), p. 78. Unser früherer Institutsgehilfe gebrauchte ständig die Morphemfolge Unmenschenmöglich, unmenschenwürdig für menschenunmöglich, menschenunwürdig. Im Strafgesetzbuch der DDR vom 12. Januar 1968 findet sich (§ 15) die Morphemanordnung Zurechnungsunfähigkeit statt Unzurechnungsfähigkeit. Stephen U l i m a n n , Semantics. An Introduction to the Science of Meaning. Oxford 1962, repr. 1964, 1967, p. 55: "Other scholars have found it expedient to distinguish between 'lexical' and 'structural meaning' — rather an unfortunate choice of terms since it seems to imply that the vocabulary has no structure; 'lexical' and 'grammatical' meaning would perhaps be preferable."

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derselben Sprache verstanden. I n diesem Sinne haben auch die Funktionswörter ihre spezifische funktionelle Bedeutung (s. S. 37ff.), etwa are und of id 'We are fond of wine', oder with in 'I lunched with him', da o h n e diese in 'We (are) fond (of) wine' oder 'I lunched (with) him' sich kein oder nur ein entstellter Sinn ergeben würde. Häufig ist es kaum möglich, die lexikalische von der grammatischen Bedeutung zu trennen. Nicht allen Morphemen entsprechen besondere Phoneme oder Grapheme, wie die Nullmorpheme (S. 41) und Akzentmorpheme (S. 43 ff.) zeigen: "Amorpheme does not necessarily consist of phonemes, but all morphemes are stateable in terms of phonemes." 35 Bestünden die sprachlichen Äußerungen nur aus Anordnungen und Folgen von Phonemen ohne Gliederung nach Morphemen usw., den ihnen übergeordneten sprachlichen Einheiten, wären sowohl eine sprachliche Verständigung als auch eine sprachliche Analyse unmöglich: "A language is an enormously involved system, and it is quite obvious t h a t any attempt to present directly the set of grammatical phoneme sequences would lead to a grammar so complex that it would be practically useless. For this reason (among others), linguistic description proceeds in terms of a system of 'levels of representations'. Instead of stating the phonemic structure of sentences directly, the linguist sets up such 'higher level' elements as morphemes, and states separately the morphemic structure of sentences and the phonemic structure of morphemes." 3 6 Die Morpheme begegnen in der gesprochenen Sprache sowohl in Form von Wurzelwörtern als auch von Wortbestandteilen, die sich nicht in weitere bedeutungtragende Spracheinheiten aufgliedern lassen: "Hence any unanalysable word or formative is a morpheme." 3 7 Die Morphemanalyse betrifft die Morphologie (Wortbildung und Formenbau) und die Syntax, nicht aber die Phonologie. Zu den etwa ein Prozent in der Rede enthaltenen akustischen Informationsträgern (s. Anm. 11) können wir etwa anlautendes wh- in den englisch-amerikanischen Sprachgebieten rechnen, wo es [hw-] lautet und als solches am Satzbeginn Fragebedeutung hat, wie in why, which, when, where, what, etc.; oder die Phonemverbindungen fl- in flash, flare, flame, flicker, etc. mit der Grundbedeutung 'moving light'; ferner gl- in glow, glare, gleam, 35

H. A. Gleason (Anm. 3), p. 75. Noam Chomsky, Syntactic Structures. The Hague — Paris 1957, 19666, p. 18. 37 Leonard Bloomfield, "A Set of Postulates for the Science of Language". In: "Language" vol. 2,1926, pp. 153—164. Wiederabdruck bei Martin Jo os (Ed.), Readings in Linguistics. The Development of Descriptive Linguistics in America since 1925. Washington 1957, Chicago - London 19664, pp. 26-31 (Zitat p. 27). 38

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gloom, glint, etc. mit der Grundbedeutung 'unmoving light'. 38 Doch umfassen diese und weitere Phonemverbindungen stets nur sehr begrenzte Wortreihen, ihre Bedeutung ist uneinheitlich und unbestimmt, und vor allem stellen sie keine distributionell trennbaren Elemente dar, so daß sie nicht den Morphemstatus erreichen. Nach der Abtrennung (Segmentierung) solcher anlautender submorphemischer Lautverbindungen von vager Bedeutung bleibt ein morphologisches Material ohne jeglichen Sinn und ohne jegliche Bedeutung übrig. Bei der Identifizierung von Morphemen durch Zerlegung, Herauslösung oder S e g m e n t i e r u n g (segmentation) und Vergleichung mit anderen Formen entdeckt man jeweils auswechselbare Muster (patterns) oder Bestandteile (constituents), die unter gleichen syntaktischen Bedingungen im gleichen Kontext auch in anderen Wörtern derselben Sprache mit derselben Bedeutung und Funktion vorkommen: segmental or linear morphemes. Zu ihrer Bestimmung bedarf es also zweier Arbeitsvorgänge: "Morphemics, in turn, also involves two operations. The first of these is the breaking up of forms into their minimal meaningful parts, while the second is the identification of semantically equivalent parts of this order. These two operations are known as segmentation and grouping." 39 Mit anderen Worten: „Es geht bei der Segmentation um die Feststellung der in der Rede unter gleichen syntaktischen Bedingungen (in gleichen Kontexten) wiederkehrenden, ohne Verletzung der sprachlichen Normen umstellbaren, ersetzbaren oder austauschbaren und somit als funktionale Einheit identifizierbaren und als integrierendes Element bestimmbaren Abschnitte und Lautmerkmale, die im Kommunikationsprozeß als Träger semantischer Merkmale zu dienen in der Lage sind. Methodisch am reinsten und strengsten lassen sie sich durch den Vergleich einer sehr großen Menge ähnlicher, aber partiell — eben am auszugrenzenden Stück — verschiedener Äußerungen ermitteln." 40 Betrachten wir nun daraufhin die Wörter farmer und father, so stellen wir fest, daß das erste Wort aus zwei Morphemen, das letzte Wort jedoch nur aus einem Morphem besteht: farm ,Farm' -j- -er .Tätiger, jemand der eine Tätigkeit aus58

Leonard B l o o m f i e l d , Language. New York 1933, London 1935, 1950,1955,1957, u. ö., 1967", p. 245. 89 Floyd G. Lounsbury, "The Method of Descriptive Morphology". In: "Anthropology" No. 48, 1953. Abdruck bei Martin J o o s (s. Anm. 37), p. 379. 40 Werner N e u m a n n , „Eine Hierarchie syntaktischer Einheiten". In: „Deutsch als Fremdsprache", Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer. 4. Jahrgang, Heft 2, S. 6 5 - 7 5 und Heft 3, S. 147-155 (Zitat S. 68). Leipzig 1967.

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übt', entsprechend driver, glover, miller, saddler usw. Man ist intuitiv versucht, auch in father das -er Element als bedeutungtragendes Morphem zu analysieren, da dieses in einer Reihe weiterer Verwandtschaftsnamen wie mother, brother, sister, daughter auftritt; doch dann blieben bedeutungs-, beziehungs- und sinnlose vereinzelte Sprachelemente wie *moth-, *broth-, *sist-, *daught- übrig, die eine solche Segmentierung verbieten. Noch unmöglicher ist eine Segmentation von Wörtern wie hammer, ladder usw. (vgl. S. 56) trotz ihrer äußeren Ähnlichkeit mit den Ableitungen auf -er von Verben (printer, worker), von Ortsbezeichnungen (Berliner, Londoner), von Substantiven und nominalen Wortgruppen (teenager, left-hander). Jedes Wort im Englischen enthält wenigstens ein Morphem. Bei zwei, drei oder mehr Morphemen in einem Wort ist jedes Träger einer Teilbedeutung des Gesamtbegriffs, wobei das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, gerade so wie der Satz gegenüber der Summe seiner Wörter. Ein Wort wie un'changeableness ,Unveränderlichkeit' kann durch Vergleich mit anderen englischen Wörtern, in denen die gleichen Formelemente in gleicher Funktion oder Bedeutung vorkommen, in mehrere Morpheme zerlegt werden: "the analysis must reveal patterns observed in other words of the same language."41 Bei dieser Sprachanalyse gelangt man nach der üblichen Terminologie der Strukturgrammatiker zunächst zu Morphen (morphs), die dann den verschiedenen Arten von Morphemen zugeordnet werden (vgl. auch S. 59o.): "In the process of analyzing a language there might be occasion to use the term morph to designate a structural unit which has not as yet been assigned to any morpheme-, but in the description of a language (as distinct from the procedure of analyzing it) every structural element except features of arrangement is either a morpheme or part of a morpheme."42 Bei jedem einzelnen Segmentierungsschnitt, den wir an einem Wort vornehmen, erhalten wir jeweils zwei konstitutive Komponenten (constituents). Mit Hilfe der Segmentierungstechnik nach der grammatischen Sprachstruktur bei linearer Anordnung und Verbindung der Morpheme ergeben sich dann für unser gewähltes Beispiel un'changeableness folgende Segmentmorpheme (segmental morphemes): 1. S c h n i t t des Substantivs un'changeableness ,Unveränderlichkeit' ergibt das Adjektiv unchangeable .unveränderlich' + -ness ,-keit' als Nominalsuffix (nominalization morpheme) wie in ,una'voidableness .Unvermeidlich41 42

1. V. Arnold (Anm. 23), p. 59. Eugene A. Nida, „The Identification of Morphemes". In: "Language" vol. 24, 1948, pp.414—441. Wiederabdruck bei Martin J o o s (Anm. 37), pp. 255-271 (Zitat p. 258 n. 13).

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keit' zu ¡wna'voidable .unvermeidlich', 'un'friendliness Unfreundlichkeit' zu 'un'friendly ,unfreundlich' usw. 2. S c h n i t t von un'changeable ,unveränderlich' ergibt un- ,un-' als Negationspräfix (negation morpheme) 'changeable .veränderlich'. 3. S c h n i t t von 'changeable .veränderlich' ergibt das verbale Wurzelmorphem (verb root morpheme) change .(ver)ändern' -f- -able ,-lich' als Verbalsuffix (verb derivational morpheme) wie in 'alterable .veränderlich' aus 'alter .verändern' -f- -able ,-lich', be'lievable .glaubhaft (tunbe'lievable .unglaublich') aus be'lieve .glauben' -able .haft, -lieh' usw. 4. S c h n i t t ist nicht mehr möglich, da übrigbleibendes change ,ändern' als lexikalisch-autonomes Morphem oder Wurzelmorphem nicht weiter aufspaltbar oder segmentierbar ist. Das Wort un'changeableness gliedert sich somit in die Morphe bzw. Morpheme un- (gebundenes Morphem), change (freies Morphem), -able (gebundenes Morphem) und -ness (gebundenes Morphem). Zu den freien und gebundenen Morphemen vergleiche man S. 36ff. und S. 40 u. ff. Die Morpheme können auch ohne Kenntnis der Bedeutung ermittelt werden, wie unter anderen auch P i t t man durch Versuche mit seinen Studenten an einer ihnen unbekannten Sprache festgestellt und berichtet hat: "Morpheme boundaries can be found without translation meaning. ... This can be shown by experiment. I have twice tested my students with a Vietnamese text, without translation and without word spaces or other evidence of morpheme boundaries except for spaces at comma and period points. The students, who knew nothing at all about Vietnamese, were instructed to find morpheme boundaries and to identify as primarily grammatical signals those resulting units which showed a high correlation between text frequency and substitution limitation. The extent to which the class succeeded in doing this, in one hour, was astonishing. The text admittedly was nearly all phonemic in its transcription, but it would not have made a great deal of difference if it had been all phonetic."43 Bisweilen empfiehlt sich eine andere Segmentierungstechnik, bei der die Sprachbestandteile nach ihrer Ableitung von bestimmten Grundformen beschrieben werden.44 Bei der Darstellung z. B. des Präteritums und Partizips Perf. vieler unregelmäßiger Verben wie bit zu bite, broke zu break, got zu get, took zu take, sent zu send usw. oder des unregelmäßigen Plurals einiger englischer Substantiva wie feet zu foot, geese zu goose, men zu man, 43 41

R. S. P i t t m a n in "Language" vol. 39, Baltimore 1963, p. 348. Charles F. H o c k e t t , "Two Modela of Grammatical Description". In: "Word" vol. 10, 1954, pp. 2 1 0 - 2 3 4 .

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mice zu mouse usw. sowie der Substantiv-Verb Paare advice - advise, half halve, strife - strive, wreath - wreathe usw. operiert man zweckmäßiger und einfacher mit einer durch Phonemwechsel im Wortstamm bedingten Morphemalternanz (morpheme alternant, or alternative morpheme)*5, wofür auch die Termini portmanteau morpheme,46, discontinuous morpheme17, replacive morpheme48 gebraucht werden. Die ursprünglichen (im Deutschen noch erhaltenen) Umlautplurale feet, geese, men, mice bestehen tatsächlich aus drei Morphemen: (1) den Wurzelmorphemen foot, goose, man, mouse-, (2) den Ersetzungsmorphemen /u/ durch /i:/, /u:/ durch /i:/, /se/ durch /e/, /au/ durch /ai/; (3) den Nullmorphemen (s. S. 42). H a r r i s stellte die Gleichung auf: "The morpheme sequence take plus /ey/ -> /u/ yields took, exactly as walk plus /t/ 49 yields walked. " 4 9 a Wir sind zu einem solchen Verfahren berechtigt, da sich die Morpheme aus Phonemen aufbauen und zwischen der verschiedenartigen morphemischen und phonemischen Sprachstruktur ein enges Wechselverhältnis besteht, "which we would call the morphophonemics of the language" : "Thus took is represented on the morphological level as take -+- past just as walked is represented as walk -j- past."50 In beiden Fällen liegen zwei Morpheme vor. Statt der jüngeren amerikanischen Bezeichnung morphophonemics gebraucht man in der Sowjetunion für die Erforschung des sprachlichen Grenzgebietes zwischen morphology und phonology gewöhnlich die Wortverschmelzung morphonology (russ. Morphonologija). Belenkaya 45

Zellig S. H a r r i s , "Morpheme Alternants in Linguistic Analysis". In: "Language" vol. 18, 1942, pp. 1 6 9 - 1 8 0 . 16 Charles F. H o c k e t t , "Problems of Morphemic Analysis". In: "Language" vol. 23, 1947, p. 333. 47 Zellig S. H a r r i s , "Discontinuous Morphemes". In: "Language" vol. 21, 1945, pp. 1 2 1 - 1 2 7 . 48 Eugene A. N i d a (Anm. 42) p. 263: " . . . we treat noun plurals in English such as men, feet, mice, teeth as occurring with 'replacives' (i.e. replacements which are morphemic). — H. A. G l e a s o n (Anm. 3), p. 74: "We may consider such a difference in phonemes (they are not restricted to nuclei; consider send-, sent) as a special type of morphemic element called a r e p l a c i v e . " 49 Die beiden Schrägstriche / / weisen allgemein auf p h o n e m i s c h e , die eckigen Klammern [ ] allgemein auf p h o n e t i s c h e Transkription, die geschwungenen Klammern { } häufig auf m o r p h e m i s c h e Darstellung hin. 4?a Zellig S. H a r r i s , Methods in Structural Linguistics. Chicago 1951. In späteren Auflagen unter dem Titel Structural Linguistics, Chicago — London erschienen, hier 1963«, p. 167. 60 Noam C h o m s k y (Anm. 36), pp. 32 und 58. 2

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definiert diese wie folgt: "Morphonology is the branch of grammar which deals with the phonemic shape (the phonemic structure) of grammatical morphemes. It is the study of interchange between phonemes viewed as a morphological process." 51 Es lassen sich im Englischen drei Arten der Morphemanordnung unterscheiden: (1) die überwiegende lineare oder additive Anordnung, in welcher die Morpheme in ihrer grammatischen Struktur nebeneinander angeordnet sind, wobei wir unsere oben vorgeführte Segmentierungstechnik anwenden (s. S. 15f.); (2) die gelegentliche alternierende oder replacive Anordnung, in welcher das Wurzelmorphem durch Phonemänderung eine neue Funktion und Bedeutung erhält (was besonders häufig bei den englischen sog. unregelmäßigen Verben der Fall ist), wobei wir unsere zweite Segmentierungstechnik anwenden (siehe oben!); (3) die gemischt linear-alternierende (additive-replacive) Anordnung, in welcher sowohl eine Aneinanderreihung der Morpheme als auch ein Morphemwechsel im Wurzelmorphem zur Geltung kommen, wobei wir beide Segmentierungstechniken anwenden, wie etwa in driven zu drive, spoken zu speak, sought zu seek52 oder thieves zu thief. „Die L i n e a r i t ä t der menschlichen Sprache rührt letzten Endes von ihrem l a u t l i c h e n C h a r a k t e r her: Die lautlichen Äußerungen laufen notwendig in der Zeit ab und werden vom Gehör notwendig als eine Abfolge wahrgenommen. ... Visuelle Kommunikationssysteme wie etwa die Straßenverkehrszeichen sind nicht linear, sondern zweidimensional. Aus der Linearität der Äußerungen erklärt es sich, daß Moneme [ = Morpheme, vgl. S. 34] wie Phoneme aufeinander folgen." 53 Schließlich treten bei dieser rein synchronischen Analyse ganz gelegentlich auch l e e r e M o r p h e m e (empty morphemes)51 auf, die früher einmal v o l l e M o r p h e m e (full morphemes) waren und erst im Laufe der historischen Entwicklung der Phoneme und Morpheme form- und sinnentleert wurden, wie z. B. das -r- in ne. chüd-r-en (vgl. ox-en) aus ae. cild-ru, me. childre -f- -en; 51

V. D. B e l e n k a y a (Anm. 25), p. 17. Bernard Bloch, "English Verb Inflection". In: "Language" vol.23, 1947,pp.399 bis 418. Wiederabdruck bei Martin J o o s (Anm. 37), pp. 243—254. 6S André Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart 1963, S. 24. — Elements of General Linguistics. With a Foreword by L. R. Palmer. London 1964. — Titel der Originalausgabe: Éléments de linguistique générale. Paris 1960. — André Martinet, La linguistique synchronique: études et recherches. Paris 1965. 54 Kenneth L. Pike (Anm. 21), p. 82: "Empty morphemes are sufficiently infrequent in English to make it difficult to find examples which are not open to challenge." 52

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oder hand-i-cap aus me. hand in cap; hand-i-work (neben handwork) aus ae. hand-ge-weorc. Besondere Schwierigkeiten bereitet im Englischen, wie auch in vielen anderen Sprachen, die Segmentation der Wörter vom Typus con'ceive, de'ceive, per'ceive, re'ceive, con'tain, re'duce, re'mote, pro'duce, pro'mote, etc. Bei ihrer Verwendung verspürt jeder unwillkürlich ihre Zweiteiligkeit. Doch sobald man versucht, sie zu segmentieren, ergeben sich Schwierigkeiten. Als ersten Teil erhält man ein abgeschwächtes Präfix con- [kan-], de- [di-], per- [pa-], pro- [pra-], re [ri-] usw.; der zweite Teil weist zwar eine volle Form, aber gleichfalls keine eigene Bedeutung auf. Wir haben hier den ungewöhnlichen Fall einer Verbindung von zwei gebundenen Morphemen (s. S. 41 o.) vor uns. Aus diesem Dilemma versuchen sich die Strukturalisten auf recht unterschiedliche Weise zu ziehen. Die einen sehen in solchen zusammengesetzten gebundenen Morphemen ein Morphem, wie etwa P i k e , der dazu ausführt: "Similarly, if one concludes (because of parallels with conceive, deceive, convict, depict, etc.) that receive contains two morphs re- and -ceive, then in our treatment we would further state that the two morphs are members of a single morphemically-complex morpheme. My personal preference (for semantic and distributional reasons) is to treat receive as a single morph." 55 Noch eindeutiger entscheidet sich T r n k a für die Einmorphemigkeit dieser Art von Wörtern: "Other difficulties with which the morphological analysis encounters are due to foreign elements of words. As far as foreign words are evaluated from the viewpoint of the adopting language, the same principles of morphological analysis must be applied to them as to the native words. Accordingly, the words conceive, deceive, receive in English must be regarded as monomorphemes consisting of two syllables, neither of which is a morpheme charged with meaning, whereas dislike, dismay, dispossess, infirm, insecure, invalid, interact, interfuse, re-copy, re-form, re-mount obviously consist of two morphemes."56 Ganz ähnlich wie T r n k a argumentiert Marchand und gelangt so zu dem gleichen Schluß: "The fact that we can align such formal series as con-tain, de-tain, re-tain; con-ceive, de-ceive, re-ceive does not prove any morphemic character of the formally identical parts as they are not united by a common significate. The preceding words are nothing but monemes. Conceive, receive, deceive are not comparable to syntagmas such as co-author 'joint-author', re-do 'do-again', de-frost 'remove the frost' the correct analysis of which is proved by numerous parallel 66 68

2*

Kenneth L. Pike (Anm. 21), p. 86. Bohumil T r n k a , "Principles of Morphological Analysis". In: "Philologica", Cizojaszyönä. priloha CMF, Roönik IV, Cislo 3, p. 133.

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syntagmas (co-hostess, co-chairman, co-defendant; re-write, re-hash, re-furbish; de-gum, de-husk, de-horn)."57 Einen vermittelnden Standpunkt nimmt E b e 1 i n g ein, indem er die zweiten Bestandteile der zur Diskussion stehenden Wörter im Gegensatz zu den full morphemes als "formal morphemes (or half morphemes), consisting of a form without a directly corresponding meaning" 58 analysiert. Obgleich auch G a r v i n die Schwierigkeiten in der Segmentation der Wörter receive, revert, conceive, convert usw. erkennt und hervorhebt — "neither translation into another language, nor paraphrasing within English yields a consistent piece of meaning for any of these separated forms" 59 —, legt er den beiden sinnentleerten Teilen doch, wie vor ihm Nida, den Status von Morphemen bei. H o c k e t t gelangt schließlich auf Grund der bei diesen Wörtern auftretenden Segmentierungsschwierigkeiten zur Ersetzung des Morphems durch das ,Idiom': "For example, English has many words of the type re'mote, de'mote, pro'mote, re'duce, de'duce, pro'duce, each apparently built of two smaller parts, a prefix re-, de-, pro-, or the like, and a second part '-mote, '-duce, or the like. But the relationships of meaning are tenuous. Grammarians are not in agreement. Some brush aside the semantic difficulties and take each word as two morphemes, following the phonemic shapes; others regard the parallelisms of phonemic shape as unconvincing and take each word as a single morpheme. Similar problems appear in the analysis of almost every language. An obvious practical step is to set the morphemic problem aside, recognizing that each form is an idiom whether it is one or more morphemes."60 Der polnische Anglist F i s i a k löst das hier entstandene morphemische Problem dadurch, daß er den beiden gebundenen Morphemen in allen genannten Wörtern zumindest eine bestimmte Funktion in der sprachlichen Verständigung beimißt, indem sie zur Unterscheidung verschiedener Wörter dienen, z. B. -ceive und -tain in conceive und contain. Er bezeichnet sie daher als wortunterscheidende Morpheme (word-differentiating morphemes) im Gegensatz zu den eigentlichen Morphemen (proper morphemes), die darüber hinaus noch weitere Funktionen haben: "Word-differentiating morphemes are paradigmatically delimited units, which exist owing to their differentiating function. It is obvious that this kind of morpheme differs from cat, -s, -ing, or -er in that the latter are Hans Marchand, The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. Wiesbaden 1960, p. 6. 68 C. L. Ebeling, Linguistic Units. 's-Gravenhage 1960, p. 113. 59 Paul L. Garvin, "On the Relative Tractability of Morphological Data". In: "Word" vol. 13, 1957, pp. 16-17. Charles F. Hockett (Anm. 22), p. 173. 57

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delimited both paradigmatically and syntagmatically, and are form-meaning composites with constant lexicomorphological functions. They may be referred to as proper morphemes."61 Unter,paradigmatisch' wird die gegenseitige sprachliche Abhängigkeit der Elemente innerhalb eines Wortes sowie auch der Wörter innerhalb des Vokabulars verstanden, unter ,syntagmatisch' ihr Verhältnis zum Kontext. Nun bestehen neben den Morphemen auch durch den Einfluß der lautlichen Umgebung bewirkte morphemische Varianten (morphemic alternants) oder A l l o m o r p h e (allomorphs) — gerade so wie es zu den Phonemen die als Allophone bezeichneten Varianten gibt. Ein Allomorph (aus griech. alios- ,anders' + morphe ,Form') ist also die durch seine Stellung im Wort in bestimmter phonologischer Umgebung bedingte formale Variante eines Morphems. Allomorphe werden zu einem Morphem zusammengefaßt, wenn sie die gleiche Bedeutung haben und phonetisch ähnlich sind oder in phonetisch sich gegenseitig ergänzender Verteilung (complementary distribution) auftreten: "Two elements can be considered as the same morpheme if (1) they have some common range of meaning, and (2) they are in complementary distribution conditioned by some phonologic feature." 62 Ihre komplementäre Distribution hängt von der phonologischen Beschaffenheit eines Teiles des Stammorphems, nicht vom Stammorphem als Ganzem ab. So handelt es sich bei den Varianten der Präfix-Morpheme ad-, con-, in(adjoin, consign, indirect), die als am-, com-, im- vor Labialen (ammunition, commutable, impossible), als ar-, cor-, ir- vor r (arrange, correlate, irresolute) und als al-, col-, il- vor I (allocate, collocate, illogical) erscheinen, um Allomorphe, die sich phonetisch durch Assimilation des auslautenden Konsonanten des Stammorphems ergeben. In ähnlicher Weise erscheint das Flexionsmorphem -ed der sog. schwachen Verben im Englischen in dreifacher Gestalt als [-t], [-d] und [-id], etwa in helped, lived und invited, d. h. eine der Möglichkeiten der englischen Präterital- und Partizip PerfectiBildungen geschieht mit Hilfe dreier Flexionsallomorphe. Ebenso bestehen drei Flexionsallomorphe für die gewöhnliche englische Pluralbezeichnung: [-s], [-z] und [-iz], etwa in cats, birds und classes. Diese morphemische Variation der Allomorphe stellt zugleich ein Beispiel für morphemische Homonymie dar. 63 Durch [-s, -z, -iz] werden bekanntlich neben der Pluralfunktion auch die Genitivfunktion (the cat's tail, the bird's feather, the ass's head) und 61 62 63

Jacek F i s i a k , Morphemic Structure of Chaucer's English. Alabama 1965, p. 23. H. A. Gleason (Anm. 3), p. 80. Bohumil T r n k a , "On Morphemic Homonymy". In: „Nadbitka z Prac Filologicznych T. XVIII, Cz. 1, Warszawa 1963, pp. 1 4 9 - 1 5 2

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die dritte Person Sing. Präs. Ind. {he writes, she lies, it rages) realisiert. Die morphemische Homonymie, d. h. der Zusammenfall von Flexionsmorphemen als Folge einer längeren historischen Entwicklung, ist auch im Deutschen häufig. Wie bei der isolierten Endung -(e)s im Englischen kann man z. B. auch nicht aus den isolierten Endungen -e und -en im Deutschen eindeutig auf die von ihnen bezeichnete grammatische Beziehung schließen. Da die Flexionsmorpheme jedoch stets in Verbindung mit einem Stammorphem in einem bestimmten Paradigma stehen, werden ihre Funktion und Bedeutung durch diese Systemzugehörigkeit gekennzeichnet. So werden engl. -(e)s oder deutsch -e(n) auf Grund ihrer Systembestimmtheit jeweils bei ihrem Auftreten in verschiedenen Wortarten verschieden bewertet und richtig verstanden: „Die Fälle des Auftretens in verschiedenen Wortarten sind eigentlich nicht vergleichbar; man könnte sagen, daß es sich eigentlich um verschiedene Morpheme handele, die zufällig oder aus bestimmten historischen Gründen gleichlauten. In zahlreichen Fällen liefert die Sprachgeschichte den Beweis dafür. Es liegt daher Synkretismus vor. Da aber die historisch vorausliegenden Formen Sprechern und Hörern in den seltensten Fällen bewußt sind, können wir damit nicht rechnen, sondern nur mit der Determination durch die jeweilige Systemzugehörigkeit." 64 Von einer Reihe bekannter amerikanischer deskriptiver Linguisten wie H. A. G l e a s o n , Charles F. H o c k e t t , Eugene A. N i d a u. a. werden die Allomorphe einseitig vom rein funktionellen Aspekt betrachtet, so daß für sie nicht nur [-s] in cats, [-z] in birds und [-iz] in classes in unserem dargestellten Sinne Allomorphe sind, sondern darüber hinaus auch formal völlig abweichende pluralische Bezeichnungsmittel wie -en in oxen, der Vokalwechsel in feet zu foot oder das Nullmorphem in (many) deer, sheep, Swine, trout von ihnen als Allomorphe desselben Morphems {allomorphs of the plural morpheme) auf Grund ihrer gleichen grammatischen Funktion angesehen werden: "linguists use the term plural morpheme which, by definition, is the element that, when added to the singular form of a noun, changes that noun into the plural form, whatever it may be." 65 Damit wird jedoch die zugrunde liegende dialektische Einheit von Form und Funktion aufgehoben, diesmal nicht durch Vernachlässigung der Bedeutung, sondern der Form. Die Morpheme werden dadurch zu untauglichen und unangemessenen Abstraktionen, und auch die Bezeichnung Morphem aus griech. morphe ,Form' (!) 64

Werner N e u m a n n , „Zur Struktur des Systems der reinen Kasus im Neuhochdeutschen". In: „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Band 14, Berlin 1961, S. 5 5 - 6 3 . Zitat S. 56f. 65 Owen Thomas (Anm. 8) p. 49.

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erweist sich bei Außerachtlassung der S p r a c h f o r m als sinnlos. Wohin eine solche gewaltsam einseitig semantische Bestimmung der Morpheme letztlich führt, zeigt B e l e n k a y a a n folgenden Beispielen: " I t would be logical, as do some descriptive linguists, to go still further and consider for example the prefixes and suffixes ex-, -ed as allomorphs of the morpheme of past time 'because of their semantic similarity and different distribution'. I t has further been suggested t h a t -ology and science (as in ,biology' — 'life science') could be brought together as allomorphs of a lexical morpheme in the same way." 6 6 Nach unserer oben gegebenen Darstellung des Allomorphs handelt es sich in allen diesen Fällen um verschiedene Morpheme zum Ausdruck der gleichen grammatischen Beziehung und Bedeutung. Ebenso lehnen wir es aus den gleichen Gründen ab, z. B. went als ein gewissermaßen vollständiges reylacive morpheme (s. S. 17) zu go darzustellen: "If the replacement is so extensive as to involve all or virtually all of the phonemes of a form, we speak of suppletion, as in Engl, go (simple form) vs. went (past)." 67 Es liegen hier zwei seit jeher völlig verschiedene Wurzelmorpheme vor, die auch als solche von dem unvoreingenommenen Sprecher empfunden und nur von dem gewaltsam systematisierenden Grammatiker künstlich zusammengeführt werden. Die grammatische Struktur einer Sprache beruht somit nach der Auffassung der Strukturalisten auf den in ihr verwendeten Morphemen und auf deren Anordnung in den Sprachäußerungen, die in ihrem Zusammenwirken gegenseitig ihren Inhalt bestimmen: "Grammar deals with the morphemes and their combinations", heißt es kurz und bündig bei G l e a s o n . 6 8 Bereits B l o o m f i e l d hatte in gleicher Weise erklärt: "The total stock of morphemes in a language is its lexicon". 69 Zu der oben (S. 7) erwähnten ersten amerikanischen Linguistengruppe, die im Anschluß an B l o o m f i e l d die B e d e u t u n g des Morphems als nicht analysierbar außer Betracht lassen, gehören etwa noch G. L. T r a g e r und H . L. S m i t h 7 0 , Z. S. H a r r i s 7 1 , A. A. Hill 7 2 , C. E. B a z e l l 7 3 und einige 66

V. D. Belenkaya (Anm. 25), p. 23. Robert A. Hall (Anm. 29), p. 137. «" H. A. Gleason (Anm. 3), p. 11. 69 Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 162. 70 George L. Trager and Henry L. Smith, An Outline of English Structure. Norman, Okla., 1951. 71 Zellig S. Harris (Anm. 49a). 72 Archibald A. Hill, Introduction to Linguistic Structures. New York 1958. 73 C. E. Bazell, "Meaning and the Morpheme". In: "Word", Journal of the Linguistic Circle of New York, vol. 18, 1962, pp. 132-142. 87

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andere. I n B l o o m f i e l d s berühmter Morphemdefinition — "A linguistic form which bears no partial phonetic-semantic resemblance to any other form, is a simple form or morpheme. Thus, bird, play, dance, cran-, -y, -ing are morphemes. Morphemes may show partial phonetic resemblances, as do, for instance, bird and burr, or even homonymy, as do pear, pair, pare, but this resemblance is purely phonetic and is not paralleled by the meanings" 74 — wird die Bedeutung vom Morphem gelöst und als gesonderte Spracheinheit mit der Bezeichnung S e m e m auf eine andere Sprachebene verlegt: "The meaning of a morpheme is a sememe". 75 Den Begriff ,Semem' für ,Bedeutungsgrundeinheit' hat B l o o m f i e l d ohne ausdrückliche Angabe von N o r e e n übernommen (s. S. 8), der u. a. ausführt, daß „die beiden sehr verschiedenen Sememe Tor .unvernünftig Handelnder' und Tor ,großer Eingang' dasselbe Morphem, d. h. ,homomorph' sind. Das Suffix -chen in dem Worte Tischchen ist ein Semem und gewöhnlich dasselbe wie das Adjektivum Mein in der Verbindung kleiner Tisch. Das Präfix zer- in zerbrechen ist ein Semem und oft dasselbe wie entzwei in entzweibrechen usw." 76 N o r e e n trennt jedoch Form und Bedeutung nicht, wie es auch viele neuere Linguisten nicht mehr tun, wie wir gleich sehen werden. B l o o m f i e l d stellte schließlich die methodisch unzulässige Forderung auf, " t h a t linguistic study must always start from the phonetic form and not from the meaning. Phonetic forms — let us say, for instance, the entire stock of morphemes in a language — can be described in terms of phonemes and their succession, and, on this basis, can be classified or listed in some convenient order, as, for example, alphabetically; the meanings — in our example, the sememes of a language — could be analysed or systematically listed only by a well-nigh omniscient observer." 77 Damit hat B l o o m f i e l d die Bedeutung nicht nur von der Form unzulässigerweise getrennt, sondern sie als wissenschaftlich unanalysierbar und unsystematisierbar zugleich außerhalb der wissenschaftlichen Untersuchung durch den Sprachforscher gestellt. Begründet wurde damit von ihm die bis heute von vielen Strukturalisten vertretene Aufspaltung einer Sprache nach ihrer .Grammatik' und ihrem ,Lexikon'. Wie N e u b e r t ausführt, „sprechen moderne Schulen in der Linguistik wie zum Beispiel der amerikanische Strukturalismus dem Sprachwissenschaftler überhaupt das Recht ab, den Wortbedeutungen — soweit es sich dabei nicht um eine statistisch ermittelte Richtung bestimmter Wortfrequenzen han74 75 76 77

Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 161. Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 162. Adolf Noreen (Anm. 14), S. 200. Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 162.

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delt — irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Das Wort ,Semantik' ist unter vielen Strukturalisten deshalb geradezu verpönt." 7 8 Mit der Trennung von Sprachform und Sprachinhalt wurde die Sprachwissenschaft in zwei voneinander getrennte Forschungsrichtungen aufgespalten, denen jedoch derselbe grundsätzliche Mangel anhaftet: „Der formbesessene Strukturalist oder der die nuanciertesten Gefühlswerte der Wörter heraushörende Semasiologe, die bei aller Verschiedenheit ihrer Methoden und Ziele doch beide primär vom Sprachzeichen ausgehen, seine Form, Verknüpfung und Bedeutung beschreiben, sehen ausdrücklich ab von der Funktion, die die Sprache in der Gesellschaft erfüllt." 7 9 U m B l o o m f i e l d s inkonsequente, merkwürdige und zögernde Haltung zu der wichtigen Frage der B e d e u t u n g in der Sprache richtig zu verstehen, muß man den methodologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt seiner Auffassung vom Wesen der Sprache ergründen. Das ist um so wichtiger, als sein bedeutsames und folgenreiches Buch Language (New York 1933 — London 1935) für die Begründung der strukturalistischen Linguistik in Amerika 80 die gleiche, wenn nicht noch größere Bedeutung h a t t e wie S a u s s u r e s vorausgehendes einflußreiches Werk über die Sprache f ü r die andersgeartete strukturalistische Sprachforschung in Europa. 8 1 Gleich B l o o m f i e l d hatte der berühmte Schweizer Linguist Ferdinand de S a u s s u r e (1857—1913) seine sprachwissenschaftliche Ausbildung in der deutschen junggrammatischen Richtung erhalten, und zwar zwischen 1877 und 1881 an den Universitäten Genf, Leipzig und Berlin. Über die Junggrammatiker hinausgehend, deren Hauptvertreter Hermann P a u l (1846 bis 1921) als einzige Disziplin der Sprachwissenschaft nur die historische

78

Albrecht Neubert, Semantischer Positivismus in den USA. Ein kritischer Beitrag zum Studium der Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft. Halle 1962, S. 6. 79 s. Anmerkung 78. 80 John T. Waterman, Perspectives in Linguistics. Chicago—London 1963, p. 96: "The period from 1933 to about 1950 may appropriately be called the 'Bloomfieldian era' in the history of American linguistic scholarship." 81 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Paris—Lausanne 1916, 19313, repr. Paris 19494, 19555, 1964«. Deutsch von T. H. Lommel, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1931. Englisch von Wade Baskin, A Course in General Linguistics. New York 1959, 1966. — Robert Godei, Les sources manuscrites du Cours de linguistique générale de Saussure. Genève 1957. — Rulon S. Wells, "De Saussure's System of Linguistics". In: "Word" vol. 3,1947, pp. 1—31; Wiederabdruck bei Martin Joos (Anm. 37), pp. 1—18.

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Forschung gelten lassen wollte,82 begründete er die moderne deskriptive Systemforschung, auf der die neueren strukturalistischen Untersuchungsmethoden beruhen. Übrigens waren alle Darstellungen seit den frühesten indischen, griechischen und römischen Grammatikern, darunter auch die bedeutsame Grammatik des Klosters P o r t - R o y a l bei Paris vom Jahre 1660 (s. S. 77), deskriptiver Natur. Als Schöpfer der Termini Synchronie und Diachronie forderte S a u s s u r e eine konsequente Trennung dieser beiden sprachwissenschaftlichen Betrachtungsweisen. Neben und über die von Hermann P a u l als einzig berechtigt propagierte diachronische Linguistik als die Wissenschaft von den zeitlichen (historischen) Veränderungen einer Sprache stellte er die synchronische Linguistik, in der eine Sprache ohne Rücksicht auf die Veränderungen, denen sie naturgemäß im Laufe der Zeit unterliegt, beschrieben und erforscht wird. Nach S a u s s u r e s Auffassung stellt der Zustand einer bestimmten Sprache zu einer bestimmten Zeit immer ein S y s t e m dar, das sich stets in einem gewissen Gleichgewicht befindet: „Die Laute, als Merkmale der Wortgestalt, sind durch ihren Gegensatz zueinander bestimmt, und die Wörter begrenzen sich innerhalb der Bedeutungsfelder gegenseitig. Wenn sich nun irgendwo in diesem System etwas ändert, wird sich das sofort auch an andern Stellen bemerkbar machen und dort Neigung oder Bedürfnis nach Änderung hervorrufen. F. de S a u s s u r e hat dafür das sehr anschauliche Bild einer Schachpartie gebraucht, bei der jeder Zug nicht nur den Platz eines Steines verändert, sondern auch die Bedeutung jedes andern Steines und seiner Stellung auf dem Brett. So macht etwa die Änderung der Satzfügung, die in der regelmäßigen Verwendung von Präpositionen besteht, die Kasusendungen überflüssig, so daß sie als funktionslos aufgegeben werden."83 Der von S a u s s u r e gebrauchte Vergleich des Sprachmechanismus mit dem Schachspiel ist in der sprachwissenschaftlichen Literatur berühmt geworden und begegnet dort immer wieder. Der von ihm erkannte und dargestellte Systemcharakter jeder Sprache und jedes Sprachzustandes, in welchem eine begrenzte Zahl von Sprachelementen aufeinander abgestimmt ist und nach bestimmten Regeln verbunden, ersetzt oder ausgetauscht werden kann, ermöglicht erst 82

83

Hermann P a u l , Prinzipien der Sprachgeschichte. Halle 1880, 19505, 1937, S. 20: „Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, daß ich den Titel Prinzipien der Sprachg e s c h i c h t e gewählt habe. Es ist eingewendet worden, daß es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche. Ich muß das in Abrede stellen." Englische Übersetzung von H. A. Strong, Principles of the History of Language. London 1890. Walter Porzig, Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft. Bern—München 1950, 19572, S. 255f.

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die Wiedergabe einer unbegrenzten Zahl menschlicher Bewußtseinsinhalte sowie die in der modernen Industriegesellschaft nach Inhalt und Umfang stark angewachsene und weiter anwachsende sprachliche Verständigung. Als lebenswichtiges Verkehrsmittel der Menschen untereinander wird jede Sprache den jeweiligen Bedürfnissen der sie Sprechenden angepaßt. Dabei muß sie bei aller unaufhörlichen Veränderung zu jedem Zeitpunkt voll funktionsfähig bleiben. Die neuen wirksameren Sprachelemente, die sich im Laufe der Geschichte jeder Sprache auf jeder Sprachebene an die Seite der alten stellen und sie ganz a l l m ä h l i c h überflügeln, verdrängen und schließlich ihre Stelle einnehmen, sind zugleich die Ursache für die Systemund letztlich Strukturänderung einer Sprache. Der bekannte französische Sprachforscher Antoine M e i l l e t (1866 — 1936) glaubte, daß sich Sprachveränderungen plötzlich und nicht allmählich durchsetzen müßten, weil sonst die menschliche Verständigung behindert würde. Wenn man schon den plötzlichen Übergang von einer alten zu einer neuen Sprachqualität fixieren will, so handelt es sich bei diesem technisch nicht mit Sicherheit zu ermittelnden .Sprung' um den „Zeitpunkt, an dem mehr als 50% der Sprachgemeinschaft die neue Form verwendet (genauer die Minute, in der die neue Form zum erstenmal von der Mehrzahl verwendet wird)." 84 Wie schon R. J a k o b s o n und nach ihm J . V a c h e k dargelegt haben, hat S a u s s u r e den Begriff der Sprache, frz. langue, zu statisch aufgefaßt: „Da nun de Saussure die innere Dynamik der Sprache, ihr immer bestehendes und nie vollkommen befriedigtes Streben nach Gleichgewicht des Systems bei weitem nicht voll gewürdigt hat, so blieb ihm nichts anderes übrig, als die im Verlauf der Zeit und der Sprachentwicklung sich äußernde Dynamik von außen her zu erklären. Deshalb hat der Genfer Forscher einen besonderen Faktor angenommen, die »parole«, die eine Art Vermittler zwischen zwei statisch aufgefaßten Sprachzuständen darstellen soll. Unserer Meinung nach ist die Annahme eines vermittelnden abstrakten Faktors überflüssig: die Veränderungen des Sprachsystems finden inmitten des Sprachsystems selbst statt, und sie werden durch das Streben nach Wiederherstellung des Gleichgewichts im System hervorgerufen. Die Sprechäußerungen spielen dabei auch eine gewisse Rolle, aber nicht die eines dynamischen Vermittlers, sondern eines Laboratoriums, in welchem die Sprache verschiedene Mittel zur Wiederherstellung ihres Gleichgewichts ausprobt." 85 84

85

Georg Friedrich Meier, das Zero-Problem in der Linguistik. "Schriften zur Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Nr. 2, Berlin 1961, S. 61. Josef V a c h e k , „Zum Problem der geschriebenen Sprache". In: „Travaux du Cercle Linguistique de Prague", vol. VIII, 1939, pp. 94—104. Wiederabdruck in Josef

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Leonard B l o o m f i e l d (1887—1949), der „nach Herkunft und Ausbildung ein Mann der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft war, . . . denn die Linie, die sich von Jacob G r i m m zu den Junggrammatikern und B l o o m f i e l d erstreckt, ist unmittelbar und direkt", 86 ergänzte seine wertvollen sprachwissenschaftlichen Ausführungen und Auffassungen leider zu ihrem Nachteil durch die naturwissenschaftlichen Vorstellungen seines amerikanischen Zeitgenossen Albert Paul W e i s s . Das bezeugt er im Gegensatz zu den unzutreffenden gegenteiligen Behauptungen von F r i e s 8 ' und B l o c h 8 8 zu wiederholten Malen ausdrücklich selbst 89 und zitiert dessen Werk 90 auch in der Bibliographie zu seinem Buch Language (1933). Auf W e i s s nimmt B l o o m f i e l d bereits in seinem grundlegenden Aufsatz A Set of Postulates for the Science of Language (1926), den man als "the Charter of contemporary descriptive linguistics" bezeichnet hat, wiederholt Bezug. 91 W e i s s ' Ansicht, daß es die Aufgabe jedes Wissenschaftszweiges sei, seinen Gegenstand auf Proton—Elektron Bewegungen zurückzuführen — "this reduction is the final aim of all scientific investigation" 92 — kehrt bei B l o o m f i e l d in der Form wieder, daß jede wissenschaftlich bedeutungsvolle Feststellung eine Bewegung in Zeit und Raum beinhalte: "any scientifically meaningful statement reports a movement in space and time". Für W e i s s wie für B l o o m f i e l d "the universe of science is a physical universe." 93 Auf W e i s s ' Annahme, daß "the so-called psychical phenomena are merely names that refer to movements so obscure and vague that they cannot be localized and specifically discriminated" 94 , geht auch B l o o m f i e l d s sonderbare Behauptung zurück, daß "mental images, feelings, and the like are merely popular terms for various bodily movements." 9 5 Mit der Ablehnung Vachek (Ed.), A Prague School Reader in Linguistics. Bloomington, USA., 1964, pp. 441-452 (Zitat p. 443). 86 John T. Waterman, Die Linguistik und ihre Perspektiven. Übertragen von Wolf Friederich. München 1966, S. 91. Vgl. die engl. Fassung Anm. 80. 87 Charles Carpenter Fries, "The Bloomfield 'School'". In: "Trends in European and American Linguistics 1930-1960." Utrecht-Antwerpen 1961, pp. 196-224. 88 Bernard Bloch, „Leonard Bloomfield". In: „Language" vol. 25, 1949, p. 89. 89 Vilen V. Belyi, "Some Facts about Weiss's Influence on Bloomfield". In: „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik" 15. Jahrgang, Heft 4, 1967, S. 409—412. 80 Albert Paul Weiss, A Theoretical Basis of Human Behavior. Columbus, Ohio, 19292. 91 Leonard Bloomfield in „Language" vol. 2, 1926, pp. 153—164. Vgl. Anm. 124. 92 Albert P. Weiss (Anm. 90), p. 38. 93 Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 142. 94 Albert P. Weiss (Anm. 90), p. 167. 96 Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 142.

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psychischer Vorgänge, des mentalism, wie er es nennt, führt er in rein mechanistischer Weise — " I believe that mechanism is the necessary form of scientific discourse" 96 — alle Veränderungen im menschlichen Verhalten, einschließlich der Sprache, auf ein sehr komplexes System des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen zurück. Zu der vulgärmaterialistisch-mechanistischen Zurückführung der Sprache auf körperliche Zeit und Raum-Bewegungen bei B l o o m f i e l d gesellt sich im Anschluß an die frühen Vertreter des amerikanischen Behaviorismus wie J . B. W a t s o n , Max M e y e r und vor allem wieder Albert P. W e i s s seine Reduktion von Sprache und Denken auf den Mechanismus von Reiz und Reaktion. Den schädlichen Einfluß der Behavioristen auf B l o o m f i e l d hat die Warschauer Anglistin S c h l a u c h im einzelnen nachgewiesen.97 Im Anschluß daran führte H a n s e n aus: „Die Behavioristen schließen das menschliche Bewußtsein von der Betrachtung aus und beschränken sich auf das, was durch die Erfahrung gegeben und ihrer Meinung nach wirklich faßbar, d. h. einer direkten Beobachtung zugänglich ist, auf das sichtbare äußere Verhalten (overt behavior). ... Das menschliche Verhalten ist milieubedingt und besteht in der Reaktion. Die Tatsache, daß der Mensch auf seine Umwelt einwirkt, sie verändert, hat in dieser Theorie keinen Platz. ... Es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen sprachlichen und außersprachlichen Reizen und Reaktionen." 98 ) Gegen diese Reiz- und ReaktionTheorie des Behaviorismus wendet sich überzeugend unser Berliner Kollege Georg K l a u s : „Die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion ist das, was man in der Kybernetik als Übergangsfunktion bezeichnet. Viele Vertreter des Behaviorismus haben es bei der Analyse dieser Beziehung bewenden lassen und den Organismus selbst als einen black-box (im Sinne der Kybernetik) betrachtet. Tatsächlich ist aber die Reaktion eines Organismus eben nicht nur vom Reiz her verständlich. Organismen und insbesondere Menschen sind dynamische selbstregulierende Systeme. Ihr Wesen besteht ja gerade darin, daß auch Reize recht unterschiedlicher Art und Stärke das innere Milieu des Organismus nicht aus dem Gleichgewicht werfen können. ... Es kann keine Rede davon sein, daß der Mensch etwa durch die äußeren Reize ¡gesteuert' wird. Menschen und höhere Organismen sind kybernetische Systeme mit innerem Modell der Außenwelt. Ihr Verhalten ist keineswegs nur 96 97

98

Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), Preface p. VII. Margaret Schlauch, "Early Behaviorist Psychology and Contemporary Linguistics". In: "Word" vol. 2, 1946, pp. 25ff. Klaus H a n s e n , „Wege und Ziele des Strukturalismus". In: „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik", 6. Jahrgang 1958, S. 341-381 (Zitat S. 360).

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eine Funktion des äußeren Reizes. Auch wenn man die Pawlowsche Theorie des zweiten Signalsystems in diese Betrachtungen einbezieht (wozu die Analyse der sprachlichen Beziehungen gehört), ändert sich an dieser grundsätzlichen Feststellung nichts." 99 Die dargestellte einseitige und falsche Interpretation des Sprachvorganges mit Hilfe mechanischer Reizbewegungen führt B l o o m f i e l d und seine Anhänger zur Überbewertung der äußeren, klanglichen Seite der Sprache und des Sprechens und zur Vernachlässigung der inneren, begrifflichen und bedeutungsmäßigen Seite. Für B l o o m f i e l d ist "the language that is studied by linguistics the noiseyou make with vour face", 100 und so " I t remains for linguists to show in detail, t h a t the Speaker has no ideas, and that the noise is sufficient." 101 Mit aller gebotenen und erfreulichen Entschiedenheit und Klarheit betont dagegen Georg K l a u s : „Für einen Vertreter des dialektischen Materialismus versteht es sich von selbst, daß er die Sprache nicht losgelöst von den Gedanken und die Gedanken nicht losgelöst von der Sprache betrachtet. Eine Analyse sprachlicher Kategorien muß deshalb unseres Erachtens Hand in Hand mit der Untersuchung deren gedanklicher Äquivalente gehen." 102 I n den unter den Menschen ausgetauschten sprachlichen Informationen sieht er „die Einheit von physikalischen Träger (Signal) und Bedeutung (Semantik)." 103 Der mechanistische Positivismus B l o o m f i e l d s und seiner Jünger, welche Sprache und Denken trennen, übertrifft an Einseitigkeit bei weitem die von den , Junggrammatikern' um die Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgestellte These von der mechanischen, lautgesetzlichen Entwicklung ohne Rücksicht auf die Bedeutung. Hermann P a u l hatte seine folgenschwere Theorie immerhin doch wie folgt eingeschränkt: „Auf der einen Seite stehen die Veränderungen, welche die Sprachlaute als Laute erleiden o h n e R ü c k s i c h t auf i h r e B e d e u t u n g , auf der anderen Seite steht der Ersatz gewisser Lautkomplexe durch andere, welcher durch deren B e d e u t u n g veranlaßt ist." 104 Hinter diesem Satz steht P a u l s berühmt

99

100

101 102 103 101

Georg K l a u s , Die Macht des Wortes. Ein erkenntnistheoretiseh-pragmatisches Traktat. Berlin 19652, S. 22f. Leonard B l o o m f i e l d , "Arthur F. Bentley: Linguistic Analysis of Mathematics". In: "Language" vol. 12, 1936, p. 138. Leonard B l o o m f i e l d , "Language or Ideas". In: "Language" vol. 12, 1936, p. 93. Georg K l a u s (Anm. 99), S. 10. Georg K l a u s (Anm. 99), S. 23. Hermann P a u l in seiner negativen Rezension der Schrift von Hugo S c h u c h a r d t , Über die Lautgesetze: Gegen die Junggrammatiker. Berlin 1885 (39 S.) im „Literaturblatt für germ. und roman. Philologie", VII. Jg., 1886, Sp. 5.

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gewordene Unterscheidung zwischen lautgesetzlicher Entwicklung und Analogiebildung. 105 Gefördert wurden die Bevorzugung des sprachlichen Lautmaterials und der gesprochenen Sprache, die Außerachtlassung der sprachlichen Bedeutung und der geschriebenen Sprache (vgl. S. 43) sowie der Antihistorismus bei den amerikanischen Strukturalisten durch ihre Untersuchungen unbekannter Sprachen ohne literarische Tradition und daher von unbekannter historischer Entwicklung. Ihren großen Aufschwung erlebten die amerikanischen Strukturgrammatiker, als sie bei Kriegseintritt der USA 1941 staatlicherseits die Auflage erhielten, neue und wirksamere Methoden und Materialien für die Erlernung von Fremdsprachen auszuarbeiten, besonders von wenig oder noch gar nicht untersuchten Sprachen, für welche noch kaum oder kein Lehrmaterial vorlag. Die bei der Erforschung dieser bislang unbekannten Sprachen und Dialekte verwendeten Techniken und Methoden wurden dann auch auf die Untersuchung des heutigen gesprochenen Englisch oder Amerikanisch und anderer Sprachen mit langer bekannter Geschichte und literarischer Überlieferung angewendet und führten zu den strukturalistischen Untersuchungsmethoden mit ihren Vorzügen und Nachteilen. Da die traditionelle lateinische grammatische Terminologie für die Erforschung und Darstellung der unbekannten Sprachen unbrauchbar war, gab man auch sie hier zu Recht, bei der Untersuchung der indoeuropäischen Literatursprachen jedoch zum großen Teil ungerechtfertigt, auf. Natürlich wußte auch B l o o m f i e l d , daß ein sprachliches Zeichen (vgl. S. 52) nicht nur Geräusch, sondern auch Bedeutung mit sich führt. Doch hinderte ihn seine oben dargestellte methodologische Ausgangsposition daran, Form und Bedeutung als im dialektischen Wechselverhältnis zueinander stehend zu betrachten, so wie es die meisten heutigen Strukturalisten nunmehr in angemessener Weise tun. B l o o m f i e l d s auf der Reiz und Reaktion-Theorie beruhende Koppelung der Sprachform und Sprachbedeutung stellt fälschlich ein direktes und äußerliches pseudo-dialektisches Verhältnis dar, wie aus seinen wiederholten Äußerungen hierzu klar hervorgeht: "We have defined the meaning of a linguistic form as the Situation in which the Speaker Utters it and the response which it calls forth in the hearer". 106 — " B y uttering a linguistic form, a Speaker prompts his hearers 106

Hermann Paul (Anm. 104), Sp. 4—5: „Schuchardt will diese Scheidung überhaupt nicht gelten lassen. Für ihn gibt es keine Kluft zwischen Lautwandel und Analogiewirkung, sondern einen Übergang zwischen beiden. Und doch ist die Grenze so scharf zu ziehen, wie nur irgend in der .Welt." 106 Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 139.

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to respond to a situation; this situation and the responses to it, are the linguistic meaning of the form." 1 0 7 Wie U l l m a n n zu B l o o m f i e l d s sonderbarer Bedeutungskonzeption ausführt, " I t is easy to prove t h a t Bloomfield's conception of meaning ... is untenable. To mention only one or two of its weaknesses, it takes no account of the innumerable cases where the thing referred to is not present at the time of speaking — not to mention statements about abstract phenomena." 1 0 8 Auf Grund seiner behavioristischen Ausgangsposition gab B l o o m f i e l d dem Begriff meaning ,Bedeutung' (vgl. S. 52) in seinem berühmten Buch Language (1933) eine recht gesuchte, seltsame und methodisch unfruchtbare Definition: "When anything apparently unimportant turns out to be closely connected with more important things, we say t h a t it has, after all, a 'meaning'; namely, it 'means' these more important things. Accordingly, we say t h a t speech-utterance, trivial and unimportant in itself, is important because it has a meaning .. .", 109 So führte B l o o m f i e l d im Anschluß an Albert Paul W e i s s , der der Sprache nur den ,biophysikalischen' und den ,biosozialen' Aspekt zuerkannte, den sprachlichen Verständigungsprozeß letztlich auf mechanisch-physikalische Vorgänge im Menschen zurück, indem er ausführt: "Language creates and exemplifies a twofold value of some human actions. I n its b i o p h y s i c a l aspect language consists of sound producing movements and of resultant sound waves and the vibration of the hearer's eardrums." — "The b i o s o c i a l aspect of language consists in the fact t h a t the persons in a community have been trained to produce these sounds in certain situations and to respond to them by appropriate actions." 110 Die Unangemessenheit jeglicher einseitigen mechanistischen Konzeption, in der Struktur und Bedeutung, Form und Funktion, Gestalt und Gehalt künstlich voneinander getrennt werden, die in der Wirklichkeit in einem engen dialektischen Wechselverhältnis stehen 111 — " I t should be borne in mind t h a t the unity of content and expression is dialectical in character" 1 1 2 — 107 108 109 110

111

112

Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 158. Stephen Ullmann (Anm. 34), pp. 59ff. Leonard Bloomfield (Anm. 38), p. 27. Leonard Bloomfield, "Linguistic Aspects of Science". In: "International Encyclopedia of Unified Science", vol. 1, Chicago 1939, p. 8. Wilhelm Horn, Sprachkörper und Sprachfunktion. Leipzig 19232. In: „Palaestra" Band 135. — Martin Lehnert, "The Interrelation between Form and Function in the Development of the English Language". In: „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik" 5. Jg., 1957, S. 43-56. V. D. Belenkaya (Anm. 25), p. 25.

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tritt zumeist in widersprüchlichen Äußerungen ihrer Vertreter deutlich zutage. Um ein Beispiel zu geben: nachdem der bekannte Strukturalist Zellig S. H a r r i s in seinem verbreiteten Buch Structural Linguistics dem Morphem mit rein formalen Kriterien nach B l o o m f i e l d s Vorbild beizukommen suchte, widerspricht er sich selbst, wenn er schließlich ausführt: "Nevertheless, there is in general a close correspondence between the morphemic division which we might establish on a meaning basis and that which results from our distributional criteria. This is so because in general morphemes which differ in meaning will also differ in their environments, if we take sufficiently long environments and enough of them." 113 Die Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit seines Vorhabens, die Sprache unter' Ausschaltung der Bedeutung als ein (unendliches und unfaßbares) System von Beziehungen darzustellen, zeigt sich auch bei seiner Bestimmung dessen, was sprachliche Wiederholung ist: " I n principle, meaning need be involved only to the extent of determining what is repetition. If we know that life and rife are not entirely repetitions of each other, we will then discover that they differ in distribution (and hence [!] in 'meaning')." 114 Man vergleiche auch C h o m s k y s ähnlich widersprüchliche Äußerungen auf S. 80. Die größere Strukturalistengruppe in Amerika und in anderen Teilen der Welt geht, wie gesagt, in methodisch und sachlich angemessener Weise von der dialektischen Einheit von Form (Struktur) und Bedeutung (Funktion) des Morphems aus. Wir führen hierzu noch ein paar weitere Äußerungen bekannter deskriptiver Grammatiker unserer Tage an. Für E b e l i n g ist das Morphem "the smallest unit where sound is associated with meaning", in dem "the semiotic function of language begins to operate." 115 Ebenso betont P i k e die Notwendigkeit, bei jeder linguistischen Untersuchung von Anfang an das unlösliche Wechselverhältnis von Bedeutung und Form zu berücksichtigen: " I n our view, however, we reject b o t h the start from meaning a n d the start from pure form, by insisting on treating language as a formmeaning composite, and by insisting on the necessity of working with both of them from the beginning, and of keeping both of them in our definitions." 116 Auch für G l e a s o n ist "morphemic analysis hardly practical without close attention to the meanings of forms". 117 Für G a r v i n "the first step in morphological analysis ... involves two sets of operatives: separating forms, 113 114 115 116 117

3

Zellig S. Harris (Anm. 49a), p. 189 n. 67. Zellig S. Harris (Anm. 49a), p. 7 n. 4. C. L. E b e l i n g , Linguistic Units. The Hague 1960, p. 111. Kenneth L. Pike (Anm. 21), p. 74. Henry A. Gleason (Anm. 3), p. 77. Morphem

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and identifying the presence of a consistent piece of meaning for each." 118 Die Verbindung formaler und semantischer Kriterien bei der Wortanalyse findet sich bereits bei N i d a , der das ausführlichste Werk über das Morphem geschrieben hat. 119 In seiner einführenden Linguistik warnt denn auch Robert A. H a l l , " t h a t we should not base our descriptions and comparisons of the 'inner form' [ = the grammatical system of a language and the meanings which it expresses] of language either on meaning or on form alone, but on both, starting from formal characteristics and then proceeding to the semantic features which are symbolized thereby." 1 2 0 Diese Form und Inhalt verbindende strukturalistische Richtung scheint inzwischen auf der ganzen Linie gesiegt zu haben, wenn man einer Bemerkung im Schlußwort Roman J a k o b s o n s auf dem überwiegend von amerikanischen Strukturalisten besuchten 9. Internationalen Linguistenkongreß in Cambridge, Massachusetts, 1962 trauen darf, die besagt, daß " t h e tautological proposition t h a t linguistics without meaning is meaningless is no longer viewed as a mentalist aberration. I t is indicative t h a t no one raised his voice to argue in favor of the former mechanistic distributionalism." 121 S t a t t der Bezeichnung M o r p h e m trifft man in der linguistischen Literatur auch öfter die von dem Franzosen M a r t i n e t geprägte Bezeichnung M o n e m (moneme) an. Dem Monem wird gleichfalls „eine doppelseitige Einheit", die Bedeutungs- und die Phonemeinheit, also Funktion und Form, zuerkannt: „Jedem Bedeutungsunterschied entspricht notwendig ein Unterschied der Form an irgendeiner Stelle der Nachricht." 1 2 2 M a r t i n e t unterteilt seine Moneme in L e x e m e ( = unseren lexikalisch-autonomen Morphemen entsprechend, vgl. S. 36) und M o r p h e m e ( = unseren Flexionsmorphemen entsprechend, vgl. S. 41). Er führt dazu aus: „Daraus [d.h., daß einige Moneme mit dem zusammenfallen, was umgangssprachlich als Wort bezeichnet wird] darf man nicht etwa den Schluß ziehen, ,Monem' sei nichts anderes als ein gelehrtes Äquivalent für ,Wort'. Das Wort habe z. B. besteht aus zwei Monemen: hab-, /ha:b/, das ,Besitz' bezeichnet, und -e /e/, das sich auf den Sprechenden bezieht. Herkömmlicherweise unterscheidet man zwischen Monemen wie hab- und -e, indem man das eine ein 118

Paul L. Garvin, "On the Relative Tractability of Morphological Data". In: "Word" vol. 13, 1957, p. 13. 119 Eugene A. Nida (Anm. 4). 120 Robert A. Hall (Anm. 29), p. 129 mit Ergänzung nach p. 127. 121 Horace G. Lunt (Ed.), Proceedings of the Ninth International Congress of Linguists. Cambridge, Mass., August 27—31, 1962. London—The Hague—Paris 1964. Zitat p. 1141. 122 André Martinet (Anm. 53), p. 43.

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Semantem, das andere ein Morphem nennt. Diese Terminologie hat den Nachteil, daß sie den Eindruck erweckt, nur das Semantem habe eine Bedeutung, nicht auch das Morphem; das stimmt aber nicht. Soweit die Unterscheidung von Nutzen ist, würde man besser diejenigen Moneme, die ihren Platz im Wörterbuch und nicht in der Grammatik haben, als einfache L e x e m e bezeichnen und M o r p h e m als Bezeichnung für diejenigen beibehalten, die wie -e in den Grammatiken erscheinen. Es sei erwähnt, daß ein Lexem wie hab- in Wörterbüchern herkömmlicherweise in der Form haben aufgeführt ist, daß man es dort also mit dem Infinitivmorphem -en versehen antrifft." 1 2 3 Wie alle vorausgehenden sprachlichen Gliederungen nach morphologischen Grundeinheiten ist auch M a r t i n e t s Einteilung noch recht unvollkommen und unbefriedigend. Unter Berücksichtigung und Verwertung bereits verstreut vorgenommener morphologischer Einteilungsprinzipien versuchen wir nunmehr eine vollständigere und zweckmäßigere Klassifizierung der Morpheme. Eine Einteilung der Morpheme in übergeordnete Klassen erweist sich auch aus praktischen Gründen zur Darstellung der Grammatik einer Sprache als notwendig, weil die Zahl ihrer einzelnen Morpheme viel zu groß ist, um sie nach ihrer Anordnung oder Verteilung aufzubauen. Die M o r p h e m e lassen sich im Englischen nach ihrem jeweiligen Verhältnis zum W o r t als zu der nächsthöheren sprachlichen Einheit, die sie zum größten Teil als lexikalisch-autonome Morpheme formal bereits selbst darstellen, wie folgt gliedern: MORPHEME*

Freie Morpheme

Gebundene Morpheme

_L

Lexikalischautonome Morpheme

Funktionalsyntagmatische Morpheme

Flexionsmorpheme

I

Endungsmorpheme

Alternationsmorpheme

Nullmorpheme

Akzent Morpheme

_L

DruckakzentMorpheme

TonakzentMorpheme

H

Ableitungsmorpheme

Wortbildungsmorpheme

|

1 Wortunterscheidungsmorpheme

Leere Morpheme

Nullmorpheme

* Eugene A. N i d a (Anm. 42) trifft (p. 269) folgende Morphemeinteilung: „Morphemes may be classified as consisting of (1) segmental phonemes, (2) suprasegmental phonemes, and (3) both kinds together. Morphemes consisting of segmental phonemes are very 123

3*

André Martinet (Anm. 53), S. 24.

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common ... Morphemes consisting entirely of suprasegmental phonemes are less common. One relatively common variety, however, is international pattern. The meaningful units of such patterns constitute morphemes. Thus, in English, the different glides following the last primary stress in a phrase are in meaningful contrast, and are therefore morphemes." In gleicher Weise teilt Nida in seinem späteren Werk (Aiim. 4) auf S. 62 ein: "Morphemes may be composed of (1) segmental phonemes, (2) suprasegmental phonemes, and (3) combinations of segmental and suprasegmental phonemes."

Erläuterungen zum Morphem-Diagramm Die f r e i e n M o r p h e m e (free morphemes) stellen zugleich isolierte, nicht weiter zerlegbare Wörter dar, die für sich allein (frei) stehen können. Bereits 1926 definierte B l o o m f i e l d in diesem Sinne: "A minimum free form is a word. A word is thus a form which may be uttered alone (with meaning) but cannot be analyzed into parts that may (all of them) be uttered alone (with meaning). Thus the word quick cannot be analyzed; the word quickly can be analyzed into quick and -ly, but the latter part cannot be uttered alone; the word writer can be analyzed into write and -er, but the latter cannot be uttered alone." 124 Wir müssen zwischen zwei verschiedenen Arten von freien Morphemen unterscheiden: den l e x i k a l i s c h - a u t o n o m e n oder a u t o s e m a n t i s c h e n (lexico-autonomous

or autosemantic

morphemes)

und den

funktionell-

s y n t a g m a t i s c h e n oder s y n s e m a n t i s c h e n M o r p h e m e n (functionalsyntagmatic

or synsematic

morphemes).

Die l e x i k a l i s c h - a u t o n o m e n oder a u t o s e m a n t i s c h e n Morpheme dienen zur Wiedergabe von Gegenständen, Sachverhalten und Beziehungen der Realität, also sprachexterner Verhältnisse. Sie stellen als Wurzelmorpheme die wichtigsten und bei weitem zahlreichsten morphemischen Kommunikationsvermittler jeder Sprache in jeder Entwicklungsstufe dar. Daraus erklärt sich auch, warum das W o r t seit jeher und von vielen Grammatikern und Lexikologen noch immer als letzte sprachliche Grundeinheit angesehen wird (vgl. S. 45). Das Englische verfügt wegen der im Laufe seiner historischen Entwicklung erfolgten Einsilbigkeit und seiner analytischen Sprachstruktur über viele tausend allgemein gebräuchliche Wurzelmorpheme oder Wortwurzeln. Wie wir gesehen haben (S. 16), lassen 124

Leonard B l o o m f i e l d , "A Set of Postulates for the Science of Language". In: "Language" vol. 2,1926, pp. 153—164. Wiederabdruck bei Martin J o o s (Ed.), Readings in Linguistics: The Development of Descriptive Linguistics in America since 1925. Washington 1957, Chicago-London 19664, pp. 2 6 - 3 1 (Zitat p. 27).

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common ... Morphemes consisting entirely of suprasegmental phonemes are less common. One relatively common variety, however, is international pattern. The meaningful units of such patterns constitute morphemes. Thus, in English, the different glides following the last primary stress in a phrase are in meaningful contrast, and are therefore morphemes." In gleicher Weise teilt Nida in seinem späteren Werk (Aiim. 4) auf S. 62 ein: "Morphemes may be composed of (1) segmental phonemes, (2) suprasegmental phonemes, and (3) combinations of segmental and suprasegmental phonemes."

Erläuterungen zum Morphem-Diagramm Die f r e i e n M o r p h e m e (free morphemes) stellen zugleich isolierte, nicht weiter zerlegbare Wörter dar, die für sich allein (frei) stehen können. Bereits 1926 definierte B l o o m f i e l d in diesem Sinne: "A minimum free form is a word. A word is thus a form which may be uttered alone (with meaning) but cannot be analyzed into parts that may (all of them) be uttered alone (with meaning). Thus the word quick cannot be analyzed; the word quickly can be analyzed into quick and -ly, but the latter part cannot be uttered alone; the word writer can be analyzed into write and -er, but the latter cannot be uttered alone." 124 Wir müssen zwischen zwei verschiedenen Arten von freien Morphemen unterscheiden: den l e x i k a l i s c h - a u t o n o m e n oder a u t o s e m a n t i s c h e n (lexico-autonomous

or autosemantic

morphemes)

und den

funktionell-

s y n t a g m a t i s c h e n oder s y n s e m a n t i s c h e n M o r p h e m e n (functionalsyntagmatic

or synsematic

morphemes).

Die l e x i k a l i s c h - a u t o n o m e n oder a u t o s e m a n t i s c h e n Morpheme dienen zur Wiedergabe von Gegenständen, Sachverhalten und Beziehungen der Realität, also sprachexterner Verhältnisse. Sie stellen als Wurzelmorpheme die wichtigsten und bei weitem zahlreichsten morphemischen Kommunikationsvermittler jeder Sprache in jeder Entwicklungsstufe dar. Daraus erklärt sich auch, warum das W o r t seit jeher und von vielen Grammatikern und Lexikologen noch immer als letzte sprachliche Grundeinheit angesehen wird (vgl. S. 45). Das Englische verfügt wegen der im Laufe seiner historischen Entwicklung erfolgten Einsilbigkeit und seiner analytischen Sprachstruktur über viele tausend allgemein gebräuchliche Wurzelmorpheme oder Wortwurzeln. Wie wir gesehen haben (S. 16), lassen 124

Leonard B l o o m f i e l d , "A Set of Postulates for the Science of Language". In: "Language" vol. 2,1926, pp. 153—164. Wiederabdruck bei Martin J o o s (Ed.), Readings in Linguistics: The Development of Descriptive Linguistics in America since 1925. Washington 1957, Chicago-London 19664, pp. 2 6 - 3 1 (Zitat p. 27).

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sie nach der Abtrennung aller Funktions- und Ableitungssuffixe keine weitere Aufgliederung oder Segmentierung zu und bilden den Grundstock größerer Wortfamilien, z. B. come als Wurzelmorphem zu came, coming, become, income, outcome, come-back usw. oder firm zu firmness, firmament, firmamental, affirm, affirmation, affirmative, confirm, infirm, infirmity usw. Von den lexikalisch-autonomen Morphemen, die im Gegensatz zu den funktionell-syntagmatischen Morphemen innerhalb eines Satzes auch in gewöhnlicher, unemphatischer Rede den Hauptakzent und damit auch als Sprechtakt (s. Anm. 2) die fallende oder steigende Intonation 1 2 5 tragen können, lassen sich unter Zuhilfenahme des Tonakzentmorphems (s. S. 44) und des Kontextes (s. S. 56ff.) Äußerungen (utterances) in Form von ,Einwortsätzen' oder elliptical sentences (s. S. 65) bilden: z. B. I, yes, no, here, mine, why, fine, bad, fire! ( = 'A fire has broken out' oder 'Open fire'!), congratulations! ( = ' I offer you my congratulations'); auch the cat, iron, bread, the book, the table, the window, etc. Bei vielen Substantiven ist nach der grammatischen Regelung im Englischen der Artikel ein notwendiger Begleiter: „Auf der Morphemebene ist die Kombinierbarkeit aber durch die in den Konstituentenstrukturregeln getroffenen Entscheidungen bedingt. Wurde z. B. kein Determinant gewählt, dann kann für das Nomen (im Singular) nicht ein Substantiv wie Buch, Tisch, Fenster gewählt werden: Es heißt Der (ein, mein, dieser ...) Tisch ist rund und nicht *Tisch ist rund. Wurde dagegen ein Determinant gewählt, so darf kein Morphem ich, du, er für das Nomen eingesetzt werden." 126 Die f u n k t i o n e l l - s y n t a g m a t i s c h e n oder s y n s e m a n t i s c h e n M o r p h e m e stellen vorwiegend sprachinterne Beziehungen her. Sie bilden als Funktions- oder Strukturwörter eine zwar zahlenmäßig, jedoch nicht funktionsmäßig weit kleinere, aber sehr häufig verwendete Gruppe. Zu ihr gehören nach F r i e s 1 2 7 154 Funktionswörter (function words), wie die Artikel, Pronomina, Numeralia, Präpositionen, Konjunktionen, Hilfs125

Roland A r n o l d und Klaus H a n s e n , Phonetik der englischen Sprache — Eine Einführung. Leipzig 1965, 19673, p. 136: „Die wichtigste Stelle hinsichtlich der Intonation ist das Sprechtaktende, worunter man die letzte Haupttonsilbe (nucleus) sowie alle ihr noch folgenden Silben (tail) versteht. Seine Bedeutung geht schon aus der Tatsache hervor, daß ein Sprechtakt überhaupt nur auß einem nucleus bestehen kann (Look\), vor allem aber daraus, daß sich primär in ihm die Haupttypen der Intonation [fallende und steigende] unterscheiden." 126 A. V. I s a ö e n k o in "Studia Grammatica" Band V: Syntaktische Studien, S. 7. Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1965. 127 Charles Carpenter P r i e s , The Structure of English. New York 1952, pp. 104ff.

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verben usw., die in einer gewöhnlichen Unterhaltung durchschnittlich bei 1000 Wörtern 7% des Gesamtwortmaterials ausmachen. In diesen Funktionswörtern ist die strukturelle Bedeutung oft kaum von der lexikalischen zu trennen, „da ja auch die sprachinternen Beziehungen einzelsprachliche Modellierungen sprachexterner Verhältnisse sind." 128 Im Gegensatz zum großen offenen Verband der autosemantischen Morpheme ist die relativ kleine Gruppe der synsemantischen Morpheme in sich recht fest geschlossen: Während täglich neue mehr oder minder dauerhafte Wörter in der Sprache auftauchen, gelangen neue Funktionswörter nur selten und dann auch nur über einen größeren Zeitabschnitt in die Sprache. Im Unterschied zu den lexikalisch-autonomen Morphemen sind sie weder erweiterungsfähig, d. h. sie sind unfähig zur Annahme gebundener Morpheme, noch mit Hilfe des Intonationsmorphems zur Wiedergabe selbständiger sprachlicher Äußerungen geeignet. Das letztere ist nur mit Unterstützung weiterer Morpheme möglich. Solche Morpheme, die erst im Morphemverband kommunikativen Wert erhalten, sind etwa my, your, their, the129, has, have, is, as, a(n), of, are, may, through, and130, with, etc. Wie die Beispiele zeigen, beruht der Unterschied zwischen beiden freien Morphemarten nicht auf der herkömmlichen Scheidung zwischen semantisch-phonemisch vollen Begriffswörtern (lexical words) und semantisch-phonemisch abgeschwächten Funktionswörtern (functional words). Wenn auch die abgeschwächten Formen meist in den Funktionswörtern zu finden sind, so gibt es doch auch eine Reihe hierhergehöriger lautlich ungeschwächter Formen, wie my, your, our, their, then, on, though, with, ought, may, might, etc. 131 128 Werner N e u m a n n (Anm. 40), S. 152. 129

Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 179: "The form the, though rarely spoken alone, plays much the same part in our language as the forms this and that, which freely occur as sentences; this parallelism leads us to class the as a word: this thing : that thing : the thing this : that : (the). Dazu bemerkt Hans M a r c h a n d (Anm. 57), p. 1: "It is in the very nature of determiners like the article the to be used in conjunction with the word they determine, so we need not advocate Bloomfield's criterion of parallelism (this thing: that thing: the thing = this-, that: (the)) to establish the word character of the (Language 179)." 130 w i r sehen hier von solchen extremen Fällen ab, wo "an impatient person may interrupt somebody else's words with an isolated 'And?' to speed up the story." Stephen U l l m a n n (Anm. 34), p. 46; vorher Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 179. 131 Bohumil T r n k a , "Autonomous and Syntagmatic Words". In: "Studii siCercetari Lingvistice" vol. XI, Bukarest 1960, pp. 761—763. Editura Academiei Republicii Populäre Romine.

Morphem, Wort und Satz

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Wie man ein Haus im Rohbau aus Steinen und Mörtel aufrichtet, so baut sich das Sprachgebäude aus Begriffswörtern und Funktionswörtern bzw. aus füll words und form words auf, wie sie von vielen englischen. Grammatikern im Anschluß an Henry S w e e t 1 3 2 bezeichnet werden. Diese Zweiteilung geht letzten Endes auf A r i s t o t e l e s zurück und begegnet im Laufe einer langen Geschichte in philosophischen und linguistischen Werken unter verschiedenen Formen und Namen 133 , unter anderen als principals f ü r Wörter mit selbständiger Bedeutung und accessories für Wörter, die nur im Zusammenhang der Rede eine Bedeutung gewinnen, bei dem englischen Sprachphilosophen und Grammatiker James H a r r i s (1709—1780), dessen Abhandlung Hermes 1751 über eine Universalgrammatik zu seiner Zeit sehr gerühmt wurde. 134 Natürlich gehört zum fertigen Sprachgebäude in beiden Fällen noch vieles andere mehr. Wie der Mörtel die Steine, so halten die Funktionswörter die Begriffswörter sinnvoll zusammen; beide stehen in einem engen Wechselverhältnis. Während die ersteren s t r u k t u r e l l e B e d e u t u n g haben (daher eben auch structural words genannt), kommt den letzteren l e x i k a l i s c h e B e d e u t u n g zu (daher lexical words genannt). Die Bedeutung der FunktionsWörter wird besonders deutlich, wenn wir sie in einem beliebigen Satz testweise durch U n s i n n s w ö r t e r (nonsense words) ersetzen, wobei wir die Begriffswörter unverändert lassen. Sofort bricht der Satz zusammen, da die Beziehung der Wörter zueinander zerstört ist. Andererseits wird bei unsinniger Ersetzung der Begriffswörter — das heißt bei Löschung der Bedeutung der Wörter in einem konkreten Satz, jedoch mit Erhaltung der syntaktischen Stuktur des Satzes und der phonologischen Struktur der Wörter — unter unveränderter Beibehaltung der Form- oder Funktionswörter die Satzstruktur erhalten. Der betreffende Satz bewahrt seine typisch englische (bzw. anderssprachige) Struktur und wird auch von jedermann als englisch empfunden, wenn sich auch sein Sinn nicht verstehen, sondern nur erahnen oder erraten läßt. Nur die letztere Verfahrensweise wird von den Verfassern von Unsinnsversen oder Unsinnsprosa angewandt. Als klassisches literarisches Beispiel wird gewöhnlich hierfür eine Strophe aus dem Gedicht „Jabberwocky" von Lewis C a r r o l l , dem Verfasser des berühmtesten englischen Kinder- und Märchenbuches Alice's

132

Henry Sweet, A New English Grammar, Logical and Historical. Oxford 1892 (repr. 1955), vol. I, pp. 22ff. 133 R. H. Robins, Ancient and Mediaeval Grammatioal Theory in Europe with Particular Reference to Modern Linguistic Doctrine. London 1951, pp. 19ff. 134 Otto Funke, Studien zur Geschichte der Sprachphilosophie. Bern 1927, S. 16.

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Adventures in Wonderland (1865) angeführt, wo die kleine Alice nach einem Blick in den Wunderspiegel ausruft: " 'Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe." 135 Die funktionell-syntagmatischen Morpheme haben im Laufe der historischen englischen Sprachentwicklung weitgehend die Funktion der heute nur noch in Resten vorhandenen Flexionsendungen beim Übergang von der synthetischen zur analytischen Sprachstruktur übernommen: "Though they possess some measure of autonomy, they are functionally more akin to inflexions than to full words: their role in the economy of language is that of grammatical tools rather than independent terms. ... I t must not be thought, however, that the boundary between the two categories is absolute and immutable; like most boundaries in language, it can be crossed. ... As the present book is concerned with lexical meaning only, no further attention will be paid to the semantics of form-words." 136 Sie sind für die Grammatik der englischen Sprache von besonderer Bedeutung geworden* Zwischen ihnen und den in unserem Diagramm benachbarten Flexionsmorphemen besteht daher ein enges Wechselverhältnis (the man's: of the man). In ihrer syntagmatischen Funktion treten diese Morpheme gewöhnlich ohne das Druckakzentmorphem auf, was bei den Hilfsverben am, are, is, was, were, has, have, had, do, does, can, could, shall, should, will, would, must zu den oft bis auf einen einzigen Konsonanten reduzierten Morphemen führt, volkssprachlich zum Teil sogar bis zum Nullmorphem, wie in I (have) seen him, wo have als völlig funktionslos häufig ganz unterdrückt wird. Bei Emphase nehmen sie jedoch unter dem Druckakzentmorphem eine semantischphonemische Vollform an. Auch in Verbindung mit schwachtonigem not [nt] werden die Hilfsverben in ihrer Vollform gesprochen, wobei das Adverb not weder in seiner vollen noch in seiner abgeschwächten bzw. kontrahierten Form wie in can't, isn't, hasn't usw. ein Teil des Verbs, sondern ein selbständiges Morphem ist. Die g e b u n d e n e n M o r p h e m e (bound morphemes) sind stets an die freien Morpheme in ihrer lexikalisch-autonomen Form gebunden, d. h. ihre Bedeu135

136

Roger Lancelyn Green (Ed.), The Book of Nonsense. London—New York 1956 u. ö., p. 2. Stephen U l l m a n n (Anm. 34), pp. 47ff.

Morphem, Wort und Satz

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tung kommt erst in Verbindung mit diesen zur Geltung. Der seltene Fall des Zusammentritts zweier gebundener Morpheme liegt in Wörtern vom Typus con'tain, pro'mote, re'ceive usw. vor (s. S. 19). Die gebundenen Morpheme gliedern sich in die F l e x i o n s m o r p h e m e (•inflexional morphemes) und in die A b l e i t u n g s m o r p h e m e (derivational morphemes). Die F l e x i o n s m o r p h e m e werden ihrer grammatischen Funktion wegen auch g r a m m a t i s c h e M o r p h e m e (grammatical morphemes) genannt, da sie zur Herstellung der grammatischen Beziehungen wie Numerus, Kasus, Tempus und Modus dienen. „Die Funktion der verschiedenen flexivischen Elemente im Haushalt der Sprache ist klar. In einer Form wie deutsch wir sangen sind drei Elemente zu einer Einheit zusammengeschlossen: der Stamm (s(a)ng) drückt die Tätigkeit aus, der Ablaut (a statt i oder u) die Zeit, in der diese Tätigkeit erfolgt ist, die Endung (-en, + das Pron. wir) die Person, von der die Tätigkeit ausgeht. Ähnlich steht es beim Nomen, wenn auch hier meist nur zwei Elemente vereinigt sind: patris = patr- als Ausdruck für die Person, -is als Kennzeichen der Beziehung, in der diese Person zu einer andern Person oder zu einem Gegenstand steht. . . . Diese drei (oder zwei) Elemente sind nicht immer gleich dargestellt. Es kann z. B. eines von ihnen dadurch zum Ausdruck kommen, daß es überhaupt fehlt (vgl. die Imperative singt: sing). Vergleichen wir nun zwei verschiedene Sprachstufen, so stellen wir fest, daß die Elemente beweglich sind, ihren Standort wechseln können." 137 Die Flexionsmorpheme bestehen aus den E n d u n g s m o r p h e m e n (inflexional morphemes), den A l t e r n a t i o n s m o r p h e m e n (alternative morphemes) und den N u l l m o r p h e m e n (zero morphemes). N i d a erklärt den in der deskriptiven Linguistik allgemein gebräuchlichen Begriff zero wie folgt: "When the structure of a series of related forms is such that there is a significant absence of a formal feature at some point or points in the series, we may describe such a significant absence as ,zero'. For example, with the. words sheep, trout, elk, salmon, and grouse, there is a significant (meaningful) absence of a plural suffix. We determine that there is an absence because the total structure is such as to make us 'expect' to find a suffix." Doch gleichzeitig spricht er die sehr berechtigte Warnung aus: "One should, however, avoid the indiscriminate use of morphemic zeros. Otherwise,

137

Walther von W a r t b u r g , Einführung in die Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft. Halle 1943, S. 48. 2. Auflage unter Mitwirkung von Stephen Ullmann, Tübingen 1962.

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the description of a language becomes unduly sprinkled with zéros merely for the sake of structural congruence and balance." 138 Die A b l e i t u n g s m o r p h e m e (derivational morphemes), die nach ihrer größten Grappe generell oft auch W o r t b i l d u n g s m o r p h e m e genannt werden, gliedern sich in die e i g e n t l i c h e n W o r t b i l d u n g s m o r p h e m e (word-formative morphemes), die W o r t u n t e r s c h e i d u n g s m o r p h e m e (word-differentiating morphemes), die L e e r m o r p h e m e (empty morphemes) und die N u l l m o r p h e m e (zéro morphemes). Bei den W o r t b i l d u n g s m o r p h e m e n handelt es sich um die Ableitung, um die reihenweise Bildung neuer Wörter mit Hilfe sogenannter Affixe (=Präfixe, Suffixe, Infixe). Die Ableitung spielt im Englischen wie im Deutschen eine enorm wichtige Rolle. Nach den Angaben Mal blancs 1 3 9 baut sich der riesige Wortschatz des Deutschen, besonders in der Bildung seiner zahlreichen abstrakten Wörter, mit Hilfe von Ableitungen aus 2000, in der Umgangssprache sogar nur aus 500 Wortwurzeln auf (z. B. stehen, Stand, bestehen, Bestand, beständig, Beständigkeit, erstehen, verstehen, Verstand, verständig, verständlich, verständigen, Verständigung, Verständnis, Verständnislosigkeit, Umstand, umständlich, Umständlichkeit, gestehen, geständig, Geständnis usw.). Bei den W o r t u n t e r s c h e i d u n g s m o r p h e m e n und bei den L e e r m o r p h e m e n liegen .etymologische Ableitungen' vor, in denen ursprünglich volle Affixe im Verlauf der historischen englischen Sprachentwicklung semantisch-phonemische Abschwächung erfuhren. Die N u l l m o r p h e m e sind bei der Nullableitung (zero-derivation) wirksam, wobei ein Wort ohne Zuhilfenahme eines wortbildenden Morphems, gleichsam mit dem Suffix ,Nuir (zéro suffix), von einem anderen Wort abgeleitet und danach in dessen grammatisches Paradigma eingereiht wird, wie z. B. the rival Subst. zu to rival Verb, must Hilfsverb zu a must Subst., to like and dislike zu his likes and dislikes usw. Bei den Nullmorphemen (Homophonen) von Substantiv und Verb lassen sich drei Klassen unterscheiden: (1) Formen, die sowohl als Substantiv wie als Verb gebraucht werden (fish, walk, run, jump), (2) Formen, die nur als Substantiv auftreten (boy, girl, grass, bee), (3) Formen, die nur als Verb erscheinen (come, see, seem, be).uo Die Nullmorpheme begegnen auch in der englischen Flexion, wo eine Reihe von Substantiven die gleiche Form im Singular und Plural haben (deer, sheep, swine, trout, salmon, Chinese) und die Zeitformen des Verbs oft gleichlauten (eut — eut — eut, 138 139 140

Eugene A. Nida (Anm. 4), p. 46. A. Malblanc, Stylistique comparée du Fançais et de l'Allemand. Paris 1961, p. 119. Eugene A. Nida (Anm. 42), p. 268.

Morphem, Wort und Satz

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hit — hit — hit, put — put — put, usw.): " I n He cut it there is a zero morpheme meaning 'past time' after cut".141 Als lexikalisch-autonome Morpheme wird ihre Bedeutung und Funktion durch den Kontext festgelegt. Wie bei den Wörtern, Syntagmen und Sätzen kann auch bei den Morphemen Bedeutungsschwächung zur Formschwächung und Bedeutungsverlust schließlich zu Formverlust führen. Die A k z e n t m o r p h e m e (accent morphemes) als "the organizing principle of the phonetic whole" 142 spielen auch bei der Morphemgestaltung in der gesprochenen Sprache, von der man ja bei ihrer Bestimmung ausgeht — also bei cupboard von ['kAbed],Schrank', bei forecastle von ['fouksl] Vorderdeck', bei boatswain von ['bousn] neben ['boutswein] ,Hochbootsmann', bei forehead von ['forid] neben ['fo:hed] ,Stirn', bei waistcoat von ['weiskout] neben ['weskat] ,Weste' usw. — eine entscheidenden Rolle. Allerdings ersehen wir aus den letzten und vielen anderen Beispielen, daß es nicht richtig ist, die Bedeutung des S c h r i f t b i l d e s für die Phonem- und Morphemgestaltung gänzlich auszuschalten — "the written form of the language is entirely secondary (in fact, quite irrelevant) so far as the descriptive linguist is concerned" 143 —, da wir sonst den heute überall im Englischen, Deutschen und anderen Sprachen wirksamen Faktor der S c h r i f t b i l d a u s s p r a c h e (spelling-pronunciation) zum Nachteil linguistischer Erhellung des Sprachgeschehens verkennen. Zu Recht betont daher neuerdings auch H a m m a r s t r ö m , daß die geschriebene Sprache nicht eine direkte Kopie der gesprochenen Sprache ist und beide ihren eigenen Regeln folgen: „Vom diachronischen Gesichtspunkt aus ist es vor allem die gesprochene Sprache, die sich .entwickelt' und deren Neuerungen von der geschriebenen Sprache übernommen werden (zum Teil oft mit einer bedeutenden Verspätung). Aber die Schriftsprache lebt gleichzeitig sozusagen ihr eigenes Leben und kann ihrerseits auf die gesprochene Sprache einwirken." 144 Das Englische, wo die Schreibung seit 1400 der stark veränderten Aussprache kaum noch gefolgt ist und wo die Schriftbildaussprachen besonders umfangreich und

141 142

143 144

Zellig S. Harris (Anm. 45), p. 110. Herbert Galt on, "Accent, a Chief Factor in Linguistic Change". In: Eberhard Zwirner und Wolfgang B e t h g e (Eds.), Proceedings of the Fifth International Congress of Phonetic Sciences. Basel-New York 1965, pp. 316-320 (Zitat p. 319). Eugene A. Nida (Anm. 4), p. 1. Göran H a m m a r s t r ö m , Linguistische Einheiten im Rahmen der modernen Sprachwissenschaft. „Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen". Hrsg. von H. Wolter und W. D. K e i d e l , Band5.Berlin—Heidelberg—New York 1966, S. 52, Anm. 120.

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wirksam sind, bietet für diese Aussagen die äugen- und ohrenfälligsten Belege.145 Es lassen sich im wesentlichen zwei Arten von Akzentmorphemen unterscheiden: die D r u c k a k z e n t m o r p h e m e (stress morphemes) und die T o n a k z e n t m o r p h e m e (international morphemes). Beide, Tonstärke und Tonhöhe, wirken als eng miteinander verflochten gleichzeitig. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sprachliche Äußerungen bei falschem Gebrauch der ihnen eigentümlichen Betonung, Intonation und Rhythmisierung durch einen Sprecher schwer- bis unverständlich werden, selbst wenn dieser alle ihre vokalischen und konsonantischen Phoneme richtig produziert. Umgekehrt kann eine sprachliche Äußerung bei richtiger Verwendung der Akzentmorpheme verstanden werden, auch wenn einige Phoneme nicht völlig richtig wiedergegeben werden. Daraus folgt die methodische Forderung für den Fremdsprachenunterricht, die Lernenden so früh wie möglich in die zusammenhängende Rede einzuführen, wofür L a d o das Einprägen von Dialogen der natürlichen, ungezwungenen Alltagssprache empfiehlt. 146 Einige englische Interjektionen wie hm\ eh% ouchl pshaw! werden ausschließlich von der Intonation getragen und verlieren ohne diese jegliche Bedeutung. Durch die D r u c k a k z e n t m o r p h e m e werden Wortarten ('protest Subst.: pro'test Verb) und Wortbedeutungen ('desert ,Wüste' : de'sert .Verdienst', re!cover ,sich erholen' : 're'cover 'to cover again') vermittels des sogenannten Stronems (stroneme aus stress

+

phoneme)

unterschieden, 1 4 7

bei Kontrastbetonung mit Verlagerung des üblichen Akzents ('refer not 'prefer, 'allusion not 'illusion). Ferner werden durch das Druckakzentmorphem syntaktische Wortgruppen von Komposita getrennt ('darJe 'room ,dunkler Raum' : 'dark room .Dunkelkammer'). Eine besondere Art stellt das emphatische Morphem (emphatic morpheme) dar, bei dem das hervorzuhebende Wort oder die hervorgehobenen Wörter einen besonders starken Druckakzent erhalten, so daß alle anderen Wörter im Satze nur schwachbetont auftreten. Unter dem emphatischen Morphem erhalten auch die 145 Wilhelm H o r n und Martin L e h n e r t , Laut und Leben. Englische Lautgeschichte der neueren Zeit (1400-1950). Berlin 1954. II. Band, S. 1212-1235. 144 Robert L a d o , Language Teaching. New York 1964. 147 Im Deutschen spielt dieser wortunterscheidende Akzent im Gegensatz zum Englischen kaum eine Rolle. Elmer H. A n t o n s e n , "Suprasegmentals in German". In: "Language" vol. 42, 1966, pp. 587—601. — Im Englischen scheidet im Gegensatz zum Deutschen der Kehlkopfverschlußlaut (glottal stop) als Kriterium zur Morphembestimmung, als a marker of morpheme-initial position, so gut wie gänzlich aus.

Morphem, Wort und Satz

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Funktionswörter ihre volle Form, was im Druck häufig durch Kursivdruck zum Ausdruck gebracht wird. So ist die Wortbetonung (stress) bei der sprachlichen Verständigung von funktioneller Bedeutung, die sich auch formal auswirkt: "Stress is part of the communication system of many languages. I t is used in the identification of words, their grammatical functions, and contextual prominence, and influences the form and selection of sounds and the form of morphemes." 148 Durch die T o n a k z e n t m o r p h e m e , die eigentlichen Intonationsmorpheme, werden mit Hilfe der Wort- und Satzmelodie die lexikalisch-autonomen Morpheme zu Einwortsätzen und Sprecheinheiten verschiedener Art. Doch damit sind wir bereits über das Morphem hinausgelangt. WTir wenden uns nun der nächsthöheren sprachlichen Einheit, dem W o r t , zu. Von vielen Linguisten in aller Welt wird nach wie vor das W o r t als letzte bzw. erste morphologische Grundeinheit angesehen. So schrieb kürzlich S c h i r m u n s k i (Leningrad): "The word is the basic unit of language" und gab folgende vorläufige Definition des Wortes: "The word is the most concise unit of language which is independent in meaning and form." 149 Mit dieser These setzt er die Auffassung vieler sowjetischer Linguisten fort, etwa auch V i n o g r a d o v s : "The word as a system of forms and meanings is the focus at which the grammatical categories of the language combine and interact." 1 5 0 Die sowjetische Sprachforscherin I. V. A r n o l d beschreibt das Wort im engen Anschluß an M e i l l e t s berühmter Definition — « Un mot est défini par l'association d'un sens donné à un ensemble donné de sons susceptible d'un emploi grammatical donné »151 — wie folgt: "A word is defined by the association of a given meaning with a given group of sounds susceptible of a given grammatical employment", und ergänzt: "We can take this formula together with the statement t h a t the word is the smallest significant unit of a given language, capable of functioning alone." Die beschränkte Zahl von Wörtern, die nicht für sich allein Sinnträger sind und

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150

151

Robert L a d o , Language Testing. London 1961, p. 105. V. M. 2 i r m u n s k i j , "The Word and its Boundaries". In: "Linguistics", An International Review, vol. 27, The Hague 1966, pp. 6 5 - 9 1 (Zitat pp. 65f.). Zitiert nach 2 i r m u n s k i j (Anm. 149), p. 72 n. 19. — Auch 1.1. R e v z i n , Models of Language. Translated from the Russian (1962) by N. F. C. O w e n and A. S. C. R o s s , London 1966, entscheidet sich für das W o r t als 'basic speech unit' (p. 54). Antoine M e i l l e t , Linguistique historique et linguistique générale. Paris 1926, 1948—19522, 2 vols., vol. I, p. 30.

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daher auch nicht Satzfunktion übernehmen können, also unsere synsemantischen Morpheme, läßt sie als quantité négligeable unberücksichtigt: " I t might be objected that such words as articles, conjunctions and a few other words never occur as sentences, but they are not numerous and could be collected into a list of exceptions." 158 Die Definition des Wortes als kleinster bedeutungtragender Redeteil und die Einteilung der Wörter in zwei Kategorien, (1) solche, die für sich stehend eine Bedeutung haben und (2) solche, die zur Bezeichnung grammatischer Verhältnisse dienen, geht letztlich auf A r i s t o t e l e s zurück. In der neuesten sowjetischen Monographie über die linguistischen Grundeinheiten sieht K l i m o v das M o r p h e m als kleinste bedeutungtragende Spracheinheit an. 153 Der Begriff des W o r t e s ist noch ungeklärter und strittiger als der des Morphems: "Any definition of the term [word] and any delineation of its boundaries present great difficulties which can hardly be overcome by the individual efforts of the author of this paper." 154 Das beruht vor allem auch darauf, daß das Wort viele und verschiedenartige Aspekte hat. Als sprachliches Zeichen, d. h. als akustisch-physiologischer Lautkomplex mit einem bestimmten Bedeutungsgehalt, besitzt es eine aus einem Morphem oder einer geregelten Morphemfolge bestehende morphologische Struktur. Es wird in verschiedener Form und in verschiedenen Bedeutungen gebraucht, wobei die überwiegende Zahl der vielfache Bedeutungen tragenden Worter (polysemantic

monosyllables)

einsilbig (monomorph)

ist. Die ersten 1000

häufigsten Wörter des Englischen weisen rund 25000 Bedeutungen auf, so daß jedes dieser Wörter durchschnittlich 25 Bedeutungen hat: " I n general, the more frequent the occurrence of a word, the greater is the variety of

152 153

154

1. V. Arnold (Anm. 23), pp. 26f. G. A. K l i m o v , Phonem und Wort. Zum Problem linguistischer Einheiten. Moskau 1967. (In russischer Sprache.) — In einer kommentierten zweibändigen Anthologie über die Geschichte der Sprachwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert gibt der Lehrstuhlinhaber für allgemeine Sprachwissenschaft an der Moskauer Universität eine Übersicht über die Auffassungen der russischen und sowjetischen repräsentativen Sprachwissenschaftler im Rahmen der internationalen Linguistik auch zu unserer Thematik: V. A. Zvegincev, Istorija jazykoznanija XIX i XX vekov v ocerkax i izvlecenijax. Moskva 1960. V. M. 2irmunski j (Anm. 149), p. 65. In der gleichen Zeitschrift werden daher auf dem Umschlag weitere Abhandlungen zu dieser ungeklärten Frage angekündigt: S. Abraham, On a Recent Attempt at a Formal Definition of the Word. — Jiri K r à m s k y , The Word as a Linguistic Sign. — Robert L. Miller, The Word and its Meaning.

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meanings in which it is used." 155 Die vielen Bedeutungen eines Wortes bewirken einerseits eine Erleichterung für das menschliche Gedächtnis, das mit relativ begrenzten lexikalischen Mitteln eine große Zahl von Gedanken speichern und ausdrücken kann. Andererseits ist damit eine Erschwerung des Verständnisses verbunden, die jedoch in der Mehrzahl der Fälle durch den erklärenden Kontext gemildert oder behoben wird, da das Wort gewöhnlich individueller Teil eines Ganzen ist, es also von der Gesamtbedeutung des Kontextes getragen wird. Als über dem Morphem stehende zweite bedeutungtragende sprachliche Grundeinheit treffen sich im Wort mehrere Ebenen: die p h o n e t i s c h e E b e n e (der Sprechlaut), die p h o n o l o g i s c h e E b e n e (der Sprachlaut), die m o r p h o l o g i s c h e E b e n e (das Morphem), die l e x i k a l i s c h e E b e n e (das Lexem), die s y n t a k t i s c h e E b e n e (das Syntagma) und die s t i l i s t i s c h e E b e n e , während das System der Verkehrssignale vergleichsweise nur e i n e Ebene hat. I n der dargestellten Vielschichtigkeit des Wortes dürfte auch die Ursache zu suchen sein, warum es bislang nicht gelungen ist, den Wortbestand einer Sprache in ein geordnetes System zu bringen: "The word-stock of a language is often claimed to be a system too. But nobody has yet been able to describe the lexical system of a single language." 156 Darüber hinaus gibt es andere Wissenschaftsbereiche wie die Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie, die ihrerseits mit anderen Fragestellungen bezüglich des Sprechens und der Sprache an das Wort herangehen und damit auch zu anderen Interpretationen gelangen. Weil es trotz hunderter bestehender Definitionen des Wortes 157 bisher nicht gelungen ist, eine nach allen Seiten befriedigende Definition zu erreichen, haben viele zeitgenössische languis ten bei ihrer Sprachanalyse diesen seit alters bekannten und gebrauchten Begriff zugunsten des Morphems völlig aufgegeben. So führt etwa P o t t e r aus: "Unlike a phoneme or a syllable, a word is not a linguistic unit a t all. I t is no more t h a n a conventional or arbitrary segment of utterance. We may define it briefly as a minimum free form, consisting of one or more morphemes. A morpheme is a minimum significant or meaningful unit, and it may be either bound or /ree." 158 Zehn J a h r e später schreibt H a l l : "We shall avoid the word [ !] word as much as possible, 155

Michael West, A General Service List of English Words. London—New York 1936, Rev. and Eni. 1953, 1957, 1960, p. XI. 158 V. D. Belenkaya (Anm. 25), p. 17. 157 A. Rosetti, Le Mot. Esquisse d'une théorie générale. Copenhagen-Bucharest 19472. — A. J. B. N. Reichling, Het Woord. Nijmegen 1935. 158 Simeon Potter, Modem Linguistics. London 1957, p. 78.

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preferring to couch our discussion in terms of forms (free and bound) and significant units of form or morphemes. "159 Alle bisher vorgebrachten Argumente g e g e n das Wort vermögen noch viel weniger zu überzeugen, als die Erklärungen f ü r das Wort. Auch die beiden zitierten Linguisten arbeiten wie alle anderen Fachleute und Nichtfachleute erfolgreich mit dem Begriff des Wortes, was durch das Setzen in Anführungszeichen nicht aufgehoben wird: "In our discussion to date, we have normally put the term 'word' in quotation marks." 160 Selbst N i d a gebraucht in seiner grundlegenden Wortanalyse den Begriff des Wortes im traditionellen Sinne ohne Nachteil für seine Ergebnisse: "Morphology is the study of morphemes and their arrangements in forming words. W e are using 'word' in this chapter in the usual traditional sense." 161 Es erscheint uns sehr fragwürdig, mit P o t t e r und anderen anzunehmen, daß es sich bei der Kennzeichnung des Wortes durch Getrenntschreibung um einen rein konventionellen und zufälligen Brauch handele. Wenn auch das orthographische Kriterium beim Wort wie beim Morphem nicht immer zuverlässig ist, hat es sich in der Praxis doch bewährt und bei der maschinellen Übersetzung bisher sogar die brauchbarsten Ergebnisse von allen sprachlichen Grundeinheiten geliefert. Von den Maschinenübersetzern, für die das orthographische Kriterium von ausschlaggebender Bedeutung ist, wird das Wort wie folgt definiert: "a sequence of graphemes which can occur between spaces, or the representation of such a sequence on morphemic level." 162 Neuerdings erwägt auch H a m m a r s t r ö m die Möglichkeit, von der äußeren Kennzeichnung durch eine graphische Pause vor und nach einem Wort zu einer Definition zu gelangen: „Es ist schwierig, dem Begriff ,Wort' eine ausreichende Definition zu geben. Die Schrift bezeichnet in den meisten Sprachen durch Reihen von Buchstaben, die zusammengeschrieben oder zusammengedruckt sind, die Wörter in einer Weise, die mit sehr wenigen Ausnahmen von allen akzeptiert wird. Man könnte deshalb die .gesprochenen Wörter' mit Hilfe der Schrift bestimmen: Alles, was in der Rede einem geschriebenen Wort entspricht, ist ein gesprochenes Wort (wobei vielleicht die eben erwähnten Ausnahmen der Schrift nicht als Kriterien für die Feststellung von gesprochenen Wörtern verwendet werden dürfen. Diese Aus159 160 161 162

Robert A. Hall (Anm. 29), p. 134. Robert A. Hall (Anm. 29), p. 133. Eugene A. Nida (Anm. 4), p. 1. Sidney M. Lamb, "Segmentation". In: "Proceedings of the National Symposium on Machine Translation (held at the University of California, Febr. 2—5, 1960". New York 1961, p. 144.

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nahmen festzustellen ist jedoch eben die Schwierigkeit)." 163 Zur phonemischen Pause bemerkt G. F. M e i e r : „Vor und nach einem Wort muß eine Pause möglich sein. Gewiß ist bei Sprachen mit durchgehender Liaison die Pause oft latent, so daß sie nur durch den Anfang und das Ende der Äußerung offenbar wird. Aber sowohl die Einatmungsgrenze als auch die Äußerimgsgrenze setzen eine fakultative Pause voraus. Das Wort ist somit potentiell isolierbar. Dadurch konnte es auch isoliert notiert und in Vokabularien erfaßt werden. Das Pausenkriterium genügt jedoch nicht, da es bei Kompositionen eine Isolierbarkeit vortäuscht, die jedoch ein zur Einheit gewordenes Wort trennen würde." 164 Das getrenntgeschriebene, äußerlich isoliert erscheinende Wort ist keine sinnlose oder willkürliche Erfindung früherer Menschengeschlechter. Hinter ihm stehen letztlich die gleichen Vorstellungen, wie wir sie bei den lexikalisch-autonomen oder autosemantischen Morphemen dargelegt haben (s. S. 36). Bei den ebenfalls für sich als selbständige Wörter getrennt geschriebenen funktionell-syntagmatischen oder synsemantischen Morphemen, die A r n o l d ausklammern will (s. S. 46 o.), handelt es sich um u r s p r ü n g l i c h gleichfalls autosemantische Morpheme, was auch hier — wie bei den gebundenen Wörtern (S. 55f.) — ein Blick in die geschichtliche Entwicklung (Etymologie) zeigt. So waren die unter den synsemantischen Morphemen (S. 37 u.) als Beispiele angeführten heutigen Funktionswörter ehemals Vollwörter, etwa der unbestimmende Artikel ne. a(n) ,ein', der aus dem adjektivisch gebrauchten und als starkes Adjektiv flektierten ae. Zahlwort an ,eins, allein, einzig, einzeln' hervorgegangen ist; der bestimmende Artikel ne. the, der auf das ursprünglich ae. Demonstrativpronomen se, seo ,dieser, diese' zurückgeht; ne. is, nhd. ist, skr. as-ti, griech. es-ti, lat. est, das ursprünglich ,es ist vorhanden, es existiert' bedeutete wie noch heutiges russ. ecmb; ne. have ,haben', ne. had ,hatte(n)' aus ae. habban 'to hold, take, possess, have', nhd. ,zu eigen haben', me. habbe(n), häve(n), zu lat. capere 'to seize, take'; die ne. Konj. und Adv. though ,obgleich, doch' aus dem Adv. ae. peak, aisl. pö aus *poh, O r r m um 1200pohh ,doch, dennoch'; ne. as ,wie, so, als, während' aus me. also, ae. (e)al-swä ,ganz so, genau so'; ne. and ,und' aus ae. and, zu lat. ante 'in front o f g r i e c h . anti, anta 'opposite, against'; etc. Daß auch die Funktionswörter als kleinste, unabhängige, unteilbare, isolier- und auswechselbare Redeteile, als selbständige Wörter anzusehen sind, zeigt auch 163 184

4

Göran Hammarström (Anm. 144), S. 42. Georg F. Meier, „Kriteria für die Definition des Wortes". In: „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Band 14, Berlin 1961, S. 294-297 (Zitat S. 295). Morphem

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die Tatsache, daß zwischen ihnen und dem folgenden Wort weitere Wörter oder ganze Wortgruppen stehen können: "To preceding the 'infinitive' never has a heavy stress, but it is a word as it can be separated from the verbal stem by an adverb (as in to carefully study), ... we say that the article a is a word as I can interpolate words and groups of words between article and substantive (a nice man, a very nice man, an exceptionally gifted man)."105 Es mögen ein paar weitere zufällig gewählte Beispiele aus einer mir einst zugegangenen kurzen gedruckten alljährlichen Weihnachtsbotschaft 1967 des bekannten englischen Lexikographen Eric P a r t r i d g e folgen: "A Dictionary of Cliches, enlarged and now in its, I think, ninth impression. ... Although more than one 'smiler with the knife under the cloak' has, with a very un-Chaucerian lack of both geniality and a sense of proportion, stabbed at me, I do, I prefer to believe, possess far more friends than enemies: and, in any event, no scholar ... The utmost I'd dream of claiming is that, allowing for time-lags, I have missed few ...". Die überwiegend in der Schwachdruckform gebrauchten Funktionswörter werden, wie bereits gesagt, sämtlich noch durch die neben ihnen gebräuchlichen Starkdruckformen gestützt und am Leben erhalten. Zu beachten ist dabei, daß die veränderten Druck- und Tonakzentmorpheme meist mit anderen grammatischen, lexikalischen und stilistischen Ausdrucksmitteln Hand in Hand gehen: "the meaning of a choice of tone is bound up with other grammatical choices in the utterance." 166 Wie die Sprachgeschichte lehrt, verlieren diese synsemantischen Morpheme ihre Schreibweise als selbständige Wörter erst, wenn sie völlig zu Flexionsmorphemen — auch formal — abgeschwächt und reduziert worden sind, wofür die Präteritalendungen des schwachen germanischen Verbs ein Paradebeispiel liefern.167 Aus alledem geht hervor, daß unsere Ahnen auch in linguistischer Hinsicht keinesfalls so ahnungslos bei der äußeren Kennzeichnung des Wortes waren, wie viele heutige Linguisten glauben. Das Wort hat als selbständige linguistische Einheit weiterhin die typische Eigenschaft und Funktion, Oppositionen zu anderen Wörtern herzustellen: "The identity of the word is given by its having the same opposable meaning and the same phonological structure in the same phonological environment in a sentence. Thus the nouns head and hand, car and carpet 165 166

187

Hans Marchand (Anm. 57), p. 1. M. A. K. H a l l i d a y , Intonation and Grammar in British English. The H a g u e Paris 1967, p. 30. Martin Lehnert (Anm. I l l ) , S. 50.

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are different words, just as the verbs shut and close, end and finish, each of them differing in both phonological structure and opposable meaning." 168 Darüber hinaus hat das Wort die Doppelfunktion, die Gegenstände und Erscheinungen der Wirklichkeit sowohl zu bezeichnen als auch zu verallgemeinern. Diese einführenden Betrachtungen dürften gezeigt haben, daß es nach wie vor durchaus sinnvoll und zweckdienlich ist, den Begriff des W o r t e s als eine über dem Morphem stehende und Morphem und Satz verbindende linguistische Einheit beizubehalten. Den Übergang vom Morphem zum Wort und gleichzeitig zum ungegliederten Einwortsatz bilden also die freien Morpheme, und zwar in Gestalt der in der Sprache bei weitem überwiegenden Gruppe der lexikalisch-autonomen Morpheme, während die relativ kleine Gruppe der funktionalsyntagmatischen Morpheme inhaltlich und formal aus ursprünglich selbständigen Bedeutungswörtern zu unselbständigen Funktionswörtern abgeschwächt worden ist und auch weiterhin abgeschwächt wird. Wir gelangen, somit zu folgender A r b e i t s d e f i n i t i o n d e s W o r t e s : Das Wort stellt als kleinster, selbständig funktionierender, isolier-, umstellund vertauschbarer Redeteil eine dialektische, morphologisch oder morphemisch gestaltete untrennbare lexikalische Einheit eines Lautkörpers oder einer phonetischen Form mit einer Bedeutung oder Funktion dar, die vor und hinter sich eine graphemische und phonemische Pause zuläßt und sich in die höheren linguistischen Einheiten des Syntagmas und des Satzes g r a m m a t i s c h sinn- und beziehungsvoll einordnet. Abgesehen von der kleinen Gruppe der Funktions- oder Strukturwörter können von allen anderen Wörtern unter Zuhilfenahme der Intonation und des Kontextes Einwortsätze gebildet werden. 169 Mit dieser Definition haben wir auch beim Wort die dialektische Einheit von Wortgestaltung (Form) und Wortbedeutung (Inhalt) hergestellt; denn die Lautform eines Wortes kann nicht ohne Bedeutung und die ideelle Bedeutung nicht ohne materielle lautliche Gestalt oder Form existieren: „Der Inhalt, die Bedeutung, ist geformt und die Form, die Lautgestalt, ist inhaltsvoll." 170 Unter der B e d e u t u n g oder F u n k t i o n — in der Bedeutung schließen wir die Funktion und umgekehrt in der Funktion auch die Bedeutung ein — 168

Bohumil T r n k a (Anm. 56), p. 131. 16» "The definition of a word as a minimal realization of a sentence or utterance (cf. Who? Charles? Oone? Come! Precisely!)." Bohumil T r n k a (wie Anm. 168). 170 M. M. R o s e n t a l und G. M. S c h t r a k s (Eds.), Kategorien der materialistischen Dialektik. Übers, von U. K u h i r t . Berlin i960 2 , S. 244. - Wilhelm S c h m i d t , Lexikalische und aktuelle Bedeutung. Berlin 1963, 1966 3 , S. 13. 4»

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verstehen wir sowohl die mit einer Sprachform verknüpfte Vorstellung oder Bedeutung als auch den Gebrauch einer Sprachform in ihrer Beziehung zum K o n t e x t : "The word as a pure structural element of language is devoid of meaning, but it is always capable of being the carrier of what may be called 'meaning function'." 1 7 1 Zwischen der Lautgestaltung eines Wortes und seiner Bedeutung besteht, wie gesagt, ein enges Wechselverhältnis: "There is a reciprocal and reversible relationship between name and sense: if one hears the word one will think of the thing, and if one thinks of the thing one will say the word. I t is this reciprocal and reversible relationship between sound and sense which I propose to call the 'meaning' of the word." 172 Während sich in der S p r a c h e (engl, language, frz. langue) ein Wort oder besser gesagt ein sprachliches Zeichen auf eine Abstraktion, auf den Gesamtbegriff und somit auf eine Vielzahl des Gemeinten {book, eye, picture, tree, etc.) bezieht, steht das sprachliche Zeichen in der R e d e (engl, speech, frz. parole) f ü r eine konkrete Bedeutung, für einen Einzelbegriff und bringt — abgesehen von beabsichtigter vielfacher Bedeutung — nur ein einziges Gemeintes, also ein außersprachliches Element zum Ausdruck. U l l m a n n verwendet für diese Dreiheit von (1) Wortkörper oder Wortbezeichnung, (2) Wortbedeutung oder Wortfunktion, (3) Wortgegenstand oder Wortsache die drei gewöhnlichen englischen Bezeichnungen (1) name, (2) sense, (3) thing, die er etwas präzisiert: "The 'name' is the phonetic shape of the word ... The 'sense' is 'the information which the name conveys to the hearer', whereas the 'thing' is the non-linguistic feature or event we are talking about. The latter, as we have seen, lies outside the linguist's province." 173 Der Lautkörper eines Wortes bezeichnet bzw. verweist also auf abstrahierte Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit, spiegelt sie aber nicht wider. Würden die Wörter die objektiv existierende Wirklichkeit unmittelbar widerspiegeln, müßten für die gleichen Gegenstände und Erscheinungen in a l l e n Sprachen auch die gleichen Lautgebilde bestehen bzw. einmal bestanden haben, was bekanntlich nicht der Fall ist, z. B. ne. sky, heaven, nhd. Himmel, frz. ciel, russ. njebo, usw.; oder ne. quick, fast rapid, nhd. schnell, rasch, eilig, frz. rapide, prompt, Adv. vite, ital. celere, Interj. presto, span. ligero, Interj. vamos, rumän. iute, Adv. repede, degrabä, ungar. gyors, sebes, hamar, hirtelen, russ. skoryij, bystryij, usw. Die Wörter sind historisch 171

Bohumil Trnka, "Words, Semantemes, and Sememes". In: "Festschrift to honor Roman Jakobson". Essays on the Occasion of his 70th Birthday. The Hague— Paris 1967, p. 2051. 172 Stephen Ullmann (Anm. 34), p. 57. 1,3 s. Anmerkung 172.

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gewachsene, konventionelle sprachliche Zeichen, die teils noch motiviert, teils nicht mehr motiviert und meistenteils nicht motiviert sind. Ihre M o t i v i e r u n g kann p h o n e t i s c h e r ( l a u t m a l e n d e r ) A r t sein, wie in ne. bang, bow-wow (wow-wow), buzz, Crash, cuckoo, dash, Mss, whisper, etc.; sie kann m o r p h o l o g i s c h e r A r t sein, wie in ne. addressee, hosen, mistrust, prepay, re-elect, terrorize, etc., wobei die einzelnen Morpheme selbst nicht motiviert sind; sie kann schließlich s e m a n t i s c h e r A r t sein, wie in ne. blade, figure, head, Tieart, line, run, etc., die sowohl in direktem als auch in übertragenem (metaphorischem) Sinne gebraucht werden und im direkten Bezug gleichfalls nicht motiviert sind. Viele heute nicht mehr motivierte Wörter haben ihre Motivierung erst im Laufe der Sprachentwicklung verloren, etwa ne. gipsy aus lat. Aegyptius ,Ägypter' (die Zigeuner sind über Ägypten aus Indien gekommen), ne. lord aus ae. hläford aus german. *hlaib- ,loaf' + *ward ,ward(en)', ,Laib(Brot)wart', ne. ivindow aus an. vindauga ,Windauge' (vgl. got. augadauro .Fenster', eig. ,Augentor'). Das Verhältnis der motivierten Wörter zu den unmotivierten Wörtern ist dem Verhältnis von S y m b o l (symbol) und Z e i c h e n (sign) vergleichbar. Die S p r a c h e als überindividuelles, objektives und kollektives System besteht vorwiegend aus konventionellen Zeichen (in Form von Wörtern), die in der R e d e als individuelle, subjektive Auswertung und Anwendung stets nur zum kleinen Teil in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Zwischen der S p r a c h e als ein großes vorrätiges Ganzes und der R e d e als ein davon jeweils aktivierter und aktualisierter kleiner Teil besteht ebenfalls ein Wechselverhältnis. Dem formalen sprachlichen Zeichen- oder Sprachkörper entspricht jeweils eine bestimmte inhaltliche Zeichen- oder Sprachfunktion (Bedeutung). Zwischen Sprachkörper und Sprachfunktion besteht ein enges Wechselverhältnis. 174 Sowohl der Sprecher als auch der Hörer haben normalerweise bereits in frühester Kindheit einen mehr oder minder großen Vorrat an sprachlichen Zeichenkörpern und den mit ihnen verbundenen Zeichensinnen erworben und im Laufe ihres weiteren Lebens erweitert. Während des Kommunikationsprozesses werden die in der überwiegenden Mehrheit unmotivierten Zeichenkörper, die trotz ihrer äußeren Verschiedenheit in den verschiedenen Sprachen gleich gut funktionieren, vom Sprecher zum Hörer materiell durch Schallwellen übertragen. Die Kommunikationspartner setzen die Zeichenkörper in Zeichensinne und vica versa um, wobei der Weg beim Sprechenden vom Zeichensinn zum Zeichenkörper führt, also von innen nach außen, beim Hörer umgekehrt vom Zeichenkörper zum Zeichensinn, also von außen nach innen: „Zwischen den Individuen, die einer 171

Vgl. Anm. 111.

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Sprachgemeinschaft angehören, besteht oder entsteht eine Art Durchschnittswert für jedes sprachliche Zeichen. Die gleichen Zeichen werden, wenigstens annähernd, mit den gleichen Begriffen verbunden, von allen Individuen gleich wiedergegeben."175 Unsere bisher gemachten Ausführungen über das Wort gelten natürlich nicht für alle, zum Teil recht verschieden strukturierte Sprachen der Welt. 176 Wie zum Phonem die Variante des A l l o p l i o n s und zum Morphem die Variante des A l l o m o r p h s besteht, so gibt es auch zum Wort eine AlloVariante, die A l l o f o r m (alioform). Es handelt sich hierbei um viele Tausende englischer Wörter mit zu [-9] abgeschwächtem auslautendem -r Graphem, das in der Aussprache im Wortverband vor vokalisch anlautendem Folgewort restauriert wird, da r im heutigen Englisch nur noch vor Vokal, und zwar auch im Wortverband, gesprochen wird. Damit erhalten wir in zahlreichen Fällen jeweils zwei Aussprachevarianten für ein Wort, wie [fa:] und [fa:r] in ne. far from und far of, die bei Daniel J o n e s mit einem Sternchen am Ende der Transkription des betreffenden Wortes gekennzeichnet sind: fa:* 177 . Diese Doppelformen haben sich auch auf andere als auf das r-Graphem ausgehende Wörter ausgebreitet: the idea-r-of it, law-r-and order, china-r-and-glass usw. Da es sich jedoch wie beim Allomorph auch hier nur um eine irrelevante, durch eine bestimmte phonemische Umgebung bedingte phonemische Veränderung handelt, die in anderer phonemischer Umgebung nicht eintritt — die Mehrzahl der englischen Wörter lautet konsonantisch an —, sind beide Varianten als zum gleichen Wort gehörig einheitlich aufzufassen. Wie für die Morpheme (S. 35) stellen wir nunmehr auch für die W ö r t e r ein Diagramm auf. Erläuterungen zum Wort-Diagramm Die f r e i e n W ö r t e r (free stems) bestehen entweder aus unteilbaren Grundoder Wurzelwörtern (root words) bzw. aus einfachen Morphemen (monomorphemes) oder werden aus mehrmorphemigen Wörtern (polymorphemes) 176 174

177

W. von Wartburg (Anm. 137), S. 5. L. V. Söerba, Current Problems of Linguistics. Leningrad 1958, p. 9: "What is a 'word'? I think the answer will be different for different languages. It follows that the concept of the 'word as such' is non-existent." Zitiert nach 2irmunskij (Anm. 149), p. 2 n. 4. Daniel Jones, Everyman's English Pronouncing Dictionary. London—New York 196312, p. LX: "* at the end of a word means that « r » is generally inserted when a word beginning with a vowel follows." Vgl. jetzt die 13. Ausgabe 1967, p. XXVIII: Meaning of *.

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WÖRTER Gebundene Wörter

Freie Wörter Einfache ZusammenStämme gesetzte Stämme

KopulativKomposita

Anfangsgebundene Stämme

DeterminativKomposita

Wörter im Kontext

Endgebundene Stämme

Im innersprachl. Kontext

Im außerspraehl. Kontext

Im Im lexikal.- syntakt.semanti- funktioschen nalen Kontext Kontext

In der Sprechsituation

In der Sprachsituation

durch entsprechende Segmentation in einfache Wurzelmorpheme, die mit selbständigen Wörtern homonym sind, aufgelöst ('kind'heartedness in kind und heart). Sie lassen sich in e i n f a c h e und z u s a m m e n g e s e t z t e S t ä m m e untergliedern, wobei die ersteren aus einem Stamm, die letzteren aus zwei oder mehr Stämmen bestehen und Zusammensetzungen oder Komposita (Compounds) ergeben. I n einem Kompositum verbinden sich zwei Wörter zu einem neuen Wort, in dem das Ganze wiederum mehr ist als die Summe seiner Teile. Auf Grund des semantisch-syntaktischen Verhältnisses zweier Wörter in einer Zusammensetzung bilden sie mit Nebenordnung Kopulativkomposita ('actor-'manager), mit Unterordnung Determinativkomposita ('stage-manager). Die letzteren Zusammensetzungen, in denen das Bestimmungswort dem Grundwort untergeordnet ist, sind für das Englische typisch und weit häufiger als die ersteren, deren Komponenten in einem additionellen oder appositionellen Verhältnis zueinander stehen. Die Determinativkomposita lassen sich hinsichtlich des Verhältnisses ihrer beiden Komponenten zur Bedeutung und Funktion des Ganzen noch weiter in endozentrische('screw>head) und exozentrische ('egghead) einteilen, indem „man nicht nur nach der Beziehung der beiden Komponenten zueinander, sondern auch nach ihrer Beziehung zum Ganzen, zur Bedeutung und Funktion des Kompositums insgesamt fragt". 178 Die g e b u n d e n e n W ö r t e r (bound stems) ergeben bei der Segmentation keine Wurzelwörter bzw. keine einfachen Morpheme, die mit einem unge r bundenen, selbständigen, freien Wort übereinstimmen oder die Funktion eines solchen ausüben könnten. Diese gebundenen Wortstämme lassen sich 178

Klaus H a n s e n , Abriß der modernenglischen Wortbildung. Potsdam 1964 (Lehrbrief für das Studium der Lehrer), S. 21. — Hans Marchand (Anm. 57), pp. 21—45: Compound Endocentric Substantives — Compound Exocentric Substantives.

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in anfangsgebundene (pre-bound) und endgebundene (post-bound) Stämme einteilen. I n beiden Fällen liegen wie bei den gebundenen Morphemen (S. 40 u.) ,etymologische Ableitungen' aus verschiedenen Zeiten und Sprachen vor, die im Laufe einer langen Sprachentwicklung durch Bedeutungsschwächung auch Formschwächungen aller Art erfahren haben, so daß ihre ursprünglich vollen Morpheme heute oft nicht mehr erkenn- und segmentierbar sind. Hierunter fallen besonders die Lehnwörter, die vor ihrer Übernahme ins Englische bereits eine lange historische Entwicklung hinter sich haben. Aber auch einheimische Wörter gehören hierher. Beispiele für anfangsgebundene Stämme sind etwa die fremden Wörter ad'here ,anhaften', con'trol .kontrollieren', dis'tort .verdrehen', main'tain aufrechterhalten', res'pond ,erwidern', sub'mit ,unterwerfen', trans'fer .übergeben', trans'late .übersetzen'. Beispiele für endgebundene Stämme sind etwa die fremden Wörter 'courage ,Mut', 'legible .leserlich', 'marshal .Marschall', 'tolerable ,erträglich', 'violence .Gewalt', oder die heimischen Wörter 'badger ,Dachs', 'hammer ¡Hammer', 'ladder .Leiter', 'spider ,Spinne', 'weapon ,Waffe'. I n allen Fällen hat der segmentierte Stamm -here, -trol, -fort, -tain, -spond, -mit, -fer, -late — cour-, kg-, mar-, toler-, viol-; badg-, hamm-, ladd-, spid-, weap- keinen selbständigen Sinn und wird nicht durch daneben bestehende gleiche oder verwandte Wörter gestützt. Daß es sich bei diesen heute unselbständigen Stämmen um ehemals selbständige Wurzelmorpheme handelt, ergibt ein Blick in ihre Geschichte (Etymologie) 179 , z. B. bei ad'here aus lat. ad-haerere; con'trol aus frz. contröle aus älterem frz. conterolle .Gegenrolle' aus lat. contra ,gegen' -f- rotulus .Rolle'; main'tain aus altfrz. maintenir aus lat. manu tenere 'to hold in the hand'; der erste Teil des ne. main'tain ist heute bereits auf dem Wege, zum wortunterscheidenden Morphem (s. S. 20) zu werden, wie seine Aussprache [men'tein] neben [mein'tein] und seine Opposition zu con'tain, de'tain, per'tain, re'tain usw. zeigen; hammer aus ae. hamor, as. hamur, ahd. hamar, an. hamar-r aus german. *ham-r-az mit dem Wortbildungsmorphem -r- wie in thunder usw., ein Wort, das in das Steinzeitalter zurückgeht, wie sanskr. asman ,(Meteor)Stein', altslav. kameni, lit. akmu .Stein' und die noch im Altnordischen bewahrte alte Bedeutung ,Stein, Fels' beweisen. Bei den W ö r t e r n i m K o n t e x t legt der erklärende Kontext (defining context) deren genauere Bedeutung und Funktion fest. E r ist von größter Bedeutung für jegliches Sprachverständnis und bedarf noch eingehender 179 "A good etymological dictionary will not only help you to identify morphemes but will also give you some information about their sources." Owen Thomas (Anm. 8). p. 72.

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Untersuchungen : « le contexte — ce phénomène essentiel pour le problème du langage — est resté, au fond, inétudié et n'est pas encore suffisamment défini ».180 Der erklärende Kontext kann i n n e r s p r a c h l i c h e r (intra-linguistic) und a u ß e r s p r a c h l i c h e r (extra-linguistic) Natur sein. Beim i n n e r s p r a c h l i c h e n K o n t e x t können wir zwischen l e x i k a l i s c h s e m a n t i s c h e m (lexico-semantic) und s y n t a k t i s c h - f u n k t i o n a l e m (syntactic-functional) K o n t e x t unterscheiden, obgleich lexikalische und syntaktische Kontexteinflüsse oft gleichzeitig und obendrein unter Einwirkung des außersprachlichen Kontextes, der Sprechsituation, auftreten. „Unter dem sprachlichen Kontext verstehen wir somit die lexischen und grammatischen Faktoren, die im Redezusammenhang die lexisch-semantischen Varianten eines Wortes aktualisieren." 181 Im Anschluß an Wilhelm S c h m i d t s Ausführungen zu dieser Frage und seine deutschen Belege für die l e x i k a l i s c h gebundene Bedeutung geben wir entsprechende e n g l i s c h e Beispiele. Der Einfluß des Subjekts als Kontextpartner auf die Bedeutung des deutschen Zustandsverbs stehen in ,Karl stand reglos an der Straße', ,das Regiment steht in Potsdam', ,die Luft stand',,die Uhr steht', ,die Leiter steht nicht' usw.182 hat eine genaue Parallele im englischen Verb to stand 'The man could hardly stand', 'the table will not stand', 'the house stands by the river', 'sweat stood on his forehead', 'the thermometer stands at 90°', 'wheat stands thin', 'the wind stands in the west', 'the evidence will stand', 'as things (matters) stand', 'his resolution still stands', 'your coat won't stand much rain', etc. Die im Kontext s y n t a k t i s c h - f u n k t i o n a l bedingte Wortbedeutung, von der Chomsky sagt, " I n describing the meaning of a word it is often expedient, or necessary, to refer to the syntactic framework in which this word is usually embedded",183 mögen einige Verwendungsweisen des englischen Verbs to put veranschaulichen: 'Put sugar in(to) your coffee', 'I put the matter in(to) his hands', 'He put himself in a good light', 'I put no value on it', 'He put him above his colleagues,' 'he was put in prison', 'She was put to school', 'Put it mildly', 'Put the case that —' (,Gesetzt der Fall,

180

181

182 183

Tatiana S l a m a - C a z a c u , Limbaj çi Context. Bucureçti 1959, p. 442. (Rumänisch geschrieben mit französischem Résumé.) — Dieselbe, Langage et Contexte. The Hague 1961. Thea Schippan und K. E. Sommerfeldt, „Wort und Kontext". In: „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Band 19, 1966, S. 5 3 3 - 5 5 2 (Zitat S. 543). Vgl. Anm. 195. Wilhelm Schmidt (Anm. 170), S. 55f. Noam Chomsky (Anm. 36), p. 104.

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daß —'), 'Put it into French', 'He put his money into houses' (.Erlegtesein Geld in Häusern an'), usw. In ähnlicher Weise unterscheidet auch F r i e s zwischen l e x i k a l i s c h e r und s t r u k t u r e l l e r Bedeutung: "The total linguistic meaning of anyutterance consists of the lexical meanings of the separate words plus such structural meanings. No utterance is intelligible without both lexical meanings and structural meanings." 184 So wird auch bei den vielen H o m o p h o n e n , den gleichlautenden Formen mit verschiedener Bedeutung und Schreibung, die im Englischen besonders bei einsilbigen Wörtern sehr häufig sind,185 wie bear .tragen' — bear ,Bär' — bare ,nackt'; pear ,Birne' — fair ,Paar' — pare ,schälen'; rain ,Regen, regnen' — reign .Regierung, regieren' — rein ,Zügel, zügeln' usw.186, deren Wert und Bedeutung erst durch formal und inhaltlich verschiedene Kontexte und bestimmte Situationen festgelegt. Auf solcher zwei- oder mehrfachen Bedeutung beruht auch S h a k e s p e a r e s häufig verwendetes und zu seiner Zeit sehr beliebtes sprachliches Kunstmittel der homonymic puns1B7, etwa in "As you like it" II, 7, 26ff.: "And so, from hour to hour, we ripe and ripe, And then, from hour to hour, we rot and rot, And thereby hangs a tale." mit den dreifachen Wortspielen von hour ,Stunde' — whore .Hure', ripe ,reifen' — ripe ,greifen', tale ,Geschichte' — tail .Schwanz'. Erst im konkreten und konkretisierenden Kontext sowie durch die Sprechsituation und auch durch die verwendete Intonation erhält ein Wort seine konkrete Bedeutung. Aus den M o r p h e n (s. S. 15) werden so Mor184

Charles Carpenter Fries (Anm. 127), p. 56. "In the list of 2540 homonyms given in the Oxford English Dictionary 89% are monosyllabic words and only 9,1% are words of two syllables. From the viewpoint of their morphological structure, they are mostly one-morpheme words." I. V. Arnold (Anm. 23), p. 210. 188 Erika B r a n y s , Homonyme Substantive im Neuenglischen. (Diss.) Berlin 1938. — Edna Rees Williams, The Conflict of Homonyms in English. In: "Yale Studies in English", vol. 100, New Haven 1944. — Herbert Koziol, Grundzüge der englischen Semantik. Wien—Stuttgart 1967, Kap. Homonyme S. 44—52. „Wiener Beiträge zur englischen Philologie" Band LXX, 1967. 18 ' Helge K ö k e r i t z , Shakespeare's Pronunciation. New Haven 1953. Part Two: Shakespeare's Homonymic Puns. — M. M. Mahood, Shakespeare's Wordplay. London 1957.

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p h e m e : "Two morphs in a language may be identical in shape: for example, /ber/, a morph representing the morpheme {bear) 'to suffer, to give birth to', and /ber/, a different morph representing the morpheme {bear} 'ursus'." 188 Für die Ermittlung, ob es sich bei den Homonymen um völlig verschiedene oder verwandte gleichlautende Formen handelt, etwa bei to run und a run (in her stocking), gibt N i d a die folgende Anweisung: "Homophonous forms have related meanings when they identify regularly associated aspects of the same object, process, or state." 189 Man darf mit R o s e t t i und anderen den Bogen jedoch nicht überspannen und erklären, daß das Wort n u r durch den Kontext existiere ;190 denn die Praxis zeigt, daß auch einem isoliert aufgenommenen Wort von der Mehrzahl der Sprachträger für gewöhnlich eine bestimmte Bedeutung, und zwar die häufigste oder die Grundbedeutung, beigemessen wird. Beachtenswert ist ferner, daß der K o n t e x t nicht erst beim Verständnis der Wörter eine wesentliche Rolle spielt, sondern bereits bei den Lautfolgemöglichkeiten innerhalb eines Wortes, die jeder mit der betreffenden Sprache vertraute und operierende Sprecher oder Hörer, wenn auch unbewußt, kennt. Wie jedes Morphem in jeder Sprache in einer ganz bestimmten Anordnung oder Folge steht bzw. nicht stehen kann, so sind auch die Phoneme nach bestimmten von Sprache zu Sprache wechselnden Gesetzmäßigkeiten strukturiert 191 : „Dieses Laut- oder Klanggefühl haben Sprecher und Hörer der Sprachgemeinschaft durch Gewöhnung erworben. Nicht nur mit Wahrscheinlichkeit, mit Sicherheit kann der Hörer in jeder Sprechäußerung gewohntes Lautvorkommen, gewohnte Lautvorstellungen, gewohnte Lautverbindungen und den Inhalt abgrenzende Laute erwarten. Mit gleicher Sicherheit muß der Sprecher, wenn er sein Ziel, verstanden zu werden, erreichen will, sich an diese Lautgesetze halten. Beiden, Sprechern und Hörern, sind beim Sprechvorgang diese Gesetze unbewußt." 192 Dieser Analogie zwischen den Phonemen und Morphemen (Wörtern) hinsichtlich ihres Kontextes und ihrer Distribution entspricht ferner eine Analogie zwischen Phonologie und Semantik: ,,Wie die Phonologie das L a u t s y s t e m zu ermitteln hat, so hat die Semantik das Bedeutungss y s t e m einer Sprache zu beschreiben. Dabei spielt es methodologisch zu188 189 180 181

192

Charles F. H o c k e t t (Anm. 22), p. 284. Eugene A. N i d a (Anm. 4), p. 56. A. R o s e t t i (Anm. 157), p. 38. Über die Kombinationsmöglichkeiten der englischen Phoneme und Phonemverbindungen (clusters) handelt eingehend Bohumil T r n k a , A Phonological Analysis of Present-Day Standard English. Rev. New Edition. Tokyo 1966 (Prag 1935). Werner M u e s , „Das Häufigkeitsproblem und der Fremdsprachenunterricht". In: „Die Neueren Sprachen" Band 66, 1967, S. 3 7 6 - 3 8 5 (Zitat S. 379).

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nächst gar keine Rolle, ob die Bedeutung von Wörtern, Wortgruppen oder Sätzen oder auch nur von Morphemen gemeint ist. ... Analog zur Phonologie postulieren wir für die Semantik, daß ein System von Bedeutungen existiert." 193 N e u b e r t hält es für wahrscheinlich, „daß wir es bei der Kollokation um eine [lies: mit einer] Folge oder Kette von Morphemen zu tun haben, die der Kombination von Phonemen zu Morphemen sehr ähnlich ist. Man könnte sagen, daß Morpheme zu einer Kollokation .programmiert' sind, ebenso wie Phoneme nach einem bestimmten (für eine Sprache charakteristischen) Programm zu Morphemen zusammentreten." 194 Bisher sind wir noch weit von einer solchen Systematisierung und Formalisierung der Bedeutungen sowie einer theoretischen Begründung einer strukturellen Semantik entfernt. S c h i p p a n und S o m m e r f e l d t fordern in der Fortsetzung ihrer Untersuchung über die Bedeutung des linguistischen Kontextes195, daß sich die zukünftige Kontextforschung auch der Methoden bedienen müsse, welche die distributioneile Sprachwissenschaft in der Sowjetunion und in den USA herausgebildet hat. Nun gibt es auch Wörter und Wendungen, für deren genaue Bedeutungserschließung der Kontext nur eine unwesentliche oder gar keine Rolle spielt. Diese sind u. a. für den Aufbau von Wörterbuchartikeln von besonderer Wichtigkeit und werden auf folgende Weise ermittelt: „Jede aus einem Kontext entnommene Wendung wird durch die Abstrichmethode zum Syntagma umgeformt. Das geht so vor sich, daß nur solche Wörter im Kontext belassen werden, die von Einfluß auf die Bedeutung sind. In dem Satz ,Die Kinder gehen auf der Wiese' ist hierbei unerheblich, wer so etwas tut. Nur das Verbum ist wichtig: ,gehen', .sich bewegen, sich zu Fuß bewegen'. In allen Fällen, wo ich den Kontext ganz .wegstreichen' kann, sprechen wir von der Nullstelle. ... Ein Wörterbuchartikel sollte nun so aufgebaut werden, daß zuerst einmal alle diejenigen Wendungen aufgeführt werden, die am stärksten in der Bedeutung nach der Nullstelle hin tendieren. ... wir müssen bei der Festeilung der Bedeutung auch noch mit einem außersprachlichen Kontext, der Metasyntax, rechnen, z. B. wenn wir an die verschiedenen Bedeutungen , Auge' in der Botanik, in der Müllerei, am Webstuhl usw. denken. In solchen Fällen muß der außersprachliche Bezug an193

Albrecht N e u b e r t , „Analogien zwischen Phonologie und Semantik". In: Zeichen und System der Sprache. III. Band. Berlin 1966, S. 106-116 (Zitat S. 106). 194 Albrecht Neubert (Anm. 193), S. 111. 196 Thea Schippan und Karl-Ernst Sommerfeldt, „Die Rolle des linguistischen Kontextes". In: „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung" Band 20, 1967, S. 489-529 (Zitat S. 489). Vgl. Anm. 181.

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gegeben werden." 198 Die Definition der Bedeutung der Wörter ist nach wie vor die schwächste Seite der bestehenden englischen wie auch aller anderen Wörterbücher. Die dabei angewandten vier Hauptmethoden sind subjektiv und unzureichend: "(1) the citation of so-called synonyms and antonyms (i. e. words with similar or contrastive meanings), (2) a description of the object or process, (3) indication of a corresponding word or phrase in a foreign language, and (4) the listing of expressions in which the form is employed." 197 Beim a u ß e r s p r a c h l i c h e n K o n t e x t spielt neben der jeweiligen individuellen S p r e c h s i t u a t i o n auch die allgemeine S p r a c h s i t u a t i o n eine wichtige Rolle, d. h. es herrscht auch hier ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Im Laufe der Zeit ändert sich der Bedeutungs- und Gefühlsgehalt zahlreicher Wörter beträchtlich, bisweilen bereits von einer Generation zur anderen. Auch in den Wörtern stehen, wie in der Sprache ganz allgemein, der rationale und der emotionale Faktor menschlichen Denkens und Handelns in dialektischer Wechselbeziehung. Wie einerseits der einzelne Sprachträger je nach Lebenserfahrung, Lebensumständen, ideologischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und ästhetischer Einstellung und Erkenntnis mit vielen Wörtern individuelle Begriffsschattierungen verbindet, so existieren andererseits zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Volk und in seinen verschiedenen Schichten auch eine Mehrzahl überindividueller, allgemeingültiger oder zumindest annähernd allgemeingültiger Wortbedeutungen und Begriffsvorstellungen, wodurch schließlich ja erst eine wirksame Verständigung und ein gemeinsames Handeln erzielt werden. Soweit „ein zahlenmäßig begrenzter Kreis von Sprechern lexisch-semantische Varianten auf Grund gemeinsamer Erfahrungen aktualisieren kann", spricht man vom E r f a h r u n g s k o n t e x t , während man den Begriff K u l t u r k o n t e x t für „Erfahrungen der gesamten Sprachgemeinschaft, die sich aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben, aus der gemeinsamen Kultur etc. ergeben", geprägt hat. 198 K l a u s weist darauf hin, daß dieser „gemeinsame Zeichen-, Begriffs-, Bezeichnungs- und Verhaltensvorrat im Prozeß der gesellschaftlichen Produktion entstanden und letztlich nur als dessen Produkt zu verstehen ist". 199 In der Literatur begegnen immer wieder auch direkte Hinweise darauf, daß bereits zwei gleichsprachige Personen mit den gleichen abstrakten 1M

Gerhard Wahrig (Anm. 6), S. 38 und 40.. Eugene A. Nida (Anm. 4), p. 161. 1! 8 > Thea Schippan und K. E. Sommerfeldt (Anm. 181), S. 552. 199 Georg K l a u s (Anm. 99), S. 18. 187

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Wörtern verschiedene Bedeutungen verbinden. So lesen wir etwa in John P. M a r q u a n d s Roman Point of No Return-. "Though they each could make certain ideas comprehensible to the other, the very words they used had different meanings for each of them. Security, work, worry, future, position, and society, capita] and government, all had diverging meanings. Charles could understand the Burton meanings and could interpret them efficiently and accurately, but only in an objective, not in an emotional way." 200 Wie sich innerhalb einer Sprache auf Grund der Zugehörigkeit ihrer Sprachträger zu verschiedenen Staats- und Wirtschaftsformen sowie Ideologien mit den gleichen Wörtern oft verschiedene Bedeutungen verbinden, zeigen deutlich die unterschiedlichen Definitionen des Rechtschreibungswörterbuches Der Große Duden in der Deutschen Bundesrepublik (Mannheim) und in der Deutschen Demokratischen Republik (Leipzig), etwa bei Demokratie, Pazifismus, Kapitalismus, Sozialismus, Revisionismus usw. Die inhaltlichen Unterschiede äußerlich gleicher abstrakter Wörter innerhalb derselben Sprache treten in der Regel verstärkt bei verschiedenen Sprachen auf, wie etwa die vielen sog. false friends, die täuschend ähnlichen und verwechselbaren Wörter im Deutschen und Englischen erweisen, z. B. deutsch bekommen (engl, to get, to receive) : engl, to become (deutsch werden), deutsch überhören (engl, not to hear or catch, to miss, ignore) : engl, to overhear (deutsch (mit an)hören, belauschen)-, deutsch genial,geistvoll', schöpferisch' : engl, genial freundlich, anregend'; deutsch eventuell vielleicht, gegebenenfalls' : engl, eventually .schließlich, endlich'; deutsch sparen (engl, to save) : engl, to spare ,(verschonen, etwas übrig haben für'; deutsch spenden (engl.fo bestow on, to donate) : engl, to spend .ausgeben, verbrauchen'; deutsch Technik (engl, technology) : eng], technique ,Methode, Verfahren'; deutsch Fraktion (engl, parliamentary party) : engl, fraction ,Bruch(teil)'; oder die Lehnübersetzung deutsch selbstbewußtengl. self-confident, proud): engl, selfconscious ,befangen, gehemmt'. Selbst im Gebrauch formal gleicher Zentralbegriffe ist der Bedeutungsunterschied in den verschiedenen Sprachen oft recht erheblich, etwa bei Kultur und Zivilisation im Deutschen, Culture et Civilisation im Französischen, Culture and Civilization im Englischen usw. 201 In jeder untergeordneten Sprachebene liegt, wie wir eingangs ausführten, bereits die nächsthöhere begründet. Daher konnten wir wie beim Übergang 200

201

New York, Bantam Books, 1961, pp. 428ff. Zitiert nach Herbert Koziol (Anmerkung 186), S. 18. Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien hrsg. vom Sprachwiss. Colloquium Bonn. Band III: Kultur und Zivilisation. München 1967.

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vom M o r p h e m zum W o r t auch bei der Erklärung des Wortes bereits Kriterien benutzen, die zum S a t z überleiten, dem wir uns als nächsthöherer linguistischer Einheit nunmehr kurz zuwenden wollen. Während es sich beim Einwortsatz und Syntagma um kontextgebundene, ungegliederte Minimalsätze handelt, stellt der reguläre, vollständige, gegliederte S a t z eine nach Form und Inhalt in sich geschlossene relativ selbständige Redeeinheit dar, 202 eine aus sinnvoll aufeinander abgestimmten Satzteilen bestehende Klang-, Struktur- und Sinneinheit, die einen bestimmten Effekt auslöst oder einen bestimmten Sachverhalt darstellt und von anderen Sachverhalten abhebt. Die B e d e u t u n g eines Satzes ergibt sich aus der Kombination der Bedeutungen der darin verwendeten lexikalischen Einheiten (Wortbedeutungen) und ihrer syntaktischen Struktur einschließlich der I n t o n a t i o n , also aus der Synthese seiner lexikalischen und strukturellen Bedeutung. Auf die untrennbare Verflechtung von S a t z und I n t o n a t i o n weist erneut auch E g o r o v hin: "The concepts of 'sentence' and 'intonation' are inseparable. Without 'intonation' a word or a group of words usually apprehended by us as a 'sentence' is only a potentiell sentence". 203 In der fast flexionslosen englischen Sprache ist die feste und streng geregelte Wortstellung an die Stelle der früheren Flexion getreten, so daß auch die S t e l l u n g d e r S a t z t e i l e zueinander ausschlaggebend für die Ermittlung der Gesamtbedeutung eines vollständigen Satzes ist. Überdies gehört zum endgültigen und eindeutigen Verständnis der gesamten Satzaussage zugleich die Kenntnis der W o r t a r t z u g e h ö r i g k e i t der einzelnen Satzteile. Die Wortartzugehörigkeit wird durch vorausgehende oder folgende wortartkennzeichnende Morpheme zum Ausdruck gebracht, etwa durch the vor dem Wurzelmorphem als Substantiv oder -ed nach diesem als Verb: the sail, sail-ed; im Falle der Form sails entscheidet vorausgehendes the oder he, she, it über die Wortart, d. h. es gibt auch eine ganze Reihe homonymer Morpheme. W o r t s t e l l u n g und W o r t a r t stehen ebenfalls in einem Wechselverhältnis: sobald ein Satzteil oder mehrere Satzteile durch wortartkennzeichnende Merkmale bestimmt sind, ergibt sich aus der festen Wortstellung im Englischen automatisch die grammatische Bedeutung und Funktion der übrigen. Der so bestimmte Satz ordnet sich im Gefüge anderer Sätze intonatorisch, grammatisch und semantisch in die höheren Sprachebenen der Äußerung (utterance), des Gesprächs (discourse) und der Rede (speech) ein. 202 209

Johannes Erben, Abriß der deutschen Grammatik. Berlin 1958, 19658, S. 227ff. G. G. E g o r o v , Suprasegmental Phonology. A Summary of Lectures. Moscow State University, Philological Faculty, English Department. Moscow 1967. p. 44.

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Wir wir schon näher dargelegt haben (S. 10), kann es sich auch bei der obigen Bestimmung des Satzes nur um eine relative, nicht um eine absolute Begriffsbestimmung handeln: "But what about the old traditional definition: 'A sentence is a group of words containing a subject and predicate and expressing a complete thought'. (Many current school grammars omit the phrase 'containing a subject and predicate', but this omission neither improves nor weakens the definition.) The definition, of course, is semantic; that is, it assumes that the reader knows the meaning of the phrase 'a complete thought' ... The definition is meaningless unless we know already what a sentence is. Actually, the lack of notional definition of sentence will not in any way hinder the presentation of a transformational grammar of English."204 In ganz ähnlicher Weise äußert sich auch Chomsk y s Schüler Paul R o b e r t s zur Definition des Satzes gleich zu Anfang seines Buches: "Since its purpose is to give a description of English sentences, it is itself, as a whole, a definition of the term English sentence. We shall not have

completed the definition of sentence until we reach the end. Even then, we shall not have said nearly everything that might be said about English sentences."205 Wie es zum Wort einige hundert Definitionen gibt (vgl. S. 47), so bestehen auch zum S a t z Hunderte von Definitionen206, was natürlich recht nachdenklich, wenn nicht gar bedenklich stimmen kann. 204

Owen T h o m a s (Anm. 8), p. 2. Paul R o b e r t s , English Syntax. A Programed Introduction to Transformational Grammar. New York—Chicago 1964, p. 1. — Dieselbe Feststellung trifft H. A. G l e a s o n (Anm. 3) hinsichtlich der Charakterisierung des M o r p h e m s : "Because we cannot tell what are, properly speaking, morphemes until we have nearly completed the task of analysis, it will be permissible to use the term morpheme somewhat loosely." 206 John R i e s , Was ist ein Satz? Marburg 1894, Prag 19312. „Beiträge zur Grundlegung der Syntax" Heft 3: „Ein Satz ist eine grammatisch geformte kleinste Redeeinheit, die ihren Inhalt im Hinblick auf sein Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt." — Eugen S e i d e l , Geschichte und Kritik der wichtigsten Satzdefinitionen. Jena 1935. „Jenaer Germanistische Forschungen" Band 27. — Karl F. S u n d e n , Linguistic Theory and the Essence of the Sentence. Göteborg 1941. „Göteborgs Högskolas Arsskrif t" vol. 47, No. 5. — Charles CarpenterFries(Anm.l27), Chapter I I : What is a Sentence? wählt (p. 21) als Ausgangspunkt seiner eigenen Darstellung die allgemein gehaltene Satzdefinition Leonard B l o o m f i e l d s (Anm. 38) p. 170: "Each sentence is an independent linguistic form, not included by virtue of any grammatical construction in any larger linguistic form", und er fügt die Forderung hinzu, daß die linguistische Form imstande sein müsse, "to stand alone as an independent utterance". 205

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Bei den E i n w o r t s ä t z e n , elliptical sentences (s. S. 37) und S y n t a g m e n handelt es sich um kontextgebundene, ungegliederte Minimalsätze mit besonderen Intonationsmustern, wie Grüße (greetings), Anrufe (calls) oder Ausrufe (exclamations) sowie um die durch sie hervorgerufenen Erwiderungen: "These sentences, contextually conditioned bv the linguistic situation, are answers to questions, additions to previous statements, and supplements to practical situations of gesture or presence of the referent which serve to define the context. These may occur alone as complete linguistic utterances or combined by parataxis or co-ordinators with any major sentence type", beschreibt N i d a diese von ihm sogenannten minor sentence types ohne Subjekt oder Prädikat oder beide und gibt dafür u. a. folgende Beispiele: Yesterday. Here! Here"1. Sure! Yes. No. How mucM Ferner die verschiedenen Interjektionstypen wie ah, hello, hush, hurrah, well, dear me, damn it, oh my, oh me oder Imperative wie Gome home! Help him at once! oder einschränkende Ausrufe wie He a gentleman! That fellow a poet! (mit entsprechender Intonation), ferner Aufmerksamkeit erheischende Ausrufe wie Murder! Police! Herel Fire! oder die sogenannten Vokative wie Mother! Dearest! My boy l und aphoristische Ausdrücke wie Well begun half done. First come first served. Old saint young sinner. No pains no gains. So far so good. Etc. 207 Neben diesen Einwortsätzen und verkürzten Sätzen stellen die im allgemeinen vollständig gegliederten Sätze mit Subjekt und Prädikat in der Regel Reihensätze (sequence sentences) dar, die in Form von Fragen (questions), Aufforderungen (requests) und Darlegungen (statements) zusammen mit den durch sie bewirkten Erwiderungssätzen (response sentences) ein fortlaufendes, zusammenhängendes Gespräch ergeben, wobei die Darlegungen und Feststellungen (statements) den größten Raum einnehmen. Viele solcher Einwortsätze und Satzteile haben nur K o n t a k t f u n k t i o n , sie dienen als Ankündigungssignale für ein folgendes Gespräch mit echter Kommunikationsfunktion in vollständigen Sätzen. Bekanntlich stellt ein Sprecher (Sender) die Verbindung mit dem Angesprochenen (Empfänger), wie besonders beim Telefonieren zu beobachten ist, gewöhnlich durch einen einführenden Einwort- oder Minimalsatz her, um die Aufmerksamkeit auf sich und sein spezielles Anliegen zu lenken, um also den K o n t a k t herzustellen, z. B. durch Good morning! Hallol Ah, ..., Oh, ..., I say ..., I must say ..., Now,..., Pardon me,..., Well,..., What! ..., Why,..., etc. Diese K o n t a k t f o r m e l n geben keine Wirlichkeitsdarstellung, sondern eröffnen 207

Eugene A. N i d a , A Synopsis of English Syntax. 1960. Second rev. edition. London— The Hague—Paris 1966, pp. 166—168.

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und beschließen formelhaft bestimmte Kommunikationsvorgänge und können auch durch außersprachliche Mittel, durch Gesten aller Art, ersetzt werden. Diese kontext- und situationsbedingten Satzstücke zeigen besonders deutlich, daß für das sprachliche Verständnis außer der Intonation auch die noch wenig erforschte a l l t ä g l i c h e G e s p r ä c h s g e s t i k (conversational gesture) neben der besser bekannten l i t e r a r i s c h - r h e t o r i s c h e n G e s t i k [rhetorical gesture)208, wie sie ihre klassische Erwähnung in Hamlets Rat an die Schauspieler "Suit the action to the word, the word to the action" (Hamlet III, 2, 17) gefunden hat, von Bedeutung ist. Einige Zeilen vorher läßt S h a k e s p e a r e Hamlet den Schauspielern den Rat erteilen: "Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently" (Hamlet III, 2, 5). Die von Hamlet beim Worte thus ausgeführte Bewegung ist uns nicht überliefert. Überliefert sind uns jedoch zwei sehr aufschlußreiche Abhandlungen, die 28 Jahre nach S h a k e s p e a r e s Tod unter den Titeln Chirologia, or the Natural Language of the Hand und Chironomia, or the Art of Manual Rhetorick 1644 in London in einem Band erschienen. Die Chirologia behandelt 89, die Chironomia 85 Gesten mit I l l u s t r a t i o n e n . Diese für die Erschließung der Gestik der Shakespearezeit außerordentlich bedeutsamen Abhandlungen stammen von dem Arzt und Taubstummenlehrer John B u l w e r , der an einer Stelle schreibt, daß "to use the Action of one that Saws or Cuts was condemned by Quintilian". Daraus geht hervor, daß Hamlets ( S h a k e s p e a r e s ) Ratschlag an die Schauspieler auf die klassische Tradition zurückgeht, wozu ein moderner Kritiker ausführt: "Certainly in modern times critics have assumed that here we have something that the playwright thought up for himself. But like so much that is excellent in Shakespeare, these words spoken by Hamlet can be traced to a familiarity with classical traditions that linked the England of Elizabeth with the Rome of the Caesars. In Book X I of Quintilian's Institutes of Oratory, various kinds of speakers are denounced for their faults. Among other things the great Roman orator declares, 'There are others, again, whose hands are sluggish, or tremulous, or inclined to saw the air'. Shakespeare knew this because it was known to his age. Oratory was taught as an important part of Elizabethan education." 209 Daß auch Hamlets ( S h a k e s p e a r e s ) nachfolgender 208 Werner H a b i c h t , Die Gebärde in englischen Dichtungen des Mittelalters. München 1959. „Bayerische Akademie der Wissenschaften", Philos.-Histor. Klasse, Abhandlungen, Neue Folge, Heft 46. 209

Bertram L. J o s e p h , "How the Elizabethans acted Shakespeare". In: "The Listener", January 5, 1950, pp. 17 — 18.

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Ratschlag an die Schauspieler traditionsgebunden war, zeigen unabhängig von ihm begegnende Äußerungen gleicher oder ähnlicher A r t : so berichtet Thomas H e y w o o d in An Apology for Actors 1612, daß die Schüler in Cambridge für die Aufführung von Theaterstücken lernten, " t o suit the action to the phrase, the phrase to the action"; und besagter John B u l w e r fordert 1644: "Take care that variety of gesture may answer the variety of voice and words." In Bertolt B r e c h t s Leben Eduards des Zweiten von England (1924), einer freien Bearbeitung von Christopher M a r l o w e s Edward the Second (1594), bestimmt nach seiner eigenen Aussage („Die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen") das gestische Prinzip die gesamte Struktur der Verse, der Lexik, des Stils, der Intonation und des Rhythmus. F e u c h t w a n g e r , Brechts Mitarbeiter an diesem Stück, berichtet, daß „ B r e c h t vor allem aus der Gebärde heraus schuf. Er stellte sich zuerst die Gesten seiner Menschen in ihrer jeweiligen Situation vor und suchte dann das entsprechende Wort." 2 1 0 Ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, wäre für uns die Kenntnis der a l l t ä g l i c h e n G e s t i k , die sowohl für vergangene als auch für gegenwärtige Zeiten ziemlich unerforscht ist: " T h e everyday gestures of the man in the street, however, are precisely those about which we know least. (There is no entry for gesture in the Encyclopaedia Britannica Index, it is interesting to note.) There is here a fascinating, but almost untouched, subject, and one which should interest teachers of languages as much as any other students of linguistics. It is a subject, incidentally, which is so far without a recognized name." 211 Die G e s t i k wechselt wie die I n t o n a t i o n nach Art, Umfang und Stärke von Nation zu Nation, ja bereits von einem Volksstamm zum anderen: " I t is certainly popularly recognised that different nationalities vary in the amount of gesture they introduce into their conversation. The English, for instance, are sparing in their use of it; men of few other nations could sustain a conversation for so long with their hands in their pockets. ... an Englishman speaking in public would find it very natural, if he wished to request his audience to be silent, to hold up both his hands on a level with his head, with the palms facing outwards. If he were to do this in Greece, however, it would cause deep offence to his audience, for this same

210

I. Pradkin, „Die .Bearbeitungen' von Bertolt Brecht". In: „Kunst und Literatur", Zeitschrift zur Verbreitung sowjetischer Erfahrungen, 16. Jg., Heft 2, Berlin 1968, S. 159-170 (Zitate S. 164).

211

David Abercrombie, "Gesture". In: "The English Language Teaching", vol. IX, No. 1, 1954, pp. 3—12 (Zitat pp. 3f.).

5*

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gesture in that country is a most insulting one." 2 1 2 John B u l w e r erklärte — wie nach ihm noch Charles D a r w i n und andere — die Gestik in seiner Chirologia

noch für " t h e general language of human nature" unter Hinweis

darauf, daß englische Kaufleute mit vielen fremden Völkern ohne Kenntnis ihrer Sprache einen "rich and silent t r a d e " trieben und " m a n y a dumb barg a i n " dabei machten. Die Bedeutung der Gesten für die Sprache unterstreicht auch B l o o m f i e l d : "Gesture accompanies all speech; in kind and in amount, it differs with the individual speaker, but to a large extent it is governed b y social convention. Italians use more gesture than Englishspeaking people; in our civilization people of the privileged class gesticulate least. T o some extent, individual gestures are conventional and differ for different communities.... Some communities have a gesture language which upon occasion they use instead of speech [ = Taubstumme] ... gesture has so long played a secondary role under the dominance of language that it has lost all traces of independent character." 213 N o c h sind wir leider weit von einer wissenschaftlichen Erkenntnis und Beschreibung der Gestikstruktur und ihrer Nutzbarmachung für die Sprachpraxis entfernt. I m Gegensatz zu den S t r u k t u r a l i s t e n , die das Wesen und Funktionieren der Sprache durch die Erschließung der bedeutungtragenden Sprachmoleküle in F o r m der M o r p h e m e zu ergründen und zu bestimmen suchten, geht die jüngere linguistische Richtung der sogenannten T r a n s f o r m a t i o n a l i s t e n v o m S a t z aus. So betonte der Begründer der Transformationsgrammatik in Amerika N o a m C h o m s k y schon vor einem Jahrzehnt, daß er nunmehr bei jeder linguistischen Analyse den S a t z zugrunde legen werde: " F r o m now on I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements." 2 1 4 Die Transformationsgrammatik beschäftigt sich nicht mehr wie die Strukturgrammatik vor und neben ihr mit dem Studium v o n Morphemen und Morphemverbindungen 215 , sondern mit der Ergründung der Regeln für die Erzeugung v o n Sätzen in der Sprache: " O u r ability to assemble sentences and link them into meaningful discourse represents linguistic competence and the internalized grammar is an account of this competence. W h e n we

David A b e r c r o m b i e (Anm. 211), p. 7. Leonard B l o o m f i e l d (Anm. 38), p. 39. 214 Noam Chomsky (Anm. 36), p. 13. 215 " W e summarize this by asserting that every language has its own grammar. The grammar, or grammatical system, of a language is (1) the morphemes used in the language, and (2) the arrangements in which these morphemes occur relative to each other in utterances." Charles F. H o c k e t t (Anm. 22), p. 129. 212

213

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utter or write, i. e. create sentences for the most part new and unfamiliar, this grammar enables us to give physical shape to our thoughts: when we hear an utterance, it enables us to comprehend any English sentence, including those we have never heard before, i. e. to classify it as grammatical or not. In this context the internalized grammar is therefore ... in Chomsky's words: 'a complex system of rules which relate signals to the semantic interpretation of these signals' Our task as linguists is to discover this system and give it an external representation." 216 C h o m s k y und seine Anhänger und Nachfolger, die weitgehend an die alte Tradition der Sprachwissenschaft, besonders an Wilhelm von H u m b o l d t , anknüpfen, wenden sich gegen die einseitigen Auffassungen der traditionsfeindlichen Strukturalisten verschiedenster Färbung. C h o m s k y wirft ihnen vor, daß sie mit ihrer von der traditionellen Grammatik abweichenden Konzeption der Sprache als Inventar und System von Sprachelementen die Linguistik künstlich eingeengt hätten, woraus ihr Versagen resultiere, "to appreciate the extent and depth of interconnections among various parts of a language system. By a rather arbitrary limitation of scope, modern linguistics may well have become engaged in an intensive study of mere artifacts." 217 Paul R o b e r t s sieht das Versagen in der T h e o r i e der Strukturalisten, denen es in Jahrzehnten nur gelungen sei, umfangreiche Inventare von Morphemen aufzustellen, die aber kaum etwas zur Syntax beigetragen hätten: "Transformationalists deny also that the morphology and syntax must be built on a prior description of the sound structure. They would rather begin, in the traditional way, with the syntax and develop the description of sound structure from that. There are many theoretical reasons for this preference and one powerful practical argument: after decades of effort, structural linguistics has produced rather thorough descriptions of English sounds and extensive inventories of morphemes but very little in syntax. It is at least a plausible hypothesis that this failure reflects a weakness in the theory itself." 218 Der lange Zeit mit großem Eklat, ebenso großer Prätention und mit verwirrender Terminologie aufgetretene S t r u k t u r a l i s m u s — wofür einige kritische Stimmen unten wiedergegeben seien219 — 218

R. Zatorski (Anm. 30), S. 259. Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory. London—The Hague —Paris 1964, 19662, pp. 2 3 - 2 4 . 218 Paul R o b e r t s (Anm. 205), p. 410. 219 "As we all know, the best way to sell a product is to give it a new name and pretend that it is radically different from other makes; in particular, it is useful to claim that it is more 'scientific'," heißt es kritisch bei Paul Christophersen, "Is Struc217

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wurde von der sogenannten T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k (generativetransformational grammar oder gewöhnlich abgekürzt transformational grammar genannt) abgelöst.220 Während die Strukturalisten die Phonologie, Morphologie und Syntax als völlig unabhängig voneinander existierende

turalism enough?" In: "English Language Teaching", Oxford 1967, vol. XXI, pp. 106—114 (Zitat p. 113). — Ein Jahr vorher schrieb W. F. M a c k e y (Univ. Quebec) in der gleichen Zeitschrift (vol. XX, 1966, p. 203 in gleichem Sinne: "Some linguists seem to be eager to appear 'scientific' that they state or restate the most banal facts about a language in a pseudo-scientific notation and a collection of technical terms borrowed indifferently from several disciplines and heavy with scientific associations. Old ideas about language do not become better when couched in an unfamiliar jargon." — Und J a n S v a r t i k , "From Phoneme to Transform", in: "Moderna Spräk" vol. LVII, 1963, pp. 300—308 zitiert eine Äußerung von James H. S l e d d , dem Verfasser von The Sentence and Its Parts, Chicago 1961, die in die gleiche Richtung geht: " I get the feeling that sometimes we have valued innovation for its own sake and have been happiest when we could ride our new hobby-horses into perversity" (p. 302). — Wohin diese ungezügelte Terminologie führt, wurde schon 1951 von dem amerikanischen Linguisten E. I. H a u g e n in einem Aufsatz über "Directions in Modern Linguistics" in der amerikanischen Fachzeitschrift "Language" vol. 27, p. 211 dargelegt: "American linguists are finding it increasingly difficult to read European writers in our field; younger linguists are neglecting the older writers, so that we are in some degree losing contact both with the tradition of linguistic science and its present-day representatives in the rest of the world." Auf der Vierten Konferenz der International Association of University Professors of English führte der niederländische Grammatiker des Englischen R. W. Z a n d v o o r t im August 1959 in Lausanne über die Arbeiten der amerikanischen Strukturalisten aus: "Truly, here is scientific autarky. All, or nearly all, Europeans having been warned off the premises" und gab die beherzigenswerten Empfehlungen, "that the study of English syntax is best served, not by a wholesale destruction of traditional terms, but rather by their re-interpretation to fit the facts of modern English." (R. W. Z a n d v o o r t , "Grammatical Terminology". In: G. A. B o n n a r d (Ed.), English Studies Today. Second Series. Bern 1961, pp. 283 bis 294, Zitat p. 294.) Schon 1932 hatte A. H. G a r d i n e r in seinem Buch Speech and Langvage, Oxford 1932, p. 8 denselben Gedanken geäußert: "On the whole, I believe it will be found that most of the traditional terms, though often badly named, correspond to real facts and distinctions in the linguistic material;... to my mind it is not so much the traditional terms that are unacceptable as the explanations of them which are normally given." 220 "The quarter century of structuralist dominance in what structuralists liked to call 'American linguistics' ended in 1957". Ralph B. L o n g in "American Speech" vol. XLI, 1966, p. 199.

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statische Einheiten betrachteten, besteht für die Transformationalisten221 die Grammatik aus vier eng miteinander verflochtenen dynamischen Komponenten. Diese bilden (1) die s y n t a k t i s c h e K o m p o n e n t e , welche die Struktur der Sätze bestimmt, (2) die m o r p h o l o g i s c h e K o m p o n e n t e , welche die Morpheme beschreibt, (3) die s e m a n t i s c h e K o m p o n e n t e , welche die sprachlichen Zeichen mit außersprachlichen Begriffen in Beziehung setzt, (4) die p h o n o l o g i s c h e (sowie g r a p h e m i s c h e ) K o m p o n e n t e , welche die sprachlichen Zeichen mit den tatsächlich gesprochenen (sowie geschriebenen) Sprechäußerungen verbindet. Die Grundlage für alle Sprachuntersuchungen bildet nunmehr die s y n t a k t i s c h e K o m p o n e n t e . Für C h o m s k y und seine Jünger stehen wie gesagt nicht mehr wie im postBbomfieldian amerikanischen Strukturalismus die Auffindung und die Analyse der phonemisch-morphemischen Grundeinheiten im Vordergrund, wenn auch die Transformationsgrammatiker auf der Morphemgrundlage aufbauen. Auch für sie sind die Morpheme die kleinsten austauschbaren Elemente und zugleich die kleinsten feststehenden linguistischen Bedeutungsträger, die mit jeweils verschiedener Anzahl, Auswahl, Abhängigkeit, Anordnung und Intonationsform verschiedene Satzmuster bilden. Jedoch nimmt der mit einer Sprache vertraute Sprecher einen Satz nicht nur als eine lineare Kette morphemischer Sprachelemente auf, sondern zugleich und vor allem auch als eine organische Ganzheit, die er automatisch nach zusammengehörigen Syntagmen gliedert. Der e x t e r n e n S a t z s t r u k t u r mit ihrer linearen Anordnung der einzelnen Elemente liegt die i n t e r n e S a t z s t r u k t u r als organische Verbindung dieser Elemente zugrunde. Bei der funktionalen Zerlegung oder Segmentierung eines Satzes gelangt man somit zunächst zu größeren syntagmatischen Einheiten, die mit Hilfe von Umstellungs-, Ersetzungs-, Austauschungs- und Fortlassungstests analysiert und klassifiziert werden können. Die Segmentierbarkeit des Satzes vermittels Permutationen, Substitutionen, Kommutationen und Eliminationen war natürlich schon von alters her bekannt. Allerdings hielt man lange Zeit nur die W ö r t e r in Gestalt der Redeteile (partes orationis) für- austauschbar, während man in Wirklichkeit bei der Segmentation des Satzes auch auf andere komplexere linguistische Einheiten stößt. Wie bei den Morphemen herrschen auch bei den komplexeren Satzsegmenten ganz bestimmte Distributionsmöglichkeiten (vgl. S. 12). Im Satz als einem System von Beziehungen und Bedeutungen zwischen seinen verschiedenen Komponenten und

221

William Orr D i n g w a l l , Generative Transformational Grammar. A Bibliography. Washington, Center for Applied Linguistics, 1965. (82 pp.)

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Elementen wird die Verbindung innersprachlicher Zusammenhänge mit dem inner- und außersprachlichen Kontext hergestellt, um außersprachliche Beziehungen darzustellen. Die generative Transformationsgrammatik baut auf der Erzeugungsgrammatik oder generativen Grammatik auf, die alle praktisch und theoretisch möglichen Sätze bis auf den Grund der Einzelwörter gliedern, beschreiben und deren Gesetzmäßigkeiten ergründen will. Zum Begriff und zur Bezeichnung generative Grammatik' äußert sich C h o m s k y wie folgt: "By a generative grammar I mean simply a system of rules that in some explicit and well-defined way assigns structural descriptions to sentences", und weiter: " I think that the term 'generative grammar' is completely appropriate, and have therefore continued to use it. ... 'generate' seems to be the most appropriate translation for Humboldt's term erzeugen, which he frequently uses, it seems, in essentially the sense here intended." 282 Die Transformationsgrammatik erforscht zusätzlich die Regeln und den Mechanismus, nach welchen sich die äußere Sprachform bei im wesentlichen gleichbleibenden Satzinhalt verändert: "Generative-transformational grammar is, by definition, a grammar which assigns a structural description to all the sentences of a language and rejects all non-sentences." 223 C h o m s k y s Äußerungen zeigen deutlich einen Rückgriff dieser neuen linguistischen Methoden auf die alten Sprachanschauungen Wilhelm von H u m b o l d t s , der schon 1836 im Satz „eine zur Einheit geprägte Form, die auf einmal hingegeben wird", sah und sich gegen jede Art von additivem Aufbau des Satzes und sein „Zerschlagen in Wörter und Regeln" wandte. 224 H u m b o l d t s Sprachauffassungen standen ihrerseits unter dem Einfluß der philosophischen Systeme H e r d e r s und K a n t s . Unter T r a n s f o r m a t i o n (transformation) versteht man die Veränderung eines Satzes oder Satzteils nach einem vorgeschriebenen Muster und nach bestimmten Verfahrensweisen, wobei die dabei entstehenden Verände222

223

224

Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Mass., 1965, pp. 8, 9. J. A. van Ek, "A Grammatical Description of the Accusative with Infinitive and Related Structures in English". In: "English Studies", Amsterdam 1967, vol. XLVIII, p. 526. Wilhelm von H u m b o l d t , Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin 1836, S. 41, 163, 170. Faksimile-Ausgabe Bonn 1960. B l o o m f i e l d (Anm. 38) bezeichnet diese Abhandlung als "the first great book on general linguistics" (p. 18).

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rangen durch die Morphemanordnung und die Bedeutung kontrolliert werden. Die Transformation berührt nicht die Bedeutung eines Satzes. Sie verändert seine T i e f e n s t r u k t u r (deep structure) zur entsprechenden O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r (surface structure). A r n o l d erläutert den Vorgang wie folgt: "An elementary example will show the essence of the procedure. The distributional formula of make in the following two sentences is exactly the same; to reveal the difference in meaning a transformation introducing the preposition for is attempted, as follows: He made the boy a pipe -»• He made a pipe for the boy He made the girl a star *He made a star for the girl. I n the first case transformation is possible and the meaning of the transform ('The result of transformation is called a transform') does not differ from that of the original utterance. I n the second case transformation is impossible. The meaning of the transform is different from that of the original utterance, which shows that we have two different variants of make in the examples quoted." 225 O g i n o nennt ein solches Verfahren Identifikationstransformation: "Identification transformation defines a structural identity of a sentence by virtue of which one sentence structure may be identified with another sentence by a transformational operation. ... We shall call this kind of transformational rule identification transformation." 226 Das Ziel der Transformationsgrammatiker ist die Herausfindung der syntaktischen Grund- oder Tiefenstrukturen, der abstrakt-hypothetischen Grundformen aller Sätze. Es sollen Satztypen als Abstraktionen aus Sätzen erschlossen werden, auf die sich die unendlich vielen, in einer Sprache tatsächlich vorkommenden und möglichen Sätze zurückführen lassen und die als Muster für die Bildung weiterer bestimmter Sätze dienen können. "We begin by making a fundamental distinction between two kinds of sentences: kernel sentences and transforms", heißt es etwa bei Roberts. "Kernel sentences are the basic, elementary sentences of the language, the stuff from which all else is made. Transforms are the 'all else' structures drawn from the kernel to produce all the complications of English sentences." 227 Als Beispiel führt T h o m a s an: "every imperative sentence in modern English is derived from a kernel with you as the subject; in traditional terms, there is a you understood, and in transformational terms, there is a you in the deep 226 228

227

I. V. Arnold (Anm. 23), p. 44. Hajime Ogino, „Identification Transformation". In: "Dokkyo University Studies in English" No. 1, 1967, pp. 116—125 (Zitat p. 116), Tokyo, Japan. Paul R o b e r t s (Anm. 205), p. 1.

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structure." 228 Als markantester Wesenszug wird von allen Transformationsgrammatikern die Systemhaftigkeit der Sprache herausgestellt, die es einem geübten Sprecher gestattet, mit einer begrenzten Zahl von Wörtern nach relativ wenigen Mustern eine praktisch unbegrenzte Zahl von Sätzen zu bilden. Diese lagen vorher nicht in seinem Gedächtnis bereit, da im menschlichen Hirn konkrete Sätze grundsätzlich nicht gespeichert werden, abgesehen von den relativ wenigen auswendig gelernten Sprichwörtern, Zitaten und Gedichten sowie von oft gesprochenen Satzeinheiten. Die unbegrenzte Menge von möglichen Äußerungen in der Rede lassen sich also auf eine zu einer bestimmten Zeit begrenzten Menge von Einheiten und Regeln innerhalb einer Sprache zurückführen. Mit wissenschaftlicher Ehrlichkeit und echtem Traditionsbewußtsein betont C h o m s k y wiederholt, daß auch die Methode der Transformationsgrammatik durchaus nicht so neu ist, wie sie oft hingestellt wird.: "The idea that a language is based on a system of rules determining the interpretation of its infinitely many sentences is by no means novel. Well over a century ago, it was expressed with reasonable clarity by Wilhelm von Humboldt in his famous but rarely studied introduction to general linguistics". 229 (Vgl. Anm. 224.) In einer anderen Arbeit gelangt C h o m s k y unter Anführung vieler deutscher Originalstellen aus Humboldts Berliner Untersuchung vom Jahre 1836 zu dem bezeichnenden Ergebnis: " I think it is historically accurate to regard the approach presented in this paper as basically Humboldtian. ... I can do no more here than indicate certain points of contact between Humboldtian general linguistics, on the one hand, and recent work on generative grammar and its implications, on the other." 230 Wiederholt bemüht sich C h o m s k y , die traditionelle Grammatik mit der generativen Transformationsgrammatik in fruchtbare Verbindungen zu bringen und die Verdienste und Vorzüge beider anzuerkennen. 231 Kritisch ist zu C h o m s k y s und seiner vielen Mitarbeiter und Nachfolger Bemühungen festzustellen, daß es unklar bleibt, wie man zu der von ihnen theoretisch vorausgesetzten relativ kleinen Gruppe von Kernsätzen (kernel sentences) gelangen kann, aus denen sich die unzähligen anderen Sätze einer 228

Owen T h o m a s (Anm. 8), p. 220. Noam C h o m s k y (Anm. 222), p. V. 230 Noam C h o m s k y , Current Issues in Linguistic Theory. London—The Hague—Paris 1964, 19662, p. 25. — Eingehender handelt Noam C h o m s k y über Wilhelm von H u m b o l d t s Bedeutung für die Ausbildung der modernen Linguistik in seinem Buch Cartesian Linguistics: A Chapter in the History of Rationalist Thought. New York and London 1966. 31 Noam C h o m s k y (Anm. 230), pp. 1 6 - 1 7 .

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Sprache ableiten sollen. Zu dieser unbewiesenen Hypothese steht ihre Auffassung in krassem Widerspuch, daß von den Sprechern einer Sprache so gut wie kein Satz wiederholt werde. Es fehlt auch ein verläßliches Kriterium für C h o m s k y s mehrfach ausdrücklich genannte Zielsetzung, grammatische ( = mögliche und richtige) von ungrammatischen ( = unmöglichen und falschen) sprachlichen Äußerungen zu unterscheiden. Hinsichtlich der Bedeutung vermißt man bei ihm die Zusammenführung von grammatischer und lexikalischer Bedeutung (wozu man seine sonderbar widersprüchlichen Bemerkungen auf S. 80 vergleiche!); denn erst beide zusammen gewährleisten eine formal und inhaltlich richtige Aussage. Die beschränkte Verwertbarkeit der Transformationsgrammatik für die Linguistik beruht letzten Endes darauf, daß sie in erster Linie für die maschinelle Übersetzung bestimmt ist. Immerhin kommt C h o m s k y das große Verdienst zu, den Substitutionstest und die Transformationsmethode in die moderne Sprachwissenschaft eingeführt zu haben, wobei es sich um reale SprachVorgänge handelt, die ein weites neues Untersuchungsfeld eröffnen, da im sprachlichen Leben dauernd und auf allen Ebenen transformiert wird. In seiner Terminologie verfährt C h o m s k y ebenfalls oft recht eigenwillig und verwendet bekannte und feste linguistische Grundbegriffe wie Syntax, Grammatik und Semantik anders als üblich. Leider wiederholt sich bei den Anhängern und Nachfolgern C h o m s k y s hinsichtlich der Darstellung und Terminologie der gleiche Vorgang in der Transformationsgrammatik wie bei den Nachfolgern S a u s s u r e s und B l o o m f i e l d s in der strukturalistischen Grammatik: Ihre sprachlichen und pseudomathematischen Systemdarstellungen mit den verschiedenartigsten, willkürlichen Symbolzeichen werden immer komplizierter und unverständlicher. Oft kann man sich auch hier nicht des Eindrucks erwehren, daß einfache sprachliche Tatsachen und Verhältnisse bewußt verdunkelt und kompliziert werden. Ein Abdruck von Proben lohnt nicht den drucktechnischen Aufwand. Wie vorher und immer noch häufig in der Literaturwissenschaft droht auch in der Sprachwissenschaft eine Unsitte um sich zu greifen, welche die bekannte Warschauer Anglistin Margaret S c h l a u c h in der Rezension einer literarischen Untersuchung treffend wie folgt charakterisiert: „Die Vorliebe des Verfassers für die Ausdrucksweise der Richtung, die man mangels eines besseren Begriffs New Criticism nennen mag, führt ihn häufig zu Formulierungen, die ebenso anspruchsvoll wie undurchsichtig sind, ... was ich die mühsame Darstellung von Selbstverständlichem nennen möchte. ... Warum soll man das Selbstverständliche so hochspielen?" 232 232

Margaret Schlauch in der „Deutschen Literaturzeitung" Jahrgang 85, Heft 9, Sp. 801—802, Akademie-Verlag Berlin 1964. — Auch Charles F . H o c k e t t beklagt

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Das Verständnis bei der Beschreibung der Struktur des sprachlichen Zeichensystems durch die neueren Grammatiker wird schließlich auch dadurch erheblich erschwert, daß einerseits die gleichen linguistischen Termini als Internationalismen in völlig verschiedenem Sinn und K o n t e x t verwendet werden, andererseits für den gleichen Sachverhalt eine Vielzahl v o n Bezeichnungen anzutreffen ist. Es erscheint daher wieder einmal an der Zeit, an das Vermächtnis Hermann P a u l s , des Begründers der neuzeitlichen Sprachwissenschaft, zu erinnern, dem auch die neueren und neuesten sprachwissenschaftlichen Richtungen in aller Welt ungewöhnlich viel verdanken, oft ohne es zu wissen oder einzugestehen : 233 „Ich erkläre ein für alle Mal, daß ich nur für diejenigen schreibe, die mit mir der Überzeugung sind, daß die Wissenschaft nicht vorwärtsgebracht wird durch komplizierte Hypothesen, mögen sie auch mit noch so viel Geist und Scharfsinn ausgeklügelt sein,

die schwer verständliche Sprachdiktion moderner linguistischer Abhandlungen in „Language", Journal of the Linguistic Society of America, vol. 43,1967, p. 208: " I t is a sad commentary on the state of our branch of science that for a quarter of a century most of us have been rejoicing in this fact — instead of struggling, as any scientist should, to make things as simple and understandable as possible." 233 So machte Piero Meriggi (Pavia) in einem Diskussionsbeitrag die Teilnehmer des Fünften Internationalen Kongresses für Phonetische Wissenschaften 1964 in Münster darauf aufmerksam, „daß die Deutschredenden es gar nicht nötig haben, die Termini «langue » und «parole » beizubehalten, als ob sie unübersetzbar wären. Wenn sie ihre alten, ihre größten Sprachforscher lesen würden, was sie anscheinend wohl nicht mehr tun, würden sie finden, daß man mit der üblichen Zuweisung an de Saussure der für die heutige Sprachwissenschaft wesentlichen Scheidung von «langue » und « parole » ihrem älteren Urheber Hermann Paul Unrecht antut, der nicht nur zwischen « Sprachusus » («langue ») und « gewöhnlicher Sprechtätigkeit» (eben « parole ») deutlich unterschieden, sondern sogar ihre kausale Verkettung entdeckt hat, indem er die Ursachen der Sprach(usus)veränderungen in der « gewöhnlichen Sprechtätigkeit» erblickte. Ein grundlegender Gedanke, den man auch bei de Saussure vielleicht voraussetzen, aber nicht ausdrücklich geäußert finden kann." Eberhard Z w i r n e r und Wolfgang B e t h g e (Eds.), Proceedings of the Fifth International Congress of Phonetic Sciences held at the University of Münster 16—22 August 1964, Basel—New York 1965, p. 23. — Nachdrücklich weist auch John T. W a t e r m a n (Anm. 80 und 86) auf die Abhängigkeit des 'American structuralism' von der vorausgegangenen europäischen und besonders deutschen Sprachwissenschaft hin: "Suffice it for now to say that the bulk of linguistic research in the United States has received its impetus and direction from scholars trained in the neogrammarian tradition" (p. 50); "in the United States, however, largely because of a generation of German-trained philologists in our universities, the neogrammarian tradition is still very strong" (p. 55).

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sondern durch einfache Grundgedanken, die an sich evident sind, die aber erst fruchtbar werden, wenn sie zu klarem Bewußtsein gebracht und mit strenger Konsequenz durchgeführt werden." 2 3 4 Die deskriptiven linguistischen Richtungen des Strukturalismus und des Transformationalismus stellen bereits den dritten, breitangelegten Versuch dar, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten auf die Erforschung der Sprache in ihrer Gesamtheit anzuwenden, u m dadurch die Sprachwissenschaft zu einer exakten Wissenschaft zu machen. Der e r s t e Versuch geht bezeichnenderweise auf das Jahr 1660 zurück, wo unter dem Einfluß der aufblühenden Naturwissenschaften gleichzeitig in England und Prankreich eine naturwissenschaftliche Untersuchung der Sprache vorgenommen wurde. Sowohl die Konzeptionen der Strukturgrammatiker als auch die Grundpositionen der Transformationsgrammatiker, wie etwa die Annahme einer Tiefen- und Oberflächenstruktur des Satzes, sind in der berühmten Grammaire générale et raisonnée v o n C. L a n c e l o t und A. A r n a u l d im Kloster Port-Royal in der Pariser Vorstadt Saint-Jacques v o m Jahre 1660 vorgebildet 2 3 5 , die ihrerseits auf Anschauungen der Renaissance-Grammatiker des 16. Jahrhunderts beruhen. I n England wurden unter dem Einfluß

234 235

Hermann P a u l , Prinzipien der Sprachgeschichte. Vorrede zur 2. Auflage, Halle 1886. Noam C h o m s k y , Cartesian Linguistics: A Chapter in the History of nationalist Thought. New York and London 1966, pp. 32ff. Unter Cartesianischer Linguistik versteht C h o m s k y folgendes: "With the construct 'Cartesian linguistics', I want to characterize a constellation of ideas and interests that appear in the tradition of 'universal' or 'philosophical grammar', which develops from the Port-Royal Qrammaire générale et raisonnée (1660)." (p. 75) — Daß die Port-Royal Grammatik wie überhaupt die gesamte cartesianische Linguistik im 17. Jahrhundert nicht auch schon gültige Regeln für die Bildung von Sätzen aufgestellt hat, erklärt sich aus der damaligen Überzeugung, daß die Wortfolge im Satz direkt der Gedankenfolge entspreche. So unterscheidet der englische Sprachmeister und Bischof John W i l k i n s in An Essay towards a Real Character and a Philosophical Language, London 1668 (p. 354) zwischen gebräuchlichen Konstruktionen wie take one's heels and fly away oder hedge a debt und solchen, die keiner besonderen Erörterung bedürfen, da sie dem "natural sense and order of the words" folgen; und der französische Rhetoriklehrer B. L a m y betonte im gleichen Sinne wenige Jahre später in seinem Buch De l'art de parier, Paris 1676 (p. 25), daß "l'ordre des mots, et les règles qu'il faut garder dans l'arrangement du discours" sich von selbst ergeben, da "la lumière naturelle montre si vivement ce qu'il faut faire". (Chomsky p. 28) — Die folgenreiche Grammatik von Port-Royal liegt jetzt in einer zweibändigen Neuauflage vor: Antoine A r n a u l d — Claude L a n c e l o t , Grammaire générale et raisonnée ou La Grammaire de PortRoyal. Édition critique par Herbert E. B r e k l e . Stuttgart 1968.

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der fast zur gleichen Zeit 1662 gegründeten naturwissenschaftlichen Royal Society of London for Improving Natural Knowledge von dem Universalgelehrten John W a l l i s und seinen Zeitgenossen wissenschaftliche Lautsysteme mit exakteren Lautanalysen aufgestellt, und es wurde die englische wissenschaftliche und praktische Phonetik begründet. 236 Der z w e i t e große Versuch, eine Erneuerung der Sprachwissenschaft mit Hilfe der Naturwissenschaft zu erreichen, wurde von den sogenannten Junggrammatikern in der Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unternommen. Er führte zur Annahme einer streng lautgesetzlichen Entwicklung ohne Rücksicht auf die Bedeutung, zu einer sehr folgenreichen These, die ihren klassischen Ausdruck in Hermann P a u l s berühmtem Buch Prinzipien der Sprachgeschichte (Halle 1880, 1920, 19375) gefunden hat. Eine physikalisch-mechanistische Auffassung steht auch hinter der in vielen bekannten und verbreiteten Büchern Otto J e s p e r s e n s vertretenen Auffassung im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, daß diejenige Sprache am höchsten zu bewerten sei, welche mit einem Mindestmaß an Kraftaufwand ein Höchstmaß an Leistung erziele: "that language ranks highest which goes farthest in the art of accomplishing much with little means, or, in other words, which is able to express the greatest amount of meaning with the simplest mechanism." 237 (Von J e s p e r sen durch Großdruck hervorgehoben!) Der d r i t t e größere Versuch, mit naturwissenschaftlichen Methoden in der Sprachwissenschaft zu arbeiten, wurde im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts von Leonard B l o o m f i e l d und seinen Zeitgenossen und Jüngern unternommen und fand seinen klassischen Niederschlag in B l o o m f i e l d s Buch Language (New York 1933, London 1935 u. ö.). Auf anderer Ebene wurde dann derselbe Versuch nach der Mitte unseres Jahrhunderts von Noam C h o m s k y und seiner Schule unternommen. Daß alle diese modernen sprachwissenschaftlichen Erneuerungsversuche auf naturwissenschaftlicher Basis im Grunde nur bei der Darstellung und Analyse der L a u t e einen wesentlichen Fortschritt erzielt haben (abgesehen von den Transformationsgrammatikern), erklärt sich aus ihrer naturwissenschaftlichen, physikalisch-mechanischen Ausgangsposition. So hat die erste 236

237

Martin L e h n e r t , „Die Anfänge der wissenschaftlichen und praktischen Phonetik in England". In: „Archiv für das Studium der neueren Sprachen", Band 173, 1938, S. 163 ff. — Otto F u n k e , Die Frühzeit der englischen Grammatik. Bern 1941. — S. S. L i n s k y , "John Wilkins' Linguistic Views". In: „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik" 14. Jahrgang 1966, S. 56—60. Otto J e s p e r s e n , Language: Its Nature, Development and Origin. London—New York 1922, p. 324. — George K. Z i p f , Human Behavior and the Principle of Least Effort. Cambridge, Mass., 1949.

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Richtung im 17. Jahrhundert die wissenschaftliche L a u t a n a l y s e und L a u t s t r u k t u r , also die Phonetik 238 begründet, die zweite Richtung im 19. Jahrhundert die L a u t g e s e t z l i c h k e i t ermittelt, die dritte Richtung im 20. Jahrhundert die f u n k t i o n a l e L a u t l e h r e , die P h o n o l o g i e , geschaffen. Wie wir wiederholt ausführten, ist das lautliche Material einer Sprache, ihre äußere materielle Hülle, gewöhnlich frei von eigenständiger Bedeutung und daher für eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise durchaus und besonders geeignet. I n Form von Schallwellen ist die akustische Seite die einzige unmittelbar beobachtbare, empirisch erfaßbare, analysierbare und meßbare Realität der Sprache. Da jedoch für den Sprecher und Hörer weniger die objektiven akustischen und physiologischen als vielmehr die .signifikanten' Merkmale der Laute (Phoneme) von Bedeutung sind, tritt bereits bei ihnen das subjektive menschliche Urteils- und Entscheidungsvermögen in Aktion. Bei der wissenschaftlichen Analyse und Darstellung der dem Laut übergeordneten Spracheinheiten des M o r p h e m s , W o r t e s , S y n t a g m a s und S a t z e s , wo zu der Form die Bedeutung, zur Materie der Geist treten, versagt die einseitige mechanistisch-physikalisch-mathematisch-logistische Betrachtungsweise der Sprache. Die Sprachwissenschaftler müssen bei diesen höheren sinntragenden Spracheinheiten von vornherein stets und methodisch konsequent die dialektische Einheit von F o r m und F u n k t i o n , von Ausdruck und Inhalt, von form (structure) und meaning (function), von Gehalt und Gestalt sowie von Zweck und Ausdruck berücksichtigen 239 , worum sich viele neuere Sprachforscher bereits seit längerem bemühen. Stets sind beide sprachliche Seiten gleichzeitig und unlösbar vereint, die eine existiert nicht ohne die andere. Auch der führende amerikanische Vertreter der Transformationsgrammatik Noam C h o m s k y gelangt, wenn auch im abschließenden ersten Satz des Summary seines weitverbreiteten Buches 238

Das neulateinische Wort phöneticus wurde erst am Ende des 18. Jahrhunderts von dem deutsch-dänischen Archäologen Georg Zoega in seinem Werk De origine et usu obeliscorum, Rom 1797, geprägt. Von 1833 an wurde der Begriff bei Franz B o p p und seit 1836 auch bei Wilhelm von H u m b o l d t verwendet und fand durch diese allgemeinen Eingang in die Sprachwissenschaft. Eberhard Zwirner, „Die Bedeutung der Sprachstruktur für die Analyse des Sprechens". In: Eberhard Zwirner und Wolfgang B e t h g e (Eds.) (Anm. 233), pp. 1 — 10. 238 Martin L e h n e r t , Stand, Methoden und Aufgaben der Berliner Sprachwissenschaft. Berlin 1966. „Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin", Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jahrgang 1966, Nr. 3, S. 17ff. und S. 21 ff. — Abdruck auch in der „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik" 15. Jahrgang, 1967, S. 2 2 9 - 2 5 5 , hier: S. 243ff. und S. 246ff.

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Syntactic Structures noch zögernd: "The notion of 'structural meaning' as opposed to 'lexical meaning', however, appears to be quite suspect, and it is questionable t h a t the grammatical devices available in language are used consistently enough so t h a t meaning can be assigned to them directly", im unmittelbar folgenden Satz aber klar und bestimmt zu dem (unserem) Schlußergebnis, daß zur Begründung einer allgemeineren Sprachtheorie jedoch die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen syntaktischer Struktur und Bedeutung (correlations between syntactic structure and meaning), also von Form und Inhalt in der Sprache, gehöre: "Nevertheless, we do find many important correlations, quite naturally, between syntactic structure and meaning; or, to put it differently, we find t h a t the grammatical devices are used quite systematically. These correlations could form part of the subject matter for a more general theory of language concerned with syntax and semantics and their points of connection." 240 Ebenso hält der bekannte amerikanische deskriptive Grammatiker G l e a s o n die bisher vernachlässigte gleichzeitige Betrachtung von Ausdruck und Inhalt in der Sprache für die vordringliche zukünftige Aufgabe der Sprachwissenschaftler: "One of the greatest shortcomings of descriptive work with the expression aspect of language has been a lack of understanding of the relationships between expression and content, and the inability to use the analysis of content in attacking related problems in expression. Here is the great frontier in linguistic knowledge on which we may look for progress in the next decades." 241 Bei jeglicher Sprachanalyse ist ferner zu beachten, daß keine Sprache folgerichtig und zweckmäßig nach einem logisch-mathematischen System aufgebaut ist, daß jede Sprache ihre eigene, historisch und psychologisch bedingte Logik hat, sich also somit rein mathematisch-logischen Ordnungsprinzipien entzieht. Als historisch über längere Zeiträume hinweg mit ihren Sprachträgern entwickelte g e s e l l s c h a f t l i c h e Erscheinung ist jede Sprache „Resultat und Hilfsmittel der gesellschaftlichen Produktion; ... sie ist Kommunikationsmittel der Menschen, sie ist kollektiver Wissensspeicher, und sie ist die Wirklichkeit des Gedankens." 242 Die natürliche Sprache 243 nimmt, den meisten Menschen unbewußt, im Leben der Gesellschaft wie im 240

Noam Chomsky, Syntactic Structures. The Hague-Paris 196610 (1957), p. 108. H. A. Gleason (Anm. 3), p. 12. 242 Georg Klaus (Anm. 99), S. 9. 243 "The term 'natural language' is used to differentiate language in the sense in which the linguist understands the term from the artificial languages of the mathematician, logician, or computer scientist." Paul L. Garvin in „Language" vol. 39, 1963, p. 669 n. 2. 241

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Leben des Einzelnen eine zentrale Stellung ein. Sie bildet die Voraussetzung für die menschliche Produktion, für die Gesellschaftsform und Verhaltensweise, für Wissenschaft und Kunst. In ihr hat in besonderer Weise die Geschichte der menschlichen Produktion sowie des menschlichen Denkens und Empfindens ihren mehr oder minder dauerhaften Niederschlag gefunden. Nach Ammer „sind Arbeit, Gesellschaft, Denken und Sprache zu einer unlöslichen Einheit im Menschen verknüpft und stellen diejenige Kombination von Wesensmerkmalen dar, die eben den Menschen als solchen kennzeichnet und ihn von allen Tieren abgrenzt."244 Bei der dargelegten Beschaffenheit und Funktion ist jede Sprache natürlich eng, wenn auch nicht unmittelbar, mit der Geschichte der jeweiligen Sprachgemeinschaft verbunden und enthält vergangene, gegenwärtige und zukünftige Elemente in enger Verflechtung. Als dynamisches Gebilde befindet sie sich in ständiger Veränderung, naturgemäß in den verschiedenen Sprachen und zu verschiedenen Zeiten in jeweils verschiedenem Ausmaß: „Eine scharfe Trennung von deskriptiver (,synchronischer') und historisch-genetischer ^diachronischer') Forschung und Darstellung ist jedoch weder wünschenswert noch durchführbar. Die beiden Betrachtungsweisen haben vielmehr einander zu ergänzen und nur die Berücksichtigung beider kann den Gegebenheiten gerecht werden. Zu jeder Zeit steht in einer Sprache Absterbendes und Veraltendes neben voll Lebendigem und eben erst Aufkeimendem. Und gerade das Wissen, daß dieses alt, daß jenes in voller Geltung ist, daß dieses tot ist und daß jenes erst allmählich akzeptiert wird, ist für das Verständnis eines Sprachzustandes nicht weniger wesentlich als die zu einer bestimmten Zeit bestehenden Beziehungen zwischen einzelnen Bezeichnungen. Die Erkenntnis, daß eine lebende Sprache gleichzeitig etwas Gewordenes und etwas Werdendes ist, darf auch bei einer deskriptiven Betrachtung nicht beiseite geschoben werden."245 Die deskriptiven Linguisten gehen jedoch meist von einer festen, statischen Sprachstruktur aus und stoßen auf deren dynamischen Charakter gewöhnlich nur bei Alternativformen mit verschieden häufigem Vorkommen. Nach wie vor bleibt daher als eine wichtige Aufgabe der Sprachwissenschaftler die Vereinigung diachr onis eher und syn c h r o n i s c h er Sprach b e t r a c h t u n g , wobei "The fundamental unity of diachronic and synchronic thinking is beyond doubt."246 Schon vor einigen Jahrzehnten hat sich 244

Karl Ammer, Sprache, Mensch und Gesellschaft. Halle 1961, S. 11. Herbert K o z i o l , Grundzüge der englischen Semantik. „Wiener Beiträge zur Englischen Philologie", Wien-Stuttgart 1967, S. 6f. 246 Henry M. H o e n i g s w a l d in „Language" vol. 26, 1950, p. 364.

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W. von W a r t b u r g gegen F. de S a u s s u r e s Auflösung der Sprache in Sein und Werden und damit gegen das Nebeneinander von historischdiachronistischer und deskriptiv-synchronistischer Sprachforschung ausgesprochen und die unlösbare Verflechtung von Diachronie und Synchronie in der Sprache nachgewiesen.247 Die lange Zeit als unüberwindlich angesehene Kluft zwischen den Vertretern der neueren strukturalistischen und der älteren klassischen Linguistik bestand und besteht hauptsächlich darin, daß die ersteren die von ihnen in den Vordergrund gerückten Systembeziehungen in der Sprache nicht in den historischen Zusammenhängen, die letzteren die historischen Zusammenhänge oft nicht in dem Systemzusammenhang des jeweiligen Sprachzustandes untersuch(t)en : „Diese Entwicklung zum strukturellen Gesichtspunkt kann, geometrisch ausgedrückt, als eine Entwicklung von der linear-eindimensionalen über die strukturellzweidimensionale zur historisch-strukturellen (dreidimensionalen) Forschung bezeichnet werden."248 So betonen auch die Vertreter der Prager Linguistenschule "thenon-opposing of s y n c h r o n i s t i c and d i a c h r o n i s t i c analy s i s of language" (Sperrung im Original!) und fordern, "that in the historical analysis one should start from the systemic (i. e., synchronistic) conception, and that in the synchronistic analysis one must take into consideration the dynamism of the system of language."249 Iii ähnlicher Weise führt auch S e b a g aus, daß jeglicher historisch-soziale Stoff sowohl eine strukturelle als auch eine historische Interpretation zulasse : « De la matière historico-sociale une double lecture est possible, structurale ou historique; l'une et l'autre portent sur le même objet, mais découpent différemment le réel et utilisent des méthodes qui ne se recouvrent pas ».2S0 Er bemerkt in diesem Zusammenhang, daß die Voraussetzungen für eine Strukturtheorie der Ideologien unbestreitbar schon im Werk von Karl Marx enthalten sind. In dieselbe Richtung weist auch die Forderung der sowjetischen Sprachforscherin I. V. Arnold: "The important distinction between a diachronistic and a synchronistic approach must always be borne in mind. Yet it is of paramount importance for the student to take into consideration that in language reality the two aspects are interdependent and cannot 247

Walther von Wartburg, Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft. Leipzig 1931. „Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften", Phil.-Hist. Klasse 83, 1931,1. 248 Kurt Baldinger, Die Semasiologie. Versuch eines Überblicks. „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin", Vorträge und Schriften, Heft 61. Berlin 1957, S. 9f. 249 Josef Vachek (Ed.), A Prague School Reader in Linguistics. Bloomington, USA, 1964, p. 465. 250 Lucien Sebag (Anm. 1), p. 126.

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be understood without one another. Every linguistic investigation must strike a reasonable balance between the two, otherwise it will never be able to determine features und tendencies that distinguish one language from another." 251 Erfreulicherweise werden aus den angeführten Gründen bereits erste Versuche unternommen, bei der Untersuchung historischer englischer Texte beide Methoden in Anwendung zu bringen, wie etwa in S p r o c k e l s Untersuchung der Sprache der altenglichen Parker-Chronik, worin er im Anhang die Ergebnisse seiner diachronisch-komparativen Darstellung nunmehr synchronisch-deskriptiv vorführt "according to a method of approach which may be described as diachronic-synchronic" , 252 Bei dieser gebotenen Verbindung synchronischer und diachronischer Sprachbetrachtung wird und muß man stärker als bisher von der B e s c h r e i b u n g zur E r k l ä r u n g vorstoßen: "The descriptive linguist does not attempt to take into account the tendencies and trends of a language." 253 Die in The Grammar of Science (1899, repr. 1937!) des englischen idealistischen Wissenschaftlers Karl P e a r s o n (1857—1936), den schon L e n i n in seinem grundlegenden Werk Materialismus und Empiriokritizismus 1909 ausführlich kritisierte, aufgestellte These ist zu überwinden, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, nur zu beschreiben, klassifizieren und systematisieren, aber nicht zu erklären. Bei der von uns geforderten umfassenderen Erforschung der Sprache hinsichtlich ihrer Struktur, ihrer Funktion und ihrer geschichtlichen Veränderung verlieren auch solche letztlich unhaltbaren Begriffe wie zero ihre Bedeutung und Existenzberechtigung. In seiner Untersuchung über den ZéroBegriff in der Sprache kommt auch G. F. Meier zu dem Ergebnis: „Weder die Verwendung eines Zeichens Zéro noch eines Phonems Zéro konnte anerkannt werden. Das Ergebnis der Untersuchung besteht also zunächst in einer Negation des Zéro-Begriffes in der Sprachtheorie. Ebenso wurde Zéro als Oppositionsglied abgelehnt. . . . Gegen die Nullsetzung als technisches Verfahren, sei es zur Ermittlung bestimmter struktureller Faktoren, sei es zur Vorbereitung akustischer und kybernetischer Anwendungen bzw. Untersuchungen, ist nichts einzuwenden. Dennoch muß betont werden, daß die von Hockett, B. Bloch, Z. S. Harris u. a. vorgeschlagenen Methoden noch mancher Verbesserung bedürfen, insbesondere was die funktionelle Seite anbetrifft. Die Funktionen können nicht nur aus dem Vorkommen der Formen in bestimmten lautlichen Umgebungen ermittelt 1 . V. Arnold (Anm. 23), p. 13. C. Sprockel, The Language of the Parker Chronicle. Vol. I : Phonology and Accidence. The Hague 1965, p. XXVIII. 253 Eugene A. Nida (Anm. 4), p. 3. 251 252

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werden. Vielmehr müssen Situationszusammenhang, Kontext-Inhalt und individuelle Kommunikationsabsicht ebenfalls ermittelt werden."254 In der Berliner anglistischen Sprachwissenschaft befolgen wir seit Jahrzehnten den methodischen Grundsatz, die aus der Erforschung der Sprache der Gegenwart gewonnenen Erkenntnisse für die Aufhellung früherer Sprachstufen zu verwerten: „Erst die genaue Beobachtung der Sprache der Gegenwart macht es uns möglich, die Sprache vergangener Zeiten wieder zum Leben zu erwecken."255 So können wir die erneute Feststellung S z e m e r e n y i s , "that any attempt to understand past phases of a language presupposes thorough familiarity with language in operation"256 nur unterstreichen und halten mit ihm die Konzeption des Systemcharakters der Sprache für einen wichtigen Beitrag des Strukturalismus, die es für die historische Sprachforschung insgesamt konsequenter als bisher anzuwenden gilt. Dieser Auffassung sind auch die Vertreter der Prager Linguistenschule: "As the first important principle of structural linguistics should be regarded the conception of l a n g u a g e as a s y s t e m . Language is a system whose component parts are mutually interrelated in various ways and at the same time condition one another. The systemic character of language has not been declared by the structuralists alone: the latter, however, were the first to try and delimit both the nature of language systems and the character of the relations found within these systems."257 Für die Erschließung der englischen Lautentwicklung von 1400 bis 1950 haben wir bereits auch diese Systemkonzeption praktiziert: „Die einzelnen Laute oder Lautfamilien sind Glieder eines größeren Ganzen: des L a u t s y s t e m s . Innerhalb des Systems nehmen die Laute oder Lautfamilien ihre Stellung ein; sie sind Glieder einer Lautgemeinschaft."258 Es müssen weiterhin vervollkommnete und dem spezifischen Wesen der Sprache angemessene Theorien mit entsprechenden geeigneten Untersuchungs- und Darstellungsmethoden entwickelt bzw. weiterentwickelt werden: „Die Sprache als Objekt der Forschung unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Forschungsgegenständen. Die Sprache ist nämlich ein Gebiet, das zwei Aufbaupläne besitzt, und zwar den Inhaltsplan und den Ausdrucksplan. Sie operiert mit zwei Substanzen, nämlich mit der bezeich264

Georg Friedrich Meier (Anm. 84) S. 181. 255 Wilhelm Horn und Martin Lehnert, Laut und Leben. Englische Lautgeschichte der neueren Zeit (1400-1950). Berlin 1954,1, 69. 256 0 . Szemerönyi, Trends and Tasks in Comparative Philology. London 1962, p. 6. 267 Josef Vachek (Anm. 249), p. 465. 258 Wilhelm Horn und Martin Lehnert (Anm. 255), p. 56.

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neten und der bezeichnenden Substanz." 259 Als wichtigste Ausdrucksform menschlichen Wesens ist die Sprache mindestens ebenso kompliziert und ebenso wenig nach strikt logisch-mathematischen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut und entwickelt wie alle übrigen historisch entwickelten menschlichen Verhaltensweisen. Daher sollte man, eingedenk des noch immer gültigen lateinischen Satzes Expellas hominem bgica, tarnen utque recurret, sich davor hüten, durch ungeprüfte direkte Übernahme von Theorien und Methoden, die sich im naturwissenschaftlichen und logischen Bereich bewährt haben, die unter andersgearteter Gesetzlichkeit stehende Sprachwissenschaft zu einer exakten Wissenschaft erheben zu wollen: „Die mathematischen, logischen, kybernetischen Verallgemeinerungen können solche Probleme wie Subjekt—Objekt, Mensch—Natur, Natur—Gesellschaft, Theorie—Praxis und eine ganze Reihe allgemeinmethodologischer Probleme, mit denen sich gerade die Philosophie, der dialektische und historische Materialismus befassen, nicht lösen." 260 Nachdem der Verfasser einer neuen Einführung in die Transformationsgrammatiken die Zusammenführung von 'Mathematics and Linguistics' in einem so bezeichneten Kapitel zu 'Mathematical Linguistics' gepriesen hat, obgleich "it is impossible to predict just what parts of the whole gamut of mathematical-logical studies may turn out to be crucial for advances of linguistics in the future", gelangt er bei der praktischen Nutzanwendung zu dem ebenso überraschenden wie bezeichnenden Ergebnis: "For the construction of transformational grammars for particular languages nothing whatsoever in the way of a mathematical background is necessary. " 2 6 1 Immerhin hat auch die Anwendung m a t h e m a t i s c h e r M e t h o d e n auf gewissen Gebieten der theoretischen und angewandten Sprachwissenschaft — in Amerika gewöhnlich formal linguistics genannt — die moderne Sprachforschung und Sprachlehre in den letzten zwei Jahrzehnten gefördert. Unsere Moskauer Kollegin Akhmanova ist sogar optimistisch davon überzeugt, daß "There is not the least doubt t h a t modern exact methods of research will soon permeate all areas of our science, and t h a t linguistics, in the fullest and broadest sense of the word, will assume an

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Ludwik Zabrocki, „Strukturalistische Sprachwissenschaft und Theorie des Fremdsprachenunterrichts". In: „Glottodidactica", An International Journal of Applied Linguistics, vol. 1, Poznan 1966, S. 3—42 (Zitat S. 7). 260 P. N. Fedossejev, „Lenins Ideen und die Methodologie der modernen Wissenschaft". In: „Spektrum", Mitteilungsblatt der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 13. Jg., Heft 7, 1967, S. 286-293 (Zitat S. 293). 261 Emmon Bach, An Introduction to Transformational Grammars. New York 1964, 1966, p. 145.

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entirely modern aspect."262 Allerdings macht sie die bezeichnende und allen übertriebenen Optimismus dämpfende Einschränkung, daß die Anwendung exakter Untersuchungsmethoden, die in unlösbarer Verbindung zur Mathematik stünden, vorerst nur auf die Sprache der exakten Wissenschaften, vor allem der Mathematik, und auf die "intellectual communication as abstracted from the emotional, aesthetic, volitional, and other aspects of language"263 möglich wäre. Nun ist Sprache aber 'intellectual' und 'emotional' Kommunikation, also Zweck- und Ausdruckstätigkeit zugleich,264 die in jeder menschlichen Äußerung unlösbar, wenn auch in anteilmäßig verschiedenem Maße, verbunden sind. Daher läuft eine solche künstliche Trennung dem Wesen der Sprache und der Ergründung ihres Funktionierens von vornherein zuwider. Die exakten oder mathematischen Methoden waren vor allem in der Sprachstatistik für die linguistische Forschung265, für den programmierten Unterricht, die maschinelle Übersetzung, die Wörterbucharbeit, insbesondere für die Herstellung von Häufigkeitslisten und Wortschatzminima für die Unterrichtspraxis, von besonderem wissenschaftlichen und praktischen Nutzen. Doch muß man sich auch hier hüten, diese neu entwickelte sogenannte .mathematische Linguistik' als die einzig vertretbare, beste und sicherste Art der Sprachwissenschaft zu proklamieren. Sie ist vielmehr nur eine von vielen anderen für bestimmte Zwecke und Ziele anwendbaren und zu objektiven Ergebnissen führenden Untersuchungsmethoden der Sprache. Ihre Anwendungsmöglichkeit beruht auf der Tatsache, daß auf allen Gebieten der Sprache bestimmte und bestimmbare Gesetzmäßigkeiten walten, die allerdings auch überall, wenn auch zu einem geringeren Prozentsatz, durch Unregelmäßigkeiten verschiedener Art und Herkunft durchbrochen werden, wodurch das Funktionieren von Übersetzungsmaschinen und die Spracherlernung erheblich erschwert werden. Diese Unregelmäßigkeiten sind auch deshalb besonders gravierend, weil gerade sie die am häufigsten verwendeten Sprachmittel betreffen. Wie S p i t z b a r d t kürzlich ausführte, handelt es sich bei der Anwendung mathematischer Verfahrensweisen in der sprachwissenschaftlichen Forschung um eine Frage der M e t h o d e , die 282

293 264 265

OlgaS. A k h m a n o v a , "Can Linguistics become an Exact Science?" Im Sammelwerk von 0. S. A k h m a n o v a , I. A. Mel'chuk, R. M. Frumkina, E. V. P a d u c h e v a , Exact Methods in Linguistic Research. Translated by D. G. H a y s and D. V. Mohr. Berkeley and Los Angeles 1963, p. 3. s. Anmerkung 262. Martin Lehnert (Anm. Ill), pp. 48ff. R. M. Frumkina, "The Application of Statistical Methods in Linguistic Research". In dem Anm. 262 genannten Sammelwerk auf pp. 80—118 abgedruckt.

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ihrerseits Teil einer bestimmten T h e o r i e ist. Daher „müssen wir strenger als bisher zwischen Theorie und Methode unterscheiden, weil in manchen Veröffentlichungen beide, wahrscheinlich infolge des tatsächlich vorhandenen dialektischen Verhältnisses zueinander, häufig miteinander verwechselt werden. So ist m. E. C h o m s k y s Transformationstheorie mehr eine Methode als eine Theorie, während beispielsweise die neo-darwinistische Tendenz in der heutigen Sprachwissenschaft, besonders in den USA, in erster Linie als theoretischer Standpunkt zu betrachten ist. Die Linguisten laufen dann Gefahr, sich den Vorwurf des .Formalismus' einzuholen, wenn sie gewisse formalisierende — oder sagen wir ruhig mathematische — Methoden der Analyse zur Theorie erheben." 266 So wie vorher die Vertreter der Strukturalisierung der Linguistik die vorausgehenden Forschungsrichtungen und die Transformationalisten ihrerseits die Strukturalisten als überholt angriffen, werden sie heute selber als veraltet von den Vertretern der Mathematisierung der Linguistik abgetan: "Thus, after having long been on the offensive against traditionalist grammarians and language teachers, American structuralism now finds itself on the defensive. I t has now itself come to be presented as the obsolete tradition, superseded by the avant-garde of formal linguistics, in disregard of Leonard Bloomfield's claim (Language, New York 1933, p. 509) t h a t 'the methods and results of linguistics, in spite of their modest scope, resemble those of natural science, the domain in which science has been most successful'." 267 Mit Recht bemerkt G a r v i n zu der letzteren Entwicklung: "Does this mean t h a t the important development in linguistic thinking today is increased emphasis on formalism and the use of mathematical methods? I do not think so." 268 Die terminologische und konzeptionelle Verwirrung wurde durch diese linguistische Forschungsrichtung weiter erhöht, so daß selbst ein so versierter Fachmann auf diesem Gebiet wie der eben erwähnte G a r v i n bei der Besprechung einer diesbezüglichen Sammelarbeit seiner eigenen Landsleute gestehen muß: " I am not sufficiently familiar with the views of the other 'formal linguistic' contributors, nor are their papers sufficiently definite on this point, to allow me to classify them as either rejecters or nonrejecters [i. e., of the principles of Bloomfieldian American structuralism]." 268 Der von den ,modernen' Linguisten errichtete 266

Harry Spitzbardt, „Zur Entwicklung der Sprachstatistik in der Sowjetunion". In: „Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena." Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 4, Jahrgang 16, 1967, S. 471—490 (Zitat S. 472). 267 Paul L. Garvin in „Language" vol. 39, 1963, p. 672. 268 Ebenda, p. 670.

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Turm von Babel, dessen Vollendung nach dem ersten Buch Mose, Kap. 11, 1 —9 im Alten Testament der Bibel durch die Sprachverwirrung verhindert wurde, wird mehr und mehr zum schiefen Turm von Pisa, der über kurz oder lang einzustürzen droht. Erfolgreiche Theorien und Methoden mit gültigen Ergebnissen können nur erzielt werden, "by setting linguistic theory within the general framework of the study of human intellectual capacities and their specific character." 269 Auch für die p r a k t i s c h e S p r a c h e r l e r n u n g ist der S t r u k t u r a l i s m u s in seinen verschiedenen Ausprägungen nur von beschränktem Nutzen: "In sum: structural comparison in the planning of courses for beginners is probably on the whole a useful innovation. At the advanced level structuralism has little to offer. To try to obtain a full and fluent command of a language by structuralist methods alone, without paying regard to other aspects of language, is like trying to square the circle. For language is far more than structure." 270 Immerhin übte die Betrachtung der Sprache als Struktur und System wie gesagt sowohl auf die Sprachwissenschaft als auch auf die Sprachpraxis einen förderlichen und klärenden Einfluß aus. Sie führte zu der klaren Erkenntnis, „daß bei der Erlernung von Fremdsprachen die mechanische Aneignung der sprachlichen Strukturen und Systeme das wichtigste Element des Fremdsprachenunterrichts ist", woraus die entsprechenden praktischen Konsequenzen gezogen wurden. 271 . „Doch konnte sie naturgemäß nicht alle Fragen und Probleme des Fremdsprachenunterrichts lösen", bemerkt Z a b r o c k i einschränkend und fährt fort: „Sie 289

Noam Chomsky (Anm. 230), p. 26. Paul Christophersen (Anm. 219), p. 114. 271 Ludwik Zabrocki (Anm. 259), S. 3. Eine solche wichtige praktische Folgerung für die Erlernung einer Fremdsprache ist auch Zabrockis Feststellung, daß „je älter der Lernende, desto stärker die Interferenz der Muttersprache, und zwar innerhalb aller Strukturen der Sprache" (Zabrocki S.27). Am nachteiligsten jedoch wirktsich das zunehmende Alter eines Fremdsprachenlernenden auf die Erwerbung der fremden Lautstruktur aus. Wie Zabrocki experimentell festgestellt hat, „verringert sich allmählich nach dem 15. Lebensjahr die Wahrscheinlichkeit, sich die fremde Sprache zu 100% lautlich korrekt anzueignen. Im Alter von 50 Jahren dürfte sie dem Nullwert gleichen. Aus dieser Tatsache muß man die entsprechenden Folgerungen ziehen. ... Das beste Alter wäre wohl das Alter von 7 bis 8 Jahren. Mit dem Fremdsprachenunterricht erst im Alter von 18 oder 20 Jahren zu beginnen, ist mit viel Risiko verbunden. Man muß von vornherein mit einem gewissen Prozentabfall rechnen. Dieser Abfall läßt sich auch beim sehr intensiven Lernen nicht vermeiden." (Zabrocki S. 25f.) 270

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konnte naturgemäß die Frage, ,wie' man lehren und lernen soll, nicht erschöpfend beantworten. Sie ist in dieser Hinsicht auch überhaupt nicht zuständig. Das muß man sich vergegenwärtigen, wenn man über den Einfluß der modernen strukturalistischen Sprachwissenschaft auf die Methodik des Fremdsprachenunterrichts spricht oder schreibt." 272 Ebenso wenig wie man den mit Ausschließlichkeitsanspruch aufgetretenen strukturalistischen Richtungen das gesamte sprachliche Untersuchungsfeld überließ, darf und sollte man nunmehr auch nicht alles linguistische Heil in den verschiedenen Varianten der T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k suchen: "Nor should the transformational approach, with its current vogue, be allowed to stifle any other approach. I t is a healthy sign that linguistic analysis should be able to proceed along different lines, tackling problems from all angles and in so doing be in a better position to reveal more facts about linguistic structure than would otherwise be possible." 273 Daher haben sich selbst auch die amerikanischen Autoren einer neueren linguistischen Einführung in die Geschichte des Englischen, die den ersten, allerdings noch recht fehlerhaften Versuch ihrer Interpretation in der Begriffs- und Bezeichnungsweise der neueren Linguistik darstellt, entschlossen, bei ihrer Darstellung von "different positions in presenting different chapters of the history of English" auszugehen. 274 Die gleiche Auffassung vertritt auch ein neueres britisches Linguisten team: " I t is not true that only one model can present the nature of language; language is much too complex for any one model to highlight its different aspects equally clearly. The problem in any instance is to select, or devise, the model that will be most suitable for any purpose in view." 275 I n ähnlicher Weise kritisiert sogar C h o m s k y , "that modern linguistics seriously underestimates the richness of structure of language and the generative processes that underlie it", und etwas später, "that these inadequacies and limitations may in part be traceable to an impoverished conception of the nature of human cognitive processes, and that a return to traditional con272 273 274

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Ludwik Zabrocki (Anm. 271), S. 4. Jan S v a r t v i k (Anm. 219), p. 308. Morton W. Bloomf ield and Leonard N e w m a r k , A Linguistic Introduction to the History of English. New York 1963, p. VII. — Die ein Jahr später ebenfalls in Amerika herausgegebene englische Sprachgeschichte von Thomas P y l e s , The Origins and Development of the English Language. New York 1964, ist trotz des Einleitungssatzes: "This book aims to be a fresh and up-to-date account of English historical linguistics" ganz im Sinne der traditionellen Grammatik verfaßt und dazu recht fehlerhaft. M. A. K. H a l l i d a y — Angus M c i n t o s h — Peter D. S t r e v e n s , The Linguistic Sciences and Language Teaching. London 1965, p. 17. Morphem

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cerns and viewpoints, with the higher standards of explicitness that have emerged in modern linguistics, can perhaps provide new insights concerning perception and learning." 276 Auch wir sind davon überzeugt, daß eine fruchtbare Fortführung und Höherentwicklung der Sprachforschung nur unter Anknüpfung an die bewährten Theorien und Methoden, gesicherten Ergebnisse und hervorragenden Leistungen vorangegangener Linguistengenerationen möglich ist unter Anwendung der inzwischen erreichten, verfeinerten Methoden und vertieften Erkenntnisse, wobei „die Verbindungen zur Philosophie, Psychologie und Geschichte wiederhergestellt, die Anschlüsse zur Kybernetik und zur Soziologie aufgenommen werden müssen." 277 Die Sprachwissenschaftler müssen wegen der zentralen Stellung der Sprache im Leben und in der Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft den Aktionsradius ihrer Forschungen stärker als bisher auf die gesellschaftliche Praxis ausdehnen. Wie wir wiederholt gezeigt haben, ist die Sprache als einzigartige s o z i a l e Erscheinung nur in engster Verbindung mit der Geschichte, Kultur und Literatur der Sprachträger zu verstehen und zu ergründen. Zu demselben Ergebnis gelangt auch Olga A k h m a n o v a , die schreibt: "Only through the discovery of all facets of language can one achieve a full understanding of its nature as a unique social phenomenon. Language should be studied in connection with research on the causal bonds between linguistic communication and the facts of the social life of its creators and bearers, with their history, culture, and literature." 278 In gleicher Weise fordert unser Leipziger Kollege N e u b e r t : „ Die Sprachwissenschaft erschöpft sich nicht in der Beschreibung eines von seinen gesellschaftlichen Wirkungen isolierten Kommunikationsmittels. Sie nimmt in Erweiterung ihrer traditionellen Grenzen neue Impulse von den Gesellschaftswissenschaften auf, um ein bislang arg vernachlässigtes Gebiet, eben das Verhältnis zwischen Sprache und Gesellschaft, erforschen zu können." 279 Besonders die weitere Erkenntnis haben wir aus der kritischen Betrachtung der neueren Linguistik gewonnen: Bei allen Sprachforschungen ist jeder voreilige und anmaßende Ausschließlichkeitsanspruch für eine bestimmte Methode oder Theorie der vollen Erkenntnis des gesamten vielseitigen und vielschichtigen Sprachgeschehens schädlich und einem so universellen Gegenstand wie der Sprache unangemessen. 278

Noam Chomsky (Anm. 230), p. 27. Werner Neu mann, „Über Rolle und Bedeutung einiger linguistischer Forschungen der Akademie". In: „Spektrum", Mitteilungsblatt der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 13. Jahrgang, 1967, Heft 11/12, S. 4 2 9 - 4 3 4 (Zitat S. 431). 278 0. S. A k h m a n o v a (Anm. 262), p. 3. 279 Albrecht N e u b e r t (Anm. 78), S. 7.

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MARTIN L E H N E R T

Schreibung und Aussprache im Englischen (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jahrgang 1963, Nr. 3) 1963. 43 Seiten -

8° -

4,20 M

Schon oft ist die große Diskrepanz zwischen Schreibung und Aussprache im Englischen beklagt worden. Der Verfasser untersucht die wichtigsten Fragen, die mit diesem Problem verbunden sind und legt die Ursachen dar. Nach einer Übersicht über das heutige graphemische und phonemische System des Englischen werden die bisherigen Bemühungen sowie die Möglichkeiten und Aussichten einer englischen Orthographiereform geprüft. Abschließend werden in dieser synchronischen und diachronischen Untersuchung die wichtigsten gesetzmäßigen Beziehungen zwischen der englischen Aussprache im einzelnen aufgedeckt und begründet.

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AKADEMIE-VERLAG • BERLIN

MARTIN L E H N E R T

Stand, Methoden und Aufgaben der Berliner anglistischen Sprachwissenschaft (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jahrgang 1966, Nr. 3) 1966. 32 Seiten -

8° - 2,50 M

Diese kleine Abhandlung vermittelt eine instruktive Einsicht in die Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der von Akademiemitglied Prof. Dr. Martin Lehnert im Englisch-Amerikanischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und in der neuerdings eingerichteten kleinen Anglistischen Arbeitsstelle an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin geleiteten sprachwissenschaftlichen Anglistik seit 1945. Es wird der mühevolle, aber erfolgreiche Wiederaufbau der Berliner anglistischen Sprachwissenschaft nach dem letzten verheerenden Weltkrieg unter Anknüpfung an die besten Traditionen der anglistischen Berliner Schule an einer Reihe wesentlicher Arbeiten dargestellt. Indem die anglistischen sprachwissenschaftlichen Berliner Publikationen kritisch in den historischen und internationalen Rahmen gestellt werden, ist diese gedrängte Untersuchung zugleich auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte und weit über den gesteckten Rahmen von Bedeutung.

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