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German Pages [376] Year 2013
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Konvergenz und Divergenz Sprachvergleichende Studien zum Deutschen
Band 1 Herausgegeben von Eva Breindl und Lutz Gunkel Im Auftrag des Instituts für Deutsche Sprache
Klaus Fischer
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen Typologie und Textrealisierung
Akademie Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe. www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlagentwurf: hauser lacour Einbahndgestaltung: pro:design, Berlin Redaktion: Melanie Steinle Satz: Cornelia Häusermann Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN
978-3-05-006333-1 978-3-05-006429-1
Im Andenken an meine Eltern Erich und Elisabeth, die mir Zuversicht und Freude am Wissen vermittelt haben
Inhalt
Danksagung.............................................................................................................. XI 1.
Was dieses Buch will...................................................................................13
Teil 1
Aus theoretischer Perspektive
2.
Chancen und Grenzen des Vorgehens .........................................................23
2.1
Das Korpus ..................................................................................................23
2.2
Methodik .....................................................................................................28 2.2.1 Bestimmung und Abgrenzung des Valenzträgers ...............................28 2.2.2 Position von Ergänzungen..................................................................31 2.2.3 Grundfolge und Bindung....................................................................33
3.
Wie Sprachen charakterisiert werden können .............................................39
3.1
Sprachtypologie...........................................................................................39
3.2
Textrealisierung ...........................................................................................41
3.3
Ausdruck und Inhalt ....................................................................................42 3.3.1 Beschreibungskategorien und -ebenen ...............................................42 3.3.2 Semantische Transparenz ...................................................................43 3.3.3 Grammatische Komplexität................................................................48 3.3.4 Lernaufwand, kognitiver Aufwand und Verbosität ............................51 3.3.5 Untersuchte Parameter........................................................................52
3.4
Kovariation funktionaler Äquivalente.........................................................54
4.
Einheit in der Vielheit: John A. Hawkins’ sprachtypologische Welt...........57
4.1
Allgemeines zu Hawkins’ sprachtypologischen Ansätzen ..........................57
4.2
Hawkins’ erste These: Eine vergleichende Typologie des Englischen und Deutschen .............................................................................................58 4.2.1 Darstellung .........................................................................................58 4.2.2 Kritik ..................................................................................................67 4.2.3 Zusammenfassung ..............................................................................77
VIII
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
4.3
Hawkins’ zweite These: Eine Verarbeitungstheorie der Wortfolge und Konstituentenstruktur ..................................................................................78 4.3.1 Einführung..........................................................................................78 4.3.2 Verarbeitung der Konstituentenstruktur .............................................81 4.3.2.1 Prinzip des frühen Erkennens der unmittelbaren Konstituenten .....81 4.3.2.2 Verarbeitung der Konstitutentenstruktur im Deutschen .................83 4.3.3 Zusammenfassung ..............................................................................88
4.4
Hawkins’ zweite These: Verarbeitung der semantischen Satzstruktur ........89 4.4.1 Phasenmodelle des Erkennens der semantischen Satzstruktur...........89 4.4.2 Kritik ..................................................................................................93 4.4.3 Zusammenfassung ..............................................................................96
4.5
Hawkins’ dritte These: Effizienz und Komplexität in der Grammatik........96 4.5.1 Darstellung und Kritik........................................................................96 4.5.2 Zusammenfassung ............................................................................102
5.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst...............................................................104
5.1
Valenzbegriff .............................................................................................104 5.1.1 Einführung........................................................................................104 5.1.2 Anforderungsprofil an eine Valenztheorie........................................105 5.1.3 Definition von Valenz.......................................................................109 5.1.4 Logik und Valenz..............................................................................115 5.1.5 Indeterminiertheit von Valenz ..........................................................117
5.2
Aspekte eines Valenzmodells in der Übersicht .........................................119
5.3
Zuordnung von Szenario-Partizipanten zu Egänzungen ...........................120
5.4
Valenz und Konstruktion ...........................................................................129
5.5
Ebenen der Valenzbeschreibung................................................................131
5.6
Änderungen der Valenz: Valenzwechsel, -reduktion und -erhöhung ........138
5.7
Vagheit, Familienähnlichkeit, Multidimensionalität und Prototypik ........145
5.8
Valenztheorien in der Übersicht ................................................................156
5.9
Zusammenfassung .....................................................................................157
Teil 2
Aus empirischer Perspektive
6.
Daten aus dem Korpus: Ergänzungsunabhängige Parameter....................163
6.1
Text-, Satz-, Wort- und Silbenlänge ..........................................................163
6.2
Anzahl der Verbalphrasen im Deutschen und Englischen.........................168 6.2.1 Art und Frequenz: Englisch als verbalere Sprache...........................168 6.2.2 Konversen.........................................................................................176 6.2.3 Verbpositionen aus grammatischer und typologischer Sicht............183
IX
Inhalt
6.3
Zusammenfassung .....................................................................................186
7.
Wie im Deutschen und Englischen Verben ergänzt werden......................188
7.1
Kontrastiver Überblick über Ergänzungsklassen im Deutschen und Englischen ..........................................................................................189
7.2
Subjekt.......................................................................................................191 7.2.1 Definition..........................................................................................191 7.2.2 Typologische Einordnung.................................................................194 7.2.3 Abweichende Kennzeichnungen ......................................................197 7.2.4 Kopfkennzeichnung..........................................................................198 7.2.5 Subjektelemente ...............................................................................199 7.2.6 Frequenz ...........................................................................................208 7.2.7 Semantik des Subjekts......................................................................212 7.2.8 Realisierungsformen des Subjekts....................................................216 7.2.9 Kennzeichnung der Opposition zwischen Subjekt und direktem Objekt.........................................................................217 7.2.10 Temporäre Ambiguität....................................................................220 7.2.11 Position ...........................................................................................228 7.2.12 Zusammenfassung ..........................................................................235
7.3
Akkusativ-E/Direct Object ........................................................................238 7.3.1 Definition..........................................................................................238 7.3.2 Abgrenzung des direkten vom indirekten Objekt.............................238 7.3.3 Frequenz ...........................................................................................243 7.3.4 Semantik des direkten Objekts .........................................................249 7.3.5 Position.............................................................................................250 7.3.6 Zusammenfassung ............................................................................255
7.4
Genitiv-E ...................................................................................................257 7.4.1 Definition..........................................................................................257 7.4.2 Frequenz ...........................................................................................258 7.4.3 Zusammenfassung ............................................................................258
7.5
Dativ-E/Indirect object ..............................................................................259 7.5.1 Definition..........................................................................................259 7.5.2 Semantik...........................................................................................259 7.5.3 Typologische Kontraste ....................................................................262 7.5.4 Realisierung und Frequenz ...............................................................265 7.5.5 Position.............................................................................................266 7.5.6 Zusammenfassung ............................................................................267
7.6
Präpositiv-E ...............................................................................................268 7.6.1 Definition..........................................................................................268 7.6.2 Semantik...........................................................................................269 7.6.3 Abgrenzung ......................................................................................270
X
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
7.6.4 Frequenz ...........................................................................................274 7.6.5 Position.............................................................................................276 7.6.6 Zusammenfassung ............................................................................279 7.7
Adverbial-E ...............................................................................................280 7.7.1 Definition..........................................................................................280 7.7.2 Semantik...........................................................................................281 7.7.3 Abgrenzung ......................................................................................282 7.7.4 Realisierung und Frequenz ...............................................................285 7.7.5 Position.............................................................................................292 7.7.6 Zusammenfassung ............................................................................294
7.8
Prädikativ-E...............................................................................................295 7.8.1 Definition und Semantik ..................................................................295 7.8.2 Abgrenzung ......................................................................................298 7.8.3 Sachverhaltsbeteiligung....................................................................300 7.8.4 Frequenz ...........................................................................................301 7.8.5 Position.............................................................................................305 7.8.6 Zusammenfassung ............................................................................307
7.9
Verbativ-E..................................................................................................309 7.9.1 Definition, Abgrenzung und Semantik.............................................309 7.9.2 Frequenz ...........................................................................................312 7.9.3 Position.............................................................................................313 7.9.4 Zusammenfassung ............................................................................314
8.
Wie im Deutschen und Englischen Verben durch Teilsätze ergänzt werden...........................................................................................315
8.1
Überblick über die Formen von Ergänzungssätzen...................................315
8.2
Klassen von Ergänzungssätzen..................................................................317 8.2.1 Frequenz ...........................................................................................317 8.2.2 Kontraste .........................................................................................320
8.3
Formen der Ergänzungssätze.....................................................................330 8.3.1 w-/wh-Sätze .....................................................................................330 8.3.2 Spaltsätze..........................................................................................331 8.3.3 Frequenz ...........................................................................................335
8.4
Zusammenfassung .....................................................................................349
9.
Was gelernt wurde .....................................................................................354
Abkürzungen und Zeichen......................................................................................356 Literatur...................................................................................................................361
Danksagung
Dieses Buch hat eine längere Geschichte. Es geht auf eine Einladung Ulrich Engels zurück, zu der Reihe Deutsch im Kontrast mit einer Deutsch und Englisch kontrastierenden Arbeit auf valenzgrammatischer Grundlage beizutragen. Wechselnde Aufgaben an meiner Universität, der Zyklus der nationalen britischen Forschungsbewertungen und andere Probleme verzögerten eine Realisierung, die, so hoffe ich, der Relevanz des Themas keinen Abbruch getan hat. Die Verzögerung hat mir jedenfalls eine erhebliche thematische Ausweitung und perspektivische Veränderung erlaubt, so dass sie auch ihr Gutes hatte. Dass das Projekt schließlich realisiert werden konnte, ist dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Ludwig Eichinger, sowie Eva Breindl und Lutz Gunkel als Herausgebern der vorliegenden neuen Reihe „Konvergenz und Divergenz. Sprachvergleichende Studien zum Deutschen“ zu verdanken, die zu eröffnen meinem Band die Ehre zukommt. Die germanistischen Sprachwissenschaftler in Großbritannien arbeiten an ihren Universitäten meist isoliert von Fachkollegen. Umso wichtiger ist der Kontakt über Fach- und Berufsorganisationen wie dem Forum for Germanic Language Studies, der Association for German Studies in Great Britain and Ireland und der Philological Society, deren Organisatoren und Mitgliedern ich für Anregungen und Diskussionen zu Dank verpflichtet bin. Für akademischen Austausch und gemeinsame Projekte danken möchte ich auch meinen Freunden und Kollegen in der Valenzszene und darüber hinaus. Stellvertretend für viele möchte ich Martin Durrell nennen, der meine akademische und berufliche Entwicklung seit vielen Jahren beratend begleitet hat, Vilmos Ágel, der immer bereit ist, ein Problem zu durchdenken, Hans-Werner Eroms, der meine Arbeiten durch freundliches Interesse gefördert hat, und Stefan Schierholz, mit dem mich mehrere Vorhaben verbinden. Danken möchte ich auch meinen jetzigen und ehemaligen Kolleginnen und Kollegen an der London Metropolitan University, nicht nur für Kollegialität in oft schwierigen Zeiten, sondern auch für sprachwissenschaftliche Diskussionen. Ein Unterfangen wie dieses ist nicht ohne die Unterstützung von Familie und Freunden möglich, in meinem Falle nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern auch bei der Diskussion von Akzeptabilitätsurteilen und semantischen Nuancen. Ganz besonders herzlich danken möchte ich Biddy, Nikola, Becca, Anna und Roly.
XII
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Einer Reihe von Institutionen und Organisationen schulde ich Dank. Für kostenlose Nutzung danke ich vor allem den über COSMAS zugänglichen Korpora des Instituts für Deutsche Sprache und dem British National Corpus, aber auch dem Corpus of Contemporary American English, dem Europarl-Korpus und dem „de-news“-Korpus. Dem britischen Arts and Humanities Research Council danke ich für einen Research Leave Scheme Award (RL/AN6564/APN 16978), der die begriffliche Grundlegung des Projekts erlaubte, London Metropolitan University für ein Forschungssemester (2011), in dem das Buch seine jetzige Gestalt angenommen hat. Ulrich Engel möchte ich dafür danken, dass er das Projekt nicht nur angeregt, sondern auch eine frühe Fassung durchgesehen hat. Ganz besonderer Dank gebührt Eva Breindl für die sorgfältige und fachkundige Betreuung des Bandes als Reihenherausgeberin, Melanie Steinle für kompetente redaktionelle Arbeit, insbesondere die genaue Durchsicht des Textes, und Cornelia Häusermann für Mitdenken und Geduld bei der Einrichtung der Druckvorlage und der Ausführung der Korrekturen. Heiko Hartmann vom Akademie Verlag danke ich für schnelle Beantwortung von Anfragen und sachdienliche Hinweise. London, den 6. Februar 2013 Klaus Fischer
1. Was dieses Buch will
In diesem Buch möchte ich erkunden, welche Art Sprachen Deutsch und Englisch sind und wie sich die Befunde zueinander verhalten. Dazu vorab einige Beispiele und Überlegungen aus den Leserinnen und Lesern wohl bekannter Perspektive, nämlich der der Sprachlerner. Deutschsprachige Lerner des Englischen oder englischsprachige Lerner des Deutschen treffen auf eine partiell vertraute Sprache mit Gemeinsamkeiten in Lexis und Grammatik: (1) (1e) (2) (2e) (3) (3e)
Die Katze sah die Maus. The cat saw the mouse. Das Wetter ist besser als letztes Jahr. The weather is better than last year. Mach das Radio aus! Turn the radio off!
Die Satzpaare (1) und (2) zeigen nicht nur den gemeinsamen Ursprung fast aller ihrer Wörter, sondern auch von Wortformen (sah/saw, besser/better). Auch die Grundfolge ist identisch. Satz 3 zeigt, dass das Englische nicht nur wie das Deutsche Partikelverben besitzt, sondern auch in einigen Kontexten eine Satzklammer bewahrt hat. Die Beispiele ließen sich fortführen. Diese Vertrautheitserfahrung ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch um zwei Sprachen mit gemeinsamen westgermanischen Wurzeln und gemeinsamen kulturellen Einflüssen, vor allem der Einfluss der klassischen Sprachen Griechisch und Latein und der des Französischen auf die Lexis (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß). Englischsprachige Lerner des Deutschen machen aber von Anfang an auch eine Fremdheitserfahrung: Abgesehen von dem größeren Anteil an Wörtern nicht-lateinischromanischen Ursprungs und den vielfachen Präfigierungs- und Kompositionsmöglichkeiten besitzt Deutsch grammatische Kategorien (grammatisches Geschlecht, Kasus, Konjunktiv), die im Englischen nicht mehr oder nur noch rudimentär vorhanden sind. Weiterhin besitzt Deutsch mehr Flexionsformen (Verbflexion nach Person und Numerus, unterschiedliche nominale Pluralformen), mehr Auxiliarverben (haben und sein für das Perfekt, werden für das Passiv), mehr Reflexivverben und mehr Wortstellungsvarianten. Dieser formale Reichtum behindert zwar mit Ausnahme der Wortstellungsvarianten das Verstehen kaum, aber er macht es schwierig, grammatisch korrekte deutsche Äußerungen
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
zu produzieren. Gerade die Interaktion von grammatischem Geschlecht, Rektion, Determination und Deklinationsklassen stellt Lerner vor dauerhafte Probleme (vgl. Diehl et al. 2000; Fischer 2010). Das Englische hat sich nämlich in den genannten Bereichen von den gemeinsamen westgermanischen Wurzeln wegentwickelt: Aufgrund von in den Details und in der relativen Wichtigkeit umstrittenen Sprachkontakten mit dem Keltischen, Nordgermanischen (Wikinger) und normannischen Französisch hat das Englische grammatische Morphologie verloren und sich auch syntaktisch stark verändert, wie die Gegenüberstellung mit den konservativeren deutschen Strukturen zeigt.1 Zu nennen sind hier z.B. der (weitgehende) Verlust der Verbzweitstellung: For breakfast we eat bread vs. Zum Frühstück essen wir Brot, die Einschränkung externer Possessoren: She stroked his hair vs. Sie strich ihm über das Haar, der Verlust von Reflexivkonstruktionen: I am shaving vs. Ich rasiere mich (vgl. McWhorter 2002; König/Gast 2009). Allerdings gibt es auch Neuerungen: die Entwicklung von Aspekt, die zu einem zusätzlichen Satz an (synthetischen) Verbformen führt (plays/is playing) und zu einem stark ausgeprägten Bedeutungsunterschied zwischen Präteritum (played) und present perfect (has played), der obligatorische Gebrauch eines Auxiliarverbs bei Entscheidungsfragen und Verneinungen (do-Umschreibung) (vgl. Siemund 2003: 17; McWhorter 2008), die Zunahme an Formen infiniter Teilsätze (Gerundium (-ing) und for…to-Konstruktion; vgl. Rohdenburg 1991), die Entwicklung separater Reflexivpronomina (x-self).2 Während der Verlust an grammatischer Morphologie nicht nur deutschsprachigen Englischlernern die Produktion englischer Sätze erleichtert, bedeuten die genannten Entwicklungen eine Komplexitätszunahme, die immer wieder zu Übergeneralisierungen etwa beim Gebrauch der Verlaufsform führt (What do you do for a living? ??I am working at Siemens). In diesem Buch werden deutsche und englische Satzstrukturen kontrastiv untersucht, und zwar in typologischer Hinsicht. Im Mittelpunkt steht der Valenzaspekt der Satzstruktur: Es werden aber nicht nur die deutschen und englischen Ausdrucksmittel – die einfachen Ergänzungen und die Ergänzungssätze – vorgestellt und kontrastiert, sondern sie werden in einer Korpusanalyse quantifiziert. Häufigkeitsuntersuchungen können typologische Relevanz besitzen und das typologische Profil einer Sprache beeinflussen. Es ist das Anliegen dieses Buches, zu einer „Typologie der Textrealisierung“ beizutragen. Hierzu wird ein kleines deutsch-englisches bzw. englisch-deutsches Übersetzungskorpus definiert und ausgewertet (Kap. 2.). Die in diesem Buch getroffenen Aussagen treffen in erster Linie auf dieses Korpus zu, sind aber fast ausnahmslos von genereller Relevanz und seien damit zur Überprüfung in größeren Korpora empfohlen. 1
2
S. Bailey/Maroldt (1977); Thomason/Kaufman (1988); Vennemann (1999, 2000); McWhorter (2002, 2008). Im Altenglischen wurden Personalpronomina zur Kennzeichnung von Reflexivität benutzt. Nach dem Abbau reflexiver Konstruktionen stellen die sog. starken, wenig grammatikalisierten Reflexivpronomina auf -self einen Neuanfang dar. Man beachte, dass Reflexivität zwar seltener, aber eindeutiger als im Deutschen gekennzeichnet ist (z.B. myself im Unterschied zu me vs. mich) und auch von Reziprozität unterschieden wird: They love themselves (reflexiv), They love each other (reziprok) vs. Sie lieben sich (reflexiv oder reziprok).
Was dieses Buch will
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Genauso wichtig wie die quantitativen Aussagen ist die Diskussion von Einzelbelegen aus dem Übersetzungskorpus. Die beobachteten Kontraste werden hier im Zusammenhang typologischer Tendenzen und bevorzugter Vertextungsstrategien gesehen. Die Einzelanalysen könnten für alle, die sich theoretisch oder praktisch für Übersetzung beschäftigen, von Interesse sein. Obwohl Fragen des Spracherwerbs nur am Rande erwähnt werden, sind Thematik und Befunde sowohl für Deutsch als auch Englisch als Fremdsprache nützlich. Ziel der Arbeit ist die Überprüfung des einflussreichen typologischen Bildes von John A. Hawkins,3 das besagt, das Deutsche sei semantisch transparenter als das Englische. Dazu einige Beispiele: (4) (4e)
Der Detektiv folgte dem Mann unter die Brücke. The detective followed the man under the bridge.
Die an den Determinativen (der, dem, die) realisierte deutsche Kasusmorphologie zeigt an, wer wem folgt und dass die Brücke Ziel und nicht Ort des Geschehens ist (vgl. unter der Brücke). Die englischen NP haben keine entsprechende Kasusmorphologie. Dies hat Folgen. Zur Interpretation der Phrasen muss ein englischer Hörer den Kontext heranziehen: den sprachlichen (z.B. Position, präverbal: subject, postverbal: object) und den außersprachlichen. Die Folgen haben ihrerseits Folgen. Während der propositionale Inhalt des deutschen Satzes unter Permutation gleich bleibt, ändert er sich im Englischen: (4a) (5)
Dem Mann folgte der Detektiv unter die Brücke. The man followed the detective under the bridge.
In Satz (4a) ist es dank Kasuskennzeichnung weiterhin der Detektiv, der dem Mann folgt, während es in Satz (5) nun der Mann ist, der dem Detektiv folgt. Die deutsche Kasusmorphologie zeigt die Rollen der deutschen NP an, die entsprechenden englischen NP besitzen nichts derartiges und sind deshalb semantisch weniger transparent. Auch ist in den englischen Sätzen im Gegensatz zu den deutschen nicht ausgeschlossen, dass das ganze Geschehen unter der Brücke stattfindet. Aber unser Weltwissen macht eine solche Interpretation unwahrscheinlich. Ein weiteres Beispiel für die größere semantische Transparenz des Deutschen ist der häufige Zwang zu konkreter Lexis: Man zieht eine Hose an, aber setzt einen Hut auf und bindet einen Schlips um. Im Englischen heißt es einfach put on trousers, a hat, a tie. Gleichfalls put vs. setzen, stellen, legen; dig vs. (aus/um)graben, know vs. kennen, wissen, usw. (vgl. Leisi 1953; Plank 1984). Die Implikationen für Kontextabhängigkeit und relativen Lernaufwand sind offensichtlich. Hawkins weitet diese und andere Befunde zu der generellen Aussage aus, dass das Deutsche bei höherem formalen Aufwand semantisch transparenter als das kontextabhängigere Englische sei. Das von ihm entworfene Bild der deutsch-englischen Kontraste 3
Der Einfluss zeigt sich z.B. in König/Gast (2009), die nicht nur das Ziel ihres Buches Understanding English-German Contrasts mit Bezug auf Hawkins (1986) definieren, sondern auch häufig – z.T. kritisch – auf Arbeiten von Hawkins verweisen.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
besitzt durchaus Berührungspunkte mit populären Stereotypen zu den beiden Sprachen. Dieses Bild wird in dieser Arbeit ergänzt. Insofern versteht sich dieses Buch auch als Beitrag zu einem typologischen Profil des Deutschen und Englischen. Ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit ist es, Kontraste zu quantifizieren. Ist die Beschreibung der Vorkommenshäufigkeit von Strukturen allein schon für die einzelsprachliche Grammatikbeschreibung von Nutzen – schließlich ist es bedeutsam, ob eine Struktur sehr häufig oder fast nie realisiert wird (und in einzelsprachlichen Grammatikbeschreibungen gibt es darauf gelegentlich Hinweise) –, so ist sie besonders wichtig für die kontrastive Beschreibung, da einander entsprechende Strukturen mit stark unterschiedlicher Textfrequenz Kontraste verdecken und strukturelle Unterschiede ohne Textrelevanz Kontraste überbetonen können. Ein Beispiel für ersteres sind Spaltsätze:4 (6) (7)
Aber es ist doch gerade das restliche Abendland, das neidisch ist auf unser Erstarken. […] Was Anton Rüter sah, war ein schmaler Streifen nassen Sandstrandes […]
Sowohl Deutsch als auch Englisch besitzen sie, aber im Englischen sind sie nicht nur wesentlich häufiger, sondern auch in Kontexten möglich, in denen sie im Deutschen kaum verwendet werden können. Englischen Deutschlernern wird deshalb zurecht empfohlen, beim Gebrauch von Spaltsätzen Vorsicht walten zu lassen.5 Ein Beispiel für einen Kontrast ohne Textrelevanz sind Genitivergänzungen des Verbs (jemandes gedenken). Es gibt im Englischen kein formales Gegenstück, aber der Kontrast ist viel weniger wichtig als der zwischen den anderen deutschen Kasusergänzungen und nominalen Ergänzungen im Englischen. Handeln definiert sich über Intentionalität: Menschen handeln, um Ziele zu erreichen. Dies gilt auch für das Sprachhandeln, wo das Erreichen von Zielen generell Rezipienten der Sprachhandlung einbezieht, deren Bewusstseinszustand durch die Sprachhandlung manipuliert werden soll. Meist – aber nicht immer – bedeutet dies, dass Rezipienten aus dem Gesagten eine von dem Sprecher intendierte Bedeutung rekonstruieren können (durch direktes Verstehen aufgrund des Dekodierungsverfahrens und durch Schlüsse aus der sprachlichen und nichtsprachlichen Evidenz aufgrund des Schlussverfahrens6). Diese rekonstruierte Bedeutung ist nicht mit dem Handlungsziel des Sprechers gleichzusetzen: Hörer können die sprachliche Bedeutung des Gesagten erfolgreich rekonstruieren, ohne das Ziel des Sprechers zu durchschauen, und umgekehrt. Im Folgenden interessiert uns nur die linguistische Bedeutung im engeren Sinne. Bekanntlich sind Äußerungsbedeutungen durch die verwendeten Zeichenkombinationen oft unterdeterminiert bzw. -spezifiziert (Kempson et al. 2001), also nicht vollkommen semantisch transparent. Der Grad der Unterdeterminiertheit oder semantischen Transpa4 5 6
Beispiele aus Capus (2009: 50, 30). S. Engel (1988: 299) und Durrell (2002: 479). Zum Verstehen als Produkt auf angenommener Relevanz basierender Schlüsse siehe Sperber/Wilson (1995) und den alternativen Ansatz von Levinson (2000).
Was dieses Buch will
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renz variiert allerdings: zwischen verschiedenen Äußerungen, zwischen verschiedenen Strukturen, vielleicht auch zwischen verschiedenen Sprachen. Das Studium, wie aus sprachlichen Formen (Lexemen und formalen syntaktischen Mitteln) Bedeutung rekonstruierbar ist, bildet eine der zentralen Aufgaben der Sprachwissenschaft. Übereinzelsprachlich existieren hier unterschiedliche Strategien, deren spezifische Kombination in einer Sprache zum typologischen Profil dieser Sprache beiträgt (Kap. 2.1). Dieses Profil hat ein Doppelgesicht: Es kann sich eher auf Systembeschreibungen oder auf Textanalysen beziehen. Zwar ist Typologie sozusagen inhärent quantitativ, aber typologische Behauptungen können auf bestimmten Merkmalen (Deutsch als Kasussprache) oder einer bestimmten grammatiktheoretischen Sicht einer Sprache (Deutsch als Verbletztsprache) fußen. Das so entstandene Bild einer Sprache gestattet eine grobe Einordnung, ohne der Sprachpraxis unbedingt ganz gerecht zu werden. Ein Studium der Sprachmittel im Text erlaubt eine Differenzierung der „Systemaussagen“. Wir werden zeigen, dass hier textsortenübergreifende und deshalb typologisch relevante quantitative und qualitative Aussagen möglich sind, die eine stärkere Berücksichtigung der Textrealisierung bei der Erstellung des typologischen Profils einer Sprache wünschenswert erscheinen lassen (Kap. 2.2). Schlagwortartig könnte man sagen, dass die Systemtypologie durch eine Typologie „von unten“, eine Typologie der parole ergänzt werden soll. Sonst besteht die Gefahr, dass ein Bild einer Sprache aufgrund selektiver Merkmale, die eine bestimmte typologische Generalisierung unterstützen, entworfen wird, ohne Phänomene zu berücksichtigen, die in eine andere typologische Richtung weisen. Es ist die These dieses Buches, dass genau dies auf das oben kurz angesprochene typologische Bild zutrifft, das John A. Hawkins von den deutsch-englischen Kontrasten entworfen hat. Der typologische Parameter, der in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht, ist die bereits erwähnte semantische Transparenz von Äußerungen und Satzstrukturen (Kap. 3.1). Oft, aber nicht immer, geht sie mit grammatischer Komplexität einher. Alternativ kann semantische Transparenz auch mit wortreichen (verbosen) Strukturen erreicht werden. Mit dem Grad an semantischer Transparenz variiert der objektive Aufwand, den Sprecher und Hörer betreiben müssen, nicht aber unbedingt die subjektive Mühe. Eine hohe semantische Transparenz bedeutet in der Regel mehr Aufwand für den Sprecher, aber weniger für den Hörer, da seine Interpretationsleistung geringer ist. Hier berührt sich die linguistische Analyse sowohl mit Beobachtungen von Fremdsprachenlernern und -lehrern als auch mit Stereotypen über das Deutsche und Englische: Deutsch gilt als formal aufwendig, umständlich, langatmig, aber genau – also als semantisch transparent. Überspitzt ausgedrückt hat Deutsch oft den Ruf einer Sprache für Langsprecher, Lehrer, Pedanten und Juristen. Englisch gilt dagegen als kurz, kompakt und elegant, aber auch mehrdeutig – also als semantisch wenig transparent: eine Sprache für Mundfaule, Ironiker, Lakoniker und Politiker. Wird mit dem Deutschen wegen der reicheren Morphologie Präzision verbunden, so mit dem Englischen wegen der flexiblen Handhabung gewisser Strukturen und wegen des reichen Wortschatzes die Nuance. Briten sagen häufig mit einem gewissen Stolz, dass es im Englischen keine Regeln gebe bzw. die vorhandenen häufig gebro-
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
chen würden, während dem Deutschen ein Reichtum an akribisch zu befolgenden Regeln nachgesagt wird. Zwar sind dies nicht die einzigen Stereotypen zu den beiden Sprachen, noch ist ihre Quelle allein oder hauptsächlich sprachlich: Hier wirken auch im 19. Jahrhundert verfestigte Bilder von Deutschland und seinen Kulturprodukten, während die ökonomische und politische Macht der USA und die Dominanz angelsächsischer Medienprodukte vor allem seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Bild der englischen Sprache weltweit beeinflusst haben. Aber die angeführten Stereotypen sind real und in abgemilderter Form in beiden Ländern auch bei Akademikern einschließlich Linguisten beliebt. Ich werde zeigen, dass die angeführten Stereotypen erheblich korrekturbedürftig sind: In verschiedener Hinsicht verkehrt sich das stereotype Bild in sein Gegenteil! Insofern möchte ich auch einen sprachaufklärerischen Beitrag in der Tradition von Bauer/Trudgill (1998) leisten. Der theoretische Rahmen dieser Arbeit ist die Valenztheorie. Es ist ein zweites Anliegen dieser Arbeit, die Grundeinsicht dieses Ansatzes auf dem Hintergrund der bekannten konzeptionellen Diskussion und unter Berücksichtigung von Forschungsergebnissen anderer Ansätze noch einmal zu thematisieren und einen mit der Valenzpraxis kompatiblen Valenzbegriff zu erarbeiten: Valenz wird, wie es typologisch angemessen ist, sprachneutral funktional-semantisch begründet (Kap. 5). Nicht die Definition, sondern die Beschreibung von Valenz ist einzelsprachspezifisch ((morpho)syntaktisch und semantisch). Für die Klassifikation der Ergänzungen wird der bewährte Ansatz von Ulrich Engel zugrunde gelegt (Engel 1994, 2004, 2002; Engel/Schumacher 1978), der sich bei Berücksichtigung von Topologie auch auf das Englische anwenden lässt (Fischer 1997). Es ist ein drittes Anliegen dieser Arbeit, die deutschen und englischen Verbergänzungen kontrastiv darzustellen. Der gewählte Ansatz sichert Vergleichbarkeit mit den zahlreichen vom Mannheimer Institut für Deutsche Sprache geförderten oder beeinflussten kontrastiven Grammatiken, Valenzwörterbüchern und Einzelstudien.7 Außer auf die Valenztheorie wird auch auf aus anderen Ansätzen stammende Begriffe zurückgegriffen, etwa auf Begriffe aus der Generativen Grammatik, der strukturellen Semantik, der Konstruktionsgrammatik und aus verschiedenen sprachtypologischen Ansätzen. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil wird die Typologie des Deutschen und Englischen eher aus theoretischer Perspektive betrachtet (Kapitel 2–5), während in Teil 2 im Namen einer Typologie der Sprachrealisierung eine eher empirische Perspektive eingenommen wird (Kapitel 6–8). In beiden Teilen wird aber auch auf die jeweils andere Perspektive Bezug genommen. In Kapitel 2 werden das Korpus und die Methodik vorgestellt. Es werden die Gründe für die Wahl eines Übersetzungskorpus und für die Wahl der Texte gegeben. 7
Z.B. Engel/Mrazovic (1986); Engel et al. (1993); Engel (1999); Engel/Savin (1983); Bianco (1996); Djordjević/Engel (2009); Domínguez Vásquez (2005); Mollica (2010).
Was dieses Buch will
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In Kapitel 3 werden verschiedene sprachtypologische Ansätze angesprochen und das Programm einer Typologie der Textrealisierung vorgestellt. Sodann wird das Verhältnis von Ausdruck und Inhalt thematisiert, um die für das zu erstellende typologische Profil beider Sprachen zentralen Begriffe semantische Transparenz (Kap. 3.3.2) und grammatische Komplexität (Kap. 3.3.3) zu definieren. Sodann werden die untersuchten Parameter Textlänge, Verbstellung, Konversen, Kasus, Topologie, Ergänzungssysteme, Häufigkeit von einfachen Ergänzungen (E) und Ergänzungssätzen (E-Sätzen) angesprochen (Kap. 3.3.5). In Kapitel 4 werden Hawkins’ sprachtypologische Ansätze vorgestellt. Zunächst wird Hawkins’ „erste These“ A Comparative Typology of English and German. Unifying the contrasts (1986) im Detail dargestellt (Kap. 4.2). Die Arbeit besitzt das erhebliche Verdienst, der kontrastiven Analyse eine typologische Perspektive gegeben zu haben. Ihre Ergebnisse prägen die typologische Einschätzung der beiden Sprachen bis heute. Sodann wird Hawkins’ verarbeitungstheoretischer Grammatikansatz (A Performance Theory of Order and Constituency, 1994) erarbeitet (Kap. 4.3), der seiner „zweiten These“ zu den deutsch-englischen Kontrasten zugrunde liegt: Der Begriff der Konstituentenerkennungsdomäne und das Prinzip des schnellen Erkennens unmittelbarer Konstituenten werden eingeführt (Kap. 4.3.2.1) und Hawkins’ Sicht, dass das Deutsche im Erkennen der Konstituentenstruktur nicht als echte Verbletztsprache funktioniere, wird vorgestellt. In Kapitel 5 wird ein unidimensionaler pragmatisch-semantischer Valenzbegriff erarbeitet, der sich durch typologische Neutralität auszeichnet. Ausgehend von einem Anforderungsprofil an eine Valenztheorie (Kap. 5.1.2) wird Valenz als Konstitution eines Kernsachverhalts definiert (Kap. 5.1.3). Diese sprachübergreifende funktionale Definition wird streng getrennt von der einzelsprachlichen Beschreibung von Valenz, die deren formalsyntaktische Realisierung erfasst. Die Kapitel 5.3 bis 5.6 thematisieren letztere sowie Valenzänderungen und außerhalb des Verblexems liegende Quellen der Valenz. In Kapitel 5.7 wird das Valenzmodell von Alternativen, vor allem dem multidimensionalen Valenzmodell, abgegrenzt. Die restlichen Kapitel substantiieren das in Auseinandersetzung mit Hawkins’ Thesen angedeutete typologische Profil der beiden Sprachen. Unabhängig von der typologischen Relevanz können sie aber auch als deskriptive Analyse von Frequenzverhältnissen in beiden Sprachen auf der Grundlage eines Übersetzungskorpus gelesen werden. Kapitel 6 stellt einige allgemeine Statistiken vor. Ein zentrales Ergebnis ist der „verbalere“ Charakter englischer Texte im Vergleich zu deutschen (Kapitel 6.2.1). In Kapitel 6.2.3 werden englische und deutsche Verbpositionen diskutiert und quantifiziert. Es wird zwischen einer grammatikografischen Grundposition und einer typologisch unmarkierten Position unterschieden. In Kapitel 7 werden die einfachen Ergänzungen kontrastiv behandelt. Sie werden jeweils definiert und semantisch bestimmt. Neu ist, dass ihre Frequenz in den Korpustexten ermittelt und in Hinsicht auf die Typologie der beiden Sprachen interpretiert wird. Auch die häufigsten Positionen der Ergänzungen in Haupt- und Nebensätzen werden quantifiziert.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
In Kapitel 8 werden die E-Sätze besprochen, die im typologischen Profil beider Sprachen eine besondere Rolle spielen. Im Unterschied zu den einfachen Ergänzungen besitzt Englisch hier die größere Formvielfalt mit korrespondierender Textkomplexität und größerer semantischer Transparenz. Auch die quantitative Analyse zeigt, dass der Bereich der E-Sätze, dessen Ausbau eine jüngere Gegentendenz zum Abbau grammatischer Komplexität im Englischen darstellt, in entscheidender Hinsicht mit Hawkins’ Thesen nicht vereinbar ist. In Kapitel 9 werden Vorhaben, Vorgehensweise und Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst.
Teil 1 Aus theoretischer Perspektive
2. Chancen und Grenzen des Vorgehens
In diesem Kapitel werden das Korpus und die Methodik vorgestellt. Es werden die Gründe für die Wahl eines Übersetzungskorpus und für die Wahl der Texte gegeben. Für die quantitativen Analysen ist es nötig, eine Reihe von Entscheidungen zu treffen, etwa zur Abgrenzung des Valenzträgers, zur Zählung der Ergänzungen und zur Zählung von Satzpositionen. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zur Bestimmung von Grundfolgen, Bindungsverhältnissen und Kopfpositionen.
2.1
Das Korpus
Als Grundlage der Untersuchung werden Übersetzungen, also ein paralleles Korpus, gewählt, weil damit Themen- und Registerkonstanz gegeben ist und idiosynkratische Sprachmittelwahl in einem der Texte als Faktor weitgehend ausgeschlossen ist. Die mögliche Gefahr, dass die Strukturen der Ausgangs- die der Zielsprache beeinflussen oder dass die zielsprachigen Texte universelle Kennzeichen von Übersetzungen tragen (translatese), ist durch die Wahl der Übersetzungen minimalisiert: Es handelt sich durchweg um „kommunikative“8 Übersetzungen, die einen in der Zielsprache vollkommen natürlich klingenden Text anstreben, so dass die Interpretationsleistung des Hörers bzw. Lesers minimiert wird. Im Gegensatz zur kommunikativen Übersetzung wird in der Übersetzung religiöser oder dichterischer Texte oft „semantisch“ übersetzt, d.h. stärker entlang der Strukturen des Ausgangstextes, so dass dem Leser durch die Wahl zwar grammatisch korrekter, aber eher ungewöhnlicher bzw. ungewöhnlich häufig benutzter Konstruktio8
Zur Terminologie s. Newmark (1991: 10–13). Auch Doherty (1993) benutzt kommunikative Übersetzungen – wenn man von der generativen Begrifflichkeit absieht – ganz im Sinne unserer Typologie der parole: „Es ist aber schon aus ‚ökonomischen‘ Gründen zu erwarten, daß viele der zwischensprachlichen Unterschiede systematisch begründet sind und zumindest teilweise parametrisierte Optionen der einzelnen Sprachen darstellen. Deutliche Hinweise hierfür liefert ein linguistisch völlig ungenutzter Bereich der Sprachverwendung: Übersetzungen, zumal gute Übersetzungen, die den grammatisch-stilistischen Anforderungen der Zielsprache voll gerecht werden, zeigen in ihren immer wiederkehrenden Strukturmustern an, wo in Ausgangs- und Zielsprache unterschiedliche Parametrisierungen wirksam werden“ (ebd.: 7).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
nen und Lexik bewusst wird, einen aus einer anderen Kultur, Epoche und Sprache stammenden Text zu lesen. Der Leser muss sich also metaphorisch gesprochen zum Originaltext bewegen. Natürlich kann es auch in kommunikativen Übersetzungen Interferenzphänomene geben, die zwei Sprachen als ähnlicher erscheinen lassen als sie es sind. Dies bedeutet für den Sprachvergleich aber lediglich, dass die gefundenen Kontraste für nichtübersetzte Texte a fortiori gelten dürften. Für meine Arbeit habe ich nicht auf existierende elektronische Parallelkorpora wie z.B. Europarl, „de-news“ oder das Chemnitzer englisch-deutsche Übersetzungskorpus zurückgegriffen, siehe auch die Zusammenfassung elektronischer Parallelkorpora im Opus-Korpus.9 Dies bedarf der Begründung: Der Hauptgrund ist, dass ein solcher Rückgriff keinen Vorteil gebracht hätte. Mein Vergleich setzt eine komplette syntaktische Analyse nach einem Satzmodell voraus, das im Kapitel 5 entwickelt wird. Ein derartig annotiertes elektronisches Parallelkorpus gibt es nicht. Elektronische Korpora haben den Vorteil großer Textmengen. So besaß das Europarl-Korpus, das auf professionellen Übersetzungen von Redebeiträgen im Europäischen Parlament beruht, 2011 im deutsch-englischen Parallelkorpus über 45 Millionen deutsche und fast 48 Millionen englische Textwörter. Das „de-news“-Korpus, in dem täglich von 1996 bis 2000 5–10 Exerpte aus deutschen Rundfunknachrichten gesammelt und ins Englische übersetzt wurden, bringt es immerhin auf 1,017 Million deutsche und 1,175 Millionen englische Textwörter. Beide Korpora enthalten neben geplanten gesprochenen Texten auch (relativ) spontane. Die Korpora wären für Aspekte meiner Untersuchung relevant, wenn es verlässliche automatische Parser für die Bestimmung syntaktischer Funktionen gäbe. Ich hätte z.B. gerne an größeren Textmengen die Anzahl einander entsprechender syntaktischer Funktionen wie Subjekt/subject und Akkusativ-E/direct object überprüft. Kurze Versuche, mit im Internet frei benutzbaren Parsern wenigstens das englische Subjekt zu bestimmen, verliefen bereits bei Subjekt-Verb-Inversionen negativ. Existierende Parallelkorpora wären also lediglich Textlieferanten gewesen. Hinzu kommen unerwünschte Charakteristika der existierenden elektronischen Parallel-Korpora. Im Falle des „de news“-Korpus ist die Übersetzungsqualität oft unzureichend. Obwohl das Europarl-Korpus hochprofessionell übersetzt ist, handelt es sich doch um „Gebrauchsübersetzungen“, denen die Geschwindigkeit der Übersetzung gelegentlich anzumerken ist (struktureller Einfluss des Originaltextes, Fehler). Ärgerlich ist die auch politisch nicht unproblematische Tendenz zur „Registernivellierung“: Informelle Ausdrücke werden oft in einen neutralen Politikstandard übersetzt. Hierzu ein Beispiel:
9
http://opus.lingfil.uu.se/, (Zugriff am 9.4.2012).
Chancen und Grenzen des Vorgehens 4731502 Das Europäische Parlament wird bei weitem nicht hinreichend informiert oder , schlimmer noch , man hat jedes Mal , wenn man uns konsultiert , das Gefühl, die Anhörungen des Europäischen Parlaments seien nutzlos und – gestatten Sie mir den Ausdruck - kalter Kaffee , d. h. angesichts vollendeter Tatsachen und bereits eingeleiteter Maßnahmen wird seine Rolle als wichtigster demokratischer Institution der Europäischen Union der Lächerlichkeit preisgegeben .
25 The European Parliament is given very little information and , what is even more serious , there is a sense that these consultations with the European Parliament are useless , since we are consulted after the event , when the measures have already been adopted , thereby making a mockery of the role of the European Union ' s principal democratic institution .
Abb. 2.1: paralleler Text aus Europarl10
Die Tatsache, dass der Sprecher einen deutlich-informellen metaphorischen Ausdruck benutzt (kalter Kaffee) und darauf mit der Vorabentschuldigung noch extra hinweist, geht in der Übersetzung verloren. Man beachte, dass hierfür nicht der Mangel eines in etwa entsprechenden metaphorischen Ausdrucks in der Zielsprache verantwortlich ist (z.B. old hat). Zu den Vorteilen großer elektronischer Korpora gehören vorhandene Statistiken zur Anzahl der Wörter und Sätze im Korpus. Hier ist aber Vorsicht geboten: Welche Wortdefinitionen werden verwendet, welche Interpunktions- und Zusatzzeichen werden als Wörter gezählt? In dem in Abbildung 2.1 aufgeführten deutschen Satz zähle ich 59 Wörter, aber das Word-Programm zählt alle Interpunktionszeichen mit (68 Wörter). Auch wenn die vor Komma und Punkt und Apostroph inkorrekt gesetzten Spatien in Abbildung 2.1 herausgerechnet werden, bleibt das Problem des Gedankenstrichs.11 Das von mir vorgenommene Zählen von Hand birgt zwar auch kleine Unsicherheiten (geringe Variation beim Nachzählen), aber erlaubt Kontrolle der Kriterien. Bei allen Vorbehalten wären die angesprochenen elektronischen Parallel-Korpora aber für eine Anschlussuntersuchung von Interesse, da sie mit (geplanter) gesprochener Sprache ein Genre repräsentieren, das in dieser Arbeit nicht abgedeckt ist. Meine Untersuchung ist nicht nur medial und genremäßig festgelegt (Erzähltexte, journalistischer Text), sondern stützt sich auch auf ein Übersetzungskorpus von nur geringem Umfang (Deutsch: 10 785 Wörter, English: 11 150 Wörter), das aber vollständig syntaktisch analysiert wurde. Meine Arbeit kann nicht den Anspruch erheben, eine korpusbasierte Analyse im Sinne von Lemnitzer/Zinsmeister (2010) oder Biber (2010) darzustellen, d.h. ich benutze mein Korpus nicht zur Entdeckung neuer linguistischer Strukturen oder Bezüge. Auch wurde wegen des geringen Korpusumfangs auf Signifikanztests verzichtet. Meine Untersuchung kann als korpusgestützt und explorativ charakterisiert 10
11
Recherche nach dem Wort Kaffee; Ergebnis unverändert einschließlich Interpunktion; Zugriff über das Opus-Korpus: http://opus.lingfil.uu.se/bin/opuscqp.pl?corpus=Europarl3;lang=de, (Zugriff am 7.4.2012). S. zu den Problemen der automatischen Erkennung von Wortformen und Sätzen auch Koehn (2005).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
werden: Es werden vorgefasste Kategorien an das Korpus herangetragen, und die festgestellten Frequenzen und Kontraste haben – zumindest technisch gesehen – Hypothesencharakter. Mir ist es wichtig, ein vorläufiges, empirisch informiertes Gesamtbild der deutsch-englischen Kontraste im Bereich der valenzrelevanten Satzstrukturen zu erhalten und exemplarisch durchzuexerzieren, in welchem Umfang eine Typologie der Textrealisierung das typologische Profil zweier Sprachen beeinflussen kann. Dies erfordert die Ermittlung einer Vielzahl relevanter Parameter, die nur in Bezug auf ein kleines Übersetzungskorpus durchführbar war. Trotz dieser Einschränkungen führt meine Vorgehensweise zu abgesicherteren Ergebnissen, als sie durch das Sammeln von Zufallsfunden und die Verwertung intuitiver Eindrücke zu erreichen sind. Auch sind die meisten Parameter derart, dass eine Bewährung der Ergebnisse in größeren Korpusuntersuchungen zu erwarten ist, etwa die Frequenz von Subjekten, direkten Objekten, Verben und abhängigen Sätzen in beiden Sprachen, das Ausmaß von Kasussynkretismus im Deutschen und der Effekt von pronominalem Kasus im Englischen. Die ermittelten Frequenzangaben werden meist nicht gerundet, um den Vergleich mit im Korpus seltenen Phänomenen zu vereinfachen. Das Fehlen oder seltene Vorkommen von Strukturen im Korpus, z.B. Genitiv-E und subjektlose Sätze, ist selbstverständlich ein wichtiger Befund, wenn diese zur Abstützung typologischer Einschätzungen herangezogen worden sind. Die Präzision der diesbezüglichen Zahlenangaben gilt freilich nur für das gewählte Korpus unter Voraussetzung der getroffenen Analyseentscheidungen. Ebenso wichtig wie die Frequenzangaben ist ihr Effekt auf die Einschätzung der semantischen Transparenz deutscher und englischer Satzstrukturen und ihre grammatikografische Relevanz. Hierzu wurden zahlreiche kontrastive Beispiele aus dem Korpus gewonnen und z.T. im Detail analysiert. Dieser Aspekt könnte auch für an Übersetzung theoretisch oder praktisch Interessierte und für Fremdsprachenlehrer von Bedeutung sein. Im Zentrum meiner Untersuchung stehen zwei Kinder- bzw. Jugendbücher. Dieses Genre wurde ausgesucht, weil seine Sprache auf allgemeine Verständlichkeit zielt und deshalb hinsichtlich Komplexität und Register etwas näher an der gesprochenen Sprache angesiedelt sein dürfte als andere schriftliche Genre.12 Zur Kontrolle wurde aber auch ein Text aus dem journalistischen Bereich hinzugezogen. Die Texte sind: J.K. Rowling: Harry Potter and the Philosopher’s Stone (1997), Kapitel 1 (=HP; 4581 Wörter), und die Übersetzung von Klaus Fritz (Rowling 1998) (=HPD; 4825 Wörter) Cornelia Funke: Der Herr der Diebe (2000), Kapitel 1+2 (=HD; 4162 Wörter), und die Übersetzung von Oliver Latsch (Funke 2002) (=HDE; 4390 Wörter); Kapitel 1 (=HD1 bzw. HDE1), Kapitel 2 (=HD2 bzw. HDE2)
12
Tatsächlich wechseln erstaunlich komplexe Passagen, die literarischen Konventionen folgten, mit eher schlichten.
Chancen und Grenzen des Vorgehens
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Detlef Gürtler: ‚Wohlstand für alle. Das Erfolgsgeheimnis der sozialen Marktwirtschaft‘, Deutschland. Forum für Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft 3, 2003, S. 8–11 (=D; 1798 Wörter) und die englische Übersetzung (=DE; 2179 Wörter)13
Der erste Harry Potter-Band wurde gewählt, weil er bekannt und einschließlich Übersetzung leicht zugänglich ist.14 Aber jedes andere übersetzte Kinderbuch wäre für die vorliegende Untersuchung genauso geeignet gewesen. Mit dem Herrn der Diebe lag ein vergleichbares deutsches Kinderbuch von einer in Deutschland renommierten und auch international erfolgreichen Autorin15 vor, das sich vielleicht an eine etwas ältere Lesergruppe wendet. Beide Bücher werden auch von Erwachsenen gelesen. Die Zeitschrift Deutschland wurde gewählt, weil sie professionell übersetzt mehrsprachig erscheint. Überraschenderweise ließ sich kein geeignetes Pendant einer englisch-deutschen Übersetzung im journalistischen Register finden.16 Dies liegt an der Stellung der englischen Sprache als globaler Prestigevarietät. Da durch die Übersetzungsrichtung bewirkte Effekte schon durch die Erzähltexte kontrolliert werden, kann Deutschland trotzdem zur Bemessung des Registereffekts benutzt werden. Es braucht kaum besonders erwähnt zu werden, dass weder die literarische noch die journalistische Qualität der Originaltexte für meine Untersuchung eine Rolle spielen. Trotzdem sind ein paar Bemerkungen zu den Texten angebracht. Der Popularität von Harry Potter entsprechend gibt es jetzt nicht nur akademische Konferenzen, die verschiedene Aspekte der Texte und des Harry Potter-Phänomens beleuchten, sondern es gibt auch zu erwartende Vorbehalte und Vorwürfe aus religiösen (Magie, heidnische Bräuche), politischen (faschistisches Gedankengut: Auserwähltsein qua Vorsehung und Abstammung, autoritär strukturierte, von Natur überlegene Geheimgesellschaft) und literarischen Gründen (schlechter Stil, Plagiat, krude Satire). Die Kritik scheint mir hier jeweils ein vorgefasstes Programm abzuarbeiten, z.T. ohne differenzierte Kenntnis der Texte, z.T. mit einer naiven Vorstellung über die Funktion von Literatur, z.T. mit elitären Stilforderungen. Vermutlich sind die angesprochenen Züge für den außerordentlichen Erfolg von Harry Potter mitverantwortlich, in sprachlicher Hinsicht etwa die im Allgemeinen übersichtliche Wortwahl, die relative Simplizität der Konstruktionen und die gelegentlich umgangssprachlichen Ausdrücke.
13
14 15
16
Im Folgenden beziehen sich die Kürzel HP, HD und D entweder auf den Originaltext allein oder auf den Originaltext und seine Übersetzung. Aus dem Kontext geht hervor, welcher Bezug gemeint ist. HPD, HDE und DE beziehen sich auf die jeweiligen Übersetzungen. Harry Potter wurde bereits von Stolz (2007) als Parallelkorpus benutzt. Cornelia Funke wird manchmal als „Deutschlands J. K. Rowling“ bezeichnet (http://en.wikipedia. org/wiki/Cornelia_Funke). In der Folge des Fantasy-Booms werden auch ihre Romane verfilmt bzw. sind verfilmt worden (z.B. Herr der Diebe, Koproduktion mit Warner Bros.; Tintenherz, New Line Cinema; beide Englisch im Original). Die englisch-deutsche „Britische Dokumentation“ der Britischen Botschaft Bonn wäre zur Schließung der Lücke von Interesse, die Texte beziehen sich aber auf kulturelle Themen (Schmied 1994: 173).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Herr der Diebe fordert keine vergleichbare Kritik heraus: Das Buch beschreibt eher die bekannte Welt als dass es eine Parallelwelt erfindet, und wirkt auch wegen des deutlich spürbaren Stilwillens ein wenig wie ein (gelungener) Erwachsenenroman für Kinder, was von der Fangemeinde sicher geschätzt wird, aber Herr der Diebe weder zum besseren Kinderbuch macht noch einem echten Massenerfolg zuträglich gewesen sein dürfte. Als vom Bundespresseamt finanzierte Publikation erfüllt Deutschland eine Öffentlichkeitsarbeits- oder Propagandafunktion, was lesenswerte Artikel nicht ausschließt. Die Übersetzungen sind kompetent ausgeführt und stellen lesbare zielsprachliche Texte dar. Eine darüber hinausgehende Übersetzungskritik ist für die Zielrichtung dieser Arbeit irrelevant. Es soll nur angemerkt werden, dass kommerzielle Übersetzungen anderen Gesetzen (Zeitdruck, bei Deutschland auch Layoutbeschränkungen) gehorchen als etwa Übersetzungen bekannter literarischer Werke. In allen drei Übersetzungen gibt es Eingriffe in den Text (Kürzungen, Erweiterungen, Änderungen), die aber statistisch kaum ins Gewicht fallen.
2.2
Methodik
Meine Vorgehensweise wird von zwei Faktoren bestimmt. Erstens muss sie handhabbar sein, d.h. es können wegen der Datenmenge keine langwierigen Testverfahren eingesetzt werden. Zweitens soll sie die erwarteten Ergebnisse in keinem Fall begünstigen.
2.2.1
Bestimmung und Abgrenzung des Valenzträgers
Ágel (2000: 106) fasst die Abgrenzung des Valenzträgers (Vt) als eines der von der germanistischen Valenzforschung vernachlässigten Probleme auf. Die Abgrenzung kann seiner Meinung nach nicht unabhängig von der Frage nach dem Ergänzungspotenzial gestellt werden. Offensichtlich beeinflusst die Vt-Abgrenzung auch die Zählung der E: (1)
[…] dass er die Schritte auf der Treppe erst hörte, als sie vor seiner Tür Halt machten. (HD: 8)
Ist der Vt im Nebensatz machen oder Halt machen? Für machen als Vt spricht, dass Halt austauschbar ist (Pause, Schmutz, Unruhe, Ärger etc.). Dagegen spricht, dass Halt auf eine nicht-materielle Entität referiert und deshalb die auf der inhärenten Bedeutung beruhende Grundlesart von machen (‘produzieren’) verhindert. Die inhärente Bedeutung und ein Teil der kombinatorischen Bedeutung17 von machen sind deshalb ausgesetzt, das Verb bestimmt aber noch die Konstruktion und die thematische Rolle von Halt (effiziertes 17
Die „kategorielle Bedeutung“ (semantische Restriktionen) ist in Bezug auf die Akkusativ-E ausgesetzt, während die „relationale Bedeutung“ (thematische Rollen) erhalten ist. Zur Begrifflichkeit s. Engel (1988: 358).
Chancen und Grenzen des Vorgehens
29
Patiens). Semantisch dominierend ist das Nomen, das aber syntaktisch als artikellose Phrase an Selbständigkeit verloren hat, weshalb die Annahme einer idiomatischen Fügung Halt machen naheliegend ist.18 Mit den Begriffen konstruktionsinterne bzw. innere (machen → Halt) und konstruktionsexterne bzw. äußere Valenz (Halt machen → vor seiner Tür) ist der doppelgesichtige Status von Halt (Ergänzung und Teil des Vt) gut beschreibbar (s. Ágel 2000: 163, 2004 71-79), aber aus zähltechnischen Gründen wird zwischen innerer und äußerer Valenz nicht unterschieden. In Fällen wie in Satz 1 muss eine Entscheidung getroffen werden, die natürlich für die Zählung Konsequenzen hat: Ist machen Vt, ist eine Akkusativ-E zu zählen und vor seiner Tür ist Lokalangabe, ist Halt machen Vt, gibt es keine Akkusativ-E und vor seiner Tür ist lokale Adverbial-E. Austauschbarkeit einer Phrase, wie in diesem Fall die Austauschbarkeit von Halt, wird hier als Kriterium für relative Eigenständigkeit gewertet, weshalb Halt machen trotz idiomatischer Prägung als Kombination von Verb und Ergänzung analysiert wird. In der Konsequenz ergibt sich ein Kontrast zur englischen Übersetzung, die eine Adverbial-E zeigt: (1e)
that he only heard the footsteps on the stairs when they stopped outside his door. (HDE: 8)
Die Häufigkeiten von Ergänzungen und anderen Elementen werden sowohl als absolute Werte als auch relativ zu Verbvorkommen bestimmt. Diese doppelten Zahlenangaben verkomplizieren den Vergleich, sind aber für ein ausgewogenes Bild unabdingbar, da die englischen Texte mehr Verben besitzen. Die doppelten Werte haben auch den nützlichen Effekt, dass sie ständig an die Abhängigkeit statistischer Angaben von der Berechnungsgrundlage erinnern. Als eine VP bzw. einen Teilsatz konstruierend werden alle „verbalen“ Verwendungen von Verben betrachtet. Im Sinne der klassischen VT wird auch das Subjekt als VP-Konstituente aufgefasst. Infinite Verbformen sind an sich in ihrer Verbalität reduziert, da sie nicht Kombination mit dem vollen Valenzpotenzial erlauben. Je nach Verwendung können sie eher nominalen, verbalen oder adjektivalen Charakter besitzen. Die Grenze wird folgendermaßen gezogen: Als NP werden mit Determinativen kombinierte Verbformen aufgefasst (das Warten, her handling of this matter, their handling this matter), selbst wenn diese verbale Valenz realisieren wie das direkte Objekt this matter in their handling this matter.19 Ing-Formen ohne Determinativ konstruieren eine VP, etwa handling in Handling this matter quietly is our aim oder in I cannot see them handling this matter 18
19
Idiomatik verhindert nicht Kompositionalität, nur ist die semantische Interpretation von mindestens einer Komponente (hier: machen) idiomatisch geprägt. Vgl. Croft/Cruse (2004: 250). Ouhalla (1994: 185f.) und Roberts (1997: 28f.) fassen diese Gerundialkonstruktionen als Nominale auf, die aber eine vom Gerundium abhängige VP im Sinne der Generativen Grammatik enthalten (z.B. handling this matter). In der VT kann dies als Translation beschrieben werden. Da wir den weiteren VP-Begriff der klassischen VT verwenden und zu Zählzwecken jeder Phrase nur eine Strukturbeschreibung zuweisen, bewerten wir den nominalen Anschluss des Subjekts höher als die verbalen Anschlüsse der anderen Ergänzungen, d.h. wir halten uns an das Ergebnis der Translation, nicht an die Ausgangsstruktur.
30
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
quietly. Damit wird das englische Gerundium in ein eher nominales und ein eher verbales aufgespalten.20 Zur Differenzierung zwischen Adjektiven und Verbformen wird Collins German Concise Dictionary (1994) herangezogen. Wenn ein Wort in der vorliegenden Lesart als Adjektiv aufgeführt ist, wird es nicht als Kopf einer VP gezählt. Adjektive in diesem Sinne sind z.B. entschlossen, belegt (Stimme), durchdringend, versunken (in Gedanken), durchgefroren, schwankend, entfernt, erwiesen, balanced, retired, crooked (Nase), sparkling, frightened, piercing (Blick), muffled (Stimme), frozen, aber nicht irritiert, aufgeplustert, gerunzelt, zerknittert, entlaufen, vernagelt, employed, wounded, relieved, enraged, crumbling, stinking. Als Ergänzung wird nur ein Dependens eines Verbs anerkannt, nicht ein Kopf: Fenstern in vernagelten Fenstern referiert zwar auf ein Argument von vernagelten, wird aber nicht etwa als Akkusativ-E von vernageln gezählt, da Fenstern der Kopf der Phrase ist. Gleichfalls wird a dead mouse in (2)
He fiddled with the false moustache. The thing looked like a dead mouse lying next to the phone. (HDE: 11)
nicht als Subjekt von lying gezählt, da mouse Kopf von lying ist und nicht umgekehrt. Man beachte, dass es sich hier um eine auf Semantik und Weltwissen basierende Entscheidung handelt: Ein Gegenstand kann schlecht wie eine Relation zwischen zwei Gegenständen aussehen. Rein syntaktisch gesehen (und ohne prosodische Information) könnte auch lying Kopf von mouse sein. In (3)
[…] they didn’t want Dudley mixing with a child like that. (HP: 7)
erlaubt der Kontext nur die Interpretation, dass sie nicht wollen, dass Dudley mit einem solchen Kind Umgang pflegt, und nicht etwa, dass sie nicht Dudley wollen, der mit einem solchen Kind Umgang pflegt.21 Mixing ist Kopf des Subjekts Dudley, das als solches gezählt wird; die Verbativ-E von want ist Dudley mixing with a child like that. Modalverben bilden keine eigene VP, wohl aber Modalitätsverben (brauchen zu, haben zu, want to, is/are to etc.).22 Koordinierte Verben werden einzeln gezählt (und damit einzeln als VP-konstruierend aufgefasst), koordinierte Ergänzungen dagegen nur einmal: (4) (5)
Reshaping and renewing the welfare state […] (DE: 11) Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. (D: 11)
Phrase (4) enthält also zwei VP (Reshaping, renewing), Satz (5) aber nur ein Subjekt (Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung). 20 21
22
Zur Geschichte des englischen Gerundiums siehe Fanego (2004). Letztere Lesart müsste durch ein Komma hinter Dudley unterstützt werden, wie auch hinter mouse in Satz (2) ein Komma hätte gesetzt werden können. Zur Terminologie vgl. Engel (1994: 106).
31
Chancen und Grenzen des Vorgehens
Ergänzungen werden grundsätzlich nur gezählt, wenn sie explizit vorhanden sind. Phrase (4) enthält deshalb nur ein direct object (the welfare state), obwohl es die Ergänzungsforderung zweier Verben erfüllt, und kein Subjekt. Entsprechend wird in (6)
Hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. (HD: 18)
kein Subjekt gezählt, da keines explizit als Phrase vorhanden ist, d.h. weder die mikrovalenzielle Realisierung qua Imperativform (Hör auf) noch das implizite Subjekt der infiniten VP im abhängigen Satz werden gezählt. Auch Phrasen in verblosen Konstruktionen werden nicht als Ergänzungen gezählt. Die gewählte Vorgehensweise lässt auch für das englische Subjekt ein niedrigeres Vorkommen als 100% erwarten (vgl. Phrase (4) oben). Die Wahrscheinlichkeit wird als Vorkommenswahrscheinlichkeit pro VP angegeben. Die Vorkommenswahrscheinlichkeit des deutschen Subjekts pro VP (finit und infinit) auf das ganze Korpus berechnet beträgt z.B. 0,810, d.h., die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verb mit einem expliziten Subjekt kombiniert ist, beträgt 81%. In dieser Wahrscheinlichkeit eingeschlossen ist die Chance, das jeweils erste Verb koordinierter Verben zu sein, die sich ein Subjekt teilen, während die folgenden Verben als subjektlos gezählt werden. Mit anderen Worten: Im Korpus weisen 100 deutsche VP in unserem Sinne im Durchschnitt 81 explizite Subjekte auf.
2.2.2 Position von Ergänzungen Position wird aus zwei Gründen in dieser Arbeit berücksichtigt: Einmal, um die Auswirkung der unterschiedlichen Typologie der beiden Sprachen auf die präferierte Position von Verb und Ergänzungen abschätzen zu können, und zum zweiten, um eine Grundlage für die Diskussion der sukzessiven Verarbeitung von syntaktischer und semantischer Information zu besitzen (Hawkins’ zweite These). Die präferierten Positionen von Ergänzungen werden nach folgenden Prinzipien erhoben, die u.a. eine handhabbare Zähltechnik garantieren sollen: 1. Von den selbstständigen Sätzen werden nur Deklarativsätze, von den Nebensätzen nur finite berücksichtigt. 2. Als Teilsatzpositionen werden alle Elemente der „ersten Teilungsebene“, also Satzglieder einschließlich subordinierender Konjunktionen und Partikeln gezählt, z.B.: 1 „Ja, ich übernehme ihn“, 1 that
2 they
3 are
2 sagte
3 er. (HD: 12)
4 here. (HDE: 12)
32
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
1 Das
2 lud
3 ja
4 geradezu
5 zum Versteckspielen
6 ein. (HD: 13)
3. Koordinierende Konjunktionen werden nicht als Teilsatzposition aufgefasst: 1 der Besitzer
Und
2 ist
3 längst
4 weg. (HD: 19)
4. Die Satzklammer wird nicht als eine diskontinuierliche Position betrachtet, sondern als zwei Positionen gezählt. Dies ist nötig, da es ja gerade darum geht, wie oft welche Information früh (Verbzweit) oder spät (Verbletzt) realisiert wird, z.B.: 1 Acht Wochen
2 kamen
3 die beiden
4 schon
5 allein
6 zurecht. (HD: 13)
Soweit zusammen realisiert, wird der Verbalkomplex nur als eine Position gezählt: 1 […] der
2 heute
3 hoffentlich
4 eintreffen würde. (HPD: 7)
5. Die Zählung orientiert sich strikt an der Satzoberfläche. Keine Transformationen oder Permutationen werden vorgenommen. Z.B. zählt ein Relativpronomen immer als erste Position des Nebensatzes und wird nicht in Subjunktor und aus einer späteren Position extrahierte Ergänzung aufgespalten: […] viele,
die
1
2 dabei
3 mittaten […] (D, 8)
Nur explizit vorhandene Elemente werden gezählt. Die einzige Abweichung von diesem Prinzip wird beim zweiten Teilsatz koordinierter Sätze vorgenommen. Hier werden ausgelassene Satzglieder ergänzt, da sonst die Zählung von Verbpositionen verfälscht würde: 1 Bo
2 schnitt
3
eine Grimasse
und
2 versuchte
3 auf einem Bein um eine heruntergerollte Orange herumzuhüpfen […] (HD: 18)
Man vergleiche mit der englischen Übersetzung, die zwei selbstständige Sätze besitzt: 1 Bo
2 pulled
3 a face.
1 He
2 tried
3 to hop around an orange he’d seen on the ground […] (HDE: 17)
33
Chancen und Grenzen des Vorgehens
6. Verbkomplexe mit integrierter Negation zählen als eine Position: 1 Scipio
2 doesn’t like
3 it
4 when the hideout is untidy. (HDE: 21)
Verbkomplexe plus Adverb werden als zwei Positionen gezählt, auch wenn das Adverb innerhalb des Verbkomplexes auftritt, d.h. das Adverb wird als eine Position gezählt, der diskontinuierliche Verbkomplex nur als eine (doesn’t particularly matter = zwei Positionen). Alle anderen diskontinuierlichen Verbkomplexe werden als zwei Positionen gezählt (told … off, schimpfte … aus; je zwei Positionen; s. 4. oben). 7. Von den deutschen Nebensätzen werden nur die mit Nebensatzstellung betrachtet. Bei den englischen Nebensätzen muss eine Entscheidung getroffen werden: Soll das Faktum der Subordination entscheidend sein, d.h. sollen uneingeleitete Nebensätze mitgezählt werden oder nicht? Im Interesse der Vergleichbarkeit werden uneingeleitete englische Nebensätze ignoriert. Die aufgeführten Zählkonventionen erheben keinen weitergehenden theoretischen Anspruch. Die resultierenden Statistiken sind selbstverständlich auf die Zählkonventionen relativiert, woran bei der Interpretation der Ergebnisse erinnert wird. Die Zählung soll lediglich einen groben Eindruck von der positionellen Variabilität und von bevorzugten Positionen geben. Eine Berücksichtigung der positionellen Interaktion zwischen verschiedenen Satzgliedern kann hier nicht geleistet werden.23
2.2.3 Grundfolge und Bindung Im Folgenden geht es nicht um eine umfassende Behandlung der deutschen Abfolge von Satzgliedern im Mittelfeld (dazu Lenerz 1977; Lange 1978; Primus 1994, 2001; Haftka 1994, 1996). Es sollen lediglich einige typologisch relevante Charakteristika der Ergänzungsfolgen in beiden Sprachen herausgearbeitet werden. Andere typologisch relevante Züge wie z.B. die häufigere Verwendung von Partikeln im Deutschen und die Möglichkeit der Partikelhäufung bleiben unberücksichtigt, vgl. z.B.: (7) (7e)
„Ich habe ja schon so einiges aufspüren müssen […]“ (HD: 9) ‘I’ve tracked down a lot of things in my time […]’ (HDE: 10)
Die Grundfolge oder unmarkierte Abfolge von Satzgliedern wird im Deutschen aufgrund der Nebensatzfolge ermittelt. Außer der unten ausgeführten semantischen Begründung für dieses Vorgehen werden damit auch kontextuelle und textbedingte informationsstrukturelle Faktoren verringert. Andere Faktoren müssen unmarkiert bzw. neutral gehalten
23
Siehe dazu etwa Engel (2004: 161-185).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
werden, z.B. keine Kontrastintonation, vergleichbare Realisierung der E nach Länge, Definitheit, Art des Kopfes (Nomen vs. Pronomen):24 (8)
Dass das Meer den Damm fortspülte […] (HD: 7) sub
akk
dir
In diesem Fall ist die Grundfolge unkontrovers, wie Permutationen zeigen: (8a) (8b)
Dass den Damm das Meer fortspülte Dass das Meer fort/auf den Grund den Damm spülte
Die Permutationen in den Sätzen (8a) und (8b) werden als ungewöhnlich bzw. als besonderes Stilmittel empfunden. Man beachte, dass der Effekt nicht von der Realisierung der Direktiv-E durch das Adverb fort abhängt, wie die Ersetzung von fort durch eine PP zeigt. In kontroversen Fällen können Häufigkeitsuntersuchungen bei der Etablierung der Grundfolge helfen. Die Grundfolge gilt nicht absolut, sondern ist auf Verben bzw. Verbklassen, die eine je eigene Perspektivierung besitzen (Welke 2011: 154ff.), relativiert (vgl. jmdm. eine Situation erklären vs. jmdn. einer Situation aussetzen). Die Ermittlung der Grundfolgen im Englischen kann sowohl aufgrund der Haupt- wie der Nebensatzfolge erfolgen, da beide im Prinzip identisch sind: (9)
[…] as she pushed the photograph across the desk. (HDE: 9) SU
DO
dir
Permutationen sind markiert und wie im Deutschen im Nebensatz eingeschränkter als im Hauptsatz: (9a) (9b)
as she pushed across the desk the photograph. ?? as the photograph she pushed across the desk.
Trotz der unterschiedlichen Verbposition in deutschen und englischen Sätzen ergibt sich in den gewählten Fällen dieselbe „Eakk/DO vor Edir“-Grundfolge der Ergänzungen, was mit dem verarbeitungsökonomischen Prinzip der frühen Erkennung der unmittelbaren Konstituenten (Hawkins 1994: 57-120) oder auch mit der ikonischen Abbildung des außersprachlichen Geschehens erklärbar sein könnte. Tatsächlich haben die unterschiedlichen Verbpositionen in den beiden Sprachen nur einen beschränkten Einfluss auf die Grundfolge. Ein Einfluss zeigt sich vor allem in der Abfolge adverbialer Bestimmungen (s. König/Gast 2009: 177):
24
Für die deutschen Ergänzungen werden die von Engel (1988) etablierten Abkürzungen benutzt, also sub=Subjekt, akk=Akkusativ-E, dir=Direktiv-E etc. Im Text werden diese auch als Eakk, Edir etc. angeführt. Diese Konventionen werden soweit möglich auf das Englische übertragen. Im Übrigen werden die etablierten Abkürzungen für englische Ergänzungen verwendet: SU=subject, DO=direct object, IO=indirect object. Die restlichen Abkürzungen werden aber wie die deutschen Abkürzungen durch Kleinbuchstaben angezeigt (z.B. dir), um eine Verwechslung mit thematischen Rollen zu verhindern. Dieser unterschiedliche existierende Konventionen respektierende Kompromiss wurde im Interesse guter Lesbarkeit und Klarheit gewählt.
35
Chancen und Grenzen des Vorgehens
(10)
She has worked [on her boat] [with great care] [in the garden] [the whole time] [today]. (10d) Sie hat [heute] [die ganze Zeit] [im Garten] [mit großer Sorgfalt] [an ihrem Boot] gearbeitet.
Die englische Reihenfolge „Hinsicht – Art und Weise – Ort – Dauer – Zeit“ erscheint im Deutschen spiegelbildlich. Hier gibt es tatsächlich die von Eroms (2000, 316) beobachtete „zueinander […] invertierte Folge“ im Deutschen und Englischen (vgl. auch die Reihenfolge in (7) und (7e) oben). Da Deutsch im Gegensatz z.B. zum Japanischen keine echte OV-Sprache ist und Englisch auch noch Reste einer Satzklammer bewahrt hat (give something up, put something on), sind die Grundfolgen in beiden Sprachen aber oft parallel. Die Grundfolge bestimmt die Anbindungsfolge an das Verb, die im Deutschen vom zuletzt genannten Verb sukzessive zur zuerst genannten Ergänzung erfolgt, also von rechts nach links: (11)
Dass [das Meer [den Damm [fortspülte]]]
In der kategorialgrammatischen Terminologie der Grammatik der deutschen Sprache ist fort der „erstzubindende Term“ (EZT), den Damm der „als mittlerer zu bindende Term“ (MZT) und das Meer der „letztzubindende Term“ (LZT) (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1303, 1324): (11')
Dass [das Meer [den Damm [fortspülte]]] LZT
MZT
EZT
Das Subjekt besitzt in dieser Analyse die größte Verbferne. Die Beschreibung ist insofern „konfigurativ“, als sie ausgehend von einer Grundfolge die Hierarchisierung der Ergänzungen explizit macht, die in der klassischen Valenztheorie höchstens implizit berücksichtigt war. Dabei wird dem Subjekt keine strukturelle Sonderstellung eingeräumt. Im Englischen kann die Bindungsfolge nicht direkt an der physischen Entfernung zum Verb abgelesen werden, da das Verb zwischen Subjekt und dem Rest der Ergänzungen steht. Trotzdem wird dem Subjekt in Analysen der Generativen Grammatik die größte strukturelle Distanz zum Verb zugesprochen. In der klassischen Sichtweise wird die VPGG, d. h. die VP im Sinne der Generativen Grammatik, unter Ausschluss des Subjekts vom Verb aus nach rechts aufgebaut. Das Subjekt wird dann als „Spezifizierer“ der flektierten VPGG (= Infl‘) mit dieser zum Satz (= InflP) zusammengefügt:
36
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Abb. 2.2: Phrasenstrukturbaum (nach O’Grady et al. 1997: 195)25
Im Englischen gibt es für diese Sonderstellung des Subjekts gute Gründe (obligatorisches Subjekt, wenig flexible Satzgliedfolge mit Subjekt-Verb-Achse, Anaphorisierbarkeit der VPGG), während die Annahme einer VPGG für das Deutsche umstritten ist: Das Subjekt kann durchaus als LZT in die VP integriert sein, wie es die klassische VT annimmt.26 Diesen Weg nehmen auch neuere generative Analysen, wodurch sich valenzgrammatische und generative Beschreibungen zumindest in diesem Punkt angeglichen haben. Das Englische gilt als typische Kopf-zuerst- bzw. rechtsverzweigende Sprache. Dies lässt eine spiegelbildliche Abfolge der Satzglieder im Vergleich zum deutschen Nebensatz erwarten, wie sie z.B. Satz (10) demonstriert, aber tatsächlich sind die Abfolgen in beiden Sprachen weitgehend parallel. Ein Aufbau der VPGG von V aus nach rechts ergäbe für Satz (9) die folgende Struktur:27 (12)
as [she VP[[pushed the photograph] across the desk]]. LZT
EZT
MZT
Die Anbindung des direct object vor der Direktiv-E überrascht. Schließlich ist die Bindungsreihenfolge hauptsächlich semantisch motiviert: Sie ist vor allem in der Art des Beitrages eines Satzglieds zu einem mit einem Verb bzw. einer Verblesart verbundenen Sachverhalt begründet. Die Art der Sachverhaltsbeteiligung drückt sich in der thematischen Rolle und ihrer Abbildung auf eine syntaktische Funktion aus, wobei auch die Fo25
26
27
Infl: Inflection; Qual: Qualifier; X ▪ (sprich X-bar bzw. X-strich): zeigt eine Zwischenkategorie zwischen Wort und Phrase an. S. Haider (1993: 142ff.); Givón (1995: 180-220). Kathol (2001) argumentiert für eine flache Struktur im Deutschen (so auch schon Oppenrieder 1991), Culicover/Jackendoff (2005) generell für flache Strukturbeschreibungen. Berg (2002) nimmt für verschiedene Sprachen bzw. historische Varietäten derselben Sprache unterschiedliche Grade von Konfigurativität an. Die Übersetzung von Satz (11) wurde nicht benutzt, da sie wegen der Kürze der Adverbial-E (away) und der Länge des direct object eine markierte Abfolge der Satzglieder aufweist: […]that the sea would wash away the causeway that Venice clings to […] (HDE: 7). Das Original zu Satz (9) wurde nicht benutzt, da es eine zusätzliche Ergänzung aufweist: […] schob ihm ein Foto über den Schreibtisch (HD: 9).
37
Chancen und Grenzen des Vorgehens
kussierung einzelner Rollen eine Rolle spielt. Wegen dieses weitgehend einzelsprachunabhängigen Zusammenhanges ist zu erwarten, dass äquivalente Ergänzungen in beiden Sprachen in derselben Reihenfolge angebunden werden. Tatsächlich wird jetzt mit der Anbindung der in der englischen VP am weitesten rechts stehenden Ergänzung begonnen und dann sukzessive nach links weitergebunden. Dabei steht der bindende Kopf jeweils links des zu bindenden Satzgliedes, d.h. er bewegt sich bis zur Position links der Satzglieder in der VP (nach Haider 1993: 29; vgl. Radford 1997b: 198-218): (13)
[Vi [XP3 [ei [XP2 [ei XP1]]]]]
VP
LZT
MZT
XP: Phrase mit Kopf X
EZT
ei: Spur von Vi
Für Satz (12) bedeutet dies folgende Bindungsfolge: (12a) as she pushed the photograph across the desk. LZT
MZT
EZT
Das englische Verb in abgeleiteter Position bildet mit dem EZT eine diskontinuierliche Konstituente. Mit diesem Arrangement wird die korrekte Bindungsfolge bei Beibehaltung der englischen Kopf-zuerst-Position erreicht. Haider (1993: 28) betont, dass die Serialisierung nicht mit dem Wert des Kopfparameters (der Kopfposition links oder rechts in der Phrase) kovariiert. Er formuliert in der Basic Branching Conjecture, dass Basisprojektionen „rechtsrekursiv“ seien (von rechts nach links aufgebaut werden bzw. von links nach rechts an Einbettungstiefe zunehmen).28 Den Grund hierfür vermutet er in einer „invarianten Eigenschaft des Sprachverarbeitungssystems“ (ebd.), die er aber im Gegensatz zu Hawkins als Teil der Universalen Grammatik sieht. Nur die Lizenzierungsrichtung der Ergänzungen durch den verbalen Kopf erfolge im Deutschen nach links, im Englischen nach rechts. Die Grundfolge ist Ausdruck der vor allem semantisch motivierten Bindungsfolge, nicht umgekehrt: Die Bindung ist ein grammatisches Konstrukt, das die Grundfolge erklärt. Haider (1993: 20-24) begründet die Bindungsfolge u.a. mit Skopusverhältnissen (vgl. auch Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1020-5, 1302ff.). Man kann spekulieren, dass die Bindungsfolge so ist, wie sie ist, da sie in der Grundfolge für den Sprachgebrauch nützliche Skopusverhältnisse nach sich zieht. Allerdings kann man die Bindungsfolge nur dann aus Skopusverhältnissen ableiten, wenn man bereits die Grundfolge hat und weiß, dass früher gebundene Argumente im Skopus später gebundener Argumente liegen (k-Kommandierung). Dies liegt daran, dass sich die Skopusverhältnisse aus der Satzgliedfolge ableiten lassen und unter Permutation ändern: (14) She pushed every photographi into itsi sleeve. (14a) *She pushed itsi photograph into every sleevei. (14b) She pushed into every sleevei itsi photograph.
28
Für echte Verbletzt-Sprachen gilt die Basic Branching Conjecture je nach Annahme der Grundfolge m.E. nicht uneingeschränkt.
38
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Zwar kann every photograph nicht EZT sein, da das direct object nicht im Skopus der Direktiv-E liegen kann: Man vergleiche Satz (14a), wo der vergebliche Versuch gemacht wird, its photograph in den Skopus von into every sleeve zu bringen. Aber die Direktiv-E, der wahre EZT in Satz (14), kann bei Permutation wohl das direct object, den MZT in Satz (14), in seinem Skopus haben (s. Satz (14b)). Skopusverhältnisse sind Folge der aktuellen Satzgliedfolge und können zur Bestimmung der Grundfolge nicht herangezogen werden. Die Bindungsfolge lässt sich nur dann aus den Skopusverhältnissen ableiten, wenn man mit Permutation wechselnde Anbindungsverhältnisse annimmt. Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 1022, 1302), die von dem Prinzip ‘Skopus bestimmt Hierarchie’ ausgehen, handeln deshalb konsequent, wenn sie betonen, dass keine fixe Argumenthierarchie angenommen werden kann. Die Akzeptanz von weitgehend parallelen Bindungs- und Grundfolgen im Deutschen und Englischen befreit auch von Verstrickungen, in die die Linksrekursivität beim Aufbau der englischen VP geführt hatte. So entfällt ein Grund, postverbale NP pauschal als „strukturelles direct object“ anzusprechen, um zuerst gebundene indirect object zu vermeiden: (15)
Bo […] gave her his sweetest smile. (HDE: 16)
Bei Rechtsrekursivität wird das direkte Objekt his sweetest smile zuerst gebunden und her kann als später gebundenes indirektes Objekt analysiert werden. Wir werden unten sehen, dass die Annahme eines aufgeblähten strukturellen direct object Hawkins’Analyse der deutsch-englischen Kontraste beeinflusst hat. Wir halten fest, dass sowohl Grund- als auch Bindungsfolge in den beiden Sprachen in wesentlichen Bereichen nicht voneinander abweichen. Dabei sollen Unterschiede wie die zueinander invertierte Anordnung adverbialer Bestimmungen nicht ignoriert werden, die durchaus mit der aktuellen frühen Verbposition im Englischen zusammenhängen können. Die grundsätzliche Parallelität der Wortstellung wird in meiner Korpusanalyse eindrucksvoll bestätigt werden.
3. Wie Sprachen charakterisiert werden können
In diesem Kapitel werden verschiedene sprachtypologische Ansätze angesprochen und das Programm einer Typologie der Textrealisierung vorgestellt. Sodann wird das Verhältnis von Ausdruck und Inhalt thematisiert, um die für das zu erstellende typologische Profil beider Sprachen zentralen Begriffe semantische Transparenz (Kap. 3.3.2) und grammatische Komplexität (Kap. 3.3.3) zu definieren. Auch andere relevante Begriffe wie Lernaufwand, kognitiver Aufwand und Verbosität werden kurz angesprochen (Kap. 3.3.4). Sodann werden die untersuchten Parameter Textlänge, Verbstellung, Konversen, Kasus, Topologie, Ergänzungssysteme, Häufigkeit von einfachen Ergänzungen (E) und Ergänzungssätzen (E-Sätzen) vorgestellt (Kap. 3.3.5). In Kapitel 3.4 wird das Verhältnis von morphologischer Kennzeichnung und Stellungsflexibilität untersucht und der Charakter morphologischer und topologischer Kennzeichnung herausgearbeitet.
3.1
Sprachtypologie
Die Sprachtypologie29 untersucht die zwischensprachliche Variation (Comrie 2001: 25). Sie ist also auf Sprachvergleich gegründet, der durch semantisch-pragmatische Äquivalenzen abgesichert ist, also letztlich durch Übersetzungen, obwohl auch Formzuordnungen eine Rolle spielen. In Typology and Universals nennt Croft (1990/2003: 1–4) drei Begriffe von Sprachtypologie: 1. Klassifikatorische Typologie. Sie klassifiziert sprachliche Strukturtypen. Darunter fallen die morphologischen30 Bestimmungen von Sprachtypen im 19. und frühen 20. Jahrhundert (F.v. Schlegel: flektierend, affixierend; A.W. v. Schlegel: strukturlos; W. v. Humboldt: inkorporierend; A. Schleicher: isolierend, agglutinierend, flektierend; E. Sapir: analytisch, synthetisch, polysynthetisch; isolierend, agglutinierend, fusionierend, symbolisch), aber auch neuere Einteilungen: kopf- und dependensmarkierende Sprachen (Nichols 1986, s.a. Boas 1911), der Kopfparameter (links- bzw. rechtsverzweigend) und die pro-drop-Sprachen der Generativen Grammatik (Null29 30
Der Begriff Typologie wurde zuerst von G. v. der Gabelentz (1891: 481) benutzt. Im Mittelpunkt stand die Verbindung von Grammem und Lexem (Bossong 2001: 250).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Subjekt, Null-Objekt), Nominativ- bzw. Akkusativ-, Ergativ- und Aktivsprachen und die in diesem Buch eine besondere Rolle spielende Korrelation zwischen Formreichtum, semantischer Transparenz und Stellungsflexibilität (Hawkins 1986, 1992). Die Zuordnung einer Sprache zu einem Typ ist nicht nur beschreibend. Zwar hat die Einzelsprache an der Untermauerung der Existenz eines Typs teil, aber die Zuordnung zu einem Typ übersteigt die einzelsprachliche Beschreibung und erklärt insofern die Strukturiertheit der Einzelsprache (s.u.). Die kontrastiv-typologische Orientierung bei L. Tesnière (1959/1966) und V. Ágels Forderung nach einer typologisch adäquaten Valenztheorie (Ágel 2000: 9, 109) ist von den Ergebnissen der Typologie in diesem Sinne beeinflusst. Da Sprachen meist Mischtypen darstellen, werden heute sprachliche Strukturtypen eher als idealisierte Orientierungspunkte benutzt, die nicht unbedingt dem „Natürlichkeitsprinzip“ entsprechen. Z.B. sind dependensmarkierende Sprachen mit Kopfmarkierung der ersten Ergänzung häufiger als rein dependensmarkierende Sprachen, d.h. ein Mischtyp ist natürlicher als ein reiner Typ (s. Nichols 1986). Klassifiziert werden nicht mehr ganze Sprachen, sondern einzelne Formen oder Konstruktionen. 2. Empirisch-vergleichende Typologie. Sie untersucht syntaktische Muster oder übereinzelsprachliche Strukturen, die nur durch den Vergleich von Sprachen entdeckt werden können. Dies sind z.B. implikative universale Beziehungen, wie „Wenn das Demonstrativpronomen dem Nomen folgt, dann auch der Relativsatz“, oder Markiertheitshierarchien. Typologie in diesem Sinne ist eine linguistische Subdisziplin, die eine u.U. geringe Zahl von Parametern in vielen Sprachen untersucht. Sie wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von J. Greenberg begründet.31 Da wir nur zwei Sprachen betrachten, spielt diese Form von Typologie in diesem Buch nur die indirekte Rolle, dass ihre Befunde sich in den untersuchten Sprachen zeigen sollten. Eine typologisch orientierte Beschreibung der Einzelsprachen sollte die Ergebnisse dieser Typologie in ihre Beschreibungen integrieren, wie dies z.T. in neueren Grammatiken geschieht (Eisenberg 1999; Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997; s.a. Roelcke 1997 und das IDS-Projekt Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Zifonun 2001a, 2001b). Insbesondere können die Markiertheitshierarchien einzelsprachliche Gegebenheiten erhellen, die für sich betrachtet arbiträr erscheinen. Obwohl mit den universalen Beziehungen kompatible einzelsprachliche Befunde die Beziehungen stützen, werden die einzelsprachlichen Befunde doch auch durch erstere erklärt, da die Generalisierung mehr Information enthält als der einzelsprachliche Befund, der aus ihr ableitbar ist. 3. Funktional-typologischer Ansatz. Der dritte Begriff von Typologie bezieht sich auf eine Herangehensweise an die Erforschung von Sprache, die sich – bei allen zu beto31
Erwähnenswert sind hier rationalistische Vorläufer der Typologie im 18. Jahrhundert, die syntaktisch orientiert waren und dem Greenbergschen Ansatz viel näher standen als die als Begründer der Typologie betrachteten morphologisch orientierten Forscher des 19. Jahrhunderts (Bossong 2001: 255-62).
Wie Sprachen charakterisiert werden können
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nenden Gemeinsamkeiten – z.B. von der des europäischen oder amerikanischen Strukturalismus oder der der Generativen Grammatik unterscheidet. Diese Form von Typologie wurde in den letzten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts begründet (s. z.B. Givón 1979, 1995). Ihre Herangehensweise ist der funktionalen verwandt und führt zur funktional-typologischen Theoriebildung, in der typologische Muster im Sinne des Typologiebegriffs 2 sowohl extern als auch funktional erklärt werden. Die in diesem Buch vorgenommene funktional-semantische Begründung von Valenz gehört zu diesem Ansatz. 4. Sprachverarbeitungsfunktionale Typologie. Der Einteilung von Croft könnte man einen vierten Begriff von Typologie hinzufügen, der von J.A. Hawkins repräsentiert wird. Dieser Begriff von Typologie teilt mit dem dritten, dass er eine grammatikexterne Erklärung für sprachliche Muster sucht. Diese wird in den Anforderungen an die Sprachverarbeitung in Echtzeit gefunden. Typologische Strukturtypen, etwa Kopfzuerst oder Kopf-zuletzt, seien verschiedene Antworten auf diese Anforderungen und können so erklärt werden.
3.2
Textrealisierung
Um Aussagen über große Mengen von Sprachen machen zu können, werden oft wenige Parameter gewählt, für die einzelne Sprachen aufgrund von Sprecherbefragungen oder Grammatikbeschreibungen Werte erhalten. So gilt das Deutsche etwa als Kasussprache mit Verbletztstellung (Subjekt-Objekt-Verb-Grundstellung (SOV)) und abgeleiteter Verbzweitstellung (V2), die zwischen den zwei Verbpositionen ein Mittelfeld mit flexibler Satzgliedfolge aufspannt. Das Englische gilt als kasuslose Sprache mit Subjekt-VerbObjekt-Grundstellung (SVO), die folglich kein Mittelfeld, aber eine feste Satzgliedfolge besitzt. Beide Sprachen gelten als dependensmarkierend mit Kopfmarkierung des Subjekts, beide auch als Nominativ- bzw. Akkusativsprachen. Allerdings kann die Realisierung dieser systembezogenen Charakteristika solche pauschalen Einordnungen z.T. erheblich einschränken. Erstens können sie auf gewisse Kategorien beschränkt sein: So gilt Kasuslosigkeit für englische NP (als Satzglieder), aber nicht für Personalpronomina. Im Deutschen ist die Nominativ- und Akkusativkennzeichnung für alle Nomen im Plural und für Feminina und Neutra im Singular identisch. Die deutsche OV-Stellung gilt nur für Nebensätze und den infiniten Teil komplexer Verbformen in Hauptsätzen, die Kopfmarkierung im Englischen – abgesehen von wenigen Auxiliarverben – nur für eine Verbform (in der Standardvarietät: dritte Person Präsens Singular). Im Deutschen gibt es auch charakteristische Einschränkungen der Stellungsflexibilität und im Englischen durchaus auch Freiheiten. Schließlich existiert im Deutschen ein Subsystem, das aus dem akkusativsprachlichen Rahmen herausfällt; im Englischen gibt es Konstruktionen, die Verbzweitstellung erlauben oder sogar fordern.
42
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Diese sich noch auf der Systemebene bewegenden Einschränkungen haben einen Effekt auf die Textrealisierung: Z.B. ist wegen der hohen Textfrequenz von Personalpronomina eine beachtliche Zahl von englischen Subjekten und direkten Objekten kasusmarkiert. Andererseits erfährt die Mehrzahl deutscher Nominalphrasen keine NominativAkkusativ-Differenzierung. Betrachtet man die de facto-Stellungen einzelner Ergänzungen, so überwiegen die Gemeinsamkeiten. Eine Auszählung der verschiedenen Verbpositionen in deutschen Deklarativsätzen lässt V2 als unmarkierte Position erscheinen (gegenüber V2__Vpart und v2__V; vgl. Kap. 6.2.3). Eine beachtliche Zahl englischer Sätze besitzt Verbzweitstellung, obwohl dieser Befund auf die Schriftsprache beschränkt sein dürfte. Typologische Bewertungen, die auf Systembeschreibungen beruhen – etwa die Einschätzung deutscher Kasus-E als semantisch transparent –, können durch Häufigkeitsuntersuchungen erheblich unterminiert werden, wenn z.B. die morphologisch gekennzeichneten Oppositionen wenig genutzt werden (z.B. Genitiv als Objektskasus) und die genutzte Opposition kaum gekennzeichnet ist (Nominativ vs. Akkusativ). Auch können typologisch relevante Einschätzungen, wie die, dass das deutsche direkte Objekt, d.h. die Akkusativ-E, wegen der Existenz von Dativ- und Genitiv-E eine Untermenge des englischen direkten Objekts bildet, durch Textuntersuchungen als falsch erwiesen werden. Häufigkeitsuntersuchungen innerhalb einer Sprache können also typologische Relevanz besitzen und das typologische Profil einer Sprache beeinflussen. In diesem Sinne ist meine Forderung nach einer Typologie der Textrealisierung zu verstehen.
3.3
Ausdruck und Inhalt
3.3.1
Beschreibungskategorien und -ebenen
Der Hauptparameter, der untersucht werden soll, ist die semantische Transparenz sprachlicher Ausdrucksmittel, insbesondere grammatischer Kennzeichnungen. Dieser wird zunächst motiviert und dann zu einer Reihe relevanter Begriffe wie grammatische Komplexität, Verbosität, sprachlicher Aufwand und sprachliche Mühe ins Verhältnis gesetzt. Im Folgenden ist es nützlich, auf der Systemebene zwischen Tektogrammatik (choice structure, übereinzelsprachlich) und Phänogrammatik (output structure, einzelsprachlich) zu unterscheiden (vgl. Dahl 2004: 56; Curry 1961: 65f.): Deutsch und Englisch haben z.B. ein Präteritum (identische tektogrammatische Wahl), aber die phänogrammatische Realisierung des Präteritums ist nicht identisch (mehr starke Formen im Deutschen). Man könnte sich noch mehr Abstufungen auf der Systemebene vorstellen, z.B. Existenz einer Verbform zum Vergangenheitsbezug (unter den Sprachmitteln zur Herstellung von Zeitbezug), Existenz einer synthetischen Verbform Präteritum (im Paradigma der Verbformen einerseits und im Paradigma der synthetischen Verbformen andererseits), Existenz zweier morphologischer Realisierungstypen (schwach – stark), Varianten in den Re-
Wie Sprachen charakterisiert werden können
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alisierungstypen, Realisierung beim Einzellexem. Aber wir belassen es bei der groben Zweiteilung. Um ein Bild der semantischen Transparenz äquivalenter englischer und deutscher syntaktischer Kennzeichnungen und Strukturen zu erlangen, ist es nicht nur nötig zu bestimmen, ob jeweils die englische oder die deutsche Kennzeichnung bzw. Struktur transparenter ist, sondern auch, wie häufig die Kennzeichnungen bzw. Strukturen realisiert werden.
3.3.2 Semantische Transparenz Alle Sprachen basieren auf der Produktion und Interpretation sukzessiver Laute in der Zeit. Deshalb stellt sich das bekannte Problem, wie und in welchem Ausmaß die komplexen Prädikat-Argument-Strukturen des Gesagten in der eindimensionalen Lautkette gekennzeichnet werden. Neuerdings wird von der Neo-Grice-Schule betont, dass Verstehen wesentlicher auf Schlussfolgerungen aus dem Gesagten bestehe als auf dessen direkter Interpretation (Dekodierung), und dass Dekodierung ohne vorgeschaltete Schlussfolgerungen zum Teil nicht möglich sei (Sperber/Wilson 1995: 14). Verstehen sei kein deterministischer Prozess.32 Levinson (2000) dagegen betont die Automatisierung von Schlussfolgerungen. Auch wenn man akzeptiert, dass Verstehen in größerem Ausmaß ein Vermuten ist, so ist ein Minimum an semantischer Transparenz doch nötig. Natürlich wird das Gesagte vor allem durch die verwendeten Lexeme transparent, aber darüber hinaus gibt es sowohl lexikalische als auch formale syntaktische Mittel. Was ist damit gemeint? (1)
Der Puma sieht den Löwen.
In Satz 1 ist morphologisch angezeigt, wer etwas wem „antut“ (der vs. den -n). Insofern sind der Puma und den Löwen semantisch transparent und damit der ganze Satz. Die Kasusmorphologie ist also ein syntaktisches Mittel, das das semantische Verhältnis der Satzglieder zueinander und zum Prädikat kennzeichnet. Auch die Satzgliedfolge ist ein – universal wichtigeres – syntaktisches Mittel. Da es die ohnehin gegebene Sukzession von Elementen nutzt, ist es das default-Mittel zur Bestimmung der Satzrollen: (2)
Die Hyäne sieht das Reh.
Morphologisch gibt es in Satz 2 keinen Hinweis darauf, wer wen sieht, aber aufgrund der Satzgliedfolge können wir annehmen – zumindest wenn es keine anderen kontrainduktiven Hinweise gibt –, dass die Hyäne das Reh sieht. Auch Satz 2 besitzt semantische Transparenz: keine morphologische, sondern topologische. 32
Man könnte spekulieren, dass viel weniger verstanden wird als gemeinhin angenommen, aber dass wir in unserer Artgebundenheit die Begrenztheit unseres sprachlichen Handlungsmittels meist nicht merken. Nimmt man an, dass sprachliche Verständigung einen Selektionsvorteil bildet, wird sich die menschliche Sprache (über weite Zeiträume) weiter verbessern, bis der Aufwand den Zugewinn übersteigt.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Satz 2 zeigt, dass zwischen einem tektogrammatischen Systempotenzial für semantische Transparenz (Kasus als semantische Transparenz schaffendes Ausdrucksmittels des Deutschen: Kasusopposition Nominativ-Akkusativ) und der tatsächlichen semantischen Transparenz im Gebrauch zu unterscheiden ist: Die mangelnde Opposition zwischen Nominativ- und Akkusativformen ergibt sich aus der phänogrammatischen Ausgestaltung des Ausdrucksmittels Kasus (Formensynkretismus), die wiederum auf der universaltypologischen Tendenz besteht, auf eine Kennzeichnung der Opposition zwischen kontrollierender (hier: Experiencer) und kontrollierter Instanz (hier: Stimulus) am ehesten zu verzichten, da sie meist gut kontextuell rekonstruierbar ist. In Satz 2 ist dies freilich nicht der Fall, da entgegen der üblichen Belegung beide NP definit und beide Partizipanten belebt sind. Deshalb wird semantische Transparenz nur durch Topologie erreicht. Kehren wir die Reihenfolge in den beiden Sätzen um, so erhalten wir: (3) Den Löwen sieht der Puma. (4) Das Reh sieht die Hyäne. In Satz 3 verändert die Umstellung gegenüber Satz 1 die (grundlegende) Interpretation nicht. Das syntaktische Mittel der Position wird also vom syntaktischen Mittel Morphologie aufgehoben oder überschrieben. In Satz 4 bewirkt die Umstellung eine Veränderung der Interpretation gegenüber Satz 2: Da keine anderweitige morphologische oder sonstige Information existiert, greift Topologie. Auch das syntaktische Mittel Prosodie beeinflusst die Interpretation (Hervorhebungsakzent durch Majuskelschreibung gekennzeichnet): (5) (Was sieht die Hyäne?) Das REH sieht die Hyäne. Der Hervorhebungsakzent für sich unterscheidet aber nicht zwischen den Lesarten (vgl. den Kontext: Wer sieht die Hyäne?). Vielmehr kennzeichnet er den zweiten Satz in Dialog 5 als Antwort: Die hervorgehobene Phrase (Fokusphrase) gibt einen Wert für einen in einer Frage oder anderweitig definierten offenen Satz (in Dialog 5: Die Hyäne sieht x; dass die Hyäne etwas sieht, wird in der Frage zum Hintergrund gemacht, der in der Antwort präsupponiert ist). Die Antwort in Dialog 5 ist nur kontextuell semantisch transparent, aber nicht morphologisch oder topologisch, d.h. sie ist eigentlich nicht semantisch transparent! Sie ist prosodisch informationsstrukturell transparent insofern, als dem Hörer signalisiert wird, dass kein normaler assertiver Satz vorliegt, aber die Prosodie zeigt nicht die Zuordnung der syntaktischen Funktionen Subjekt und Akkusativ-E an. Da wir geschriebene Texte betrachten, spielt Prosodie im Folgenden keine primäre Rolle.33 Wir können aber festhalten, dass alle drei formalen syntaktischen Mittel zu berücksichtigen sind, wenn die semantische und informationsstrukturelle Transparenz von Äußerungen beurteilt werden soll. 33
Prosodie kann durch typografische Mittel (Großbuchstaben, Kursivdruck, Interpunktion etc.) angezeigt werden und dann in die Interpretation schriftlicher Texte eingehen, z.B.: „Die Götzen war sein Schiff“ (Capus 2009: 9). Der zweite Kursivdruck zeigt einen Hervorhebungsakzent an. Man beachte auch den sozusagen eingebauten Hervorhebungsakzent in der Wahl von Majuskeln bei Eigennennung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel.
Wie Sprachen charakterisiert werden können
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Betrachten wir die englische Übersetzung von Satz 1: (6)
The puma sees the lion.
Weder the puma noch the lion zeigt in Satz 6 morphologisch an, wer wen sieht, was die Umkehrung des Sehen-Verhältnisses in Satz 7 zeigt: (7)
The lion sees the puma.
Die beiden Sätze sind also in Bezug auf die semantischen Rollen in morphologischer Hinsicht nicht semantisch transparent. Dass trotzdem jeweils klar ist, wer wen sieht, liegt, wie in den Sätzen 2 und 4 oben, an der Position: Auf die das Geschehen stärker kontrollierende Entität wird vor dem Verb verwiesen, auf die das Geschehen weniger stark kontrollierende Entität hinter dem Verb. Die Reihenfolge ist grammatikalisiert. Sie nicht nur als default-Mittel zu benutzen wie im Deutschen, sondern systematisch in den Dienst der Rollenbestimmung zu stellen, ist eine naheliegende Lösung, wie wir von Pidgin-Sprachen wissen (vgl. Dahl 2004: 121). Die englischen Sätze sind also in topologischer Hinsicht semantisch transparent. Deutscher Kasus und englische Position sind in Bezug auf die Kennzeichnung grundlegender Rollen funktionale Äquivalente (s. Kap. 4.3 unten). Erwachsene Sprecher des Englischen identifizieren den Initiator einer Handlung bzw. die kontrollierende Instanz aufgrund von Topologie, die andere Indikatoren wie Belebtheit (Agentivität), Definität und evtl. auch Kongruenz überschreibt. Erwachsene Sprecher des Deutschen achten zunächst auf Kasus, der die anderen Indikatoren Topologie und Belebtheit (Agentivität) aussticht. Wir werden später sehen, dass die englische Topologie ein viel verlässlicheres syntaktisches Mittel ist als Kasus, da von ihr nur selten und ohne temporäre Ambiguitäten zu verursachen abgewichen wird, während die deutsche Kasusmorphologie einen erheblichen Nominativ-Akkusativ-Zusammenfall besitzt. Die bisher aufgeführten Sätze sind auch insofern semantisch transparent, als sie keine ungewöhnlichen Zuordnungen von thematischen Rollen34 zu syntaktischen Funktionen beinhalteten. In Sätzen mit Subjekt und direktem Objekt wird ein Aktivitätsgefälle angenommen: Die Rolle des Sehenden (Experiens) ist „aktiver“, da sie einen Perzeptionsprozess beinhaltet, als die des Gesehenen (Stimulus). Anders ausgedrückt übt der Sehende eine größere Kontrolle über das Geschehen aus als der Gesehene. Dies ist bei sekundären Subjektivierungen nicht der Fall. Rohdenburg, der als erster sekundäre Subjektivierungen systematisch untersucht und den Begriff geprägt hat (in Analogie zu sekundären 34
Thematische Rollen sind die situationsnahen Rollen Fillmores wie Agens, Patiens, Experiens, Locus etc. Davon zu unterscheiden sind konstruktionsinduzierte Rollen wie Agentiv, Objektiv, Lokativ etc. Die beiden Rollen decken sich oft (z.B. Agens als Agentiv: Sie besiegt die Krankheit), aber nicht immer (Experiens als Agentiv: Sie erleidet die Krankheit). Um die beiden Typen von Rollen zu unterscheiden, wurde das Suffix –iv für die konstruktionsinduzierten Rollen reserviert. Meine Unterscheidung entspricht der Unterscheidung von denotativ- und signifikativ-semantischen Rollen in Welke (2011: 140-153). Den Terminus semantische Rolle benutze ich als Oberbegriff für die beiden Arten von Rollen.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Passivierungen, i.e. Passivierungen des englischen indirect object), listet folgende Merkmale sekundärer Subjektivierungen auf (1974: 12ff.): – – – – –
relativ jung geringes Vorkommen unbelebter Referent (und daher psychologisch weniger präsent) kontextbeschränkt kein logisches Subjekt (Abbildung einer ungewöhnlichen thematischen Rolle auf das grammatische Subjekt)
Betrachten wir ein Beispiel, auf das die o.g. Merkmale offensichtlich zutreffen (vgl. Rohdenburg 1974: 11; Hawkins 1986: 59; König/Gast 2009: 108): (8) This tent sleeps four. (8d) *Dieses Zelt schläft vier. (8d’) In diesem Zelt können vier schlafen.
Sleep ist eigentlich ein intransitives Verb, das ein Lebewesen in der Rolle eines Experiens als Subjekt erwarten lässt. Das Subjekt wird aber hier von einem Locus belegt, während das „aktivere“, Kontrolle über das Geschehen ausübende Experiens auf die Position eines sonst nicht mit sleep realisierten direct object relegiert wird. Insofern ist Satz (6) nicht semantisch transparent (Zelte können nicht schlafen), im Gegensatz zur freilich auch aufwendigeren deutschen Übersetzung (8d’). Allerdings sollte hinzugefügt werden, dass sekundäre Subjektivierungen eine Reanalyse auslösen: this tent bekommt als Subjekt die Rolle des Zustandsträgers für die Eigenschaft, vier Personen aufnehmen zu können, übergestülpt. Schließlich geht es nicht um ein konkretes Schlafen im Zelt als Ort, sondern um das Aufnahmepotenzial des Produktes Zelt. Dadurch wird auf einer syntaxnäheren Rollenebene (konstruktionsinduzierte Rollen) wieder semantische Transparenz erreicht. Englisch hat mehr sekundäre Subjektivierungen und ist in dieser Beziehung nur semantisch weniger transparent, wenn man die Fillmore’schen Rollen zugrunde legt und den Reanalyse-Effekt ignoriert.35 Auch in Satz (9) ist in der Analyse der Generativen Grammatik die Subjektstelle usurpiert worden: (9) (9a) (9d) (9d’)
35
36
Linguistics is boring to study. It is boring to study linguistics. ?(Die) Linguistik ist langweilig zu studieren.36 Es ist langweilig, (die) Linguistik zu studieren.
Rohdenburg (1974) unterzieht den Fillmore’schen Rollenbegriff einer umfassenden Kritik und betont die semantischen Unterschiede zwischen Sätzen ohne und mit sekundärer Subjektivierung. Zur Kritik des Fillmore’schen Rollenbegriffs s.a. Welke (2011: 145-8). Die Akzeptanz von Anhebungsstrukturen schwankt bei Muttersprachlern des Deutschen erheblich. Allerdings dürften die in diesem Buch als fraglich angeführten Anhebungsstrukturen im Gegensatz zu ihren englischen Gegenstücken kaum spontan geäußert werden.
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Das Subjekt stamme aus dem abhängigen Infinitivsatz und sei vordem das direkte Objekt von study gewesen (s. Satz (9a)). Um den Satz zu interpretieren, müsse man erkennen, dass linguistics kein echtes Subjekt von is boring sei – schließlich impliziere der Satz nicht, dass die Linguistik selbst langweilig sei. Deshalb sei Satz (9) nicht semantisch transparent: Ein Argument sei deplaziert (Objekt-zu-Subjekt-Anhebung). So geht zumindest die orthodoxe Interpretation. Wiederum ist es aber möglich, eine alternative Analyse anzunehmen, die linguistics als Träger der Eigenschaft boring to study sieht. Die Analysen der sekundären Subjektivierung und der Anhebung geben zu bedenken: Obwohl die Idee der semantischen Transparenz generell klar ist, gibt es doch mögliche Fragezeichen, da seltene, kompakte Strukturen zwar im Vergleich zu elaborierteren, üblichen Strukturen als weniger transparent erscheinen, aber Sprecher mit ihnen u.U. eine eigene semantische Struktur verbinden, die der kompakten Konstruktion eigen ist. Die semantische Transparenz betrifft auch Auslassungen von Argumenten und infinite Strukturen: (Teil-)Sätze mit expliziten Argumenten sind transparenter als solche mit Auslassungen. Finite Strukturen sind transparenter als infinite. Verbale Strukturen sind im Allgemeinen transparenter als nicht-verbale. Statt von semantischer Transparenz wird häufig von Überspezifizierung (overspecification) und Unterspezifizierung (underspecification) gesprochen (etwa MacWhorter 2002; Abraham 2003). Die Idee ist, dass es ein Minimum an semantischer Transparenz gibt (etwa in den Pidgin-Sprachen), gegenüber dem transparentere Strukturen oder Sprachen als überspezifizierend ausgewiesen sind. Unterspezifizierung liegt vor, wenn man eine in diesem Sinne überspezifizierte Struktur oder Sprache als Maßstab nimmt: In verschiedener Hinsicht (z.B. Kasus, Genus, finite Verbendungen, Verbmodus, inhärente Reflexivität) ist das Deutsche gegenüber dem Englischen überspezifiziert, das Englische im Vergleich zum Deutschen also unterspezifiziert. Die semantische Transparenz wird in dieser Arbeit in Relation zu einer Reihe von Strukturen kontrastiv ermittelt, wobei besonders auch die Textrealisierung berücksichtigt wird. Häufig wird dabei entgegen Hawkins’ Ansichten und auch im Widerspruch zu stereotypischen Bildern der beiden Sprachen die englische Struktur als semantisch transparenter ausgewiesen. Wir können festhalten, dass semantische Transparenz ein einfacher Begriff ist, der auf die sprachlich ausgedrückte im Gegensatz zur erschließbaren Information abhebt. Seine Anwendung ist aber nicht unproblematisch, da es oft schwierig ist, zu bestimmen, was der ausgedrückte Inhalt ist. Das Vorhandensein gewisser Ausdrucksmittel in einer Sprache kann zu voreiligen Urteilen über die semantische Transparenz führen. Entscheidend ist die tatsächliche Transparenz in Äußerungen.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
3.3.3
Grammatische Komplexität
Die Komplexität einer Sprache, einer grammatischen Kategorie oder eines Ausdrucks wird gemessen an der Komplexität ihrer Beschreibung (Dahl 2004: 27, 49-50; McWhorter 2002: 219-220).37 Wir lassen die Komplexität des Wortschatzes beiseite und konzentrieren uns auf grammatische Komplexität, also die Komplexität von grammatischen Kategorien und Konstruktionen (die regelgeleitete Kombination von Lexemen). Dahl spricht diese als Systemkomplexität an. Zum Beispiel sind deutsche NP als Satzglieder komplexer als englische, da ihre grammatische Beschreibung auf die Kategorisierungen Kasus und Genus Bezug nehmen muss. Die deutsche Kasuskategorisierung ist komplexer als die englische, da ihre Beschreibung vier und nicht nur zwei oder drei Kasus benötigt. Die Komplexität von grammatischen Konstruktionen wird auch als strukturelle Komplexität angesprochen: Z.B. ist ein einfacher Satz strukturell weniger komplex als ein aus zwei Teilsätzen bestehender Satz. Und ein Satzgefüge ist strukturell komplexer als eine Satzreihe, da in der Beschreibung neben der Tatsache der Verknüpfung ein Teilsatz als untergeordnet ausgewiesen werden muss: Damit wird auf zwei Satztypen Bezug genommen (Haupt- und Nebensatz).38 Auch muss die Art der Unterordnung beschrieben werden. Strukturelle Komplexität ist ein Unterbegriff der grammatischen Komplexität. Sie schlägt sich deutlich in Strukturbeschreibungen, etwa in Konstituentenstrukturbäumen, nieder. Grammatische Reife ist grammatische Komplexität, wenn man sie als evolutionäres Produkt auffasst, als Ergebnis von Grammatikalisierungsprozessen. Zum Beispiel ist die Flexionsmorphologie, wie die Kasus-, Genus und Numerusmorphologie im Deutschen, das Resultat einer schrittweisen Entwicklung aus ursprünglich frei kombinierten Lexemen. Die biologische Metapher ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, da sie eine Wertung nahelegt und schlecht auf den Verlust grammatischer Komplexität angewandt werden kann („Verunreifungsprozess“?). Die oben angeführten Beispiele semantischer Transparenz (siehe Kap. 3.3.2) könnten vermuten lassen, dass grammatische Komplexität oder Reife mit semantischer Transpa37
38
Sprachliche Komplexität ist ein im Moment viel diskutiertes Thema, s. die Beiträge in Miestam/ Sinnemäki/Karlsson (Hgg.) (2008), Sampson/Gil/Trudgill (Hgg.) (2009) und Kortmann/Szmrecsanyi (Hgg.) (2012). Es gilt jetzt als Konsens, dass Hocketts „Äquivalenzthese der grammatischen Komplexität“ (1958: 180) nicht haltbar ist bzw. nur für eng umschriebene Teilbereiche gilt. Kreolsprachen, überhaupt Sprachen mit einer sprachkontaktreichen Geschichte (z.B. auch Mandarin), sind eindeutig weniger komplex als sprachkontaktarme Sprachen. Kortmann/Szmrecsanyi (2009) haben ein (morphologisches) Maß für Grammatizität definiert, nach dem Englisch nicht überraschend einen geringeren Wert erreicht als Deutsch. Der Stellenwert von Topologie ist in der Komplexitätsdiskussion umstritten. Berücksichtigt man auch sie, so verringert sich der Unterschied, verschwindet aber m. E. nicht vollständig. Freilich ist die strukturelle Komplexität hier noch nicht berücksichtigt. Zur Komplexität im deutsch-englischen Vergleich s.a. Fischer (2007b). Subordination galt Bernstein bekanntlich als Zeichen des „elaborierten Kodes“. Allerdings zeichnet den kompetenten Sprecher oft gerade die Vermeidung von Subordination durch Wahl kompakter Strukturen aus. Man vergleiche z.B. Es ärgert sie, dass er sie ständig kritisiert mit Sein ständiges Kritisieren ärgert sie.
Wie Sprachen charakterisiert werden können
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renz einhergeht. Dies suggeriert auch Hawkins’ Behandlung semantischer Transparenz im Deutschen und Englischen, die sich auf die semantische Transparenz komplexer Strukturen stützt. Semantische Transparenz und grammatische Komplexität sind aber keinesfalls koextensiv. Obwohl komplexe oder reife Strukturen meist, vielleicht sogar immer, semantisch relevant sind39 und damit eine gewisse semantische Transparenz erreichen, führt die Verschmelzung von Morphemen in flektierenden Sprachen ja zu einer Abweichung von einer optimal semantisch transparenten Eins-zu-eins-Zuordnung von Formen zu Inhalten einerseits und zu einer Ausweitung der Verwendung der Flexionsmorpheme andererseits, was zu besonders abstrakten Inhalten und komplexen Form-Inhalt-Zuordnungen führen kann (vgl. Dahl 52ff.). Die Grammatikalisierung von Morphemen bedeutet phonetischen und semantischen Verlust bzw. wird durch diesen bewirkt. Obwohl grammatische Komplexität erstaunlich stabil sein kann – man denke an die starken Verben –, so ist phonetischer und semantischer Totalverlust, also die Aufhebung von semantischer Transparenz, der logische Endpunkt von Grammatikalisierung. Dass in Hawkins (1986) der Eindruck erweckt wird, dass grammatische Komplexität mit semantischer Transparenz gleichzusetzen ist, liegt einerseits am verglichenen Sprachpaar: Deutsch hat grammatische Komplexität und damit relative semantische Transparenz weitgehend bewahrt, während Englisch einen Gutteil der grammatischen Komplexität und mit ihr korrespondierenden semantischen Transparenz als Ergebnis der in Kapitel 1 angesprochenen sprachkontaktreichen Geschichte eingebüßt hat. Ein Vergleich des Deutschen mit einer agglutinierenden Sprache hätte den Mangel von Eins-zu-eins-Entsprechungen und damit den Mangel an semantischer Transparenz im Deutschen betont. Andererseits liegt die Gleichsetzung von grammatischer Komplexität mit semantischer Transparenz aber auch an Hawkins’ Vergleichsperspektive, die die im Deutschen erhaltene grammatische Komplexität als Maßstab nimmt und kompensierende Entwicklungen im Englischen (Fixierung der Satzgliedfolge, Einsatz lexikalischer Mittel) zwar z.T. erwähnt, aber in der Verrechnung semantischer Transparenz unberücksichtigt lässt. Größere grammatische Komplexität oder Reife geht also nicht unbedingt mit größerer semantischer Transparenz einher. Man vergleiche den deutschen Dativ mit seinen präpositionalen englischen Gegenstücken: (10) Sie hat ihm das Auto erklärt/geputzt. (10e) She has explained the car to him / cleaned the car for him.
Die Flexionsform Dativ ist grammatisch komplexer und „reifer“ als ihre periphrastischen englischen Gegenstücke, aber weniger semantisch transparent: Sie begrenzt die semantische Rolle nur auf die abstrakte Rolle des Betroffenen (Wegener 1985), während die englischen Präpositionalphrasen zwischen Ziel einerseits und Nutznießer oder Ersatz andererseits unterscheiden. Der Kasusabbau im Englischen gilt als Verlust von Komplexität
39
Die Funktion grammatischer Mittel ist bekanntlich oft weder für Sprecher einsehbar noch für Linguisten leicht zu ermitteln.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
(McWhorter 2003; Abraham 2003), führte aber, soweit Präpositionen als Ersatz benutzt wurden, zu feineren Rollenunterscheidungen (vgl. O. Fischer 1992: 234). Wie semantische Transparenz greift auch grammatische Komplexität auf verschiedenen Abstraktheitsebenen. Deutsch und Englisch haben zwei Numeri (Tektogrammatik), sind also in Bezug auf die Kategorisierung Numerus gleich komplex. Aber die morphologische Realisierung des Plurals (Phänogrammatik) ist im Deutschen ungleich komplexer (größere Anzahl unterschiedlicher Pluralendungen). Deutsch und Englisch sind gleich komplex in Bezug auf die Verknüpfung von Sätzen, da sie Koordination und Subordination kennen (Tektogrammatik).40 Schwieriger wäre zu beurteilen, ob es einen Komplexitätsunterschied in der Realisierung von Satzverknüpfungen gibt (Phänogrammatik). Hier wäre etwa die Nebensatzstellung als deutscher Komplexitätsfaktor ebenso anzuführen wie die Möglichkeit der Auslassung von Relativpronomina als englischer. Hawkins betrachtet vornehmlich tektogrammatische Strukturen, zieht aber auch phänogrammatische Strukturen heran, wenn sie mit semantischer Transparenz verbunden sind. Die Systemkomplexität (Tektogrammatik und Phänogrammatik) überträgt sich auf die Komplexität von Äußerungen, erschöpft sie aber nicht: Entspricht einem deutschen koordinierten Satz in Übersetzung ein englischer subordinierter Satz, so ist die Übersetzung in dieser Hinsicht komplexer. Dies ist aus unseren Feststellungen zur Systemkomplexität koordinierter und subordinierter Sätze ableitbar. Entsprechen regelmäßig koordinierte deutsche Sätze englischen subordinierten, so sind englische Texte in dieser Hinsicht komplexer. Die auf der Normebene (Coseriu 1975) anzusiedelnde Stilpräferenz, die hinter diesem Kontrast steht, ist aus der Beschreibung der Systemkomplexität aber nicht ableitbar. Es ist eines der Ergebnisse dieser Arbeit, dass die soeben beschriebene Tendenz tatsächlich besteht. Sie ist, zumindest oberflächlich betrachtet, nicht systemtypologisch relevant, aber für eine Typologie der parole, da sie einen Parameter zur kontrastiven Beschreibung konventionalisierter Textgestaltungstendenzen liefert. Betrachtet man das Sprachsystem nicht nur als Inventar von Konstruktionen, sondern im strukturalistischen Sinn als System von Wertigkeiten, dann beeinflusst die kollektive Tendenz, in bestimmten Kontexten eine Konstruktion einer anderen möglichen vorzuziehen, den Stellenwert dieser Konstruktion. Mit anderen Worten: Sie bestimmt die Distribution der fraglichen Konstruktionen. Die tatsächliche ohnehin, aber auch die mögliche, indem Vorkommenswahrscheinlichkeiten festgelegt werden. Fassen wir zusammen: Während semantische Transparenz den Informationsgehalt eines Sprachmittels betrifft, zielt grammatische Komplexität auf die Gestaltung der Form40
Everett (2005) behauptet, dass das Pirahã, eine (jetzt) isolierte Sprache im Amazonasgebiet, keine Rekursion, insbesondere keine subordinierten Sätze, besitze. Es gebe nur Nominalisierungen, die parataktisch angeschlossen seien. Die Analyse ist umstritten. Sie fordert die einzige von der Generativen Grammatik klar identifizierte syntaktische Universalie (Rekursivität) heraus. Everett sieht kulturelle Faktoren als Ursache (radikale Kultur des Hier und Jetzt). In anderer Hinsicht ist Pirahã komplex (Verbmorphologie).
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seite. Gemessen wird grammatische Komplexität am Umfang der Beschreibung eines Sprachmittels. Grammatische Komplexität bewirkt semantische Transparenz, aber keine absolute, sondern Transparenz eines gewissen Ausmaßes. Grammatische Komplexität ist nicht auf morpholgische Komplexität reduzierbar. Ein Unterbegriff der grammatischen Komplexität ist die strukturelle Komplexität. Auf der Systemebene ist zwischen tektound phänogrammatischer Komplexität zu unterscheiden. Beide Ebenen beeinflussen die Äußerungskomplexität, ohne sie vollständig zu determinieren. Aufgrund der Vorkommenswahrscheinlichkeit mehr oder weniger komplexer Strukturen kann ein Komplexitätsprofil einer Sprache erarbeitet werden, welches sich von dem tektogrammatischen Komplexitätsprofil einerseits und dem phänogrammatischen andererseits unterscheiden kann.
3.3.4 Lernaufwand, kognitiver Aufwand und Verbosität Von der semantischen Transparenz und der grammatischen Komplexität zu unterscheiden ist die Frage des Lernaufwandes im Erst- und Zweitsprachenerwerb sowie die Frage des kognitiven Aufwandes bei mutter- und fremdsprachlicher Produktion und Rezeption (vgl. Dahl 2004: 46f.). Obwohl es offensichtlich scheint, dass komplexe Strukturen sowohl lern- als auch produktionsaufwendig sein müssen, so ist dieser Aufwand Muttersprachlern kaum je bewusst. Gleichfalls müssen semantisch transparente Strukturen Rezeptionsvorteile haben (vgl. Hawkins 1986: 125), aber weniger transparente Strukturen fallen nur dann auf, wenn ein Interpretationsproblem auftritt. Ansonsten ist das Verstehen nach dem Schlussverfahren genauso automatisiert wie das nach dem Dekodierverfahren, da wir ohnehin ständig aus allen von der Perzeption bereitgestellten Daten Schlüsse ziehen: inference is cheap, articulation expensive (Schlüsse sind preiswert, Artikulation teuer; Levinson 2000: 29, 382). So bemerkt auch Gil (2009: 29): „One cannot but wonder what all this complexity is for. […] [It] is not for, namely, the maintenance of contemporary human civilization.“ Ein weiterer relevanter Begriff ist der der Verbosität, der die Menge an Sprachmaterial (letztlich: Zahl der Laute) betrifft. Obwohl der Grad an Verbosität – wenn man einmal vom unterschiedlichen Produktionsaufwand bei verschiedenen Lauten absieht – mit dem physischen Sprechaufwand korrelieren muss, so sagt dies doch nichts über den kognitiven Aufwand, da die Produktion verboser Strukturen automatisiert sein kann. Entsprechendes gilt für die Rezeption verboser Strukturen. Deshalb sei Vorsicht geboten, verbose Strukturen wie etwa englische Spaltsätze (It is X that…) (negativ) zu bewerten (sperrige Vertextungsmittel, Abraham 2003: 67). Als explizite Fokussierungsstrukturen bewirken sie besondere semantische bzw. informationsstrukturelle Transparenz, erhöhen aber auch die Textkomplexität, da sie ein zusätzliches Verb einführen und die eigentliche Aussage in einen Nebensatz verschieben. Damit tragen sie wesentlich zum hierarchischeren Charakter englischer Texte bei. Dem Aufwand an Sprachmitteln braucht aber kein kognitiver
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Aufwand zu entsprechen: Spaltsätze könnten als „konstruktionelle Inseln“41 betrachtet werden, deren Produktion und Verarbeitung keinen größeren kognitiven Aufwand bedeuten dürfte als die Fokussierung durch Betonung. Im Folgenden werden vor allem die Begriffe der semantischen Transparenz und der Komplexität von Strukturen benutzt, die erwerbs-, lern- und sprachverarbeitungspsychologischen Implikationen wären jeweils zu untersuchen. Wir können festhalten, dass der Aufwand an Sprachmitteln (verbose Strukturen, hierarchische Konstruktionen) nicht einfach mit kognitivem Aufwand gleichgesetzt werden kann, da mit Automatismen sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption zu rechnen ist.
3.3.5 Untersuchte Parameter Zur besseren Orientierung in den folgenden Kapiteln wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten untersuchten Parameter gegeben. Eine detaillierte Besprechung der Datenerhebung findet sich in Kapitel 6. Textlänge Dieser Parameter ist insofern interessant, als ein größerer Einsatz von Wörtern größere semantische Transparenz bedeuten kann. Verschiedene Indikatoren lassen eine größere Wortzahl in deutschen Texten erwarten: Deutsche Texte nehmen im Druckbild mehr Raum ein als ihre englischen Gegenstücke. In einer Reihe von Kontexten erlaubt das Englische im Gegensatz zum Deutschen Auslassungen. Englisch steht im Ruf, kurz und konzise, z.T. aber auch wenig präzise zu sein, während mit Deutsch Merkmale wie Genauigkeit, Weitschweifigkeit und Umständlichkeit verbunden werden. Verbstellung Deutsch wird oft als Sprache mit Verbletztstellung (als Grundstellung) betrachtet (z.B. Eroms 2000: 314f., 320; König/Gast 2009: 181). Sprachen mit Verbletztstellung tendieren dazu, ein Kasussystem zu haben, während Sprachen mit früher Verbposition oft keines haben. Diese typologische Beobachtung legt eine Sprachverarbeitungsinterpretation nahe: Wenn das Hauptverb früh auftritt, weiß ein Hörer schon ungefähr, worum es geht. Eine Kasusmorphologie, die Hinweise auf die syntaktischen Funktionen und thematischen Rollen gibt, ist dann nicht mehr nötig. Tritt das Hauptverb spät in einer Äußerung 41
Tomasello (2003: 121f.) benutzt den Begriff constructional island, um die Einzellexembezogenheit und begrenzte Anwendung frühkindlicher Konstruktionen zu bezeichnen. Hier ist der Begriff etwas uminterpretiert und soll auf die relative Isoliertheit bzw. kognitive Sonderstellung der Spaltsatzkonstruktion gegenüber anderen Satzmustern hinweisen: Das Hauptsatzverb bezeichnet keinen Sachverhalt, sondern dient der Fokussierung eines Wertes, der der im abhängigen Satz definierten Variablen zugeordnet wird. Die Frage der kognitiven Verarbeitung ist m.E. zu trennen von der Frage der Kompositionalität einer Konstruktion: Spaltsätze sind tatsächlich weitgehend, aber nicht vollständig, kompositionell aufgebaut (s. Fischer 2012a).
Wie Sprachen charakterisiert werden können
53
auf, hat die Kasusmorphologie die wichtige Rolle, Hinweise auf die syntaktische Funktion und thematische Rolle der Phrasen zu geben. Eine Erwartung des Sachverhaltstyps wird aufgebaut, die nur noch vom Verb bestätigt und konkretisiert werden muss. Ohne morphologische Hinweise müssten alle Phrasen ohne oder mit ungenauerer Rollenerwartung gespeichert werden. Um den Zusammenhang von Verbstellung und Kasus im Deutschen zu erhellen, stellen sich folgende Fragen: Wie transparent sind die morphologischen Kasuskennzeichnungen im Deutschen? Leisten sie die Identifizierung semantischer Rollen, die in einer Verbletztsprache zu erwarten wären? Wie häufig werden die verschiedenen möglichen Verbpositionen im Deutschen in Texten realisiert? Eine Antwort auf diese Fragen trägt zum typologischen Profil des Deutschen bei. Konversen42 Konversen enthalten eine ungewöhnliche Zuordnung thematischer Rollen zu syntaktischen Funktionen und sind deshalb weniger semantisch transparent als ihre nicht-konversen Gegenstücke. Sie weisen aufwendige, grammatisch komplexe Strukturen auf: analytische Verbformen, Reflexivierungen oder eine Haupt-Nebensatz-Struktur. Außer Passiven sind vor allem im Deutschen eine ganze Reihe anderer Konversen zu betrachten. Kasus Hawkins gründet seine These von der größeren semantischen Transparenz des Deutschen wesentlich auf Kasus. Zu berücksichtigen ist jedoch die weitgehend fehlende Kennzeichnung der Nominativ-Akkusativ-Opposition, während für das Englische die Kasuskennzeichnung von Pronomina nicht ignoriert werden sollte. Topologie Hawkins diskutiert Topologie vor allem in Relation zur pragmatischen Transparenz englischer und deutscher Sätze, obwohl Topologie das syntaktische Mittel ist, das die Zuordnung englischer NP zu syntaktischen Funktionen und thematischen Rollen erlaubt und insofern erheblich zur semantischen Transparenz englischer Sätze beiträgt. Ergänzungssysteme Eine kontrastive Betrachtung aller Ergänzungen einschließlich der Ergänzungssätze erlaubt eine detaillierte Darstellung der Satzkonstruktionen, wobei größere Wahlmöglichkeit größere semantische Transparenz bedeuten kann.
42
Welke (2012) lehnt die Konverseninterpretation des Passivs ab und stellt seinen Vorgangscharakter heraus. Ich akzeptiere die Argumentation, benutze den Terminus Konverse aber als bequemen Sammelbegriff, ohne mit ihm volle logische Konversion zu verbinden. Über Valenzvererbung, mit der Welke die Passivvalenz erklärt, gibt es aber auch einen Bezug auf das Aktiv, so dass auch unter dieser Interpretation von einer Komplexitätszunahme ausgegangen werden kann.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Häufigkeit von einfachen Ergänzungen und E-Sätzen Da Ergänzungen nicht in gleichem Ausmaß semantisch transparent sind, erlaubt eine Ermittlung der Häufigkeit der Ergänzungen, in welchem Ausmaße die Systemmöglichkeiten genutzt werden. Sie erlaubt ebenfalls, kontrastive Behauptungen über Subklassenbeziehungen zwischen beiden Sprachen zu prüfen.
3.4
Kovariation funktionaler Äquivalente
Die Beobachtung, dass der Grad morphologischer Kennzeichnung mit der Flexibilität der Wortstellung tendenziell negativ korreliert, führte zu Keenans „Prinzip der Kovariation funktionaler Äquivalente“ (s. Abb. 3.1). viel Morphologie flexible Wortstellung
wenig Morphologie feste Wortstellung
Abb. 3.1: Kovariation funktionaler Äquivalente
Betrachten wir kurz die empirisch-typologisch ermittelte Kasushierarchie, die hier als „Markiertheitshierarchie für syntaktische Funktionen“ angeführt ist:43 Subjekt < Direktes Objekt < Indirektes Objekt44 < oblique Satzglieder Die Hierarchie besagt, dass die Markiertheit der Positionen von links nach rechts zunimmt (deshalb das Zeichen „ A
V | | | B
...................................................... --------------------------------------> C
| | | D
Phasenmodell 2: Sprachen mit Verbletztstellung (z.B. Deutsch) ................................................................................. ------------------------------------------------------------> A
V | | | B (C) D
A: Vorausschauphase (Konstituenten werden zwischengespeichert, z.T. ohne Zuweisung einer thematischen Rolle; kein Schluss auf Satzbauplan oder Szenario möglich) B: Aktivierungsphase (parallele Aktivierung der mit einem Verb verbundenen Satzbaupläne) C: Entscheidungsphase (sukzessiver Ausschluss inkompatibler Satzbaupläne, Korrektur von Fehlern) D: Abschlussphase (Erreichen der korrekten Interpretation) Abb. 4.1: Phasenmodelle nach Hawkins (1992: 122-4)
In der Vorausschauphase A können die Konstituenten nicht an ein Verb angeschlossen, sondern müssen im Gedächtnis zwischengelagert werden. Laut Hawkins ist von den Konstituenten her kein Schluss auf das Prädikat und somit auf den Satzbauplan möglich, auch bleiben die Konstituenten bezüglich ihrer thematischen Rolle möglicherweise uninterpretiert, besonders in Sprachen, die Phasenmodell 1 repräsentieren. Erst mit dem Hauptverb werden in der Aktivierungsphase B dessen Satzbaupläne aktiviert, und zwar
Einheit in der Vielheit: John A. Hawkins’ sprachtypologische Welt
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alle. In der Ausschlussphase C werden inkompatible Satzbaupläne sukzessive ausgeschlossen, bis einer übrig bleibt. Hier können auch temporäre Irrwege eingeschlagen werden. Die Entscheidungsphase D stellt das Erreichen der korrekten Interpretation dar. In deutschen Sätzen mit finalem Vollverb (oder finaler adverbialer Verbpartikel) finden die Phasen B, C und D sozusagen in einem Augenblick statt. Diese Unterschiede haben Konsequenzen: Englische Prädikate seien mit vielfältigeren (semantischen) Satzbauplänen (SBP) verträglich als deutsche, da es ja in Phase C Zeit gibt, um temporäre Ambiguitäten aufzudecken (s. Tab. 4.3). SBP 1. SBP 2. SBP 3. SBP 4. SBP 5.
NP – V – [Agent] NP – V [Patient] NP – V – [Patient] NP – V – [Locative] NP – V – [Instrumental]
NP [Patient] PP [Locative] NP [Patient] NP [Patient]
John broke my guitar. John hat meine Gitarre beschädigt/zerbrochen. My guitar broke. Meine Gitarre ist zerbrochen/kaputt gegangen. A string broke on my guitar. Eine Saite auf meiner Gitarre ist gerissen. My guitar broke a string. An meiner Gitarre ist eine Saite gerissen. My guitar broke a world record. Mit meiner Gitarre habe ich einen Weltrekord gebrochen.
Tab. 4.3: Satzbaupläne von break nach Hawkins (1992: 121)
Hawkins demonstriert hier, dass break mehr Satzbaupläne zulässt als eines seiner deutschen Gegenstücke, z.T. als Ergebnis einer größeren semantischen Rollenflexibilität des Subjekts. Die Satzbaupläne eröffnen temporäre Ambiguitäten in der Interpretation, die wegen der frühen Verbposition und der daraus resultierenden längeren Entscheidungsphase C toleriert werden können. Im Gegensatz dazu besitze das Deutsche eine Reihe von Charakteristika, die den Mangel an Zeit in der Entscheidungsphase C kompensierten und eine effiziente Interpretation am Ende des Satzes, also in den Phasen C und D, ermöglichten, nämlich eine geringere Anzahl deutscher Satzbaupläne pro Verb, die (behauptete) geringere semantische Rollenflexibilität deutscher syntaktischer Funktionen, insbesondere des Subjekts und direkten Objekts, sowie Interpretationshinweise durch Präpositionen mit unterschiedlicher Kasusrektion und durch Verbpräfixe. Eine zweite Konsequenz sei, dass im Englischen Ergänzungen von ihren Prädikaten in größerem Umfang als im Deutschen getrennt werden können, was zu temporären Ambiguitäten führen kann. Die Sätze (81) bis (84) zeigen Bewegungen aus dem Teilsatz heraus nach Hawkins (1992: 117) (vgl. Kap. 4.1):76 (81) The noise ceased to get on his nerves. (subjekt-zu Subjekt-Anhebung) (81d) ?Der Lärm hörte auf, ihm auf die Nerven zu gehen.
76
Wie bereits erwähnt, weichen Muttersprachler in der Akzeptanz der deutschen Entsprechungen erheblich voneinander ab. Spontan dürften die deutschen Sätze im Gegensatz zu den englischen aber kaum geäußert werden.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
(82) (82d) (83) (83d)
Literature is boring to study. (Objekt-zu-Subjekt-Anhebung/ ?Die Literatur ist langweilig zu studieren. „Tough-Bewegung“) I believe the farmer to have killed the cow. (Subjekt-zu-Objekt-Anhebung) *Ich glaube den/dem Bauern die Kuh geschlachtet zu haben. [‘Ich glaube, dass der Bauer die Kuh geschlachtet hat’] (84) Who did you propose that we should not invite? (84d) ?Wen hast du vorgeschlagen, dass wir nicht einladen sollen? (Mehr wh-Bewegungen)
Die kursiven Teilsätze zeigen jeweils eine temporär mögliche, aber im weiteren Fortgang zu verwerfende Interpretation an. Für Verbletztsprachen stellt Hawkins drei Desiderate auf, die eine effiziente Verarbeitung in Echtzeit möglich machen: Desiderat 1: Die unmittelbaren Konstituenten sollen Hinweise auf ihre thematischen Rollen enthalten (Differenzierung der Argumente). Desiderat 2: Die Zahl der miteinander konkurrierenden Satzbaupläne soll geringer sein als im Englischen (größere Differenzierung der Satzbaupläne). Desiderat 3: Es soll weniger Ambiguität in der Zuweisung von Argumenten zu ihren Prädikaten geben als im Englischen. Argumente sollen nicht aus ihrem Teilsatz herausbewegt werden (klare Argument-Prädikat-Zuordnung). Hawkins sieht Desiderat 1 in der deutschen Kasusmorphologie verwirklicht. Desiderat 2 werde z.T. durch geringere Rollenflexibilität der Konstituenten, z.T. durch Prädikatdifferenzierung (etwa durch Präfixe) erreicht. Desiderat 3 sei in den geringeren teilsatztranszendierenden Argumentbewegungen im Deutschen realisiert. In der Konsequenz habe das Deutsche weniger temporäre Ambiguitäten (syntaktisch-semantische Transparenz). Das Unterbleiben oder geringere Ausmaß einer dem Englischen entsprechenden Entwicklung kann als Effekt des Status des Deutschen als Verbletztsprache gesehen werden. Nur wegen der Erfüllung der Desiderate sei eine schnelle Interpretation deutscher Sätze am Satzende möglich. Hawkins (1992: 125) betont, dass es sowohl in der Verarbeitung von Sprachen mit früher Verbposition als auch von Verbletztsprachen Vor- und Nachteile gibt. Eine frühe Verbposition hat zur Folge, dass aufgrund einer Teilmenge der unmittelbaren Konstituenten probeweise der falsche Satzbauplan ausgesucht werden kann, allerdings gibt es auch Zeit, temporäre Ambiguitäten zu beheben. Der Nachteil von Verbletztsprachen ist, dass die unmittelbaren Konstituenten in einer langen Vorausschauphase „zwischengelagert“ werden müssen. Der Vorteil ist, dass bei der Zuordnung zu einem Satzbauplan alle Informationen vorhanden sind, um einen Fehler zu verhindern. Man beachte, dass Hawkins Sicht der Rolle der Verbposition sich verändert hat. Sah er in Hawkins (1986) eine frühe Verbposition im Englischen als das Vehikel, um Subjekt und Objekt zu unterscheiden, also als Folge typologischer Unterschiede, namentlich des
Einheit in der Vielheit: John A. Hawkins’ sprachtypologische Welt
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größeren Verlustes von Kasusmorphologie im Englischen, so sieht er die Unterschiede in der Verbposition nun als Voraussetzung typologischer Unterschiede zwischen den beiden Sprachen.
4.4.2 Kritik Auf einzelne Behauptungen von Hawkins’ wird an verschiedenen Orten in dieser Arbeit eingegangen. Hier soll nur ein grundsätzliches Argument vorgestellt werden: Das Überraschende an Hawkins’ Überlegungen ist, dass er die Ebene der syntaktischen Funktionen fast ganz ignoriert, wohl weil er ihre Zuweisung zu Konstituenten und ihre Abbildung auf thematische Rollen für unproblematisch hält. Nur unter dieser Voraussetzung kann er die deutsche Kasusmorphologie unabhängig von den regierenden Verben betrachten und davon sprechen, dass sie Hinweise auf die thematischen Rollen gebe, bevor die Satzbaupläne aktiviert seien. In Hawkins’ Darstellung der Satzbaupläne kommen syntaktische Funktionen jedenfalls nicht vor, sondern nur Kategorien, thematische Rollen und die angenommene Grundfolge. Aber bekanntlich ist sowohl die Identifizierung deutscher Kasus aufgrund der Kasusmorphologie als auch die Abbildung syntaktischer Funktionen auf die von Hawkins benutzten situationsnahen thematischen Rollen alles andere als eins-zu-eins. Deshalb können die thematischen Rollen oft nicht aus der morphosyntaktischen Information abgeleitet werden, wie Hawkins auch selbst betont. Die syntaktischen Funktionen müssen also getrennt betrachtet werden und in Satzbauplänen einen eigenen Eintrag erhalten.77 Ihre korrekte Identifizierung ist für die Differenzierung der Argumente entscheidend. Dabei spielt das eingesetzte syntaktische Mittel, ob morphologisch, topologisch oder prosodisch, ob kopf- oder dependensmarkierend, eine untergeordnete Rolle. Die Identifizierung der syntaktischen Funktionen kann aber nicht einfach stillschweigend vorausgesetzt werden. Deshalb sollte ein zusätzliches Desideratum für Verbletztsprachen gelten: Desiderat 4: Die Abbildung der unmittelbaren Konstituenten auf syntaktische Funktionen wie Subjekt, Akkusativ-E bzw. direktes Objekt etc. sollte eindeutig und schnell erfolgen. Nach Hawkins’ Phasenmodell könnte Englisch mit seiner frühen Verbstellung eine weniger eindeutige Abbildung der unmittelbaren Konstituenten auf syntaktische Funktionen vertragen als das Deutsche. Aber wie diese Arbeit zeigt, ist das Gegenteil der Fall: Die positionell definierten englischen Subjekte und direkten Objekte sind schneller, eindeutiger und verlässlicher identifizierbar als die morphologisch oft mehrdeutigen deutschen 77
Hawkins’ Sicht ist (eher) projektiv. Interessanterweise gibt es in der (eher) nicht-projektiven Konstruktionsgrammatik Goldbergs (1995) eine vergleichbare Blindheit für die Komplexität der Zuordnung von Valenz- und Konstruktionsinformation, allerdings in entgegengesetzter Blickrichtung. Da am Verb nur semantische und keine morphosyntaktische Information vermerkt ist, ist die Zuordnung von Verben zu Konstruktionen nicht hinreichend restringiert (s. Kap. 5.1.2, Fußnote 91).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Subjekte und Akkusativ-E.78 Zahlreiche präverbale Akkusativ-E unterscheiden sich nicht von Subjekten. Obwohl die daraus resultierende temporäre Ambiguität fast immer morphologisch aufgelöst wird (wenn die zweite Ergänzung erscheint), so dauert sie doch länger an als die temporäre Ambiguität präverbaler englischer Konstituenten (s. Kap. 7.2.10). Deutsch erfüllt also die obigen Desiderate keinesfalls so eindeutig, wie Hawkins meint. Das Desiderat 4 erfüllt Deutsch sogar schlechter als Englisch! Dies könnte als indirekte Evidenz gegen Hawkins’ Grundvoraussetzung seiner Beurteilung der deutschenglischen Kontraste gelten: dass Deutsch eine Verbletztsprache sei. Deutsch zeigt lediglich in moderatem Ausmaß Züge, die mit einer Verbletztstellung verträglich sind. Hinzu kommt, dass die in dieser Arbeit erhobenen statistischen Daten Verbzweitstellung als unmarkierte Stellung im Deutschen unterstützen (s. Kap. 6.2.3). Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die These von der parallelen Aktivierung der mit einem Verb verbundenen Satzbaupläne. Die Frage ist natürlich, was genau mit Aktivierung gemeint ist. Zwar kann man davon ausgehen, dass alle syntaktischen und semantischen Vernetzungen eines Lexems leichter zugänglich werden, sobald dieses genannt ist. Dies heißt aber nicht, dass es keine Hierarchisierung der Vernetzungen gibt, die sich in der Leichtigkeit des Zugangs ausdrückt. Hawkins scheint die parallele Aktivierung als eine Art herunterklappbares Menü zu betrachten, dessen Wahlmöglichkeiten der Rezipient als gleichberechtigt bereithält, bis eine definitive Entscheidung möglich ist. Implizit weist seine Analyse der Valenz von break allerdings eine Hierarchisierung auf: Der transitive Satzbauplan mit Agenssubjekt und der intransitive einwertige mit Patienssubjekt werden zuerst genannt. Nur diese Satzbaupläne werden in erster Linie mit dem isoliert genannten Verb break assoziiert, und zwar in der von Hawkins angegebenen Reihenfolge, und nur diese Satzbaupläne sind frequent. Meist ist auch schon nach Nennung des Subjekts klar, welcher von beiden in Frage kommt. SBP 3 ist eine Erweiterung von SBP 2 („szenarioerhaltende Valenzerhöhung“, s. Kap. 5.6), die durch die Belegung der Präpositionalphrase zustande kommt: Sie referiert auf eine Entität, zu der der Subjektreferent ein Teil ist, nicht nur auf einen Ort, an dem das Geschehen stattfindet. Eine initiale Interpretation als SBP 2 ruft hier keinen Schaden hervor. In dem seltenen SBP 4 wird tatsächlich die wahrscheinliche initiale Interpretation des Subjekts als Patiens durch das Auftreten eines direkten Objekts, wodurch SBP 1 aktiviert wird, aufgehoben. Zugleich besteht zwischen dem Referenten des direkten Objekts und dem Referenten des Subjekts ein Teil-Ganzes-Verhältnis, was eine Interpretation gemäß SBP 1 verhindert (vgl. My guitar [Agens] broke the amplifier [Patiens]). Trotzdem übt SBP 1 einen Einfluss auf die Interpretation aus, insofern dem Subjekt eine größere Kontrolle über das Geschehen zugesprochen wird als dem direkten Objekt: Das Verhältnis der situationsnahen thematischen Rolle Locus zum Verb wird durch die Konstruktion verändert, was durch konstruktionsinduzierte semantische Rollen anzuzeigen wäre (vgl. Ickler 1990; Rohdenburg 1991: 10f.; Welke 2011). Die alleinige Nennung einer Kombi78
Vgl. Fenk-Oczlon/Fenk (2008: 62): „Rigid word order boils down to high redundancy, high predictability and low informational content.“
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nation von thematischen Rollen als semantischer Satzbauplan ist hier wie auch in anderen Fällen eher irreführend. Das Ergebnis der beschriebenen Prozesse ist der eine sekundäre Subjektivierung repräsentierende SBP 4, der nicht als vom Verb break gefordert beschrieben werden kann, sondern lediglich mit der Bedeutung von break mehr schlecht als recht kompatibel ist und kontextuell dem Verb aufoktroyiert wird. Sicherlich erhöht sich wegen der semantischen Kompatibilität die Zugänglichkeit von SBP 4 bei Nennung von break, aber dieser Effekt dürfte marginal sein. Im Übrigen gibt es eine häufigere semantische Abwandlung von SBP 1, die SBP 4 stützt: She [Experiens] broke her leg [Patiens]. Der Einfluss von SBP 1 auf den ebenfalls nicht zu häufigen SBP 5 ist noch deutlicher als auf SBP 4: Der Subjektreferent wird als kontrollierende Instanz aufgefasst, dessen inhärente Eigenschaften das Geschehen ermöglichen. Die Zuordnung der thematischen Rolle Instrument verdunkelt dies. Wieder ist es die Belegung der Ergänzungen, die die spezifische Interpretation herbeiführt. Diesmal ist es aber die Relation von Verbbedeutung zum Geschehen, die betroffen ist: Da ein Weltrekord nicht physisch gebrochen werden kann, liegt Metaphorik vor, die durch häufigen Gebrauch freilich verblasst ist. Solche Prozesse sind gang und gäbe in allen Sprachen und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass SBP 5 neben SBP 1 als gesondertes Muster aktiviert wird. Wohl ist etablierte bzw. verblasste Metaphorik, die deshalb auf der Normebene verankert ist, bei Nennung eines Lexems zugänglich. Im Übrigen ist My guitar broke a world record kaum weniger merkwürdig als Meine Gitarre hat einen Weltrekord gebrochen, da Weltrekorde im Verhältnis zu Gitarren bzw. Gitarrespielen eher unüblich sind. This car broke a world record wäre ein besseres Beispiel, dessen deutsches Äquivalent aber auch möglich ist: Dieser Wagen hat einen Weltrekord gebrochen. Mir geht es hier nicht darum, zu behaupten, dass das von Hawkins mit dem Verb break demonstrierte Potenzial für temporäre Ambiguität bzw. Missinterpretation nicht real wäre. Was ich hoffe gezeigt zu haben, ist, dass die verschiedenen Satzbaupläne nicht gleichwertig und gleich zugänglich sind. Ohne dies nun psycholinguistisch untermauern zu können, halte ich es für wahrscheinlich, dass bei Auftreten des Verbs sofort einer der wenigen vom Verb geforderten (im Gegensatz zu bloß tolerierten) SBP aufgrund kontextueller Information favorisiert wird.79 Nur selten wird der SBP aufgrund von späterer Kotextinformation revidiert werden müssen. Obwohl englische Simplexverben häufig syntaktisch und semantisch differenzierenden deutschen Präfixverben gegenüberstehen und insbesondere sekundäre Subjektivierungen im Englischen häufiger möglich sind, scheint mir das dadurch entstehende englische Ambiguitätspotenzial von Hawkins als zu hoch eingeschätzt. 79
Vgl. Primus (2003: 122f.) zur Interpretation deutscher Kasus: „Die referierten neurolinguistischen Befunde zum Deutschen weisen für die erwähnten Autoren außerdem darauf hin, dass der menschliche Parser inkrementell arbeitet. Sprachliche Information wird sofort verarbeitet. Bei Ambiguitäten wird aufgrund allgemeiner sprachlicher Präferenzen sofort eine Option gewählt und ggf. später verworfen, d.h. reanalysiert.“
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4.4.3
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Zusammenfassung
In Kapitel 4.4.1 wurden Hawkins’ Phasenmodelle für die Verarbeitung syntaktischer und semantischer Satzbaupläne vorgestellt. Je nach Verbposition ergeben sich unterschiedliche Verarbeitungsstrategien in den Einzelsprachen, die jeweils Vor- und Nachteile besitzen: Die frühe Aktivierung der Satzbaupläne bei früher Verbstellung geht mit der Unmöglichkeit einer sofortigen Entscheidung zwischen diesen und damit mit einem Potenzial für temporäre Ambiguitäten und Missinterpretationen einher, die freilich bis zum Satzende sukzessive abgebaut werden können. Bei später Verbposition stehen der notwendigen Zwischenspeicherung der Satzglieder und der sehr kurzen Entscheidungsperiode die mit der Aktivierung der Satzbaupläne zeitgleiche Auswahl, die temporäre Ambiguität und Missinterpretationen verhindert, gegenüber. Während die Ergänzungen in Verbletztsprachen laut Hawkins Informationen zu ihrer thematischen Rolle und damit zur Eingrenzung der möglichen Satzbaupläne enthalten, sind derartige Informationen in Sprachen mit früher Verbposition nicht nötig und deshalb seltener. Auch erlauben Sprachen mit früher Verbposition mehr Dislozierungen von Argumenten. In Kapitel 4.4.2 wurde kritisch angemerkt, dass Deutsch die von Hawkins stipulierten Eigenschaften einer Verbletztsprache nur zum Teil besitzt. Sowohl die Zuordnung von Kasusmorphologie zu Kasus als auch von syntaktischen Funktionen zu thematischen Rollen ist problematisch und kann temporäre Ambiguitäten und Missinterpretationen hervorrufen, die von Hawkins nicht in Erwägung gezogen werden. Gerade die Zuweisung thematischer Rollen ist meist von der Bedeutung des Valenzträgers abhängig. Andererseits vernachlässigt Hawkins auch in diesem Kontext die disambiguierende Rolle von Position im Englischen. In der Folge entsteht ein einseitiges, wenn nicht verfälschendes, Bild der Verarbeitung von Satzstrukturen in beiden Sprachen. Auch die oft behauptete parallele Aktivierung von Satzbauplänen scheint mir problematisch, da sie auf einer wenig differenzierenden Analyse der Vernetzung von Valenzverhältnissen (Forderungen und Tolerierungen) beruht.
4.5
Hawkins’ dritte These: Effizienz und Komplexität in der Grammatik
4.5.1 Darstellung und Kritik Mit Efficiency and Complexity in Grammar (2004) verfolgt Hawkins die Ableitung grammatischer Strukturen aus Sprachverarbeitungsprinzipien nicht nur weiter, sondern weitet sie auf eine Reihe morphologischer, syntaktischer und semantischer Strukturen aus und schließt auch die Sprachproduktion vermehrt ein. Die Grundanforderung an Sprecher ist das Effizienzgebot, welches dazu auffordert, das zu Sagende mit möglichst geringer
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Komplexität auszudrücken: „Sag so wenig wie möglich und sag es so früh wie möglich.“ Hawkins (2004: 31-61) identifiziert im Einzelnen drei Effizienzprinzipien, die den Sprachgebrauch steuern: Minimiere Domänen, Minimiere Formen und Maximiere die fortlaufende Sprachverarbeitung (on-line processing). Zentrale These des Buches ist die bereits bekannte These, dass Grammatik nichts anderes ist als konventionalisierte Sprachgebrauchspräferenzen, die jetzt als „Performanz-Grammatik-Korrespondenzhypothese“ (Performance-Grammar-Correspondence Hypothesis; ebd.: 3ff.; s.a. Hawkins 2001: 361) angesprochen wird.80 Z.B. ist die grammatikalisierte Subjekt-Verb-Objekt-Folge des Englischen auch die präferierte Folge in Sprachen mit flexiblerer Satzgliedfolge wie dem Altenglischen oder Deutschen. Das Prinzip Minimiere Domänen stellt eine Ausweitung des Prinzips des frühen Erkennens unmittelbarer Konstituenten dar (s. Kap. 4.3.2.1): Nicht nur die Konstituentenerkennungsdomäne soll minimiert werden, sondern auch Erkennungsdomänen für alle semantischen und syntaktischen Eigenschaften einer Form, die nicht direkt, sondern erst durch Erkennen einer anderen Form zugewiesen werden können. Erfolgt z.B. die Zuweisung einer thematischen Rolle nicht autosemantisch wie bei adverbialen Phrasen, sondern synsemantisch durch das regierende Verb, so soll die Erkennungsdomäne für die thematische Rolle möglichst klein gehalten werden, d.h. die fragliche Phrase wird möglichst nahe beim Verb stehen. Auch dem Verb kann häufig erst eine genauere semantische Interpretation bzw. eine Lesart zugewiesen werden, wenn die Existenz oder Belegung einer oder mehrerer Ergänzungen feststeht (s. Kap. 5.4). Aus diesen Gründen tendieren Ergänzungen zu verbnahen Positionen (bzw. das Verb zu ergänzungsnahen), damit nicht zu viele Formen und mit ihnen verbundene Strukturen verarbeitet werden müssen, bis es zur Zuweisung der fehlenden Eigenschaften kommt. Dies gelte insbesondere für isolierende Sprachen wie das Englische, da sowohl die Ergänzungen als auch das Verb in höherem Maße auf wechselseitige Bestimmung angewiesen seien als in stärker flektierenden Sprachen wie dem Deutschen. Hawkins definiert in diesem Zusammenhang einen neuen, auf Sprachverarbeitung gründenden Dependenzbegriff, der erheblich vom grammatischen Dependenzbegriff abweicht. Der grammatische Dependenzbegriff betrifft eine gerichtete Konkomitanzbeziehung (Engel 1994: 28), die morphologisch gekennzeichnet sein kann oder nicht (Kopfoder Dependenskennzeichnung; Nichols 1986; Fischer 2003b: 38-47). Liegt eine morphologische Kennzeichnung vor, so wird sie als Rechtfertigung des Vorliegens der Dependenzbeziehung gesehen, z.B. die Zuweisung eines Kasus durch eine Präposition. Hawkins’ verarbeitungstheoretischer Dependenzbegriff bedeutet, dass eine Form bezüglich einer Eigenschaft erst dann verarbeitet werden kann, wenn auf eine andere Form Bezug genommen wird. Eine Form ist also gerade dann von ihrem Kopf abhängig, wenn sie bezüglich ihrer Beziehung zu ihm nicht gekennzeichnet ist, da der entsprechende Wert (Kasus, thematische Rolle) wie oben beschrieben erst bei der Verarbeitung des Kopfes zugewiesen werden kann. Entsprechend sind als volle NP realisierte englische 80
Vgl. die Performance-Grammar Correlation in Hawkins (1994: 46).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Term-E vom regierenden Verb dependent, da sie keine Kasuskennzeichnung tragen, also ihr „Kasus“ und ihre thematische Rolle erst bei Verarbeitung des Verbs zugewiesen werden können, während deutsche Term-E und als Personalpronomen realisierte englische Term-E nicht vom Verb dependent sind, da ihr Kasus an der Ergänzung selbst erkannt und auf dieser Grundlage auch eine (proto)thematische Rolle zugewiesen werden kann. Hawkins’ verarbeitungstheoretischer Dependenzbegriff erlaubt auch Interdependenz oder Dependenz des Kopfes von regierten Elementen: Wenn Verben mit einer größeren Zahl semantischer Verbrahmen verträglich sind, hängen sie häufig bezüglich ihrer Interpretation von Ergänzungen ab. Die Nützlichkeit von Hawkins’ verarbeitungstheoretischem Dependenzbegriff ist unmittelbar einsichtig wie der ganze verarbeitungstheoretische Ansatz einen neuen, dem Sprachhandeln angemessenen Zugriff auf bekannte Daten erlaubt. Problematisch ist aber Hawkins’ Sicht, dass sein Dependenzbegriff die ursprüngliche Dependenzintuition angemessener treffe als grammatische Dependenzbegriffe. Es ist nicht zu erwarten, dass der verarbeitungstheoretische Dependenzbegriff die grammatische Dependenzbeziehung irgendwie ersetzen kann oder von Dependenzgrammatikern als Fortentwicklung des grammatischen Dependenzbegriffs gesehen wird. Vielmehr handelt es sich hier um zwei verschiedene Begriffe mit unterschiedlichen Zielrichtungen. Die Beziehung eines Kopfes X zu seinem Dependens Y gründet darauf, dass die Gesamtphrase eine X-Phrase und keine Y-Phrase ist, d.h. dass Eigenschaften des Kopfes auf die Phrase vererbt werden. Das Dependens Y besitzt in der X-Phrase eine Funktion, die an ihm oder am Kopf gekennzeichnet sein mag oder nicht. Soweit der grammatische Dependenzbegriff. Es ist eine ganz andere Frage, ob ein Rezipient aus der Y-Form die Existenz einer X-Phrase und die Funktion von Y in dieser ableiten kann oder nicht. Diese Frage betrifft den verarbeitungstheoretischen Dependenzbegriff. Problematisch sind auch einige Anwendungen dieses Dependenzbegriffs: Fraglich ist es z.B., welche Eigenschaften jeweils zuzuweisen sind. Vorausgesetzt, dass Verben Kasus zuweisen, bestünden auch in Kasussprachen in dem Maße Dependenzbeziehungen zum Verb, wie Kasuskennzeichnungen mehrdeutig sind (vgl. Kap. 7.2.9-10). Auch erlaubt Kasus nur eine Beschränkung der möglichen thematischen Rollen. Also besteht eine zusätzliche semantische verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehung zum Verb (und möglicherweise zu anderen Ergänzungen, da ein Kasus- bzw. Ergänzungsrahmen die möglichen thematischen Rollen einer Phrase weiter beschränkt als es ein isolierter Kasus tut). Aus expositorischen Gründen überzeichnet Hawkins den Unterschied zwischen verarbeitungstheoretisch dependenten kasuslosen und nicht-dependenten kasusgekennzeichneten NP in der Beziehung zum Verb. Ich nehme an, dass die von mir oben vorgenommenen Differenzierungen in der Anwendung der verarbeitungstheoretischen Dependenzbeziehung auf die deutschen und englischen Valenzbeziehungen im Sinne von Hawkins’ Ansatz sind. Grundsätzlicher sind aber die folgenden Einwände: Volle englische NP sind nicht kasusgekennzeichnet. In welchem Sinne kann man dann von der Zuweisung von Kasus durch das Verb sprechen? Offensichtlich bezeichnet Kasus hier wie in der Generativen
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Grammatik eine von der morphologischen Kennzeichnung getrennte Kategorisierung. Es wäre dann zu erwägen, ob die Zuweisung auf der Formseite sich nicht auf die funktionale Kategorisierung syntaktische Funktion beziehen sollte. Eine verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehung zum Verb läge dann vor, wenn die syntaktische Funktion nicht aus der Form einer Ergänzung abzulesen ist, wobei die Form nicht auf morphologische Kennzeichnung zu beschränken wäre: Auch die Position im Satz kann die syntaktische Funktion einer Phrase eindeutig kennzeichnen. Zwar ist diese nicht an der Phrase selbst ablesbar, aber schon die Kategorie des nächsten (oder vorhergehenden) Satzglieds lässt die Funktion erkennen, ohne dass auf die Verbbedeutung Rekurs genommen werden muss (s. Kapitel 7.1 Temporäre Ambiguität). Eine verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehung läge dann lediglich zu Positionen vor, von denen das Verb eine einnimmt, nicht zu den lexematischen Füllungen der Positionen, also auch nicht zum Verblexem. Es ist auch zu beachten, dass verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen zum Verb lediglich die Verbnähe englischer Ergänzungen erklären, nicht die Fixierung der Positionen, da es nur auf die Länge des Weges und nicht auf die Reihenfolge ankommt. Nur verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen zu Positionen erklären letztere. In dieser Interpretation stünden englische Term-E grundsätzlich in keiner formseitigen verarbeitungstheoretischen Dependenzbeziehung zum Verb, während im Deutschen die unzureichende morphologische Identifikation der syntaktischen Funktionen eine solche nahelegt. Im Grunde wiederholt sich hier die bereits vorgebrachte Kritik an Hawkins’ Vorgehen in neuem Gewand (s. z.B. Kap. 4.4.2). Sie betrifft einmal eine kuriose Ignorierung von Topologie bei der Beurteilung struktureller und semantischer Transparenz. Mangelnde Transparenz äußert sich in Hawkins neuestem Ansatz im Vorliegen von Dependenzbeziehungen, die ja bedeuten, dass zur Verarbeitung einer Phrase auf eine andere Bezug genommen werden muss. Sodann betrifft meine Kritik die unzureichende Würdigung mehrdeutiger Kasuskennzeichnung:81 Letztere erlaubt keine automatische Zuweisung einer syntaktischen Funktion. Auch die Sicherheit der Zuweisung einer thematischen Rolle auf der Grundlage einer identifizierten syntaktischen Funktion ist diskussionswürdig: Sie ist, wie in Kapitel 7.2 gezeigt wird, keineswegs im Deutschen weniger mehrdeutig als im Englischen. Meine Einwände wenden sich keinesfalls gegen das m.E. nützliche Konzept einer verarbeitungstheoretischen Dependenzbeziehung an sich. Die von Hawkins vorgenomme81
Das Problem ist Hawkins durchaus bewusst, wie folgende Aussage zur deutschen NP zeigt: „The form of the determiner permits case to be assigned to the NP, either on its own (in conjunction with default preferences for nominative over accusative or for agent over patient, etc. […]) or in combination with a typically immediately following adjective or noun“ (Hawkins 2004: 92). Als DefaultPräferenzen können gelten: Nominativ ist häufiger als Akkusativ; das Subjekt ist eher belebt, definit, vorerwähnt, als Pronomen realisiert, in früher Satzposition und die Handlung kontrollierend als das direkte Objekt. Die Leistung der Default-Präferenzen bei der Zuweisung syntaktischer Funktionen und thematischer Rollen kann aber nicht der Leistung morphologischer Kasuskennzeichnungen zugerechnet werden. Vielmehr erklären sie, warum auf eine morphologische Differenzierung von Subjekt und direktem Objekt verzichtet werden kann.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
nen Illustrierungen des Konzepts lassen aber vermuten, dass eine Anwendung auf die deutschen und englischen Satzstrukturen (wieder) zu einem einseitigen Bild und in der Folge zu einer Überbewertung der Kontraste führt. Hawkins’ zweites verarbeitungstheoretisches Prinzip lautet: Minimiere Formen bzw. Sag so wenig wie möglich. Dies bezieht sich einerseits auf die Ausdrucksseite: Kurze Formen mit geringer Komplexität bedeuten weniger Produktionsaufwand. Sie verkürzen auch die physische Länge der Domänen. Allerdings bedeutet geringe Komplexität einer Form auch weniger Information, was die Anzahl der verarbeitungstheoretischen Dependenzbeziehungen erhöhen kann. Da nicht alle Zeichen optimal kurz sein können, ist es effizient, dass die frequentesten Zeichen die kürzesten sind (Zipfs Gesetz). Nicht nur eine geringe interne Komplexität von Formen ist effizient, sondern auch eine geringe Anzahl von Formen in der Phrase, im (Teil-)Satz und im Text. Das Prinzip Minimiere Formen bezieht sich aber auch auf die Anzahl von Formen, die zur Verfügung stehen. Es ist effizient, die Zahl der Formen, die genau eine konventionalisierte Eigenschaft ausdrücken, zugunsten von vagen oder mehrdeutigen Formen zu reduzieren, solange die intendierten Eigenschaften im Kontext zuweisbar sind: Schlussfolgerungen sind wie gesagt preiswert, Artikulation teuer (Levinson 2000: 29, 382). Es ist auch effizient, so weit wie möglich Eigenschaften nicht zu konventionalisieren und gar nicht oder durch vage Formen auszudrücken. Eigenschaften, deren Konventionalisierung unumgänglich erscheint, können effizient durch mehrdeutige Formen ausgedrückt werden, und nur für besonders wichtige Eigenschaften sind eigene Form-InhaltPaare vorgesehen: Minimiere Formen bietet eine verarbeitungstheoretische Erklärung der Vagheit und Ambiguität natürlicher Sprachen an. Es steht in direktem Konflikt mit der Monosemie-Hypothese der strukturellen Semantik (s. Coseriu 1988/1992: 185; Willems/ Coene 2003; Coene 2004a: 33, 2004b, 2006 19ff.) und dem Form-Funktion-Isomorphismus eines naiven Funktionalismus (vgl. Givón 1995: 10-12). Im deutsch-englischen Vergleich sind die deutschen Formen im Durchschnitt komplexer, was sich u.a. in der durchschnittlichen Silbenanzahl pro Wort und im längeren Druckbild deutscher Texte ausdrückt (s. Kap. 6.1). Die größere deutsche Formkomplexität bedeutet aber auch, dass gewisse verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen nicht oder in geringerem Ausmaße benötigt werden. Zu beachten ist allerdings, dass Komplexität aus den Formen auf die Abfolge von Formen verlagert werden kann (s. die Diskussion oben zur Zuweisung syntaktischer Funktionen durch Kasus, das Verblexem oder durch Topologie). Betrachtet man die Anzahl von Formen (graphematischen Wörtern) in deutschen und englischen Texten, so sind die deutschen Texte keinesfalls komplexer und möglicherweise sogar etwas weniger komplex als englische Texte (s. Kap. 6.1, s.a. die Zahlenangaben zu deutsch-englischen Parallelkorpora in Kap. 2.1). Ob englische Formen, insbesondere Verben, in größerem Maße vage und mehrdeutig sind als ihre deutschen Gegenstücke, ist pauschal nicht zu beantworten. Sicher gilt dies in
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Teilbereichen, z.B. für Lexeme, die als Vertreter verschiedener Wortklassen benutzt werden können (Verb und Nomen: run, laugh, go, stop etc.; Adjektiv, Präposition und Verb: near) und Verben, die mit vielen syntaktischen Satzmustern und semantischen Ergänzungsrahmen verwendet werden können (s. Kap. 4.2). Letztere gibt es natürlich auch im Deutschen, aber sie lassen sich vielleicht weniger gut in Gruppen zusammenfassen (schlagen; viele Präfixverben). Das Prinzip Minimiere Formen steht in Konflikt mit dem ersten Prinzip Minimiere Domänen, da vage und mehrdeutige Formen die Abhängigkeiten von anderen Formen vermehren und folglich die Anzahl (und damit die Gesamtlänge) der Domänen erhöhen. Das dritte Prinzip Maximiere die fortlaufende Sprachverarbeitung besagt, dass die einer Form zuzuweisenden Eigenschaften (Phrasenzugehörigkeit, syntaktische Funktion, thematische Rolle, zu entwerfendes Szenario) möglichst früh zugewiesen werden sollen, am besten, wenn die Form auftritt: „Sag’ es so früh wie möglich!“ Dadurch werden Rückgriffe und Fehlinterpretationen vermieden. Beispiele für die Maximierung der fortlaufenden Sprachverarbeitung sind die mit einer frühen Verbposition oder Kasuskennzeichnungen verbundenen Informationen (s. Kap. 4.3-4). Da etwa alternative Anordnungen von Satzgliedern das frühe Erkennen unterschiedlicher Eigenschaften bevorzugen, kann nur eine Quantifizierung auf der Grundlage möglichst vieler früh erkannter Eigenschaften die in der Performanz bevorzugte oder grammatikalisierte Anordnung erklären. Das Verhältnis des dritten Prinzips zu den anderen Prinzipien ist folgendermaßen: Es bevorzugt die Kennzeichnung von Eigenschaften an der Form selbst und deckt sich in dieser Hinsicht mit dem ersten Prinzip Minimiere Domänen (wenn man Null-Domänen als kürzeste Domänen zulässt), steht aber in Konflikt mit dem zweiten Prinzip Minimiere Formen. Das dritte Prinzip bevorzugt die Reihenfolge Regens-Dependens, da die zuzuweisende Eigenschaft bei Auftreten des Dependens zur Verfügung steht,82 während das erste Prinzip Minimiere Domänen richtungsneutral ist. Tritt das Regens nach dem Dependens auf, so ist das dritte Prinzip mit dem ersten identisch: Beide bevorzugen kurze Domänen. Im Gegensatz zu Hawkins (1994) erklärt Efficiency and Complexity in Grammars Performanzpräferenzen und Grammatikalisierungen durch mehrere sprachverarbeitungstheoretische Prinzipien, die sich jeweils auf viele Eigenschaften oder Relationen beziehen. Der Gefahr, dass sein Ansatz damit zu erklärungsstark wird, versucht Hawkins durch Quantifizierung zu begegnen, die die Prädiktabilität seines Ansatzes bewahren soll (Hawkins 2004: 13f.). U.a. leitet er verschiedene Markierungshierarchien aus dem Verarbeitungsprinzip Minimiere Formen ab (ebd.: 63ff.): Es sind die frequenten Hierarchiepositionen bzw. die mit ihnen assoziierten Eigenschaften, die bevorzugt eigene Formen erhalten. Zugleich tendieren Formen frequenter Hierarchiepositionen zur Kürze. Hawkins (ebd.: 68-79) zeigt, dass der Kasusabbau in germanischen Sprachen jeweils mit 82
Man beachte, dass es bei Hawkins’ Dependenzbegriff immer das Regens ist, das seinem Dependens eine Eigenschaft (etwa eine thematische Rolle) zuweist. Das Regens ist durch diese Zuweisungsfunktion definiert. Es deckt sich nicht mit dem Regens des grammatischen Dependenzbegriffs.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
der Kasushierarchie und damit mit dem Prinzip Minimiere Formen übereinstimmt. So konnte das altenglische Dreikasussystem auf Satzebene (Nominativ, Akkusativ, Dativ) nur zu einem aus Nominativ (subjective) und „Akkusativ-Dativ“ (objective) bestehenden Zweikasussystem reduziert werden, nicht etwa zu einem aus einem „Nominativ-Akkusativ“ und einem Dativ bestehenden System (ebd.: 70f.). Wo einzelne Formen keine Nominativ-Akkusativ-Differenzierung aufwiesen, aber zu separaten Dativformen in Opposition standen, wurden erstere auf die Nominativfunktion beschränkt und letztere als Akkusativ-Dativ (objective) reanalysiert. Dies erklärt die morphologische Stärkung der pronominalen subject-direct object–Opposition im Vergleich zur entsprechenden Subjekt-Akkusativ-E-Opposition im Deutschen, das ja noch eine separate Dativ-E aufweist. In Bezug auf die deutsch-englischen Kontraste wiederholt Hawkins (ebd.: 166f.) im Wesentlichen seine früheren Positionen, allerdings z.T. in neuer Terminologie. Die englischen syntaktischen, lexikalischen und morphologischen Kategorien besäßen erheblich mehr Ambiguität und Vagheit als ihre deutschen Gegenstücke. Ihre Bestimmung erfolge durch verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen, die minimale Domänen, also konventionalisierte positionelle Nähe erfordern, etwa von Subjekt und Objekt zum Verb. Als die Verleihung thematischer Protorollen nicht mehr autosemantisch durch die Kasusmorphologie erfolgte, sondern durch verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen vom Verb aus, konnte dieser Mechanismus zur Ausweitung von Subjekt und Objekt ausgenutzt werden, indem nicht-prototypische thematische Rollen auf diese abgebildet wurden. Auch die Auslassung von Relativpronomen und Subjunktoren erfordere Zuweisung von Eigenschaften durch verarbeitungstheoretische Dependenzrelationen. Da Lexeme oft die Zugehörigkeit zu einer Kategorie nicht mehr anzeigen (to/a run; s.o.), erforderten sie Disambiguierung durch verarbeitungstheoretische Dependenzrelationen, was einen Grund für den vermehrten Gebrauch von Artikeln und dem Subjunktor to im Mittelenglischen darstellte.
4.5.2 Zusammenfassung In Efficiency and Complexity in Grammar betrachtet Hawkins nicht nur die Konstituenz, sondern leitet eine Reihe syntaktischer und semantischer Strukturen aus den drei Effizienzprinzipien Minimiere Domänen, Minimiere Formen und Maximiere die fortlaufende Sprachverarbeitung ab. Grammatik sieht er wie in Hawkins (1994) als konventionalisierte Sprachgebrauchspräferenzen (Grammatik-Performanz-Korrespondenzhypothese). Das Prinzip Minimiere Domänen betrifft nicht nur die KED, sondern auch die Zuweisung syntaktischer Funktionen oder thematischer Rollen. Deshalb tendieren Verben und Ergänzungen dazu, nahe beieinander zu stehen. In diesem Zusammenhang definiert Hawkins einen verarbeitungstheoretischen Dependenzbegriff, der eine Form A dann von einer Form B als abhängig sieht, wenn sie erst bei Nennung der Form B verarbeitet werden kann. Dependenz in diesem Sinn bedeutet Mangel an semantischer Transparenz. Autosemantische Formen sind nicht dependent.
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Kritisch wurde angemerkt, dass der verarbeitungstheoretische Dependenzbegriff keinesfalls die ursprüngliche Dependenzintuition trifft und deshalb auch nicht den grammatischen Dependenzbegriff ersetzen kann. Auch bei einigen Anwendungen des verarbeitungstheoretischen Dependenzbegriffs wurde differenziert: So führt der Synkretismus von Kasusformen zu verarbeitungstheoretischen Dependenzbeziehungen zum Verb und u.U. zu anderen Ergänzungen. Weiterhin definiert Kasus thematische Rollen nicht eindeutig, so dass auch in dieser Hinsicht eine gewisse Abhängigkeit der Kasus-E vom Verb bestehen bleibt. Bezieht man Position in die Bestimmung der verarbeitungstheoretischen Dependenz mit ein, dann sind die englischen Term-E bezüglich ihrer syntaktischen Funktion von Positionen abhängig, nicht vom Verblexem. Hawkins’ zweites Prinzip Minimiere Formen knüpft an Zipfs Gesetz an, welches besagt, dass die frequentesten Formen die kürzesten sind: Effizient seien kurze Formen, der Gebrauch weniger Formen in der Äußerung (was zu kurzen Domänen führt) und ein geringer Satz an Formen. Aus dem Prinzip Minimiere Formen lassen sich verschiedene Markierungshierarchien ableiten. Auch zeigt Hawkins, dass der Kasusabbau in den germanischen Sprachen in Übereinstimmung mit der Kasushierarchie und damit mit dem zweiten Prinzip erfolgte. Bemerkenswert ist Hawkins’ Annahme, dass vage und mehrdeutige, also wenig semantisch transparente Formen effizienter seien als eindeutige, solange die Interpretation kontextuell rekonstruiert werden kann. Es wurde angemerkt, dass Englisch in Bezug auf die durchschnittliche Silbenanzahl pro Wort erfolgreicher minimiert hat als Deutsch. Nicht alle Forderungen der ersten zwei Prinzipien sind gleichzeitig realisierbar: Kurze, vage und mehrdeutige Formen erhöhen die Abhängigkeit von anderen Formen und damit die Anzahl von Domänen. Das dritte Prinzip Maximiere die laufende Sprachverarbeitung fordert zur frühen Zuweisung von Eigenschaften an Formen auf. Es deckt sich z.T. mit dem ersten Prinzip Minimiere Domänen. Beide Prinzipien stehen mit dem zweiten in Konflikt. Hawkins’ Verarbeitungsprinzipien operieren sowohl auf der Form- als auch auf der Inhaltsseite. Während die Identifizierung mehrerer eine effiziente Verarbeitung sichernder Prinzipien, die eine Vielzahl von zu betrachtenden syntaktischen und semantischen Verarbeitungsrelationen bewirkt, beschreibungsadäquater ist als der ausschließlich formbezogene, monokausale Ansatz in Hawkins (1994), besteht die Gefahr, dass der Ansatz jedes Arrangement von Zeichen erklärt. Diese Herausforderung beantwortet Hawkins mit Quantifizierung der Relationen, so dass die Effizienz von Strukturen berechnet werden kann. Als isolierende Sprache ist Englisch vermehrt auf Zuweisung von Eigenschaften durch verarbeitungstheoretische Dependenzbeziehungen angewiesen, die aufgrund des Prinzips Minimiere Domänen Adjazenz begünstigen.
5. Valenz: wie Sprache Welt erfasst83
In diesem Kapitel wird ein unidimensionaler pragmatisch-semantischer Valenzbegriff erarbeitet, der sich durch typologische Neutralität auszeichnet. Ausgehend von einem Anforderungsprofil an eine Valenztheorie (Kap. 5.1.2) wird Valenz als Konstitution eines Kernsachverhalts definiert (Kap. 5.1.3). Diese sprachübergreifende funktionale Definition wird streng getrennt von der einzelsprachlichen Beschreibung von Valenz, die deren formalsyntaktische Realisierung erfasst. In Kapitel 5.2 werden die verschiedenen Aspekte des Valenzmodells schematisch aufgelistet. Der Rest von Kapitel 5 dient vor allem der Darstellung von außerhalb des Verblexems liegender Quellen der Valenz. Kapitel 5.4 thematisiert den Effekt der Konstruktion auf die Etablierung von Textvalenzen, Kapitel 5.5 etabliert verschiedene Ebenen der Valenzbeschreibung (System, Norm, Text) und Kapitel 5.6 beschreibt „szenarioerhaltende“ und „szenarioverändernde“ Valenzänderungen. In Kapitel 5.7 werden einige Begriffsklärungen vorgenommen und das Valenzmodell wird von Alternativen, vor allem dem multidimensionalen Valenzmodell, abgegrenzt. Kapitel 5.8 zeigt eine Übersicht über Valenztheorien.
5.1
Valenzbegriff
5.1.1
Einführung
Valenz gründet sich auf die zwei Funktionen, die eine informationell differenzierte Sprache ermöglichen: auf das Referieren und das Prädizieren. Wenn wir etwas sagen, geschieht dies normalerweise nicht holistisch (Aua! Hunger!), sondern die Aussage besteht aus Teilen: Elementen, die sich auf Entitäten beziehen, und mindestens einem Element, das diese Entitäten in einen Zusammenhang stellt. Die ersteren sind Ergänzungen, das letztere das Prädikat. Insofern betrifft Valenz ein reales Phänomen, das für das Formen von Aussagen konstitutionell ist. Aber der Zugriff auf das reale Phänomen Valenz kann sehr unterschiedlich erfolgen: Man kann es einfach hinnehmen, an Beispielen demonstrieren und syntaktisch modellieren, wie dies z.B. in Textbüchern der Generativen Grammatik geschieht (z.B. Radford 1988: 339-378), oder man kann sich um eine Begriffsklä83
Die Darstellung in diesem Kapitel ist eine Fortentwicklung der Argumentation in Fischer (2003b).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
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rung bemühen, um eine Theorie der Valenz, wie dies in der Valenzforschung in immer neuen Ansätzen erfolgt ist. Die Vermeidung einer Begriffsdiskussion ist freilich nur so lange möglich, wie man sich mit eindeutigen Fällen beschäftigt. Dies war für die anwendungsorientierte Dependenzgrammatik und Valenzforschung keine Option.
5.1.2 Anforderungsprofil an eine Valenztheorie Der Entwurf einer Valenztheorie (VT) profitiert m.E. erheblich von einer Vorabklärung, was die VT eigentlich erklären soll und was nicht. Ich schlage folgendes Anforderungsprofil für eine VT vor: Kombinatorik: Die Kombinatorik von Lexemen soll beschrieben und erklärt werden. Valenzkonsens: Der in der Valenzpraxis herrschende Konsens über die Abgrenzung von Ergänzungen und Angaben (E/A-Abgrenzung) soll erfasst und erklärt werden. Valenzdefinition: Die Subsumption von Lexembegleitern unter einen Begriff (Valenz, Ergänzung) soll durch eine Definition gerechtfertigt werden. Relevanz: Die Valenzdefinition soll das Wesen von Valenz erfassen. Übereinzelsprachlichkeit: Die Valenzdefinition soll übereinzelsprachlich sein. Die VT soll auch wesentliche Einsichten in die Valenz erklären: 1. Relationalität: die von einem Valenzträger (Vt) ausgehende Relationalität von Valenz als Erklärung für die Kombinatorik von Lexemen, 2. Gleichordnung: die Gleichordnung der Ergänzungen in valenzieller Hinsicht, 3. qualitativer Unterschied: den zwischen Ergänzungen und Angaben bestehenden qualitativen Unterschied. Die Anforderungen sind miteinander verwoben. So betreffen die Anforderungen „Kombinatorik“, „Übereinzelsprachlichkeit“ und „Valenzkonsens“ die Beschreibungsadäquatheit und alle Anforderungen zusammen die Erklärungsadäquatheit einer VT. Ich werde die Anforderungen im Folgenden kurz kommentieren: Kombinatorik. Die Anforderung „Kombinatorik“ zeigt das zu erklärende Phänomen aus syntaktischer Sicht: Die Kombinatorik von Lexemen ist z.T. lexem- bzw. lexemgruppenspezifisch. Da die Kombinatorik im Wesentlichen Folge der Bedeutung von Lexemen ist,84 sollte eine Valenzdefinition bei der Ursache für die Kombinatorik ansetzen, nicht bei der Kombinatorik selbst („Relevanz“). Eine auf Kombinatorik gründende Valenzdefinition begegnet auch spezifischen Schwierigkeiten: Die Kombinatorik mit Angaben muss erklärt werden, etwa indem Restriktionen in der Kombinatorik den Angaben angelastet werden, nicht den Vt. Auch sind nicht alle Ergänzungen in syntaktischer Hinsicht gleich stark in ihrer Kombinatorik eingeschränkt (Gleichordnung). So sind das deutsche und insbesondere das englische subject mit fast allen Verben kombinierbar. Dass das engli84
Vgl. Coene (2004a: 329-562, 2006: 151-235).
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sche subject für die Konstitution englischer Deklarativsätze erforderlich ist, zeigt sich an der Präsenz nicht-austauschbarer Subjektelemente, sollte ein volles Subjekt semantisch nicht gefordert sein. Für das Deutsche kann das Gleiche behauptet werden, wenn die subjektlosen Deklarativsätze (Mich friert) einem markierten Subsystem zugeordnet werden. Ich werde auf diese Frage unten eingehen. Valenzkonsens. Obwohl in der Forschung oft die Diskrepanzen zwischen valenzlexikografischen Arbeiten betont werden (Jacobs 1994; Storrer 1992), gibt es doch im Kernbereich einen theorieübergreifenden Konsens über die E/A-Abgrenzung, der auch die Generative Grammatik einschließt, wenn man von der syntaktischen Behandlung des Subjekts absieht. Dieser Konsens betrifft die deutschen Kasusergänzungen, das englische subject und object, präpositionale Phrasen mit fester Präposition (complain about, sich beschweren über), obligatorische adverbiale Phrasen (put something somewhere, etwas wohin legen), obligatorische prädikative Ausdrücke (call somebody it/so, jemanden es/so nennen) und satzförmige Ergänzungen mit und ohne Austauschbarkeit mit einfachen Ergänzungen (Ich weiß, wieviel zwei mal fünf ist/die Lösung. She means that you should help/*your help.). Dieser Valenzkonsens, der als Korrektiv gegenüber Valenzbegriffen dient – ungeachtet der Behauptungen in Jacobs (1994: 53ff., 69ff., 2003: 394f.) und Storrer (1992: 83f., 119-173), dass es einen solchen Konsens nicht gäbe bzw. nicht geben könne –, bedarf einer Erklärung, die eine Valenzdefinition leisten soll. Valenzdefinition. Die Anforderung, eine Valenzdefinition zu leisten, dürfte unkontrovers sein. Man beachte aber, dass diese Forderung impliziert, dass die Ergänzungen in einer gewissen Hinsicht etwas Gemeinsames besitzen (Gleichordnung), außer, man gibt sich mit einer disjunkten Definition zufrieden. In der Geschichte der Valenzforschung ist immer wieder mit disjunkten Definitionen für einzelne Typen von Ergänzungen gearbeitetworden,wenndasHauptkriteriumkeinedenValenzkonsenserfassendeE/A-Abgrenzung leistete. Diese disjunkten Definitionen wurden implizit als Operationalisierungen eines hinter der Vielfalt der Sprachoberfläche liegenden einheitlichen Valenzphänomens aufgefasst. Gelegentlich wurden sie auch als unbefriedigende Notlösung betrachtet. Seit Jacobs’ (1994)85 kritischer Hinterfragung des Valenzbegriffes ist ein multikriterialer bzw. multidimensionaler Ansatz das vorherrschende Forschungsparadigma, das die Einheitlichkeit des Valenzphänomens bezweifelt: Es zerfalle in eine Reihe von Valenzdimensionen, auf die sich unterschiedliche Relationen gründen (Jacobs 1994: (Begleiter-) Bindungsbeziehungen; Jacobs 2003: Valenzbindungsrelationen; Zifonun/Hoffmann/ Strecker 1997: Komplementfürsprecher). Valenz ist dann lediglich ein bequemer Deckname für den prototypischen Zusammenfall dieser eigentlich entscheidenden bzw. realen Valenzdimensionen und wird damit als Epiphänomen gesehen. Zifonun (1995: 189) und auch Jacobs (1994: 71) selbst sind von dieser ursprünglichen Position von Jacobs insofern abgerückt, als dem prototypischen Zusammenfall der Valenzdimensionen im Dienste der Prädikation Bedeutung zugemessen wird. 85
Jacobs (1994) existiert seit Mitte der 80er Jahre als fotokopierter Text. Die mir freundlicherweise von dem Autor zur Verfügung gestellte Kopie trägt das handschriftliche Datum 1987.
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Ohne Zweifel ist eine nicht-disjunkte Definition vorzuziehen, wenn diese geleistet werden kann. Zusätzlich gilt das Relevanzkriterium: Eine Definition sollte nicht nur extensional zutreffen (Beschreibungsadäquatheit), sondern auch intensional (Erklärungsadäquatheit): Sie soll das Wesen eines Begriffes treffen. Diese, man könnte sagen, naive Forderung ist in der Valenzforschung oft verdrängt worden. Dafür sind verschiedene Gründe verantwortlich: Der Hauptgrund liegt m.E. in der strukturalistischen und generativen Form- und Syntaxfixierung, der die Valenzforschung trotz der semantischen Einsichten bei Tesnière gefolgt ist (vgl. Welke 2011: 4-6). Dem Strukturalismus entstammt auch das Operationalisierungsgebot, das eine Begriffsklärung mit einer (möglicherweise komplexen) Handlungsanweisung zur Identifikation der Valenzpartner gleichsetzte. Die Forschungsenergie konzentrierte sich darauf, eine den Valenzkonsens treffende trennscharfe E/A-Abgrenzung zu erreichen. Wie auch im Falle der Wortartendefinition könnte man hier in der Rückschau von einer „Operationalisierungsfalle“ sprechen. In dieser Arbeit wird die E/A-Abgrenzung von der Valenzdefinition aus gutem Grunde getrennt: Eine den Valenzkonsens treffende Valenzdefinition ist in Bezug auf die E/A-Abgenzung nicht trennscharf, eine trennscharfe (uni- oder multikriteriale, aber nicht-disjunkte) Valenzdefinition verletzt in Bezug auf die E/A-Abgrenzung den Valenzkonsens. Man könnte dies die „Unschärferelation“ der VT nennen. Ich werde unten zeigen, dass Trennschärfe nicht wünschenswert ist, weshalb sie auch nicht in das Anforderungsprofil für eine VT aufgenommen wurde. Übereinzelsprachlichkeit. Die Forderung nach Übereinzelsprachlichkeit betrifft die typologische Adäquatheit der VT. Sollte eine übereinzelsprachliche Definition von Valenz nicht gelingen, dann könnten Sprachen nicht unter dem Gesichtspunkt der Valenz verglichen werden: Valenz wäre eines unter anderen Beschreibungsmitteln im Sprachvergleich (wie z.B. Kasus), aber nicht Grundlage des Vergleichs. Da die Formen syntaktischer Kennzeichnung (Kopf- und/oder Dependenskennzeichnung, keine Kennzeichnung) und der Einsatz syntaktischer Mittel (Topologie, Morphologie, Prosodie) zwischen Sprachen variiert, schließt eine typologisch adäquate Valenzdefinition einen (morpho-)syntaktischen Valenzbegriff von vornherein aus.86 Jene kann vielmehr nur semantisch-pragmatisch erfolgen. Ich schlage vor, die übereinzelsprachliche semantisch-pragmatische Valenzdefinition von der einzelsprachlichen Beschreibung der Valenz streng zu unter86
Mit abstrakten syntaktischen Begriffen wie Bindung, Rektion, Strukturposition kann allerdings eine übereinzelsprachliche Darstellung erreicht werden. Abraham/Leiss (2012: 317) beobachten, dass der Begriff der c-Kommandierung (c-command) noch nicht in traditionellen Valenz- oder Dependenzdarstellungen berücksichtigt sei. Dies hat m.E. mehrere Gründe: ganz banal, dass Dependenzdarstellungen nicht unbedingt aus der Phrasenstrukturgrammatik stammenden Begriffe verwenden; weniger banal, dass in der angesprochenen Tradition ein größeres Interesse an syntaktischen Einsichten als an ihrer formalen Modellierung besteht. Hinzu kommt, dass der Begriff der c-Kommandierung für sich für Valenz nicht einschlägig ist, da er viel zu weit ist, um Rektion zu erfassen. C-Kommandierung ist zwischen Schwestern symmetrisch und berifft auch alle Töchter der c-kommandierten Schwester. Man muss den Begriff nicht nur beschränken, sondern auch mit dem Kopfbegriff verbinden, um Rektion zu modellieren.
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scheiden. Die erstere entscheidet, was als Ergänzung gilt, die zweite beschreibt, wie die so etablierten Ergänzungen an die Vt angebunden sind und welche Subklassen von Ergänzungen es gibt. Abgesehen von dem Desiderat einer typologisch adäquaten VT hat es sich auch gezeigt, dass ein einzelsprachlicher syntaktischer Valenzbegriff nur bei Verletzung des Valenzkonsenses möglich ist (s. Fischer 1999b, 2001). Relationalität. Es ist eine Grundeinsicht der VT, dass Valenz gerichtet ist. Die Forderung geht vom „ungesättigten“ Vt aus, das Ziel ist die Bildung einer Vt-Phrase. Die den Vt sättigenden Phrasen sind für sich gesättigt (sind eben Phrasen) und werden zu Ergänzungen durch die Forderung des Vt: Es gibt keine Ergänzungen an sich, sondern nur Ergänzungen eines Vt, d.h. Valenz ist relational. Eine lediglich auf Kategorien (Form- oder Austauschklassen, semantischen Klassen) beruhende Valenzdefinition versucht, Klasseneffekte der Relationalität einzufangen. Sie muss aber im Konfliktfall Relationalität ignorieren und verletzt deshalb die Relevanzforderung (s. Kap. 5.7). Gleichordnung. Die Gleichordnung der Ergänzungen in valenzieller Hinsicht bei Unterschiedenheit in vielen anderen Hinsichten wird von Tesnière (1966[1959]: Kap. 51.11-13) betont. Ein Reflex dieser Gleichordnung kann in den klassischen flachen Valenzbäumen (Stemmata) gesehen werden, die die gleiche strukturale Beziehung der Ergänzungen zum Verb suggerieren. (Um zu verhindern, dass die den Ergänzungen nebengeordneten Angaben an dieser strukturalen Gleichordnung teilhaben, werden meist zusätzliche Zeichen eingeführt. Siehe z.B. Engel 1994: 41-4, 1988: 26; dazu Welke 2011: 75ff.) Die flache Darstellung widerspricht aber dem sukzessiven syntaktisch-semantischen Anschluss an das Verb, der erst in der Verbindung der VT mit der Kategorialgrammatik berücksichtigt wurde (s. Kap. 2.2.4; vgl. Kap. 4.3.2): (1)
dass sie die Tasche auf den Tisch legt
Dass die Nebensatzstellung hier wirklich die sukzessive syntaktisch-semantische Bindung an das Verb reflektiert, zeigen syntaktische Tests: (2) (3)
Auf den Tisch legen tut sie die Tasche. ? Die Tasche legen tut sie auf den Tisch.
Die größere Akzeptabilität von Satz (2) zeigt, dass auf den Tisch legen eine natürlichere Einheit ist als die Tasche legen. Gleichfalls ignoriert die strukturale Gleichstellung der Ergänzungen die in der traditionellen Terminologie für syntaktische Funktionen thematisierten Arten der Sachverhaltsbeteiligung (Subjekt, direktes Objekt, indirektes Objekt), deren syntaktische Relevanz u.a. in Keenan und Comries (1977) Zugänglichkeitshierarchie für Relativierungen demonstriert wird und die als Kasushierarchie maßgeblich die Ausgestaltung der Satzmuster bestimmt (s. Kap. 3.4; 5.3). Allerdings ist die Kasushierarchie traditionell in der Reihenfolge repräsentiert, in der die Ergänzungen im Stemma oder in Valenzeinträgen aufgeführt sind (zu Ungunsten einer evtl. abweichenden Grundfolge: etwa
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geben statt geben). Ich verzichte darauf, weitere Unterschiede zwischen den Ergänzungen zu demonstrieren.87 Auf die Behauptung der strukturalen Gleichstellung der Ergänzungen sind zwei Reaktionen möglich: Man kann erstens der VT ein Theoriedefizit anlasten (vgl. Eroms 2001: 11; Wotjak 2001: 27f.) oder die Valenzidee etwas freundlicher als „ein Beispiel für eine der genialen Vereinfachungen in der Geschichte der grammatischen Beschreibung“ (Eichinger 2004: 31) sehen. In der Folge wird man versuchen, das Defizit zu beheben, und man wird mit anderen syntaktischen Theorien in der Konstruktion immer differenzierterer Stemmata konkurrieren. Oder man kann zweitens – und diesen Weg möchte ich hier beschreiten – die von Tesnière behauptete strukturale Gleichstellung beim Wort nehmen und eine Eigenschaft suchen, die diese Gleichstellung rechtfertigt. Diese Eigenschaft ist dann das Definiens für Valenz, und die flachen Stemmata stellen genau diese Eigenschaft dar und nicht die verschiedenen oben angesprochenen Hierarchisierungen. Eine Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass die VT auf ihren Kernbereich begrenzt wird, was den Verzicht darauf bedeutet, Dependenzstemmata gegen andere Stammbäume auszuspielen: Die verschiedenen Stammbäume zeigen (weitgehend) Unterschiedliches, sind (eher) komplementär als alternativ.88 Qualitativer Unterschied. Die dritte Grundeinsicht in den qualitativen Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben ist gelegentlich auch der Operationalisierungsfalle zum Opfer gefallen. Die Unmöglichkeit, in vielen Fällen zwischen Ergänzungen und Angaben zu unterscheiden, wurde als fließender Übergang zwischen Ergänzungen und Angaben, als Vagheit interpretiert. Eine solche Interpretation muss aber sowohl auf den qualitativen Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben als auch auf die strukturale Gleichstellung der Ergänzungen verzichten, was nicht immer klar gesehen wurde. Wenn Valenz ein gradueller Begriff wäre, wäre die Behauptung einer strukturalen Gleichheit eine Idealisierung. Eine geeignete Valenzdefinition vermeidet diese unliebsamen Konsequenzen. Die Zweifelsfälle werden hier als indeterminiert und nicht als vage angesehen.
5.1.3 Definition von Valenz Die unikriteriale klassische Definition von Valenz, die ich hier vorschlagen möchte, geht auf Tesnières Dramenmetapher zurück. Sie ist nicht neu und wird z.B. in Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 1028f.), Fischer (1999b), Welke (2011: 81, 88) angeführt: Valenz ist der Entwurf eines Kernsachverhalts durch ein Verb, Ergänzungen sind Phrasen, deren Referenten in diesem Entwurf vorgesehen sind. 87
88
Siehe hierzu Fischer (1999b, 2001). Eine umfassendere Auseinandersetzung mit den Begriffen Satzglied und syntaktischer Funktion bzw. Relation kann hier nicht geleistet werden, dazu z.B. Hennig (2010), Ágel (i. Vorb.). Bereits Matthews (1981: 71-95) zeigt, dass die wesentlich durch Valenz motivierten Dependenzstemmata z.T. andere Information beinhalten als Konstituenzstemmata. Zwar hält er an einer „schwachen Äquivalenz“ beider Strukturdarstellungen fest, empfiehlt aber deren Kombination. S.a. Fischer (1997: 37-40).
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Die Definition ist semantisch, weil sie auf der Bedeutung eines Verbs beruht. Sie ist aber auch pragmatisch, weil der von einer Lexikoneinheit entworfene Sachverhalt abstrakt ist und im Sprechhandeln konkretisiert wird. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden. Die Bedeutung von geben kann mit ‘x bewirkt, dass y z hat’ angedeutet werden. Der Entwurf von Geben-Sachverhalten ist nur unter Rekurs auf drei Mitspieler möglich: den Gebenden, den Empfänger und das Gegebene. Im Text wird dieses abstrakte Szenario konkretisiert: (4)
Sie gibt ihm (a) ein Buch (b) einen Kuss (c) einen Ratschlag (d) den Laufpass.
In Satz (4a) wird das Geben-Szenario zu einem Sachverhalt des Besitzwechsels konkretisiert. Satz (4a) ist die Konkretisierung, an die wir am ehesten denken, wenn wir das Verb geben hören. Satz (4b) und Satz (4c) haben gemeinsam, dass das Gegebene erst entsteht: in Satz (4b) durch eine physische Handlung, in Satz (4c) durch die Sprechhandlung selbst (entweder nur durch den Inhalt des Gesagten oder auch durch performativen Gebrauch: Ich gebe dir jetzt mal einen guten Ratschlag …). Satz (4b) kann nicht als Transfer-Szenario im engen Sinne betrachtet werden. Charakteristischerweise ist eine zweiwertige Paraphrase möglich (x küsst y). Allerdings ist die nur zwei Entitäten mit raum-zeitlicher Permanenz involvierende Handlung nach dem Muster eines Transfers sprachlich gefasst, was die Auszeichnung von Realisierung (4a) gegenüber Realisierung (4b) bestätigt. Dies gilt auch für die anderen Realisierungen, wird aber im Folgenden nicht gesondert angeführt. In Satz (4c) wird etwas transferiert, aber nicht der Referent der Akkusativ-E – der Ratschlag entsteht ja erst durch die Sprechhandlung – sondern Information. Deshalb kann der Sachverhalt als Sagen-Sachverhalt betrachtet werden. Satz (4d) ist eine metaphorische Verwendung auf der Grundlage von Satz (4a): Zwar bezog sich der Laufpass auf ein Dokument (Pass, der Soldaten bei der Entlasung aus dem Dienst mitgegeben wurde; Paul 2002: 594), aber heute ist nur noch die metaphorische Bedeutung gebräuchlich (‘Entlassung’, ‘Wegschicken’, insbesondere ‘Beendigung einer Liebesbeziehung’), die zwar ein (sprachliches) Handeln voraussetzt, aber nicht die Überreichung eines Dokuments. Den Laufpass geben kann deshalb als idiomatische kollokationale Einheit, als zweiwertiger Vt betrachtet werden. Man beachte aber, dass die idiomatische Phrase ein wohlgeformtes internes Akkusativobjekt besitzt.89 Verbirgt sich bei jmdm. den Laufpass geben hinter der dreiwertigen Oberfläche semantische Zweiwertigkeit, so zeigt das folgende Beispiel den umgekehrten Fall: (5) Sie gibt ein Konzert. (6) Sie gibt uns ein Konzert. Zwar ist ein Empfänger in Satz (5) mitgedacht, aber seine sprachliche Realisierung ist selten: Bei einer Google-Suche konnte unter 200 Einträgen nur eine Empfänger-Realisierung im Dativ (den Gästen ein Konzert geben), wenige mit den Präpositionen für oder vor gefunden werden. Dasselbe Ergebnis erzielte eine COSMAS-Suche (damit sie uns ein 89
Das Akkusativobjekt ist aber nicht variabel: ??Sie gibt ihm einen Laufpass. Zum Thema „interne“ vs. „externe“ Valenz siehe Ágel (2004).
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kleines Konzert gibt). Man vergleiche mit Satz (4b), wo die Auslassung des Empfängers kaum möglich ist: (7)
? Sie gibt einen Kuss.
Die Belegung des „Gegebenen“ mit einem Lexem, das das Merkmal ‘Aufführung’ enthält, beeinflusst in Satz (5) den entworfenen Sachverhalt: Der Empfänger ist nicht fokussiert. Das Lexem geben eröffnet eigentlich ein Sachverhaltspotenzial, das mit einem „Satzmusterparadigma“ (Coene 2004a: 580, 2006: 229-235) einhergeht und im Sprechhandeln konkretisiert wird. Die Definition von Valenz als Sachverhaltsentwurf ist semantischpragmatisch. Die pragmatische Komponente betrifft sowohl kontextuelle Auswahl aus dem Netzwerk lexikalisierter polysemer Bedeutungen eines Vt als auch kontextuelle Valenzänderung (vgl. Situationsvalenz in Storrer 1992; zum Stellenwert der Abgrenzungsproblematik s.u.). Um einem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich betonen, dass Sachverhalte hier als sprachlich geformte Sachverhalte und nicht als außersprachliche Sachverhalte aufgefasst werden. Das außersprachliche Geschehen, über dessen kognitive Verarbeitung weniger bekannt ist als über dessen sprachliche, ist von geben ja schon perspektiviert: Das Geschehen wird aus der Perspektive eines Mitspielers, des Gebenden, heraus betrachtet (zur Perspektivierung s. Welke 2005: 92-163, 2011: 154-163). Valenz als Sachverhaltskonstitution entspricht dem Anforderungsprofil: Sie erklärt, welche Mitspieler mit einem Vt kombiniert werden müssen, um eine Vt-Phrase zu konstruieren, welche thematischen Rollen sie einnehmen und welche im unmarkierten Fall perspektiviert sind. Aus der Lexembedeutung in Kombination mit übereinzelsprachlichen Hierarchien lassen sich weitgehend Satzmuster und damit formale Merkmale ableiten, zumindest gibt es prototypische Zuordnungen.90 Im Falle von geben ist der Transfer (im weiten Sinne) wie gesagt auf die situative Rolle der Quelle des „transferierten Objektes“ perspektiviert. Sie wird sprachlich als die das Geschehen kontrollierende Entität aufgefasst und deshalb gemäß der Kasushierarchie als Subjekt realisiert (s. Kap. 5.3). Bei erhalten, empfangen etc. fallen situative Quelle und sprachlich gesehen kontrollierende Entität nicht zusammen. Geben perspektiviert auch die „transferierte“ Entität: Sie wird als die die geringste Kontrolle ausübende Entität aufgefasst und deshalb als Akkusativ-E realisiert. (Bei z.B. beliefern ist dies das situative Ziel.) Die Bedeutung von geben bestimmt, dass das situative Ziel des Transfers von einer niedrigeren Position auf der Kasushierarchie als die perspektivierten Entitäten realisiert 90
So zeigt Coene (2004: 444ff., 2006: 157-167; vgl. Willems/Coene 2003: 47ff.), dass die Bedeutung von glauben Bezug auf einen Sachverhalt beinhaltet und das Verb deshalb unmarkiert mit einem ESatz konstruiert wird (Sie glaubt, dass er krank ist. = ‘dass es so ist’). Wird glauben dreistellig verwendet, so wird der E-Satz oder die Akkusativ-E durch die Dativ-E und die Verbbedeutung zusammen in die Lesart ‘Proposition’ „koerziert“ (Sie glaubt ihm, dass er krank ist. = ‘was er sagt’). Auch (pro)nominale Ergänzungen werden koerziert: in Verwendungen ohne Dativ-E in die Sachverhaltslesart (Sie glaubt es. = ‘dass es so ist’), in Verwendungen mit Dativ-E in die Propositionslesart (Sie glaubt dem Buch. = ‘was das Buch sagt’).
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wird: entweder prototypisch oder unmarkiert als Empfänger (Dativ-E), dem eine gewisse Kontrolle zugestanden wird, oder als Zielort, dem keine Kontrolle zukommt (Präpositionalphrase: z.B. jmdn./etw. in eine Institution (Kinderheim, Gepäckabgabe) geben; Anweisungen an jmdn. geben; etwas an eine Speise geben). Die Bedeutung von geben determiniert die Alternative nicht vollständig: Es ist vielmehr von der Art des situativen Ziels (Person vs. Institution), aber auch von der Darstellungsintention des Sprechers abhängig, welche Realisierung gewählt wird. Auch ist aus der Lexembedeutung von geben nicht ableitbar, ob, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen auf Sachverhaltsbeteiligte nicht referiert werden muss bzw. eine Referenz sogar ungewöhnlich ist (Fakultativität von Ergänzungen bzw. Valenzreduktion: Almosen geben; ein Fach geben) und welche zusätzlichen situativen Rollen als in den Kernsachverhalt integriert realisiert werden können (Valenzerweiterung: Geld für eine Ware geben). Die Abbildung der aus der Lexembedeutung von geben abgeleiteten Sachverhaltsbeteiligten auf syntaktische Funktionen ist ganz regulär. Schlagwortartig ergibt Lexembedeutung (einschließlich Perspektivierung) plus Kasushierarchie die von geben geforderten Ergänzungen. Allerdings würde sich die Ableitung von Formmerkmalen aus der Bedeutung von geben schwieriger gestalten, wenn mehr Verwendungen berücksichtigt würden (s. etwa die 18 geben-Lesarten in VALBU (Schumacher et al. 2004: 401-404)): Hier geht es nur um das Prinzip, dass Formmerkmale aus der Lexembedeutung ableitbar sind. Umgekehrt kann die Zuordnung eines Lexems zu einer Konstruktion auch aus Sicht der Konstruktion betrachtet werden: sub dat akk hat als Satzmuster oder Konstruktion entweder eine abstrakte Bedeutung, die sich kaum paraphrasieren lässt (‘Transfer’ als Bedeutung wäre zu spezifisch) oder, so sieht es die Konstruktionsgrammatik Goldbergs, ist polysem mit einer Reihe nach Prototypik geordneter konkreter Bedeutungen, ausgehend von ‘Transfer’.91 In beiden Fällen harmoniert die Lexembedeutung von geben mit der Konstruktionsbedeutung, weshalb geben dieses Satzmuster realisiert. 91
Goldberg (1995: 38) paraphrasiert die zentrale Bedeutung der ditransitiven Konstruktion (subject [Slot für das Verb] indirect object direct object) als Agent successfully causes recipient to receive patient (z.B. give, throw, bring), mit der fünf weitere konstruktionelle Bedeutungen verbunden sind, z.B. Conditions of Satisfaction imply that agent causes recipient to receive patient (z.B. guarantee, promise, owe). Problematisch ist nicht die Idee konstruktioneller Polysemie an sich – wenn Lexeme polysem sind, warum nicht Konstruktionen – , sondern der Status konstruktioneller Bedeutung in der Theoriebildung: die zentralen Konstruktionsbedeutungen werden nicht von Lexembedeutungen abgeleitet, sondern erfassen direkt Ereignistypen, die grundsätzlich sind für menschliche Erfahrung. Die Valenzinformation einzelner Lexeme ist auf perspektivierte „Partizipantenrollen“ beschränkt (z.B. steal: thief, target, goods, wobei thief und goods „profiliert“, d.h. in Perspektive sind; vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1038f.), während alle morphosyntaktische Information den Konstruktionen zugeordnet wird. Dies bewirkt, dass der Einsatz von Lexemen in Konstruktionen, der nur auf der Fusionierung (fusion) von Partizipanten- und semantischen Konstruktionsrollen beruht, zu wenig restringiert ist und ungrammatische Strukturen zulässt. Nimmt man z.B. eine „Abwesenheitskonstruktion“ (menschliche Grunderfahrung) mit den semantischen Rollen Experiens und Stimulus und den syntaktischen Funktionen Subjekt und Akkusativobjekt an, erlaubt Fusionierung korrekt Der X vermisst den Y, aber auch inkorrekt *Der X fehlt den Y. .Es gibt weitere Fragezeichen, z.B. stellt sich
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Da die Bedeutung-Form-Abbildung bekanntlich an Grenzen stößt – nicht immer kann von einer Lexembedeutung mit Sicherheit auf eine Form geschlossen werden –, muss die Formseite zumindest z.T. gesondert behandelt werden (s. Kap. 5.3 bis 5.6). Die morphosyntaktische Kombinatorik, die post Tesnière im Zentrum der Valenzforschung stand, ist also z.T. aus der Lexembedeutung ableitbar, z.T. erfordert sie eine eigene Untersuchung. Aus diesen zwei Gründen nehme ich sie aus der Definition von Valenz heraus und ordne sie der Beschreibungskomponente von Valenz zu, ohne dass dies als Degradierung verstanden werden soll.92 Ich möchte noch einmal betonen, dass die Angabe morphosyntaktischer Satzmuster partiell redundant ist, da diese aus der Lexembedeutung und der Kasushierarchie ableitbar sind. Entsprechend enthält die Angabe der Satzmuster auch semantische Information. In der Praxis wird man sich an die empirisch ermittelbaren Satzmuster halten, da eine Fassung der oft sehr abstrakten oder polysem vernetzten Lexembedeutung ein aufwendigeres Unterfangen darstellt. Was die semantisch-pragmatische Definition von Valenz leistet, ist eine Rechtfertigung, warum die Vielfalt der E-Phrasen unter einen Begriff subsumiert werden dürfen: Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie für den im Text konkretisierten Sachverhaltsentwurf eines Verbs konstitutiv sind. In dieser Hinsicht sind sie auch gleich: Der Gebende, der Empfänger und das Gegebene sind gleichfalls nötig, um den Geben-Sachverhalt in Satz (4a) zu realisieren. Bei aller formalen und auch semantischen Vielfalt (thematische Rollen und semantische Restriktionen) der E-Phrasen ist dies der Kern, der Valenz als linguistisches Phänomen (nicht Epiphänomen) rechtfertigt. Die „Demokratie“ der Ergänzungen in Bezug auf den Entwurf eines Sachverhaltes rechtfertigt auch die Behauptung der strukturalen Gleichheit der Ergänzungen. Und schließlich ist Sachverhaltskonstitution – dies ist das zentrale Argument in meinem Plädoyer – der einzige Valenzbegriff, der den Valenzkonsens erklärt. Dass dies nicht vorher erkannt worden ist, hat verschiedene Gründe. Erstens lag es an der bereits erwähnten Form- und Syntaxorientierung, die die VT nach einem strukturellen oder syntaktischen Minimum suchen ließ (Helbig/Schenkel 1982: 32f.), zweitens an der die Frage nach der historischen Viabilität von Goldbergs Ansatz: Dürften nicht Lexeme vor Kon-
92
struktionen menschliche Grunderfahrungen reflektiert haben, müßten Konstruktionen also nicht von Lexemen abgeleitet sein? Auch führt der Ansatz m.E. zu einer Verdoppelung von Information, die dem Occam-Prinzip widerspricht: Soweit morphosyntaktische Information ohnehin am Lexem notiert werden muss, braucht sie nicht von der Konstruktion an das Lexem gegeben zu werden. Wertvolle Anregungen hat die Konstruktionsgrammatik aber zur Behandlung von Valenzänderungen gegeben. Eine etwas andersgelagerte Kritik an der Konstruktionsgrammatik und den Versuch einer Kombination mit der Valenzgrammatik leistet Welke (2011). Zum Verhältnis von Valenz und Konstruktion s.a. Jacobs (2008, 2009) und Welke (2009a, 2009b, 2011), zur Konstruktionsgrammatik Fischer [Kerstin]/Stefanowitsch (2006, 2008), zu einem alternativen konstruktionsgrammatischen Ansatz Croft (2001), zum Prinzip der Kompositionalität u.a. Croft/Cruse (2004: 105), Goldberg (1995: 13-16), Fischer (2012a). Vgl. den Inhalts-Form-Bezug in Jacobs’ (2009: 504) Definition: „Valenz ist ein relationales morphosyntaktisches Merkmal von Wortformen, das kodiert, wie semantische Argumente des Lexems, zu dem die jeweilige Wortform gehört, zu realisieren sind.“
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Fixierung auf eine scharfe E/A-Abgrenzung, drittens daran, dass das Zusammenspiel der semantischen mit der pragmatischen Komponente bei Sachverhaltskonstitution nicht richtig erkannt wurde. Ich werde auf die beiden letzten Punkte unten zurückkommen. Viertens wurde zunächst implizit – in der IDS-Grammatik explizit – zwischen prototypischen und nicht-prototypischen Ergänzungen unterschieden. Als prototypische Ergänzungen werden solche angesehen, deren Formmerkmale vom Vt bestimmt sind. Damit ist aber eine Vorentscheidung für einen syntaktischen Valenzbegriff getroffen. Wenn man die wesentlichen Merkmale eines Begriffes erfassen möchte, dann empfiehlt es sich, alle Entitäten, die ohne Zweifel unter den Begriff fallen, zu betrachten, da prototypische Merkmale begriffsfremd sein können. Es gibt einen theorieübergreifenden Konsens, dass gewisse adverbiale Phrasen (live somewhere, soviel messen) zweifelsfrei den Ergänzungen zuzurechnen sind. Diese sind weder in ihrer Form noch in ihrer Semantik vom Vt determiniert: Sie sind autosemantisch (autokodierend), besitzen also die vom Vt geforderte Rolle bereits. So wie die Existenz schwarzer Schwäne „weiß“ als Definitionsmerkmal von „Schwan“ ausschließt, schließt die Existenz adverbialer Ergänzungen einen syntaktischen Valenzbegriff aus. Valenz kann nur semantisch-pragmatisch definiert werden. Der Preis für einen syntaktischen Valenzbegriff ist mangelnde Beschreibungsadäquatheit in Bezug auf den Valenzkonsens. Multidimensionale Valenzmodelle vermengen definitorische mit nicht-definitorischen Merkmalen und verdunkeln das Begründungsverhältnis: Das Merkmal Sachverhaltsentwurf (inklusive Rollenanforderungen) begründet Valenz, die anderen Merkmale beschreiben Valenz. In typologischer Sicht ist ein semantisch-pragmatischer Valenzbegriff unvermeidbar. Das Entwerfen von Sachverhalten ist ein grundsätzlicher Aspekt menschlicher Sprache, der deshalb im Sprachvergleich als tertium comparationis benutzt werden kann, von dem sich die formalen Realisierungen der Sachverhaltsbeteiligten in Einzelsprachen abheben (vgl. auch Engel 1980). Obwohl die definitorische Potenz des Kriteriums Sachverhaltskonstitution nicht erkannt wurde, war es doch im Hintergrund vorhanden und als Korrektiv gegen problematische Valenztestergebnisse effektiv. Das Kriterium der (Sinn-)Notwendigkeit und der Einsatz von Tests, die auf die logischen Satzverhältnisse zielen (Helbig/Schenkel 1982: 38f.), demonstrieren das. Die „Berliner Richtung“ hatte ohnehin eine semantisch-funktionale Grundlegung von Valenz befürwortet (s. z.B. Bondzio 1971, 2001; Welke 2011: 5, 103-5). Man erwäge auch Engels (1980) Plädoyer für eine semantische Erweiterung des Valenzbegriffs für die kontrastive Linguistik und seine Einführung des Kriteriums Obligatorik neben dem Hauptkriterium „Subklassenspezifik“: Obligatorik rechtfertigt gewisse adverbiale Phrasen als Ergänzungen (Engel 1994: 149, 163). Seit der „semantischen Wende“ in der VT war ein semantischer Valenzbegriff salonfähig. Die Folgerungstests in Verben in Feldern (Schumacher 1986) zielen auf den Entwurf eines Kernsachverhalts, konnten wegen der Schwierigkeit, semantisches und Weltwissen voneinander abzugrenzen, aber keine scharfe E/A-Trennung erreichen und wurden von einer komplizierten Testbatterie umgeben. Das Schwanken zwischen verschiedenen Valenzbegriffen zeigt
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
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sich noch in der IDS-Grammatik, wo zwei Valenzbegriffe wenig verbunden nebeneinander stehen: Der erste, Konstitution einer Elementarproposition (Zifonun/Hoffmann/Streker 1997: 1028f.), ist mit dem hier vertretenen identisch. Der zweite, multidimensionale versucht, Jacobs’ Valenzkritik zu integrieren und die Verben in Feldern-Tradition fortzusetzen, löst aber nach eigener Aussage den Valenzbegriff im Grunde auf (ebd.: 1030-43). Der erste Valenzbegriff erscheint im multidimensionalen Valenzmodell wieder als einer von mehreren „Komplementfürsprechern“, ohne dass der Zusammenhang kommentiert würde. Hält man sich an den ersten Valenzbegriff in der IDS-Grammatik (Entwurf einer Elementarproposition), so ergibt sich nicht nur keine Auflösung des Valenzbegriffs, sondern die Ausführungen zum multidimensionalen Valenzmodell können als Beschreibung der Valenz (im Deutschen), insbesondere der Form-Bedeutungsbeziehungen gelesen werden. In den Abschnitten 5.1.2 und 5.1.3 wurde aufgrund eines Anforderungsprofils die Konstitution eines Kernsachverhalts als die Valenzrelation identifiziert, die dem Anforderungsprofil entspricht und Valenz begründet. Die Relation erfasst alle zweifelsfreien Ergänzungen. Andere Relationen beschreiben Valenz, ohne dass ein die Valenzpraxis erfassender Valenzbegriff auf sie gegründet werden kann. Insbesondere versagen sie bei der Erfassung zweifelsfreier Ergänzungen oder Angaben. Der hier definierte unikriteriale semantisch-pragmatische Valenzbegriff ist mit dem ersten der zwei Valenzbegriffe in der Grammatik der deutschen Sprache identisch, mit dem Entwurf einer Minimalproposition. Der zweite, multidimensionale Valenzbegriff in der Grammatik der deutschen Sprache unterscheidet nicht zwischen Valenzdefinition und Valenzbeschreibung und betrachtet Valenz lediglich als Epiphänomen.
5.1.4 Logik und Valenz Eingangs wurde betont, dass Valenz auf den grundlegenden sprachlichen Funktionen der Prädikation und Referenz beruht. Ergänzungen lassen sich aber nicht auf die Referenzfunktion einschränken, da es mit den prädikativen Ergänzungen (She is happy. Er verhält sich merkwürdig.) auch Ergänzungen gibt, die die logische Funktion der Prädikation ausführen (happy prädiziert das Subjekt, merkwürdig prädiziert den Vt verhält sich). Die Phrasen sind Ergänzungen, weil sie an dem jeweiligen Entwurf des Kernsachverhalts (‘dass sie glücklich ist’, ‘dass er sich merkwürdig verhält’) teilhaben. Die VT geht von der Wortklasse Verb aus, während die formale Logik nur auf die Funktionen schaut und sich für die Satzoberfläche weniger interessiert. Dies ist ein Grund, warum die VT nicht auf den Prädikatenkalkül der formalen Logik reduzierbar ist: Logische Argumente und Ergänzungen sind nicht ganz deckungsgleich. Ein zweiter Grund liegt in den unterschiedlichen Zielen. Die Linguistik strebt eine Beschreibung und Erklärung von Sprache an, die formale Logik versucht, intuitiv gültige logische Schlüsse formal nachzuvollziehen (vgl. Blau 1978).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Die Ausdrucksstärke von Sprache erhöht sich erheblich dadurch, dass über Kernsachverhalte selbst prädiziert werden kann. Dies tun Angaben: (8)
Peter gibt Paul jeden Morgen einen Ratschlag.
Der Kernsachverhalt ‘dass Peter Paul einen Ratschlag gibt’ wird durch die Angabe jeden Morgen zeitlich situiert. Angaben können auch über Teile von Kernsachverhalten prädizieren. Modifikativangaben prädizieren das Verb (und damit indirekt den Kernsachverhalt): (9)
She ran fast.
‘fast’ bezieht sich auf das Laufen, und nicht direkt auf den Kernsachverhalt ‘that she ran’. Das logische Verhältnis der Angabe fast in Satz (9) zum Verb ist dasselbe wie das der Ergänzung merkwürdig zum Verb in Er verhält sich merkwürdig. Der Unterschied liegt allein darin, dass ‘that she ran’ ein Kernsachverhalt ist und ‘dass er sich verhält’ nicht: Angaben konstituieren nicht Sachverhalte, sondern geben zusätzliche Informationen zu Sachverhalten bzw. Sachverhaltselementen. Der so entstandene neue Sachverhalt kann wiederum kommentiert werden, weshalb Angaben, anders als Ergänzungen, semantisch nicht auf einer Stufe angesiedelt sind: (10)
Unfortunately, he ran too slowly in the second race.
(10d) Leider ist er im zweiten Rennen zu langsam gelaufen.
Satz (10) zeigt die Staffelung der Angaben. Die fettgedruckte Klammer umfasst den Kernsachverhalt ‘that he ran’. Die Modifikativangabe too slowly qualifiziert den Vt ran, die Zeitangabe in the second race situiert den Sachverhalt ‘that he ran too slowly’, die existimatorische93 Angabe unfortunately bewertet den Sachverhalt ‘that he ran too slowly in the second race’. Die semantische Hierarchisierung der Angaben ist syntaktisch z.T. in der Wortstellung angezeigt: im Englischen vom Vt nach rechts, im Deutschen spiegelbildlich vom Vt in Letztstellung nach links (vgl. aber Kap. 2.2.3). Im geschriebenen Englischen werden existimatorische Angaben oft durch ein Komma vom Restsatz abgetrennt, was ihren Status als höchste Prädikation anzeigt. In diesem Abschnitt wurde Valenz von der formalen Logik abgegrenzt: Obwohl beide Ansätze Prädikationen untersuchen, verfolgen sie unterschiedliche Ziele, was zu zumindest partiell unterschiedlichen Analysen führt.
93
Zur Terminologie s. Engel (1994: 175ff.).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
5.1.5
117
Indeterminiertheit von Valenz
Einer der Gründe, warum Sachverhaltskonstitution sich nicht als das Valenzkriterium durchsetzen konnte, obwohl sein valenzbegründender Status gesehen wurde, liegt in seiner mangelnden Trennschärfe. Zwar werden alle vom Valenzkonsens betroffenen Ergänzungen als sachverhaltskonstituierend erkannt, aber es gibt eine erhebliche Klasse von Phrasen, die sowohl als sachverhaltskonstituierend als auch als sachverhaltskommentierend gesehen werden können: (11)
Hagrid wischte sich mit dem Jackenärmel die tropfnassen Augen […]. (HPD: 22)
Ist der Kernsachverhalt ‘dass Hagrid sich die tropfnassen Augen wischte’ oder ‘dass Hagrid sich mit dem Jackenärmel die tropfnassen Augen wischte’? Ist das Mittel des Wischens in der Bedeutung von wischen mitgedacht oder handelt es sich hier um Weltwissen? Darauf gibt es vom Kriterium der Sachverhaltskonstitution her keine eindeutige Antwort. Zwar könnte man andere Kriterien hinzuziehen, etwa das Kriterium der obligatorischen Realisierung oder das der formalen Determination, aber dann hätte man ein valenzfremdes Kriterium benutzt, das für sich den Valenzkonsens verletzt: Es ist ja eine der Grundeinsichten der VT, dass es sowohl fakultative als auch nicht formal determinierte Ergänzungen gibt. Wenn Fakultativität oder Mangel an formaler Determination94 in anderen Fällen den Valenzstatus nicht entscheidet, warum dann hier? Dieselbe Argumentation kann für alle anderen Kriterien (und Tests) verfolgt werden. Satz (11) zeigt einen der klassischen Streitfälle in der E/A-Abgrenzung, zu denen neben instrumentalen auch komitative mit-Phrasen und Agens-von-Phrasen beim Passiv gehören. Dazu Welke (2011: 56): Ungefähr die Hälfte der Arbeiten quer durch die Grammatiktheorien sehen Instrumentalia und die von-PP als Argumente an, die andere Hälfte als Modifikatoren.95
Die Streitfälle wurden zum Anlass genommen, Valenz als vagen Begriff mit einem fließenden Übergang zwischen Ergänzungen und Angaben aufzufassen. Somers (1984, 1987: 25-8) stipuliert sogar eine dritte Kategorie (middles). Das Problem ist aber, dass Sachverhaltskonstitution und Sachverhaltskommentierung absolute (nicht-graduelle) Begriffe sind. Eine Phrase ist entweder das Eine oder das Andere. Die Lösung, die ich anbieten möchte, mag überraschen: Phrasen wie mit dem Jackenärmel in Satz (11) sind indeterminiert. Man kann sie als Ergänzung auffassen oder als Angabe. Geht man in Satz (11) von einem Jemandem etwas mit etwas wischen-Sachverhalt aus, dann ist mit dem Jackenärmel für diesen Sachverhalt genauso konstitutiv wie das Subjekt. Geht man von einem Jemandem etwas wischen-Sachverhalt aus, dann kommentiert mit dem Jackenärmel diesen Sachverhalt wie jede andere instrumentale Angabe. 94
95
Die Frage, ob hier formale Determination vorliegt, ist einer Überlegung wert: Da instrumentale mitPhrasen mit allen Handlungsverben verbunden werden können und mit eigene Bedeutung (‘Kopräsenz’) hat, ist sie wohl zu verneinen. Modifikatoren sind Angaben.
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Referieren, Prädizieren und das Formen von Kernsachverhalten sind reale Prozesse von Sprechern und Hörern. Hier kann es Entscheidungen geben, die einen Informationsunterschied ausmachen und ggf. revidiert werden müssen: (12)
He decided on the boat. (Chomsky 1965: 101)
Je nachdem, ob on the boat als Präpositionalobjekt zu decide oder als Ortsangabe verstanden wird, ergibt sich ein anderer Sinn (‘Er entschied sich für das Boot’ vs. ‘Er fällte eine Entscheidung auf dem Boot’). Ein authentisches Beispiel ist der folgende garden path-Satz:96 (13)
An den Mauern klebten verblichene Filmplakate und ein Rollladen […] (HD: 23)
Ein Leser mag hier zunächst verblichene Filmplakate und ein Rollladen als eine Phrase auffassen und den Kernsachverhalt ‘dass verblichene Filmplakate und ein Rollladen an den Mauern klebten’ formen, aber diese Entscheidung muss revidiert werden: (13’) An den Mauern klebten verblichene Filmplakate und ein Rollladen, breit und rostig, verschloss die Eingangstür. (HD: 23)
Die Entscheidung über den E/A-Status der Phrase mit dem Jackenärmel in Satz (11) (hier wiederholt als Satz (14)) ist anderer Natur: (14)
Hagrid wischte sich mit dem Jackenärmel die tropfnassen Augen […]. (HPD: 22)
Beide Optionen führen zu derselben Gesamtinterpretation, d.h. die Schlüsse, die aus beiden strukturellen Varianten gezogen werden können, sind identisch. Es ist sogar zweifelhaft, ob ein Sprecher oder Hörer hier überhaupt eine Entscheidung treffen muss. Er muss die zweifelsfreien Ergänzungen Hagrid und die tropfnassen Augen, also das Subjekt und die Akkusativ-E, als Argumente des Vt wischte erkennen sowie die Dativphrase sich sowohl auf den Vt wischte beziehen (Empfänger des Wischens) als auch auf die AkkusativE (als „Besitzer“), sie also als Pertinenzdativ bzw. als externe Possessorphrase erkennen.97 Aber für die PP mit dem Jackenärmel genügt es, zum Vt wischte dazuzugehören: Die PP wird aufgrund der Bedeutung von mit (Kopräsenz) und der Belegung der von mit abhängigen NP auf jeden Fall als Instrumentalphrase interpretiert. Nur in der (Valenz-) 96 97
Von to lead somebody up the garden path (‘jmd. in die Irre führen’). Auch der Ergänzungsstatus von Pertinenz- bzw. externen Possessorphrasen ist umstritten. Engel (2004: 303f.) analysiert sie als Attribut zum Kopf der Bezugsphrase (hier: der Akkusativ-E), da ihr Vorkommen von dessen Belegung (Körperteil etc.) abhängt. Damit interpretiert er die externe Possessorphrase wie die interne Possessorphrase his im englischen Original: Wiping his streaming eyes on his jacket sleeve [...] (HP: 17). Morphosyntaktisch sind externe Possessorphrasen aber wie Ergänzungen (hier: Dativ-E) realisiert, und diese Kodierung hat m.E. einen semantischen Effekt: Der Referent der Pertinenzphrase ist nicht nur „Besitzer“ des Referenten der Bezugsphrase, sondern auch Empfänger der Handlung bzw. des Geschehens. Deshalb könnte man hier eine „szenarioerhaltende Valenzerhöhung“ (s. Kap. 5.6) aufgrund der Belegung der Akkusativ-E ansetzen: Der Pertinenzdativ gehöhrt dann nicht zur Grundvalenz von wischen, ist aber Ergänzung in der Pertinenzkonstruktion. Vgl. auch Kap. 7.5.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
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Lexikografie muss eine Entscheidung getroffen werden, aber diese darf nicht auf den Sprecher/Hörer projiziert werden. Die partielle Indeterminiertheit von Satzgliedern bezüglich der E/A-Dichotomie könnte zum Anlass genommen werden, mit Somers eine dritte Kategorie neben Ergänzung und Angabe anzunehmen. Diese hätte aber einen anderen Status als in bisherigen Vorschlägen: Ihre Mitglieder wären – um es noch einmal zu sagen – nicht ein bisschen Ergänzung und ein bisschen Angabe, sondern weder das Eine noch das Andere. Außerdem reichte diese Kategorie weit in den Angabenbereich hinein, wie unten gezeigt wird. Trotzdem unterminiert Indeterminiertheit nicht die Existenz und verarbeitungspsychologische Relevanz der E/A-Dichotomie, da es zweifelsfreie Ergänzungen und Angaben gibt und die indeterminierten Phrasen sowohl als Ergänzung als auch als Angabe aufgefasst werden können. In der Konsequenz ist mein Valenzbegriff nicht nur semantisch, sondern auch pragmatisch fundiert: dies nicht nur, da er vom Sprechhandeln ausgeht, sondern auch, da die Fassung eines Kernsachverhalts im Sinne der „Situationsvalenz“ Storrers (1992) von Kontext und Situation abhängig sein kann. In diesem Abschnitt wurde ausgeführt, dass die Valenz begründende Relation Konstitution eines Kernsachverhalts in Bezug auf periphere Ergänzungen indeterminiert ist: Kernsachverhalte können gelegentlich enger oder weiter aufgefasst werden, ohne dass dies die Äußerungsbedeutung verändert. Die Indeterminiertheit bezüglich der E/A-Abgrenzung ist prinzipiell nicht aufhebbar. Insbesondere kann sie nicht durch Hinzuziehen anderer Relationen gelöst werden, die schon bei der Erfassung zweifelsfreier Ergänzungen versagen.
5.2
Aspekte eines Valenzmodells in der Übersicht
Die folgende schematische Darstellung (Abb. 5.1) fasst wesentliche Elemente meines Valenzmodells zusammen, das sich als Schritt auf dem Weg zu einer typologisch adäquaten Valenztheorie versteht (vgl. Fischer 2003b). Die Darstellung berücksichtigt deshalb auch die Kopfkennzeichnung (s. Boas 1911; Nichols 1986; Pasierbsky 1981; Ágel 2000: 215-236; Fischer 2003b: 36-42).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Grammatische leistunG der KateGorie Verb Aussage: Einbringen eines Sachverhaltsentwurfs in einen Satz (sprechaktneutral); Bereitstellung eines Sachverhaltspotenzials, aus dem sich partiell semantische und syntaktische Merkmale der Ergänzungen ableiten lassen
definition („Wesen der VerbValenz“);
Kenn zeich
uniVersal
nunG
Sachverhaltskonstitution; Entscheidung zwischen Ergänzung und Angabe (partielle Indeterminiertheit)
formale
keine für Valenz als solche; Valenz ist implizit
Konsequenzen aus estatus (einzelsprachliche beschreibunG der VerbValenz) semantisch98
syntaKtisch
Das im Kontext interpretierte Verb determiniert thematische Rollen und semantische Restriktionen aller Ergänzungen und perspektiviert einige Ergänzungen
Zum Teil Kennzeichnung der Dependenzbeziehung zum Verb und der Art der Dependenzbeziehung, d.h. Unterscheidung der Ergänzungen durch: 1. Kopfkennzeichnung a) formale syntaktische Mittel: - Verbflexion - Position der Verbflexive zueinander - Verbform (genus verbi) - Betonung von Affixen b) lexikalische syntaktische Mittel: - Affixe 2. Dependenskennzeichnung a) formale syntaktische Mittel: - Position - Flexion (Kasus, Kasustransfer) - Intonation b) lexikalische syntaktische Mittel - Kopf der Phrase (N vs. P) - Wahl der konstanten Adposition
Abb. 5.1: Unidimensionales Modell der Verbvalenz
5.3
Zuordnung von Szenario-Partizipanten zu Ergänzungen
Natürlich bedeutet der Ausschluss formaler Kennzeichnungen von der Valenzdefinition nicht, dass die Zuordnung von Partizipanten des Kernsachverhalts zu E-Klassen ohne System ist. Formale Kennzeichnungen dienen der Unterscheidung der Ergänzungen auf dem Hintergrund der vom Vt geforderten Partizipanten. Adverbial-E sind ohnehin auto-
98
Wegen der in wesentlichen Punkten ähnlichen bzw. identischen Erfahrungen menschlicher Individuen und Gesellschaften gibt es weitgehende semantische Überschneidungen zwischen den Verben bzw. Prädikatsausdrücken verschiedener Sprachen, auch was die Anzahl und Rollen der Mitspieler und ihre Abbildung auf syntaktische Funktionen betrifft.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
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semantisch und Prädikativ-E konstruktionell auf die thematische Rolle Prädizierung mit den Sub-Rollen Charakterisierung, Qualifizierung und Identifizierung beschränkt.99 Die folgende, komprimierte Darstellung stützt sich auf Croft (2003), Eisenberg (1999, 2006) und Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997). Im Mittelpunkt stehen die synsematischen Term-E. Von Croft wird das Markiertheitskonzept übernommen (vgl. Kap. 3.4), es wird aber weiter interpretiert. Dieses auf die Prager Schule (Trubetzkoy, Jacobson) und Greenberg (1966) zurückgehende Konzept hat erst spät in der Valenztheorie Berücksichtigung gefunden, obwohl es eine ausgezeichnete Grundlage bildet, um das Verhältnis der unterschiedlichen Satzmuster zueinander zu verstehen. Es sei auch daran erinnert, dass Tesnières Ansatz durchaus eine typologische Ausrichtung besitzt, die aber in der Rezeption im Bemühen, eine dependenzgrammatische Alternative zur Generativen Grammatik zu begründen, vernachlässigt wurde. Markiertheit ist nach Croft (2003: 88) eine konzeptionelle Kategorie, die sich in einer Asymmetrie sonst gleicher sprachlicher, vor allem grammatischer, Elemente manifestiert. Die Asymmetrie ist nicht einzel-, sondern übereinzelsprachlich begründet. Indem z.B. der Singular als unmarkiert bezeichnet wird, wird nicht nur etwas über Numerus im Englischen und Deutschen gesagt, sondern darüber, wie der Begriff einer singulären Entität überhaupt sprachlich gefasst wird. Mit diesem Begriff typologischer Markiertheit scheint Croft in Konflikt mit strukturellem Denken zu geraten, das immer von Einzelsprachen ausgeht und vor- oder übereinzelsprachliche Konzepte zur Erklärung sprachlicher Strukturen vermeidet: Bedeutung ist immer durch einzelsprachliche Oppositionen zu begründen. M.E. ist der funktional-typologische Ansatz von Croft und anderen durchaus mit der strukturalistischen Herangehensweise vereinbar, da die übereinzelsprachlichen Konzepte und semantischen Netze, die die einzelsprachlichen Kodierungen erklären, ja durch Analyse der Kodierungseigenschaften vieler Einzelsprachen gewonnen werden. Ein sprachliches Element (Flexionsendung, Wort, Kategorie, Kategorisierung, Satzmuster) ist vereinfacht gesagt unmarkiert, wenn es den Normalfall, das zu Erwartende darstellt. Croft (2003: 87-117) gründet Markiertheit auf drei Kriterien. X ist weniger markiert als y, wenn a) x eine geringere morphologische Kennzeichnung aufweist als y (structural coding; morphologische Markiertheit). b) x morphologisch und syntaktisch „vielseitiger“ ist als y (behavioral potential ), d.h. x ein reichhaltigeres Paradigma aufweist als y (= mehr Kategorisierungen besitzt; inflectional potential ) und eine weitere Distribution besitzt (distributional potential ). c) x in Texten frequenter als y ist (text (token) frequency). Die drei Kriterien sind nicht auf derselben Ebene angesiedelt: a) und b) betreffen das Sprachsystem, c) den Sprachgebrauch. c) kann zur Erklärung von a) und b) dienen: Hohe 99
Adverbial überformte Prädikativ-E fasse ich als Adverbial- bzw. Präpositiv-E auf: Die Veranstaltung ist am Dienstag (dann)/im Rosengarten (dort)/nur wegen dir (deshalb)/ohne Genehmigung (ohne sie)/für einen guten Zweck (dafür).
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Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Textfrequenz führt zu morphologischer Reduktion, da es ökonomisch ist, dass es die häufig gebrauchten Elemente sind, die kurz sind (im Gegensatz zu selten gebrauchten). Hohe Frequenz bedeutet auch, dass im Interesse von Ikonizität (semantischer Transparenz) ein reichhaltiges Paradigma unterhalten werden kann, da ständiger Gebrauch ein Vergessen der Formen verhindert. Hohe Frequenz geht natürlich auch mit einer weiten Distribution einher (s.a. Kap. 4.5). Im Prinzip gelten im Folgenden Crofts Kriterien, aber es wird nicht verlangt, dass jeweils alle drei zutreffen. Außerdem werden auch frequentere einzelsprachliche Strukturen als unmarkiert bezeichnet, ohne dass jeweils eine Reduktion auf übereinzelsprachliche Markiertheitshierarchien demonstriert wird. Das Beschreibungsziel sind ja die Satzstrukturen in zwei Einzelsprachen, die durch Kombinationen von typologischen Markiertheitshierarchien gesteuert werden. Markiertheit wird also nicht nur im Sinne von typologischer Markiertheit verwendet, sondern auch im Sinne der Prager Schule als Oberbegriff für eine Reihe von einzel- und übereinzelsprachlichen Asymmetrien. Hier ist auch Wortfolge mit einbegriffen, die Croft (2003: 117) im Gegensatz zu Croft (1990: 85) nicht unter Markiertheit fasst, da sie nicht die o.g. Kriterien erfüllt. Damit vermeide ich, verschiedene Begriffe für asymmetrische Strukturen einzuführen, und folge allgemeiner Praxis. Wie Eisenberg (1999: 20) bin ich beeindruckt von der „phantastischen Reichweite des Markiertheitsbegriffs“, ohne eine geschlossene Markiertheitstheorie anzustreben oder vorauszusetzen.100 Aufgrund der morphologischen Markiertheit ergibt sich folgende übereinzelsprachliche Kasushierarchie (< = ist weniger markiert als), die hier zweifach in ihrer deutschen und englischen Ausprägung aufgeführt ist: Dt. Eng.
Nominativ < Akkusativ < Dativ < Genitiv (< Präposition) subjective < objective < possessive (< Präposition)
Beispielsweise ist der Nominativ Singular Student weniger morphologisch gekennzeichnet als die obliquen Kasus (Studenten), der Dativ des Determinativs (Sg. dem/der, Pl. den) ist stärker morphologisch gekennzeichnet als Nominativ und Akkusativ, deren Kennzeichnungen außer für das Maskulinum Singular identisch sind. Der Genitiv ist wiederum wegen der eindeutigen morphologischen Kennzeichnung der maskulinen und neutralen Nomina im Singular (-s) stärker gekennzeichnet als der Dativ, dessen e-Kennzeichnung bei diesen Nomina optional ist. Morphologisch gleich starke Kennzeichnung widerspricht nicht der Hierarchie. Die Unterschiede in der Kennzeichnung, die hier nur angedeutet werden können, mögen im endsilbengeschwächten Deutschen gering erscheinen, sind aber, wenn man die ganze Nominalphrase betrachtet, durchaus real. Englische Pronomina im subjective sind z.T. weniger stark morphologisch gekennzeichnet als im objective (who – whom), der possessive ist z.T. stärker gekennzeichnet als der objective (me – mine). Bei Nomina ist der (phrasenbezogene) possessive (man’s, the Mayor of London’s) stärker gekennzeichnet als der Einheitskasus (man, the Mayor of London). 100
Haspelmath (2006) unterwirft den Markiertheitsbegriff einer umfassenden Kritik.
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Valenz: wie Sprache Welt erfasst
Wenn Einleitung durch eine Präposition als kasusanalog akzeptieren und die Hierarchie entsprechend ausgeweitet wird, gilt diese Kennzeichnung grundsätzlich als stärker morphologisch markiert als Kennzeichnung durch Kasus, da ein zusätzliches Wort plus dessen Kasusrektion einer bloßen Kasuskennzeichnung gegenübersteht. Letzteres gilt auch für das Englische, da englische Präpositionen den objective regieren. Kasus unterscheiden sich nicht in ihren Flexionsparadigmen. Z.B. haben alle Kasus die gleiche Anzahl von Kategorien für Numerus (zwei). Deutsche Nomina sind für alle Kasus genuskonstant, deutsche und englische Personalpronomina der 3. Person Singular sind für alle Kasus genusvariabel. Zur Diskussion von Distribution und Frequenz ist es sinnvoll, zwischen dem Gebrauch von Kasus zur Kennzeichnung von Term-E und anderen Gebrauchsweisen zu unterscheiden. Im Gebrauch als Attribut zum Nomen wäre der Genitiv bzw. possessive unmarkiert, aber im Gebrauch zur Kennzeichnung von Term-E bestätigt sich die Kasushierarchie (vgl. Kap. 3.4, 5.3). Betrachtet wird zunächst das Deutsche. Wie Zählungen in Mater (1971) zeigen, regieren monovalente Verben in der überwiegenden Anzahl der Fälle ein Subjekt, divalente Verben ein Subjekt und eine Akkusativ-E. Alle anderen Satzmuster sind markiert: Bei den monovalenten Verben , , , bei den divalenten Verben , , . Das unmarkierte dreiwertige Muster ist . Zwar sind Präpositiv-E insgesamt häufiger als Dativ-E101, aber nicht die Menge aller Präpositionen ist als Äquivalent einzelner Kasus zu betrachten, sondern jede einzelne Präposition. Die Genitiv-E ist seltener als die meisten nach Präpositionen sortierten Subklassen der Präpositiv-E, aber wenn die Frequenzverhältnisse mit der morphologischen Kennzeichnung zusammengenommen werden, ergibt sich folgende Hierarchie für deutsche Term-E (vgl. Eisenberg 1999: 68): sub < akk < dat < gen, prp Der Einfachheit halber wird auch diese Hierarchie der syntaktischen Funktionen im Folgenden wie allgemein üblich als „Kasushierarchie“ angesprochen. Das Englische weist weniger markierte Satzmuster auf. Monovalente Verben verlangen ein subject, divalente überwiegend ein subject und direct object: das Satzmuster subject prepositional object () ist also markiert. Kasus erreicht nur eine Zweitei101
Im Kleinen Valenzlexikon deutscher Verben (Engel/Schumacher 1978) stehen in Einträgen der Buchstaben A und B 30 Verblesarten mit Dativ-E 103 mit Präpositiv-E (davon vier mit zwei Präpositiv-E) gegenüber. Betrachtet man Lemmata, dann sind es 25 Lemmata mit Dativ-E gegenüber 68 mit Präpositiv-E. Zwar berücksichtigt das Kleine Valenzlexikon keine „freien Dative“ und fasst die Präpositiv-E eher weit, aber auch etwas andere Definitionen würden an den Mengenverhältnissen nichts Wesentliches ändern. Dativ-E sind aber in mehr Lesarten präsent als jede einzelne Präposition: mit erscheint in 26 Lesarten, auf in 13, für in 12, bei und um in jeweils 9, von in 8, über in 7, zu in 6, an und gegen in jeweils 5, aus und vor in jeweils 2, und in, nach und unter in jeweils einer. Auch im Textvorkommen ist die Präpositiv-E häufiger, allerdings mit deutlich verringerter Differenz: In meinem Korpus stehen 197 Präpositiv-E (davon 16 E-Sätze ohne Korrelat und zwei Reflexivelemente) 146 Dativ-E (freie Dative und 15 Reflexivpronomina mitgerechnet) gegenüber.
124
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
lung bloßer englischer Term-E in subject und object (durch Präsenz kasusgekennzeichneter Pronomina in den entsprechenden Austauschklassen). Das positionell definierte indirect object (IO) ist morphologisch nicht stärker gekennzeichnet als das direct object (DO). Im Folgenden wird eine vorsichtige Interpretation angewandt, die sich auf Croft (2003: 14655) stützt. Da das indirect object vor dem direct object erscheint, ist es positionell gesehen dem direct object divalenter Verben gleichzustellen und sogar weniger markiert als das direct object in trivalenten Konstruktionen. Diese Verhältnisse lassen Frequenz als Markiertheitskriterium nicht so recht greifen, da die niedrige Frequenz des indirect object ja weder an einer Form noch an einer eigenen Position festgemacht werden kann.102 Wegen der identischen morphologischen und parallelen topologischen Markiertheit des indirect object mit dem direct object in divalenten Konstruktionen werden das direct object und indirect object zusammengruppiert. Form und Position des indirect object werden also höher gewertet als seine Frequenz. Aus dem gleichen Grunde gilt nicht als weniger markiert als , obwohl ersteres Satzmuster etwas häufiger von Verben verlangt werden dürfte und eine Präpositiv-E im Gegensatz zum indirect object auch als zweite Ergänzung verlangt werden kann. Überhaupt wird darauf verzichtet, wegen des systematischen Austauschs zwischen indirect object und Präpositiv-E mit to/for letztere als indirect objects anzusprechen und ihnen eigene Hierarchiepositionen zu geben, da es hierfür keine morphologische Rechtfertigung gibt. Es ergibt sich folgende Hierarchie der englischen Term-E, die wie die entsprechende Hierarchie für das Deutsche auch als Kasushierarchie angesprochen wird: sub < DO, IO < prp Die Häufigkeitsverhältnisse der lexikalischen Satzmusterwahl, die die Etablierung der Markiertheitshierarchie für Term-E u.a. begründen, werden durch die Textfrequenz der einzelnen Ergänzungen bestätigt (wenn man indirect object und Genitiv-E ignoriert) (s. Kap. 7.4; 7.5). Weitere Bestätigungen ergeben sich durch die Zugänglichkeit für syntaktische Prozesse wie Passivierung, Reflexivierung, Relativierung und Kontrolle infiniter Strukturen. Die Zugänglichkeit für die genannten Prozesse nimmt mit zunehmender Markiertheit ab. Üblich ist auch die Rede von „strukturellen Kasus“: Je markierter eine TermE, desto weniger strukturell. Markierte Ergänzungen bzw. Satzmuster gelten dann als lexikalisch vergeben. Freilich handelt es sich bei der Unterscheidung nur um einen Gradunterschied, da auch lexikalisch vergebene Kasus durch Subsysteme gestützt werden und an syntaktischen Prozessen teilhaben. Auch die thematischen Rollen der Szenario-Partizipanten lassen sich in eine Hierarchie ordnen. Die Grundidee ist das Maß an „Agentivität“, an Kontrolle über das Geschehen. 102
Dies gilt, wenn man Position vom Verb aus rechnet. Bestimmt man Position vom Satzende aus, so lässt sich eine eigene indirect object-Position vor dem direct object definieren (die in divalenten Satzmustern nicht genutzt wird) und das direct object als weniger markiert als das indirect object ausweisen. Vgl. Kap. 2.2.3.
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Valenz: wie Sprache Welt erfasst
Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 1323-1326) identifizieren drei Merkmale, die (in abnehmendem Grade) die „Salienz“ einer thematischen Rolle bestimmen: a) Handlungsfähigkeit b) Aktivität c) Involviertheit Für die Zuschreibung der Rolle Agens genügt es, wenn die Verbbedeutung spezifiziert, dass ein handlungsfähiges Individuum eine Aktivität vollzieht, die als Handlung beschrieben werden kann. Damit werden Partizipanten wie der Subjektreferent in Sie lächelte über seine Bemerkung, die als unwillkürlich Reagierende oder als Handelnde aufgefasst werden können, dem Agens zugeordnet. Handlungsfähigkeit verleiht aber auch Partizipanten Salienz, die keine Aktivität vollziehen, wie etwa Experiencer (Ich friere. Mich friert) und Possessor (Sie besitzt das Haus. Ihr gehört das Haus). Mit dem Merkmal Aktivität werden Partizipanten erfasst, die parallel zum Agens als Ursachen für ein Geschehen konstruiert sind, etwa der Subjektreferent in Der Sturm zerstörte das Haus, die aber nicht als Handelnde aufgefasst werden können. Allerdings greift die Frage Was tut X? zur Bestimmung von eine Aktivität ausführenden Partizipanten zu weit, da auch Zustandsträger (X schläft, liegt auf dem Sofa) erfasst werden (denen nur syntaktisch ein Maß an Agentivität zukommt). Diesen wie auch dem Patiens mehrwertiger Verben kommt über den Begriff der direkten Involviertheit im Geschehen ein Grad an Salienz zu. Es ergibt sich eine Salienzskala der thematischen Rollen mit von links nach rechts abnehmender Salienz (und Agentivität) (s. Abb. 5.2).103 Agens Causa
>
Rezipiens Possessor Experiens [DAT]
>
Patiens
>
Ko-Agens
>
Thema
>
Ornament Locus Instrument
Abb. 5.2: Salienzskala der thematischen Rollen nach Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 1326)
Eisenberg (2006: 77ff.) fasst Agentivität etwas weiter und stützt sich auf fünf Basisrollen, die letztlich auf Dowty (1991) zurückgehen. Wie auch immer Agentivität analysiert wird, es geht darum, dass Handelnden (Er schlug mit der Faust gegen das Fenster) ein höheres Maß an Agentivität zukommt als Verursachern (Ein Zweig schlug gegen das Fenster), dass Handlungsfähigkeit zu berücksichtigen ist (Sie stolperte die Treppe hinunter) und dass Aktivitäten Ausführende ein niedrigeres Maß an Agentivität besitzen (Sie zitterte). Die unmarkierten Abbildungen von Partizipanten auf syntaktische Funktionen lassen sich nun durch die Interaktion der Kasushierarchie und der Salienzskala erklären. Stark vereinfacht ergibt sich folgende Zuordnung von thematischen Rollen zu syntaktischen Funktionen: Für beide Sprachen gilt, dass der Partizipant mit der höchsten Agentivität 103
> = ist salienter als; DAT: weitere Dativrollen. Die Bezeichnungen der thematischen Rollen wurden an die hier verwendeten angeglichen, um sie von den morphosyntaktisch bzw. konstruktionell induzierten semantischen Rollen zu unterscheiden. S. Kap. 3.3.2, Anm. 34.
126
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
oder Salienz durch das Subjekt realisiert wird, der Partizipiant mit der geringsten Agentivität (Patiens) durch das direkte Objekt. Kommt ein dritter Partizipant hinzu, so wird er unmarkiert als indirektes Objekt realisiert. Prototypisch sind solche dritten Partizipanten handlungsfähige Entitäten. Die sukzessive Wahl von syntaktischen Funktionen lässt sich also im unmarkierten Fall direkt von der Kasushierarchie (Markiertheitshierarchie für syntaktische Funktionen von Term-E) ablesen. Wird auch die unmarkierte Reihenfolge berücksichtigt, so ergibt sich für das unmarkierte trivalente deutsche und englische Satzmuster bzw. . Man beachte, dass die Reihenfolge nicht aus der Kasushierchie abzulesen ist, wohl aber aus der Salienzordnung der thematischen Rollen oben: Die Ergänzungen sind nach abnehmender Agentivität geordnet. In dreiwertigem entspricht die Reihenfolge der Kasushierarchie, aber die Präpositiv-E (prp) kann die agentivere Instanz realisieren als die Akkusativ-E (akk) bzw. das direct object (DO) (etwas an jemanden schicken, give something to somebody). Die Abweichung von der Salienzskala hat durchaus semantische Folgen: Der Partizipant wird als weniger ins Geschehen integriert gesehen, i.e. mehr als Ziel denn als Empfänger: jemandem etwas schicken impliziert eher Empfang des Geschickten als etwas an jemanden schicken. Annähernd wird damit der Salienzskala wieder Genüge getan. Die häufigeren Vorkommen von gegenüber kann man so interpretieren, dass Deutsch hier eher der Salienzskala, Englisch mit der Kasushierarchie folgt. Die Realisierung einer Dativrolle in kanonischer direct object-Position hat im Englischen, wo indirect object und direct object morphologisch nicht unterschieden sind, zur Folge, dass das indirect object syntaktisch analog zu einem direct object fungiert, z.B. passivierbar ist. Obwohl die Salienzskala ein hohes Erklärungspotenzial besitzt, ist es fraglich, ob alle Ergänzungen damit erfasst werden können. Z.B. ist der Unterschied zwischen einen Brief schreiben und an einem Brief schreiben wohl eher mit einer „Affiziertheitshierarchie“ zu erfassen.104 Die Zuordnung von Partizipanten zu syntaktischen Funktionen ist also durchaus regelhaft, was sich auch didaktisch nutzen lässt (s. z.B. Durrell 2010). Allerdings legt die Zuordnung die syntaktischen Funktionen nicht auf gewisse Rollen fest. Subjekte sind als default-Ergänzungen monovalenter Verben ohnehin äußerst rollenvariabel und auch das direct object bzw. die Akkusativ-E können, wenn auch in geringerem Maße als das Subjekt, eine Reihe thematischer Rollen realisieren. Ob sich darüber hinaus entsprechend der Monosemie-Hypothese der strukturellen Semantik abstrakte Bedeutungen für Subjekt, direct object bzw. Akkusativ-E oder gar für Nominativ/subjective und Akkusativ/objective finden lassen und inwieweit diese funktional relevant wären, sei dahingestellt.105
104 105
Diesen Hinweis verdanke ich Eva Breindl. S. Willems (1997: 31-34, 181-237); zur strukturellen Semantik s.a. Coseriu (1988: 271f., 1988/1992: 171ff.) und Coene (2004a: 30-67, 2006: 58-63).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
127
Enger umschrieben als bei Subjekt und direct object/Akkusativ-E sind die Rollen des indirect object bzw. der Dativ-E, die als Dativrollen unter der Bezeichnung des „Betroffenen“ zusammengefasst werden können (Wegener 1985). Diese Assoziation einer syntaktischen Funktion mit bestimmten miteinander verwandten Rollen hat im positionell organisierten Englischen über die Zuweisung der Positionen keine weitere Auswirkung (mehr). Aber im morphologisch organisierten Deutschen betrifft die Assoziation eine Kasusform, die kraft dieser Assoziation entgegen der Kasushierarchie die Ergänzungen monovalenter Verben kennzeichnen kann (Ihr graut/ekelt/friert; vgl. Eisenberg 1999: 81). In geringerem Ausmaß tritt auch die Akkusativ-E als markierte einzige Ergänzung auf, wenn diese nicht auf einen agentiven Partizipanten referiert (Ihn friert). Die meisten divalenten markierten Satzmuster gehorchen den Hierarchien: , und sind nur insofern markiert, als nicht die Akkusativ-E bzw. das direct object als zweite Ergänzung gewählt wird (und ggf. weitere Ergänzungen in der Hierarchie übergangen werden), aber die Reihenfolge entspricht sowohl der Kasushierarchie und bei den meisten Verben auch der Salienzordnung. Im positionell organisierten Englischen können divalente Satzmuster gar nicht der Kasushierarchie widersprechen. Ein Konflikt entsteht lediglich mit der Salienzskala (z.B. Something interests/apalls somebody), wobei aber sekundär das Thema als Verursacher gesehen werden kann und damit auch der Salienzskala genüge getan wird. Im Deutschen gibt es dagegen markierte divalente Satzmuster, deren Reihenfolge die Kasushierarchie verletzt (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1352). Die erste Ergänzung wird entsprechend den oben angesprochenen Assoziationen und der Salienzskala durch eine Dativ- oder Akkusativ-E realisiert (Ihr gelingt/gehört die Arbeit. Ihn interessiert/verwundert das). Dass die zweite Ergänzung dann aber als Subjekt und nicht als rangniedrigere Ergänzung kodiert wird, könnte aber auch als Bestätigung der Kasushierarchie – sozusagen durch die Hintertür – gesehen werden: Das Subjekt muss realisiert werden (vgl. Eisenberg 1999: 80). Ohne die Diskussion auf weitere Muster auszudehnen, lässt sich feststellen, dass sich auch markierte Satzmuster im Englischen und Deutschen aus dem Zusammenspiel von Kasushierarchie und Salienzskala erklären lassen. Insgesamt zeigt das Englische weniger markierte Strukturen: Die Auswahl und Reihenfolge der Ergänzungen folgt der Kasushierarchie. Nur bei der Position des indirect object setzt sich die Salienzskala gegen die Kasushierarchie durch. Das Deutsche zeigt dagegen verschiedene durch die Salienzordnung lizenzierte Abweichungen von der Kasushierarchie. Diese etwas funktionalere Motivierung deutscher Ergänzungen stützt Hawkins’ These. Die Abweichungen von der Kasushierarchie im Deutschen könnten der Grund dafür sein, dass Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 1328) die Kasushierarchie nur am Rande erwähnen, während sie entsprechend ihrem kategorialgrammatisch-funktionalen Ansatz die sukzessive Anbindung der Ergänzungen auf die Salienzskala gründen. Die unmarkierte Reihenfolge ist die Grundlage für die Bindungsfolge, die von rechts nach links erfolgt. Zifonun/Hoffmann/Strecker untersuchen Skopusverhältnisse, die die satzsemantische Relevanz der Reihenfolge illustrieren (über pragmatische Information hinaus),
128
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
aber die Bindungsfolge nicht rechtfertigen können (da sie sich bei abweichender Reihenfolge ändern; vgl. Kap. 2.2.3). Die unmarkierte Reihenfolge (und damit die unmarkierten Skopusverhältnisse) sind vielmehr weitgehend aus der Salienzskala abzuleiten. Die Bindungsreihenfolge englischer Ergänzungen erfolgt ganz parallel zu der deutscher Ergänzungen auf der Grundlage der unmarkierten Reihenfolge von rechts nach links. Die oben angeführten Kontraste lassen sich dann so fassen: Während die Bindungsfolge im Deutschen stärker als Projektion der Salienzordnung erscheint, unterliegt sie im Englischen syntaktischen Restriktionen: Das Subjekt ist immer letztzubindender Term. Die unmarkierten Ergänzungsfolgen in beiden Sprachen verlaufen ganz parallel. Dies mag nur dann überraschen, wenn man von unterschiedlichen Verbgrundpositionen bzw. unmarkierten Verbpositionen in beiden Sprachen ausgeht (s. frühe Verbposition vs. Verbletztposition in Kap. 6.2.3 oder Fischer 2005b). Aus typologischer Sicht muss Verbzweit als unmarkierte Verbposition des Deutschen angesehen werden, was die weitgehende Parallelität der unmarkierten Ergänzungsfolgen in beiden Sprachen erklärt. Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass es im Englischen auch noch rudimentär eine Satzklammer gibt, wie phrasal verbs zeigen (to give something up). Ein auffallender und deshalb vielleicht überbewerteter Kontrast zur unmarkierten deutschen Satzgliedstellung ist die unmarkierte Realisierung von Zeitangaben nach Ortsbestimmungen im Englischen, besonders bei Bewegungsverben (They moved to Paris last year. Sie sind letztes Jahr nach Paris gezogen; vgl. König/Gast 2009: 177). Dies ist tatsächlich dadurch erklärbar, dass die zuerst gebundene Ortsbestimmung verbnäher erscheint, während die Zeitangabe ausgelagert ist. Eine entsprechende Motivation gibt es im Deutschen nicht, da das Heranrücken an eine Verbposition zugleich das Abrücken von der anderen bedeuten würde. Die Abfolgen deutscher und englischer Ergänzungen wurden als Zusammenspiel von Kasushierarchie und Salienzskala erklärt. Hawkins (1994) hat unmarkierte Folgen überzeugend als Funktion von Sprachverarbeitungsprozessen beschrieben (s. Kap. 4.3). Wo liegt hier die eigentliche Ursache und was ist Epiphänomen? Statt einer Antwort müssen ein paar Anmerkungen genügen. Die anthropomorphe Perspektive in Sprachen wie dem Englischen und Deutschen, die sich in der Salienzskala spiegelt, widerspricht dem Prinzip des schnellen Erkennens unmittelbarer Konstituenten gar nicht: Die Partizipanten mit hoher Agentivität werden oft durch kurze Phrasen realisiert, da sie vorerwähnt oder bekannt sind. Zwar gilt für das Prinzip des schnellen Erkennens unmittelbarer Konstituenten, dass es auch „schrumpfende Glieder“ in Verbletztsprachen erklären kann, aber auch in diesen besitzt das anthropomorphe Prinzip meist Wirksamkeit: In über 95% aller Sprachen steht das Subjekt (bzw. Äquivalent) vor dem Objekt (bzw. Äquivalent) (O’Grady/ Dobrovolsky/Katamba 1997: 383). Wenn mehreren Prinzipien Wirksamkeit nachgewiesen werden kann, ist eine Reduktion nicht angebracht. Bei Abweichungen von der unmarkierten Reihenfolge sind neben den genannten Prinzipien auch pragmatische Erklärungen hinzuzuziehen.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
129
Die durch das Konzept typologischer Markiertheit begründete Kasushierarchie und die Salienzskala haben es erlaubt, die Zuordnung von Ergänzungen zu Partizipanten zu motivieren und die Satzmuster in beiden Sprachen in einen geordneten Zusammenhang zu stellen. Eisenberg (1999: 70) ist zuzustimmen, dass dies über die Aufzählung von Satzbauplänen in der klassischen Valenzlexikografie und -grammatik hinausgeht. Insbesondere ist auch die unmarkierte Ergänzungsabfolge in der Bewertung von Satzmustern zu berücksichtigen, damit nicht unmarkierte und markierte Abfolgen unter demselben Satzmuster subsumiert werden (etwa helfen und gelingen). Die ausführliche Darstellung in Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997) kann hier durchaus als beispielhaft gelten. In diesem Abschnitt wurde die systematische Beziehung zwischen der Salienzskala der Szenariopartizipanten und der Kasushierarchie untersucht. Für beide Sprachen lassen sich die unmarkierten Satzmuster und z.T. auch die markierten aus dieser Beziehung ableiten. Im Konfliktfalle orientiert sich das Deutsche im Gegensatz zum Englischen eher an der Salienzskala, was zu einem markierten Subsystem aktivsprachlicher Strukturen führt.
5.4
Valenz und Konstruktion
In diesem Abschnitt werden schlagwortartig einige Überlegungen und Forschungsergebnisse vorgestellt, die eine umfassende VT berücksichtigen müsste. Eine Diskussion der Valenzebenen findet sich in Kapitel 5.5, eine genauere Analyse valenzverändernder Prozesse (Valenzwechsel) in Kapitel 5.6. Die VT gründet auf der Grundeinsicht, dass das Verb das strukturelle Zentrum des Satzes ist. Dies wurde meist axiomatisch so verstanden, dass das Verb die Satzkonstruktion bestimmt, wie stellvertretend für viele die folgenden zwei Aussagen von Hans Jürgen Heringer belegen: Ein Verb, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst. Mit einem Schlag ist eine Szene da. (Heringer 1984a: 49) Das Prädikat ist die Seele des Satzes. Es bestimmt seine grammatische Organisation, es teilt den anderen Satzgliedern ihre Rollen zu. Wie tut es das? Es hat aufgrund seiner Bedeutung eine Valenz, die sich darin äußert, daß schon bei bei der Nennung des Prädikats oder des Verbs allein sich uns die entsprechenden Fragen stellen: schenken – wer? – was? – wem? (Heringer 1988: 110)
Die Realität, auf die sich das Axiom von der konstruktionsbestimmenden Rolle des Verbs bezieht, ist ein monosemes Verb (z.B. blühen, erfinden), das eine Konstruktion bestimmt (blühen: sub; erfinden: sub akk) oder ein Verb, mit dem eine „Grundverwendung“ (nicht unbedingt die häufigste) assoziiert wird, die eine Grundvalenz besitzt (schenken ‘etwas ohne Gegenleistung übertragen’: sub dat akk; nicht: jmdm. oder etwas Aufmerksamkeit/ Gehör schenken ‘jmdn. oder etwas beachten’, ‘jmdm. zuhören’ oder sich etwas schenken ‘etwas an sich Vorgesehenes nicht tun’). Die Bedeutung des Verbs bzw. der Lesart wird
130
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
dann mit den Bedeutungen der Ergänzungen nach dem Prinzip der Kompositionalität bzw. dem Fregeschen Prinzip106 zur Satzbedeutung kombiniert. Obgleich der Valenzforschung die in dem Axiom steckende Idealisierung bewusst war und mit den Konzepten der Grundvalenz (Welke 1988, 2011: 176-171; s. Kap. 5.5 und 5.6), der dynamischen Valenz (Sadziński 1989; s. Kap. 5.6) und der Valenzpotenz (Ágel 2000: 105-138) versucht wurde, ihr zu begegnen, schenkte man dem Verb als vom Kontext bestimmter Instanz zu wenig Beachtung. Im Gegenteil, die Vielfalt der mit einem Verb verbundenen Konstruktionen wurde eher als Bestätigung seiner zentralen Rolle und „Potenz“ gesehen und in polysemen Valenzeinträgen beschrieben.107 Man kann die konstruktionelle Vielfalt freilich auch als verbale Impotenz sehen, die der Determination bedarf. Einsichten der Spracherwerbs- und Sprachverarbeitungsforschung, der Konstruktionsgrammatik und der Sprachtypologie legen diese Sicht nahe. Bekanntlich weicht der frühkindliche Sprachgebrauch erheblich vom Erwachsenengebrauch ab. Für den holophrastischen Gebrauch von Lexemen, aus dem sich nach und nach „konstruktionelle Inseln“ bilden (constructional islands; Tomasello 2003: 113-122), ist die Wortklassenzugehörigkeit nicht einschlägig. Zwar werden von Anfang an auch einige Verben holophrastisch gebraucht, in der folgenden Entwicklung ist es aber auffällig, dass Verben eher später erworben werden (ebd.: 43-50; Leiss 2002). Dies liegt an ihrer fehlenden Salienz: Die von ihnen bezeichneten Relationen zwischen den Partizipanten sind oft nicht direkt wahrnehmbar und auch nicht immer gut erschließbar, d.h. die Bedeutung von Verben ist oft abstrakt. Sie ist komplex, wenn sie Bezug auf mehrere Partizipanten nimmt. Deshalb weisen Verben auch besonders starke zwischensprachliche Unterschiede auf. Auf ihre Bedeutung wird vom Ko- und Kontext her geschlossen, auf ihre aktive Verwendung wird zunächst weitgehend verzichtet (Tomasello 2003: 69-72). Die Konstruktionsgrammatik sieht, wie der Name sagt, die Konstruktion als Grundbegriff der Grammatikbeschreibung. Konstruktionen haben Bedeutungen, die häufig nicht nach dem Fregeschen Prinzip ableitbar sind, und z.B. Verben übergestülpt werden können (Goldberg 1995; Croft/Cruse 2004). In Kapitel 5.6 wird dies als szenarioverändernde Valenzerhöhung und -reduktion beschrieben. Aber auch die Auswahl einer Lesart erfolgt in der Rezeption durch nicht-verbale Information, etwa aufgrund der Form und Belegung der Ergänzungen. Darauf hat z.B. Hawkins (1992, 1994) hingewiesen. Stimmte das Bild vom konstruktionsbestimmenden Verb, dann wäre eine frühe Verbposition sprachverarbeitungstheoretisch günstig, was sich typologisch niederschlagen müsste. Tatsächlich haben aber nur ca. 5% aller Sprachen Verb106
Das Fregesche Prinzip besagt, dass sich die Bedeutung eines Ausdrucks aus der Kombination der Bedeutungen seiner Teile und der Art und Weise der Zusammenfügung errechnen lässt. Siehe Frege (1879, 1975, 2003), Croft/ Cruse (2004: 105), Fischer (2012a). 107 Extrem polyseme Herangehensweisen wurden für VALBU – Valenzwörterbuch deutscher Verben (Schumacher et al. 2004) und für das Contragram-Valenzwörterbuch gewählt. In letzterem werden niederländische, französische und englische Verben kontrastiert. Eine gemäßigt polyseme Darstellung benutzt das Valency Dictionary of English (Herbst et al. 2004).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
131
erststellung. Die populärste Stellung ist Verbletzt: Etwas weniger als die Hälfte aller Sprachen besitzen diese Verbposition. Dies deutet darauf hin, dass der Determinierung der Konstruktion durch das Verb eine Determinierung des Verbs durch den Rest des Satzes vorausgeht: Die Form und Belegung der Ergänzungen und evtl. auch die Konstruktion bilden, um Heringers Bild abzuwandeln, das Schaltpult, das den Strom zum richtigen Licht leitet und verhindert, dass ein falsches Licht, oder, wie Hawkins meint, mehrere Lichter gleichzeitig aufleuchten. Auch wenn das Verb wesentlich determiniertes Element ist, geht es doch die meisten Verbindungen im Satz ein und ist somit „strukturelles Zentrum“. Nur darf diese Rede nicht missverstanden werden. Abschnitt 5.4 weist darauf hin, dass Verben nicht nur Satzstrukturen determinieren, sondern auch durch Konstruktionen und die Belegegung von Ergänzungen determiniert sind. Die folgenden Abschnitte werden diesen Gedanken konkretisieren.
5.5
Ebenen der Valenzbeschreibung
Ausgehend von Coserius Begrifflichkeit unterscheidet Ágel (2000) in seiner Diskussion von Valenzpotenz und -realisierung zwischen einer System- und Normvalenz. In diesem Abschnitt knüpfe ich an diese Unterscheidung an, die, wie auch bei Ágel, mit der Idee einer „dynamischen Valenz“ (Sadziński 1989) verbunden wird. Der Begriff „Grundvalenz“ ist von Welke (1988, s.a. 2011: 176-171) übernommen, aber etwas anders interpretiert. Es geht mir hier nicht um eine grundsätzliche Auseinandersetzung, sondern um eine Illustration anhand eines Beispiels. Vier Ebenen der Valenzbeschreibung sind zu unterscheiden: die beiden lexikalischen Ebenen des Systems (Systemvalenz) und etablierter Realisierungsmuster, hier als „Normvarianten“ bezeichnet (Normvalenz inkl. Grundvalenz), die Ebene der Textrealisierung (Textvalenz) und die Ebene realer Sprecher und Hörer (Sprechervalenz). Auf allen vier Ebenen gilt der Valenzkonsens, d.h. auf der Grundlage der Bedeutung des Vt werden zweifelsfreie Ergänzungen erkannt. Als Beispiel wähle ich das Verb erwarten und diskutiere auch dessen Behandlung in Verblexika. Für die Systemebene müsste in einer strukturalistischen Analyse eine einheitliche abstrakte Bedeutung herausgearbeitet werden (Monosemiehypothese; vgl. Coseriu (1988: 271f., 1992: 171ff.), Coene (2004a: 30-67, 2006: 58-63)). Die Existenz einer Systembedeutung ist nicht unumstritten und würde z.B. von Wittgenstein zugunsten von „Familienähnlichkeiten“ miteinander verbundener, regelgeleiteter Gebrauchsweisen ohne begriffliches Zentrum abgelehnt (Polysemiehypothese; vgl. Wittgenstein 1977: § 65-7). Nicht für jedes Verb wird sich eine einheitliche Bedeutung identifizieren lassen – vgl. Ágels (2000: 130) Beispiel etw./auf etw./aus etw. bestehen –, aber bei erwarten ist das m.E. möglich. Der Einfachheit halber stipuliere ich, dass die Bedeutung von erwarten eine gerichtete Beziehung einer Entität auf ein zukünftiges Ereignis enthält, das durch diese Beziehung als
132
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
wahrscheinlich ausgewiesen wird. Man könnte dies auch durch ‘x antizipiert y’ ausdrücken. Für die Valenz bedeutet dies Zweiwertigkeit. Ich werde zeigen, dass die aus der Lexembedeutung abgeleitete Valenz lediglich einen Rahmen bildet (Valenzpotenz), die die aktuelle in einer Äußerung vorliegende Valenz unterdeterminiert. Auf der Ebene der Normvarianten werden unterschiedliche Normbedeutungen identifiziert (s. Tab. 5.1). Bedeutung auf der SYSTEMEBENE: ‘gerichtete Beziehung einer Entität auf ein zukünftiges Ereignis, das durch diese Beziehung als wahrscheinlich ausgewiesen wird’ Bedeutungen auf der NORMEBENE/ Beispiele108 NORMVARIANTEN
1. ‘x denkt, dass y eintritt’
2. ‘x antizipiert die Erfüllung seines Wunsches, dass y eintritt bzw. dass z y realisiert’ 2.a ‘x antizipiert die Erfüllung seines Wunsches, dass y zu seinen Gunsten eintritt bzw. dass z y zu seinen Gunsten realisiert’
3. ‘x wartet darauf, dass y eintritt’
4. ‘x ist vorbereitet für y’
Experten erwarten jetzt, dass es zügig in Richtung 0,85 Dollar weitergeht. Und am 23. März wird Arbeitsminister Walter Riester erwartet. Für ein Photo erwarten sie eine kleine Spende. Als Ausgleich für ihre Privilegien und ihren Reichtum erwarten wir von den Royals, dass sie sich anständig benehmen. Dabei erwartet man sich eine Klärung der strittigen Rechtslage beim grenzüberschreitenden Internethandel und bei den Reimporten nach Deutschland. Die Österreichische Computer Gesellschaft [sic] erwartet sich von dem von ihr schon lange geforderten Studium eine Qualitätsverbesserung des schulischen Informatikunterrichts. Am Ziel, dem Flaggenmast im Innenhof, erwartete sie bereits ihre Lieblichkeit Monika II. Jeden Montag von Spielern wie Zuschauern mit Spannung erwartet wird die Rubrik „Spieler der Woche“. Die Gäste erwartete ein vielfältiges Angebot. Atemberaubendes Abenteuer erwartet den Besucher in Österreichs größtem und modernstem Hochseilgarten in Saalfelden.
Tab. 5.1: System- und Normebene von erwarten
In der Praxis ist es schwierig, zwischen den Bedeutungen 1. und 2. zu unterscheiden, da die Semantik von erwarten bewirkt, dass ein Wunsch oder Appell als Prognose verkleidet erscheint: (15) (16)
Der Bezirksvorstand erwartet eine große Beteiligung an der diesjährigen Delegiertenversammlung. Pleischl erwartet ein Machtwort des Obersten Gerichtshofes.
Denkt der Bezirksvorstand, dass eine große Beteiligung wahrscheinlich ist, oder möchte der Bezirksvorstand, dass viele Delegierte kommen? Hält Pleischl ein Machtwort des 108
Die Beispielsätze entstammen dem COSMAS-Korpus des Instituts für Deutsche Sprache.
133
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
Obersten Gerichtshofes für wahrscheinlich oder hofft er auf ein solches? Die Etablierung einer Äußerungsbedeutung durch einen Hörer enthält ja konstruktive Elemente, die auch wissensbasierte Schlüsse aus dem Gesagten beinhalten (und Schlüsse, die auf dem vermuteten Wissen des Sprechers und auf dem Wissen beruhen, von dem der Hörer vermutet, dass es der Sprecher ihm unterstellt; vgl. Sperber/Wilson 1995). Man kann hier von „pragmatischer Ambiguität“ sprechen. Obwohl der semantische Unterschied zwischen 1. und 2. klar ist, ist er nicht morphosyntaktisch abgesichert. Es gibt weitere Abgrenzungsprobleme, etwa zwischen 1. und 3., der „wörtlichen Bedeutung“ (‘er-warten’; ‘warten, bis y eintritt’), die auch 4. näher steht als 1. und 2. es tun. Man beachte, dass die erwartende Entität in 4. keine Person oder Institution ist. Das besondere Interesse des Erwartenden an einer Erwartung kann durch Reflexivität ausgedrückt werden (s. 2.a). Die lexikalische Valenzbeschreibung kann auf der Grundlage der Normbedeutungen erfolgen (z.B. Verben in Feldern) oder sich stärker an der Morphosyntax orientieren. Letzteres ist nicht nur ökonomisch, wenn verschiedene Normbedeutungen dieselbe morphosyntaktische Realisierung aufweisen, sondern bei pragmatischer Ambiguität auch realistischer. In der folgenden Auflistung von erwarten-Satzmustern wurde die Unterscheidung zwischen den Normbedeutungen 1. und 2. nur insofern berücksichtigt, als sie sich in der Realisierbarkeit und Realisierung einer von-Phrase spiegelt, die auf die die Erwartung erfüllende Instanz referiert. Die statistischen Angaben beruhen auf einer COSMASZufallsauswahl von 100 Belegen (s. Tabelle 5.2). Erwartetes als Eakk
Erwartetes als Eexp (soviel)
Erwartetes als dass-Satz 7
Gesamt
A. x erwartet y (Anschluss einer von-Phrase möglich, aber nicht realisiert) B. x erwartet y (Anschluss einer von-Phrase nicht oder kaum möglich) C. x erwartet y von z D. x [-] erwartet y [+anim] E. x erwartet sichDat y von z
47
F. x erwartet sichDat y (Anschluss einer von-Phrase möglich, aber nicht realisiert) G. x erwartet y als z Gesamt
3
3
1
1 100
23 6 7 1
54 23
1 3
1
8 7 4
Tab. 5.2: Anzahl der Satzmuster von erwarten in COSMAS-Zufallsauswahl
Die Statistik weist x erwartet y als die unmarkierte Normvalenz (A+B) aus, die als Grundvalenz bezeichnet wird. Die Grundvalenz kann verändert oder erweitert, aber im Falle von erwarten im Aktiv nicht reduziert werden, wenn man von der lexikalischen Ellipse
134
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
sie erwartet (‘ist schwanger’) absieht. Die häufigste Änderung ist die Erweiterung um eine auf die erfüllende Instanz referierende von-Phrase (C). Dieser Befund rechtfertigt die Beschreibung von erwarten in Engel/Savin (1983: 196f.), die die zwei Satzbaupläne und vorsieht.109 Der erste Satzbauplan ist durch einen nicht mit von-Phrase erweiterbaren Beispielsatz illustriert (Familie Schmitz erwartet Gäste), was das Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Satzbauplänen darstellt. Nur im dreistelligen Satzbauplan sind satzförmige Ergänzungen aufgeführt (zu-Inf, dass). Auch dies entspricht dem empirischen Befund, allerdings sind dass-Sätze ungleich häufiger als Infinitivsätze110 und etwaige Präpositiv-E werden nicht immer in den Ergänzungssatz integriert, wie eine Anmerkung in Engel/Savin (1983: 197) behauptet, d.h. X erwartet von Y, dass Z ist möglich (vgl. 2. in der Tab. 5.2). Helbig/ Schenkel (1982: 433) führen nur einen Satzbauplan ohne Präpositiv-E auf. Auch der Perspektivwechsel in D, der Auswirkungen auf die semantischen Restriktionen hat, ist relativ häufig. Dieser ist im Eintrag von Engel/Savin nicht berücksichtigt, wohl aber bei Helbig/Schenkel in den einen aufgeführten Satzbauplan integriert, allerdings mit einer sowohl unvollständigen als auch korrekturbedürftigen semantischen Beschreibung.111 Eine Reflexivierung können die zwei- und die dreiwertige Lesart erfahren: Das Reflexivpronomen im Dativ verweist auf den Benefizienten, der für andere Entitäten als den Erwartenden nicht durch eine Dativphrase, sondern durch z.B. eine für-Phrase angeschlossen werden kann (Für die öffentlichen Kassen wird ein Plus erwartet). In den fünf Lesarten von VALBU (Schumacher et al. 2004: 362f.) sind die hier identifizierten Verwendungen enthalten, allerdings ohne Häufigkeitsangabe. Inwieweit Änderungen der Grundvalenz als Normvarianten etabliert sind oder als bloße Textphänomene gelten müssen, ist kaum abgrenzbar. Auch bei Durchsicht größerer Zufallsauswahlen begegnen immer wieder die aufgelisteten Satzmuster, weshalb ich sie als Normvarianten anerkenne. Freilich werden sie durch etablierte Satzmuster bei anderen Verben gestützt (etw. von jmdm. erhalten → C.; sich. etw. wünschen → E+F; etw. als etw. sehen → G). Die Frage der E/A-Abgrenzung stellt sich schon auf der Ebene der Normvarianten. Die Präpositiv-E kann nicht als zweifelsfreie Ergänzung gelten, da sie in einer valenzlexikografischen Arbeit (Helbig/Schenkel) nicht aufgeführt ist. Tatsächlich ist eine Entscheidung auf der Basis meines semantischen Valenzbegriffs nicht eindeutig möglich: 109
110 111
Man vergleiche mit dem Kleinen Valenzlexikon deutscher Verben (Engel/Schumacher 1978: 173). Die deutsche Seite des kontrastiven Valenzlexikons deutsch-rumänisch folgt meist dem Kleinen Valenzlexikon, das aber keine semantischen Restriktionen enthält. – Zu den Abkürzungen: hum = menschlich, inst = menschliche Institution. Z.B.: Seit meinem Sieg in Atlanta kann ich es kaum erwarten, in Sydney anzutreten. Der Satzbauplan ist nicht auf abstrakte Subjekte wie in Viel Arbeit erwartet uns beschränkt, wie meine Korpusanalyse zeigt. Die Akkusativ-E unterliegt einer Selektionsbeschränkung (+anim), die bei Helbig/Schenkel nicht verzeichnet ist, nur deren Folge, dass die Akkusativ-E nicht als Ergänzungssatz realisiert werden kann.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
(17)
135
Von Frau Fredebeul hatte ich eine solche Abfertigung am wenigsten erwartet. (Böll, Ansichten eines Clowns)
Obwohl ‘dass ich eine solche Abfertigung erwartet hatte’ einen Kernsachverhalt bildet, kann ‘von Frau Fredebeul’ nicht von diesem prädiziert werden. Der Grund hierfür ist, dass sich die von-Phrase auf die Ergänzung eine solche Abfertigung bezieht, von der sie prädiziert werden kann (Die Abfertigung ist von Frau Fredebeul). Dem entspricht, dass das Vorkommen einer von-Phrase von der Belegung der Akkusativ-E abhängig ist: (18)
Dich/Schönes Wetter hatte ich am wenigsten erwartet.
Satz (18) kann nicht durch eine „Erfüller“-von-Phrase erweitert werden. Man kann nun argumentieren, dass sich die Erwartung in Satz (17) auf den Sachverhalt ‘dass Frau Fredebeul mich so abfertigt’ bzw. ‘dass eine solche Abfertigung von Frau Fredebeul getätigt wird’ bezieht, entsprechend der Beobachtung von Engel/Savin, dass die von-Phrase in einen Ergänzungssatz integriert werden kann. Damit wäre der Referent der von-Phrase als konstitutiv für den erweiterten Kernsachverhalt ‘dass ich eine solche Abfertigung von Frau Fredebeul erwartet hatte’ ausgewiesen.112 Schließlich gibt es eine Reihe dreiwertiger Satzbaupläne, die Erweiterungen zweiwertiger darstellen: (19) (20)
A sieht B. A sieht B als C.
So wie Satz (20) als essenziell zweiwertig betrachtet werden kann (‘A sieht: B als C’), so kann auch das dreiwertige erwarten als semantisch zweiwertig aufgefasst werden (‘A erwartet: B von C’). Trotz Abhängigkeit von der Belegung der Akkusativ-E ist die vonPhrase syntaktisch aber verbgebunden, weshalb sich die Frage des E/A-Status’ überhaupt erst stellt: (21) (22) (23)
Ich erwarte nichts von ihm. Von ihm erwarte ich nichts. Nichts von ihm erwarte ich.
Die Permutationen zeigen, dass Satz (21) zwischen Satz (22) und Satz (23) strukturell ambig ist. Entscheidend ist aber, dass mit Satz (22) eine Lesart mit drei Satzgliedern existiert, die im Übrigen mit Satz (23) nicht vollständig semantisch identisch ist.113
112
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Helbig/Schenkels nominell syntaktischer, aber im Grunde semantischer Valenzbegriff – man beachte, dass das Verb und die Ergänzungen gemäß dem Schaubild (1982: 35) die Proposition bilden! – die zur Diskussion stehenden von-Phrasen auf Grund des entscheidenden Satztests eindeutig als Ergänzung einstuft. Allerdings ist der Satztest hier nicht aussagekräftig, da die Valenz des zur Sachverhaltsprädikation benutzten Verbs geschehen ohnehin keinen von-Anschluss erlaubt (s. Storrer 1982; Fischer 1999b, 2001). 113 Eine entsprechende Argumentation für die Anerkennung als Ergänzung kann in Bezug auf die alsPhrase in Satz (20) geführt werden, die zusammen mit der Akkusativ-E das Gesehene konstituiert.
136
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Das Akzeptieren eines dreiwertigen erwarten-Satzmusters (etwas von jmdm. erwarten) führt zu spezifischen Schwierigkeiten, da eine Reihe von Präpositionalphrasen nun auf ihren E-Status hin untersucht werden müssten, wie ich unten zeigen werde. Kontroverser ist die Einschätzung der Dativphrase in Satz (24), die dem dativus commodi zugerechnet werden kann, also referenziell ist, obwohl sie auf Reflexivpronomina eingeschränkt ist: (24)
Dabei erwartet man sich/*den Unternehmen eine Klärung der strittigen Rechtslage.
Man kann den Benefizienten als konstituierendes Element eines erweiterten erwartenSzenarios auffassen oder als Zusatzinformation zu einem engeren Kernsachverhalt. Der dativus commodi wird jetzt meist als Ergänzung betrachtet (vgl. Engel 1994: 156). Auf der Ebene der Normvarianten werden also eine Reihe von bezüglich der E/AAbgrenzung indeterminierten Phrasen regelmäßig mit einem Verb verbunden. In meiner Zählung habe ich derartige Phrasen als Ergänzungen anerkannt, aber dies hebt deren indeterminierten theoretischen Status nicht auf. In der Valenzlexikografie kommen auch praktische Erwägungen zum Tragen. So werden Benefizientphrasen ungeachtet der Einschätzung ihres Status’ meist nicht aufgeführt. Erwarten lässt sich noch mit einer Reihe weiterer präpositionaler Phrasen verknüpfen. Dass diese Verknüpfungen nicht als Normvarianten, sondern als „bloße“ Textrealisierungen gelten, gründet sich auf Frequenz und Art der Verknüpfung, ohne dass hier ein scharfer Schnitt möglich wäre: (25)
Für die öffentlichen Kassen wird ein Plus erwartet.
(26)
Zu dem rund 500 000 Mark teuren Festival im Sendesaal des Hessischen Rundfunks erwarten die Veranstalter rund 3000 Besucher.
(27)
Beim Straßentheaterfestival und beim Flohmarkt werden viele Besucher erwartet.
Alle kursiven Phrasen sind bezüglich der E/A-Abgrenzung indeterminiert in dem Sinne, dass ein engerer oder weiterer Kernsachverhalt angenommen werden kann. In Bezug auf Satz (25) konkurriert der Kernsachverhalt ‘dass ein Plus erwartet wird’ plus Kommentierung ‘Dies gilt für die öffentlichen Kassen’ mit dem Kernsachverhalt ‘dass für die öffentlichen Kassen ein Plus erwartet wird’. Für die Einschätzung der für-Benefizientphrase könnte die Behandlung der reflexiven Benefizientphrasen (X erwartete sich etwas) als relevant betrachtet werden, aber dies wäre sowohl eine kategoriale Entscheidung als auch eine Entscheidung von der außersprachlichen Situation her. Die größere grammatische Integration der Vt-determinierten Kasusphrase sich im Gegensatz zur für-Benefizientphrase geht einher mit einer größeren semantischen Integration, die eine Sicht des Referenten der Phrase als kernsachverhaltkonstituierend nahelegt. Nur auf diese indirekte Art hat die Form einen Einfluss auf die E/A-Unterscheidung. Das Kriterium bleibt aber Sachverhaltskonstitution. Es ist also konsistent, die reflexiven Benefizient-Dativphrasen als Ergänzungen zu behandeln und die für-Benefizientphrasen als Angaben (aber nicht umgekehrt). Für eine Behandlung als Ergänzung spräche, dass die für-Phrase, genauso wie die von-Phrasen in Satz (17), Satz (21) und Satz (22), als das Erwartete konstituierend
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
137
aufgefasst werden können (‘Es wird erwartet: X für Y’). Dasselbe gilt für die zu-Phrase in Satz (26) und die bei-Phrase in Satz (27). So bezieht sich die Ortsbestimmung in Satz (27) nicht auf den Ort des Erwartens, sondern auf den Ort, wo das Erwartete eintritt. Als Ergebnis der Diskussion kann festgehalten werden, dass sich Valenz nicht auf Normvarianten beschränken muss, sondern Vt in der Verwendung mit Phrasen verbunden werden, die entweder als Ergänzungen oder als Angaben aufgefasst werden können. Dieser Befund spiegelt sich auf der vierten Ebene, der der Textproduktion und Verarbeitung, nur, dass hier keinesfalls Konsistenz zu erwarten ist. Sprecher und Hörer müssen auf der Grundlage der Systemvalenz die Grundvalenz (oder eine von dieser abweichende Normvariante) erkennen, aber können darüber hinaus weitere Referenten von Phrasen als in den Kernsachverhalt integriert betrachten (oder deren Beziehung zum Vt offen lassen). Die Integration einer Phrase in einen mit einem Vt verbundenen Kernsachverhalt kann sich auch von Äußerung zu Äußerung verändern, z.B. unter dem Einfluss von Wortstellung und zusätzlichen Phrasen: (28)
Die Regierung erwartet Probleme für die öffentlichen Kassen.
Ein Hörer mag zunächst den Kernsachverhalt ‘dass die Regierung Probleme erwartet’ konstruieren, der durch ‘für die öffentlichen Kassen’ kommentiert wird, während (29)
Die Regierung erwartet für die öffentlichen Kassen Probleme.
oder (30)
Für die öffentlichen Kassen erwartet die Regierung Probleme.
die Konstruktion eines Kernsachverhalts ‘dass die Regierung für die öffentlichen Kassen Probleme erwartet’ begünstigen könnte. Auch das Vorkommen einer zusätzlichen Phrase mag die Konstruktion eines Kernsachverhalts auf der Grundlage des Restsatzes nahe legen: (31)
Die Regierung erwartet dieses Jahr für die öffentlichen Kassen Probleme.
Meine Bemerkungen zur Kernsachverhaltskonstitution von Sprechern sind Spekulationen, deren empirische Untermauerung z.T. unmöglich sein dürfte, da sie keinen Effekt in der Form von aus unterschiedlichen Strukturierungen zu ziehenden Schlüssen zeitigen. Aber es sind m.E. nützliche Spekulationen, da sie den Skopus der verarbeitungstheoretischen Relevanz der E/A-Abgrenzung zu bestimmen versuchen. Besitzt die Sprecher/Hörervalenz wirklich ein okkasionelles Element, so wäre die partielle Indeterminiertheit der E/A-Abgrenzung nicht nur eine angemessene Lösung für ein grammatikografisches Problem, sondern eine adäquate Interpretation des Sprecher/Hörerverhaltens. Umgekehrt bedeutete dies, dass die partielle Indeterminiertheit der E/A-Abgrenzung auch nicht von den Sprachverarbeitungsprozessen her aufgelöst werden kann. Im Abschnitt 5.5 wurden vier Ebenen der Valenzbeschreibung identifiziert – zwei Ebenen des Sprachsystems (Lexembedeutung und Normvarianten) und zwei Äußerungsebenen (Textvalenz und Sprecher/Hörervalenz) – und anhand einer auf Korpusdaten beruhenden
138
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Valenzanalyse des Verbs erwarten erläutert. Dabei wurde insbesondere das Verhältnis der Lexembedeutung zu etablierten Realisierungsmustern (Normvarianten) untersucht und die Frage der E/A-Abgrenzung auf den verschiedenen Ebenen diskutiert. Es wurde festgestellt, dass sowohl die Lexembedeutung als auch die Normvarianten die Textvalenz unterdeterminieren.
5.6
Änderungen der Valenz: Valenzwechsel, -reduktion und -erhöhung
Ausgangspunkt für Änderungen der Valenz ist die Grundvalenz. Eine Valenzerhöhung liegt vor, wenn die Stellenzahl gegenüber der Grundvalenz zunimmt, eine Valenzreduktion, wenn sie gegenüber der Grundvalenz abnimmt.114 Bleibt die Stellenzahl gleich, aber ändert sich die Belegung einer oder mehrerer Stellen gegenüber den Anforderungen der Grundvalenz, spreche ich von Valenzwechsel. Unterschieden wird zwischen zwei Arten von Valenzänderung: der „szenarioerhaltenden“, die sich auf den durch die Grundvalenz etablierten Sachverhalt bezieht, und die „szenarioverändernde“, die einen neuen Sachverhalt einführt. Bei einer szenarioerhaltenden Valenzerhöhung bildet der Sachverhalt der Grundvalenz einen Teilsachverhalt des erweiterteten Sachverhalts, bei der szenarioerhaltenden Valenzreduktion ist der reduzierte Sachverhalt ein Teilsachverhalt des Sachverhalts der Grundvalenz. Man könnte einwenden, dass jede Valenzänderung zu einer Szenarioänderung führt. Ich fasse Szenario hier als Begriff, der an lexikalisierte Lesarten gebunden ist und der zwischen außersprachlicher Situation, Lexem und Äußerungsbedeutung vermittelt. Im Falle von erwarten ist die Grundvalenz zweiwertig (Erwartender, Erwartetes) entsprechend der „kognitiven Normvariante“: x [+anim] erwartet y [-] (vgl. Kap. 5.5). In: (32)
Eine bunte Mischung aus anspruchsvoller Musik und bestem Kabarett erwartet die Besucher.
liegt ein Valenzwechsel vor, da die semantischen Restriktionen beider Ergänzungen verändert sind. Trotzdem erfolgt die Interpretation von Satz (32) auf der Grundlage der Systembedeutung von erwarten, ist aber von dieser her nicht prädiktabel. Die Subjektbelegung [-anim] bewirkt, dass das Verb nicht im Sinne der kognitiven Normvariante interpretiert werden kann. Man beachte, dass eine metaphorische Interpretation ausgeschlossen ist, da man nicht weiß, was es bedeuten könnte, dass eine bunte Mischung aus anspruchsvoller Musik und bestem Kabarett etwas erwartet. Zwar muss die Akkusativ-E jetzt auf eine Person oder Institution referieren, aber dieser Valenzwechsel gegenüber der Grundvalenz bewirkt keine konverse Lesart. Die „Erwartung“ wirkt nach wie vor vom Subjekt auf das Objekt, von dessen Referent keine Erwartung ausgesagt wird. Da auch 114
Siehe hierzu Welke (1988, 2011), Fischer (2003b: 28-30), Ágel/Fischer (2010a, 2010b).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
139
vom Subjektreferenten keine Erwartung ausgesagt werden kann, wird die abstrakte Systembedeutung als ‘bereit sein für’ interpretiert. Der die semantischen Restriktionen betreffende Valenzwechsel lässt die Anzahl und morphosyntaktische Realisierung der Ergänzungen intakt, bewirkt aber eine Veränderung des von der Grundvalenz bezeichneten Sachverhalts: Es handelt sich also um einen szenarioverändernden Valenzwechsel. In (33)
Ein Aufschwung wird dieses Jahr nicht mehr erwartet.
ist die Valenz in der Passivkonverse um eine Stelle reduziert, wofür das Partizip Perfekt verantwortlich ist.115 Diese Valenzreduktion wird deshalb als V e r b f o r m e n v a l e n z angesprochen: Verbformen im Passiv haben eine um eine Stelle verminderte Grundvalenz. Das nicht repräsentierte Argument kann durch Hinzufügen einer von-Phrase neu eingeführt werden, wobei diese bezüglich des Valenzstatus indeterminiert ist. Wird sie als Ergänzung betrachtet, so liegt gegenüber der unmarkierten Passivvalenz eine Valenzerhöhung vor. Konverse beziehen sich auf das Aktivszenario, stellen es aber als Vorgang dar.116 Wie ist diese Valenzänderung einzuschätzen? Abzuwägen ist die Änderung der Perspektive gegen den im unmarkierten Fall möglichen Rückgriff auf das Aktivszenario. Ein solcher Rückgriff ist z.B. bei intransitiv und transitiv benutzbaren Verben nicht gegeben: Aus A rollt (Vorgang) kann man nicht schließen, dass jemand oder etwas A rollt (Verursachung). Aber aus Satz (33) kann man schließen, dass jemand einen Aufschwung nicht mehr erwartet. Bei der Valenzalternation (Ágel 2000: 123) des rezessiven bzw. kausativen Typs (auch: brechen, hängen) liegt – je nachdem, ob die transitive oder intrasitive Verwendung als Grundvalenz angenommen wird – eine szenarioverändernde Valenzerhöhung bzw. Valenzreduktion vor. Beim Passiv findet die Valenzreduktion und Änderung der Perspektive einzelverbunabhängig und mit weiter existierendem Zugriff auf das Aktivszenario statt. Da es hier um Lesarten des Einzelverbs geht, ist die systematische Verschiebung der Perspektive nicht einschlägig: Sie findet innerhalb einer Lesart statt. Ich betrachte diese Valenzänderungen als szenarioerhaltend. Verbformeninduzierte Valenzänderungen werden als Perspektivierungen des mit dem Einzelverb verbundenen Szenarios gesehen. Zur Verdeutlichung der eingeführten Begrifflichkeit betrachte ich noch ein Beispiel: (34)
Victor hatte die vornehme Katzendame aus einem Fass stinkender Sardinen gefischt […] (HD: 14)
In Satz (34) liegt ein (verblasster) metaphorischer Gebrauch von fischen vor, aber was ist die Grundvalenz des Verbs und wie lässt sich daraus die Verwendung in Satz (34) ableiten? 115
116
Siehe Fischer (2003a). Wie gesagt benutze ich den eingebürgerten Terminus Konverse, ohne volle logische Konversion mit ihm zu verbinden. Eine ausführliche Diskussion des Passivs findet sich in Welke (2012). Dazu Welke (2005, 2012).
140
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Die 100 Belege einer COSMAS-Zufallsauswahl ließen sich semantisch in die unmarkiert durative wörtliche Verwendung A ‘Fische zum Verzehr fangen’ (iterative Handlung), die daraus abgeleitete, unmarkiert punktuelle Verwendung B ‘etwas aus einem Gewässer oder einer Flüssigkeit entfernen’ und auf A oder B gründende metaphorische Verwendungen C (etwa: ‘etwas sammeln’, ‘etwas (mit Schwierigkeit) aus etwas herausnehmen’; durativ oder punktuell) aufteilen. Beispiele sind: A (35) (36)
Auch durfte er fischen, frisbeespielen und vieles mehr. Gefischt wurde gestern mit zwei 80 bzw. 100 Meter langen Netzen.
B (37) (38)
Sogar ein altes Moped wurde aus dem See gefischt. Jacky fischte mit dem Löffel ein Stück Mark aus der Suppe.
C (39) (40)
Die Stadträtin fischt schnell noch ein Redemanuskript aus der Handtasche. Die US-Administration kennt nun 13 000 Agenten der ehemaligen DDR – und deutsche Dienststellen fischen weiter im trüben [sic].
Obwohl C mit 53% der Belege am frequentesten ist (s. Tab. 5.3 unten), wird die Grundvalenz in der Verwendung A lokalisiert: Mit dem isolierten Verb fischen assoziiert man die Bedeutung A, während B der Stützung durch eine einschlägige Konstruktion bedarf (Der A fischt den B aus X). Von den Satzmustern in A wird das monovalente Satzmuster als Grundvalenz identifiziert. Der Grund für diese Entscheidung ist, dass A fischt einen kompletten Kernsachverhalt bestimmt, der nicht die Frage was? provoziert. Zwar gehört zur Handlung des Fischens ein Fischender und ein Gefischtes, aber letzteres ist im Verb benannt (inneres Objekt: Fisch). Eine genauere Spezifizierung ist möglich (Noch können keine Bachforellen gefischt werden), hat aber in der Grundvalenz von fischen keine Spur hinterlassen. Meine Analyse wird durch die Häufigkeit von monovalentem fischen in A bestätigt. Anders liegen die Verhältnisse z.B. bei essen, wo eine Spezifizierung des Gegessenen im Allgemeinen von Interesse ist. Deshalb legt A isst eher die Was-Frage nahe als A fischt. Für essen kann eine divalente Grundvalenz angenommen werden (vgl. Fischer 2003b: 28). Höherwertige Verwendungen in A stellen szenarioerhaltende Valenzerhöhungen dar, etwa Der A fischt den B. Ob man Begleiter, Nutznießer, Gewässer, Ort, Instrument, Menge des Gefischten als Partizipanten in einem erweiterten Kernsachverhalt oder als Begleitumstände ansieht, ist indeterminiert. Jeweils könnte eine szenarioerhaltende Valenzerhöhung angenommen werden, da die Bestimmungen einen spezifischen Bezug auf das Fischen-Szenario aufweisen. So ist die Angabe des Gewässers nicht einfach der Ort, wo der Fischen-Sachverhalt stattfindet, sondern der Ort, auf den sich die Aktivität des Fischenden von außerhalb richtet. Aus A fischt an der Nordsee folgt A ist an der Nordsee, aber aus A fischt in der Nordsee folgt nicht, dass A in der Nordsee ist.
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
141
Der Wechsel von A nach B kann als Valenzwechsel beschrieben werden, da mit der Änderung der Bedeutung von A (Abschwächung und Aspektwandel) eine einschlägige Änderung der Valenz (einschließlich der semantischen Restriktionen für die Akkusativ-E) einhergeht. Ist der Fokus in A auf dem Fischenden und der Tätigkeit, evtl. auch auf dem Ort des Fischens, so wird in B vermehrt der gefischte Gegenstand, der jetzt variabel ist, fokussiert. Ist in A eher der Ort des Fischens von Interesse und die Extraktion aus dem Wasser impliziert, so ist in B der Elementwechsel des gefischten Gegenstandes von Interesse. Anders gesagt, das mit nehmen verbundene Satzmuster Der A nimmt den B aus X wird dem Verb fischen aufoktroyiert, das von einem unmarkiert iterativen in ein unmarkiert punktuelles Handlungsverb verwandelt wird. Der Valenzwechsel ist möglich, da die Bedeutung von fischen mit der Verwendung als punktuelles Handlungsverb kompatibel ist. Das häufigste Satzmuster in B ist Der A fischt den B aus X, was gegenüber der Grundvalenz eine szenarioverändernde Valenzerhöhung um zwei Ergänzungen darstellt. Die metaphorische Verwendung C kann auf A und auf B gegründet sein. Dies betrifft aber nicht alle Verwendungen: Die monovalente Grundvalenz eignet sich nicht zur metaphorischen Interpretation. Zumindest die Erwähnung eines weitereren Partizipanten scheint erforderlich zu sein. Die metaphorischen Verwendungen benutzen sowohl Fischen in einem Gewässer oder einer Flüssigkeit als auch in nicht-liquiden Elementen oder Behältnissen. Im ersten Fall besteht die Metaphorik darin, dass das Fischen in einem Gewässer oder einer Flüssigkeit als etwas anderes verstanden wird. Unten werden Beispiele angeführt, die auf der A-Valenz gründen, aber ein paralleles Argument ist für die B-Valenz möglich: (41)
Auch wenn sie vornehmlich in Haiders Gewässern fischen, die Lugners wollen „mit ihm zusammen die grosse [sic] Koalition sprengen“.
In Satz (41) könnte der wenn-Satz zunächst nach dem Fregeschen Prinzip unter Verwendung des Satzmusters sub adv aus A interpretiert werden und dann eine ko- und kontextuelle Reinterpretation erhalten, die weder durch das Fregesche Prinzip abgesichert ist noch der Konstruktion angelastet werden kann: Man beachte, dass die wörtliche Interpretation nicht ohne Sinn ist. Wahrscheinlicher wird aber schon die adverbiale Bestimmung in Haiders Gewässern metaphorisch als Haiders Anhängerschaft oder Haiders Themen verstanden. Das Fischen bezieht sich dann auf den Versuch, Anhänger zu gewinnen bzw. Themen zu übernehmen. Die die E-Stellen belegenden Phrasen verletzen nicht die semantischen Restriktionen der A-Valenz, wohl tut es aber ihre Interpretation. Man beachte, dass die iterative Handlung des (versuchten) Extrahierens von etwas aus seinem Element als semantischer Beitrag von fischen erhalten bleibt. Im zweiten Fall verletzen bereits die Belegungen einer oder mehrerer E-Stellen die semantischen Restriktionen der A- oder B-Valenz: (42)
Der Populist in ihnen fischt nach Wählerstimmen, der Staatsmann behauptet, an die Abschaffung des Übels per Gesetz zu glauben.
142
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Gemäß der Valenz A kann nur nach Fischen u.ä. gefischt werden, gemäß der Valenz B nur nach Gegenständlichem bzw. Materiellem. Die Belegung der Präpositiv-E mit einer abstrakten Phrase, die die semantische Restriktion von sowohl A als auch B verletzt, bewirkt eine Reinterpretation des Verbs fischen als wiederholtes (versuchtes) Sammeln. Auch in Satz (34) liegt eine metaphorische Verwendung vor. Zwar kann man eine Katze entsprechend der durch das Satzmuster sub akk dir angezeigten Bedeutung B aus einem See fischen, aber die Belegung der Direktiv-E mit aus einem Fass stinkender Sardinen bewirkt, dass das Sem ‘aus Gewässer/Flüssigkeit’ unterdrückt wird. Die Textvalenz von fischen in Satz (34) kann also in zwei Schritten aus der Grundvalenz abgeleitet werden: In einem ersten Schritt wird die Grundvalenz in A durch eine szenarioverändernde Valenzerhöhung in das frequenteste Muster von B verwandelt, dann ändert sich diese Valenz kontextuell aufgrund der Verletzung einer semantischen Restriktion unter Beibehaltung des Satzmusters („szenariogeneralisierender Valenzwechsel“). Dass Verwendungen von C tatsächlich noch als metaphorisch aufgefasst werden, kann an den verschiedentlich verwendeten Anführungszeichen gesehen werden (Dini „fischt“ Stimmen im Zentrum. Diesmal „fischt“ Holtemann den Ball), die allerdings überwiegend bei iterativem Fischen eingesetzt werden. Die Häufigkeit des C-Musters sub akk dir hat hingegen eine Verblassung der Metapher bewirkt: etwas aus etwas fischen wird regelmäßig als ‘etwas aus etwas (mit Schwierigkeit) herausnehmen’ interpretiert (vgl. Satz (34)). Es fällt auf, dass A und B eine Reihe von Passivverwendungen aufweisen, während sich die Verwendungen in C fast ausschließlich auf die viel häufigeren Aktivverwendungen von A und B stützen. C scheint eine eingeschränkte Verbformenvalenz zu besitzen. Hier liegt ein weiteres Indiz für den Primat von A und B vor. Satzmuster A ‘Fische zum Verzehr fangen’ (durativ, iterative Handlung) Der A fischt Der A geht fischen Der A geht mit B [Begleiter] fischen Der A fischt für den B [Nutznießer] Der A fischt in X [Gewässer] Der A fischt in/vor X/von X aus [Ort] Der A fischt mit X [Instr] Der A fischt Y [Menge] Der A fischt den B Der A fischt den B in X [Gewässer] Der A fischt den B ab Länge X Der A fischt auf den B in X [Ort] Gesamt
Aktiv
Passiv
6 1 2 1 2 3 1 2 1
2
1 1 2 1 1 1
1 20
9
Gesamt
8 1 2 1 3 4 3 3 1 1 1 1 29
143
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
B ‘etwas aus einem Gewässer oder einer Flüssigkeit entfernen (nicht Fische zum Verzehr)’ (punktuell) Der A fischt den B aus X [Gewässer, Flüssigkeit] 11 2 13 Der A fischt den B aus X [Gewässer, Flüssigkeit] an Y [Ort] 1 1 Der A fischt den B aus X [Gewässer, Flüssigkeit] auf Weise Y 1 1 Der A fischt den B aus X [Gewässer, Flüssigkeit] mit Y [Instr] 1 1 Der A fischt nach dem B 2 2 13 5 18 Gesamt C metaphorisch: ‘etwas sammeln’ (durativ), ‘etwas (mit Schwierigkeit) aus etwas herausnehmen’ (punktuell) etc. 9 9 Der A fischt in X [Gewässer; oft im Trüben] Der A fischt in X [Gewässer] mit Y [Instr] 1 1 Der A fischt aus X 1 1 Der A fischt den B aus X 26 1 27 Der A fischt den B von X aus 1 1 Der A fischt den B mit X [Instr] aus Y 1 1 Der A fischt den B in X [Trüben] von Y aus 1 1 Der A fischt den B für den C [Nutznießer] 1 1 Der A fischt den B dem C [Nutznießer] aus X 2 2 Der A fischt den B dem C [Nutznießer] von X aus 2 2 Der A fischt den B mit dem C [Begleiter] 1 1 Der A fischt nach dem B 1 1 Der A fischt nach dem B in X [Gewässer] 2 2 Der A fischt nach dem B in X 3 3 52 53 Gesamt A, B und C gesamt
85
15
100
Tab. 5.3: Normvarianten von fischen 117
Die szenarioverändernde Valenzerhöhung und -reduktion thematisiert den Einfluss der Konstruktion auf die Valenz. Konstruktionen besitzen nach der strukturellen Semantik abstrakte118 und nach der Konstruktionsgrammatik Goldbergs (1995, 2006) z.T. ziemlich konkrete Bedeutung. Es ist ein Eckstein der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung, dass sich Konstruktionsbedeutungen nicht immer nach dem Fregeschen Prinzip aus den Bedeutungen der Teile der Konstruktion ableiten lassen, vielmehr die Teile in ihrem Stellenwert beeinflussen können. Im Falle von Verben bedeutet dies, dass Konstruktionen ihre Valenz verändern können. Dieser Aspekt ist in der VT vernachlässigt worden, da er der Grundeinsicht der VT, dass das Verb die Konstruktion bestimmt, zu widersprechen 117
118
Die Tabelle gibt Häufigkeiten von Verwendungen an. Die Satzmuster enthalten auch einige Satzglieder, die traditionell als Angaben angesehen werden, sowie das Regens von fischen, wo dies angebracht scheint. Trotz dieser differenzierten Informationen sind einige Satzmuster vereinfacht. Siehe z.B. Willems/Coene (2006).
144
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
scheint (vgl. Welke 2011: 183). Tatsächlich tangiert die konstruktionsgrammatische Einsicht nicht den Primat des Verbs, wenn man davon ausgeht, dass Konstruktionsbedeutungen letztlich auf Lexembedeutungen fußen. Der Befund der partiellen Indeterminiertheit von Valenz und die darauf gründende Möglichkeit, Valenzrealisierungen flexibel mit der Begrifflichkeit der textuellen Valenzerhöhung und -reduktion zu beschreiben, mag an die Analysen pragmatischer Valenzbegriffe, z.B. an Storrers Konzept der Situationsvalenz119 erinnern. Die Zielrichtung ist aber eine ganz andere. Bei Storrer wird die E/A-Dichotomie eigentlich aufgehoben und der Valenzbegriff folglich aufgelöst, während die E/A-Dichotomie hier als unverzichtbar bestätigt wird: Der Valenzbegriff erfährt eine grundsätzliche Rechtfertigung. Meines Erachtens hat die pragmatische Valenz das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem die lexikalische Semantik von Vt nicht genügend von Realisierungsprozessen unterschieden wurde. Die partielle Indeterminiertheit von Valenz und textuelle Valenzerhöhung und -reduktion können als Spezialfall der „Unterspezifizierung“ (underspecification) sprachlicher Strukturen in der Relevanztheorie (Sperber/Wilson 1995) und der Dynamischen Syntax (Kempson/Meyer-Viol/Gabbay 2001) angesehen werden. Die Analyse, dass Sätze systematisch unterbestimmt sind und in die semantische Verrechnung eingehende Einheiten erst durch Implikaturen von Hörern erschlossen werden müssen, könnte für mein Valenzmodell einen verarbeitungstheoretischen Rahmen abgeben. Allerdings fehlt in der Dynamischen Syntax ein reflektiertes Valenzkonzept, weshalb dort wie in der pragmatischen Valenz die E/A-Unterscheidung nivelliert wird (z.B. in Marten 2002). Ich möchte dagegen an der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Ergänzungen und Angaben festhalten. Diese gründet sich auf die zwei Verfahren, mit denen Welt, genauer: die gedachte Welt, versprachlicht wird: die Referenz auf Gegenstände, die prototypisch von Nomina ausgeführt wird, und die Prädikation, die eine Relation zwischen verschiedenen Gegenstandsreferenten herstellt und so einen Kernsachverhalt etabliert. Es ist nun nur ein kleiner Schritt, Prädikatoren (lauf-), Teilprädikationen (in die Küche lauf-) und Prädikationen (Sie läuft in die Küche) selbst als „Gegenstände“ aufzufassen, über die wiederum prädiziert wird (schnell lauf-, schnell in die Küche lauf-, Sie läuft leider in die Küche). Dies ist, was Angaben tun: Sie sind Prädikate zweiter Stufe. Das Problem für die Grammatikbeschreibung ist, um es noch einmal zu wiederholen, dass Angaben weder eine formale Kennzeichnung ihres Prädikatsstatus tragen noch ihr Argument als ein solches ausgewiesen ist, etwa durch einen N-Marker. (Die mangelnde Kennzeichnung ist auch der Grund dafür, dass es keinen Konsens darüber gibt, ob Angaben Dependens oder Kopf sind; vgl. die divergierenden syntaktischen und semantischen Stammbäume in Welke 2012.) Indem ich die Existenz von Angaben als von Ergänzungen prinzipiell unterschiedenes sprachliches Mittel verteidige, behaupte ich eigentlich nur, dass Prädikation zweiter Stufe, also Kontextualisierung, ein reales sprachliches Verfahren ist, und zwar für das volle Inventar klassischer Angaben einschließlich situativer Phrasen. 119
Siehe Storrer (1992: 114-118, 257-293, 324).
Valenz: wie Sprache Welt erfasst
145
Abschnitt 5.6 behandelte die Thematik von Abschnitt 5.5 unter dem Blickwinkel der Valenzänderung: Die Begriffe szenarioerhaltende und szenarioverändernde Valenzänderung wurden eingeführt und an einer Reihe von korpusgestützten Analysen erläutert.
5.7
Vagheit, Familienähnlichkeit, Multidimensionalität und Prototypik
Wie funktionieren Definitionen? Im Folgenden werden eine Reihe von Konzepten diskutiert, die bei der Definition von Valenz und anderen linguistischen Begriffen eine wichtige Rolle gespielt haben, die aber m.E. durchaus klärungsbedürftig sind. Dabei erweist es sich als hilfreich, auch auf nichtlinguistische Beispiele zurückzugreifen. Im akademischen Diskurs wird nicht immer klar zwischen zwei definitionsrelevanten Phänomenen unterschieden: zwischen der Gradualität (Vagheit) von Merkmalen und der Relevanz mehrerer Merkmale (zusätzlich zu den das Genus proximum bestimmenden, also notwendigen Merkmalen), von denen keines eine notwendige Bedingung darstellt, aber beliebige oder zumindest verschiedene Kombinationen von Merkmalen eine hinreichende Bedingung (Familienähnlichkeit). Im Folgenden bedeutet Multidimensionalität lediglich, dass mehrere Merkmale (zusätzlich zu den das Genus proximum bestimmenden) definitionsrelevant sind. Darüber, ob diese Merkmale trennscharf oder graduell sind, ist nichts ausgesagt. Auch kann Multidimensionalität in klassischen Definitionen vorliegen, d.h. Multidimensionalität ist weder an Familienähnlichkeit noch an Prototypik gebunden. Einige Definitionsbeispiele mögen die Begriffe verdeutlichen:120 Definition 1
Ein Fisch (Definiendum) ist ein Wirbeltier (Genus proximum), das durch Kiemen atmet (differentia specifica).
Die Definition ist unidimensional: Sie benutzt nur ein unterscheidendes Merkmal. Durch die Wahl eines unterschiedlichen „Genus proximum“ kann sie in eine multidimensionale Definition verwandelt werden: Definition 2
Ein Fisch ist ein Tier (Genus proximum), das sowohl eine Wirbelsäule besitzt (differenzierendes Merkmal 1) als auch durch Kiemen atmet (differenzierendes Merkmal 2).
Definition 2 ist multidimensional.
120
Man beachte, dass es ums Prinzip geht, die Beispiele also nur illustrativen Charakter haben. Experten mögen bessere Definitionen benutzen. „Genus proximum“ wird hier nicht ganz korrekt einfach nur als „übergeordneter Begriff“ betrachtet.
146
Satzstrukturen im Deutschen und Englischen
Familienähnlichkeit Eine multidimensionale Definition kann Familienähnlichkeitscharakter haben: Definition 3
Ein Fahrzeug ist ein Fortbewegungsmittel (Genus proximum), das rollt (differenzierendes Merkmal 1) oder gleitet (differenzierendes Merkmal 2).
Beide differenzierenden Merkmale sind jeweils hinreichend, keines ist notwendig. Der Begriff der Familienähnlichkeit geht auf Wittgensteins Diskussion des Gebrauchs von Wörtern zurück und betrifft normalerweise mehr als zwei Dimensionen. So wie Familienmitglieder einander ähneln können, ohne dass alle ein gemeinsames Merkmal aufweisen – etwa A und B haben eine kurze Nase, B und C ein langes Kinn, C und A hohe Wangenknochen – so seien die den Gebrauch von Wörtern leitenden Sprachregeln nicht unbedingt mit klassischen Definitionen erfassbar. Wittgenstein benutzt das Wort Spiel (im Sinne von spielen) als Beispiel. Tabelle 5.4 zeigt, was er meint.
Gewinnen Glück Mannschaft mehrere Spieler Witz
Mensch-ärgeredich-nicht + + – + –
Schach
Fußball
+ – – + –
+ – + + –
Patience (+) + – – –
Konsequenz – (+) – + +
Tab. 5.4: Merkmalsverteilung für eine Reihe von Spielen
Wie man sieht, gibt es kein Merkmal, das alle aufgeführten Spiele besitzen. Die Merkmalszuschreibung orientiert sich daran, wie das Spiel konstruiert ist. Natürlich kann Glück beim Schach eine Rolle spielen (wenn der Gegenspieler untypischerweise etwas übersieht), aber das macht Schach nicht zu einem Glücksspiel. Natürlich spielt auch Können beim Mensch-ärgere-dich-nicht eine Rolle, aber das Spiel basiert wesentlich auf dem Zufallsereignis des Würfelwurfs. Das Gewinnen einer Patience geschieht gegen die Kartenverteilung, nicht gegen einen Gegner. Der Wert für das Merkmal Gewinnen ist deshalb in Klammern gesetzt. (Vielleicht würde man eher davon sprechen, dass man die Patience geschafft oder zu Ende gebracht hat.) Konsequenz ist ein Malspiel, bei dem die Spieler für die anderen nicht einsehbar einen Kopf auf ein Blatt Papier malen, dann das Blatt umknicken und weiterreichen, damit der nächste Spieler einen Hals malt, usw. Das Ziel ist die zufällige Produktion inkongruenter und deshalb komischer Figuren. Man kann nun sagen, dass Mensch-ärgere-dich-nicht ein Spiel ist, weil es auf Glück basiert und Gewinnen zum Ziel hat, Schach ein Spiel ist, weil es auf Können basiert und Gewinnen zum Ziel hat, Konsequenz ein Spiel ist, weil es eine gemeinsame Aktivität (‘mehrere Spieler’) darstellt und zum Lachen (‘Witz’) anregt, usw. Natürlich könnte es andere, hier nicht berücksichtigte Merkmale geben, die Spiel in einer klassischen Definition von anderen menschlichen Tätigkeiten abgrenzen. Es mag aber zu denken geben, dass offensichtliche Kandidaten wie regelgeleitet auf viele menschliche Tätigkeiten zutreffen (jede Vereinssitzung ist regelgeleitet) und deshalb bes-
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ser im Genus proximum (regelgeleitete Tätigkeit) aufgehoben sind (zugleich beschränkt dies Spiel auf etablierte Spiele). Das Spiel als Selbstzweck ist ebenfalls zu eng, da vieles, was Menschen tun, in diesem Sinne Selbstzweckcharakter hat, z.B. Hobbys. Außerdem können viele Spiele professionell betrieben werden. Wittgenstein war der Ansicht, dass viele Wörter bzw. Begriffe nach dem Familienähnlichkeitsprinzip funktionieren, z.B. Wissenschaft. Eine auf Familienähnlichkeit beruhende Definition nennt man eine disjunkte Definition, da die Anwendung eines Begriffes durch verschiedene Merkmalskombinationen legitimiert wird, die Definition also nicht ohne Merkmalsdisjunktion auskommt. Vagheit Bisher waren alle diskutierten Merkmale trennscharf: Entweder ein Lebewesen ist ein Tier oder nicht, entweder ein Tier hat eine Wirbelsäule oder nicht bzw. entweder ein Tier atmet durch Kiemen oder nicht, entweder ein Spiel basiert auf Glück oder nicht, usw. Bekanntlich setzt dies eine gewisse Naivität gegenüber der Realität voraus: Die Einordnung gewisser Einzeller als Tiere oder Pflanzen mag Schwierigkeiten bereiten, gewisse Tiere mögen sowohl durch Kiemen als auch durch Lungen atmen oder es mag unklar sein, ob Knochen eine Rückbildung einer Wirbelsäule darstellen. Auf derartige Probleme wird mit einer Revision der Definition geantwortet, in der Biologie heute etwa durch genetische Absicherung. Es gibt aber auch Merkmale, die von vornherein nicht trennscharf, sondern graduell sind: heiß etwa erlaubt einen fließenden Übergang zu warm und kalt (ohne dass man deshalb den Unterschied zwischen ‘heiß’, ‘warm’ und ‘kalt’ leugnen möchte zugunsten des Genus proximums Temperatur), rot besitzt wie alle Farben feine Abstufungen zu anderen Farben, im Falle von Rot sind dies Orange und Violett. Definitionen können also trennscharfe oder graduelle Merkmale benutzen. Prototypik Prototypik kann nun sowohl auf Familienähnlichkeitsbegriffen wie Spiel (Prototypik1) als auch auf graduellen Begriffen wie rot (Prototypik2) beruhen. Ich beginnen mit ersterem. Spiele, die viele relevante Merkmale besitzen, mögen prototypischer sein als Spiele, die wenige relevante Merkmale aufweisen: So sind Mensch-ärgere-dich-nicht, Fußball und Schach sicher prototypischer als Patience. Da das Merkmal ‘mehrere Spieler’ fehlt, könnte man Patience für weniger „spielhaft“ halten als Mensch-ärgere-dich-nicht, Fußball oder Schach. Aber hier ist Vorsicht geboten: Auf die Frage nach typischen Kartenspielen könnte jemand antworten: Skat, Doppelkopf, Patience. Letzteres könnte also durchaus als typisches Kartenspiel angesehen werden und Konsequenz ist, obwohl es gewisse typische Merkmale vermissen lässt, sicher ein prototypisches Kindergeburtstagsspiel. Außerdem ist Prototypik wohl weniger merkmalsabhängig als durch das bestimmt, was wir kennen bzw. häufig sehen oder tun: So ist Fußball in Deutschland ein prototypischeres Spiel als Rugby, Schach in Europa ein prototypischeres Spiel als Go,
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usw. Aber auch hier ist Vorsicht geboten: Wer jeden Abend einige Patiencen legt, mag Patience für ein prototypisches Spiel halten. Und ein mangels Bekanntschaft nicht prototypisches Spiel ist nicht weniger Spiel als ein prototypisches. Nur aufgrund des Fehlens relevanter Merkmale kann es einen abgestuften Übergang zu Nicht-Spielen geben. Die auf Gradualität beruhende Prototypik2 funktioniert anders: Ein prototypisches Rot liegt nahe dem begrifflichen Zentrum, das in diesem Fall ein Resultat der Wellenlänge ist, auf die die Rezeptoren in unseren Augen ansprechen (dies ist sprach- und kulturunabhängig). Ein wenig protoypisches Rot ist auch wenig rot. Wie wenig, ist allerdings nun sprach- und kulturabhängig: Besitzt eine Sprachgemeinschaft nur wenige Farbbegriffe, z.B. Schwarz, Weiß, Rot, Gelb, Blau und Grün, werden Zwischentöne im Spektrum den existierenden Begriffen zugeordnet, etwa Teile des Orange- und Violettbereichs als marginales Rot klassifiziert. Nach dieser Vorbereitung können nun Definitionen von Valenz betrachtet werden: Eine klassische Definition liegt z.B. bei Engel (1994; Kommentare in Klammern K.F.) vor: Definition 1 bzw. bzw.
Eine Ergänzung ist ein von einer Subklasse des Regens (differentia specifica) abhängiges Glied (genus proximum). Ergänzungen sind subklassenspezifische Glieder (Engel: 1994: 99). Valenz ist wort-subklassenspezifische (differentia specifica) Rektion (genus proximum) (Engel 1994: 314).
Eine multidimensionale Definition entsteht, wenn Engel das Kriterium Obligatorik hinzuzieht (1994: 308): Definition 2
Eine Ergänzung ist ein syntaktisches Glied, das nur von einer Wortsubklasse abhängen kann (Merkmal 1) oder aber obligatorisch von einem Element abhängt (Merkmal 2).
Die Definition definiert – technisch gesehen – einen Familienähnlichkeitsbegriff, da es keine spezifische Differenz gibt, die auf das Definiendum uneingeschränkt zutrifft. Ergänzungen, die sowohl differenzierendes Merkmal 1 als auch differenzierendes Merkmal 2 auf sich vereinen, können als prototypisch1 gelten. Dies heißt nicht, dass nicht-prototypische Ergänzungen keine vollwertigen Ergänzungen sind. Bemerkenswert ist, dass beide Merkmale mit explizitem Bezug auf das das Genus proximum bildende Merkmal, also darauf, abhängiges Glied zu sein, bestimmt werden, obwohl dies nur für Merkmal 1 erforderlich ist. Dadurch entsteht der Eindruck, dass nur eine Dimension vorliegt. Engel hat klar gesehen, dass die Definition eines Familienähnlichkeitsbegriffes keine befriedigende Begriffsklärung darstellt. Es liegt ja entweder eine Begriffsauflösung vor: Valenz ist ein Epiphänomen der zugrundeliegenden Merkmale, oder die Definition erfasst nicht den eigentlichen Begriffsinhalt, d.h. sie ist nur ein technisches Hilfsmittel. Um dieser Alternative zu entgehen, hat Engel immer Subklassenspezifik als das eigentliche Kriterium betrachtet, während Obligatorik im Grunde nicht relevant ist. Dies bedeutete aber, dass er versuchen musste, Definition 1 so auszuweiten, dass Subklassenspezifik alle Ergänzungen erfasst und so wieder eine klassische Definition entsteht (1994: 99-100):
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Bei wohnen und wenigen (freilich häufig gebrauchten) anderen Verben ist die Ortsbestimmung also obligatorisch. Wir können diesen Befund in die oben formulierte Definition einbringen, indem wir sagen, daß auch hier Subklassenspezifik vorliegt. Subklassenspezifisch ist hier allerdings nicht die Art der Ergänzung, sondern die Art ihrer Beziehung zum Regens.
Engels Versuch, einen multidimensionalen Valenzbegriff zu vermeiden, ist problembewusst und instruktiv. Im Effekt führt er aber zwei Begriffe von Subklassenspezifik ein: 1. distributionell und 2. auf Obligatorik beruhend. Freilich hat Engel Recht, dass, sobald die Ergänzungen gegeben sind, sie an Subklassen von Verben gebunden sind. Dies stellt aber eine Beschreibung von Valenz dar, nicht eine Definition: Eine einheitliche Entdeckungsprozedur mittels Subklassenspezifik scheidet damit aus. Eine Reihe von Forschern betrachtet Valenz als graduelles Phänomen. So hat z.B. Heringer (1984a, 1986; s.a. Ágel 2000: 207-211) in Tests die Assoziation von Satzgliedklassen (Formklassen) mit Verben eruiert. Die Testergebnisse sind qua Testmethode graduell (Zeit bis zur Nennung einer Ergänzung und Häufigkeit der Nennung). Aber Heringer geht einen Schritt weiter und interpretiert die Testergebnisse als Indizien für die semantischpragmatische Nähe einer Satzgliedklasse zu einem individuellen Verb, in der sich die Präsupponiertheit von Partizipanten in perspektivierten kognitiven Szenen, die von dem individuellen Verb aufgerufen werden, ausdrückt. Heringer hat dies nicht zu einer (unidimensionalen) Definition benutzt, aber man könnte dies um des Arguments willen tun: Definition 3
Valenz ist ein in einem Assoziationstest zu ermittelnder hoher Grad von semantisch-pragmatischer Nähe von Formklassen zum Einzelverb, die auf Präsupponiertheit der Referenten der Formklassen in der vom Verb aufgerufenen perspektivierten Szene beruht.
Ein derartiger Valenzbegriff sieht keinen qualitativen Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben, nur einen quantitativen. Er muss keinen Verzicht auf eine Unterteilung, hier Zweiteilung, bedeuten – man vergleiche die Ausführungen zu heiß, warm und kalt oben. Schließlich ist es klar, dass ein hoher semantisch-pragmatischer Bindungswert Ergänzung bedeutet und ein niedriger Angabe.121 Eine exakte Grenzziehung ist natürlich 121
Aus zeitlicher Distanz betrachtet scheint mir Heringers Forschungsinteresse ein mehrfaches gewesen zu sein: Er wollte erstens den Valenzansatz, in den er ja auch erhebliche Energie investiert hatte, rechtfertigen. Dies wollte er tun, indem er zweitens einen empirischen Zugang zur Valenz schaffte, der den intuitiven Valenzbegriff bestätigt (Ergänzungen sind stark, Angaben schwach präsupponiert, d.h. Ergänzungen haben hohen, Angaben niedrigen Assoziationsgrad). Drittens wollte er im Rahmen des Szenengedankens den semantisch-pragmatischen Aspekt von Valenz betonen und sich viertens vor allem auch aus dem Gestrüpp der E/A-Abgrenzungsdiskussion befreien. Letzteres schien ihm nur möglich, indem er Valenz als graduelles Phänomen präsentierte. Gradualität ist aber bereits in der Messmethode angelegt: Natürlich waren keine einheitlichen Werte zu erwarten, etwa ein einheitlich hoher Wert für alle Ergänzungen, und ein einheitlich niedriger Wert für alle (erfragbaren) Angaben. Eine Interpretation der Ursachen für die Testergebnisse wird je nach Valenzbegriff Valenz nur als einen Faktor neben anderen (morphosyntaktische Perspektiviertheit, Vorkommenshäufigkeit) identifizieren. Bemerkenswert scheint mir an den Testergebnissen vor allem der eindeutige Sprung zwischen den E- und A-Werten, der überraschenderweise von Heringer nicht zu einer Argumentation
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einigermaßen willkürlich. Formklassen mit besonders hohem Bindungswert können nun als prototypische2 Ergänzungen gelten, Formklassen mit niedrigerem Bindungswert sind weniger „ergänzungshaft“ bzw. valenzgebunden. Ein gradueller Valenzbegriff ist also nicht mit Tesnières Idee der strukturalen Gleichstellung der Ergänzungen vereinbar. Multidimensionales Valenzmodell Insbesondere seit Jacobs’ Plädoyer für voneinander unabhängige Begleiter-Bindungsbeziehungen (1994) beherrschen multidimensionale Valenzmodelle die Valenzszene. Diese fassen Valenz als Familienähnlichkeitsbegriff auf, was an dem multidimensionalen Modell in Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997) demonstriert werden soll. Es geht hier nur um das Prinzip, nicht um eine Würdigung der zweifellosen Verdienste des Modells, insbesondere in der Bestimmung der Form-Inhalt-Beziehungen (s. Kap. 5.3). Zifonun/Hoffmann/Strecker identifizieren vier Formrelationen (Fixiertheit, Rektion, Konstanz, Kasustransfer), zwei Bedeutungsrelationen (Sachverhaltsbeteiligung122, Perspektivierung), sowie ein einstelliges Prädikat, das die Form-Inhaltsbeziehung betrifft: autonome Kodierung. Eine kurze Erläuterung muss hier genügen. Fixiertheit (FIX) entspricht von einem Vt bewirkte Notwendigkeit/Obligatheit (ebd.: 1031-1033): (43) (43a) (44) (44a) (45) (45a)
Sie belügt ihren Freund. *Sie belügt. Sie verzichtet auf das Konzert. Sie verzichtet. Sie liest ein Buch. Sie liest.
Für Satz (43a) gibt es kaum kontextuelle Bedingungen, unter denen der Satz möglich wäre. Deshalb ist die Akkusativ-E von belügen stärker fixiert als die Präpositiv-E in Satz (44): Satz (44a) ist möglich, wenn der Gegenstand des Verzichtes bekannt ist. Diesen Unterschied erfassen Zifonun/Hoffmann/Strecker mit einem graduellen Fixiertheitsbegriff: Die Akkusativ-E in Satz (43) ist ++FIX, die Präpositiv-E in Satz (44) +FIX. Die Akkusativ-E in Satz (45) ist –FIX, da Satz (45a) verwendet werden kann, ohne dass bekannt ist, was sie liest. Gradualität muss also nicht einen allmählichen Übergang erlauben wie bei heiß und rot oben: Auch ein abgestufter (inkrementeller) Übergang kann als graduell betrachtet werden. Man beachte, dass noch viel mehr Fixiertheitsabstufungen definiert werden können, wenn zusätzliche relevante Kontexte (Kontrast, Modalisierung, generelle Aussage etc.) berücksichtigt werden (vgl. Welke 2011: 136f.). Rektion (REKT) im engeren Sinne betrifft die Festlegung eines Kasus durch einen Vt: (46) Sie beschreibt ihre Wohnung. (46b) *Sie beschreibt ihrer Wohnung. gegen eine graduelle Auffassung von Valenz benutzt wird. Dies mag aus methodischer Vorsicht geschehen sein. Es könnte aber auch eine Fixierung auf den Gradualitätsgedanken vorgelegen haben. 122 Die zu Sachverhaltsbeteiligung komplementäre Relation Sachverhaltskontextualisierung ignoriere ich hier.
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Konstanz (KONST) betrifft die Festlegung einer Präposition durch einen Vt: (47) Er ärgert sich über die Entscheidung. (47a) *Er ärgert sich unter/auf/mit etc. die/der Entscheidung
Zifonun/Hoffmann/Strecker haben KONST als eigene Rektionsbeziehung (im weiteren Sinne) angesprochen, da die Relation nicht genauso wie REKT operationalisierbar ist: (48)
Er ärgert sich wegen der Entscheidung.
Um Satz (48) nicht als Gegenbeispiel zur Festlegung der Präposition über durch den Vt sich ärgern oder wegen als Kandidaten für eine feste Präposition anzuerkennen, muss auf semantisches Wissen zurückgegriffen werden: Es genügt hier nicht festzustellen, dass wegen der Entscheidung im Gegensatz zu über die Entscheidung autosemantisch oder autokodierend (AUTOKOD, s.u.) ist, da dies im markierten Fall auch für KONST gelten kann (kämpfen für). Rektion (im weiteren Sinne) setze vielmehr „die Idee einer bestimmten Kodierungsleistung ‚nach Art von Komplementen‘ voraus“ (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1035). Außerdem ist KONST mit begrenztem Austausch bedeutungsverwandter, aber nicht synonymer Präpositionen vereinbar (leiden an/unter, kämpfen für/gegen). Kasustransfer (TRANSF) betrifft die Festlegung des Kasus einer präpositional regierten Phrase in Abhängigkeit vom Vt: (49) (50)
Sie sitzt auf dem Stuhl. Sie setzt sich auf den Stuhl.
Die Formrelationen sind unabhängig voneinander, außer dass REKT und KONST sowie REKT und TRANSF jeweils komplementär sind. Sachverhaltsbeteiligung (BET) bedeutet, dass der Referent einer Phrase an der Konstitution des vom Vt entworfenen Sachverhalts beteiligt ist: (51)
Er wohnt jetzt in Köln.
Die Bedeutung von wohnen verlangt einen Wohnenden und einen Wohnort, um einen Wohnen-Sachverhalt zu konstituieren. Ein Zeitbezug ist in der Bedeutung von wohnen nicht angelegt, aber ist aufgrund unseres Weltwissens impliziert. Perspektivierung (PERSP) betrifft das In-den-Vordergrund-Rücken eines Sachverhaltsbeteiligten aufgrund der Bedeutung des Vt: (52) (53)
Er hat den Wagen gestern mit einem Scheck bezahlt. Er hat viel zu viel für den Wagen bezahlt.
Stark perspektiviert (++PERSP) sind der Bezahler und der bezahlte Gegenstand in Satz (52) und der Bezahler und das Preismaß in Satz (53), schwach perspektiviert (+PERSP) sind die restlichen Sachverhaltsbeteiligten (das Zahlungsmittel in Satz (52), der bezahlte Gegenstand in Satz (53)). Nicht perspektiviert (–PERSP) ist die Zeitbestimmung in Satz (52). Mit anderen Worten: In Satz (52) geht es primär um den Bezahler und den bezahlten Gegenstand, in Satz (53) um den Bezahler und das Preismaß. Zifonun/Hoffmann/Stre-
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cker sehen PERSP als „eher pragmatisches Konzept“ (ebd.: 1038), da verschiedene Beteiligtenrollen durch individuelle Vt in den Vordergrund gerückt werden. Wie bei FIX könnten für PERSP weitere inkrementelle Gradierungen angenommen werden, die der Kasushierarchie folgen (sub