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German Pages 283 [285] Year 2013
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 285 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:
Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Hendrik Albrecht
Die Streitsache im deutschen und englischen Zivilverfahren
Mohr Siebeck
Hendrik Albrecht, geboren 1985; Studium der Rechtswissenschaften und des europäi schen Rechts an der Universität Würzburg und der University of Bristol; 2011 Kollegiat des Internationalen Max-Planck Forschungskollegs für vergleichende Rechtsgeschichte in Frankfurt; 2012 Promotion; seit Dezember 2011 Referendariat am Hanseatischen Oberlandesgericht.
e-ISBN PDF 978-3-16-152389-2 ISBN 978-3-16-152342-7 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Diese Arbeit wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Würzburg im Sommersemester 2012 als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 14. Juni 2012 statt. Berücksichtigt habe ich Literatur bis September 2012. Herzlich danke ich meinem Doktorvater, Herrn PD Dr. Steffen Schlinker, der meine Arbeit mit großem Einsatz und steten fachlichen Gesprächen betreut hat. Frau Prof. Dr. Anja Amend-Traut bin ich sehr dankbar für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, danke ich für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Das Europäische Rechtszentrum der Universität Würzburg hat die Veröffentlichung der Arbeit durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert. Den Vorsitzenden des Internationalen Max-Planck Forschungskollegs für vergleichende Rechtsgeschichte, Herrn Prof. Dr. Thomas Duve und Herrn Prof. Dr. Guido Pfeifer, den Kollegleitern sowie den Kollegiatinnen und Kollegiaten danke ich für ihre kritischen Hinweise. An das wöchentliche Seminar in Frankfurt denke ich gerne zurück. Die Konrad-AdenauerStiftung hat mich durch ein Promotionsstipendium gefördert. Dafür und vor allem für die studienbegleitenden Veranstaltungen der Stiftung bin ich sehr dankbar, denn die Begegnung mit Kommilitoninnen und Kommilitonen unterschiedlicher Fachrichtung und Lebensauffassung hat mich inspiriert und das Studium sehr bereichert. Zum Gelingen meiner Promotion haben die Herren Christoph Bravidor und Cornelius Held durch fachlichen wie freundschaftlichen Rat beigetragen. Frau Anna Hauer und Herr Manfred Wolf haben mir geholfen, formale Fehler und inhaltliche Widersprüche im Manuskript aufzudecken. Frau Kristina Hogh hat mich in grammatikalischen Fragen der englischen Sprache beraten. Herr Johannes Bravidor hat mir durch seine Gastfreundschaft einen Forschungsaufenthalt am Institute of Advanced Legal Studies der University of London ermöglicht. Ihnen allen danke ich sehr.
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Vorwort
Nicht nur bei dieser Arbeit, sondern auf meinem gesamten Lebensweg haben mich meine Eltern mit ganzem Herzen begleitet. Dank ihrer Hilfe konnte ich die Weichen für meine Promotion stellen. Meine Verlobte Karoline Buck hat mit ihrem Optimismus und ihrer ansteckenden Fröhlichkeit dafür gesorgt, dass ich mit Elan bei der Sache geblieben bin. Ich widme die Arbeit meinen Brüdern; sie haben mich zu dem gemacht, der ich bin. Hamburg, Dezember 2012
Hendrik Albrecht
Inhaltsübersicht Einleitung .................................................................................... 1 I. Gegenstand und Methode dieser Arbeit ............................................... 1 II. Zur Begrifflichkeit ............................................................................... 3 III. Forschungsstand ................................................................................... 4
Kapitel 1: Regeln für die Streitfestlegung vor Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen ........................... 7 I. II. III. IV.
Inhalt der Klage und Streitfestlegung im gemeinen Prozess ................ 7 Formularmäßige Streitfestlegung im früheren common law ............... 18 Zweigleisiges englisches Verfahren durch das Recht der equity ........ 38 Vergleich der Regeln zur Streitfestlegung vor den Verfahrensvereinheitlichungen im 19. Jahrhundert ............... 47
Kapitel 2: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung des Zivilverfahrens im 18. und 19. Jahrhundert ..... 70 I. Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland .................................... 70 II. Gesetzliche Reformschritte im englischen Recht ............................... 85 III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen ...........................................100
Kapitel 3: Festlegung der Streitsache im vereinheitlichten Zivilverfahren ......................................................105 I. Deutsche Streitgegenstandslehren .....................................................105 II. Elemente der englischen Streitsache .................................................130 III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik der Streitsachenfestlegung ................................................................161 IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache ................................................173
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Inhaltsübersicht
Kapitel 4: Bedeutung der Streitsache als Abgrenzungswerkzeug im vereinheitlichten Zivilverfahren .....186 I. Problemkonstellationen im deutschen Zivilverfahren .......................187 II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen ................................188
Kapitel 5: Verhältnis zur europarechtlichen Abgrenzung der Streitsache .....................................................................................224 I. Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt ...............................225 II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH ....................................228 III. Vergleich der deutschen und englischen Lehren mit der Kernpunktlösung...................................................................232 IV. Ergebnis ............................................................................................240
Schlussfolgerungen: Von der strengen Klageformel zur sachverhaltsgeleiteten Streitsache ............................................242 Summary: The road from forms of action to a subject matter of litigation based on facts ..................................250 Literaturverzeichnis .................................................................................255 Sachregister .............................................................................................263
Inhaltsverzeichnis Vorwort ……………………………………………………………………..V Inhaltsübersicht ....................................................................................... VII Abkürzungen ........................................................................................ XVII
Einleitung ................................................................................................ 1 I.
Gegenstand und Methode dieser Arbeit ............................................... 1
II. Zur Begrifflichkeit ................................................................................ 3 III. Forschungsstand .................................................................................. 4
Kapitel 1: Regeln für die Streitfestlegung vor Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen ........................... 7 I.
Inhalt der Klage und Streitfestlegung im gemeinen Prozess ................ 7 1. Entwicklungslinien der gemeinrechtlichen Klageerhebung ............ 7 2. Inhalt der Klage ............................................................................ 10 a) Hauptbestandteile der gemeinrechtlichen Klage ....................... 10 b) Ableitung des Rechtsgrundes aus Lebenssachverhalt und Antrag ................................................................................ 13 3. Festlegung des Streitpunktes durch die Einlassung des Beklagten ................................................................................ 15 4. Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung.......................... 17
II. Formularmäßige Streitfestlegung im früheren common law .............. 18 1. Herausbildung des „gemeinen“ englischen Rechts ....................... 18 2. Prägung durch das System der writs ............................................. 21 a) Definition des writ .................................................................... 21 b) Bedeutung für das common law ................................................ 21 (1) Klageeinleitung ................................................................... 22 (2) Auswahl der Verfahrensordnung ......................................... 23
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Inhaltsverzeichnis
(3) Anerkennung materieller Rechtsregeln ................................ 25 c) Entwicklung des writ-Systems .................................................. 27 3. Streitbestimmung durch die Technik der pleadings ...................... 30 a) Entstehung der pleadings .......................................................... 30 b) Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung mittels der issues .................................................................................. 32 c) Zusammenspiel der Parteivorträge ............................................ 33 d) Bedeutung für die Präzisierung materieller Rechtsregeln ......... 35 e) Übergang von mündlichen zu schriftlichen pleadings .............. 36 f) Einfluss auf den Streitstoff des trial .......................................... 38 III. Zweigleisiges englisches Verfahren durch das Recht der equity ........ 38 1. Aufstieg der chancery zum Gerichtshof ........................................ 39 2. Begründung des eigenständigen Rechtszweiges der equity ........... 41 3. Streitbestimmung der equity im Vergleich zum common law ....... 44 IV. Vergleich der Regeln zur Streitfestlegung vor den Verfahrensvereinheitlichungen im 19. Jahrhundert .............. 47 1. Klageinhalt und Streitfestlegung ................................................... 47 a) Gemeiner Prozess und common-law-Prozess ............................ 48 (1) Verhältnis der Klageelemente Sachverhalt, Antrag und Rechtsgrund .................................................................. 48 (2) Konkretisierung des Streits durch Einlassung des Beklagten ...................................................................... 50 (3) Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsfragen .............. 53 b) Gemeiner Prozess und equity-Verfahren ................................... 53 2. Abgrenzung der Streitsache .......................................................... 56 a) Gemeinrechtliche Prozesslehre des 19. Jahrhunderts ................ 56 (1) Römische actio als Ausgangspunkt ..................................... 56 (2) Bedeutung der actio in der gelehrten Literatur des 19. Jahrhunderts ............................................................ 57 (3) Abgrenzung von Klagen durch die res zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen ...................................... 60 b) Common-law-Verfahren ........................................................... 62 c) Equity-Verfahren ...................................................................... 65 3. Schlussfolgerungen für das Rechtsdenken .................................... 67
Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 2: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung des Zivilverfahrens im 18. und 19. Jahrhundert ..... 70 I.
Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland .................................... 70 1. Partikularrechtliche Abgrenzungen gegenüber dem gemeinen Prozess .................................................................. 70 a) Inhalt der Klage ........................................................................ 73 (1) Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 ............................. 73 (2) Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 .............................................................................. 74 (3) Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850 ..................................... 78 b) Regulierung der Streitpunkte .................................................... 80 c) Vergleich mit der gemeinrechtlichen Klage .............................. 82 2. Rechtsvereinheitlichung durch Prozesskonferenzen ..................... 84
II. Gesetzliche Reformschritte im englischen Recht ................................ 85 1. Beweggründe für eine Reform des Zivilverfahrens....................... 86 a) Gesellschaftspolitische Herausforderungen durch die Industrielle Revolution ....................................................... 86 b) Kodifikationsimpulse durch die Lehren Jeremy Benthams ....... 86 c) Reformbedürftigkeit des Rechtsbetriebs ................................... 87 (1) Common law ........................................................................ 87 (2) Equity .................................................................................. 91 (3) Umgehung des Aktionensystems durch Fiktionen im common law .................................................................... 92 2. Vorarbeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts .................. 93 a) Uniformity of Process Act 1833................................................ 94 b) Common Law Procedure Act 1852 ........................................... 95 c) Common Law Procedure Act 1854 ........................................... 96 d) Court of Chancery Procedure Act 1852 .................................... 96 3. Grundlegende Reformierung durch die Judicature Acts 1873–1875 ..................................................... 97 a) Vereinfachung der Gerichtsverfassung ..................................... 97 b) Anwendung des gesamten materiellen Rechts .......................... 98 c) Festlegung einer modernen Verfahrensordnung ........................ 99 III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen ..........................................100 1. Motivation für Reformen .............................................................100 2. Konzepte der Verfahrensgestaltung .............................................102
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 3: Festlegung der Streitsache im vereinheitlichten Zivilverfahren .............................................. 105 I.
Deutsche Streitgegenstandslehren ....................................................105 1. Gesetzliche Ausgangslage ...........................................................105 a) Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung .....................105 b) Inhalt der Klage .......................................................................109 2. Entwicklung vom Klagerecht zum eigenständigen prozessualen Anspruch ................................................................111 a) Anerkennung eines eigenständigen materiellen Anspruchs durch Windscheid ....................................................................111 b) Anspruchsbegriff der Reichscivilprozeßordnung von 1877 .....113 c) Herausbildung eines eigenständigen prozessualen Anspruchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts .............................................115 3. Kontrast zwischen materiellen und prozessualen Ansätzen in der deutschen Streitgegenstandslehre .......................................117 a) Neue materiellrechtliche Ansätze.............................................118 b) Prozessuale Ansätze ................................................................119 c) Ansicht der Rechtsprechung ....................................................120 4. Relativierungstendenzen in den deutschen Lehrmeinungen .........121 a) Nach Klageart ..........................................................................122 b) Nach Prozessmaximen .............................................................122 c) Nach Verfahrensstadium ..........................................................122 d) Nach Verfahrensökonomie und Parteiinteressen ......................123 5. Status quo der heutigen deutschen Streitgegenstandsdebatte .......123 a) Überwiegende Kritik an den materiellrechtlichen Ansätzen ....124 b) Verhältnis der prozessualen Theorien untereinander ...............125 c) Vermittlungsbemühungen zwischen der herrschenden prozessualen Einheitslehre und ihren Kritikern .......................127
II. Elemente der englischen Streitsache .................................................130 1. Gesetzliche Grundlage des englischen Zivilverfahrens ................130 2. Inhalt des klageeinleitenden Formulars .......................................133 a) Judicature Act 1875 .................................................................133 b) Rules of Supreme Court 1965 ..................................................135 c) Civil Procedure Rules 1998 .....................................................136 3. Regeln zur Präzisierung des Streits in den vorbereitenden Schriftsätzen .................................................138 a) Funktion der modernen pleadings ............................................139 b) Ablauf des Schriftsatzwechsels................................................140 c) Vortrag der wesentlichen Tatsachen ........................................142 (1) Auswirkung auf die Gestaltung der Schriftsätze .................142
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(2) Inhalt der Klagebegründung zur Bestimmung der cause of action ..............................................................143 (3) Zusammenspiel von Klage und Klageerwiderung zur Bestimmung der issues .................................................146 d) Bezugnahme auf die materielle Rechtslage..............................149 e) Beweisanführungen..................................................................153 f) Einschränkung der Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung ..................................................................154 4. Bedeutung des trial ......................................................................157 III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik der Streitsachenfestlegung ................................................................161 1. Aufbau des reformierten Verfahrens ............................................161 2. Mechanismen der Streitfestlegung ...............................................164 a) Klageeinleitung ........................................................................164 b) Gestaltung der Klagebegründung .............................................165 c) Schlüssigkeit oder Identifizierbarkeit der Klage ......................168 d) Gebot frühzeitigen Vorbringens...............................................169 3. Parteiherrschaft und richterliche Lenkung ...................................170 IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache ................................................173 1. Präzisierungsbedarf im Zuge der Verfahrensreformen .................173 2. Bedeutung des klägerischen Antrags ...........................................175 3. Bedeutung des Sachverhalts ........................................................177 a) Verhältnis zu den Tatbestandsvoraussetzungen materieller Berechtigungen ......................................................177 b) Verhältnis zum Antrag .............................................................182 4. Ergebnis .......................................................................................184
Kapitel 4: Bedeutung der Streitsache als Abgrenzungswerkzeug im vereinheitlichten Zivilverfahren .....186 I.
Problemkonstellationen im deutschen Zivilverfahren .......................187 1. Änderung der Klage .....................................................................187 2. Zeitgleiche Verhandlung derselben Sache an mehreren Gerichten .................................................................187 3. Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren .....................187 4. Sicherung des Urteilsinhalts ........................................................188
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen.................................188 1. Änderung der Klage .....................................................................188
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Inhaltsverzeichnis
2. Zeitgleiche Verhandlung derselben Sache an mehreren Gerichten .................................................................192 3. Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren .....................194 4. Sicherung des Urteilsinhalts ........................................................196 a) Einordnung der res-judicata-Lehre ..........................................197 b) Wirkung der res judicata .........................................................199 c) Umfang der res judicata ..........................................................201 (1) Cause of action estoppel .....................................................201 (2) Issue estoppel .....................................................................202 (3) Nicht jede streitige Tatsache ergibt ein issue estoppel ........204 (4) Deutsche Entscheidung gegen einen weiten Umfang der Rechtskraft ...................................................................206 d) Ausweitung des res-judicata-Effekts zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch ......................................................208 5. Gründe für die unterschiedlichen Lösungsansätze .......................212 a) Disposition über Streitsache und Streitstoff .............................213 b) Prozessökonomie .....................................................................216 c) Relevanz des Parteiverhaltens ..................................................218 d) Verfahrenskonzentration ..........................................................221 6. Ergebnis .......................................................................................222
Kapitel 5: Verhältnis zur europarechtlichen Abgrenzung der Streitsache .....................................................................................224 I.
Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt ...............................225
II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH ....................................228 III. Vergleich der deutschen und englischen Lehren mit der Kernpunktlösung ...................................................................232 1. Systematische Bedeutung der Streitsache ....................................232 2. Spannungsfeld zwischen Konzentration des Verfahrens und Parteiherrschaft .....................................................................235 3. Mögliche Auswirkungen der Kernpunkttheorie auf den Umfang der Rechtskraft ........................................................236 IV. Ergebnis ............................................................................................240
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XV
Schlussfolgerungen: Von der strengen Klageformel zur sachverhaltsgeleiteten Streitsache ............................................242 1. Aktionenrechtliche Systeme über Klagerechte und Klageformeln ........................................................................242 2. Einheitliche oder relative Streitsache im vereinheitlichten Zivilverfahren ...................................................244 3. Mögliche Annäherungen der deutschen und englischen Streitbestimmung .......................................................246 4. Anregungen für die Zukunft der europäischen Streitsache ..........248
Summary: The road from forms of action to a subject matter of litigation based on facts ..................................250 1. The historical system of writs and other legal set phrases ...........250 2. Uniform or relative subject matter of litigation in the unified civil procedure ...........................................................251 3. Possible convergence of German and English determination of legal disputes ...........................................................................253 4. Suggestions for a European subject matter of litigation ...............254 Literaturverzeichnis .................................................................................255 Sachregister .............................................................................................263
Abkürzungen A.C. ABl. AcP AGO All E.R. B. & S. BayGVBl. Begr. BGBl. BGH LM BGH Warn. BPO BPS Bus.L.R. C. c. C.A. C.B. (N.S.) C.J. Cap. Ch. D. Ch. CJBJ CJF CLR Cmnd CPO CPR PD CPR D. E.M.L.R. E.R. East Ed. Einl. EuGVÜ
Law Reports – Appeal Cases Amtsblatt der Europäischen Union (vormals Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften) Archiv für die civilistische Praxis Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 All England Law Reports Best and Smith, King´s Bench (1861–1870) Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Begründer Bundesgesetzblatt Nachschlagewerk des BGH in Zivilsachen Warneyer, Otto, Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850 British Pound Sterling The Business Law Reports Chancellor Chapter number of an Act Court of Appeal Common Bench Reports (New Series) (1856–65) Chief Justice Capitel Law Reports – Chancery Division (Second Series) Law Reports – Chancery Division (Third Series) Corpus Juris Bavarici Judicarii von 1753 Corpus Juris Fridericianum von 1781 Commonwealth Law Reports Command paper Reichscivilproceßordnung von 1877 Civil Procedure Rules 1998 Practice Direction Civil Procedure Rules 1998 Digesten Entertainment and Media Law Reports English Reports East´s Term Reports, King´s Bench (1800–1812) Edward Einleitung Europäisches Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
XVIII EuGVVO EuZPR/EuIPR EuZW EWCA Civ EWHC FamRZ FS H.L. Hare Hen. HLR HMSO HRG ICLQ Illinois LRev J. JA JRA JURA JuS JZ K.B. L. L.C. L.J. L.R. App. Cas. L.R. C.P. L.R. C.P.D. L.R. Ch.D. L.R. Q.B.D Lloyd´s Rep. LQR M.R. MDR MichLRev MLR NJW No. OJLS OLG P. Parlt. Papers Pr. Ch. Q.B. R. RGBl. RSC s. S.I.
Abkürzungen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht England & Wales Court of Appeal (Civil Division) England & Wales High Court Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festschrift House of Lords Hare´s Reports (1841–1853) Henry Harvard Law Review Her Majesty's Stationery Office Handwörterbuch Rechtsgeschichte International and Comparative Law Quarterly Illinois Law Review Judge Judicature Act 1875 Jüngster Reichsabschied von 1654 Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Law Reports – King´s Bench Legislation Lord Chancellor Lord Justice Law Reports, Appeal Cases (Second Series) Law Reports, Common Pleas Cases (1865–1875) Law Reports, Common Pleas Division (1875–1880) Law Reports, Chancery Division (1875–1890) Law Reports, Queen´s Bench Division (1875–1890) Loyd´s List Law Reports Law Quarterly Review Master of the Rolls Monatszeitschrift für Deutsches Recht Michigan Law Review Modern Law Review Neue Juristische Wochenschrift number Oxford Journal of Legal Studies Oberlandesgericht Law Reports – Probate Parliamentary Papers Precedents in Chancery (1689–1722) Law Reports – Queen´s Bench (Third Series) Rex/Regina (the Crown) Reichsgesetzblatt Rules of Supreme Court 1965 siehe Statutory Instrument
Abkürzungen sec. St. Tr. UKHL v. V.C. Vent VO W.L.R. WR Y.B. ZPO ZRG GA ZRG KA ZVglRWiss ZZP ZZPInt
section State Trials (1163–1820) United Kingdom House of Lords versus Vice Chancellor Ventris´ King´s Bench Reports (1668–1691) Verordnung Weekly Law Reports Weekly Reporter (1853–1906) Year Books (edition Maynard) (1367–1537) Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess Zeitschrift für Zivilprozess International
XIX
Einleitung I. Gegenstand und Methode dieser Arbeit I. Gegenstand und Methode
Das Zivilgerichtsverfahren dient dazu, Rechtsstreitigkeiten endgültig beizulegen und subjektive Rechte wirksam durchzusetzen. Es erreicht dieses Ziel, wenn präzise bestimmt ist, worüber die Parteien des Verfahrens eigentlich streiten. Inhalt und Umfang des Rechtsstreits müssen klar umrissen sein, damit auf dieser Basis ein aussagekräftiges Urteil ergehen kann und die Aussicht besteht, dass weitere Verfahren die frühere Entscheidung nicht in Frage stellen. Das heutige deutsche Zivilverfahren arbeitet bei dieser Inhaltsbestimmung mit dem Begriff des Streitgegenstands, der als prozessualer Anspruch das Rechtsschutzbegehren des Klägers deutlich macht. Die Eigenständigkeit des prozessualen gegenüber dem materiellrechtlichen Anspruch ist ein Resultat der Verselbstständigung des deutschen Verfahrensrechts im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Zuvor waren materiellrechtliche und prozessuale Aspekte in der Figur der actio, zu deutsch Klagerecht, verquickt. Noch konsequenter aktionenrechtlich war das englische Recht ausgerichtet; einen spezifisch materiellen Rechtsbereich kannte es die längste Zeit nicht, denn die gesamte Rechtsordnung war auf das Gerichtsverfahren ausgerichtet und ordnete subjektive Rechte nach den Anforderungen an ihre prozessuale Geltendmachung. Auch das englische Recht bleibt freilich die Antwort nicht schuldig auf die Frage, welchen Inhalt seine Gerichtsverfahren haben. Diese Arbeit vergleicht funktional1, wie sich die Parteien vor Gericht auf den Inhalt ihres Rechtsstreits verständigen und welche Techniken sie dabei anwenden. Lässt sich die Streitsache nach allgemeingültigen Merkmalen festlegen oder kommt es auf einzelfallbezogene Lösungen an? Welche Rolle spielt das Gericht bei dieser Festlegung? Und falls der Inhalt des vor Gericht verhandelten Rechtsstreits einzelfallbezogen abgegrenzt wird: Folgt auch dieser relative Lösungsansatz einer inneren Ordnung? 1 Zur Funktionalität als methodischem Grundprinzip der Rechtsvergleichung vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 349 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33; ähnlich Seif, Recht und Justizhoheit, S. 38, die für die vergleichende Rechtsgeschichte nicht Begriffe, sondern Schutzrichtungen als Vergleichspunkte wählt.
2
Einleitung
Untersuchungsschwerpunkt ist der Verfahrensabschnitt der Klageerhebung und Streitstoffeinbringung, da die Parteien in ihm den Streit definieren. Das Beweisverfahren sowie der genaue Ablauf der mündlichen Verhandlung beziehungsweise des trial werden dagegen ausgeklammert. Von Bedeutung sind auch Gegenstand und Umfang des richterlichen Urteils, bildet doch das Urteil die Antwort auf die Klage.2 Im Rahmen des funktionalen Vergleichs wird diese Arbeit also auch zur Sicherung endgültiger Entscheidungen Stellung nehmen müssen, die das deutsche Recht als Rechtskraft bezeichnet. Die weiteren Problemkreise, für die in Deutschland in Gestalt von entgegenstehender Rechtshängigkeit, Klageänderung und Klagehäufung der Streitgegenstandsbegriff bedeutsam ist, spricht sie ebenfalls an, um die Abgrenzungswirkung der Streitsache einzuschätzen. Die Bedeutung einer vertieften Kenntnis der Streitsache in unterschiedlichen europäischen Verfahrenssystemen zeigt sich an der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung und rechtlichen Integration der EU. Der EuGH hat bereits einen eigenen Ansatz bei der Anwendung von Art. 27 EUGVVO gebildet, um die mehrfache Rechtshängigkeit derselben Sache in verschiedenen Mitgliedsstaaten zu verhindern.3 Hintergrundfrage dieser Untersuchung ist, ob nicht eine umfangreichere Rechtsvereinheitlichung möglich ist, die an Korrelationen zwischen nationalen Rechtsinstituten anknüpft. Da die Streitsache eine Schlüsselstelle zwischen Zivilverfahren und materiellem Recht besetzt und erst sie die Abgrenzung unterschiedlicher Klagen voneinander ermöglicht, ist die Bestimmung ihrer Elemente und ihres Umfangs ein potentieller Wegbereiter auf der Suche nach Übereinstimmungen für ein solches gesamteuropäisches Zivilverfahren. Ein Blick auf die Elemente des europäischen Streitgegenstandsbegriffs und der Vergleich des deutschen und englischen Ansatzes mit der Auslegung des EuGH wird daher die Arbeit abschließen. Diese Untersuchung hat das deutsche und englische Zivilverfahren ausgewählt, weil beide Länder in Europa rechtspolitisch besonderes Gewicht besitzen und mit kodifiziertem kontinentaleuropäischem Recht auf der einen und richterrechtlich geprägtem common law auf der anderen Seite des Ärmelkanals ganz unterschiedliche Ausgangspunkte für die Struktur ihres Rechtssystems herausgebildet haben. Dies lässt erwarten, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Laufe des Vergleichs deutlich hervortreten und schließlich die Hypothese stützen oder widerlegen werden, dass sich diese beiden europäischen Verfahrensordnungen durch jüngere Gesetzesreformen einander angenähert haben. Der Klageinhalt und die Technik der Streitfestlegung werden auch rechtshistorisch aufgearbeitet. Die Kenntnis ihrer Entwicklungsgeschichte 2 3
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 88, Rn. 8. EuGH NJW 1989, S. 665 (Gubisch); EuGH EuZW 1995, S. 309 (Tatry).
II. Zur Begrifflichkeit
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ist vor allem für das Verständnis der englischen Verfahrensregeln notwendig, denn die Beständigkeit des common law, das in seiner Geschichte keine wesentlichen Brüche verkraften musste, hat zu einer Verschmelzung geführt, in der sich Überreste beider Teile des früher zweigeteilten englischen Zivilverfahrens finden. Aus der Einbeziehung der Regeln, die vor der Vereinheitlichung des Zivilverfahrensrechts galten, sollen Kontinuitäten und Brüche identifiziert werden, aus denen die gegenwärtigen Regeln zur Streitbestimmung entstanden sind, so dass die Geschichte des Rechtsdenkens im deutschen und englischen Zivilverfahrensrecht verständlicher wird. Drei Abschnitte markieren den Gang dieser Arbeit: Zu Beginn beleuchtet sie die bis zum 19. Jahrhundert aktionenrechtlich geprägten Verfahrenskonzepte, die in Deutschland territorial abgegrenzt waren durch den meist subsidiär anzuwendenden gemeinen Prozess und die partikularen Verfahrensordnungen, in England dagegen inhaltlich durch die Rechtszweige common law und equity. Der mittlere Abschnitt erarbeitet die Verfahrensreformen in den Jahren 1873–1875 sowie 1877, die mit den Judicature Acts und der Reichscivilprozeßordnung beinahe zeitgleich in England wie in Deutschland vereinheitlichte Verfahrensordnungen schufen und damit die Grundsteine für Klage und Streitsache in ihrer heutigen Form legten. Dabei soll untersucht werden, an welchen Stellen die neuen Regeln zur Streitbestimmung an bestehende Rechtsgedanken anknüpften und wo sie sich bewusst von Rechtstraditionen abgrenzten. Die Schlussstrecke des Weges bildet eine verknüpfte Auseinandersetzung mit den vereinheitlichten Regeln zur Streitbestimmung und den Problemkonstellationen, in denen die Streitsache zur Abgrenzung von Klagen benötigt wird. Am Ziel angekommen, sollen die gewonnenen Erkenntnisse einen Vergleich der europäischen Streitsachenbestimmung mit den Denktraditionen zweier ausgesuchter europäischer Länder ermöglichen.
II. Zur Begrifflichkeit II. Zur Begrifflichkeit
Viele englische Rechtsinstitute finden keine unmittelbare Entsprechung im deutschen Recht. Dies erschwert auch eine Übertragung ins Deutsche, so dass in dieser Arbeit besondere englische Begriffe zum Teil unübersetzt bleiben.4
4 Zur Unübersetzbarkeit von Begriffen der englischen Rechtssprache vgl. Linhart/Stone, Englische Rechtssprache, S. 3, 7, 15.
4
Einleitung
In der englischen Rechtswissenschaft fällt manchmal der Begriff subject matter als Kennzeichnung für die in Streit stehende Sache.5 Die geltende englische Verfahrensordnung, bestehend aus den Civil Procedure Rules und ergänzenden Practice Directions, verwendet diese Bezeichnung allerdings nicht. Auch die Rechtsprechung und die einschlägigen Zivilprozessrechtshandbücher führen sie nicht als Begriff mit besonderem dogmatischem Gehalt. Ein fester Platz des subject matter in der englischen Rechtssprache ist nicht auszumachen. Wird der Begriff verwendet, so ist dies untechnisch zu verstehen; gemeint ist dann der „behandelte Gegenstand“, der in der englischen Sprache das vorliegende Thema kennzeichnet6 und auch außerhalb des juristischen Kontexts vorkommt.7 Diese Arbeit spricht daher für das englische Recht, ebenso wie für das deutsche Recht vor Einführung der Reichscivilprozeßordnung im Jahr 1877, von „Streitsache“, um sie vom „Streitgegenstand“ im Sinne deutscher Lehren abzugrenzen und einen hermeneutischen Zirkelschluss zu vermeiden. Nicht mit der Streitsache verwechselt werden darf der „Streitpunkt“. Damit kennzeichnet diese Arbeit einen für den Ausgang des Falles wesentlichen Aspekt, der von der einen Seite behauptet, von der anderen jedoch bestritten wird und deshalb der Entscheidung des Gerichts bedarf. Die Streitsache bezeichnet das, worüber die Parteien im Prozess streiten und ein Urteil erstreben; der Streitpunkt zeigt, über welche einzelnen Sach- und Rechtsfragen gestritten wird. Er bildet sich aus dem von den Parteien eingebrachten Streitstoff und wird im englischen Recht als issue bezeichnet.
III.
Forschungsstand
III. Forschungsstand
Einen Ausgangspunkt für die Entwicklung des deutschen und englischen Zivilverfahrens von europäischer Warte aus bietet Van Caenegem.8 Die Forschungsarbeiten sind im Übrigen für das deutsche Zivilverfahrensrecht weitaus üppiger als für das englische. Zeitgenössische Systeme des gemei-
5
Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.13; Handley, Res Judicata, Rn. 8.05; Barnett, Res Judicata, Rn. 1.46. 6 Z. B. Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–002. 7 Stevenson, Oxford Dictionary of English, (Internetressource der Universitätsbibliothek Würzburg vom 29.08.2011), Stichwort subject matter noun: „the topic dealt with or the subject represented in a debate, exposition, or work of art.“ Vgl. auch Bunge, Terminologisches Wörterbuch, S. 230, Rn. 972, nach dem der Begriff subject matter jurisdiction für die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts steht. 8 Van Caenegem, History of Civil Procedure.
III. Forschungsstand
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nen Prozesses haben Wetzell, Linde, Bayer und Bülow erstellt.9 Die deutschen partikularen Prozessordnungen beschreiben im 19. Jahrhundert materialreich Schwartz, von Mittermaier, Leonhardt und Schmidt.10 Hilfreich für eine Auswahl sind die Überblicke bei Dahlmanns und Nörr sowie die Arbeit von Ahrens.11 Das Schrifttum zur modernen Streitgegenstandslehre ist unüberschaubar; beispielhaft seien die Monographien von Schwab, Habscheid und Jauernig genannt.12 Jüngst kam der Beitrag von Althammer hinzu, der sich sowohl dem deutschen als auch dem europäischen Streitgegenstandsbegriff widmet.13 Den „Streitgegenstand“ des gemeinen Prozesses leiten in historischer Einordnung Löwisch und Hesselberger her.14 Einen kursorischen Überblick in deutscher Sprache über den Ablauf des englischen Zivilverfahrens erstellte im 19. Jahrhundert Schuster.15 Das heutige englische Zivilverfahren umreißen Bunge und von Bernstorff.16 Die Spezifika der englischen Streitstoffbestimmung finden Eingang in die Erläuterungen von Hartwieg und Schmidt.17 Der Problemkreis des Zusammenspiels von prozessualem und materiellrechtlichem Anspruch im englischen Zivilrecht wird im deutschen Schrifttum zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen angedeutet, ist aber noch nicht konsequent aufgegriffen und zum Gegenstand einer umfassenden Bearbeitung gemacht worden. Das Institut der Rechtskraft erörtert Germelmann, allerdings für das Verfahren 9
Wetzell, System; Linde, Lehrbuch; Bayer, Vorträge; Bülow, Die Lehre von den Prozesseinreden. 10 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung; Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung; Leonhardt, Das Civilproceßverfahren des Königreichs Hannover; Leonhardt, Zur Reform des Civilprocesses; Schmidt, Die Klagänderung. 11 Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht; Nörr, Wissenschaft und Schrifttum, Ius Commune, Bd. 10 (1983); Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. 12 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht; Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß; Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß; Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand. 13 Althammer, Streitgegenstand und Interesse. 14 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes; Hesselberger, Die Lehre vom Streitgegenstand. 15 Schuster, Die bürgerliche Rechtspflege in England. An einer mehrteiligen Darstellung des englischen Zivilrechts versuchten sich im Rahmen der Reihe „Zivilgesetze der Gegenwart“ Goldschmidt u. a., die im Vorwort des ersten Teils ankündigten, auch eine Darstellung des Einflusses des Prozesses auf das Zivilrecht erarbeiten zu wollen. Leider ist der angekündigte zweite Teil nie erschienen. Besagte Reihe wurde wohl wegen Beginn des Zweiten Weltkrieges nie zu Ende geführt, s. Kunze, Ernst Rabel, S. 155. 16 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung; Bernstorff, Einführung in das englische Recht. 17 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags; Schmidt, Der Abschied von der Mündlichkeit.
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Einleitung
des öffentlichen Rechts.18 Den Ablauf der englischen Klageeinleitung und des Erkenntnisverfahrens beschreiben Bieresborn und Schuster.19 Schließlich haben Peter und auch Ziegenbein Vorarbeiten geleistet durch den Versuch, den Mythos der Isolation des englischen Rechts historisch in Frage zu stellen.20 Die englische Literatur selbst wirft die Problematik der Streitsache im englischen Zivilverfahren nicht gesondert auf. Hinweise geben aber die historischen Darstellungen von Holdsworth, Pollock und Maitland, Baker, sowie die in Teilen erschienene Reihe The Oxford History of the Laws of England.21 Grundlegend zur Struktur des englischen Zivilverfahrens sind die Arbeiten von Maitland und Jacob.22 Als Standardwerke zum gegenwärtigen Verfahren werden Halsbury´s Laws of England und die Arbeiten von Andrews herangezogen.23 Besonders den Ablauf des englischen Vorverfahrens behandelt außerdem die Praktikerliteratur zur Schriftsatzerstellung, beispielsweise Brennan und Blair, Jacob und Goldrein oder Casson.24 .
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Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung; Schuster, Writ – claim form – Klage. 20 Peter, Actio und writ; Ziegenbein, Die Unterscheidung von real und personal actions im Common Law. 21 Holdsworth, A History of English Law; Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I; Baker, Introduction to English Legal History; Baker (Hrsg.), The Oxford History of the Laws of England. 22 Maitland, The Forms of Action; Jacob, The Fabric of English Civil Justice. 23 Mackay (Hrsg.), Halsbury´s Laws of England, 4. Aufl., Bath 1973–1987, mit Neubearbeitungen 1988–2004; Andrews, Principles of Civil Procedure; Andrews, English Civil Procedure; Andrews, The Modern Civil Process. 24 Brennan/Blair (Hrsg.), Precedents of Pleading; Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice; Casson, Odgers´ Principles of Pleading. 19
Kapitel 1
Regeln für die Streitfestlegung vor Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen I. Inhalt der Klage und Streitfestlegung im gemeinen Prozess I. Gemeiner Prozess
Als „gemeiner Prozess“ wird dasjenige Verfahren bezeichnet, das im Anschluss an den Jüngsten Reichsabschied (JRA) von 16541 im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zumindest2 subsidiär galt. Seine Wurzeln liegen in einer Verbindung römisch-kanonischen und germanischen Rechts in den Städten Oberitaliens, das gelehrte Juristen sowie die geistliche Gerichtsbarkeit im Zuge der Rezeption nach Deutschland trugen.3 1. Entwicklungslinien der gemeinrechtlichen Klageerhebung Der durch die wissenschaftliche Bearbeitung vorbereitete Sprung in die weltlichen Gerichte gelang einem modifizierten römisch-kanonischen Prozess durch die Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495, dessen Reichskammergerichtsordnungen4 die subsidiäre Geltung des römischkanonischen Rechts begründeten und Vorbild für partikulare Prozessordnungen waren.5 Sein Verfahrensablauf war zunächst nicht präzise festge1 Die in dieser Arbeit im Wortlaut zitierten Normen des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 sind Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654, entnommen. 2 Für Regionen mit direkter Anwendung vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 12. 3 Zur Frührezeption und der Bedeutung der Kirche für das gelehrte Recht vgl. Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland, insbesondere S. 13 ff., 34 ff. Eine Zusammenfassung der Entwicklung des gemeinen Prozesses geben Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1744 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 182 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 4, insbesondere Rn. 18 ff. 4 Die Reichskammergerichtsordnungen wurden kontinuierlich erneuert und durch mehrere Reichsabschiede modifiziert, vgl. die Übersicht bei Wetzell, System, § 2 S. 4 Anm. 5; Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses, S. 11 ff. Die vollständigste war die Reichskammergerichtsordnung von 1555, da sie die vorher einzeln entwickelten Rechtsgrundlagen bündelte, s. Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses, S. 7 f.; Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 87; Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, S. 18. 5 § 137 JRA hielt die Reichsstände dazu an, ihr eigenes Verfahren nach der Vorlage des Kameralverfahren zu entwerfen, vgl. dazu Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
legt und wurde maßgeblich von den Parteien bestimmt, da er streng der Verhandlungsmaxime folgte.6 Durch den stilus curiae7 ergab sich ein Verfahren, das aus aneinandergereihten, nicht-öffentlichen Terminen bestand, in denen die Parteien wechselseitig auf das Parteivorbringen des Gegners reagierten. Die Parteien verhandelten im Kameralprozess seit dem 16. Jahrhundert schriftlich.8 Sie folgten dabei zunächst der Artikulationspflicht, die aus dem Positionalverfahren des kanonischen Verfahrens stammte und den Kläger anhielt, in seiner Klageschrift nicht nur den Klagegrund anzugeben, sondern bereits sämtliche klagebegründenden Tatsachen einzeln aufzugliedern, mithin zu „artikulieren“.9 Der Beklagte antwortete darauf ebenso schriftlich und auf jeden einzelnen Artikel. Da die unbegrenzte Aneinanderreihung von Klage, Erwiderung, Replik und so fort die Gefahr barg, das Verfahren zu verschleppen, versuchte man, es durch die strenge Handhabung des Eventualprinzips zu beschleunigen. Es verpflichtete die Parteien, alle gleichartigen, später sogar alle demselben Prozesszweck dienenden Parteihandlungen so frühzeitig wie möglich vorzunehmen.10 Im selben Vortrag mussten sowohl die gegnerischen Tatsachenbehauptungen bestritten werden, als auch der Gegenangriff erfolgen, wenn die Partei in ihrem Vorbringen nicht für spätere Termine präkludiert sein wollte. Die Häufung von Terminen brachte das Kameralverfahren um eine stringente Gliederung und verlangsamte seinen Ablauf. Dass auch eine schnellere Beilegung von Rechtsstreitigkeiten möglich war, bewies das sächsische Recht, das sich dem Rezeptionsprozess weitgehend widersetzte. Sein Verfahrensrecht hatte deutlicher als das Kameralverfahren seine deutschrechtlichen Wurzeln beibehalten und war vor allem durch die Konstitutionen des Kurfürsten August I. von 1572 und durch die Kursächsische Curiae, S. 47. – Neben dem Reichskammergericht sprach der Reichshofrat obergerichtlich Recht. Zu dessen Bedeutung und den Besonderheiten seiner Klagegestaltung, die diese Arbeit nicht berücksichtigt, vgl. Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae, S. 46 ff., 132 ff. 6 Für Beispiele des Inhalts zivilrechtlicher Streitigkeiten am Reichskammergericht vgl. Amend-Traut, Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht, S. 135 ff. 7 Zum stilus curiae als durch Gerichtsgebrauch entstandene Verfahrensregeln vgl. Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae, S. 59 ff., 93 ff. 8 „Quod non in actis, non est in mundo.“, so Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses, S. 119; Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, S. 12. Zu den verbleibenden mündlichen Elementen des Kameralprozesses vgl. Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, S. 110 ff. 9 Vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 224. Die Artikulierungspflicht wurde erstmals 1521 bis 1523 festgesetzt und galt ab 1570 bis zum Jüngsten Reichsabschied von 1654, s. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 234, 250 f. 10 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 220 f.
I. Gemeiner Prozess
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Gerichtsordnung von 1622 gefestigt worden.11 Typisches Merkmal des sächsischen Verfahrens war die Teilung des Verfahrens in einen Behauptungs- und Beweisabschnitt durch ein selbstständig anfechtbares Beweisinterlokut. Es bewirkte eine Prozesszäsur, indem es gleichzeitig die Sammlung der Tatsachen im Behauptungsstadium abschloss, die beweisbedürftigen Behauptungen feststellte und die Beweislast regelte.12 Im Vergleich zum Kameralverfahren war der Grundsatz der Schriftlichkeit im sächsischen Verfahren geringer ausgeprägt, denn Ausgangspunkt des Parteivorbringens blieb der mündliche Vortrag im Termin, wobei dieser im Anschluss „vom Mund in die Feder“13 protokolliert wurde. Dennoch erhob der Kläger auch im sächsischen Prozess die Klage schriftlich, jedoch nicht in artikulierter Form oder in Positionen aufgeteilt.14 Prozessual entscheidend war, dass er in der Klageschrift alle klagebegründenden Fakten nannte und zu einer vollständigen und zusammenhängenden Geschichtserzählung verknüpfte. Aufgrund der Anfälligkeit des Kammergerichtsverfahrens für Prozessverschleppungen sowie seiner strukturellen Behäbigkeit bemühte man sich nach Abschluss des Dreißigjährigen Krieges um eine umfassende Erneuerung des Gerichtsverfahrens auf Reichsebene. Ergebnis der Reformbestrebungen war der Jüngste Reichsabschied von 165415, der dem Kammergerichtsverfahren wesentliche Elemente des sächsischen Prozesses beimischte und so die Grundlage schuf, aus der sich durch Fortbildung mittels Gerichtsgebrauch und Juristenrecht der gemeine Prozess bis zum 19. Jahrhundert entwickelte. Der Jüngste Reichsabschied von 1654 behielt die Verhandlungsmaxime bei und beließ den kammergerichtlichen Prozess nichtöffentlich und schriftlich, zwang die Parteien aber nach dem Vorbild des sächsischen Prozesses nicht mehr, ihren Vortrag in Artikel aufzuspalten.16 Das Verfahren wurde gestrafft, indem der Kläger schon „seine Klag oder Libell nit Articuls, sondern allein summarischer Weis übergeben, darinne das Factum kurtz und nervose, jedoch deutlich, distincte und klar“17 vortragen musste und der Beklagte ebenfalls gemäß der Eventualmaxime schon im ersten Termin allen Punkten der Klageschrift dezidiert entgegnen 11
Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 136 und 145 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 22. 12 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 22; Buchda, Art. Beweisinterlokut, HRG I, Sp. 407. 13 Sellert, Art. Prozess, sächsischer, HRG IV, Sp. 37. 14 Sellert, Art. Prozess, sächsischer, HRG IV, Sp. 38. 15 Die Regelungen des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 sollte ursprünglich nur als Novelle für eine vollständig neue Gerichtsordnung dienen, letztlich etablierten sie sich aber als Weichensteller für den gemeinen Prozess, vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 250. 16 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 117 f. 17 § 34 JRA.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
und dabei sämtliche Einreden bei Strafe der Präklusion vorbringen musste.18 Seit dem 18. Jahrhundert19 wurde auch das Verfahren am Reichskammergericht durch das Beweisinterlokut in Behauptungs- und Beweisverfahren geteilt.20 Der gemeine Prozess entstand somit zwischen den „Brennpunkten gemeindeutscher Prozessentwicklung“21, dem Kammerprozess und dem sächsischen Prozess. Insbesondere durch die Abschaffung der artikulierten Klage und eine strengere Prozesskonzentration hoffte man den Verfahrensablauf am Reichskammergericht zu straffen. Heimlichkeit, Schriftlichkeit, Mittelbarkeit, Eventual- und Verhandlungsmaxime sowie das Beweisinterlokut bildeten fortan dessen Eckpfeiler.22 Weiterentwickelt wurde das gemeinrechtliche Verfahren in den folgenden Jahrhunderten durch Gerichtsgebrauch und wissenschaftliche Bearbeitung; es präsentierte sich jedoch mitnichten als konsistentes System, sondern blieb insbesondere durch die verschiedenen Quellen an Reichsgesetzgebung, Gerichtsgewohnheit und Juristenrecht ein heterogenes Gebilde, dessen Nähte prozessuale Grundregeln und die Rechtsprechung des Reichskammergerichts waren.23 2. Inhalt der Klage a) Hauptbestandteile der gemeinrechtlichen Klage Kernstück der gemeinrechtlichen Klageschrift und maßgeblich für die Bestimmung der Streitsache waren die causa petendi (Rechtsgrund), das factum (Lebenssachverhalt) und das petitum (Antrag, der das Begehren des Klägers gegenüber dem Beklagten enthielt).24 Der Kläger musste sein Be18
§ 37 JRA. Der Jüngste Reichsabschied von 1654 hatte das Beweisinterlokut hingegen noch nicht rezipiert, s. Schlinker, Litis Contestatio, S. 407 f., Fn. 421. – Interlokute im Sinne von Zwischenurteilen römisch-kanonischer Tradition kannte aber bereits der frühe Kameralprozess. Zu deren weiten Einsatzgebiet als sententia interlocutoria vgl. Schlinker, Die prozessuale Funktion der sententia interlocutoria, ZRG KA, Bd. 96 (2010), S. 156 ff. 20 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1744; Buchda, Art. Beweisinterlokut, HRG I, Sp. 408 f; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 24. 21 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 183. 22 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1744; Dahlmanns, Strukturwandel, S. 17 ff. 23 Vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 13. 24 Bayer, Vorträge, S. 388: „Die wesentlichen Bestandtheile einer jeden wahren Angriffshandlung sind nun aber folgende: 1) ein Rechtsgrund; 2) ein historisches Fundament; 3) ein bestimmtes Gesuch. Wer nämlich einen anderen gerichtlich angreifen will, muß sich auf ein Gesetz, oder überhaupt auf einen gültigen Rechtssatz berufen können, kraft dessen Jemand unter bestimmten factischen Voraussetzungen zu einer Leistung oder Unterlassung verpflichtet ist (Rechtsgrund des Angriffs); er muß ferner anführen, daß jene factischen Voraussetzungen in concreto wirklich zutreffen (historisches Fundament des Angriffs), und endlich muß er aus diesen Prämissen den Schluß ableiten, daß 19
I. Gemeiner Prozess
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gehren auf gesetzlich festgelegte oder gewohnheitsrechtlich ausgeprägte Rechtssätze gründen können.25 Wollte er aus einem Recht eine Klage herleiten, so kennzeichnete der gemeine Prozess diesen Vorgang mit dem Begriff der actio.26 In der Diktion des gemeinen Prozesses des 19. Jahrhunderts wurde sie auch als „Klagrecht“27 bezeichnet. Ein klägerisches Vorbringen fand Gehör, wenn es sich unter eine rechtlich anerkannte actio subsumieren ließ.28 Da das gemeine Recht nicht der Formenstrenge des klassischen römischen Rechts unterlag, hatte die Zahl der Klagerechte aufgrund von gewohnheitsrechtlicher Übung und Billigkeitserwägungen immer weiter zugenommen, bis sich die Auffassung durchsetzte, dass generell jedes subjektive Recht auch vor Gericht mit Hilfe eines Klagerechts durchgesetzt werden konnte.29 Die fast umfassende Verfügbarkeit von actiones bedeutete aber keine Gleichsetzung von actio, Rechtsgrund, und subjektiver Berechtigung. Da das gemeine Recht eine Dichotomie von Privat- und Prozessrecht im heutigen Sinne nicht kannte, können prozessuale und materiellrechtliche Bedeutung der actio nicht trennscharf unterschieden werden.30 Sie pendelte vielmehr zwischen diesen beiden Polen hin und her.31 Es bietet sich folgende Unterscheidung an: Das subjektive Recht war die materielle Berechtigung des Klägers. Es konnte im Zivilverfahren als Rechtsgrund für die Klage herangezogen werden. Sollte ein Verfahren tatsächlich angestrengt sein Gegner zu der ihm rechtlich obliegenden Leistung oder Unterlassung angehalten werden soll (Gesuch, petitum).“; Schlinker, Litis Contestatio, S. 449 f., 527. Daneben musste die Klageschrift die Streitparteien und den Richter beziehungsweise den Gerichtsstand korrekt bezeichnen, s. Schlinker, Litis Contestatio, S. 449. 25 Bayer, Vorträge, S. 526: „Unter Rechtsgrund der Klage versteht man die gesetzlichen Vorschrift oder überhaupt den Rechtssatz […], wodurch der Kläger seinen Anspruch zu rechtfertigen sucht.“ 26 Schlinker, Litis Contestatio, S. 451; Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 76 f. 27 Erstmals nutzt diese Bezeichnung Martin, Lehrbuch, S. 153 f., vgl. Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 523. 28 Wetzell, System, S. 115: „Speciell aber muss die Klagbitte, um Berücksichtigung zu finden, […] erkennen lassen, einestheils daß sie einem der vom römischen, kanonischen und deutschen Recht ausgebildeten Klagtypen entspreche, mit anderen Worten, daß sie in den Klagen gegründet, rechtlich begründet sei, und sodann, welches concrete Recht sie zur Geltung bringen solle.“ Zur Bedeutung der actio als Klagerecht in der gemeinrechtlichen Prozesslehre des 19. Jahrhunderts vgl. u. S. 57 ff. 29 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 44 m. w. N.; Claproth, Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß, Bd. II, S. 43: „Heut zu Tage werden aus allen erlaubten und sonst gültigen Verträgen Klagen gestattet […].“ 30 Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 76 f. 31 Zu der mehrfachen Wandelung der actio seit dem klassischen römischen Recht vgl. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 484 ff.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
werden, bedurfte es hierfür der actio als der aus dem Recht hergeleiteten Klage.32 Der Lebenssachverhalt33 sollte die „Tatsachen, die die spezifischen Gründe zur Entstehung des geltend gemachten Rechtsanspruchs bilden“34, enthalten. Diese auf die tatsächliche Begründung eines Rechtsanspruchs reduzierten Tatsachen wurden als „Klagegrund“ bezeichnet.35 Eine bestimmte Form musste der Kläger bei seiner Darstellung der Tatsachen des Falles nicht einhalten, eine zusammenhängende Geschichtserzählung genügte den Anforderungen an die Klageschrift. Gleichwohl war es für den Kläger ratsam, sich im Voraus zu überlegen, wie er seinen Tatsachenvortrag strukturierte. Die gemeinrechtlichen Prozessualisten betonten, dass der Klagegrund der Herleitung des Rechtsgrundes diente und sich darum an die den Rechtsgrund prozessual einkleidende actio anpassen musste.36 In einem über die Voraussetzungen der einzelnen actio hinausgehenden Sinne war der Sachverhalt überdies wichtig für die Abgrenzung von konkurrierenden Klagen über die res de qua agitur.37 Das eigentliche klägerische Begehren enthielt der Antrag,38 der dem Beklagten und dem Gericht das Klageziel und den genauen Umfang der begehrten Leistung oder Unterlassung deutlich machen sollte. Als „Modell für den Urteilssatz“39 musste er dergestalt formuliert sein, dass er bereits die „Angabe der Entscheidung, die das Gericht gegen den Beklagten fällen soll“40, umfasste.
32 Schlinker, Litis Contestatio, S. 451. — Ob der Unterschied zwischen Rechtsgrund und actio erheblich war, klärte die Prozessrechtsliteratur des 19. Jahrhundert allerdings nicht mehr eindeutig. Einige Prozessualisten gingen dazu über, beide Begriffe gleichzusetzen, vgl. Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht, S. 62 m. w. N. 33 Auch als „historisches Fundament“ (Bayer, Vorträge, S. 388), „Klagbegründung oder Geschichtserzählung“ (Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 180) bezeichnet. 34 Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 180. 35 Wetzell, System, S. 149; Schlinker, Litis Contestatio, S. 531. 36 Bayer, Vorträge, S. 529: „Im Uebrigen hängt aber die Beantwortung der Frage, welche Facta in die Geschichtserzählung aufzunehmen seyen, und welche nicht, von der Beschaffenheit des in concreto gewählten Rechtsgrundes, oder, was am Ende Dasselbe ist, von dem genus actionis ab, dessen sich der Kläger in dem gegebenen Falle bedienen will. Was nämlich zunächst und unmittelbar nothwendig ist, um das gewählte genus actionis an sich als anwendbar darzustellen, soll auch in der Geschichtserzählung erwähnt werden.“; Schlinker, Litis Contestatio, S. 532. 37 Zur Bedeutung der res und ihrem Verhältnis zur actio vgl. u. S. 60 ff. 38 Auch „Klagbitte“ (Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 180), „Gesuch“ (Bayer, Vorträge, S. 388) genannt. 39 Schlinker, Litis Contestatio, S. 531. 40 Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 180.
I. Gemeiner Prozess
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b) Ableitung des Rechtsgrundes aus Lebenssachverhalt und Antrag Von den drei Hauptbestandteilen der Klage mussten in der Klageschrift ausdrücklich nur der Antrag formuliert und der Lebenssachverhalt beschrieben werden.41 Den Rechtsgrund musste die Klageschrift dagegen aus zwei Gründen nicht mehr explizit bezeichnen. Zum einen galt der Satz iura novit curia42, zum anderen sahen die Juristen das tatsächliche Bestehen eines Rechtsgrundes für den Erfolg der Klage als so selbstverständlich an, dass sie seine Nennung als unnötig empfanden.43 Der gemeine Prozess folgte darin der Tradition des kanonischen Rechts, nach der es regelmäßig genügte, dass ein Rechtssatz aus dem tatsächlichen Vorbringen des Klägers erkennbar war.44 Rein rechtliche Ausführungen der Parteien waren unzureichend; sie konnten die Entscheidungsfindung sogar stören, da die Gefahr bestand, dass sie die Schriftsätze künstlich aufplusterten und die wahre Problematik des Falles verschleierten, ohne zur Sache etwas Zielführendes beizutragen.45 41
Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 81 f. 42 Endemann, Das deutsche Civilprozeßrecht, Bd. II, S. 620. Nach Bayer, Vorträge, S. 391, wird „der Rechtsgrund, wenn er anders aus den Vorschriften des gemeinen Rechtes fließt und unbestritten ist, gewöhnlich gar nicht ausdrücklich angeführt, weil ihn der Richter ohnehin kennen und ergänzen muß.“ 43 Bayer, Vorträge, S. 526: „Daß ein solcher Rechtsgrund vorhanden seyn muß, ist von selbst klar; – denn ohne denselben würde die Verbindlichkeit des Beklagten höchstens nur als eine Gewissenspflicht erscheinen, deren Erfüllung auf gerichtlichem Wege nicht gefordert werden kann. Indessen ist diese Nothwendigkeit eines Rechtsgrundes keineswegs so zu verstehen, als wenn derselbe in der Klageschrift immer ausdrücklich aufgeführt werden müßte. Wenn nur im geschriebenen oder ungeschriebenen Rechte ein Satz zu finden ist, welcher den Anspruch des Klägers als einen klagbaren anerkennt, so schadet es nicht, wenn auch der Kläger diesen Satz im Libelle nicht ausdrücklich anführt.“ 44 Schmidt, Die Klagänderung, S. 126; Schlinker, Litis Contestatio, S. 452 f. Nur wenn die Rechtsgrundlage nach dem klägerischen Vortrag unkenntlich geblieben war, musste sie ausnahmsweise ausdrücklich genannt werden, s. Claproth, Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß, Bd. II, S. 66. Überwiegend war man in dieser Frage aber großzügig, schließlich war bereits der Usus Modernus davon ausgegangen, dass der Kläger immer die ihm günstigste actio geltend machen wollte und der Richter im Zweifelsfall diejenige actio auszuwählen hatte, die dem Begehren des Klägers erkennbar am ehesten entsprach, s. Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht, S. 61. 45 Bayer, Vorträge, S. 526. Bereits § 96 JRA hatte angeordnet, von rechtlichen Ausführungen abzusehen: „Zu dermaliger gründlicher Abhelf- und Verbesserung derern bei den Prokuratoren, Advokaten und Parteien vorgehenden Fehlern und Unordnungen […] ordnen, setzen und wollen Wir, daß zu dessen aller Abschneidung und Verhütung die Prokuratoren und Advokaten sich künftig […] durchgehends blößlich in Erzählung des facti und der Geschicht aufhalten, die disputationes und allegationes juris aber, welche
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
Die Erkennbarkeit des in Frage stehenden Klagerechts aus der Klageschrift heraus wurde im gemeinen Verfahren in Gestalt der Schlüssigkeit zur unumgänglichen Voraussetzung für die Klageentstehung, da sich der Kläger jedenfalls auf ein bestimmtes Klagerecht berufen können musste, um überhaupt ein Verfahren zu begründen. Schlüssig war eine Klage, wenn die Kombination des in der Klageschrift dargelegten Lebenssachverhalts und des Antrags die Voraussetzungen der begehrten actio trug.46 Die Schlüssigkeit wurde von Amts wegen noch vor Zustellung der Klage an den Beklagten geprüft.47 Konnte aus dem Vortrag des Klägers keine actio schlüssig hergeleitet werden, so wurde die Klage von Amts wegen zurückgewiesen.48 Aus dem Schlüssigkeitserfordernis ergibt sich in Verbindung mit den Anforderungen an die Sachverhaltsschilderung, dass der Kläger die relative Freiheit, sich nicht namentlich auf eine konkrete Klage festlegen zu müssen, sondern ihre Bestimmung dem Gericht überlassen zu können, bald einbüßen konnte, wenn er sein Begehren nicht hinreichend deutlich machte; dazu gehörten sowohl die allgemeinen Voraussetzungen des Klagerechts49 als auch die schlüssige Behauptung, dass dieses Klagerecht gegenüber dem Beklagten konkret gegeben war.50
mehrenteils die Sachen nur zu verwirren und schwerer zu machen pflegen, […] nit einmischen, sondern […] übergehen.“ 46 Wetzell, System, S. 149: „Der Beweis des in der Klagbitte erhobenen Anspruchs erfordert vor Weiterem den Vortrag der Thatsachen, welche denselben erzeugt haben sollen, und sind die dieserhalb vorgetragenen Thatsachen ihrer juristischen Bedeutung nach geeignet, ihn so, wie er behauptet worden ist, in Betreff der Hauptsache und der Accessionen, und namentlich in seiner Richtung gegen den Verklagten, als entstanden erscheinen zu lassen, […] so ist die Klage (Klagbitte) factisch begründet.“ Bayer, Vorträge, S. 529; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 187, Fn. 49; Schlinker, Litis Contestatio, S. 533. 47 Linde, Lehrbuch, S. 221, 260, Fn. 5; Bayer, Vorträge, S. 68 f. 48 Schlinker, Litis Contestatio, S. 452; Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 77 f. 49 Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 181; Claproth, Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß, Bd. II, S. 66; Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 79. 50 Die separate Behandlung von Rechtsgrund und Schlüssigkeit begründet Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht, S. 60, damit, dass die gemeinrechtlichen Prozessualisten „zwischen der Frage nach der Behauptung eines in abstracto von der Rechtsordnung anerkannten Rechts und der seines Bestehens in concreto unterschieden und jedes Erfordernis getrennt erfaßt und bewertet haben.“ Dies bedeute, dass der Kläger zunächst behaupten musste, dass sein Begehren von der Rechtsordnung überhaupt als subjektives Recht anerkannt wurde (Rechtsgrund), und dann die Tatsachen nennen musste, die das subjektive Recht im streitigen Fall begründeten (Schlüssigkeit).
I. Gemeiner Prozess
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3. Festlegung des Streitpunktes durch die Einlassung des Beklagten Um die tatsächliche Problematik eines Rechtsstreits erfassen und schließlich beurteilen zu können, benötigte das Gericht neben der Klage eine Reaktion des Beklagten. Das gemeine Recht bezeichnete dessen Einlassung zur Hauptsache in Anknüpfung an die römisch-kanonische Rechtstradition als litis contestatio.51 Die Prozessualisten des 19. Jahrhunderts forderten für sie keinen besonderen Formalakt mehr, sondern reduzierten sie auf eine bloße Erwiderung des Beklagten, so dass jegliche Einlassung zur Hauptsache zugleich in die litis contestatio mündete.52 Zudem wurde der Beklagte nicht mehr zur Einlassung gezwungen. War er säumig, wurde lis pro negative contestata (negative Litiskontestation) angenommen und die für den Fortgang des Verfahrens notwendige Reaktion des Beklagten fingiert.53 Neben die ursprüngliche Funktion als prozesskonstitutiver Widerspruch des Beklagten, der neben der Klageschrift und deren Zustellung als dritter Schritt ein Verfahren erst begründete, trat seit dem 17. Jahrhundert die streitbestimmende Eigenschaft der litis contestatio hervor.54 Die Einlassung des Beklagten nahm den Lebenssachverhalt, wie er sich aus seiner Sicht ergab, in das Verfahren auf und versetzte den Richter durch Abgleichen der Aussagen von Klageschrift und Klageerwiderung in die Lage, die Streitpunkte des Falles zu ermitteln;55 dieser Streitstand wurde als status causae et controversiae bezeichnet.56 Um die streitigen und folglich beweisbedürftigen Punkte erkennen zu können, musste die Einlassung des Beklagten über einen allgemeinen Wi51
Wetzell, System, S. 117: „Kein Rechtsstreit kann in seiner regelmäßigen Entwicklung ohne Klagebitte und Gegenbitte gedacht werden. Beide zusammen bilden in ihrer Beziehung aufeinander die Grundlagen eines jeden ordentlichen Verfahrens und sind von jeher mit dem Ausdruck litis contestatio, Kriegsbefestigung, bezeichnet worden.“ 52 Schlinker, Litis Contestatio, S. 539 f. 53 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 24. Der Kläger konnte so mit der einseitigen Beweisführung beginnen und ein Urteil gegen den säumigen Beklagten erlangen, s. Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 102 f. Zur Wirkung dieses „Eremodizialverfahrens“ im Gegensatz zum strengeren „Kontumazialverfahren“, das vor allem Benedikt Carpzow noch unmittelbar vor Erlass des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 für das sächsische Recht ausgearbeitet hatte und bei dem die Säumnis des Beklagten affirmativ wirkte, so dass die Geständnisfiktion die einseitige Beweisführung des Klägers ersetzte, vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 434 f. 54 Den Übergang von einem bilateralen prozesskonstitutiven Rechtsakt zum einseitigen „Akt der Definition des Prozessgegenstands“, unterbrochen durch die Rückbesinnung auf das römische Recht durch die historische Rechtsschule, untersucht Schlinker, Litis Contestatio, S. 535 ff. (Zitat S. 526). 55 Linde, Lehrbuch, S. 268: „Durch die Einlassung soll der eigentliche Streitpunkt für diesen Proceß festgestellt werden.“ 56 Bayer, Vorträge, S. 590.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
derspruch gegen die Klage hinausgehen, so dass seit dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 eine spezielle Antwort auf die Tatsachenbehauptungen des Klägers verlangt wurde.57 Da gemäß der Eventualmaxime der Kläger bereits alle Klagebehauptungen in seine Klageschrift gefasst hatte und der Beklagte darauf seinerseits substantiiert seine jeweiligen Erklärungen und Negationen zu jeder einzelnen Behauptung der Klageschrift sowie sämtliche Verteidigungsmittel vorbrachte, war der Streitpunkt mit Klageschrift und -erwiderung, die automatisch die litis contestatio vollzog, abschließend umrissen.58 Auf diese Weise präzisierte die Einlassung des Beklagten auch die res de qua agitur.59 Vor allem aber verdeutlichte sie für das aktuelle Verfahren, was zwischen den Parteien im engeren Sinne streitig und daher als „Prozessgegenstand“60 erörterungsbedürftig war. In diesem Sinne war die litis contestatio von der auf ein bestimmtes Urteil ausgerichteten Streitsache zu unterscheiden. Nach der Einlassung des Beklagten konnte das Gericht den Parteivortrag in zugestandene und bestrittene Tatsachen trennen. Da das gemeine Recht für zugestandene Behauptungen keinen Beweis verlangte, bestimmte die Antwort des Beklagten damit den Umfang des Beweisverfahrens.61 Bedeutung entfaltete die litis contestatio im gemeinen Prozess außerdem, wenn der Kläger die Klage nachträglich abändern wollte. Mit der litis contestatio entstand eine „Prozessobligation“62 des Klägers, die ihn auf die durch den Schriftwechsel entworfene Klage festlegte und die mit dem Recht des Beklagten auf Entscheidung gerade dieses durch Klage und Erwiderung fixierten Falles korrespondierte. Nach der Einlassung des Beklagten war eine Klageänderung nicht mehr zulässig; weder durfte der Kläger von seinem Antrag abweichen,63 indem er beispielsweise eine andere Leistung forderte oder ihren Umfang erweiterte, noch durfte er den Klagegrund grundlegend verändern64. Das Verbot der Klageänderung konnte 57 Schlinker, Litis Contestatio, S. 477; Linde, Lehrbuch, S. 268: „Hierüber soll der Beklagte sich ausdrücklich und deutlich, auch insofern speciell erklären, als er alle oder auch nur einzelne Thatsachen läugnet; denn eine allgemeine Einlassung wird nur, wenn sie bejahend ausfällt, gestattet.“ 58 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. II, S. 136; Schlinker, Litis Contestatio, S. 535. 59 Zur Bedeutung der res bei der Abgrenzung von Klagen vgl. u. S. 60 ff. 60 Schlinker, Litis Contestatio, S. 436, 507, 572. 61 Schlinker, Litis Contestatio, S. 478, 507. 62 Schmidt, Die Klagänderung, S. 1. 63 Wetzell, System, S. 956. 64 Linde, Lehrbuch, S. 258 f.; Wetzell, System, S. 957 f., will nicht einmal die Vervollständigung und Ergänzung der Klagetatsachen zulassen. Weit überwiegend wurden aber Präzisierungen des Klagebegehrens als zulässig erachtet, vgl. Schmidt, Die Klagänderung, S. 118 f.; Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 47 f.; Schlinker, Litis Contestatio, S. 509 f.
I. Gemeiner Prozess
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allerdings leicht umgangen werden, indem der Kläger einfach die Klage zurücknahm und eine neue anstrengte, ohne dass über die alte Klage rechtskräftig entschieden werden musste.65 4. Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung Im gemeinen Prozess ging die Initiative zur Festlegung von Streitsache und status controversiae von den Parteien aus. Das Gericht war nicht befugt, ein zivilrechtliches Verfahren eigenständig zu begründen.66 Während des Verfahrens musste es sich an die Anträge der Parteien halten und durfte über sie nicht hinausgehen.67 Die Parteien bestimmten folglich im Sinne der Verhandlungs- und Dispositionsmaxime über Inhalt und Umfang des Verfahrens. Der gemeine Prozess unterschied aber nicht deutlich zwischen Disposition über den Inhalt des Verfahrens und Verhandlung über den Streitstoff.68 Unter den Begriff des Verhandlungsgrundsatzes69 fasste es neben der Herrschaft der Parteien über den Tatsachenstoff auch die Beweiseinbringung. Gönner baute den Verhandlungsgrundsatz aus zum obersten Ordnungsgrundsatz des gemeinen Prozesses als „Korrelat der materiellrechtlichen Ausübungs- und Verfügungsfreiheit über die subjektiven Rechte“ des einzelnen Bürgers.70
65 Schmidt, Die Klagänderung, S. 127; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 252 f.; Schlinker, Litis Contestatio, S. 511. 66 “Ne procedat judex ex officio”, s. Wetzell, System, S. 517. 67 „Ne eat ultra petita partium“, s. Wetzell, System, S. 519; Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 158. 68 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76, Rn. 2; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 21. Zur nicht vorhandenen Trennung in den meisten europäischen Staaten vgl. Stürner, Parteidisposition, S. 1061. 69 Der Begriff stammt von Gönner, Handbuch des gemeinen deutschen Prozesses, Bd. I, S. 261: „Nichts von Amtswegen ist hier die allgemeine Maxime, welche, nur wenige Ausnahmen abgerechnet, für das ganze gerichtliche Verfahren in allen seinen Theilen aufgestellt wird, und welche man die Verhandlungsmaxime nennen kann, weil alles von dem Vorbringen der Parteien, oder von ihren Verhandlungen abhängt.“ Der Verhandlungsgrundsatz wird auch Beibringungsgrundsatz genannt, etwa von Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77. 70 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 20.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
II. Formularmäßige Streitfestlegung im früheren common law II. Common Law
1. Herausbildung des „gemeinen“ englischen Rechts Das common law71 wurde ab dem 12. Jahrhundert durch Gewohnheits- und Königsrecht verbreitet und in erster Linie durch die Gerichtspraxis von Entscheidung zu Entscheidung weiterentwickelt. Seine kontinuierliche Fortbildung, die im Laufe der Jahrhunderte keinen wesentlichen Brüchen unterlag, führt dazu, dass auch das heutige englische Recht nur als Produkt einer langen historischen Entwicklung zu verstehen ist. Die Ursprünge eines eigenständigen englischen Rechts reichen zurück bis zur Landnahme germanischer Stämme im 5. und 6. Jahrhundert, die einheimische Rechtsgewohnheiten auf die britische Insel trugen und auf lokaler Stammesebene etablierten.72 Zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert eroberten die Dänen Teile Englands und integrierten ebenso ihr eigenes Gewohnheitsrecht, so dass der südliche und westliche Teil Englands vom Recht der Angelsachsen, der nördliche und östliche Teil von dem der Dänen geprägt wurde.73 Wesentliche Impulse für die Entwicklung des common law ergaben sich aber erst nach der Eroberung Englands durch die Normannen, die ein Lehenswesen fränkischer Prägung einführten und die weltliche Jurisdiktionsgewalt vor Ort auf die Feudalherren übertrugen.74 Dies vervielfältigte die Gerichtsbarkeiten und führte dazu, dass von Ort zu Ort unterschiedliches Recht angewandt wurde. Welches Gericht als zuständig angerufen werden musste, entschied sich oft anhand der politischen Macht der Gerichtsherren.75 Wegen dieser Unübersichtlichkeit wandten sich Rechtssuchende mit ihrem Begehren daher häufig direkt an die Krone. Den Königen gelang es im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts, eine eigene königliche Jurisdiktion zu begründen und diese auf ganz England auszuweiten.76 Aus der Auf71
Der Begriff besitzt nach heutigem Verständnis mehrere Bedeutungen: Er steht für einen Rechtskreis als Gegenbegriff zum Rechtskreis des „civil law“ und als räumliche Abgrenzung zum kontinentaleuropäischen Recht, bezeichnet die Rechtsquelle des „case law“ als Gegensatz zum „statute law“ und kennzeichnet den Rechtsanwendungsbefehl für Rechtsregeln, die sich vom Normenkomplex der equity abgrenzen, vgl. Linhart/Stone, Englische Rechtssprache, S. 3.; Peter, Actio und writ, S. 17 Fn. 27. 72 Vgl. zum Ablauf des Verfahrens zu angelsächsischer Zeit Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 383 ff. 73 Holdsworth, A History of English Law, Bd. II, S. 15 f. 74 Unter Führung Wilhelms I., genannt „der Eroberer“, beendeten die Normannen im Jahr 1066 in der entscheidenden Schlacht bei Hastings die angelsächsische Herrschaft, s. Lerch, Art. Englisches Recht, HRG I (2. Aufl.), Sp. 1332 f. 75 Maitland, The Forms of Action, S. 10 ff. 76 Sie konnten ihr Recht auf Teilhabe an der Rechtsprechung zum einen darauf stützen, dass es einige Rechtsgesuche gab, die nur an den König gerichtet werden konnten, sogenannte placita coronae, s. Maitland, The Forms of Action, S. 10 f. Zum anderen war der König selbst Lehnsherr und hatte diesbezüglich die Gerichtshoheit über seine Kron-
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gabe des Königs, die einheitliche Handhabung des Rechts zu wahren und durchzusetzen, ergab sich seine Funktion als obere Instanz, wenn eine Klagepartei das Ausgangsgericht eines falschen Urteils bezichtigte.77 Diese Korrekturfunktion war noch keine reguläre Berufungsinstanz nach heutigem Verständnis.78 Es war aber gewohnheitsrechtlich verankert, dass sich ein Bittsteller, der bei seinem Gerichtsherrn keine Gerechtigkeit erlangte, an dessen übergeordneten Gerichtsherren wenden konnte; in letzter Konsequenz war dies der König als allgemeiner Richter über alle Freien. Dieser nahm anfangs über die Curia Regis, in der sich die Kronvasallen und führenden Kleriker versammelten, politisch wichtige Fälle zur Entscheidung an. Aus dieser Versammlung politsch bedeutsamer Würdenträger bildeten sich im 12. Jahrhundert feste Behörden, die in Westminster angesiedelt waren und bald auch Rechtsfragen für die von ihnen geregelten Bereiche entschieden. Unter Heinrich II. (1154–1189) erhielten sie den offiziellen Status als Gerichte79 und verselbstständigten sich zur Zeit der Regentschaft Eduards I. (1272–1307), so dass sie aus der Curia Regis ausgegliedert waren.80 Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatten sich drei fest in Westminster organisierte Gerichtshöfe gebildet: Für Steuerfragen im Zusammenhang mit dem Lehenswesen war der Court of Exchequer zuständig, der Court of Common Pleas entschied über allgemeine Zivilsachen und der Court of King´s Bench gab die persönliche Rechtsprechung des Königs wieder.81 Neben den fest installierten Gerichten in Westminster reisten in regelmäßigen Abständen königliche Beauftragte als iusticiarii itinerantes (reisende Richter) durch das Land und sorgten so für eine einheitliche Anwendung des Rechts.82 Stadt-, Grafschafts- und Lehnsgerichte wurden dadurch zurückgedrängt und partikulare Rechte entweder verdrängt oder in das neu vasallen inne. Die Hauptursache dafür, dass sich durch königliche Rechtsprechung ein „gemeines englisches Recht“, das common law, entwickeln konnte, lag in der Autorität des Königs als übergreifendem Rechtskorrektiv, s. Lerch, Art. Englisches Recht, HRG I (2. Aufl.), Sp. 1333. 77 Maitland, The Forms of Action, S. 10. 78 Ob das Verfahrensrecht in dieser frühen Zeit ein Institut ähnlich der Urteilsschelte kannte, hat diese Arbeit nicht untersucht. Zur deutschrechtlichen Praxis des Urteilsscheltens und bei den frühen Kanonisten vgl. Schlinker, Die prozessuale Funktion der sententia interlocutoria, ZRG KA, Bd. 96 (2010), S. 184 f. 79 Dies bedeutete, dass die königliche Gerichtsgewalt auf sie delegiert worden war und sie auch ohne Anwesenheit des Königs Entscheidungen treffen konnten, s. Peter, Actio und writ, S. 16. 80 Vgl. Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. I, S. 169 ff. 81 Vgl. ausführlich zum Zuständigkeitsbereich der Gerichtshöfe Holdsworth, A History of English Law, Bd. I, S. 194 ff. 82 Peter, Actio und writ, S. 17 zieht eine Parallele zu den fränkischen missi.
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entstehende common law integriert. Rechtssuchende unterwarfen sich vorzugsweise der königlichen Gerichtsbarkeit, weil diese im Gegensatz zu Partikulargerichten über die nötige Autorität verfügte, den Beklagten zur Einlassung in den Prozess zu bewegen und den Titel des Klägers schließlich zu vollstrecken. So bildete sich in England früh ein einheitliches Recht aus, das im Gegensatz zum deutschen gemeinen Recht bald den Vorrang vor den örtlichen Gewohnheiten erhielt.83 Ausschlaggebend für die Bildung einer Rechtsordnung, die in ganz England beachtet und angewendet wurde, waren folglich die Zentralisierung der Gerichtsverfassung und die Durchsetzungsfähigkeit der königlichen Gerichte. Diese Arbeit stützt sich im Folgenden auf die Regeln des Verfahrens vor den Königsgerichten, untergerichtliche Rechtsprechung klammert sie aus. Gefördert wurde die Rechtsentwicklung durch die Aufzeichnung und Sammlung von Entscheidungen. Erste schriftliche Fixierungen der von den Parteien vor Gericht gehaltenen Vorträge finden sich in den plea-rolls, die seit dem 12. Jahrhundert durch Gerichtsschreiber angefertigt wurden.84 Seit der Zeit Eduards I. wurden Urteilsgründe in sogenannten year books festgehalten; eine ausführlichere und regelmäßigere Gerichtsberichterstattung kam im 16. Jahrhundert auf mit den privaten law reports, die bis heute die Grundlage für die Rechtspraxis des auf Präjudizien gestützten Rechtssystems bilden.85 Diese förderten mit ihrer zunehmenden Drucklegung die Rechtsentwicklung, denn erst die schriftliche Fixierung einer breiten Zahl von Fällen konnte Ähnlichkeiten in der Entscheidungsfindung sowie allgemeine Rechtsgrundsätze verdeutlichen und Präzedenzentscheidungen den übrigen Richtern zugänglich machen. Neben der außerordentlichen Bedeutung von Präzedenzfällen schafften es einige wenige Rechtsbücher, die books of authority, vor Gericht selbst die Qualität von Rechtsquellen zu erhalten.86
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Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 12. Holdsworth, A History of English Law, Bd. II, S. 185 f. 85 Vgl. Blumenwitz, Einführung, S. 103 ff. 86 Ihre Bedeutung liegt in der Fixierung der Rechtsregeln, die im Prozess als verbindlich angesehen wurde, sowie in der Systematisierung des ansonsten zersplitterten englischen Normengefüges. Zu den books of authority des Tractatus de Legibus et Consuetudinibus Regni Angliae tempore Regis Henrici Secundus, das zwischen 1187 und 1189 fertiggestellt wurde und Ranulf de Glanvill zugeschrieben wird, bis zu den 1768 erschienenen Commentaries on the Laws of England von Sir William Blackstone vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 398 ff. 84
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2. Prägung durch das System der writs a) Definition des writ Das common law kannte bis zum 19. Jahrhundert keine Trennung von Verfahrensrecht und materiellem Recht, sondern gliederte sich in formalisierte Klagen, deren Klageformen, die forms of action, durch die Wahl eines writ bestimmt wurden. Die englische Rechtssprache verstand unter writ seit Heinrich II.87 ein kurzes, meist gesiegeltes Schreiben88, in dem der König den lokalen Gerichtsherren, meist den Sheriff einer Grafschaft, anwies, eine bestimmte Maßnahme zu ergreifen.89 Im Falle eines Zivilverfahrens bedeutete dies, dass der Sheriff den Beklagten offiziell aufzufordern hatte, dem klägerischen Begehren Genugtuung zu verschaffen. Weigerte sich der Beklagte, so konnte er vorgeladen werden und der Streitfall wurde vor den königlichen Gerichten verhandelt.90 Das writ war für den König somit ein effektives Mittel, um Rechtsstreitigkeiten von den lokalen Gerichten abzuziehen und seine Jurisdiktion auszudehnen.91 b) Bedeutung für das common law Das writ war Dreh- und Angelpunkt des common-law-Verfahrens. Er leitete nicht nur die Klage ein, sondern legte auch die Verfahrensordnungen und die anwendbaren materiellen Rechtsregeln fest. Das System der writs glich in Bedeutung und Ausgestaltung den actiones des prätorischen Edikts im klassischen römischen Recht. Ein Vergleich des writs mit möglichen antiken Vorbildern ist indes nicht Ziel dieser Arbeit.92 Im Mittelpunkt ste87 Geschriebene königliche Befehle existierten schon vor der normannischen Herrschaft. Sie waren allerdings noch nicht als Instrument der Verfahrenseinleitung institutionalisiert, vgl. Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 6. 88 Writ ist eine altertümliche Form des Partizip Perfects des Verbs to write. Der Begriff wäre also zu übersetzen mit written („geschrieben“) Vgl. zur Etymologie Peter, Actio und writ, S. 19 m. w. N. Da die frühe englische Gerichtssprache mehrfach zwischen Englisch, Französisch und Latein wechselte, wurde das writ häufig auch lateinisch breve oder französisch brief genannt, s. Baker, Introduction to English Legal History, S. 57. 89 Maitland, The Forms of Action, S. 4; Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 85. 90 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 294. 91 Peter, Actio und writ, S. 67. 92 Einen umfangreichen Vergleich unternahm Peter, Actio und writ. Seine Erkenntnisse bestätigen die Ähnlichkeit weiter Teile des writ-Systems mit dem römischen Aktionensystem. Peter fand allerdings keine Belege für einen direkten Einfluss des römischen Aktionensystems auf die englischen writs. Auch Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. II, S. 557 ff., registrierten die Ähnlichkeiten. Sie gingen davon aus, dass in England keine vorsätzliche Rezeption des römischen Rechts stattgefunden, sondern England das römische Verfahrenssystem unbewusst nach-
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hen soll dagegen die strukturelle Bedeutung des writ für das common law bis zum 19. Jahrhundert. (1) Klageeinleitung Für die Rechtsprechung hatte das writ zentrale Bedeutung, da es die maßgebliche Form der Klageerhebung vor den Königsgerichten war.93 Eine zivil- oder lehnsrechtliche Klage anzustrengen, war kein Recht, das man beliebig ausüben konnte, sondern ein Privileg des Klägers, das der König ihm zugestand. Dies erklärt sich aus der ursprünglichen Konzeption der königlichen Gerichte: Obwohl sich ihr Verfahren schnell verbreitete und die bereits bestehende Jurisdiktion an den Rand drängte, stellte der König sein eigenes Gerichtsverfahren grundsätzlich nicht an die Stelle des bereits bestehenden Systems, sondern bot lediglich eine Alternative an. Die Vorteile lagen in der einigermaßen einheitlichen und verlässlichen Rechtsprechung, in der größeren Autorität der Krone, die die Chance erhöhte, die andere Partei tatsächlich an den Urteilsspruch zu binden, sowie in den besseren Vollstreckungsmöglichkeiten eines Titels durch königliche Organe. Wer in den Genuss dieser Vorteile kommen wollte, musste das Privileg des königlichen Urteilsspruchs erst erbitten und dafür eine standardisierte Gebühr entrichten.94 Die königliche Rechtsprechung wurde dadurch nicht insofern käuflich, dass der Kläger das Urteil in seinem Sinne lenken konnte; wohl erhielt er aber die nötige Hilfe, die ihn überhaupt erst zur Durchsetzung seiner Rechte befähigte.95 Zuständig dafür war die königliche Kanzlei (chancery). Der Ausstellung eines writ war keine Anhörung vorgeschaltet, so dass es dem Kläger oblag, das richtige writ zu wählen.96 Das writ enthielt in knapper Form die wesentlichen Angaben des Falles, nämlich Namen und Wohnorte der Parteien, eine kurze Umschreibung des Streitverhältnisses auf Grund der Angaben des Klägers und den an die Umstände des Falls angepassten Befehl des Königs an den örtlichen Gerichtsherren.97 Waren diese Daten eingetragen, gebildet hatte. Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 86, beobachtet den Unterschied, dass die writs auf das Verhalten des Beklagten abstellten, während sich die actiones am Begehren des Klägers orientierten. 93 Baker, Oxford History Bd. VI, S. 323; Maitland, The Forms of Action, S. 4. 94 Baker, Introduction to English Legal History, S. 54; Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. I, S. 86. 95 Maitland, The Forms of Action, S. 16. 96 Als die Anzahl der verfügbaren writs zunahm, standen dem Kläger seit dem 13. Jahrhundert professionelle Helfer zur Seite, die gegen Bezahlung bei der Auswahl des richtigen writ behilflich waren. Daraus entwickelte sich allmählich der Anwaltsstand, s. Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. I, S. 190 ff. 97 Peter, Actio und writ, S. 20; Blackstone, Commentaries, Bd. III, S. 272 f.
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wurde das Dokument vom Kanzler unterzeichnet und mit dem königlichen Siegel versehen.98 War das writ gesiegelt, so wurde es dem lokalen Gerichtsherrn zugestellt. Der Beklagte erhielt regelmäßig erst Kenntnis von der Klage, wenn ihn der Gerichtsherr vorlud und dabei das writ überbrachte. (2) Auswahl der Verfahrensordnung Mit der durch die chancery beglaubigten, hoheitlichen Handlungsanweisung des Königs an den örtlichen Gerichtsherrn hatte sich die Wirkung des writ noch nicht erschöpft, denn jedes writ hatte seine eigenen technischen Besonderheiten und unterschied sich von anderen writs in seinen Fachtermini, den möglichen Prozesshandlungen und der Gestaltung des Verfahrensablaufs.99 Die Unterschiede erstreckten sich von der Zuständigkeit des Gerichts über die Art und Weise, wie der Beklagte vorzuladen war, die Anforderungen an die mündlichen Vorträge der Parteien und die anzuwendenden Beweismittel bis hin zur Vollstreckung des Urteils.100 Die Wahl des writ wirkte sich so auf das gesamte Verfahren aus. Formalia erhielten durch die zahlreichen Besonderheiten der writs einen hohen Stellenwert. Ihre Bedeutung wurde noch dadurch verstärkt, dass materielles Recht nirgendwo verlässlich niedergelegt war. Eine Aussage über die materiellen Rechtsgründe und damit über den Ausgang des Verfahrens konnte ohne stichfeste Präzedenzfälle nicht getroffen werden. Diese galten aber nicht generell, sondern nur für das jeweilige writ, unter dem sie ergangen waren. Rechtssuchende hatten vor der turnusmäßigen Veröffentlichung von Entscheidungssammlungen ohnehin Schwierigkeiten, von Präjudizien Kenntnis zu erlangen. In dieser unsicheren materiellen Rechtslage konnte es für englische Juristen gewinnbringender sein, sich auf Ver-
98 Diese prozessbegründende Urkunde wurde original writ genannt, s. Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. I, S. 174 f.; Holdsworth, A History of English Law, Bd. II, S. 193 f. – Daneben konnten im Verlauf des Verfahrens weitere judicial writs erlassen werden, etwa um die Einlassung des Beklagten zu erzwingen und den Fortgang des Verfahrens zu sichern, vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 64 f. 99 Vgl. Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. II, S. 566; Baker, Oxford History Bd. VI, S. 323. Schon bei der abstrakten Bezeichnung der Prozessparteien gab es keine einheitliche Regelung. Teilweise wurden Kläger und Beklagter in Anlehnung an Begriffe aus dem Lateinischen und dem Law French als demandant und tenant bezeichnet, teilweise als plaintiff und defendant, s. Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. II, S. 569. 100 Maitland, The Forms of Action, S. 3. Für Beispiele der prozessualen Besonderheiten vgl. Peter, Actio und writ, S. 39 ff.
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fahrensfragen zu konzentrieren, da diese durch das writ besser fixiert waren.101 War das writ einmal ausgestellt, so konnte der Kläger seine Wahl nicht widerrufen.102 Er tat gut daran, bei der Auswahl umsichtig vorzugehen, denn schon wenn er die falsche Bezeichnung für sein writ wählte, drohte ihm Prozessverlust durch Abweisung des Verfahrens.103 In manchen Fällen konnte er dieses Risiko nicht einmal selbst beeinflussen.104 Die writs of detinue und trover beispielsweise regelten beide mit unterschiedlichen Rechtsfolgen den Fall, dass dem Eigentümer sein Eigentum widerrechtlich vorenthalten wurde. Mit detinue verlangte der Kläger das Eigentum an sich heraus, mit trover zielte er auf Wert- oder Schadensersatz ab. Falls die Herausgabe der Sache im Laufe einer action of detinue unmöglich wurde, wies das Gericht den Kläger ab. Auch wenn er keinen Anteil daran gehabt hatte, dass die Herausgabe unmöglich geworden war, etwa weil die Sache zerstört worden oder verloren gegangen war, durfte er die Klage nicht umstellen und auf die action of trover ausweichen. Die einzig verbleibende Möglichkeit war, die Gerichtskosten zu tragen und in einem neuen Verfahren auf trover zu klagen. Selbst für gründlichste Kläger gestaltete sich die Festlegung auf die richtige Klageform aus zwei Gründen äußerst schwierig. Zum einen musste er angesichts der großen Anzahl der verfügbaren writs feststellen, welche rechtlichen Möglichkeiten sich ihm überhaupt boten. Zum anderen waren sich einige writs in ihren Merkmalen sehr ähnlich, so dass sie sich nicht klar voneinander abgrenzen ließen. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte die Gesetzgebungskommission zur Reform des Zivilverfahrens fest: „Yet the distinction between the injuries to which these forms of actions are respectively appropriate is often […] of a very shadowy nature […].”105 Die Klage unterlag aus diesen Gründen insgesamt dem Risiko, aus rein technischen Gründen erfolglos zu bleiben. Wurde die Klage aufgrund einer falscher Auswahl des writ abgewiesen, so wurde diese Entscheidung nicht näher begründet.106 Ohne Hilfestellung der Gerichte war dem Kläger aber 101 Die Bedeutung von Verfahrensformalia spiegelte sich in der juristischen Literatur wider. Maitland, The Forms of Action, S. 8, nennt als Beispiel Bracton, der in seinem mit der Autorität eines book of authority ausgestatteten Werk De Legibus Consuetudinibus Angliae, das zwischen 1250 und 1256 veröffentlicht wurde, nur 100 der von ihm bearbeiteten Blätter den personae und res, aber 350 den actiones widmete. 102 Maitland, The Forms of Action, S. 4. 103 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 248: “[…] the choice of the wrong writ involved the loss of the action, even though all the merits were with the plaintiff”. 104 Das folgende Beispiel ist Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 23 f., entnommen. 105 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/33. 106 Odgers, Changes in Procedure, S. 212 f.
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nicht ersichtlich, welchen writ er hätte nehmen müssen, so dass er sich durch eine erneute Klage auf ebenso unsicheres Terrain begab. War eine Klage wegen eines unzulässigen writ abgewiesen worden, so war der Kläger nur insoweit präkludiert, als er sein Begehren nicht mit diesem bestimmten writ geltend machen konnte; im Übrigen stand es ihm frei, mit einer anderen Klage sein Glück zu versuchen.107 Freilich verzögerte sich die Entscheidung des Rechtsstreits und die Kosten des Verfahrens stiegen. Ein Rechtsstreit konnte so zu einem teuren Ausprobieren von Klageformen ausarten.108 Selbst wenn der Kläger das richtige writ gewählt hatte, konnte er an dessen präzisen Anforderungen scheitern, obwohl eine Klage von materiellrechtlicher Seite aus erfolgversprechend war. Dies wurde deutlich beim writ of debt. Ein writ für unbezifferte Forderungen (quantum meruit) stellten die Schreiber der chancery nicht aus. Hatte sich der Kläger notgedrungen von vorneherein endgültig auf einen bestimmten Betrag festzulegen, so durfte er dessen Höhe im Verlauf des Prozesses auch nicht mehr anpassen. Befand die jury, dass ihm nach der Sachlage ein anderer als der eingeklagte Betrag zustand, so sprach ihm das Gericht nicht etwa den geänderten Betrag zu, sondern wies die Klage insgesamt ab mit der Begründung, das Ergebnis des Beweisverfahrens stimme nicht mit der auf dem writ eingetragenen Summe überein.109 (3) Anerkennung materieller Rechtsregeln Das writ war zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert das Instrument des Königs, um das von ihm geschützte common law großflächig auszudehnen. Räumlich geschah dies durch eine Kombination von festen Gerichten in Westminster und fahrenden Beamten, die die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im gesamten Hoheitsgebiet sicherten. Inhaltlich saugte das writSystem immer wieder neue Rechtsgebiete an und nahm sie im common law auf. Gab der Kanzler für ein Begehren ein writ und damit eine neue Rechtsschutzmöglichkeit, dann wurde diese Teil des common law. Damit war nicht beabsichtigt, materielle Berechtigungen neu zu erschaffen. Das writ war vordergründig nur das verfahrensrechtliche Mittel, um einen Beklagten zu laden und den Prozess einzuleiten.110 Knapp gehalten in seiner jeweiligen Formel, machte es über die materiellrechtlichen Vo107
In diese Richtung Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 413. Odgers, Changes in Procedure, S. 213: „ Hence in some cases it was only by a costly process of elimination that a plaintiff could ascertain for certain which was his proper legal remedy. For instance, if he sued in trespass and trespass did not lie, he was non-suited and had to pay the defendant´s costs. When he had paid these costs, he could begin again.” 109 Curzon, English Legal History, S. 90. 110 Peter, Actio und writ, S. 19 f. 108
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raussetzungen des klägerischen Begehrens keine Angaben. Durch Präzedenzfälle schälten sich aber im Laufe der Zeit die materiellrechtlichen Voraussetzungen heraus, die sich hinter einem writ verbargen. Außerdem konnte der Kläger mit seinen behaupteten materiellen Berechtigungen vor Gericht nur gehört werden, wenn sie über ein spezifisches writ in das Verfahren eingeführt wurden. In ihrer Entstehungszeit schufen die original writs also neue subjektive Rechte insofern, als dass sie diese erstmals hoheitlich anerkannten und gerichtlich durchsetzbar machten.111 Solange das königliche writ-Verfahren nur eine Alternative zu den traditionellen Jurisdiktionen bot, öffnete das writ damit eine neue Tür zum Recht neben vielen anderen. Der rasche Bedeutungsverlust der traditionellen partikularen Jurisdiktionen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts führte aber dazu, dass diese Tür zum unumgehbaren Nadelöhr schrumpfte. Ohne ein writ bestand kein Recht, das man klageweise hätte durchsetzen können.112 Das writ bestimmte letztlich, nach welchen materiellen Rechtsgrundsätzen der Richter den ihm vorgelegten Sachverhalt zu beurteilen hatte.113 Es übernahm die Rolle eines prozessualen Verteilerfachs, in dem jeweils eigene materielle Rechtsregeln abgelegt waren.114 Das materielle Recht, das unter einem bestimmten writ anwendbar war, entwickelte sich meist unabhängig von den materiellen Rechtsregeln, die unter einem anderen writ angewendet wurden. Geht man von den Rechtszielen aus, so lassen sich zwei Kategorien von writs unterscheiden: Die eine richtete sich auf Durchsetzung eines Rechtsanspruchs gegen den Beklagten (praecipe writs), die andere reagierte auf dessen Fehlverhalten (wrong).115 Die moderne Einteilung nach Rechtsbereichen wie Vertrags- oder Deliktrecht spielte aber keine Rolle, so dass sich für die Streitparteien bei aus heutiger Sicht miteinander verwandten Sachverhalten ganz unterschiedliche rechtliche Möglichkeiten ergeben konnten. Im Kaufrecht gab es beispielsweise kein standardisiertes writ, mit dem ein Verkäufer einen Kaufpreisanspruch geltend machen konnte. Der Vertrag als Rechtsfigur existierte im 13. Jahrhundert vor den königlichen common-law-Gerichten noch nicht. Zuständig für private Vereinbarungen waren andere Gerichtsbarkeiten, etwa Kirchen-, Stadt- oder Handelsgerichte.116 Die königlichen Gerichte nahmen Fälle an, die das Interesse der Krone berührten, und dies waren überwiegend lehnsrechtliche Streitigkeiten. 111
Ähnlich Peter, Actio und writ, S. 37 f. und 72; Baker, Oxford History Bd. VI, S. 323. 112 Salmond/Heuston, Law of Torts, S. 1: „Where there was no writ there was no right.” 113 Peter, Actio und writ, S. 35 f.; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 411 f. 114 Maitland, The Forms of Action, S. 3. 115 Baker, Introduction to English Legal History, S. 57 und 59. 116 David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme, S. 445.
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Statt eines writ für den Fall privater Vereinbarungen hatte das common law andere Anknüpfungspunkte. So stellte etwa das writ of detinue auf die tatsächliche Sachherrschaft ab. Mieter, Verwahrer, Entleiher oder Fuhrunternehmer wurden nicht durch eine Vereinbarung mit dem Eigentümer zur Sorge für einen fremden Gegenstand verpflichtet, sondern dadurch, dass sie ihn in ihrem Besitz hatten.117 Die geläufigen writs, um einen Kaufpreisanspruch einzuklagen, waren die writs of debt und covenant.118 Verlangte der Verkäufer vom Käufer eine zahlenmäßig bestimmte Geldsumme, so musste er das writ of debt beantragen.119 Bei ihm wurde angenommen, dass der Vertrag nur bindend sei, wenn beide Vertragsparteien einen Beitrag leisteten, mithin im Gegenzug für eine empfangene Leistung eine wirtschaftliche Belastung hinnahmen.120 War der Vertrag dagegen förmlich durch eine gesiegelte Privaturkunde geschlossen worden, griff das writ of covenant. Nur bei dieser auf die Form der Vereinbarung abstellenden Klage war es dem Gläubiger möglich, bei einem Vertragsbruch des Schuldners Schadensersatz, der zum Zeitpunkt der Klageeinleitung noch unbeziffert war (unliquidated damages), zu erhalten.121 c) Entwicklung des writ-Systems Durch die Anerkennung von materiellen Rechtsregeln und der entsprechenden Anwendungsbefehle ordneten die writs das common law insgesamt und gaben ihm den Charakter eines Aktionensystems. Mit Kurztiteln bezeichnet, richtete sich nach ihnen der durch Klagen verbürgte Rechtsschutz aus. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts war das writ ein individuelles Privileg des Königs. Die königlichen Schreiber stellten die Urkunden jedes Mal neu aus, statt auf Präzedenzfälle zurückzugreifen.122 Da bestimmte Rechtsbegehren immer wieder gestellt wurden und sich häuften, legten die Schreiber des Kanzlers in der Regierungszeit Heinrichs II. stan117
David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme, S. 445. Die writs im Wortlaut sind abgedruckt bei Baker, Introduction to English Legal History, S. 539 ff. 119 Lobban, Contract, Oxford History Bd. XII, S. 314; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 412. 120 Dieser Grundsatz, der auf das Anerkenntnis einer Schuld aufbaut, entwickelte sich später zu einem typischen Charakteristikum der englischen Vertragsrechts-Dogmatik, der Voraussetzung der consideration, s. Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 420 ff. Zur Bedeutung der equity beim Konzept der consideration vgl. Lobban, Contract, Oxford History Bd. XII, S. 361 f. 121 Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 417 ff.; Lobban, Contract, Oxford History Bd. XII, S. 314; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 412. 122 Maitland, The Forms of Action, S. 16; zum Verfahren der Formulierung von writs vgl. Baker, Oxford History Bd. VI, S. 325 f. 118
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dardisierte Musterformulare an, die sie aus früheren Urkunden angefertigt hatten. Das Privileg des Königs wurde zur verfahrensrechtlichen Normalität,123 Kurztitel kennzeichneten die writs und machten sie in der Praxis schneller auffindbar. Um ein writ auszustellen, nahmen die Gerichtsschreiber nun das vom Kläger ausgewählte Formular als Blankett und setzten nur noch die Personen- und Ortsnamen sowie das Datum ein.124 Als die Zahl der verfügbaren writs zunahm, erstellten die Beamten der chancery Sammlungen mit den gebräuchlichsten Klageformularen, die registers of original writs.125 Die enorme Fülle an neuen writs erweiterte die Anwendbarkeit des common law so weit, dass der Rechtsbetrieb davon ausging, dass so viele writ-Formulare wie Klagearten existierten, bei Bedarf beliebig viele neue Klageformulare angefertigt werden konnten und die Kläger darum in den für sie verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Königsgerichten nicht beschränkt seien.126 Die writs folgten keinem in sich geschlossenen System, sondern den vor die königliche Kanzlei gebrachten Rechtsschutzbedürfnissen. Ihre Anzahl erschwerte dem Kläger die Auswahl der seinem Begehren entsprechenden Klage zunehmend. Aus den Grafschaften erhob sich zudem Widerstand durch die Feudalherren, die eine Ausdehnung der königlichen Gerichtsgewalt auf sämtliche Rechtsstreitigkeiten ablehnten.127 Heinrich III. (1216–1272), unter dessen Ägide die Zahl der writs zunächst rapide angestiegen war, reagierte durch Zugeständnisse: Seit den Provisions of Oxford von 1258 mussten neue writs vor ihrer Einführung von den Vasallen der Krone gebilligt werden.128 Die Herausgabe neuer writs sank damit erheblich. Nachdem die writs durch die Formelsammlungen konsolidiert worden waren, konnten Präzedenzfälle zu ihnen ergehen und so ihren materiellrechtlichen Gehalt präzisieren.129 Ein Kläger, für dessen Begehren sich 123
Maitland, The Forms of Action, S. 17. Peter, Actio und writ, S. 20 f. 125 Deren Umfang wuchs rasant: Während ein Register aus dem Jahr 1227 erst 56 writs enthält, zählt ein weiteres aus der Regierungszeit Eduard I. um 1307 bereits 471 writs auf, s. Peter, Actio und writ, S. 46 m. w. N. Viele writs wurden in der Gerichtspraxis aber niemals angewendet, so dass sie wieder aus den registers verschwanden. 126 Maitland, The Forms of Action, S. 5. 127 Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 13. 128 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 296. Zuvor war der König den Feudalherren bereits durch Art. 24 der Magna Charta entgegengekommen, indem er sich verpflichtet hatte, das writ praecipe quod reddat nur noch Vasallen der Krone zu gewähren. Dieses writ war der Gerichtsgewalt der lokalen Feudalherren besonders gefährlich geworden, da mit ihm jeder Lehnsmann seinen eigentlichen lehnsrechtlichen Gerichtsherren übergehen und direkt das königliche Gericht anrufen konnte, s. Peter, Actio und writ, S. 24. 129 Kommentierte registers of writs beschäftigten sich in der Folge nicht nur mit der Form der writs, sondern auch mit ihrer inhaltlichen Auskleidung. Die meistverbreitete 124
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kein writ fand, unter das die Klage subsumiert werden konnte, befand sich seit der Beschränkung des writ-Systems auf die bereits vorhandenen Klagen in einem Dilemma. Er konnte nun nicht mehr um die Gewährung eines neuartigen writs nachsuchen. Die gerichtliche Durchsetzung seines Anspruchs war ausgeschlossen, so schutzwürdig das Begehren auch erscheinen mochte.130 Diesem Problem half das Statute of Westminster II 1285131 durch eine Ausnahmeregelung ab. Art. 24 des Gesetzes bestimmte, dass eine Klage weiterhin in Fällen zugelassen werden konnte, die mit dem Tatbestand eines bereits vorhandenen writs zwar nicht völlig übereinstimmten, ihm aber weitgehend ähnelten.132 Mit diesen writs in consimili casu konnten neue Klagen als actions on the case eingeleitet werden. Damit lässt sich die Entwicklung des writ-Systems in eine kurze Phase explosionsartigen Anwachsens und eine lange Phase seiner Konsolidierung und Stagnation einteilen. Im 12. und 13. Jahrhundert eroberte die Rechtsprechung des Königs immer neue Gebiete des Rechts durch stetige Herausgabe neuer writs. Im Jahr 1258 geboten die Feudalherren dieser Praxis in Folge der Provisions of Oxford Einhalt. Abgesehen von der Ausnahmeregelung des writ in consimili casu, die actions on the case und damit eine gewisse Flexibilität in der Reaktion auf neuartige Rechtsschutzbegehren ermöglichte, hatte sich bis zum Ende der Regentschaft Eduards I. im Jahr 1307 der Katalog an writs und damit an verfügbaren Klagen geschlossen. Ihr Umfang erweiterte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht, sondern die Anzahl der verwendeten Klagen reduzierte sich wieder, da sich der Anwendungsbereich mancher Klagen nur wenig unterschied und die selten gebrauchten Klagen in der Gerichtspraxis verschwanden. Das Grundgerüst des common-law-Verfahrens stand zu Beginn des 14. Jahrhunderts fest und trug den Verfahrensablauf bis in das 19. Jahrhundert.133
kommentierte Fassung eines register of original writs von Anthony Fitzherbert (1470– 1538) machte dies schon durch ihren Titel „New Natura Brevium“ deutlich. Zu der Bedeutung dieser Sammlung vgl. Baker, Oxford History Bd. VI, S. 323; Holdsworth, A History of English Law, Bd. V, S. 380. 130 Maitland, The Forms of Action, S. 4; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 248. 131 Statute of Westminster II 1258, 13 Edward I. 132 Baker, Oxford History Bd. VI, S. 324; Maitland, The Forms of Action, S. 41; Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 305 f. 133 Dementsprechend konzentrieren sich englische Darstellungen des common law und insbesondere der forms of action auf die Periode zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert und halten sich bei der Zeit bis zum 19. Jahrhundert häufig kurz. Vgl. nur die fünfte Vorlesung in Maitland, The Forms of Action, S. 43–53, die einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten abdeckt.
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3. Streitbestimmung durch die Technik der pleadings Aus dem Blankett des writ ergab sich noch nicht der individuelle Streit zwischen den Parteien. Erst die Parteivorträge in Form der pleadings ermöglichten es ihnen, die Gründe ihres Streits konkret zu benennen. Gemeinsam mit dem writ bildeten die pleadings die Hauptbestandteile der forms of action, die damit zum Überbegriff für die besonderen Techniken und Klageformalia wurden, die sich durch Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht für jedes writ gesondert herausgebildet hatten.134 a) Entstehung der pleadings In den Anfängen des common law waren die Parteivorträge noch wenig entwickelt, da ihr Einfluss auf den Ausgang des Gerichtsverfahrens gering war. Nachdem der Kläger sein Begehren in der durch das writ vorgegebenen Form vorgetragen und der Beklagte dieses ebenso förmlich zurückgewiesen hatte, musste eine der Parteien beschwören, dass ihre Aussagen der Wahrheit entsprachen.135 Um die Verlässlichkeit des Eides zu testen, wendeten die königlichen Gerichte zunächst die archaischen Beweismethoden der lokalen Gerichte an und beriefen sich in ihrer Entscheidung unmittelbar auf göttlichen Willen. Die Argumente der Parteien gaben dabei nicht den Ausschlag; stattdessen identifizierten die Richter den Rechtschaffenden daran, dass er sich in einem Zweikampf bewährte oder im Gottesurteil bestand.136 Gängig war auch die Eideshilfe des wager of law, mit dem sich der Beklagte reinigen konnte. Er musste dazu seine Verpflichtung bestreiten und dies vor Gericht in Anwesenheit von zwölf Zeugen beschwören, die ihrerseits die Ausführungen des Beklagten mit einem Schwur unterstützten.137 Hielt der Schwur die festgesetzte Form ein, so verlor der Kläger den Prozess. Die Beweisführung durch das wager of law war auch ohne Bezugnahme auf Gott denkbar, fußte aber jedenfalls auf dem Vertrauen in die Verlässlichkeit des Eides und die tatsächliche Sachkenntnis der Zeugen. Sie wurde ad absurdum geführt, als die Beklagten begannen, Eideshelfer 134 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/32: “It may be difficult to define what is meant by a form of action. Practically, however, it may be said to be the peculiar mode framing the writ and pleadings appropriate to the particular injury which the action is intended to redress.”; Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 84; Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 87. 135 Bailey/Gunn/Ching/Taylor, Modern English Legal System, S. 9. 136 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 423. Das Gottesurteil konnte beispielsweise daraus bestehen, glühende Eisenstangen zu tragen, den Arm in kochendes Wasser zu halten oder ins Wasser getaucht zu werden. 137 Baker, Introduction to English Legal History, S. 74.
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anzuwerben, die einen beliebigen Schwur gegen Bezahlung leisteten, ohne tatsächlich Zeugen des streitigen Vorfalls gewesen zu sein.138 In einem Verfahren, das sich allein auf Gottesurteil und Eidesleistung stützte, war für eine Rechtsentwicklung außerhalb der Formalia der writs oder für die Kultivierung einer Technik von Klagebegründung und – erwiderung kein Raum. Die pleadings entwickelten sich erst mit der Änderung der Beweismethoden durch die Einsetzung von Geschworenen. Um die Verfahrensgerechtigkeit zu erhöhen, setzten die Gerichte ab dem 13. Jahrhundert rationale Beweismittel ein. Dem manipulierbaren wager of law setzten sie das trial by jury entgegen. Dazu setzten sie Geschworenengremien ein, die ebenfalls als Zeugen im Prozess gehört wurden, im Gegensatz zu bezahlten Eideshelfern aber von einem königlichen Beamten ausgewählt wurden und keiner Partei besonders nahestanden.139 Die Mitglieder der jury glichen kundigen Nachbarn, die die streitige Situation gut kannten und denen eine Bewertung der Verhältnisse vor Ort zugetraut wurde.140 Anfangs stammte die jury aus dem Umfeld der Streitparteien, so dass davon ausgegangen wurde, dass ein Geschworener genau wie ein Zeuge über den Fall Bescheid wusste und berichten konnte. Es setzte sich aber die Regel durch, dass die jury nur aufgrund der Beweise, die vor dem öffentlichen Gericht selbst erhoben worden waren, entscheiden sollte und dass ihr verdict (das Jury-Urteil) einstimmig erfolgen musste.141 Das Beweismaterial kam nicht mehr von der Befragung der Geschworenen selbst, sondern von tatsächlichen Zeugen. Das Tatsachenmaterial, das sich aus der Zeugenbefragung vor Gericht ergab, wurde zur Grundlage des verdict. In dem Maße, in dem die jury nicht mehr zu Beweiszwecken herangezogen wurde, sondern selbst über anderweitig erhobene Beweise urteilte, wuchs ihre Bedeutung für das Verfahren. Die Geschworenen erhielten nun als Tatsachenrichter den Rang eines Gerichtsorgans. Dem vom König bestellten judge verblieben nur noch Entscheidungen über reine Rechtsfragen.142 Damit nahm die jury einen zentralen Platz im Verfahrensablauf des common law ein. Sie bestimmte, ob die Behauptungen einer Partei zur 138
Baker, Introduction to English Legal History, S. 74. Bailey/Gunn/Ching/Taylor, Modern English Legal System, S. 9; Millar, Civil Procedure at the Trial Court, S. 20. 140 Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. II, S. 621; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 424. 141 Bailey/Gunn/Ching/Taylor, Modern English Legal System, S. 9; Pollock/Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, Bd. II, S. 624 vermuten, dass die judges ein einstimmiges Urteil der jury forderten, um sich im Wege des geringsten Widerstandes abzusichern. In ihrem abschließenden Urteil konnten sie ganz auf die Entscheidung der jury verweisen, die aufgrund der Einstimmigkeit offensichtlich keine andere Bewertung des Falles zuließ. 142 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03. 139
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Grundlage der richterlichen Entscheidung wurden oder ob sie als nicht erwiesen unbeachtet blieben. Die unterschiedliche prozessuale Behandlung von Sach- und Rechtsfragen wurde durch die sogenannte nisi-prius-Regelung verstärkt. Weil es nicht umsetzbar gewesen wäre, die Mitglieder der jury zu jeder Verhandlung nach Westminster reisen zu lassen, erfolgte die Ladung unter dem Vorbehalt, dass die Geschworenen zum Termin in Westminster nur erscheinen mussten, falls nicht vorher die reisenden Richter des Königs durch die Grafschaft kamen und in Vertretung der drei königlichen Gerichtshöfe die Verhandlung vor Ort betreuten. Die Gerichtstermine wurden üblicherweise an die turnusmäßigen Besuche der reisenden Richter angepasst, so dass sie das verdict der jury aufnehmen und denjenigen Gerichten übermitteln konnten, die dieses Tatsachenurteil rechtlich bewerteten.143 b) Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung mittels der issues Während das writ das immer gleich formulierte Klagebegehren sowie den Rechtsanwendungsbefehl enthielt, individualisierten die pleadings der Streitparteien den Rechtsstreit, indem sie die issues eines Falles herausschälten. Unter issues wurden die entscheidungsbedürftigen Streitpunkte in einem Gerichtsverfahren verstanden, die von einer Partei behauptet, von der anderen Partei aber verneint wurden und sowohl Tatsachen- als auch Rechtsfragen sein konnten.144 Die Parteien bildeten durch die abwechselnd vorgetragenen pleadings das Prüfprogramm in Form der issues, über dessen Tatsachenteil die jury entscheiden musste.145 Wollten die Streitparteien das Tatsachengericht der jury, das sich aus juristischen Laien zusammensetzte, von der Wahrheit ihres Vorbringens überzeugen, so mussten sie den Sachverhalt des Falles möglichst knapp und präzise halten, statt komplex und abstrakt zu formulieren. Nur eindeutige Tatsachenfragen konnten die Geschworenen eindeutig entscheiden, so dass sich die Parteivertreter vor Gericht bemühten, die Tatsachen eines Falles prägnant und verständlich zu schildern.146 Aus der Notwendigkeit eines strukturierten und nachvollziehbaren Sachvortrags entwickelte sich 143 Baker, Introduction to English Legal History, S. 21. Die nisi-prius-Regel war ab dem Statute of Westminster II, c. 30 gesetzlich fixiert. Sie ist zu unterscheiden von der Rechtsprechung der assizes, durch die die Gerichtshoheit völlig den reisenden Richter übertragen worden war, so dass der Prozess überhaupt nicht mehr nach Westminster gelangte. Im Falle von nisi prius hatten die reisenden Richter aber nur delegierte Hoheitsrechte und konnten eine Entscheidung der Gerichtshöfe in Westminster nicht vorwegnehmen. Zur Abgrenzung zwischen assizes und nisi prius vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 20 f. 144 Baker, Introduction to English Legal History, S. 77. 145 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03. 146 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 428.
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ein weiterer Bestandteil der forms of action, die umfangreiche Technik der pleadings.147 c) Zusammenspiel der Parteivorträge Die Parteien trugen ihre pleadings der jury, deren Mitglieder im seltensten Fall des Lesens und Schreibens mächtig waren, mündlich vor.148 Obwohl je nach writ eine Fülle von Spezialvorschriften für das Vortragen der pleadings gelten konnte, lässt sich doch ein immer wiederkehrender Ablauf identifizieren. Der Kläger eröffnete die pleadings mit dem count, in dem er die durch das writ festgelegte Angelegenheit weiter ausführte und die Details des Klagegrundes offenlegte.149 Die naheliegenste Möglichkeit für die Antwort des Beklagten war die generelle Zurückweisung des klägerischen Begehrens (general issue), mit der er jede einzelne Behauptung des Klägers in Frage stellte und der jury zur Entscheidung vorlegte.150 Das general issue hatte für den Beklagten den Vorteil, dass er sich alle prozessualen Optionen offenhielt. Er verminderte seinen Gestaltungsspielraum nicht, denn das general issue wurde nicht einfach nur als pauschales Bestreiten ohne Mehrwert für die Sachverhaltsaufklärung aufgefasst, sondern machte deutlich, dass der Beklagte alle Gegenrechte erhob, die nur irgendwie in Betracht kamen.151 Freilich förderte dieses Vorgehen nicht den Zweck der pleadings, die streitentscheidenden Punkte herauszuarbeiten, denn der Beklagte enthüllte durch das general issue seine Verteidigungsmittel nicht.152 Das allgemeine Bestreiten war in denjenigen Fällen für den Beklagten risikoreich, in denen es wahrscheinlich war, dass die jury den Sachverhalt ohne weitere Präzisierung falsch aufnehmen würde, sei es, weil der Fall an sich zu kompliziert war und näherer Erläuterung bedurfte,153 sei es, weil bei einem mündlich vorgetragenen Sachverhalt generell die Gefahr der
147
Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03. Millar, Civil Procedure at the Trial Court, S. 21 ff.; Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 66. Sogenannte counters, professionelle Vorsprecher, entwarfen die pleadings und trugen sie kunstgerecht vor, damit die Klage nicht schon an einem verbalen Lapsus beim Vortrag der Klageformel scheiterte, s. Baker, Introduction to English Legal History, S. 76. 149 Baker, Introduction to English Legal History, S. 76. Count steht im Law French für „Geschichte“ oder „Erzählung“. Es wurde auch mit seinem lateinischen Namen narratio bezeichnet, s. Baker, Introduction to English Legal History, S. 76. 150 Baker, Introduction to English Legal History, S. 77. 151 Pollock, The Genius of the Common Law, S. 37: „I admit nothing and want to see what you can make of it“. 152 Polden, The Courts of Law, Oxford History, Bd. XI, S. 584. 153 Bailey/Gunn/Ching/Taylor, Modern English Legal System, S. 10. 148
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falschen Wahrnehmung bestand.154 Wollte er den Spielraum für eigene Sachverhaltsinterpretationen der jury einengen, musste der Beklagte die streitigen Punkte begrenzen. Dies ermöglichte ihm das special pleading, dessen Variationen taktisches Verständnis und Antizipationsvermögen für den weiteren Verlauf des Prozesses erforderten und englische Juristen aus diesem Grund an die Züge in einem Schachspiel erinnerten.155 Der Beklagte musste schrittweise vorgehen, um herauszufinden, welche Verteidigung sich anbot. Wollte er sich gegen den Inhalt des klägerischen Vortrags wehren, so musste er entscheiden, ob er vom Kläger vorgebrachte Tatsachen zurückwies oder ob er die Tatsachen zwar zugestand, aber behauptete, dass diese das Begehren des Klägers nicht rechtfertigten. Insgesamt ergaben sich damit für den Beklagten neben dem pauschalen Bestreiten drei weitere Möglichkeiten, auf den klägerischen Vortrag zu reagieren: demurrer, special traverse und confession and avoidance.156 Bestritt der Beklagte nur bestimmte Tatsachenbehauptungen des Klägers im Rahmen einer special traverse, so wurden auch nur diese Behauptungen Teil des Prüfprogramms der jury.157 Gestand der Beklagte hingegen die Tatsachen zu und bestritt stattdessen, dass aus diesen Tatsachen die durch das writ bestimmten Rechtsfolgen erwuchsen, so musste er sich entweder auf den Standpunkt stellen, den Tatsachen stehe kein Rechtsgrund gegenüber; dann drehte sich der Streit nicht um eine Tatsachenfrage, sondern um eine reine Rechtsfrage. Dieses demurrer führte dazu, dass das issue im rechtlichen Bereich siedelte und deswegen nicht der jury, sondern dem für Rechtsfragen zuständigen judge zur Entscheidung vorgelegt wurde.158 Oder der Beklagte musste durch confession and avoidance weitere Tatsachen einbringen, die den vom Kläger geltend gemachten Anspruch entkräfteten. In diesem Fall entstand überhaupt kein issue, da es ja noch 154
Milsom, Historical Foundations of the Common Law, S. 42; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 427. 155 Das Schachspiel war eine der beliebtesten Methaphern für den Charakter des common-law-Verfahrens, vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 77; Bowen, Progress in the Administration of Justice, S. 541; Schmitthoff, Der Zivilprozeß als Schlüssel, JZ 1972, S. 40. Für die pleadings war das Bild des Schachspiels besonders treffend, weil eine Partei zwischen mehreren prozeduralen Alternativen wählte, die nicht kombinierbar waren und auch nicht rückgängig gemacht werden konnten. Sie musste vorausschauend agieren, da jede Alternative das Verfahren durch ihre spezifischen Folgen in eine neue Richtung lenken konnte. Hatte sich die Partei dazu entschieden, einen bestimmten Zug zu spielen, dann musste sie mit den Vor- und Nachteilen dieser Entscheidung leben. 156 Vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 77; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 433 ff. 157 Baker, Introduction to English Legal History, S. 77; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 434. 158 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03.
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keine konträren Ansichten gab.159 Der Beklagte hatte in diesem Stadium lediglich die Sachlage erweitert. Auf eine confession and avoidance hatte wiederum der Kläger die vier Antwortmöglichkeiten. Die Züge wiederholten sich, bis eine Partei durch eine traverse Tatsachen verneinte oder im Sinne eines demurrers zugestand. d) Bedeutung für die Präzisierung materieller Rechtsregeln Die Gerichtsschreiber protokollierten die im trial vorgebrachten pleadings nicht Wort für Wort. Stattdessen entspann sich vor Gericht zunächst eine Diskussion über die aussichtsreichste Formulierung der pleadings. Die Parteien trugen dem Richter ihren Fall versuchsweise vor und testeten anhand seiner Reaktion ihre Erfolgsaussichten.160 Signalisierte der Richter, dass er den Ansatz für verfehlt erachtete, konnten die Parteien ihr pleading zurücknehmen und neu formulieren.161 Auf diesem Weg konnte der Kläger zum einen seinen Vortrag auf das Vorbringen des Beklagten einstellen, zum anderen verringerte sich für ihn das Risiko, wegen fehlerhafter Formulierung seiner Klage den Prozess zu verlieren. Der versuchsweise Vortrag hatte allerdings den Nachteil, dass er die Technizität des Verfahrens weiter steigerte und den Prozess in die Länge zog.162 Erst, wenn die Vorträge in Latein umgewandelt, in den Gerichtsakten festgehalten und dem Gericht übergeben waren, konnten sie nicht mehr abgeändert werden.163 Die Klage war in diesem Moment fixiert. Die durch die versuchsweisen Parteivorträge in Gang gesetzte Diskussion im trial stellte sich als Forum für die Entwicklung der materiellen Rechtsregeln heraus, die sich hinter dem gewählten writ verbargen. Das writ selbst war meist zu kurz, um Aussagen darüber zu treffen, welche materiellrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen waren, damit die Klage Erfolg hatte. Da eine wissenschaftliche Bearbeitung des common law, wie sie etwa das gemeine Recht geprägt hat, fehlte, verblieb für die Klärung rechtlicher Fragen nur die unmittelbare Diskussion in den Gerichtssälen. Baker hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Streits über die korrekte Gestaltung von pleadings über das Gerichtsverfahren hinausging, weil er auch die materiellrechtlichen Voraussetzungen der 159 Baker, Introduction to English Legal History, S. 77; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 435 f.; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03. 160 Vgl. Baker, Oxford History Bd. VI, S. 386 ff.; Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 334 f. 161 Jenks, A Short History of English Law, S. 358; Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 332. 162 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 441. 163 Baker, Oxford History Bd. VI, S. 335 f.; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 441.
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Klage präzisierte.164 Das Abgleichen von Formulierungen zwischen Parteien und Gericht wurden zum Einfallstor für die inhaltliche Präzisierung subjektiver Rechte im common law und prägte das englische Rechtsdenken insgesamt.165 Die pleadings waren notwendig, um überhaupt klare Voraussetzungen für eine begründete Klage entwickeln zu können. e) Übergang von mündlichen zu schriftlichen pleadings Im 16. Jahrhundert begannen die Streitparteien damit, ihre pleadings schriftlich zu formulieren. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass für die endgültige Festlegung der streitigen Punkte, über die im Anschluss Beweis zu erheben war, ohnehin die schriftliche Fassung der pleadings in den Gerichtsakten galt. Um bei der schriftlichen Fixierung der mündlichen Vorträge Ungenauigkeiten zu vermeiden, wurde es den Parteien gestattet, den Gerichtsschreibern vor der eigentlichen Verhandlung einen ersten schriftlichen Entwurf ihrer Vorträge zukommen zu lassen, den diese dann als Anhaltspunkt für ihren Eintrag in die Gerichtsakte verwenden konnten.166 Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war die Technik der schriftlichen Abfassung der pleadings schließlich so ausgereift, dass sie sich wie ein Eintrag in das Gerichtsprotokoll lasen und die Gerichtsschreiber sie nur entgegenzunehmen brauchten.167 Neben der Erleichterung für die Gerichtsschreiber lag die schriftliche Ausarbeitung der pleadings im Interesse der Parteien, weil es mit zunehmender Regelfülle schwerfiel, die pleading-Formeln mündlich korrekt wiederzugeben.168 Formalia konnten leichter bei der schriftlichen Niederlegung der Vorträge eingehalten werden, zumal Anwälte und Gerichtsangestellte damit begannen, books of entries (Formularbücher) zu verfassen, deren Vorlagen das Formulieren erleichterten.169 164
Baker, Oxford History Bd. VI, S. 385; ders., Introduction to English Legal History,
S. 78. 165
Baker, Introduction to English Legal History, S. 78: „The wording of pleas reflected the state of legal thought.“ 166 Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 643 f.; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 442. 167 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 337. Aus den Gerichtsprotokollen an sich ergab sich nicht, dass Schriftsätze ausgetauscht worden waren, da diese traditionell so formuliert waren, als hätten die Parteien alles mündlich vor Gericht vorgetragen. Dies erschwert es der Forschung, den Übergang von mündlichen zu schriftlichen pleadings zeitlich zu präzisieren, s. Baker, Oxford History Bd. VI, S. 335. 168 Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 642. 169 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 337. – Die englische Anwaltschaft reagierte auf die Bedeutung und Komplexität der Gestaltung der pleadings, indem sich special pleaders anboten, die sich nur mit den Feinheiten der Anfertigung von Schriftsätzen beschäftigten, s. Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 651.
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Zum Durchbruch verhalf den schriftlichen pleadings die vermehrte Beweisführung durch Zeugen.170 Indem die Gerichte die Ausführungen der Parteivertreter nicht mehr unkritisch übernahmen, sondern Zeugen luden, um über die vorgebrachten Tatsachen Beweis zu erheben, trennten sie die Herausarbeitung der streitigen Punkte des Falles vom Beweisverfahren. Schriftliche pleadings verhalfen zu einer effizienten Beweisführung, da sie, vorher eingereicht, die issues schon vor der mündlichen Verhandlung klarmachten. Dies barg die Möglichkeit, im Verfahren genauer zwischen Tatsachen-, Rechts- und Beweisfragen zu unterscheiden. Zeugen konnten dann gezielter zu den streitigen Punkten geladen und angehört werden.171 Die Verschriftlichung wirkte sich auf die Änderungsmöglichkeiten der pleadings aus. Zunächst änderte sie an der Praxis des versuchsweisen Parteivortrags im trial nichts, denn die Parteien sandten ihre Schriftsätze den Gerichtsschreibern nur vorab zu, damit diese eine erste Vorlage für ihre Akten hatten. Dies schloss aber eine Diskussion der Vorträge am Gerichtstag nicht aus.172 Nur diejenigen Punkte, die in die Gerichtsakten aufgenommen worden waren, ergaben einen im trial zu klärenden Streitpunkt.173 Erst im 17. Jahrhundert wurden die Gerichte in ihren Voraussagen über die Erfolgsaussichten von Vorträgen zurückhaltender, bis sie Diskussionen über die Fehlerlosigkeit von pleadings mit der Begründung gänzlich untersagten, mit einer Stellungnahme lege sich das Gerichts verfrüht auf eine bestimmte Entscheidung fest und könne dann nicht mehr unbefangen urteilen.174 Bis zum 19. Jahrhundert wurden drei bis vier Schriftsatzwechsel zur Regel.175 Als die ehemals mündlichen Vorträge von Schriftsätzen ganz an den Rand gedrängt worden waren, zeigte auch das schriftliche pleadingSystem seine Tücken. War es bei den mündlich vorgetragenen pleadings noch zugelassen worden, sich zu berichtigen, solange die Vorträge nicht im Gerichtsprotokoll aufgenommen waren, bemerkte der Verfasser des Schriftsatzes meistens zu spät, ob sich ein Fehler eingeschlichen hatte, denn die Gerichte entschieden erst nach Einreichung der Schriftsätze und der Aufnahme in die Gerichtsakten im Rahmen der sich anschließenden
170 Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 648; Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 336. 171 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 336. 172 Baker, Introduction to English Legal History, S. 82. 173 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 333; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–04. 174 Baker, Introduction to English Legal History, S. 82; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 479. 175 Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 580.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
mündlichen Verhandlung über Formfehler.176 In diesem Stadium des Verfahrens konnte ein Formfehler nicht mehr verbessert werden, so dass der Übergang zu schriftlichen pleadings die Wahrscheinlichkeit einer Klageabweisung wegen formaler Fehler erhöhte.177 f) Einfluss auf den Streitstoff des trial Die Verschriftlichung der pleadings veränderte auch den Verfahrensablauf, da sie ihn in ein Vor- und Hauptverfahren aufteilte. Die eigentliche Hauptverhandlung, das trial, hatte den Charakter eines Gerichtstags, da es turnusmäßig und konzentriert abgehalten wurde. Indem die Parteien die pleadings schriftlich bei Gericht einreichten, lagerten sie die Festlegung der Streitpunkte in das Vorfeld des trial aus. Dies lässt sich an den year books des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts ablesen: Die Argumentationslinien der Parteivertreter in den trials drehten sich dort um bereits bestehende Streitpunkte.178 Sie müssen also bereits vorher zwischen den Parteien abgestimmt worden sein, und zwar durch vorab eingereichte schriftliche pleadings. Im Ergebnis stand der Inhalt der Parteivorträge bereits vor dem Gerichtstag fest, obwohl die Parteien nach wie vor ihre Vorträge mündlich halten mussten und sich nicht einfach auf die Schriftsätze beziehen durften.179 Dieser mündliche Vortrag enthielt aber nichts Neues mehr, sondern war eher eine Wiederholung dessen, was in den Schriftsätzen bereits eingeführt worden war.
III. Zweigleisiges englisches Verfahren durch das Recht der equity III. Equity
Ein Charakteristikum des englischen Rechts ist die equity, die über ihre wörtliche Übersetzung „Billigkeit“180 weit hinausgeht und bis heute einen ganz eigenständigen Rechtsbereich neben dem common law besetzt. Vor den Prozessreformen des 19. Jahrhundert stand der Begriff equity für ein Regelwerk, das nur in dem besonderen Gerichtsverfahren des Court of
176 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XXII, S. 576/19; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 308; Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 25. 177 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 308; Baker, Oxford History Bd. VI, S. 346, bewertet dieses Risiko aber als gering. 178 Vgl. Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 336. 179 Baker, Introduction to English Legal History, S. 81 f. 180 Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 15. Der Begriff leitete sich von der lateinischen aequitas ab.
III. Equity
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Chancery angewendet wurde.181 Seine Verfahrensregeln für die Streitfestlegung unterschieden sich maßgeblich vom common law. 1. Aufstieg der chancery zum Gerichtshof Im späten Mittelalter konnte das writ-System die Bedürfnisse des Rechtsalltags nicht mehr befriedigen. Erstens wurde die Herausgabe neuer writs, mit der im 13. Jahrhundert noch großzügig auf neue Bedürfnisse reagiert worden war, nach dem Statute of Westminster II von 1285 praktisch eingestellt. Damit blieb der Zugang zum königlichen Gericht auf die Situationen beschränkt, in denen ein writ bereits vorhandenen war. Die übrigen Fälle wurden vom Aktionensystem des common law nicht erfasst, so dass sich beträchtliche Rechtsschutzlücken auftaten.182 Das common law kannte viele Rechtsfolgen nicht, für die in der Rechtspraxis ein dringendes Bedürfnis bestand. Dazu gehörten zum Beispiel die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrags statt zur Zahlung von Schadensersatz sowie die Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen.183 Zweitens wurden die vor den common-law-Gerichten erhobenen Klagen wegen des reichhaltigen Formelwerks immer schwerfälliger bearbeitet. Die technischen Details der Klagen liefen Gefahr, sich zu verselbstständigen, mit dem Ergebnis, dass über Verfahrensfragen häufiger gestritten wurde als über die materielle Rechtslage.184 Drittens gab es keine Appellationsinstanz, die Urteile auf Rechtsfehler hätte überprüfen können. Es gab für eine beschwerte Partei die Möglichkeit, einen writ of error zu erwirken, der das Urteil aufhob und den Fall an den iudex a quo zurückverwies. Zur Überprüfung von Verfahrensfehlern wurde das Gerichtsprotokoll herangezogen, das jedoch den Gang des Verfahrens nicht lückenlos dokumentierte und anhand dessen die beschwerte Partei häufig keinen Verfahrensfehler nachweisen konnte.185 Die Defizite des Verfahrens vor dem Königsgericht fielen wenig ins Gewicht, solange die Streitparteien auf andere Gerichte ausweichen konn181 Maitland, Equity and the Forms of Action, S. 1: „Thus we are driven to say that Equity now is that body of rules administered by our English courts of justice which, were it not for the operation of the Judicature Acts, would be administered only by those courts which would be known as Courts of Equity.”; ebenso Hanbury, Modern Equity, S. 3: „Equity is the branch of the law which, before the Judicature Act 1873 came into force, was applied and administered by the Court of Chancery.” 182 Maitland, The Forms of Action, S. 4: “He [der Kläger] may find that, plausible as his case may seem, it just will not fit any of the receptacles provided by the courts and he may take to himself the lesson that where there is no remedy there is no wrong”. 183 Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 15. 184 Curzon, English Legal History, S. 90; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 448. 185 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 448 f.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
ten. Diese Option schwand aber, als sich das common law als einheitliche Rechtsordnung Englands durchsetzte und die lokalen Gerichtsbarkeiten verdrängte. In dem Maße, in dem das Verfahren verfeinert wurde, stieg das Bedürfnis für Nachsicht gegenüber der Härte eines verfahrensmäßig unübersichtlichen, wenngleich streng praktizierten common law. Billigkeitserwägungen, die zu einer Ausnahme vom üblichen Verfahrensablauf führen konnten, waren dem common law ursprünglich nicht unbekannt gewesen in denjenigen Fällen, in denen es noch kein Präjudiz gab.186 Im konsolidierten writ-System mit etablierten Formelsammlungen hatten sie jedoch keinen Platz mehr. Stattdessen sollte der Richter ohne Ermessenspielraum agieren, so dass Änderungen der Rechtslage nur noch dem Parlament möglich waren.187 Wurden die Parteien von den Gerichten im regulären Verfahrensgang abgewiesen, wandten sie sich häufig direkt an den König als obersten Hüter über einen ordnungsgemäßen und gerechten Rechtsbetrieb.188 Eine direkte Einmischung des Königs in den Gerichtsbetrieb wurde aber durch den Grundsatz des due process of law verhindert.189 Diese Zusicherung des Zugangs zum regulären Verfahren des common law diente in erster Linie nicht Rechtsschutzerwägungen, sondern sollte die Krone davon abhalten, nochmals neue Jurisdiktionen als außerordentliche Alternative zum herkömmlichen Verfahren zu erschaffen, wie sie es mit der Einrichtung des common law und Verdrängung der partikularen Gerichtsbarkeiten zuvor getan hatte.190 Dem König verblieb aber eine Reservekompetenz und eidlich begründete Pflicht zum Einschreiten, wenn das reguläre common law Mängel aufwies und die Grundsätze eines gleichen und gerechten Verfahrens missachtet wurden. Die Parteien schwenkten deshalb in ihrer Argumentation um und brachten in ihren Bittschriften an den König vor, gerade durch das Königsgericht, das ihr Begehren abgewiesen hatte, ungerecht behandelt worden zu sein und nun der königlichen Abhilfe innerhalb seiner eigenen Jurisdiktion zu bedürfen.191 Als sich solche Bittschriften häuften, wurden sie in Sondersitzungen der Curia Regis behandelt, in denen der König die Entscheidung hierüber
186
Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 570 f. Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 572. 188 Es war üblich, dass sich der König in seinem Krönungseid verpflichtete, Gerechtigkeit walten zu lassen und nach eigenem Ermessen Gnade auszuüben, vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 449; Baker, Introduction to English Legal History, S. 98. 189 Baker, Introduction to English Legal History, S. 97. 190 Vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 97 f. 191 Lerch, Art. Englisches Recht, HRG I (2. Aufl.), Sp. 1339. 187
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schließlich an einzelne Ratsmitglieder delegierte.192 Mit dem Großteil der Fragen, ob das common law eine Gerechtigkeitslücke aufwies und außergerichtliche Abhilfe von Seiten des Königs nötig mache, befasste sich der Kanzler. Bald richteten die Parteien ihre Bitten direkt an ihn, so dass er in eine Art Vermittlerstellung zwischen den Gerichten und den Klageparteien rückte, die eine gerechte Entscheidungsfindung in den streitigen Fällen erleichtern sollte.193 Gleichwohl lag der Urteilsspruch bei den commonlaw-Gerichten. Dies änderte sich, als den Kanzler auch Bitten erreichten, die überhaupt nicht in einem common-law-Verfahren anhängig waren. Darin forderten die Bittsteller mehr als nur eine Vermittlung; da die chancery ohnehin der Ort war, an dem die original writs des common law überwacht und ausgestellt wurden, rechneten sich die Bittsteller Chancen aus, auch mit einem konkreten Abhilfeverlangen gehört zu werden.194 Auf diese Bitten nach außerordentlichen Rechtsschutzmöglichkeiten, die im common law nicht verfügbar waren, reagierte der Kanzler durch einzelfallabhängige Erlasse, die so häufig wurden, dass sich die Redensart bildete, kein Kläger werde ohne Rechtsschutz aus der königlichen Kanzlei herausgeschickt: „Nullus recedata curia cancellariae sine remedio“195. Nachdem der Kanzler die Erlasse zunächst im Namen des Königs ausgefertigt hatte, ergingen sie seit Ende des 15. Jahrhunderts in seinem eigenen Namen. Er wurde damit zum Richter eines eigenständigen Court of Chancery. 2. Begründung des eigenständigen Rechtszweiges der equity Der Bedarf für besondere materielle Rechtsregeln der equity gründete in der formalen Strenge des common law. Die Richter nahmen lieber Ungerechtigkeiten in Einzelfällen in Kauf, als klare Regeln durch Ausnahmen aufzuweichen.196 Ein häufig in den reports festgehaltenes Beispiel197 war der Fall eines Schuldners, der dem Gläubiger einen gesiegelten Schuldschein ausstellte, aber nicht dafür sorgte, dass der Schuldschein zerstört wurde, als er seine Schuld beglichen hatte. Nach dem common law war der 192
Beispielsweise an den marshal oder admiral. Aus diesen Kompetenzzuweisungen entwickelten sich neue Gerichtszweige für besondere Rechtsgebiete: Der Court of the Lord High Constable and Earl Marshal of England urteilte über militärische Angelegenheiten (vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 122), der High Court of Admiralty betreute seerechtliche Streitigkeiten (vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 471 ff.). 193 Baker, Introduction to English Legal History, S. 101. 194 Baker, Introduction to English Legal History, S. 101 f. 195 Zitiert nach Baker, Introduction to English Legal History, S. 102. 196 Baker, Introduction to English Legal History, S. 102. 197 Nachweise geben Curzon, English Legal History, S. 90, und Baker, Introduction to English Legal History, S. 325.
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Schuldschein ein unwiderleglicher Beweis für die Schuld und selbst wenn unbestritten war, dass der Beklagte bereits gezahlt hatte, konnte er die Zahlung nicht zu seiner Verteidigung vorbringen. Der Grundsatz der Bestimmtheit verhinderte, dass wörtliche Aussagen eine Urkunde widerlegen konnten.198 Dass dem Beklagten eine offensichtliche Ungerechtigkeit widerfuhr, wenn er ein zweites Mal zahlen musste, wurde nicht als Problem des Rechts angesehen, sondern auf des Beklagten eigene Unachtsamkeit zurückgeführt; schließlich war er es, der nicht dafür gesorgt hatte, dass der Schuldschein entwertet worden war. Die Rechtsprechung der chancery korrigierte diese „Sozialblindheit“199 des common law. Der Kanzler zielte mit seinen Erlassen nicht darauf ab, ein Rechtssystem zu schaffen, das mit dem bestehenden englischen Recht konkurrierte. Sein Selbstverständnis war es, dem common law zu seiner vollen Durchsetzung zu verhelfen, indem er bei strukturellen Mängeln im ordentlichen Verfahren oder bei menschlichen Fehlurteilen Korrekturen vornahm, die das common law wieder auf den korrekten Pfad des due process lenkten. Maitland beschrieb das Verhältnis von law und equity als ein Ergänzungsverhältnis: „Equity had come not to destroy the law, but to fulfil it.“200 Die equity befriedigte diejenigen Rechtsbegehren, die in der Gerichtspraxis besonders dringlich gestellt wurden, auf die das common law aber keine Antwort hatte. Dazu gehörte die Rechtsfolge der Erfüllung von Verträgen (specific performance), die vorbeugende Unterlassung (injunction) sowie der Schutz der im englischen Recht weit verbreiteten Treuhandverhältnisse (trusts).201 Der Kanzler traf seine Entscheidungen anfangs nicht nach vorgegebenen Kriterien, so dass sein Urteil auch bei gleichgelagerten Fällen variieren konnte und nicht vorhersehbar war. Bezeichnend ist, dass die Entscheidungsgewalt des Kanzlers zu Beginn nicht unter den Begriff der equity gefasst wurde, sondern mit dem Begriff der conscience („Gewissen“ oder „Rechtsempfinden“) eine sehr subjektive Komponente erhielt.202 Die Gefahr der ungleichen Behandlung gleichgelagerter Fälle bedrohte aber die Idee der equity, denn zu einer billigen Entscheidung gehörte auch die gleichwertige Behandlung von Fällen.203 Das persönliche Rechtsempfinden 198
Baker, Introduction to English Legal History, S. 102 und 325. Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 49. 200 Maitland, Equity and the Forms of Action, S. 17. 201 Vgl. zur Unterscheidung der remedies der equity und des common law Andrews, English Civil Procedure, Rn. 34.53. 202 Vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 106. Wegen der Konzentration auf die Person des Kanzlers sowie die geringe Förmlichkeit des Verfahrens wird daher teilweise zur Darstellung der Entwicklung der equity an die Amtszeit prägender Kanzler angeknüpft, vgl. Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 591 ff. 203 Baker, Introduction to English Legal History, S. 109. 199
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des Kanzlers wich daher Billigkeitsgrundsätzen, die verallgemeinernden Kriterien zugänglicher waren, und die conscience verfestigte sich zum Regelwerk der equity. Die Berufung weltlicher Juristen zum Kanzler führte dazu, dass Urteilssprüche in equity keinen moralischen Auftrag mehr verwirklichen wollten, sondern danach fragten, welches Rechtsempfinden sich aus den Vorgaben des common law ergeben musste.204 Der Court of Chancery hielt sich so immer mehr an Präjudizien, die sich zu eigenen Rechtsregeln verdichteten. Sie entwickelten sich so weit, dass sich der Kanzler 1733 gegen die Idee, equity sei mit seinem eigenen Rechtsempfinden gleichzusetzen, verwahrte: „the conscience by which I am to proceed is merely civilis et politica, and tied to certain measures“.205 Equity wurde so zu einem materiellen Regelungskomplex, für dessen Verfahren der Kanzler zwar geringeren Formzwängen als im common law unterlag, aber trotz Berücksichtigung des Einzelfalls kein freies Ermessen mehr ausüben durfte. Mit der zunehmenden Professionalisierung der equity lief das common law Gefahr, an den Rand gedrängt zu werden. Unproblematisch waren Fälle, in denen es um Rechtsschutzbegehren ging, die nur in einer der beiden Jurisdiktionen verfügbar waren, denn dann stritten die Parteien von Beginn an entweder über equity oder über common law und brachten ihren Fall nur vor einen der beiden Rechtszweige. Der Juristenstand des common law reagierte jedoch empfindlich, wenn der Kanzler über Fälle urteilte, in denen bereits at law ein Urteil ergangen war, oder wenn er sich über gefestigte Rechtsmeinungenen der Richter des common law hinwegsetzte.206 Besonders energisch stemmte sich im Jahr 1616 Sir Edward Coke, damals vorsitzender Richter des Court of King´s Bench, gegen eine solche Einmischung des Kanzlers Lord Ellesmere. Dieser hatte wiederholt Fälle zur Entscheidung angenommen, die bereits eindeutig at law entschieden worden waren. Von rechtlicher Warte aus war klar, dass dieses Vorgehen einem irregulären Berufungsverfahren gleichkam. Coke fand jedoch zu wenig politische Unterstützung, so dass er dem Kräftemessen der Jurisdiktionen unterlag und der König einen Erlass herausgab, in dem er die Praxis der chancery, rechtskräftig entschiedene Fälle des common law wieder aufzunehmen, ausdrücklich billigte.207 Der König entschied, dass sich in Konfliktfällen die Regeln der equity gegenüber dem common law durchsetzten.208
204
Vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 110. Cook v. Fountain (1676) 3 Swanston 585, at 600. 206 Baker, Introduction to English Legal History, S. 108. 207 Baker, Introduction to English Legal History, S. 109. 208 [1615] 21 E.R. 485. 205
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Nach diesem als Earl of Oxford´s case209 bekannt gewordenen Zwischenfall vermieden es die Richter des common law und die Kanzler der equity aber, die Gespaltenheit des englischen Rechts offen zur Schau zu tragen und damit zu vertiefen. Stattdessen bemühte man sich, den zugunsten der equity entschiedenen Konfliktfall gar nicht erst aufkommen zu lassen. Leitfaden für den Gerichtsalltag wurde eine zweite Regel: “Equity follows the law.“210 Auf die subsidiäre Geltung der equity bedacht, konzentrierten sich die späteren Kanzler auf ihren Charakter als Ergänzung in den Fällen, in denen das Regelwerk des common law nicht griff oder seinen Sinn verfehlte: “Equity is no part of the law, but a moral virtue, which qualifies, moderates and reforms the rigour, hardness and edge of law, and is a universal truth. It does also assist the law where it is defective and weak […] and defends the law from crafty evasions, delusions, and new subtleties, invented and contrived to evade and to elude the common law […]. Equity therefore does not destroy the law nor create it but assists it.”211
Die Rechtsprechung der equity griff im Ergebnis sowohl in Fällen formeller als auch materieller Unbilligkeit ein. Unter formellen Aspekten linderte sie die technischen Härten des common-law-Verfahrens, die dadurch entstanden, dass die Verfahrensregeln auf der einen Seite unüberschaubar geworden waren, während auf der anderen Seite Verfahrensfehler ohne Korrekturmöglichkeit mit Prozessverlust geahndet wurden. Der Kanzler erreichte mit seinen Erlassen aber mehr, denn er korrigierte das common law auch inhaltlich, so dass ein eigener Normenkomplex in equity neben das common law trat. Seine ursprünglich einzelfallabhängigen Entscheidungsbegründungen wandelten sich zu festen Grundsätzen, die die Rechtsprechung der chancery vorhersehbarer und nachvollziehbarer machten. Mit der Rechtsprechung nach wiederkehrenden Maximen ging die Herausbildung eigener materieller Rechtsregeln einher. 3. Streitbestimmung der equity im Vergleich zum common law Ein Verfahren in equity wurde eingeleitet durch das writ of subpoena.212 Wie im common law diente es der Ladung des Beklagten, der Kläger war jedoch von der Last der Wahl zwischen unterschiedlichen writs befreit. Im Gegensatz zu den writs des common law, die mit eigenen Prozessregeln und materiellem Rechtsbereich jeweils ein besonderes Verfahren begrün209
[1615] 21 E.R. 485. Dazu und zu weiteren Maximen der equity Curzon, English Legal History, S. 98 ff. 211 Lord Dudley v. Lady Dudley (1705) Pr. Ch. 241, at 245, per Sir Nathan Wright. 212 Die Namensgebung orientiert sich an den Folgen einer Missachtung des Ladungsbefehls. Dem Beklagten wurde aufgegeben, zu erscheinen, andernfalls musste er mit Sanktionen bis hin zu Haftstrafen rechnen, vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 103. 210
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deten, war das writ of subpoena einheitlich gestaltet und erfüllte ausschließlich verfahrensrechtliche Funktionen ohne materiellrechtliche Implikationen.213 Für die Gestaltung der pleadings im equity-Verfahren gab es keine festgelegten Formvorschriften. Gleichwohl bildeten sich durch Gerichtsgebrauch bestimmte Muster, deren Elemente jeder Schriftsatz enthalten musste.214 Da die equity aber gerade die Härten des Formalismus des common law aufweichen sollte, wurden Formverstöße nicht mit der Sanktion des Prozessverlustes geahndet. Ausschlaggebend sollte nicht die Form des Vortrags sein, sondern das Rechtsempfinden des Kanzlers, wie es sich anhand der Vorträge der Parteien gebildet hatte.215 Auch die pleadings der equity folgten einem festen Ablauf und gaben den Parteien zahlreiche Optionen, auf den Vortrag des Gegners zu reagieren. Auf die Klagebegründung mittels der klägerischen bill of complaint, die bereits das verfahrenseinleitende writ of subpoena enthielt, folgte die Erwiderung (answer) des Beklagten, gefolgt von der Entgegnung (replication) des Klägers. Um auf einen vorhergegangenen Schriftsatz zu reagieren, standen die Optionen demurrer, plea und answer zur Verfügung, deren Struktur den pleading-Techniken des common law teilweise glichen.216 Die Funktion der pleadings in equity war allerdings eine andere. Es wurde nicht gefordert, dass die Parteien die issues des Falles durch wechselseitige Vorträge selbst festlegten und in Sach- und Rechtsfragen trennten, da es keine jury gab, der eine komprimierte Tatsachenbasis in Form von Streitpunkten hätte präsentiert werden müssen.217 Die Entscheidungsgewalt des equity-Verfahrens lag konzentriert in der Person des Kanzlers. Die Parteien präzisierten ihre Tatsachenvorträge nicht, sondern fügten mit jedem Vortrag neue Gesichtspunkte hinzu und entschieden durch Verneinung des gegnerischen Vorbingens, über welche Teile des Vortrags der Richter Nachforschungen anstellen musste.218 Die pleadings enthielten eine erschöpfende Aufführung der relevanten Fakten und fügten auch Beweise an. Sie waren nicht auf die Form, sondern auf Eindringlichkeit und Empfindung ausgelegt. Ihr „bittender Tonfall, ihre Unterwürfigkeit und
213
Baker, Introduction to English Legal History, S. 103; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 454. 214 Vgl. Hartwieg, Die Kunst des Sachvortragss, S. 53; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 379 ff. 215 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 453 f. 216 Vgl. ausführlicher zum Ablauf der pleadings im equity-Prozess Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 458 ff.; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 379 ff. 217 Van Caenegem, History of Civil Procedure, S. 45. 218 Baker, Introduction to English Legal History, S. 103.
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ihre Ausführlichkeit“219 sollte dem Kanzler das Bedürfnis nach Milde plastisch vor Augen führen. An einer umfangreichen und eingehenden Schilderung der Klageumstände hatte auch der Kanzler selbst ein Interesse, da im Verfahren der equity eine Art Aufklärungsgrundsatz galt. Er folgte weder dem reinen Beibringungsverfahren des common law, noch existierte ein umfassender Amtsermittlungsbetrieb. Das equity-Verfahren war vielmehr zwischen diesen Polen zu lokalisieren, da zwar die Parteien weiterhin bestimmten, über welchen Streitstoff verhandelt werden sollte,220 der Richter den so umrissenen Lebenssachverhalt aber vollständig aufklären musste, denn „ohne amtliche Wahrheit gab es keine Billigkeit“221. Der Kanzler entschied den Fall schießlich nicht im Rahmen eines konzentriert durchgeführten trial, sondern erst nach der Durchführung voneinander unabhängiger Termine zur Parteibefragung und Zeugenvernehmung.222 Negative Folgen dieser umfassenden Aufklärung aller in Betracht kommenden Hinweise waren langwierige Untersuchungen des Kanzlers, die das Verfahren verlangsamten. Die Parteien konnten ihr Übriges dazu beitragen, indem sie mit immer umfangreicheren Petitionen den Prozess verschleppten. Durch ausufernde Anträge und Beweisführungen in ihren pleadings sorgten sie dafür, dass sich Verfahren endlos in die Länge zogen und das Ziel einer billigen und gerechten Entscheidung gefährdet wurde. Da die Rechtsprechung des Kanzlers die Defekte des common law überbrücken sollte, schlug das Verfahren somit an entscheidenden Stellen andere Richtungen ein als der Prozess at law. Die Kanzler waren bis zum 16. Jahrhundert gleichzeitig hohe Kirchenvertreter. Sie grenzten den Court of Chancery als Gericht von Vernunft und Rechtsempfinden bewusst von den weltlichen common-law-Gerichten ab. In diesem Verfahren, das die Verwirklichung des gesunden Rechtsempfindens zum Gegenstand hatte, konnte der Bestimmtheitsgrundsatz nicht mehr oberstes Prinzip sein, so dass das Verfahren in equity ohne jury weit formloser war und einen Gegenpol zum Verfahren des common law bildete, in welchem die jury eine zentrale Stellung einnahm.
219
Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 52. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 454. 221 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 51. 222 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 581; Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 51. 220
IV. Vergleich
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IV. Vergleich der Regeln zur Streitfestlegung vor den Verfahrensvereinheitlichungen im 19. Jahrhundert IV. Vergleich
Unterschiedliche Verfahrensordnungen prägten sowohl Deutschland als auch England. In Deutschland war dies territorial bedingt, denn die Gerichte sprachen grundsätzlich nach dem lokalen Verfahren Recht und zogen gemeine Prozessregeln nur subsidiär hinzu. Das common law war dagegen nicht nachrangig zum partikularen Recht ausgelegt. Theoretisch hätten die Rechtskomplexe nebeneinander existieren können, tatsächlich war es für einen Kläger aber aufgrund der Durchsetzbarkeit eines königlichen Ladungsbefehls ungleich attraktiver, das Königsgericht anzurufen, wenn bereits ein writ für eine bestimmte streitige Situation geschaffen worden war. In der Rechtspraxis erhielt das common law Vorrang vor den örtlichen Rechten, die damit an Bedeutung verloren.223 Das englische Recht unterschied jedoch systematisch zwischen dem Verfahren des common law und dem der equity. Der gemeine Prozess ergab sich aus den Gesetzen des Reiches, insbesondere dem Jüngsten Reichsabschied von 1654, ihrer Fortbildung durch Gerichtsgebrauch sowie der wissenschaftlichen Bearbeitung durch die gelehrte Jurisprudenz. Das common-law-Verfahren entwickelte seine Grundstrukturen bereits im 12. und 13. Jahrhundert, die bis zu den Prozessreformen des 19. Jahrhundert erhalten blieben. Das Recht der equity wirkte ab dem 15. Jahrhundert als eigenständiges Korrektiv von Rechtslücken. Antriebsfedern für die Entwicklung englischer Rechtsregeln waren der Parteienstreit vor Gericht sowie die Entscheidungen der Gerichte; gesetzliche Regelungen traten nur ergänzend hinzu. 1. Klageinhalt und Streitfestlegung Sowohl das deutsche als auch das englische Verfahren widmeten der Frage besondere Aufmerksamkeit, was der Kläger als Initiator eines Zivilverfahrens vortragen musste, um der Klage ihren Inhalt zu geben. Sie erkannten aber auch, dass die genauen Umstände eines Rechtsstreits nur ersichtlich werden, wenn die Bestimmung des Streitstoffs nicht einseitig dem Kläger obliegt, sondern wenn dieser durch den Beitrag des Beklagten aus dem Zusammenspiel von Klage und ihrer Erwiderung gebildet wird.
223
Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 12.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
a) Gemeiner Prozess und common-law-Prozess (1) Verhältnis der Klageelemente Sachverhalt, Antrag und Rechtsgrund Das verfahrenseinleitende Schriftstück hatte im gemeinen Prozess und im common-law-Prozess unterschiedliche Bedeutung. Die Klageschrift im gemeinen Prozess enthielt bereits einen Sachvortrag des Klägers, der im weiteren Verlauf als Referenz für die Begründung des klägerischen Begehrens diente.224 Das writ hingegen war nicht im Namen des Klägers abgefasst, sondern enthielt einen Ladungsbefehl des Königs, der den lokalen Behörden aufgab, den Beklagten aufzufordern, dem klägerischen Begehren nachzukommen oder dessen Erscheinen im trial zu sichern.225 Es basierte auf einem Blankett, dessen Gestaltung die königlichen Schreiber dem register of original writs entnommen hatten, und enthielt deswegen im Gegensatz zur Klageschrift des gemeinen Prozesses noch keinen den konkreten Fall individualisierenden Sachvortrag. Mit der Klage formulierte der Kläger sein Rechtsschutzbegehren. Drei Faktoren kamen als wesentliche Elemente dieser Formulierung in Betracht. Erstens musste aus der Klage der Antrag auf richterliche Bestätigung einer bestimmten Rechtsfolge durch Urteil hervorgehen. Nötig war zweitens der Sachverhalt, der die tatsächliche Lebenssituation beschrieb, die den Klageantrag rechtfertigen sollte. Drittens brauchte der Kläger einen Rechtsgrund, der dem Sachverhalt materiellrechtliche Bedeutung verlieh und den Antrag, sollte sich der Sachverhalt als richtig erweisen, als in heutiger Diktion materiellrechtlich begründet erschienen ließ. Die gemeinrechtliche Klageschrift enthielt von diesen drei Faktoren ausdrücklich nur den Lebenssachverhalt sowie die Bitte um Rechtsschutz in Form des Antrags. An eine bestimmte Form war die Klageschrift nicht gebunden, wichtig war aber, dass der Antrag so formuliert war, dass er als Modell des vom Richter erbetenen Urteilssatzes dienen konnte.226 Die erwünschte Entscheidung musste klar benannt werden. Für den Sachverhalt genügte eine zusammenhängende Geschichtserzählung, die als „Klagegrund“ auf die tatsächliche Begründung des Rechtsanspruches hin komprimiert sein sollte. Die Gestaltung des writ genügt vordergründig keinem der drei Elemente. Der Sachverhalt war im Blankett des writ ohnehin vorgegeben. Da die Formulierung der Tatsachen auf dem writ immer exakt dieselben waren, erreichte der Kläger damit noch keine Individualisierung seines Falles. Einen Antrag im Sinne eines vorformulierten Urteilsspruchs kannte das writ nicht, denn es war ja offiziell keine vom Kläger ausgehende Prozess224
Vgl. o. S. 10 ff. Vgl. o. S. 21. 226 Vgl. o. S. 10 ff. 225
IV. Vergleich
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handlung, sondern eine hoheitliche Handlung des Königs. Die Bitte um richterliche Bestätigung einer bestimmten Rechtsfolge war indirekt enthalten, denn üblicherweise war das writ so formuliert, dass es den Beklagten aufforderte, eine bestimmte Handlung zu erbringen oder sich vor Gericht wegen dieser Sache zu verantworten. Eine direkte Ansprache des Gerichts und einen ausformulierten Antrag im Sinn eines Vorschlags für den Urteilssatz ähnlich der gemeinrechtlichen Vorgehensweise enthielt das writ nicht, weil es den Beklagten zunächst zur außergerichtlichen Begleichung seiner behaupteten Schuld aufforderte und ein Gerichtsverfahren erst an zweiter Stelle stand. Der Kläger erreichte eine Individualisierung des Falles im common law erst mit seinem Vorbringen in den pleadings, in denen er sich durch seine narratio zum ersten Mal selbst und nicht über den Umweg königlicher Autorität äußerte. Die auf den Rechtsgrund des Falles zugespitzte Geschichtserzählung führte im gemeinen Prozess zum Kriterium der Schlüssigkeit. Ob sich aus der Kombination von Sachverhaltsdarstellung und Antrag in der Klageschrift ein schlüssiger Rechtsgrund ergab, prüfte das Gericht noch vor der Zustellung an den Beklagten. War die Klage unschlüssig, so kam ein Zivilverfahren nicht zustande. Weitere rechtliche Ausführungen waren zwar zulässig, wurden aber aufgrund des Satzes iura novit curia als unnötig angesehen und teilweise sogar als den wahren Kern des Falles verschleierndes Verhalten abgelehnt.227 Auch der eigentliche Text eines writ enthielt den Rechtsgrund der Klage nicht ausdrücklich. Seine Bezeichnung übernahm aber die Überschrift, unter der das writ im register of original writs firmierte. Allein durch sie gab der Kläger zu erkennen, mit welchem materiellen Rechtsgrund er seine Klage begründete, denn jedes writ stand für eine ganz bestimmte Auswahl materieller Rechtsregeln und die Konzentration auf einen einzelnen Rechtsgrund.228 Die inhaltsgebenden Elemente einer Klage waren folglich in beide Verfahrenssysteme auf sehr unterschiedliche Weise eingewebt. Im common law implizierte bereits die Auswahl eines writ den Klageinhalt. Diese Abhängigkeit von technischen Klagenamen vermied das gemeine Recht, indem seine Klageschrift den konkreten Lebenssachverhalt und den Antrag in den Vordergrund stellte, deren Kombination schlüssig einen Rechtsgrund ergeben musste; die Klage musste dann nicht mehr explizit bezeichnet werden.229 Eine Klageschrift mit dieser Funktion kannte das common law gar nicht, weil schon mit der bloßen Auswahl eines writ Verfahrensablauf, Sachverhalt und anwendbares materielles Recht feststanden. Das 227
Vgl. o. S. 13 f. Vgl. o. S. 25 ff. 229 Schlinker, Litis Contestatio, S. 452 m. w. N. 228
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pleading des Klägers justierte nicht mehr die inhaltlichen Grenzen des Rechtsstreits, sondern zählte schon zu dem Wechselspiel von Rede und Gegenrede, mit dem die Klageparteien die streitigen, das heißt entscheidungsbedürftigen Punkte des Verfahrens herausarbeiteten.230 (2) Konkretisierung des Streits durch Einlassung des Beklagten Beide Verfahrenssysteme legten den Inhalt einer Klage schriftlich fest und sahen Mechanismen vor, mit deren Hilfe das individuelle Streitprogramm des Falles herausgearbeitet wurde. Die Gerichte wurden dabei nicht von Amts wegen tätig, sondern waren an die Anträge und Tatsachenbehauptungen der Parteien gebunden. Das common law involvierte den Beklagten in das Verfahren durch königlichen Ladungsbefehl, der gemeine Prozess sah die litis contestatio vor, die er aber auf die Einlassung des Beklagten zur Klage reduzierte. Der an die Erhebung der Klage anschließende Verfahrensgang unterschied sich in beiden Prozesssystemen erheblich. Im gemeinen Prozess protokollierte das Gericht sämtliches Parteivorbringen. Anders als das sächsische Verfahren, in dem „vom Mund in die Feder“ verhandelt wurde, trug eine Partei vor dem Reichskammergericht regelmäßig nicht mündlich vor, sondern reichte einen Schriftsatz ein, so dass eine unmittelbare und mündliche Verhandlung nicht mehr stattfand.231 Die schriftliche Dokumentation war damit Grundlage des Verfahrens.232 Am Reichskammergericht entschieden die Richter nicht-öffentlich in einer Aneinanderreihung von Terminen. Im Gegensatz dazu drängten die Schriftsätze des common-lawVerfahrens den unmittelbaren mündlichen Vortrag der Parteien am Gerichtstag nie aus dem Zentrum des Verfahrens. Da die Mitglieder der jury als Tatsachengericht im seltensten Fall lesen und schreiben konnten, blieb der mündliche Vortrag maßgeblich für die Entscheidungsfindung.233 Die mündlichen Vorträge wurden aber vor Gericht durch Gerichtsschreiber protokolliert. Als die Prozessformalia und damit auch die Parteivorträge immer komplizierter wurden, gingen die Parteien im späten 15. Jahrhundert dazu über, ihre Vorträge vorab an die Gerichtskanzleien zu schicken, so dass diese dann als Vorlage für das Gerichtsprotokoll dienen konnten. So entwickelte sich ein schriftliches Vorverfahren, in dem die Parteien ihre Schriftsätze nicht mehr an das Gericht, sondern direkt an die Gegenseite schickten.234 230
Vgl. o. S. 33 f. Wetzell, System, S. 898. 232 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 604. 233 Vgl. o. S. 33 f. 234 Vgl. o. S. 36 ff. 231
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Im gemeinen Recht präsentierten beide Parteien ihre Wahrnehmung des Falles, wobei es dem Beklagten oblag, durch qualifiziertes Bestreiten Teile der klägerischen Behauptungen ins Beweisverfahren zu bringen.235 Das Gericht prüfte gemäß der Verhandlungsmaxime den Fall nur dergestalt, wie ihn die Parteien über ihre Schriftsätze in das Verfahren getragen hatten. Die Schriftsätze involvierten aber im Gegensatz zum common law bereits das Gericht, und da den gemeinrechtlichen Obergerichten gelehrte Juristen angehörten, konnte ihnen die Bestimmung der Streitpunkte überantwortet werden, die sie anhand der in den Terminen erfolgten Protokollierungen herausarbeiteten.236 Im gemeinen Recht vollzog das Gericht den Schritt der Streitbestimmmung folglich selbstständig und überließ ihn nicht den Parteien, wie dies im common law der Fall war. Mit der Verschriftlichung der pleadings und ihrer Auslagerung in das Vorfeld des Gerichtstages waren die Parteien im common law aufgefordert, ihren Streit zunächst untereinander ohne Beisein des Gerichts zu präzisieren. Aus dieser direkten Korrespondenz sollten die konkreten Streitfragen des Falles hervorgehen. Notwendig machte diese Zuspitzung die Einrichtung der jury, deren Laiengremium für seine Entscheidungsfindung auf die knappe und präzise Herausarbeitung der wesentlichen Tatsachenfragen angewiesen war.237 Die Aufgabe von gemeinrechtlichen Schriftsätzen und pleadings war damit eine unterschiedliche. Im gemeinen Recht waren die Schriftsätze der Verhandlungsstoff, der dem Gericht als Grundlage für seine Entscheidung diente. Im common law waren Schriftsätze nicht für die Entscheidungsfindung des Gerichts bestimmt, sondern dienten der gegenseitigen Information der Parteien, die damit im Vorfeld der Gerichtsverhandlung die zentralen Punkte ihres Streits herausarbeiteten.238 Die Erleichterung der Arbeit der königlichen Schreiber bei Gericht geriet demgegenüber zu einer Nebensache. Das Gericht selbst sollte bewusst nicht vor der Verhandlung informiert sein, um das trial unbefangen abhalten zu können. Die Schriftsätze ersetzten somit den mündlichen Vortrag im trial nicht, sondern bereiteten ihn vor. 235
Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 596, 599. Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. II, S. 136: „Klage- und Exzeptionsschrift […] bilden die wahren Grundlagen des ganzen Verfahrens, und sind unentbehrlich. […] Mit der Klage- und Exzeptionsschrift endigt das Bedürfniß schriftlicher Grundlage, durch beide Schriften soll die Streitfrage und der wechselseitige Anspruch so klar festgestellt seyn, daß jetzt das Gericht beurteilen kann, durch welche weiteren Schritte die Verhandlung vollständig zu liefern ist.“; Bayer, Vorträge, S. 520: „Vor allem muß sich nämlich der Richter eine bestimmte und genaue Kenntniß Dessen zu verschaffen suchen, was eigentlich unter den Parteien streittig ist; er muß die Materialien sammeln, um daraus den status controversiae herzustellen.“ 237 Vgl. o. S. 32 f. 238 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 604. 236
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Gemein war beiden Verfahrenssystemen, dass Tatsachenbehauptungen und Einwendungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt erhoben werden mussten. Das gemeine Recht erreichte dies durch die Eventualmaxime und das common law durch den Grundsatz, dass ein späterer Vortrag einen früheren inhaltlich nicht erweitern durfte, sondern nur noch eine direkte Antwort auf die Behauptungen der Gegenseite sein sollte.239 Trotzdem wäre es verfehlt, beim common law von der Geltung der Eventualmaxime zu sprechen, denn die Partei machte hier nicht verschiedene Einwendungen eventualiter geltend in Voraussicht der hypothetischen Antwort des Gegners, sondern sie musste sich für eine bestimmte Verteidigung entscheiden. Jede weitere Antizipation des Prozessgeschehens hätte der englischen Denkweise widersprochen, keine unnötigen Rechtshandlungen vorzunehmen, sondern pragmatisch auf gegenwärtig gegebene Fälle zu reagieren. Auch Beweise schlossen die Parteien noch nicht in ihre verschriftlichten pleadings ein. Grund war die jury, die ursprünglich als Beweisorgan gedient hatte. Daher war eine Beweiserbringung unmöglich, bevor die Geschworenen überhaupt die Tatsachenlage kannten.240 Das common-lawVerfahren wurde so zweigeteilt in vorbereitendes schriftliches Behauptungsverfahren und mündliches trial, in dem der Vortrag wiederholt und um die Beweiserhebung erweitert wurde. Die Abfolge der Parteivorträge im gemeinen Prozess und common law glich sich äußerlich, da die Parteien in beiden Verfahren abwechselnd vortrugen und ihre Vorträge miteinander korrespondierten. Nach dem Vortrag des Klägers ließ sich der Beklagte zu dessen Behauptungen ein, worauf unter Umständen wiederum der Kläger replizierte. Dieses Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag war im common law technisch detaillierter ausgestaltet als im gemeinen Prozess. Das traverse bestritt, dass bestimmte Tatsachen vorlagen. Im Gegensatz zum gemeinen Recht, in dem der Beklagte die Behauptungen des Klägers qualifiziert bestreiten musste, genügte ihm im common law das general issue, das gleichzeitig als Erhebung aller in Betracht kommenden Gegenrechte aufgefasst wurde. Das demurrer gestand zwar zu, dass bestimmte Tatsachen gegeben waren, gleichzeitig lehnte es aber den rechtlichen Schluss daraus ab. Das confession and avoidance brachte neue Tatsachen ein, um den geltend gemachten Anspruch zu entkräften.241 Es spielte also nicht nur eine Rolle, dass eine Partei inhaltlich die Behauptungen der Gegenseite konterte, sondern auch, wie sie es tat.242 Dieses Spektrum an prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten
239
Vgl. o. S. 7 ff.; S. 33 f. Vgl. o. S. 30 f. 241 Vgl. o. S. 33 f. 242 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 598. 240
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versetzte die Parteien in die Lage, den Kern ihres Rechtsstreits im Vergleich zum gemeinen Prozess gezielter herauszuarbeiten. (3) Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsfragen Sowohl der gemeine Prozess als auch der common-law-Prozess trennten in den Parteivorträgen Tatsachen- von Rechtsfragen. Während aber im gemeinen Prozess gelehrte Richter nach Art des römisch-kanonischen Prozesses über beide Arten des Parteivorbringens entschieden, oblagen im common law nach germanischem Vorbild Tatsachenprobleme der jury und nur Rechtsfragen dem Richter.243 Im gemeinen Prozess waren Rechtsausführungen nicht untersagt, sollten aber vermieden werden, da sie eine Partei zur Verschleierung des Falles einsetzen konnte. Dagegen enthielten common-law-pleadings Rechtsausführungen als wesentlichen Bestandteil.244 Dabei ist zu berücksichtigen, dass damalige Rechtsfragen meist auf nach heutiger Diktion rein prozessuale Fragen abzielten, beispielsweise ob die Abfolge der pleadings eingehalten wurde oder ob eine Prozesshandlung an einer bestimmten Stelle zulässig war. Ein Grund dafür war, dass Formvorschriften zu den einzelnen writs durch die Register und die dazu ergangenen Präzedenzfälle besser dokumentiert waren als die materiellen Regeln, die sich hinter einem writ verbargen.245 Die Erfolgssaussicht, der Gegenseite Verfahrensfehler nachzuweisen, mag daher erfolgsversprechender gewesen sein als die Suche nach materiellrechtlich überzeugenden Argumenten. Hinzu kam, dass Richter dazu tendierten, materielle Rechtsfragen von sich zu weisen und der jury zuzuschieben, indem sie die Rechtsfragen in Tatsachenfragen umdeuteten.246 Diese Mechanismen führten dazu, dass Streitigkeiten von dezidiert materiellrechtlichem Inhalt im common law gering waren und stattdessen formale Fragen im Vordergrund standen. b) Gemeiner Prozess und equity-Verfahren Defekte im common law verhalfen der Billigkeitsrechtsprechung der chancery zu einem eigenständigen Rechtsgebiet. Die limitierte Anzahl an writs hatte im common law zu Rechtsschutzlücken geführt, die Formalitäten machten das Verfahren schwerfällig, und es stand keine echte Appellationsinstanz zur Verfügung, die Urteile im Zweifelsfall hätte überprüfen 243
Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 597. Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 88. 245 Vgl. o. S. 25 f.; S. 35. 246 Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 153, 202. Im 19. Jahrhundert gingen Richter umgekehrt vor und zogen Entscheidungen durch Umdeutung von Tatsachen- in Rechtsfragen an sich. Sie beschleunigten damit den Bedeutungsverlust der jury, s. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 595 f. 244
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können.247 Da die equity gerade diese Schwächen des common law auffangen sollte, grenzte sich ihr Verfahren von den bestehenden Regeln durch verringerte Prozessformalia ab. Für das Verfahren in equity blieb es nicht ohne Einfluss, dass die ersten Kanzler, die Billigkeitsentscheidungen im Namen der königlichen conscience trafen, Bischöfe waren. Ihre kirchlichenrechtliche Ausbildung führte dazu, dass sie ihren Entscheidungsprozess nach Merkmalen des römisch-kanonischen Verfahrens ausrichteten. Die Konsequenz dieser römisch-kanonischen Wurzeln war, dass das Verfahren der equity Schnittmengen mit dem gemeinen Prozess aufwies.248 Um Rechtsschutz im Rahmen der equity zu erhalten, machte der Kläger eine Beschwerde geltend, die er schriftlich als bill of complaint einreichte. Nach Tatsachen- und Rechtsfragen unterschied das Verfahren der equity nicht, da es kein Entscheidungsgremium neben dem Richter gab wie bei der jury im common law, dem nur Tatsachenfragen zur Entscheidung vorgelegt werden durften.249 Genau wie die gemeinrechtliche Klageschrift lieferte der Kläger eine zusammenhängende Geschichtserzählung, die nicht zwingend auf einzelne Streitpunkte reduziert sein musste.250 Bei der Verfahrenseinleitung blieb das equity-Verfahren dem commonlaw-Verfahren hingegen treu, denn auch hier musste der Kläger ein writ einreichen. Das klageeinleitende writ of subpoena, das ebenso wie im common law einen Ladungsbefehl an den Beklagten richtete, unterschied sich von dessen writs aber durch seine einheitliche Form, die unabhängig von dem begehrten Rechtsschutzmittel war. Der Rechtsgrund der Klage war also nicht durch die Auswahl eines speziellen writ determiniert, sondern wurde erst durch die Beschwerde erreicht, die der Kläger gemeinsam mit dem writ of subpoena einreichte. Der Stellenwert der bill of complaint ist somit mit dem der Klageschrift im gemeinen Verfahren vergleichbar. Trotz der beabsichtigten Formlosigkeit der equity erfolgten die Vorträge der Parteien wie im gemeinen Recht in einer bestimmten Reihenfolge, und ebenso wie im common law kannte die equity bestimmte Techniken der Erwiderung gegnerischen Sachvortrags. Doch sollten formale Regelwidrigkeiten nicht mit Prozessverlust geahndet werden und allgemein den Ausgang des Prozesses nicht entscheidend beeinflussen.251 Vergleichbar mit dem gemeinen Prozess brachten die Parteien ihren Fall schriftlich vor die chancery. Im Gegensatz zu der strengen Schriftlichkeit des gemeinen Prozesses, der eine unmittelbare mündliche Verhandlung der Parteien ver247
Vgl. o. S. 39 f. Vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 499 ff., der die kanonische denunciatio evangelica als eine Vorlage des equity-Verfahrens identifiziert. Er stellt Parallelen fest, verneint aber einen allgemeinen Rezeptionsprozess. 249 Van Caenegem, History of Civil Procedure, S. 45. 250 Vgl. o. S. 44 ff.; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 606. 251 Vgl. o. S. 44 ff. 248
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mied, kannte das Verfahren in equity aber mündliche Aussprachen und Befragungen durch den Kanzler innerhalb der einzelnen Termine. Außerdem protokollierte das Gericht im equity-Prozess nicht sämtliche Vorgänge möglichst lückenlos, sondern die Parteien bestimmten in Manier des common-law-Verfahrens, welche Punkte in das Protokoll aufgenommen und damit Streitstoff wurden.252 Dies führt zu der Frage, wann die Parteien durch ihr Vorbringen die Entscheidungsgrundlage des Verfahrens schufen. Das equity-Verfahren kannte die Zweiteilung in einen vorbereitenden Schriftsatzaustausch und eine mündliche konzentrierte Verhandlung im Sinne des trial im common law nicht. Stattdessen zerfiel es in Einzeltermine unter Vorsitz des Kanzlers, aus deren Mosaik er am Ende den Streitstand ermitteln musste. Dieses Verfahren ging in die Richtung des gemeinen Prozessablaufs, der ebenfalls in Termine aufgeteilt war. In beiden Verfahrensordnungen speiste sich der Verfahrensstoff daher aus den Protokollierungen im Rahmen der Einzeltermine. Ganz im Gegenteil zum gemeinen Prozess, der durch das Eventualprinzip die Parteien zwang, Tatsachen, Angriffs- oder Verteidigungsmittel so frühzeitig wie möglich vorzutragen, konnten die Parteien eines equityVerfahrens aber mit jedem Vortrag inhaltlich Neues einbringen. Dahinter stand das Anliegen der equity, die wahren Umstände eines Falles umfassend aufzuklären. Neuer Tatsachenvortrag provozierte eine weitere Antwort der Gegenseite, so dass die Parteien dieses Mittel dazu ausnutzen konnten, das Verfahren in einer Endlosschleife von Behauptungen und Gegenbehauptungen zu binden.253 Wie in den Phasen, in denen es im gemeinen Prozess kein Beweisinterlokut gab, konnten die Parteien im equity-Verfahren den Tatsachenbehauptungen ihrer Schriftsätze Beweismittel beifügen. Ursprünglich als Möglichkeit einer direkteren Einschätzung der Seriösität der gegnerischen Behauptungen und damit schnelleren Streitbeilegung gedacht, stellte sich die unmittelbare Beweisanbringung in der Prozesspraxis als prozessverzögernd heraus. Zum einen wurden die Schriftsätze lang und unübersichtlich, da die Parteien bevorzugt beweiserhebliche Dokumente im vollständigen Wortlaut zitierten, um sicherzugehen, dass der Kanzler von allen Fakten Notiz nahm. Zum anderen trug der Aufklärungsgrundsatz dazu bei, dass sich die Verfahren in equity in Details zu verzetteln drohten. Der Kanzler war im Unterschied zum gemeinen Prozess verpflichtet, allen von den Parteien in das Verfahren eingeführten Tatsachenbehauptungen und Beweisen nachzugehen, um die materielle Wahrheit erkennen zu können.254 Im Vergleich 252
Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 607. Vgl. o. S. 44 ff. 254 Vgl. o. S. 44 ff. 253
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zum da mihi facta, dabo tibi ius des gemeinen Prozesses verfolgte der Kanzler der equity eine umfassendere Wahrheitsfindung. Ausdauernde Beweiserhebungstermine waren die Folge, so dass der Abschluss des Verfahrens in weite Ferne rückte. 2. Abgrenzung der Streitsache Weder gemeines Recht noch common law oder equity identifizierten bei gerichtlichen Streitigkeiten ausdrücklich die Streitsache. Gemeinrechtliche Prozessualisten und englische Richter systematisierten stattdessen die Elemente, die den Inhalt der Klage bildeten und den Streit festlegten, und ermöglichten auf diesem Weg die Abgrenzung der Klage. a) Gemeinrechtliche Prozesslehre des 19. Jahrhunderts Unter den gemeinrechtlichen Prozessualisten entspann sich im 19. Jahrhundert eine Diskussion darüber, wie das Zivilverfahren dogmatisch zu begründen sei. Konkret widmeten sich die Prozessualisten der Frage, wie ein subjektives Recht als Rechtsgrund in die Klage Eingang fand.255 Die gelehrte Literatur war in diesem Erkenntnisprozess aktionenrechtlich orientiert, das heißt sie hielt sich an das römische Muster typisierter Klagerechte.256 Ein Aktionenrecht ordnet materielle Rechte nach den Bedingungen, unter denen sie im Prozess durchgesetzt werden können257; es entsteht ein „Privatrechtssystem in prozessualer Einkleidung“258. Auf dieser Grundlage behandelte das gemeine Recht die Wechselbeziehungen zwischen dem materiellen Zivilrecht und dem Zivilverfahren. (1) Römische actio als Ausgangspunkt Das gemeine Prozessrecht des 19. Jh hatte sich durch die Verbindung von kanonischen und deutschrechtlichen Quellen, rechtspraktischer Übung und wissenschaftlicher Bearbeitung weit vom antiken römischen Recht entfernt. Gleichwohl nutzte es das Instrumentarium römisch-rechtlicher Begriffe zur Ordnung seiner Rechtsregeln, darunter auch die actio, die einen entscheidenden Platz bei der Festlegung des Streitstoffes einnahm.
255 Sie kamen damit von einem ausschließlich dem Staat zugeordneten Verfahrensverständnis ab und rückten in Anlehnung an die Rechtslehre Kants den Schutz des Privatrechts in den Mittelpunkt, s. Nörr, Wissenschaft und Schrifttum, Ius Commune, Bd. 10 (1983), S. 143. 256 Nörr, Wissenschaft und Schrifttum, Ius Commune, Bd. 10 (1983), S. 151. 257 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 482. 258 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 88 Rn. 14.
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Im antiken römischen Formularprozess259 war die actio doppelfunktional und stand sowohl für die prozessrechtliche Klaghandlung als auch für den privatrechtlichen Klaganspruch.260 Prozessual verpflichtete die actio den Beklagten zur Verhandlung, materiellrechtlich zur Leistung.261 Einheitlich aufgeführt wurden die verfügbaren actiones im prätorischen Edikt und strukturierten so das römische Recht bereits äußerlich. Auch eine innere Einheit lässt sich feststellen, denn das prätorische Edikt als maßgebliche Rechtsquelle führte dazu, dass die römischen Juristen den gesamten Rechtsstoff aus der Perspektive des Gerichtsverfahrens betrachteten.262 So erhielt die actio ihre übergreifende Bedeutung und spiegelte das römische Verständnis von einer Einheit von Privat- und Prozessrecht wieder. Bereits im Kognitionsverfahren und vor allem im justinianischen Prozess kennzeichneten die actiones aber nicht mehr die Verfahrensart, die dem Kläger per Formel zugestanden wurde. Sie verloren ihre prozessuale Seite und standen jetzt für materielle Rechte, so dass der materielle Rechtsstoff vom Verfahren seiner Durchsetzung entkoppelt wurde.263 Trotz dieses Funktionswandels behielt Justinian den Aufbau der Rechtsordnung nach actiones bei, weil er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die klassische Rechtskultur wiederaufleben zu lassen und folglich an den Sprachgebrauch des klassischen römischen Rechts anzuknüpfen.264 Die strukturgebende Stellung der actiones wurde auf diesem Weg vom Corpus Juris Civilis über das kanonische Recht und Gewohnheitsrecht bis in das gemeine Recht überliefert.265 (2) Bedeutung der actio in der gelehrten Literatur des 19. Jahrhunderts Auch am Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert hatte die actio ihre schillernde Gestalt nicht verloren und war weder der Klage noch dem geltend gemachten materiellen Rechtsgrund gleichgesetzt.266 Vielmehr galt sie im gemeinen Recht „als die prozessuale Gestalt, die jeder – grundsätzlich materielle – Anspruch zum Zwecke der gerichtlichen Durchsetzung annehmen konnte“267. Rechtstatsächliche und systematische Veränderungen drängten die Bedeutung der actio allerdings zurück, bis sich die historische Rechts259 Der Formularprozess löste das Legisaktionenverfahren ab und war der ordentliche Zivilprozess der klassischen Periode, s. Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, § 80, Rn. 14, 21. 260 Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, § 4 Rn. 6. 261 Schlinker, Litis Contestatio, S. 548. 262 Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, § 80 Rn. 1. 263 Harke, Römisches Recht, § 1 Rn. 23. 264 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 484. 265 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 43. 266 Schlinker, Litis Contestatio, S. 453. 267 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 74 f.
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schule durch eine materiellrechtliche Konnotation bemühte, dem System der Klagerechte neue Bedeutung zu verleihen. In rechtstatsächlicher Hinsicht schrumpfte die Bedeutung des gemeinen Rechts insgesamt, weil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Welle der großen Naturrechtskodifikationen in teilweise ausdrücklicher Abgrenzung von den Rechtsgrundsätzen des gemeinen Rechts das Zivilrecht systematisch vom Prozessrecht trennte. In Preußen unterschied der Gesetzgeber zwischen dem Allgemeinen Landrecht von 1794 und der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793; in Frankreich legte er die Gesetzgebungswerke des Code civil von 1804 und des Code de procédure von 1806 auf; auch in Österreich separierte er das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 und die Allgemeine Gerichtsordnung von 1781.268 Diese mitteleuropäische Rechtsentwicklung verstärkte den Anpassungsdruck auf eine actio, die der Unterscheidung zwischen Privat- und Prozessrecht nicht recht folgen wollte. Systematisch war die Bedeutung der actio für den Verfahrensverlauf kontinuierlich geschrumpft. Es setzte sich die Auffassung durch, dass private Rechte generell gerichtlich durchsetzbar waren, folglich für jedes private Recht auch eine actio bestand.269 Hinzu kam die gefestigte Gerichtspraxis, dass die actio in der Klageschrift nicht mehr explizit benannt werden musste, da das Gericht unter Anwendung der Grundsätze iura novit curia und da mihi factum, dabo tibi ius das klägerische Begehren ohnehin dem passenden Rechtsbehelf zuordnete.270 Spezielle Formerfordernisse für die jeweiligen actiones existierten ohnehin nicht mehr.271 Da die actio in ihrer bestehenden Form nicht in die sich ankündigende Trennung von Privat- und Prozessrecht einzuordnen war und sie ohnehin ihre zentrale Stellung im Verfahrensgang verloren hatte, hätte es nahegelegen, sie aufzugeben. Dies wäre allerdings mit dem Postulat der historischen Rechtsschule, die ja gerade die Wiederaufbereitung des klassischen römischen Rechts in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellte, nicht vereinbar gewesen. Um die actio als das Kernstück des antiken römischen Prozesses nicht aufgeben zu müssen, reagierte Savigny auf ihren Bedeutungsverlust im Verfahrensgang des gemeinen Prozesses mit einer „Umdeutung“272 und konstruierte ein sogenanntes materielles Aktionenrecht.273
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Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 487. Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 44; Schlinker, Litis Contestatio, S. 453, Fn. 18 m. w. N. 270 Vgl. o. S. 10 ff. 271 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 75. 272 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488. 273 Vgl. Savigny, System, Bd. V, S. 2, 5 f.; Nörr, Wissenschaft und Schrifttum, Ius Commune, Bd. 10 (1983), S. 152. 269
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Savigny ging zunächst vom materiellen subjektiven Recht aus und betrachtete dann die Vorgänge, die sich ergaben, wenn das Recht verletzt wurde. Aus der Verletzung des materiellen Rechts entstehe für den Geschädigten die actio als weiteres materielles Recht.274 Der Geschädigte trete in ein neues Rechtsverhältnis zum Verletzer. Seine daraus resultierende actio richte sich gegen den Verletzer und berechtige den Geschädigten materiellrechtlich, die Beseitigung der Verletzung zu fordern.275 Die actio sei das Recht „im Zustand seiner Vertheidigung“276. Zugleich war der Inhaber des Klagerechts prozessual befugt, sein Recht auf Beseitigung der Verletzung auch einzuklagen. Savigny baute diesen Aspekt dahingehend aus, dass er der Verletzung des materiellrechtlichen Rechts ein subjektives Recht des Geschädigten zur Klage zuordnete.277 Zwischen das subjektive Recht und seinen prozessualen Schutz schob er im Ergebnis ein materiellrechtlich begründetes Klagerecht. Materiellrechtliches Klagerecht und subjektiv-öffentliches und prozessuales Recht auf gerichtlichen Schutz bildeten in der actio eine Einheit.278 Kollmann fasst Savignys Auffassung von der actio wie folgt zusammen: „Die Actio ist das subjektiv-privatrechtliche Recht im Zustand (d.h. nach) seiner Verteidigung. Sie besteht aus einem materiellen Wiederherstellungs-Recht und aus der prozessualen Befugnis, dieses Recht gerichtlich einzuklagen; diese Elemente sind in der Actio zu einer rechtssystematischen und begrifflichen Einheit verschmolzen. Da die Actio die ,Fortsetzung‘ des materiellen Privatrechts ist, ist sie selber Teil des Privatrechts. Damit gehört auch die Klagbarkeit des Rechts zum Privatrecht.“279
Damit stemmte sich Savigny auch strukturell gegen eine systematische Trennung von Privat- und Prozessrecht, wie sie etwa durch die Naturrechtskodifikationen angestoßen worden war. Dem Prozessrecht ordnet er nur noch die „Bedingungen und Formen“ klar zu, die für eine Klagehandlung nötig waren.280 Folgten ihm die gemeinrechtlichen Prozessualisten in
274 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488 macht darauf aufmerksam, dass in dieser Sichtweise das mittelalterliche Mutter-TochterBild zwischen obligatio und actio anklingt, von Savigny aber dahingehend abgeändert wurde, dass jetzt bereits die obligatio materiellrechtlich zu verstehen sei. 275 Savigny, System, Bd. V, S. 5: „Die Verletzung unsrer Rechte aber ist nur denkbar als Thätigkeit eines bestimmten Verletzers, zu welchem wir dadurch in ein eigenes, neues Rechtsverhältniß treten; der Inhalt dieses Rechtsverhältnisses läßt sich im Allgemeinen dahin bestimmen, daß wir von diesem Gegner die Aufhebung der Verletzung fordern.“ 276 Savigny, System, Bd. V, S. 2. 277 Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 529. 278 Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 529. 279 Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 531. 280 Savigny, System, Bd. V, S. 6; Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 530.
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dieser Ansicht,281 dann ordneten sie das weite Feld der Voraussetzungen für die Entstehung von Klagerechten im 19. Jahrhundert dem Zivilrecht zu. Der Zivilprozesstheorie verblieb nur die vergleichsweise karge Scholle der „Art ihrer Verwirklichung“282. Prozessrecht war „die Lehre von der gerichtlichen Geltendmachung verletzter Privatrechte“283 und wurde nicht als selbstständiges, sondern dem Privatrecht akzessorisches Recht angesehen.284 Für die damals herrschende Meinung war daher „das Recht das Prius, die Klage das Spätere, das Recht das Erzeugende, die Klage das Erzeugte“285. In seiner Ansicht, dass ein vor Gericht gebrachtes subjektives Recht nicht etwa ein neues, prozessuales Rechtsverhältnis begründe, sondern lediglich eine „Metamorphose“286 durchlebe, erhielt Savigny in der Wissenschaft Unterstützung. Wetzell befand: „Denn immer müssen zwei Momente zusammentreffen, damit eine Klage als entstanden betrachtet werden könne, es muß ein Recht erworben, und das erworbene Recht muss verletzt worden sein.“287 Für Bülow wandelte sich ein Privatrecht, „wenn es sich tätig beweisen soll, vor unseren Augen zum Klagrecht.“288 Das Pendel zwischen materiellem Recht und Prozessrecht, das den Charakter der actio so wandelbar machte, war in der Mitte 19. Jahrhundert deutlich zur materiellen Seite ausgeschlagen. (3) Abgrenzung von Klagen durch die res zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen Die große Bedeutung der actio als Klagerecht in der gemeinrechtlichen Lehre legt die Vermutung nahe, der gemeine Prozess habe das private Recht in Form der vor Gericht gebrachten actio als Streitsache einge-
281 Etwa Bayer, Vorträge, S. 577: „Denn die Prozeßrechtslehre bestimmt nur die Formen, nach welchen ein klagbarer Anspruch zu verfolgen, oder ein nicht klagbarer vor Gericht zurückzuwiesen sey.“ 282 Wetzell, System, S. 2; Bayer, Vorträge, S. 2 f. meint, die Zivilprozessrechtstheorie habe „eigentlich nur die Art und Weise des Verfahrens, das heißt der einzelnen Handlungen der Parteien und des Gerichts sowie das Ineinandergreifen dieser Handlungen anzugeben und zu erklären.“; vgl. auch Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht, S. 55 f. 283 Wetzell, System, S. 2. 284 Linde, Lehrbuch, S. 199: „Klagen sind Ausflüsse gesetzlich anerkannter, allein auf irgend einer Art verletzter Rechte, sonach accessorischer Natur.“ 285 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 3. 286 Savigny, System, Bd. V, S. 3. 287 Wetzell, System, S. 149 f. 288 Bülow, Gemeines deutsches Zivilprozeßrecht, S. 64; Schlinker, Litis Contestatio, S. 550.
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setzt.289 Dieser Befund gilt jedoch nur für die geschlossene Betrachtung des einzelnen Verfahrens. Er muss verändert werden, wenn man die Phase des laufenden Prozesses verlässt und die Mechanismen der Abgrenzung einer gerichtlich entschiedenen Sache von Folgeverfahren betrachtet. Hier brachte die gelehrte Literatur den Begriff der res ins Spiel,290 der an der Gleichsetzung von Klagerecht und Streitsache Zweifel aufkommen lässt. Das Merkmal der res de qua agitur diente der Abgrenzung im Rahmen der Einrede der Rechtskraft (exceptio rei judicata) bei Klagenkonkurrenzen. Wenn eine Streitfrage, über die bereits rechtskräftig entschieden worden war, erneut vor Gericht aufgeworfen wurde, konnte der Beklagte sich mit der Einrede der Rechtskraft gegen ein Zweitverfahren wehren.291 Die res war für die Einrede der Rechtskraft entscheidend, weil sich aus derselben res möglicherweise mehrere actiones ergaben, der Kläger aber im Verfahren nur eine actio geltend machen konnte.292 Zu einer Aktionenkonkurrenz kam es dann, wenn der Kläger ein bestimmtes Begehren rechtlich unterschiedlich begründen konnte, ihm also in demselben Fall mehrere actiones mit dem gleichen Rechtsschutzziel zur Verfügung standen.293 Dies war beispielsweise der Fall, wenn ein Kläger sein Schadensersatzverlangen wegen der Beschädigung eines vermieteten Gegenstandes gleichzeitig auf einen Vertrag und auf die lex Aquilia stützen konnte.294 Obwohl nicht immer deutlich vom Klagerecht abgegrenzt,295 unterschied sich die res von diesem. Sie bezeichnete das Rechtsverhältnis in einem weiten Sinne, um das sich das Verfahren drehte; dieses konnte über den Sachverhalt abgegrenzt werden, der dem Streit zugrundelag.296 Die res konnte als tatsächliche Grundlage von privaten Rechten weitergehen als
289 In diese Richtung Schlinker, Litis Contestatio, S. 598; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 16; Hesselberger, Die Lehre vom Streitgegenstand, S. 84. 290 Vgl. etwa Linde, Lehrbuch, S. 208 f.; Wetzell, System, S. 571 ff., 576. 291 Es musste also die „res de qua agitur mit einer res judicata identisch“ sein, s. Wetzell, System, S. 574. 292 Schlinker, Litis Contestatio, S. 454 und 600; Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69. 293 Wetzell, System, S. 586 f.; Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69; Schlinker, Litis Contestatio, S. 600. 294 Vgl. den Aufsatz von Schlinker, Der Anspruch im Prozess (erscheint demnächst). 295 Dies zeigt Schlinker, Litis Contestatio, S. 600, Fn. 296 am Beispiel von Wetzell, System, S. 576 ff. Auf S. 576 schreibt dieser noch: „[…] die Streitsache (res), d. i. das Klagrecht“. Später auf S. 586 f. im Rahmen der exceptio rei judicatae sieht er die Natur der res dagegen „in derselben verletzenden Thatsache“, aus der dem Kläger mehrere Klagen zustehen können. 296 Schlinker, Litis Contestatio, S. 454 und 600; a. A. Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 68, die die res als ein der actio vorgelagertes Klagerecht einordnet.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
die einzelne actio.297 Im isoliert betrachteten Verfahren spielte die res noch keine entscheidende Rolle, denn die Juristen arbeiteten mit der actio als Streitsache. Die Entscheidung über die actio im Urteil war aber umfassender und betraf die gesamte res, falls es zu einer erneuten Klage kommen sollte. Die Folge war, dass ein Kläger aus einer bereits verhandelten res keine weiteren actiones mehr geltend machen konnte:298 „[…] daß wenn mehrere Klagen, die hinsichtlich desselben Gegenstandes (res) unter denselben Subjecten aus demselben Rechtsverhältnisse hervorgehen, sich auch dann, wenn ihre Wirkung (condemnatio) eine ungleiche seyn würde, in der Art einander aufheben, daß nur eine mit Erfolg durchgeführt werden kann.“299
Unterschieden werden kann demnach zwischen dem Erstverfahren und Folgestreitigkeiten. Das Urteil des Erstverfahrens bezog sich auf die actio, die als prozessual geltend gemachter Anspruch untrennbar mit dem materiellen Rechtsgrund des Klägers verbunden war. Kam es zu Folgeverfahren, beachtete der Richter, ob über das Rechtsverhältnis als res de qua agitur bereits im Erstverfahren rechtskräftig entschieden worden war.300 b) Common-law-Verfahren Die Untersuchung der Streitfestlegung im common law hat gezeigt, dass bereits vor den Prozessreformen des 19. Jahrhunderts detaillierte Verfahrensvorschriften für die genaue Bestimmung der Streitsache existierten. Das common law war bestimmt durch die forms of action, die die Formalia des writ und des von ihm vorbestimmten Klageverlaufs, insbesondere der pleadings, kennzeichneten. Sie teilten das Verfahren auf in die Festlegung der Voraussetzungen der Klage durch das writ, die Behauptung der Tatsachen durch die pleadings sowie die Beweisführung vor der jury. Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens at law war das writ, dem drei zentrale Aufgaben zukamen.301 Erstens stand es für ein Klageformular, durch das der König dem Kläger eine Klage erst ermöglichte. Als Eingangstor in eine Klage war das writ deswegen für die Einleitung eines jeden Verfahrens unverzichtbar. Nach ihm richten sich zweitens die weiteren Verfahrensformalia, beispielsweise die pleadings. Drittens erkannte das 297
Schlinker, Litis Contestatio, S. 600; so im Ergebnis auch Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69. 298 Schlinker, Litis Contestatio, S. 454 und 600; Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69. 299 Linde, Lehrbuch, S. 208; ebenso Wetzell, System, S. 586 f. 300 Einschränkend Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 16: Zumindest die eadem res bei Aktionenkonkurrenzen sei nur ein materiellrechtlich orientiertes Kriterium gewesen, das die Streitsache nicht erweitert habe. Zum Verhältnis von actio und res vgl. auch den Aufsatz von Schlinker, Der Anspruch im Prozess (erscheint demnächst). 301 Vgl. o. S. 21 ff.
IV. Vergleich
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writ durch seine Gewährung subjektive Rechte erstmals als justiziabel an und bestimmte, welche materiellen Normen im Rahmen der jeweiligen Klage anwendbar waren. Damit richtete sich nicht nur die Durchsetzung, sondern die Ordnung privater Rechte insgesamt nach der Kategorisierung des writ-Systems. Für die prozesstaktischen Überlegungen des Klägeres bedeutete dies, dass er nicht zuvörderst ein bestehendes materielles Recht identifizierte und sich daran anknüpfend überlegte, ob man diesen materiellen Anspruch in eine eigene prozessuale Kategorie, das writ, umwandeln konnte. Vielmehr stand am Anfang jeder rechtlichen Überlegung das writ, die darin gefasste materielle Berechtigung kam erst an zweiter Stelle. Die writs wurden so zum Gerüst des common law. Dies macht deutlich, dass das gesamte common law von einer prozessualen Warte aus aufgebaut und praktiziert wurde. Erst wenn durch die Gewährung eines neuen writ ein bestimmtes Rechtsschutzbedürfnis als abhilfewürdig anerkannt worden war, konnte ihm nach englischer Sicht auch ein justiziables subjektives Recht zugrundeliegen. Ob die materielle Berechtigung außerhalb eines Gerichtsverfahrens bestand, war irrelevant, da sie ohne ein bestehendes writ jedenfalls nicht einklagbar war. Das System der writs legte so zugleich das materielle Recht fest.302 Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die königliche Kanzlei mit der Gewährung eines writ neue subjektive Rechte originär schuf. Bereits das frühe common law richtete sich nach dem Sprichwort „ubi ius, ibi remedium“303. Das common law erkannte an, dass materielle Berechtigungen auch ohne ein Gerichtsverfahren existierten. Doch zum subjektiven Recht im Sinne des common law wurde eine Berechtigung nur, wenn mittels eines writ auch eine Rechtsschutzmöglichkeit (remedy) gegeben war.304 Die materiellrechtliche Bedeutung des writ bestand darin, dass es ein zuvor nicht gerichtlich durchsetzbares privates Recht zu einer Berechtigung at law machte, die vor Gericht anerkannt wurde.305 Für die Streitsache bedeutete dies, dass das writ mehr enthielt als das bloße Rechtsschutzbegehren des Klägers. Es legte zugleich das anwendbare materielle Recht fest und war das verfahrensrechtliche Behältnis, in dem 302
Maitland, The Forms of Action, S. 41: „Men have learnt that a power to invent new remedies is a power to create new rights and duties […]“. 303 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 170. 304 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 170: „The age-old adage ,ubi ius, ibi remedium’ expresses a fundamental concept of the legal order, that where there is a legal right, there is, or there ought to be, a legal remedy. The converse of this maxime also affects the legal order, that where there is no remedy, there is no legal right. A right or claim without a remedy is empty of legal content; it may have some other social basis but is void of any legal basis.” 305 Vgl. o. S. 25 ff.
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der Kläger seinen materiellrechtlichen Anspruch in das Verfahren einbringen konnte.306 Erst mit Gewährung des writ erkannte das königliche Gericht das Rechtsschutzbegehren des Klägers als justiziabel an. Das durch den Antrag des writ geltend gemachte Rechtsschutzbegehren war deshalb von dem ihm zugrundeliegenden subjektiven Recht des Klägers nicht trennbar. Die strenge Bindung einer Klage an das einleitende writ wirkte sich auch auf die inhaltliche Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Klagen aus. Kam es in Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Parteien zu der Situation, dass der Kläger mehrere unterschiedliche Klageziele in einem Verfahren bündeln wollte, die er sonst in getrennten Klagen erhoben hätte, so war ihm dies unter dem System der writs aus mehreren Gründen verwehrt. Gegen das Vorbringen verschiedener Klagebegehren sprach zunächst die rule against duplicity, die die Parteien verpflichtete, in ihrer Argumentation eine konsistente Linie zu finden.307 Sie schloss die Einbringung von alternativen Klagegründen aus.308 Der Kläger war außerdem an die Rechtsschutzmöglichkeiten von common law und equity auf ihren jeweiligen Rechtswegen gebunden. Die getrennten Rechtsmassen hinderten ihn beispielsweise daran, Schadensersatz (eine Rechtsschutzmöglichkeit des common law) und Unterlassung (eine Rechtsschutzmöglichkeit der equity) gleichzeitig zu verlangen. Im common law vor den Prozessreformen der Jahre 1873–1875 bestimmte schließlich die technische Gestaltung eines writ, ob ein Verfahren mehrere Begehren des Klägers behandeln konnte. Writs mit unterschiedlichen Prozessanforderungen konnten nicht miteinander kombiniert werden.309 In manchen Fallkonstellationen war eine Klagehäufung damit aus mehreren Gründen nicht möglich. Der Kläger konnte beispielsweise sein Schadensersatzverlangen nicht mit dem Bruch eines durch Siegel beglaubigten Vertrags und zusätzlich mit dem Bruch eines einfachen Vertrags begründen, da er einerseits keine alternativen Klagen anbringen konnte und andererseits für die Klagegründe unterschiedliche writs einschlägig waren.310 Die Frage, ob mehrere Ansprüche in einem Verfahren geltend gemacht werden konnten, hing nur davon ab, ob sie formal unter dasselbe writ fielen. Inhaltlich mussten sie keine Gemeinsamkeiten aufweisen, es konnte sich um völlig unterschiedliche Lebenssachverhalte handeln.311 Entscheidend war, dass die Parteien des Verfahrens und die durch das writ vorge306
Vgl. Peter, Actio und writ, S. 36; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 420. Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 27. 308 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–03. 309 Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 201. 310 Odgers, Changes in Procedure, S. 213. 311 Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 28. 307
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gebene Prozessform gleich blieben. Der Report der Gesetzgebungskommission zum Common Law Procedure Act 1852 nennt Beispielsfälle, darunter die Konstellation, dass ein Kläger in derselben Klage Schadensersatz wegen Verführung seiner Tochter, für die Verletzung eines Patentrechts sowie für eine verleumderische Behauptung ihm gegenüber verlangen konnte, da stets das writ of trespass die richtige Klageform war.312 Unmöglich war aber eine Klagehäufung im Sinne der Kombination von mehreren writs, denn unterschiedliche writs wurden in getrennten Verfahren behandelt. Wenn der Beklagte beispielsweise widerrechtlich in das Grundstück des Klägers eindrang und ihn dabei noch als Dieb und Räuber beschimpfte, musste der Kläger zwei writs erwirken, einen auf trespass und einen auf slander.313 Die formale Strenge des früheren common law verhinderte die Auswechslung der Klage, falls das writ bereits ausgestellt war. Über den versuchsweisen Parteivortrag tasteten sich die Parteien in den weiteren Verlauf des Verfahrens hinein und minimierten so das Risiko formaler Fehler. Lehnte das Gericht gewisse Formulierungen ab, so konnte die Partei ihren Vortrag bis zur Niederschrift im Gerichtsprotokoll ändern.314 Als im 17. Jahrhundert die Möglichkeit des versuchsweisen Parteivortrags wegfiel, erhöhte sich das Risiko der Wahl des falschen writ entsprechend. Wollte der Kläger einen anderen Rechtsschutz als den ursprünglich beantragten erhalten, so blieb ihm nichts anderes übrig, als das writ fallenzulassen und sich um einen neuen zu bemühen. Das frühere writ bewirkte keine Präklusion, so dass dem Kläger dies ungeachtet der Mehrkosten und des bürokratischen Aufwandes auch möglich war.315 c) Equity-Verfahren Da das Verfahren der equity nur das einheitliche writ of subpoena kannte, war seine Streitsache nicht bereits durch das Klageformular vorbestimmt. Sie war in den Schriftsätzen der Parteien zu suchen, deren Weitschweifigkeit aber ihre Identifizierung erschweren konnte. Die geringe Förmlichkeit des Verfahrens hatte den negativen Beigeschmack, dass die Parteien nicht gezwungen waren, in ihren Schriftsätzen den Inhalt ihres Streits in einer bestimmten Form deutlich zu machen und auf die wesentlichen Punkte zu reduzieren. Der Kanzler sollte den Fall aufgrund aller zugrundeliegenden Tatsachen und unabhängig von Klageformalia entscheiden.316 Die Parteien 312
1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/32 mit weiteren Beispielen. 313 Odgers, Changes in Procedure, S. 213. 314 Vgl. o. S. 35 f. 315 Vgl. o. S. 23 ff. 316 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 51.
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1. Kapitel: Streitfestlegung vor der Verfahrensvereinheitlichung
mussten sich nicht auf bestimmte issues einigen, da es keine jury gab, für die man den Fall hätte zuspitzen müssen, um den Sachverhalt für Laien verständlicher und entscheidbarer zu machen. Deshalb erfolgte auch keine Trennung in Rechts- und Tatsachenfragen.317 Die Parteien nutzten die pleadings für ausschweifende Erzählungen und boten gleichzeitig umfangreiche Beweise an. Insbesondere die Freiheit des klägerischen Vortrags, eigentlich eine Errungenschaft des equity-Verfahrens gegenüber dem common-lawVerfahren, führte dazu, dass der Kläger sich gar nicht erst bemühen musste, den begehrten Rechtsschutz zu spezifizieren, sondern es nach Erzählung des Sachverhalts bei der Aufforderung an die Richter belassen konnte: „Give me such relief as may seem just in the premises“318. In diesem Fall war also zu Beginn des Prozesses die Streitsache nicht genau bestimmt. Der Kanzler besaß die Kompetenz, auch solche weiten Klageanträge zur Entscheidung anzunehmen. Seine Urteilsgewalt war nicht durch „die Zwangsjacke des Verfahrens“319 der writs begrenzt. Er entschied kraft königlicher Vollmacht und richtete sich nach den Gesichtspunkten der conscience. Rechtsschutzmöglichkeiten in equity schuf er individuell nach den Bedürfnissen des jeweiligen Falles. Im Vergleich zum common law ist festzuhalten, dass im Verfahren in equity materielles Recht noch stärker mit dem Prozess verwoben war. Das common law ging davon aus, dass einer Klage materielle Rechte zugrundelagen, die bereits vor Verfahrensbeginn existierten und dann durch den Rechtsschutz eines writ reflektiert und justiziabel gemacht wurden.320 Die Gewährung von Rechtsschutz im Verfahren der equity war dagegen ein Entstehungsgrund für private Rechte an sich; der Kanzler schuf mit seinem Urteil originäre materielle Berechtigungen.321 Aus den remedies der equity entstanden so neue private Rechte, die im common law nicht anerkannt waren. In dem Maße, in dem sich Entscheidungen des Kanzlers durch Wiederholung in ähnlichen Verfahren zu allgemeinen Grundsätzen verfestigten und ihre Anwendung als besonderes Vorrecht des Court of Chancery angesehen wurden, entstand das besondere Rechtsregime der equity.322
317
Baker, Introduction to English Legal History, S. 106. Sturge, Basic Rules, Vorwort, S. 7. 319 Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 15. 320 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 170. 321 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 173 f.: „By providing the appropriate remedy, particularly in the imperative form ‘to do or not to do’ a specified act, the Court of Chancery virtually created substantive rights […]. Equity thus transformed the age-old maxime in its converse, namely, ‘ubi remedium ibi ius’, that the remedy itself is the source or basis of the substantive right.” 322 Baker, Introduction to English Legal History, S. 108. 318
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Schlussfolgern lässt sich, dass der Kläger die Streitsache des equityVerfahrens mit seiner bill bestimmte, in der sich Antrag und Klagegrund nicht klar trennen ließen. Konkretisierte er sein Begehren nicht, so wurde die Streitsache erst durch den Kanzler festgelegt. In jedem Fall trennte die Streitsache nicht zwischen materiellem Recht und Prozessrecht, denn private Rechte der equity entstanden aus der Gewährung einer Rechtsschutzmöglichkeit durch den Kanzler. Bezüglich der Abgrenzung von Klagen war das Verfahren in equity ebenso strikt wie das common law. Auch hier konnte ein Kläger nicht mehrere Klagebegehren gegen denselben Beklagten in einem Verfahren bündeln. Technische Anforderungen der unterschiedlichen forms of action standen hier zwar nicht im Weg, doch die bill of complaint, die regelmäßig bereits im writ of subpoena enthalten war, durfte immer nur eine ganz bestimmte Beschwerde enthalten und war daher einer Klagehäufung nicht zugänglich.323 Änderungen des Parteivortrags waren aber aufgrund des Ziels der equity, die materielle Wahrheit durch weitestgehende Aufklärung des Falles zu erkennen, leichter möglich als im common law oder im gemeinen Prozess.324 Im Gegensatz zum common law legte das writ den Kläger nicht auf einen bestimmten Vortrag fest. Im gemeinen Prozess hätte er ab dem Zeitpunkt der litis contestatio, die mit der Erwiderung des Beklagten einherging, die Klage nicht mehr ändern können, weil sie eine Prozessobligation begründete, die ihn auf den eingebrachten Klageinhalt festlegte.325 Trotz der gemeinsamen römisch-kanonischen Wurzeln kannte das equityVerfahren keine litis contestatio mit der damit verbundenen Festlegung des Klageinhalts, so dass er seine Beschwerde auch noch nach der Einlassung des Beklagten ändern konnte.326 3. Schlussfolgerungen für das Rechtsdenken Das gemeine Recht behandelte grundsätzlich das im Verfahren geltend gemachte Recht in Form der actio als Streitsache, allerdings mit gewissen prozessualen Erweiterungen. Savigny erkannte, dass es im Zivilverfahren nicht um bestehende, sondern um behauptete Rechte ging.327 Im Mittelpunkt der Klageschrift standen denn auch nicht der Rechtsgrund oder der Name der begehrten actio, sondern der klägerische Antrag auf eine be323 Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 201; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 519; Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 25. 324 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 491. 325 Vgl . o. § 1 I. 3. 326 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 606, 491. 327 Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht, S. 58.
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stimmte Rechtsfolge sowie der Sachverhalt des Falles. Bei der Abgrenzung bereits entschiedener Klagen stellte das gemeine Recht nicht auf die konkrete actio, sondern auf die res als den dem Rechtsverhältnis zugrundeliegenden Lebenssachverhalt ab.328 Im common law legte das writ bereits von Anfang an zwingend fest, welche materiellen Regeln überhaupt anwendbar waren und auf welche Rechtsfolge die Klage abzielte. Die Streitsache ergab sich unmittelbar durch Auswahl des writ. Private Rechte wurden zwar ohne ein writ vom Gericht nicht als durchsetzbar anerkannt, bestanden aber trotzdem unabhängig von einem Gerichtsverfahren. Anders ging das gemeine Recht vor, das die klageweise Durchsetzung privater Rechte flächendeckend gewährleistete, indem es für jedes private Recht auch die Existenz einer actio annahm.329 Das gemeine Recht ging davon aus, dass die actio nur die prozessuale Geltendmachung eines unabhängig vom Gerichtsverfahren bestehenden privaten Rechts war. Dies weist auf einen wichtigen Unterschied im Rechtsdenken hin: Das common law und noch stärker die equity setzten Klagemöglichkeiten mit dem Bestand gerichtlich durchsetzbarer privater Rechte gleich, während sich das gemeine Recht auf Klagen bezog, um seine privaten Rechte zu systematisieren. Der Unterschied liegt in dem aktionenrechtlichen Denken des englischen Rechts und der (nur) aktionenrechtlichen Orientierung des gemeinen Rechts.330 Damit ist gemeint, dass sich im englischen common law private Rechte gerichtlich nur durchsetzen ließen, wenn die königliche Kanzlei dem Kläger eine bestimmte und individuelle Klageformel gewährte.331 Nur gewisse Sachverhaltskonstellationen wurden prozessual als klagefähig anerkannt, unabhängig davon, welche materielle Rechtsbeziehung zwischen Kläger und Beklagtem bestand. Gab es kein writ, dann half dem Kläger nur noch eine Bitte in equity. Im equity-Verfahren schuf sogar erst der Kanzler als Richter private Rechte, indem er dem Kläger einen bestimmten Rechtsschutz gewährte. Durch diese strenge Abhängigkeit materieller Rechte von
328
Vgl. o. S. 60 ff. Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 44. 330 Diese Unterscheidung nimmt Erkenntnisse von Wieacker auf, der den Unterschied als aktionenrechtlichen Charakter im „strengen“ und im „weiteren“ Sinn bezeichnete, s. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 187, Fn. 48. Ähnlich Kaufmann, der ein „umfassendes“ aktionenrechtliches Denken von einem „Restbestand“ dessen abgrenzte, s. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 482. Die Unterscheidung zwischen aktionenrechtlichem Denken und aktionenrechtlicher Orientierung nutzte als Erster Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 21, 29, allerdings speziell in Bezug auf das römische Recht. 331 Baker, Oxford History Bd. VI, S. 323. 329
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den Klagen des Gerichtsverfahrens dachten englische Juristen aktionenrechtlich. Im gemeinen Recht war die actio nicht das entscheidende Nadelöhr auf dem Weg zu einem Gerichtsverfahren, da ohnehin für jedes behauptete private Recht Klagen gewährt wurden. Die actio kennzeichnete den Transformationsprozess, wenn ein gesetzlicher oder gewohnheitsrechtlich entwickelter Rechtsgrund als Klagerecht in einem Zivilverfahren geltend gemacht werden sollte.332 Indem die gelehrten Juristen das Privatrecht nach Klagemöglichkeiten ordneten und im Hinblick auf das Zivilverfahren systematisierten, richteten sie sich nach der actio. In dem Verständnis der actio als Ordnungskriterium für eine in jedem Fall einklagbare materielle Berechtigung war das gemeine Recht aktionenrechtlich orientiert.333
332
Savigny, System, Bd. V, S. 2: „Das Recht im Zustand seiner Vertheidigung“. Die aktionenrechtliche Orientierung des gemeinen Rechts geht zurück auf die Kasuistik des Corpus Juris Civilis und ihre Bearbeitung durch Glossatoren und Konsiliatoren, s. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 187, Fn. 48; vgl. Peter, Actio und writ, S. 54 ff. 333
Kapitel 2
Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung des Zivilverfahrens im 18. und 19. Jahrhundert Schon bevor die Reichscivilprozeßordnung (CPO) von 1877 sowie die Judicature Acts von 1873–1875 das Zivilverfahren vereinheitlichten, gab es in Deutschland und England Gegenentwürfe zum überkommenen Zivilverfahren. In Deutschland zeigten sie sich in partikularen Verfahrensordnungen, die Impulse gaben für die Prozesskonferenzen zur CPO 1877; in England bereiteten Reformgesetze den Übergang zum Judicature Act (JA) von 1875 schrittweise vor.
I. Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland I. Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland
1. Partikularrechtliche Abgrenzungen gegenüber dem gemeinen Prozess Hinter dem gemeinen Prozessrecht stand ein Lehrgebäude, das wissenschaftlich gepflegt wurde, aber nicht unbedingt die Gerichtspraxis widerspiegelte. Von einem deutschen Verfahren im einheitlichen Sinne kann bis zur CPO 1877 nicht gesprochen werden, da sich die deutschen Partikularstaaten, bedingt durch die territoriale Zerstückelung des Heiligen römischen Reichs Deutscher Nation, jeweils nach ihren eigenen Verfahrensordnungen richteten.1 Die Vielzahl an Prozessrechten war im Grunde genommen unüberschaubar.2 Die Partikularstaaten wendeten den gemeinen Prozess nur selten3 in Reinform an.4 Dies war bis zur Mitte des 19. Jahrhundert auch kaum mög-
1
Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 73 f.: „Neben dem gemeinen Recht hat sich in den deutschen Staaten fast überall der Prozeß auf eine eigenthümliche Weise ausgebildet. Die Grundlage blieb zwar überall der gemeine Prozeß; nur in äußeren Formen, in der Anpassung derselben an die Gerichtsverfassung, aber auch in manchen tief eingreifenden Bestimmungen zeigte sich die Verschiedenheit.“ 2 Für einen Überblick über die Menge an Prozeßgesetzgebung im 19. Jahrhundert vgl. Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 529 ff. 3 Beispielsweise in den Gebieten Schleswig und Holstein sowie Mecklenburg und Sachsen, s. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 12.
I. Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland
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lich, da weder Wissenschaft noch juristische Praxis den gemeinen Prozess einheitlich handhabten; er präsentierte sich vielmehr als Gemengelage aus Reichsgesetzgebung, Gerichtsgebrauch und Juristenrecht. Dennoch beeinflussten seine Strukturprinzipien die Mehrzahl der partikularen Prozessordnungen, die den gemeinen Prozess mit einheimischen Rechtsregeln vermischten und so modifizierten. Üblicherweise wurde der gemeine Prozess durch die Literatur im Rahmen der jeweiligen Landesgesetzgebung behandelt.5 Eine übergreifende Konzeption erarbeiteten erst die großen Systeme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, dies aber zu einer Zeit, in der die praktische Bedeutung des gemeinen Prozesses immer mehr schwand.6 Trotzdem hatten sich bis zum 18. Jahrhundert tragende Elemente herausgebildet, die den Verfahrensordnungen der meisten deutschen Staaten als „Bauplan“7 dienten. Insbesondere die Landesgesetzgebung für die partikularen Obergerichte folgte dessen Grundsätzen.8 An der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert wurde offensichtlich, dass die alten Regeln des gemeinen Prozesses, deren gesetzliche Grundlagen bis zum Jüngsten Reichsabschied von 1654 und darüber hinaus zurückreichten, den veränderten Bedürfnissen einer frühindustriellen Gesellschaft nicht mehr gewachsen waren.9 Auf dem Gebiet des Rechtsgangs war der gemeine Prozess „zuletzt zu einem Lehrgebilde geworden, das mit dem Leben wenig mehr zu tun hatte.“10 Verfahrenskonzeptionelle Konkurrenz kam aus Preußen und Frankreich, deren Zivilverfahrensregeln durch ande4
Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 31: „[…] und es bedarf nur einer Vergleichung der an Spruchcollegien gelangenden Akten verschiedener deutscher Staaten, um sich zu überzeugen, wie wenig ein gleichförmiger gemeiner Prozeß vorkommt.“; Dahlmanns, Strukturwandel, S. 16. 5 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, S. 29 f.; vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 13, Fn. 12 mit Nachweisen der wichtigsten partikularen Lehrbücher. Diese gaben auch Aufschluss über den allgemeinen Verfahrensablauf und die Grundprinzipien des gemeinen Prozesses und fanden so über die Landesgrenzen hinweg Verbreitung, s. Nörr, Wissenschaft und Schrifttum, Ius Commune, Bd. 10 (1983), S. 173. 6 Hervorzuheben sind die Arbeiten von Wetzell, System; Endemann, Das deutsche Civilprozeßrecht; Bayer, Vorträge. 7 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 16. 8 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 13. 9 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 12. 10 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 728. Beispielhaft für die Ablehnung, die der verkrusteten Verfahrensstruktur des 19. Jahrhundert entgegenschlug, stehen literarische Eindrücke von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 12. Buch, S. 530, über den späten Kameralprozess. Er schildert die Zustände am Reichskammergericht so: „[…] ein ungeheuerer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die siebzehn Assessoren nicht einmal imstande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Prozesse hatten sich angehäuft, jährlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu.“
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
re Grundstrukturen die Systemfrage zum gemeinen Prozess stellten. In Preußen entwickelte man aus den Bedürfnissen des preußischen Absolutismus heraus die Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten, in Frankreich hatte Napoleon den auf liberalen Vorstellungen aufbauenden Code de procédure civile geschaffen, den er nach Eroberung der linksrheinischen Gebiete auch auf deutschem Boden einführte. Die Frage des passenden Verfahrensrechts wurde durch die französischen Einflüsse politisch aufgeladen zum Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in ihrem Findungsprozess während des 19. Jahrhunderts an liberalen Leitideen stärkte und diese in einem unmittelbaren und öffentlichen Zivilverfahren verwirklicht sah.11 Schließlich beförderte der immer dringender artikulierte Wunsch nach einer deutschen Nation die Pläne für eine Rechtsvereinheitlichung.12 In dieser Umgestaltungszeit kam es zu einer vorher nicht gekannten Gesetzgebungsaktivität in beinahe allen deutschen Partikularstaaten, in deren Folge der gemeine Prozess zunehmend erodierte. Für die Überlegungen, auf welche Art und Weise sie ihr Verfahrensrecht an die zeitgenössischen Bedürfnisse anpassen sollten, standen mit dem gemeinen, preußischen und französischen Verfahren drei Konzepte zur Auswahl, die über große Teile des 19. Jahrhunderts nebeneinander bestanden, ohne dass sich eines entscheidend durchsetzen konnte. Grundlage jedweder Reformdiskussion blieb der gemeine Prozess: Entweder behielt man Prozessinstitute unter Berufung auf das positive Vorbild des gemeinen Prozesses bei, oder man ging neue Wege und begründete diese mit einer bewussten Abkehr vom schlechten Beispiel des gemeinen Verfahrens.13 In jedem Fall war die gemeinrechtliche Verfahrensstruktur der Wetzstein, an dem die neuen Verfahrensordnungen geschliffen wurden. Seine Vorbildfunktion schwand in dem Maße, in dem die deutschen Partikularstaaten eigene Konzepte entwickelten, die sich von einem schriftlichmittelbaren zu einem mündlich-unmittelbaren Verfahren wandelten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert spielte sich die Prozessrechtsentwicklung in den Territorialstaaten ab. Erst die Prozesskonferenzen des hannoverschen Bundesstaatenentwurfs und des Norddeutschen Bundes in den 1860er-Jahren probten eine echte Rechtsangleichung. Der preußische Justizministerialentwurf von 1871 nahm dann die CPO 1877 vorweg. In der vergleichenden Darstellung der partikularen Prozessordnungen beschränkt sich diese Arbeit auf die Frage, ob sich in Bezug auf die Feststellung des Klageinhalts und des Streitstoffes wesentliche Unterschiede untereinander sowie Abweichungen vom gemeinen Prozess ergaben. Dabei 11
Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2615. Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V; Sp. 1746. 13 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 16. 12
I. Verfahrensrechtliche Vielfalt in Deutschland
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stehen die Einleitung der Klage sowie die Einbringung des Streitstoffes im Erkenntnisverfahren im Vordergrund. Herangezogen werden die Regelungen des Klageinhalts des Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753, der Allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 sowie der Allgemeinen bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850.14 a) Inhalt der Klage (1) Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 In Bayern galt bis 1869 der Codex Juris Bavarici Judicarii (CJBJ) von 1753. Er beweist, dass dem gemeinen Prozessrecht nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur, sondern auch in der Landesgesetzgebung der Territorialstaaten eine lange Lebensdauer beschieden war.15 Der Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 hatte nicht den Ehrgeiz, das bayerische Zivilverfahren auf eine neue Grundlage zu stellen, er sollte vielmehr als „neuverbesserte churbayerische Gerichtsordnung“16 Widersprüche im bestehenden Verfahrensablauf aufdecken und beseitigen, die Verfahrensregeln verbindlich zusammenfassen und dadurch die Rechtssicherheit steigern.17 Diesen Vorgaben folgend, las er sich als Resümee der überlieferten Landesgesetzgebung18 und schuf so ein gemeinrechtliches Verfahren mit einheimischen Ausprägungen, das insbesondere im Erkenntnisverfahren dem gemeinen Recht folgte19 und vor den höheren Gerichten für die Klageerhebung und den weiteren Verfahrensgang strenge Schriftlichkeit vorsah20.
14 Durch die punktuelle Betrachtung will diese Arbeit auf die Vielfalt an Verfahrensmodellen aufmerksam machen. Eine Untersuchung über den Verlauf der Reformbewegung in Preußen, Hannover und Bayern bietet Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 83 ff., 324 ff. und 488 ff. Die vereinheitlichenden Gesetzesentwürfe von Hannover und dem Norddeutschen Bund in den 1860er-Jahren sowie Preußens Justizministerial-Entwurf von 1871 bleiben in dieser Arbeit unberücksichtigt. Einen Überblick über deren Normen zum Inhalt der Klage und Klageschrift geben Schmidt, Die Klagänderung, S. 155 ff.; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 557 ff. 15 Gleichwohl lehnte sich die Prozessordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten von 1869 eng an das französische Verfahren an, das zuvor bereits in der bayerischen Rheinpfalz geltendes Recht gewesen war, s. Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2634; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 488 f. 16 So der offizielle Titel des Gesetzes vom 14.12.1753, vgl. das Titelblatt nach Schubert, Codex Juris Bavarici Judicarii. 17 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 255; Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2635; 18 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 488. 19 Das Verfahren des Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 war nach den gemeinrechtlichen Maximen der Verfahrensgliederung in Behauptung und Beweis, der Schriftlichkeit und Heimlichkeit sowie des Eventualprinzips aufgebaut. Einheimische Beson-
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
Nach Cap. IV, § 7, Nr. 2) - 4) CJBJ „(2) Ist die Geschicht rein, deutlich und kurz, jedoch mit Anführung all-erforderlicher Umständen vorzutragen. Desgleichen auch (3) nach Beschaffenheit jeder Klag der Grund, worauf dieselbe hauptsächlich beruhe, zu Latein: Causa petendi & medium concludendi anzuführen. (4) Muß das Petitum so eingerichtet werden, daß es sich nicht nur auf die Geschicht, und den Grund der Klag wohl schickt, sondern auch, was, wieviel, und von welcher Gattung die eingeklagte Sach seye, genugsam daraus ermessen werden möge.“21
Diese Merkmale, causa petendi und petitum, entsprachen den klassischen Bestandteilen einer gemeinrechtlichen Klageschrift. Ebenso wie im gemeinen Recht war der Kläger nicht verpflichtet, das geltend gemachte Klagerecht namentlich anzuführen, gleichwohl musste die Klage nach Cap. IV, § 8 CJBJ aus der Klageschrift heraus schlüssig erscheinen, um zulässig zu sein: „Dafern aber aus der Klag nicht einmal das rechte Objectum zu erkennen, oder das Petitum so unschicklich ist, daß nach denen vorausgehenden Narratis gar keine Action darauf gehet, so soll man Klägern gleich von Amtswegen ab- und zur Stellung einer förmlichen Klage anweisen.“
Statt reinen Rechtsausführungen musste der Kläger also Tatsachenbehauptung und seinen Antrag dergestalt verknüpfen, dass das Gericht den zugrundeliegenden Rechtsgrund erkennen konnte. (2) Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 Preußen nahm die Kritik an der Tendenz des gemeinen Prozesses, Verfahren zu verschleppen und sie in die Länge zu ziehen, zum Anlass, sich noch im 18. Jahrhundert durch eine groß angelegte Justizreform im Geiste des aufgeklärten Absolutismus deutlich vom gemeinen Prozess zu distanzieren.22 Dies geschah durch eine umfassende Kodifikation des Verfahrensrechts, die als Teil des Corpus Juris Fridericianum (CJF) bereits im Jahr 1781 in Kraft trat23 und durch die Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten (AGO) von 1793 vervollständigt wurde.24 Die preußische Gerichtsordnung von 1793 baute auf den Vorstellungen des Corpus derheiten gab es aber bei den Rechtsmitteln, vgl. Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2635. 20 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 492; Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 257. 21 In dieser Arbeit zitierte Normen des CJBJ 1753 sind dem Nachdruck von Schubert, Codex Juris Bavarici Judiciarii, entnommen. 22 Preußen hatte im Jahr 1748 den Codex Fridericianus Marchius erlassen, der noch den Grundsätzen des gemeinen Prozesses, allerdings mit der partiellen Einführung des Mündlichkeitsprinzips, gefolgt war, vgl. Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1744. 23 „Von der Prozessordnung“, 1. Buch des Corpus Juris Fridericianum. 24 Vgl. Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2646.
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Juris Fridericianum von 1781 auf und stimmte in weiten Teilen des Verfahrensgangs mit ihm überein.25 Sie fixierte das Verfahren nach wie vor in Großteilen durch Schriftsätze und Protokollierungen, diese fußten aber vermehrt auf dem mündlichen Vorbringen der Parteien. Besonders charakteristisch für das neue preußische Verfahrensrecht war, dass es die Verhandlungsmaxime durch den Untersuchungsgrundsatz ersetzte, der bis dahin nur im Inquisitionsprozess bekannt war, und eine von Amts wegen durchzuführende richterliche Wahrheitserforschung bewirkte.26 Damit setzte sich das preußische Verfahren in genauen Gegensatz zum Aktenprozess des gemeinen Rechts, in dem der Parteibetrieb den Streitstoff vor Gericht brachte. Richterliche Erkenntnis sollte sich nicht mehr auf die formelle, sondern auf die materielle Wahrheit stützen. Der Corpus Juris Fridericianum von 1781 hatte im Zuge dessen die Advokaten, die man als Hauptschuldige für die Gebrechen des gemeinen Prozesses ansah,27 weitgehend aus dem Verfahren verbannt und durch verbeamtetes Gerichtspersonal, die sogenannten Assistenzräte, ersetzt. Diesen weitgehenden Einschnitt in die Dispositionsbefugnis der Parteien machte die preußische Gerichtsordnung von 1793 rückgängig und ließ anwaltlichen Beistand für die Parteien wieder zu. Die Parteien konnten ihre Advokaten, Justizkommissare genannt,28 frei wählen, jedoch waren auch diese verbeamtet und sollten in einer Zwitterstellung sowohl das Gericht als auch die Parteien unterstützen.29 Zentrales Anliegen des Verfahrensrechts blieb gemäß § 34 der Einleitung der AGO die richterliche Ermittlung der materiellen Wahrheit von Amts wegen: „[…] alle übrigen Vorschriften […] sind nur als Mittel zum Zweck anzusehen, und müssen diesem Zweck einer gründlichen, vollständigen und möglichst schnellen Erforschung der Wahrheit stets untergeordnet bleiben.“30
Bei der Erhebung der Klage übernahm die preußische Gerichtsordnung von 1793 die bereits vom Corpus Juris Fridericianum von 1781 eingeführte Besonderheit, dass die Klage zunächst angemeldet werden musste, um in einem zweiten Schritt vom Gericht aufgenommen zu werden. Nach dem 25
Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 510; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 129 f. 26 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1744 f.; Buchda, Art. Gerichtsverfahren, HRG I, Sp. 1560; 27 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 41; Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 517 f. 28 Theil 3, Tit. 7, § 3 AGO. 29 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 46; Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 511. 30 In dieser Arbeit zitierte Normen der preußischen Gerichtsordnung von 1793 sind dem Nachdruck von Schubert, Allgemeine Gerichtsordnung für die preussischen Staaten, entnommen.
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
Corpus Juris Fridericianum von 1781 war die Anmeldung der Klage nur eine „erste vorläufige Anzeige“31 und lieferte noch nicht die Stoffgrundlage für das Verfahren. Bereits in ihr musste der Kläger jedoch unter anderem „das Objekt der Klage, und was der Kläger vom Beklagten verlange“32, einbringen. Sodann nahm der Assistenzrat die Klage auf, indem er den Kläger zur Vernehmung lud33 und über die Vernehmung ein Informationsprotokoll erstellte34. Die Vernehmung diente dem richterlichen Beamten dazu, ein genaues Bild des Sachverhalts zu erhalten.35 Gleichzeitig sollte er erfragen, welche Beweismittel der Kläger vorbringen konnte, falls die Gegenseite die Behauptungen bestreiten sollte, und ob der Kläger mit Einwendungen des Beklagten rechnete.36 Nach Abschluss der Vernehmung teilte der richterliche Beamte dem Kläger mit, welche Erfolgsaussichten er dessen Begehren beschied. Hielt er die Klage für unbegründet, so konnte er dies dem Gericht anzeigen, das die Klage daraufhin möglicherweise abwies.37 Der richterliche Beamte nahm damit eine erste Schlüssigkeitsprüfung vor, die in seinen „Hauptbericht über die Klage“38 einfloss. Erst dieser Hauptbericht, der dann bei Gericht eingereicht wurde, hatte die Qualität einer Klageschrift.39 Das Prozedere von Klageanmeldung, Informationserhebung und Klageaufnahme des Corpus Juris Fridericianum von 1781 sah die preußische Gerichtsordnung von 1793 ebenfalls vor.40 Die umfangreiche amtliche Sachverhaltsermittlung hatte sich jedoch als sehr behäbig erwiesen, so dass man nach Mitteln suchte, den Verfahrensgang zu beschleunigen.41 Deshalb gab die preußische Gerichtsordnung von 1793 dem Kläger die Möglichkeit, die Klageeinleitung abzukürzen, indem er die Klage schriftlich anmeldete.42 Praktisch bedeutete dies, dass er über seinen Justizkommissar schon bei Klageanmeldung eine vollständig ausgearbeitete Klageschrift
31 Theil 1, Tit. II, § 4 CJF. – In dieser Arbeit zitierte Normen des Corpus Juris Fridericianum von 1781 sind dem Nachdruck von Schubert, Corpus Juris Fridericianum, entnommen. 32 Theil 1, Tit. II, § 4 CJF. 33 Theil 1, Tit. II, § 11 CJF. 34 Theil 1, Tit. III, § 1 CJF. 35 Für die umfangreichen Vorschriften über die „Einziehung” der Informationen vgl. Theil 1, Tit. III, § 4 CJF. 36 Theil 1, Tit. III, §§ 5 f. CJF. 37 Theil 1, Tit. III, § 12 CJF. 38 Theil 1, Tit. III, § 13 CJF. 39 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 496; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 270; Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 68. 40 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 132. 41 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 132. 42 Theil 1, Tit. IV, § 1 AGO.
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vorlegte.43 Wenn schon zu Beginn des Verfahrens eine brauchbare Klageschrift vorlag, so stellte sich die Frage, ob es dann überhaupt noch einer gesonderten Anmeldung bedurfte. Die Praxis verneinte dies und sah die Klageanmeldung ebenso wie die weiteren Stationen bis zur Einreichung der Klage bei Gericht als überflüssig an, so dass im Ergebnis der Kläger durch seinen Schriftsatz direkt mit dem Gericht korrespondierte und die mehraktige Vernehmung durch Gerichtsbeamte übersprang.44 Gleichgültig, ob die Klage nach dem vom Corpus Juris Fridericianum von 1781 überlieferten Modus aufgenommen oder per Klageschrift des Justizkommissars unmittelbar eingereicht wurde,45 legte die preußische Gerichtsordnung von 1793 großen Wert darauf, dass der Kläger eine „vollständige Information über die aufzunehmende Klage“46 lieferte. Diese umfassende Informationseinholung konnte im Informationsprotokoll aufgenommen werden, wurde aber in der Klageschrift auf drei wesentliche Bestandteile reduziert: „Eine jede Klage, sie mag von dem Richter unmittelbar aufgenommen, oder durch einen Justizkommisarius angefertigt seyn, muß enthalten: 1) eine deutliche, vollständige und zusammenhängende Erzählung des Fakti, in welchem der Kläger seinen Anspruch gründet; 2) eine vollständige und bestimmte Anzeige der zum Beweise dieses Fakti vorhandenen Mittel […]; 3) muß ein der Sache und der Intention des Kägers gemäßer, deutlicher und bestimmter Antrag hinzugefügt werden, aus welchem mit hinlänglicher Gewißheit entnommen werden könne, was eigentlich der Kläger von dem Beklagten fordere.“47
Damit wird deutlich, dass auch die preußische Gerichtsordnung von 1793 die Streitsache durch eine Kombination von Klagegrund und Antrag abmaß. Auffallend ist, dass bereits die Klageschrift die Beweismittel vollständig enthalten musste. Dies erklärt sich wohl aus den umfangreichen 43
Theil 1, Tit. IV, § 23: „Wenn der Kläger den Betrieb des Prozesses einem Justizkommissarius aufgetragen, und dieser sich dazu mit vollständiger Information […] versehen hat, so steht ihm frei, mit der schriftlichen Anmeldung die Klage selbst zu verbinden; […].“ 44 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 512; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 132 m. w. N. – Zur baldigen Abkehr vom Amtsbetrieb im preußischen Verfahren, das sich als zu aufwendig und zeitraubend herausstellte, vgl. Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2649 f.; Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1746. 45 Zur Prüfung der Vollständigkeit der eingereichten Klageschrift vgl. Theil 1, Tit. IV, § 24 AGO. 46 Theil 1, Tit. V, § 4 AGO. Dazu sollte er unter anderem „das Objekt der Klage […] genau und deutlich bestimmen“, „eine ausführliche Erzählung der Thatsache, des Handels, oder Vorgangs, worauf derselbe seinen Anspruch gründen will, […] daß sogleich übersehen werden könne, wovon eigentlich die Rede sey, und wie durch das vorgetragene Faktum der Anspruch des Klägers begründet werden solle“ geben sowie klarstellen, worauf „dieser Anspruch eigentlich gehe, und wie weit er sich erstrecke“ (Theil 1, Tit. V, § 4 AGO). 47 Theil 1, Tit. V, § 17 AGO.
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
Vorarbeiten, die die Informationsgrundlage der Klage lieferten und bei denen der Justizkommissar mit dem Kläger den Sachverhalt durchging und die vorhandenen Beweismittel abfragte.48 Im Übrigen war die Klageschrift aber knapp zu halten und auf Klagegrund, Beweisanführung und Antrag zu reduzieren.49 Rechtsausführungen waren den Parteien dagegen erst nach Abschluss des sich anschließenden Instruktionstermins gestattet. (3) Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850 Die Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover (BPO) von 1850 konstituierte einen Mischprozess, der weder vorwiegend der gemeinrechtlichen oder preußischen, noch der französischen Konzeption zugeordnet werden kann.50 Nach Einschätzung der zeitgenössiche Literatur war die hannoversche Prozessordnung von 1850 nicht ein „das öffentlich-mündliche Verfahren Frankreichs blindlings einführendes Gesetz, verfolgt nicht eine dem gemeinen deutschen Civilproceß gegenüber rein zerstörende, sondern vielmehr eine zwischen diesen beiden Proceßarten vermittelnde Tendenz, […]“51.
Die hannoversche Prozessordnung von 1850 war damit ein prominentes Beispiel für die Popularität der Grundprinzipien des französischen Prozesses in den reformierten deutschen Partikularprozessordnungen. Dessen Code de procédure civile zeichnete sich unter anderem durch Öffentlichkeit, Parteibetrieb und Mündlichkeit aus.52 Seit den napoleonischen Kriegen galt er auch in deutschen Gebieten entlang des Rheins und übte besonders wegen seines öffentlichen und mündlichen Verfahrensgangs, der als Ausdruck bürgerlichen Freiheitsbewegung gesehen wurde, eine besondere Faszination auf die partikularen Gesetzgeber des 19. Jahrhundert aus.53 Dem Ruf nach mehr Mündlichkeit folgend sah die hannoversche Prozess-
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Vgl. Theil 1, Tit. V, § 5 AGO. Theil 1, Tit. V, § 18 AGO: „Auch weitläufige juristische Ausführungen gehören nicht in die Klage […].” 50 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 36. 51 Scheuerlen, Das Mündlichkeitsprincip und Vorbereitungs-Verfahren, AcP, Bd. 46 (1863), S. 48; auch ihr Autor Leonhardt, Das Civilproceßverfahren des Königreichs Hannover, S. 2 f., sah ihren Verdienst „wesentlich darin, daß sie die großen Grundsätze, welche der code de procédure aus früheren Jahrhunderten gerettet hat, mit voller Consequenz durchgeführt und nicht ohne kühnen glücklichen Griff mit dem gemeinen deutschen Proceßrechte, wie dieses sich bis zum Ende der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durch deutsche Gesetzgebung herausgebildet hat, in Verbindung gesetzt hat. So liegt das Gesetz gleichsam in der Mitte zwischen dem romanischen und deutschen Processe und ist wohl geeignet, die verschiedenen Proceßprincipien zu vermitteln.“ 52 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1745 f. 53 Schwartz, 400 Jahre deutscher Civilprozeßgesetzgebung, S. 734. 49
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ordnung von 1850 eine unmittelbare Gerichtsverhandlung vor, in der die mündlichen Vorträge der Parteien54 den Verfahrensgegenstand bildeten:55 „Die mündlichen Parteivorträge müssen das ganze Streitverhältniß sowohl seinen thatsächlichen als rechtlichen Beziehungen nach umfassen, und dient in thatsächlicher Beziehung die mündliche Verhandlung als Grundlage für die richterliche Entscheidung, selbst rücksichtlich derjenigen Puncte, welche eine Abweichung von dem durch die Schrift festgestellten Vorbringen enthalten.“56
Der althergebrachte Grundsatz des gemeinen Prozesses wurde damit in sein Gegenteil verkehrt: „Quod non in ore, non in mundo.“57 Die Klageerhebung erfolgte allerdings wie im gemeinen Prozess durch einen schriftlichen Klageantrag, den ein bei Gericht angestellter Anwalt entwarf und beim Gerichtsschreiber einreichte.58 Für deren Inhalt forderte § 184 BPO „1) eine gedrängte, deutliche und zusammenhängende Darstellung der Thatsachen, worauf der geltend gemachte Anspruch sowohl in der Hauptsache als in etwaigen Nebenpuncten rechtlich beruht; die besonderen Thatsachen, aus welchen er gerade diesem Kläger und gegen diesen Beklagten zusteht, so wie eine genaue Bezeichnung des gesonderten Gegenstandes oder der begehrten Leistung oder Unterlassung; 2) ein bestimmtes Gesuch sowohl in Betreff der Hauptsache als der Nebenpunckte; […].“
Die Tatsachenangaben sollten mithin auf den geltend gemachten Anspruch konzentriert werden und so ein subjektives Recht als Rechtsgrund der Klage erkennen lassen. Konkrete rechtliche Ausführungen in der Klageschrift waren hingegen ausdrücklich nicht geduldet.59 Erfüllte die Klageschrift die erforderlichen Formalia, so vermerkte der vorsitzende Richter sogleich und „ohne irgend welche Sachprüfung“60 auf dem Original des Schriftsatzes den Termin der Gerichtsverhandlung.61 Eine weitergehende Schlüssigkeitsprüfung nahm er nicht vor, da Grundlage des Urteils ohnehin nur der mündliche Vortrag der Hauptverhandlung sein sollte.62 Die Schriftsätze der Parteien wanderten damit aus dem Mittelpunkt des Verfahrens, den sie im gemeinen Prozess einnahmen, in ein Vorverfahren, das die mündliche Verhandlung vorbereitete.63 54 Diese waren gem. § 99 BPO in freier Rede zu halten und durften nicht durch Bezugnahme auf die schriftlichen Anträge umgangen werden. 55 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 38. 56 § 101 BPO. 57 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 38. 58 § 143 BPO. 59 § 93 a. E. BPO; Leonhardt, Das Civilproceßverfahren des Königreichs Hannover, S. 18 f., Fn. 1. 60 Leonhardt, Das Civilproceßverfahren des Königreichs Hannover, S. 19. 61 § 143 BPO. 62 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 316. 63 § 92 BPO: „Der Rechtsstreit wird mündlich auf Grundlage der, die [sic] mündliche Verhandlung vorbereitenden, schriftlichen Parteianträge verhandelt.“
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
Damit zeigt sich eine ambivalente Haltung der hannoverschen Prozessordnung von 1850 zur Bedeutung der Schriftsätze und dem Zeitpunkt der Festlegung der Streitsache, denn einerseits hatten sie lediglich vorbereitenden Charakter, andererseits sollten sie die Grundlage für den Klagegegenstand in der mündlichen Verhandlung legen. Weitere Verfahrensregeln, mit denen die hannoversche Prozessordnung von 1850 regelmäßig einen Gleichlauf von schriftlichem Parteiantrag und mündlicher Verhandlung bewirkte,64 machen deutlich, dass die Streitsache durch Klagegrund und Antrag in der Klageschrift festgelegt wurde: Obwohl der mündliche Vortrag vom vorbereitenden Schriftsatz abweichen durfte,65 sollten die Schriften das Parteivorbringen bereits vollständig angeben.66 Dem Kläger waren für eine Abweichung von seiner Klageschrift enge inhaltliche Grenzen gesetzt, da zulässige Abweichungen eng gefasst wurden im Sinne einer „Verbesserung“67 des Klageantrags. Behielt der Kläger nicht die wesentlichen Tatsachen aus der Klageschrift bei und schwenkte er auf einen anderen Antrag um, dann lag eine unzulässige Klageänderung vor.68 Zulässige Abweichungen mussten die Gerichtssschreiber sorgfältig protokollieren69 und auch das Gericht hatte von Amts wegen dafür Sorge zu tragen, dass „wesentliche thatsächliche Abweichungen des mündlichen Vortrags von dem schriftlichen Vorbringen durch nachträgliches schriftliches Vorbringen oder das Sitzungsprotocoll festgestellt werden.“ 70 Die schriftlich festgestellten Abweichungen wurden sodann in der mündlichen Verhandlung verlesen.71 b) Regulierung der Streitpunkte Im Gegensatz zur Streitsache, die selbst in der CPO 1877 nicht deutlich geregelt und erst im 20. Jahrhundert zu einem eigenständigen dogmatischen Institut wurde, hatten Methoden zur Feststellung der zwischen den 64
Vgl. Dahlmanns, Strukturwandel, S. 43 f. § 101 letzter Halbsatz BPO. 66 § 93 Nr. 3 BPO. 67 § 203 BPO. 68 § 203 BPO: „Der Kläger kann im Laufe der mündlichen Verhandlung seine Klaganträge verbessern. Für eine Verbesserung ist es zu halten, wenn, unter Beibehaltung der thatsächlichen Grundlagen des Hauptanspruchs und der Nebenforderungen, das Vorbringen erläutert und näher oder richtiger bestimmt […] wird. Jede weitere Abweichung von den schriftlichen Klaganträgen (Klageänderung) ist zwar nicht von Amtswegen zu beachten, dagegen steht dem Beklagten das Recht zu, im Wege einer jedoch sofort zu erhebenden verzögerlichen Einrede die Unzulässigkeit der Abweichung zu rügen und demgemäß die Zurückweisung der Klaganträge in angebrachter [sic] Maße, bez. die Fortführung der Verhandlung auf Grund der ursprünglichen Klaganträge (§ 174) zu begehren.“ 69 § 116 Nr. 4 BPO. 70 §§ 95, 102 BPO (Zitat: § 102 BPO). 71 § 102 BPO. 65
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Parteien streitigen Punkte in den untersuchten partikularen Prozessordnungen ihren festen Platz. In Bayern legte in gemeinrechtlicher Tradition die litis contestatio die Streitpunkte fest; auch hier ging man davon aus, dass sie mit der Einlassung des Beklagten zusammenfiel. Im 6. Cap., § 1 CJBJ hieß es: „Die Antwort auf die Klage sowohl in summario, als ordinario, soll so beschaffen seyn, dass man deutlich und genügend daraus erkennen könne, was der Beklagte dem Kläger in der Hauptsache einzuräumen, oder zu widersprechen gemeint habe, und dieses heißt eigentlich die Kriegsbefestigung, oder litis contestatio […].“
Großen Wert auf eine institutionalisierte Streitpunktbestimmung legte allen voran Preußen, durch sein im deutschen Raum einzigartiges Instruktionsverfahren.72 In ihm gab es keinen Schriftsatzwechsel ähnlich des gemeinen Verfahrens und auch kein Beweisinterlokut, das den Streitstand hätte festhalten können. Die Parteien wurden stattdessen bei der Aufnahme von Klage und Klagebeantwortung mündlich vernommen. Blieben nach der Aufnahme Tatsachen zwischen den Parteien streitig, dann wurde ein sogenannter Instruktionstermin anberaumt, in dem ein eigens dafür abgestellter Richter den Prozess „instruieren“, das heißt den Sach- und Streitstand nach Aufnahme der Parteibehauptungen und amtlichen Untersuchungen schriftlich feststellen sollte. Der so amtlich erarbeitete status causae et controversiae umfasste die „1) Aufnehmung einer richtigen und zusammenhängenden species facti, soweit die Partheien darüber einig sind; 2) die Festsetzung derjenigen auf Thatsachen beruhenden Umstände, worüber sie nicht haben vereinigt werden können; 3) die Bestimmung derjenigen unter diesen Umständen, welche durch Beweis näher ins Licht gesetzt werden sollen.“73
Somit leitete er zur Beweisaufnahme über und war Entscheidungsgrundlage des urteilenden Gerichts.74 Als zusammenhängende Geschichtserzählung formuliert, kennzeichnete er die streitigen, beweisbedürftigen Tatsachen und benannte die dazu zu vernehmenden Zeugen.75 Der instruierende Richter sollte den status causae et controversiae dahingehend regulieren, dass die Parteien nach Abschluss der Instruktion übereinstimmten, welche Angaben zugestanden waren und welche weiterhin streitig blieben.76 72
Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2648. Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 226. 74 Theil 1, Tit. X, § 1 AGO; Buchda, Art. Gerichtsverfahren, HRG I, Sp. 1560 f. 75 Theil 1, Tit. X, §§ 28 ff. AGO; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 135 f., betont, dass der status causae et controversiae kein gemeinrechtliches Beweisinterlokut in preußischer Ausgabe gewesen sei, denn ihm fehlten ohne die Verfahrensteilung und Präklusionswirkung dessen wesentliche Merkmale; Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2648, nennt die Instriktion den „Haltepunkt des Verfahrens“. 76 Vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 133 f. 73
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
Die hannoversche Prozessordnung von 1850 sicherte den Streitstoff für die mündliche Verhandlung, indem sie die aus dem gemeinen Prozess vertraute Verfahrensteilung durch Beweisinterlokut beibehielt. Ihr Verfasser Leonhardt erhoffte sich damit eine Beschränkung des Verfahrensstoffs77, um die mündliche Verhandlung „vor dem Zerfließen zu bewahren“78. Das Verfahren zerfiel in zwei Abschnitte, deren erster Abschnitt die Parteibehauptungen sichtete. Er schloss mit dem bindenden Beweisinterlokut, das dazu diente, „Beweissaz und Beweislast zu bestimmen, auch daneben Termin anzuberaumen“79, in dem dann abhängig vom Beweisergebnis die Entscheidung des Gerichts erging. Das Beweisinterlokut schied damit zugestandene Tatsachen des Falles von den beweisbedürftigen, da streitigen Punkten, und führte letztere ins Beweisverfahren über. Die untersuchten Prozessordnungen enthielten folglich Vorsorgemechanismen, um den Streitstand während des Verfahrens zu sichern. Der Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 beließ es bei der gemeinrechtlichen litis contestatio, die automatisch mit der Einlassung des Beklagten zur Sache erging. Die preußische Gerichtsordnung von 1793 ging deutlich weiter, indem sie die Instruktionstermine mit dem Ziel des status causae et controversiae zum „Kern des Verfahrens“80 machte. Die hannoversche Prozessordnung von 1850 löste sich in der Frage der Verfahrenstrennung nicht vom gemeinrechtlichen Vorbild und behielt das die streitigen Punkte herausstellende Beweisinterlokut bei. Bei der preußischen Gerichtsordnung von 1793 und der hannoverschen Prozessordnung von 1850, die beide auf ganz unterschiedliche Art und Weise den Prozess mündlicher machten, schränkten diese Mechanismen der Fixierung der Streitpunkte das Plus an Mündlichkeit wieder ein.81 c) Vergleich mit der gemeinrechtlichen Klage Für die untersuchten partikularen Rechtsordnungen war der gemeine Prozess positive wie negative Ausgangslage. Der Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 modifizierte ihn nach seinen territorialen Bedürfnissen und Gerichtsgebräuchen, folgte ihm aber im Bereich von Klageeinleitung und inhalt weitgehend. Ebenso wie das gemeine Verfahren forderte er keine Rechtsausführungen und unterzog stattdessen die Klageschrift einer Schlüssigkeitsprüfung. Die hannoversche Prozessordnung von 1850 wies 77 Leonhardt, Zur Reform des Civilprocesses, S. 64: „Der Processstoff einer bestimmten mündlichen Verhandlung muss ein thunlichst beschränkter sein; er darf nicht zu Vielerlei und zu Verschiedenartiges umfassen.“ 78 Dahlmanns, Strukturwandel, S. 42. 79 § 215 BPO. 80 Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2648. 81 Vgl. Dahlmanns, Strukturwandel, S. 42.
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mit der Implementierung französischer Verfahrensprinzipien den Weg in die Zukunft des deutschen Verfahrensrechts. Trotz mündlich durchgeführter Hauptverhandlung stand am Beginn des Verfahrens die klägerische Schrift, aus der sich für den Kläger durch die Kombination von Antrag und Schilderung des Klagegrundes ein Rechtsgrund ergeben musste, der sein Begehren trug und damit die Streitsache festlegte. Rechtliche Ausführungen waren hingegen nicht gestattet. Preußen schlug mit dem Instruktionsprozess einen Sonderweg ein. Nicht der Kläger allein, sondern der richterliche Beamte erstellte den genauen Klageinhalt. Die Klageschrift bestand aus den Tatsachen, wie sie der Kläger berichtet hatte. Am Beginn des Verfahrens lag also sein mündlicher Vortrag, der dann protokolliert wurde und so die Streitsache fixierte. Schon im Rahmen dieser Protokollierung in Form des Hauptberichts kam es zu einer ersten Schlüssigkeitsprüfung durch den richterlichen Beamten. Rechtsansichten durften hierbei noch nicht geäußert werden, sondern erst im Anschluss an den Instruktionstermin. Die preußische Gerichtsordnung von 1793 bot die Möglichkeit, die behäbige Abfolge von Klageanmeldung, Informationserhebung und Klageaufnahme dadurch abzukürzen, dass der vom Kläger gewählte Justizkommissar die Klageschrift unmittelbar erstellte. Im Ergebnis kehrte sie damit zu einer schriftlichen Klageeinreichung zurück. Langfristig verlor die Klageschrift ihre zentrale Stellung im Verfahrensgefüge. Im gemeinen Recht, das die Parteien durch Eventualmaxime und Beweisinterlokut zwang, alle Angriffs- und Verteidigungsmittel frühzeitig und konzentriert vorzubringen, waren die Schriftsätze die Basis, an denen der Richter seine Entscheidung ausrichtete.82 Ebenso wie sich der status controversiae nach der litis contestatio aus den Parteischriften bildete, legte der Kläger bereits mit seiner Klageschrift durch Antrag und Klagegrund die Streitsache fest. Im 19. Jahrhundert jedoch trieb die Forderung nach einer mündlichen unmittelbaren Verhandlung den prozessualen Reformeifer voran. Aus dem daraus entbrannten Zweikampf von Schriftlichkeit gegen Mündlichkeit bildeten die Partikularstaaten Mischformen, die dem mündlichen Verfahren immer mehr Bedeutung zumaßen. In der Konsequenz rückte die mündliche Verhandlung in das Zentrum des Verfahrens, der Schriftsatzwechsel hingegen wurde in ein Vorverfahren abgedrängt, das nun der Vorbereitung des mündlichen Termins diente. Die verfahrenseröffnende Schrift des Klägers büßte damit ihre Bedeutung als zentrale Entscheidungsgrundlage des Gerichts ein. Das Gericht war an deren Inhalt nicht mehr streng gebunden, sondern machte sich wie nach der preußischen Gerichtsordnung von 1793 sein ei82 Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, S. 105; Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses, S. 119.
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genes amtliches Bild oder nahm wie nach der hannoverschen Prozessordnung von 1850 die mündlichen Parteivorträge als Entscheidungsgrundlage. Die Parteischriften wurden aber nirgendwo radikal abgeschafft, so dass der Richter in jeder Verfahrensart auf unterschiedliche Art und Weise auf ein schriftlich fixiertes klägerisches Begehren zurückgriff. Besonderes Augenmerk legten preußische Gerichtsordnung von 1793 und hannoversche Prozessordnung von 1850 auf die Abstimmung der Parteien über die streitigen und unstreitigen Teile ihres Falles, um den aus dem gemeinen Prozess bekannten Mangel an Klarheit zu beseitigen. Dessen System einer bloßen Gegenüberstellung von Parteischriften wurde besonders in Preußen als ungenügend angesehen, da die Gefahr bestand, dass der eigentliche Streitpunkt des Falles im Dunkeln blieb.83 Die partikularen Verfahrensordnungen zeigen damit, dass das Mündlichkeitsprinzip in den Abschnitten der Klageeinleitung und Streitstofffestlegung nicht absolut eingeführt wurde. Schlug es sich, wie in der hannoverschen Prozessordnung von 1850, in einer unmittelbar-mündlich durchgeführten Hauptverhandlung nieder, so fußte diese dennoch auf vorbereitenden Protokollen und Schriftsätzen, die das Parteivorbringen vorwegnahmen. Korrekturen waren möglich, wenn sie gesondert protokolliert wurden. An der hannoverschen Prozessordnung von 1850 wird aber deutlich, dass im Regelfall die mündliche Verhandlung nicht von der vorbereitenden Schrift abweichen sollte. Eine Klageänderung im Sinne eines zur Klageschrift konträren Sachvortrags oder Antrags in der Hauptverhandlung war nicht gestattet, so dass die Klageschrift der Ort blieb, an dem der Kläger mittels seines Rechtsschutzbegehrens die Streitsache bestimmte.84 Lediglich das preußische Verfahren gestand ihm diese Disposition nicht zu und legte die Aufnahme der Klage zu großen Teilen in die Hände richterlicher Beamter, die erst mit ihrem Hauptbericht die Streitsache fixierten. Da dieses umständliche Vorgehen, das der Corpus Juris Fridericianum von 1781 eingeführt hatte, nicht praxistauglich war, erlaubte die preußische Gerichtsordnung von 1793 aber auch, die Klage sofort schriftlich einzureichen.85 2. Rechtsvereinheitlichung durch Prozesskonferenzen Weder waren die Zivilverfahrensordnungen der deutschen Partikularstaaten für eine gesamtdeutsche Anwendung konzipiert, noch zeichnete sich ein partikulares Zivilverfahren ab, das in unveränderter Form die Zustim-
83 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß in Vergleichung, Bd. I, S. 225. 84 Vgl. o. S. 80. 85 Vgl. o. S. 74 ff.
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mung aller regionalen politischen Mächte gefunden hätte.86 Es bedurfte daher mehrerer Gesetzesentwürfe, um die Vereinheitlichung des deutschen Zivilverfahrens vorzubereiten.87 Bereits vor der Reichseinigung erstellte eine Kommission für die Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes den sogenannten Hannoverschen Entwurf von 1866, dem die hannoversche Prozessordnung von 1850 als Vorbild diente.88 Diese Arbeit nahm eine Kommission des Norddeutschen Bundes auf und stellte im Jahr 1870 den sogenannten Entwurf einer Civilprozeßordnung für den Norddeutschen Bund vor.89 Unter Leitung Leonhardts, mittlerweile preußischer Justizminister, arbeitete das preußische Justizministerium den Text zum Preußischen Justizministerialentwurf vom 08.03.1871 um.90 Als kurz darauf Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für eine reichseinheitliche Prozessordnung gab, folgte auf der Grundlage des preußischen und norddeutschen Texts im Jahr 1872 ein weiterer Entwurf, über den im Jahr 1874 der Bundesrat beriet.91 Nach der Annahme durch den Reichstag wurde die CPO am 30.01.1877 verkündet92 und trat am 01.10.1879 in Kraft93.
II. Gesetzliche Reformschritte im englischen Recht II. Gesetzliche Reformschritte in England
Der Modernisierungsschub, den das englische Recht im 19. Jahrhundert während der Regentschaft von Königin Victoria 1837–1901 erhielt, ist als „The Age of Reform“ in die englische Rechtsgeschichte eingegangen.94 Nach Jahrhunderten der Kontinuität stand das Zivilverfahren neuen gesellschaftlichen Herausforderungen und rechtswissenschaftlichen Strömungen gegenüber und litt an rechtspraktischen Unzulänglichkeiten, die unübersehbar waren und auch nicht mehr durch gelegentliche Anpassung des Verfahrens überwunden werden konnten. Aus dem Erneuerungsdruck heraus 86 Zu den Schwierigkeiten einer Konsensbildung vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 560 f. 87 Für deren Regelungen des Inhalts der Klage und Klageschrift vgl. Schmidt, Die Klagänderung, S. 155 ff.; Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 557 ff. 88 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1746 f. 89 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 587 ff. 90 Vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 601 ff. 91 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1747; vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 617 ff., 623 ff. 92 RGBl. 1877, S. 83–243. 93 Dies geschah im Rahmen eines Bündels von Reichsjustizgesetzen, zu dem auch das Gerichtsverfassungsgesetz, die Strafprozessordnung und die Konkursordnung gehörten. 94 Curzon, English Legal History, S. 52; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 194.
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
wurden in dieser Zeit die Weichen für das moderne englische Zivilverfahren gestellt, wie es sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts präsentierte und mit der jüngsten Erneuerung durch die Einführung der Civil Procedure Rules von 1998 seinen vorläufigen Abschluss fand. 1. Beweggründe für eine Reform des Zivilverfahrens a) Gesellschaftspolitische Herausforderungen durch die Industrielle Revolution Die Wirtschaft Englands war ab dem späten 18. Jahrhundert infolge der Industriellen Revolution großen Umwälzungen unterworfen.95 Es kam zu breiten ökonomischen Verschiebungen von einem agrarisch geprägten Wirtschaftsverkehr hin zu Industrie und Handel. Die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wirkten sich auf das Sozialgefüge aus, denn die einfache Bevölkerung war nicht mehr durch feudale Bindungen gesichert.96 Soziale Probleme äußerten sich in Verstädterung, mangelhafter Bezahlung der Lohnarbeiter und Arbeitslosigkeit. Die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten war die Folge. Hinzu kamen politische Ungleichgewichte, denn die veränderte ökonomische und soziale Lage spiegelte sich nicht im Parlament wider. Dessen beiden Häuser bestanden aus konservativen Aristokraten, Bischöfen und begüterten Landadligen, welche die Mehrheit der Menschen nicht repräsentierten. Um das Risiko zu mildern, dass sich die Krisensituation in einer Revolution entlud, waren grundlegende Reformen unausweichlich. Eine neue Wahlrechtsordnung im Jahr 1831/32 bewirkte, dass auch der bürgerliche Mittelstand an der politischen Macht partizipieren konnte.97 Die neuen Gestaltungsmöglichkeiten machten den Weg für weitere Reformen im Sozialbereich frei. Dazu gehörten die Neugestaltung der Armengesetzgebung sowie die Einschränkung der Kinderarbeit. Auch die Wirtschaftsgesetzgebung linderte die Not der Menschen. Schutzzölle, mit denen Großgrundbesitzer den Import von Getreide verhindert und dadurch Hungersnöte ausgelöst hatten, wurden abgebaut und durch Freihandel ersetzt. b) Kodifikationsimpulse durch die Lehren Jeremy Benthams Von den großen gesellschaftlichen Veränderungen konnte auch das Rechtswesen nicht unberührt bleiben. Der Jurist und Utilitarist Jeremy Bentham (1748–1832) nahm sie zum Anlass, eine radikale Abkehr von der bisherigen vom case law geprägten Rechtskultur hin zu umfassenden Ge95 Dieser und der anschließende Absatz folgen Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 194. 96 Vgl. auch Craig, Geschichte Europas, S. 87 ff. 97 Craig, Geschichte Europas, S. 96.
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setzgebungsakten zu fordern, die das englische Recht auf eine neue systematische Grundlage stellen sollten.98 Bentham schwebte nichts weniger als eine umfassende Kodifizierung des common law vor. Er agumentierte auch im Rechtswesen mit dem utilitaristischen Postulat, zentrales Ziel einer jeden Sozialordnung müsse das größte Glück der größten Zahl sein. Indem er Nützlichkeitserwägungen in den Vordergrund stellte, statt die Notwendigkeit historischer Kontinuität zu preisen, kollidierte er zwangsläufig mit der herrschenden Meinung, die das common law gerade aus seiner Historizität heraus verstand und anwendete. Bentham zielte dabei auf die unkritische Darstellungsweise des historisch überlieferten Rechts durch Blackstone ab.99 Die vorbehaltslose Übernahme von Rechtsregeln, die noch dazu häufig rational nicht nachvollziehbar entstanden waren, war seiner Ansicht nach für eine Sozialreform ebenso hinderlich wie die antiquierte Berufsauffassung des traditionsbehafteten englischen Juristenstandes. Bezogen auf das Zivilverfahren kritisierte er, dass man selbst für inhaltlich völlig unproblematische Fälle Spezialisten benötigte, die den Fall nach den Regeln der Kunst schriftlich fomulierten, so dass die Vorzüge eines mündlich durchgeführten Verfahrens verschwanden.100 Bentham fordert daher eine umfassende Kodifikation des common law. Zwar blieb er in dieser Radikalität ungehört, dennoch gaben seine Thesen wichtige Anstöße und förderten auch die Reformfreudigkeit im Bereich des Zivilverfahrens. c) Reformbedürftigkeit des Rechtsbetriebs (1) Common law Zu Beginn des 19. Jahrhunderts musste sich der Rechtssuchende in englischen Zivilsachen durch mehrere Barrieren kämpfen, bis die Gerichte ihm das Tor zum ordnungsgemäßen Verfahren öffneten. An eine erste Barriere gelangte er bei der Wahl des Rechtswegs. Ob er at law oder in equity klagte, war ausschlaggebend für die verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten. Hatte er sich für das common law entschieden, ergab sich eine zweite Hürde aus der Wahl des Gerichts. Die Gerichtsverfassung des common law war zunehmend verschachtelt und folgte keiner klaren Kompetenzabgrenzung.101 Der Verfahrensgang an den verschiedenen Gerichtshöfen war 98 Dieser Absatz folgt Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 194 f; vgl. auch Cornish, Sources of Law, Oxford History Bd. XI, S. 55–59. 99 In dessen Hauptwerk Blackstone, Commentaries. Zur Ausnahmestellung dieses Werkes und ansonsten untergeordneter Bedeutung rechtswissenschaftlicher Literatur vgl. Cornish, Sources of Law, Oxford History Bd. XI, S. 59 f. 100 Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 582 und 586. 101 Jenks, A Short History of English Law, S. 358; Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 569, zählt insgesamt 17 Möglichkeiten, eine Klage im common law rechtshängig zu machen.
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nicht deckungsgleich, so dass verfahrensrechtliche Besonderheiten die zusätzliche Aufmerksamkeit des Rechtssuchenden erforderten.102 Den innersten Befestigungsring des common law bildeten die einzelnen writs selbst, von denen jedes eine eigene Klage begründete und durch seine Inflexibilität und strengen Vorgaben an die Formalia der Schriftsätze eine Entscheidung unerreichbar erscheinen lassen konnte. Das an historischer Kontinuität orientierte common law war nicht darauf ausgerichtet, diese prozessualen Befestigungsanlagen zu schleifen, seine Regeln in ausreichendem Maße weiterzuentwickeln und an veränderte Bedürfnisse der Rechtswirklichkeit anzupassen. Seit dem 14. Jahrhundert waren die Verfahrensordnungen für die einzelnen writs immer präziser ausgestaltet worden, leider ohne gleichzeitig überlieferte, in vielen Fällen nicht mehr benötigte Regeln abzuwerfen.103 Innerhalb der writs wurde der konkrete Verfahrensablaufs immer komplexer, da das common law die Eigenschaft besaß, bereits bestehende Verfahrensformalia nicht als überholt anzusehen und durch neue zu ersetzen, sondern sein Regelwerk kontinuierlich auszuweiten. Die Dauerbeschäftigung mit den Techniken der Klageformen nahm den Juristenstand so weitgehend für sich ein, dass für die Herausbildung eigenständiger materieller Rechtsregeln wenig Raum blieb. Das Verfahren glich einem „Gang durch den Urwald“104, dessen Dickicht aus den festverwachsenen Regeln früherer Zeiten und dem Gestrüpp wuchernder neuer Formalia bestand. Da der Sinn und Zweck der historisch begründeten Formalia häufig nicht mehr zu Tage trat, wurden sie zu Ballast für das Rechtssystem, der aber dennoch nicht in Frage gestellt wurde.105 Im ausgehenden 18. Jahrhundert war die Komplexität der pleadingTechnik weiter angestiegen. Auch die englischen Gerichte begannen nun, die Zweischneidigkeit eines solch komplexen Regelwerkes zu erfassen:
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Odgers, Changes in Procedure, S. 212: „Such were three Superior Courts of common law at Westminster. How did they do their work? I am sorry to say that they were sadly hampered in the year 1800 by cumbrous procedure and pedantic technicalities which caused the suitors expense, delay, vexation, and disgust.” 103 Stattdessen behalfen sich die Richter mit der Gewährung zahlreicher Ausnahmen, die das Regelwerk insgesamt aber immer inkonsistenter machten, s. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S: 582. 104 Schuster, Die bürgerliche Rechtspflege in England, Vorwort, S. 3. 105 Von einem Richter an King´s Bench ist aus dem 15. Jahrhundert das Zitat überliefert: “Sir, the law is as I say it is, and so it has been laid down ever since the law began; and we have several set forms which are held as law, and so held and used for good reason, though we cannot at present remember that reason.”, so Fortescue, C.J., Y.B. 36 Hen. VI, ff. 25b-26 (1458), übersetzt von Holdsworth, A History of English Law, Bd. III, S. 626, zitiert nach der 3. Aufl., London 1923.
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“[…] The substantial rules of pleading are founded in strong sense, and the soundest and closest logic; and so appear, when well understood and explained; though, by being misunderstood and misapplied, they are often made use of as instruments of chicane […].”106
Die steigende Komplexität verteuerte das Verfahren, so dass dem Großteil der Bevölkerung der Zugang zu den Gerichten aus Kostengründen verwehrt blieb.107 Das Grundproblem für den Anstieg der Formalia lag in der Tendenz, neue Formvorschriften für das Verfahren zu etablieren, ohne es im Gegenzug von alten, überflüssig gewordenen Förmlichkeiten zu befreien. Statt die Regeln, die für mündlich gehaltene pleadings konzipiert waren, im Zuge des Übergangs in ein Schriftsatzverfahren im 16. Jahrhundert neu auszurichten, hatten sich viele Formvorschriften bis zum 19. Jahrhundert erhalten.108 Das Gebot der Bestimmtheit (certainty) führte zu einer Überpräzisierung des Sachverhalts, bei dem die Parteien Details beschreiben mussten, selbst wenn sie für die Beweisführung und Entscheidungsfindung überhaupt nicht relevant waren.109 Mit dem steigenden Detailgrad der Schriftsätze ergaben sich auch mehr Fehlerquellen, die wiederum in Prozessen mündeten. Da auf die Einhaltung der technischen Details großer Wert gelegt wurde, rückten materiellrechtliche Gesichtspunkte immer weiter in den Hintergrund. Manche Entscheidungen beschäftigten sich ausschließlich mit Form und Inhalt der pleadings.110 Der Prozessbetrieb drehte sich so zunehmend um sich selbst: „[…] half the actions were decided not on their real merits, but on question of form and pleading.”111 Die Sorge, mit einer Formulierung den Anforderungen an die Klageform nicht zu genügen, verleitete die Streitparteien dazu, ihre Schriftsätze immer detaillierter zu verfassen und den gleichen Sachverhalt in immer anderer Konstellation zu repetieren, um zu vermeiden, dass ein kritischer Richter das Vorbringen missverstand.112 Die Prämisse der certainty führte 106
Robinson v. Raley (1757) 97 E.R. 330, at 331, per Lord Mansfield. Cornish, An Independent Judiciary, Oxford History Bd. XI, S. 34. 108 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XII, S. 567/19 f.: “When, however, the transactions which led to law suits increased, and became more complicated, […] the parties were obliged to put their respective statements into writing, but in a form, still preserved, which supposes that the parties are orally pleading in the presence of each other. Unfortunately, all the technical and formal rules, which were harmless so long as the pleadings were verbal and in the presence of the Court, thereby admitting of immediate and easy amendment, were applied to them under the altered practice […]. The result has been, that almost all these ancient technicalities have been preserved, and still exist.” 109 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XII, S. 567/18; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 319; 110 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 309. 111 Odgers, Changes in Procedure, S. 212. 112 1st Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XII, S. 567/18. “The redundant and tautological modes of expression which disfigure legal pleadings, and the 107
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beim Schriftsatz des common-law-Verfahrens nicht zu Prägnanz, sondern wurde mit Detailversessenheit verwechselt, so dass die Streitpunkte im Ergebnis verschleiert blieben. Eine weitere Eigenschaft der pleadings war ihre strenge Technizität, die sie zu einer nicht zu unterschätzenden Hürde auf dem Weg zur Rechtsverwirklichung des Klägers machte. Die writs mochten dem Kläger die Chance auf Rechtsschutz für sein Begehren eröffnet haben; diese Chance konnte sich aber nur dann verwirklichen, wenn sie durch korrekte pleadings richtig in das Verfahren eingeführt wurden. Rechtliche Abhilfe gewährte das Gericht erst, wenn die pleadings den Streit in die richtige Form gebracht hatten. Die Fixierung auf pleading-Techniken lag auch darin begründet, dass die pleadings als maßgebliches Element verklärt wurden, um sich im common law zurechtzufinden; man ging davon aus, dass erst sie das englische Recht prozesspraktisch handhabbar machten.113 Die englische Lust an Formfragen führte aber häufig zu einer Selbstbeschäftigung des Juristenstandes mit Themen, die von den Streitparteien gar nicht aufgeworfen worden waren. In den ausgeklügelten Winkelzügen dieses juristischen Schachspiels trat die eigentliche Behandlung der Streitsache und in ihrem Gefolge die Bedeutung des materiellen Rechts in den Hintergrund.114 Im beginnenden 19. Jahrhundert hatte sich der Kern eines Rechtsstreits in einem „prozessrechtlichen Spinnengewebe“ verfangen.115
repetition of the same thing in different ways, are in great measure to be ascribed to the rigour with which pleadings are construed, which has introduced verbosity and length, from a desire to omit nothing, to be strictly precise, and to put everything in so many shapes that some one at least shall be found to square with the facts.” 113 Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 581. Die englischen Juristen gingen in ihrer Vorliebe für Formalia so weit, dem Abfassen der vorbereitenden Schriftsätze den Rang von Kunst zuzuerkennen. Das pleading-System wurde als wissenschaftlich fundiert und logisch gerühmt, so dass drastische Veränderungen als gefährlich, wenn nicht gar als unmöglich angesehen wurden, vgl. Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 311, 314. 114 Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 587. 115 Schmitthoff, Der Zivilprozeß als Schlüssel, JZ 1972, S. 40 (Zitat). Die Probleme des englischen Verfahrensrechts registrierte in Deutschland beispielsweise Mittermaier, Über den neuesten Standpunkt der Gesetzgebung, AcP 34 (1851), S. 128: „Es ist bekannt, daß in keinem Lande Europas so furchtbare Klagen über die lange Dauer, über die Kostspieligkeit, über die Masse an Spitzfindigkeiten, durch die nur ein sehr geübter Advokat sich hindurch arbeiten kann, über die zahllosen, in widerlicher Form abgefaßten Schreibereinen sich erheben, als in England.“; ähnlich Schuster, Die bürgerliche Rechtspflege in England, Vorwort, S. 3.
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(2) Equity Lange Zeit überbrückte die equity-Rechtsprechung des Kanzlers die Unflexibilität des common law, freilich unter Inkaufnahme eines zusätzlichen Verfahrens. Doch auch der Prozess in equity war im Laufe der Zeit immer behäbiger geworden. Die Freiheit der Form, der Aufklärungsgrundsatz sowie die Vermengung von Behauptungs- und Beweisverfahren verleiteten die Parteien dazu, das Verfahren durch immer neue Anträge und Beweiserhebungen beliebig zu verlängern.116 Deren Durcharbeitung übernahmen weitestgehend die Beamten der chancery, Urteile fällen durfte jedoch nur der Kanzler selbst oder sein Master of the Rolls, der als höchster Beamter über die Gerichtsakten wachte.117 Die Kanzleibeamten hatten ein finanzielles Interesse an der weitschweifigen Bearbeitung der Fälle, da sie kein festes Gehalt bezogen, sondern Gebühren einnahmen, die sich nach der Anzahl an gesichteten Seiten richtete.118 Da die übrigen administrativen Aufgaben der chancery, insbesondere die Ausstellung der writs des commonlaw-Verfahrens, weiterliefen, häuften sich die unbearbeiteten Fälle hoffnungslos.119 Die immense Dauer und die Kosten machten das einstmals angestrebte Ziel zunichte, das common law um soziale Kriterien zu ergänzen und so seine aus technischer Strenge entstandenen Härten zu mildern.120 Die abschließende Entscheidung eines Falles wurde so praktisch unmöglich. Das Verfahren in equity war im 19. Jahrhundert damit zum negativen Gegenpol zum common-law-Verfahren entartet, der ebenso wenig die Rechte der englischen Bevölkerung effizient durchsetzen konnte. So schnell, einfach und natürlich das Verfahren in equity in seinen Kinderschuhen begonnen hatte, so langsam, ausgefeilt und regelhaft gebärdete es sich im Greisenalter. 116 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 339; Beispiele für die Länge des equity-Verfahrens nennt Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 651. 117 Zum Beamtenapparat der chancery vgl. Baker, Introduction to English Legal History, S. 100. Am Amt des Kanzlers wurde die Verflechtung zwischen Justiz und Exektive besonders deutlich; er war nicht nur Richter des Court of Chancery, sondern auch Mitglied des House of Lords und des Kabinetts, s. Cornish, An Independent Judiciary, Oxford History Bd. XI, S. 32. 118 Baker, Introduction to English Legal History, S. 112, macht auf die Anfälligkeit des Court of Chancery gegenüber Korruption aufmerksam. 119 Die Zahl der anhängigen Verfahren erhöhte sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts auf schätzungsweise 10.000 bis 20.000. Diejenigen Prozesse, die mit einem Urteil abgeschlossen wurden, zogen sich bis zu 30 Jahre hin, s. Baker, Introduction to English Legal History, S. 112. 120 Als beispielhaft für die zeitgenössische Erfahrung der Rechtssuchenden darf der Ratschlag von Charles Dickens aus seiner Novelle Bleack House, Erstes Kapitel, gelten: „Suffer any wrong that can be done to you, rather than come here!“
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
(3) Umgehung des Aktionensystems durch Fiktionen im common law Als weder common law noch equity Aussicht auf Rechtsschutz innerhalb eines angemessenen Zeit- und Kostenrahmens versprachen, vollzog die Rechtspraxis eine weitere Ausweichbewegung, dieses Mal innerhalb des common law. In den Gerichtsbetrieb schlich sich die Praxis der Fiktionen ein. War sich der Kläger von vorneherein sicher, dass seine Streitfrage auf keinen der writs genau angepasst werden konnte, so trug er einen konstruierten Sachverhalt vor, in dem der eigentliche Streit verklausuliert oder nur als Nebensächlichkeit auftauchte. Dass die Parteien in ihren pleadings wissentlich Behauptungen aufstellten, die nicht den Tatsachen entsprachen, war allen Beteiligten des Rechtsstreits klar, wurde von der anderen Partei aber absprachegemäß nicht bestritten und damit als gegeben hingenommen.121 Vordergründig wahrte der Kläger die Klageform, so dass er at law klagen durfte. Fiktionen nutzten sowohl den Richtern als auch den Parteien: Die Gerichte erweiterten ihre Zuständigkeiten, die Parteien dehnten den Einsatzbereich der zuvor eng begrenzten Rechtsschutzmöglichkeiten aus.122 Gemeinsam umging man so im Ergebnis unter dem Deckmantel der Förmlichkeiten das starre Aktionensystem.123 Ein Beispiel dafür war die action of ejectment.124 Ursprünglich konnte der Kläger mit dieser Klage Schadensersatz wegen Besitzentzug eines Grundstücks verlangen, später wurde die Klage ausgeweitet und konnte auch auf Wiedereinräumung des Besitzes gerichtet werden.125 Dem Wortlaut des writ nach stand die Klage nur einem Mieter, Pächter oder einer sonstigen Person zu, die auf Zeit im Besitz eines Grundstücks war und der dieser Besitz vor Ablauf beispielsweise des Pachtvertrages durch eine dritte Person entzogen worden war. Mittels der Fiktion eines Pachtverhältnisses wurde die action of ejectment auch Grundeigentümern zugänglich und ging in eine Standardklage für die Wiedereinräumung des Besitzes an Grundstücken über.126 Hatte der Beklagte dem Grundeigentümer den Besitz an dessen Grundstück entzogen, so schob man im Gerichtsstreit um die Wiedereinräumung des Besitzes imaginäre Personen vor, die als „John Doe“ und „Richard Roe“127 bezeichnet wurden. Der klagende Eigentümer 121
Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 21. Vgl. Peter, Actio und writ, S. 76; Curzon, English Legal History, S. 165 ff. 123 Polden, The Courts of Law, S. 582; Fifoot, English Law and its Background, S. 22, spricht von einer „Camouflage“. 124 Dieses Beispiel liefert Odgers, Changes in Procedure, S. 114 f. Auch andere Autoren ziehen es heran, beispielsweise Maitland, The Forms of Action, S. 46 f.; Fifoot, English Law and its Background, S. 149. 125 Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 21 f. 126 Maitland, The Forms of Action, S. 46 f. 127 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 79; Bowen, Progress in the Administration of Justice, S. 520. 122
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fingierte einen Pachtvertrag zwischen sich und Doe. Anschließend traten Kläger und Beklagter als Vertreter der fiktiven Doe und Roe im Prozess auf. Der Kläger brachte stellvertretend für Doe vor, dass Roe diesem die Ausübung des Besitzes am Grundstück gemäß seinem Pachtvertrag mit dem Grundstückseigentümer durch gewaltsamen und widerrechtlichen Besitzentzug unmöglich gemacht habe. Damit fiel das Begehren des fiktiven Doe unter den Tatbestand der action of ejectment. In Bezug auf den Beklagten vermerkte die Klageschrift, Roe habe ihm geraten, ihn im Prozess zu vertreten, um kein Versäumnisurteil zu riskieren mit der Folge, dass der Beklagte aus seinem aktuellen Besitz am Grundstück ausgewiesen werden könne.128 Der Beklagte trat deswegen als Prozessvertreter von Roe in das Verfahren ein. So war es einem Grundbesitzer möglich, sich auf die action of ejectment zu berufen, obwohl deren Voraussetzung, nämlich ein bestehendes Miet- oder Pachtverhältnis, nicht bestand. Das routinemäßige Ausweichen auf Fiktionen zeigt, dass sich das common law zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Sackgasse befand. Nach den Perioden des Wachstums, der Beschränkung und Erstarrung des writSystems im common law war ab dem 16. Jahrhundert eine Zeit der „Aushöhlung der Aktionen“129 gefolgt. 2. Vorarbeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Weil der Rechtsbetrieb des common law aus eigener Kraft heraus nicht imstande zu sein schien, die vom Ballast der Jahrhunderte überwucherten Pfade seines Verfahrens freizulegen und den Gang durch den prozessualen Urwald zu ebnen, übernahm der Gesetzgeber die Reform der Gerichtsverfassung und des Zivilverfahrens.130 Trotz der strukturellen Probleme, die das englische Recht belasteten, wurden die Grundlagen des common law aber nicht über Nacht verworfen. Auch in den Reformkommissionen131 gab es Vorbehalte gegen Veränderungen des Zivilverfahrens. Noch im Jahr 128
Odgers, Changes in Procedure, S. 215; Bowen, Progress in the Administration of Justice, S. 520 f. 129 Peter, Actio und writ, S. 76. 130 Zum Verhältnis von case law und statutes im englischen Recht vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197. In der Regel werden Gesetze nicht dazu verwendet, einen Rechtsbereich neu zu regeln. Statutes schaffen Auswege, wenn das case law in einer Sackgasse angelangt ist und den Gerichten eine Fortentwickung des Rechts nicht mehr möglich erscheint. Da sie das von den Richtern geformte common law als Basis voraussetzen, bleiben sie ohne den Kontext der Prajudizien unverständlich. 131 Für neue statutes wurde es im 19. Jahrhundert üblich, Vorarbeiten an Kommissionen zu delegieren, die aus Experten bestanden, die meist nicht dem Parlament angehörten. Bis heute sollen sie gesellschaftliche Veränderungen untersuchen, Anfragen bearbeiten und so gutachterlich Gesetzgebungsverfahren vorbereiten, s. House of Commons Parlt. Papers, http://parlipapers.chadwyck.co.uk/marketing/guide.jsp (Stand 09.12.2011).
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
1831 befanden die für die Umgestaltung des Verfahrensrechts eingesetzten Kommissare, dass man die forms of action nicht abschaffen könne, weil dies Unsicherheit im Verfahren auslösen und das gesamte Gerüst des common law ins Wanken bringen würde. Die Nachteile einer Reform überwögen daher die Vorteile bei weitem.132 Die aufgrund dieser Vorbehalte zögerliche Reformierung des englischen Zivilverfahrens, die sich schrittweise über fast fünf Dekaden hinzog, macht deutlich, wie schwer es dem traditionsbewussten Juristenstand fiel, auf bekannte Verfahrensformen zu verzichten und sich für Neuerungen zu öffnen. Auf dem Weg zum modernen englischen Zivilverfahren lagen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mindestens133 vier Stationen: Der Uniformity of Process Act 1833, die Common Law Procedure Acts 1852 und 1854 sowie der Chancery Procedure Act 1852. a) Uniformity of Process Act 1833 Einen ersten Schritt in Richtung eines vereinheitlichten Verfahrens ging der Uniformity of Process Act 1833134. Sein Verdienst war es, den Gang des Verfahrens erstmals verbindlich in Gesetzesform festzulegen und die groben Verfahrensschritte gleichzuschalten, so dass nicht mehr jedes common-law-Gericht eigene Regeln aufstellen konnte.135 Vereinfacht wurde insbesondere die Klageeinleitung. Sec. 1 des Uniformity of Process Act 1833 bestimmte, dass alle persönlichen Klagen mit einem einheitlichen writ of summons begonnen werden sollten, der die Natur des Anspruchs skizzierte und den Beklagten zum Erscheinen aufforderte. Diese Verfahrensänderung war aber nur vordergründig eine Erleichterung für den Kläger, denn er musste den Namen der von ihm beabsichtigten Klage nach wie vor auf dem writ mit ihrem förmlichen Namen vermerken und seine pleadings nach der gewählten Klageform ausrichten. Die verschiedenen writs für persönliche Klagen waren damit nur scheinbar abgeschafft. Trotz dieser kosmetischen Behandlung blieben die forms of action erhalten.136 132 3rd Report of the Commissioners, Parlt. Papers 1831, Bd. X, S. 375/6; vgl. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 590, zu dem Problem, dass die Kommissionen verfahrensrechtliche Probleme zwar ansprachen, sich aber zunächst nicht zu einem Systemwechsel durchringen konnten. Besonders schwer tat man sich mit einer Überarbeitung der pleading-Regeln, s. 1st Report of the Commissioners, Parl. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/11. 133 Vgl. für eine Auflistung aller relevanten Reformgesetze für das common law Jenks, A Short History of English Law, S. 359 ff. und für die equity Curzon, English Legal History, S. 134 ff. 134 2 & 3 William IV c. 39. 135 Jenks, A Short History of English Law, S. 358. 136 Jenks, A Short History of English Law, S. 359; Maitland, The Forms of Action, S. 6 f.
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b) Common Law Procedure Act 1852 Der Bericht der Gesetzgebungskommission aus dem Jahr 1851 ist progressiver als die Vorgängerempfehlungen aus den 1830er Jahren. Er sprach sich für eine stärkere Orientierung an Sach- statt Formfragen und folglich für eine Abschaffung der forms of action aus: “It is manifest, therefore, that as the question, whether there is a cause of action or not, must depend on the facts and not upon the form adopted, the decision of a cause on the merits is not helped by means of these forms of action.”137 Die Empfehlungen wurden eingearbeitet in den Common Law Procedure Act 1852138. Er legte fest, dass die genaue Bezeichnung der Klageform nicht mehr auf dem writ angegeben werden musste.139 Damit war der einheitliche writ of summons aus der Taufe gehoben, der bis zur Einführung der Civil Procedure Rules im Jahr 1998 erhalten blieb. Die alten forms of action behielt die Rechtsprechung gleichwohl bei. Manche Richter sahen in der Reduzierung von Förmlichkeiten einen Angriff auf die Stabilität des common law140 und unterschieden die Klageformen in der Prozesspraxis wie gehabt.141 In ihren pleadings mussten sich die Parteien weiterhin nach den technischen Besonderheiten richten, die ihnen die Klageformen vorgaben.142 Einziger Unterschied war, dass sich der Kläger noch nicht mit dem klageeinleitenden writ of summons auf eine bestimmte Klageform festlegte, sondern dies bis zur Klagebegründung hinauszögern konnte. Ein Umdenken war durch die Einführung des Common Law Procedure Act 1852 gleichwohl zu erkennen. Formalitäten sollten keinen entscheidungserheblichen Einfluss mehr erhalten. So wurden Einwände, mit denen eine Partei lediglich Formfehler rügte, nicht mehr zugelassen.143 Die Gerichte erhielten stattdessen bei der Bewertung formeller Fehler einen Ermessensspielraum.144 Sie durften nach Common Law Procedure Act 1852, sec. 222 Formfehler in den writs und pleadings selbst berichtigen oder die Parteien auffordern, ihre Schriftsätze nachzubessern.145 Auch die techni137
1st Report of the Commissioners, Parl. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/33. 15 & 16 Victoria c. 76. In dieser Arbeit zitierte Normen des Common Law Procedure Act 1852 sind (abgerufen am 09.12.2011) entnommen. 139 Common Law Procedure Act 1852, sec. 3. 140 Beispielsweise Bryant v. Herbert (1877–78), L.R. 3 C.P.D. 389, at 390, per Bramwell L. J. 141 Maitland, The Forms of Action, S. 7. 142 Kiralfy, Potter´s Historical Introduction to English Law, S. 344. 143 Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 591; Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 35 m. w. N. 144 Van Caenegem, History of Civil Procedure, S. 107. 145 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 509 f. 138
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
schen Auswüchse der Fiktionen wurden abgeschafft.146 Im Mittelpunkt sollte die Herausarbeitung der zentralen Streitfragen zwischen den Parteien stehen.147 c) Common Law Procedure Act 1854 Sec. 1 des Common Law Procedure Act 1854148 rüttelte an den Grundfesten der bisherigen Verfahrensstruktur. Die Parteien konnten sich darauf einigen, auf die jury zu verzichten, so dass der Richter sowohl Rechts- als auch Tatsachenfragen entschied.149 Die Parteien nahmen diese Möglichkeit rege in Anspruch, so dass die Bedeutung der jury ab Mitte des 19. Jahrhunderts abnahm; um 1900 wurden nur noch die Hälfte aller Zivilklagen mit Beteiligung einer jury verhandelt.150 Die Zusammenführung der Verfahren at law und in equity bereitete der Common Law Procedure Act 1854 vor, indem er gewisse Verfahrenshandlungen aus dem equity-Verfahren auch im common law für anwendbar erklärte.151 Ein Beklagter at law konnte, soweit sich ihm aus dem Bereich der equity eine Verteidigungsmöglichkeit bot, diese Verteidigung auch im common-law-Verfahren vorbringen. Umgekehrt durften die common-lawGerichte beispielsweise einstweilige Verfügungen erlassen.152 d) Court of Chancery Procedure Act 1852 Von Seiten des equity-Verfahrens sorgte der Court of Chancery Procedure Act 1852153 für eine Abstimmung zwischen den Verfahrensarten. Seine wichtigste prozessuale Maßnahme war es, das writ of subpoena abzuschaffen. Die klägerische bill of complaint wurde stattdessen mit einem Vermerk versehen, dass der Beklagte sich innerhalb von acht Tagen vor Gericht einzufinden habe, und dem Beklagten in Abschrift zugestellt.154 An die bill wurden erstmals konkrete Anforderungen gestellt, insbesondere 146
Common Law Procedure Act 1852, sec. 49. Common Law Procedure Act 1852, sec. 222 „[…] and all such Amendments as may be necessary for the Purpose of determining in the existing Suit the real Question in controversy between the Parties shall be so made.“ 148 17 & 18 Victoria c. 125. 149 Common Law Procedure Act 1854, sec. 1, entnommen aus (abgerufen am 09.12.2011): “The Parties to any Cause may […] leave the Decision of any Issue of Fact to the Court […] and the Verdict of such Judge shall be of the same Effect as the Verdict of a Jury […].” 150 Baker, Introduction to English Legal History, S. 92. 151 Jenks, A Short History of English Law, S. 368. 152 Curzon, English Legal History, S. 137. 153 17 & 18 Victoria c. 86. 154 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 514. 147
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mussten die Tatsachen, auf die der Kläger sein Begehren gründete, klar benannt werden. Die Tatsachen waren durch Abschnitte zu trennen und deren Abfolge durch Nummerierungen deutlich zu machen.155 Da der Kläger im Schlussabschnitt seiner bill den begehrten Rechtsschutz klar benennen musste, stand die zu prüfende Begehr von Beginn an fest, so dass der Kanzler die amtlichen Untersuchungen auf das bestimmte Rechtsschutzbegehren konzentrieren konnte. Überdies wurde es der chancery erschwert, Klagen an die Gerichte des common law zu verweisen. Der Kanzler konnte nun auch Rechtsfragen beantworten, die eigentlich dem Bereich des common law zuzuordnen waren, soweit sich diese erst während der Anhörungen des Kanzlers ergaben.156 3. Grundlegende Reformierung durch die Judicature Acts 1873–1875 Durch die Procedure Acts für beide Stränge des englischen Zivilverfahrens ebnete der englische Gesetzgeber erste Unterschiede ein und führte die Verfahren insbesondere bei den Formalitäten zur Bestimmung der Streitsache aufeinander zu. Den vorläufigen Schlusspunkt in diesem Prozess schrittweiser Vereinfachung setzten die Judicature Acts 1873–1875157. a) Vereinfachung der Gerichtsverfassung Die Gerichtszweige, die sich im Verlauf der Jahrhunderte immer weiter verästelt hatten, wurden zusammengelegt und bildeten fortan einen einheitlichen Supreme Court of Judicature.158 Damit konnten die zuvor ständig schwelenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gerichten eingeschränkt werden. Der Supreme Court of Judicature bestand nun aus dem High Court of Justice und dem Court of Appeal als seinem Berufungsgericht.159 Der High Court of Justice wiederum war aufgeteilt in Abteilungen, die nach den früher selbstständigen Gerichten Queen´s Bench Division, Exchequer Division und Common Pleas Division genannt wurden und auch
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Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 514. Curzon, English Legal History, S. 137. 157 Dies waren der Supreme Court of Judicature Act 1873, 36 & 37 Victoria c. 66; Supreme Court of Judicature Act (Commencement) Act, 1874, 37 & 38 Victoria c. 83; Supreme Court of Judicature Act (1873) Amendment Act, 1875, 38 & 39 Victoria c. 77, s. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 516; vgl. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 764 f., zum Verhältnis der Gesetzgebungsakte zueinander. – Die in dieser Arbeit zitierten Normen der Judicature Acts sind Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, entnommen. 158 Judicature Act 1873 sec. 3. Zu den innergerichtlichen Kompetenzstreitigkeiten zwischen common law und equity vgl. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 757 ff. 159 Judicature Act 1873, sec. 4. 156
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
deren Aufgabenbereiche übernahmen.160 In der inhaltlichen Arbeit der Gerichte änderte sich durch die Zusammenlegung also zunächst nichts. Es ergab sich aber für den Kläger die große Erleichterung, dass falsch eingereichte Klagen, die früher wegen fehlender Zuständigkeit eines Gerichts hätten abgewiesen werden müssen, nun innerhalb des gleichen Gerichts an die zuständige Abteilung verwiesen werden konnten.161 Mit dem Judicature Act 1875 setzte sich außerdem der Grundsatz durch, dass Richter als professionelle Juristen hauptamtlich Recht sprechen sollten, ohne durch weitere exekutive Aufgaben beeinflusst zu werden.162 b) Anwendung des gesamten materiellen Rechts Mit der Verschmelzung der Gerichtszweige verloren auch die materiellen Normenkomplexe common law und equity ihre exklusive Zuordnung zu den common-law- beziehungsweise chancery-Gerichten.163 Bis dahin hatte der Kläger stets genau prüfen müssen, welches der beiden Rechtsbereiche für sein Begehren Rechtsschutz bot. Entschied er sich für die falsche Gerichtsbarkeit, die das gewünschte Rechtsschutzbegehren gar nicht verfolgen konnte, wurde er mit negativer Kostenfolge abgewiesen. Sicherheitshalber hatten deshalb viele Kläger dasselbe Begehren sowohl vor den Gerichten des common law als auch dem Court of Chancery geltend gemacht.164 Dies führte zu umständlicher Rechtsfindung und allzu oft zu einer widersprüchlichen Rechtslage, denn der Umstand, dass die Gerichte unterschiedliche Rechte und Pflichten anerkannten und Rechtsschutzmöglichkeiten gewährten, spiegelte sich letztendlich in divergierenden Gerichtsentscheidungen über denselben Fall wider.165 Um solche unklaren Entscheidungslagen zu verhindern, waren nun vor sämtlichen Gerichten des High Court sowohl Rechtsschutzbegehren at law als auch in 160
Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 763. Im Jahr 1881 wurden die drei Abteilungen zur Queen´s Bench Division vereinigt. Zwei weitere Abteilungen kamen hinzu: Angelegenheiten des früheren Court of Chancery übernahm die Chancery Division. Nachlasssachen, Ehestreitigkeiten und Schifffahrtsangelegenheiten entschied die Probate, Divorce and Admiralty Division. Diese inhaltlich nicht verwandten Rechtsgebiete, vom Volksmund als „wills, wives and wrecks“ bezeichnet, waren aus systematischen Gründen zusammengelegt worden, denn Erb-, Ehe- und Seerecht waren stark vom kanonischen Recht geprägt, s. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 195; Cornish, An Independent Judiciary, Oxford History Bd. XI, S. 36. 161 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 195. 162 Cornish, An Independent Judiciary, Oxford History Bd. XI, S. 33. 163 Diese Annäherung der Rechtsmassen common law und equity war eher eine Folge, nicht das Ziel der Prozessreform, s. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 770. 164 Vgl. 1st Report of the Royal Commissioners, Parlt. Papers 1868–69, Bd. XXV, S. 5, 7, 11. 165 Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 58.
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equity zu berücksichtigen.166 Materiellrechtlich blieben beide Bereiche aber getrennt, so dass es innerhalb eines Prozesses zu Kollisionsfällen kommen konnte. Dies wurde in Weiterführung der Entscheidung im Earl of Oxford´s Case dahingehend geregelt, dass equity im Fall eines Widerspruchs zu common-law-Regeln Vorrang hatte.167 c) Festlegung einer modernen Verfahrensordnung Auch die allgemeinen Verfahrensregeln wurden vereinheitlicht, so dass es grundsätzlich ein gleichlaufendes Verfahren vor dem High Court of Justice gab. Statt der Unterscheidung des writ des common law und der bill of complaint der equity wurden Klagen vor den verschiedenen Kammern des High Court allgemein actions genannt.168 Wie schon bei der Anwendung des materiellen Rechts, so sollte auch die Wahl des Gerichts keine formellen Nachteile für die Parteien mit sich bringen. Man unterschied die Verfahrensregeln deshalb nicht mehr nach Prozesstypen, die durch eine gewisse form of action bestimmt wurden. Um einheitliche Verfahrensstandards zu gewährleisten und den neu geschaffenen Gerichtsabteilungen des Supreme Court ihren Hang zur Beibehaltung der alten Klageformalia zu nehmen, fügte man bereits dem Judicature Act 1873 ausführliche Verfahrensregeln an, die selbst Gesetzesqualität hatten169 und durch den Judicature Act 1875 noch erweitert wurden170. Maßgeblich für das moderne Zivilverfahren wurden die Judicature Acts, weil sie die Abfolge der Verfahrensschritte, die bis heute im Wesentlichen beibehalten wurde, erstmals präzisierten. Das Zivilverfahren besteht seither aus den Elementen Klageeinleitung, Schriftsatzwechsel, Beweisverfah-
166 Judicature Act 1873, sec. 24 (7): “The High Court of Justice and the Court of Appeal respectively, in the exercise of the jurisdiction vested in them by this Act, in every cause or matter pending before them respectively, shall have power to grant, and shall grant, […] all such remedies whatsoever as any of the parties thereto may appear to be entitled to in respect of any and every legal or equitable claim properly brought forward by them respectively in such cause or matter; so that, as far as possible, all matters so in controversy between the said parties respectively may be completed and finally determined, and all multiplicity of legal proceedings concerning any of such matters avoided.” 167 Judicature Act 1873, sec. 25 (11): “Generally in all matters not hereinbefore particularly mentioned in which there is any conflict or variance between the rules of equity and the rules of the common law with reference to the same matter the rules of equity shall prevail.” Vgl. auch Cornish, Sources of Law, Oxford History Bd. XI, S. 57. 168 Judicature Act 1875, Ord. 1. 169 Judicature Act 1873, sec. 69 und Anhang. Die Verfahrensregeln waren nicht sämtlich neu, sondern wurden in Teilen von dem Common law of Procedure Act 1852 übernommen, s. Sturge, Basic Rules, Vorwort, S. 5. 170 Judicature Act 1875, sec. 16 und Anhang. Die Verfahrensregeln waren in 63 Abschnitte (orders) unterteilt. Vgl. auch Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 517.
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
ren, Urteil und Vollstreckung,171 die sich in ein schriftliches Vorverfahren (pre-trial proceedings) und dem mündlichen trial gliedern172. Mit einem einheitlichen Klageformular macht der Kläger sein Begehren deutlich und leitet das Vorverfahren ein. Es folgt der Schriftsatzwechsel der pleadings, um die issues herauszuarbeiten.173 Durch das ausführliche Vorverfahren erhalten die Parteien die Möglichkeit, ihren Rechtsstreit frühzeitig im Rahmen des anwaltlichen Schriftsatzwechsels ohne richterliches Urteil beizulegen. Falls den Parteien dies nicht gelingt, dient die schriftliche Verfahrensphase der umfassenden Vorbereitung des trial, das sich an die pleadings anschließt und in dem auch die Beweise gewürdigt werden. Das richterliche Urteil (judgment), auf das unter Umständen die Zwangsvollstreckung (execution) folgt, beschließt die Hauptverhandlung. Dadurch, dass die Judicature Acts das Zivilverfahren für sämtliche Zweige des Supreme Court einheitlich regelten, schufen sie Charakteristika, die das englische Zivilverfahren bis heute prägen. Dazu gehört die Öffentlichkeit der Rechtspflege, die sich in dem öffentlich abgehaltenen trial zeigt. Das Vorverfahren dagegen findet nichtöffentlich zwischen den Parteien statt. Im trial zeigt sich der streng eingehaltene Grundsatz der Mündlichkeit. Die schriftlichen pleadings des Vorverfahrens dienen nur der Vorbereitung des trial, die Parteien müssen aber in der Hauptverhandlung selbst mündlich vortragen und dürfen auch nicht auf ihre pleadings verweisen. Die genaue Vorbereitung des Prozesses im Vorverfahren dient der Konzentrationsmaxime, nach der das trial in einer einzigen Verhandlung, die sich nötigenfalls auf mehrere aufeinanderfolgende Tage verteilt, abzuschließen ist. Schließlich ist das Verfahren geprägt vom Verhandlungsgrundsatz im Sinne des adversary system, nach dem die Parteien die Streitsache und den Streitstoff bestimmen.174
III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen
1. Motivation für Reformen Deutsches und englisches Zivilverfahren standen im 19. Jahrhundert beide aus politischen und verfahrensökonomischen Gründen unter beträchtlichem Erneuerungsdruck, der den Gesetzgeber auf der Suche nach mehr Prozessökonomie veranlasste, das Zivilverfahren zu vereinheitlichen. Die Untersuchung der Struktur einer Klage im Vorfeld dieser Verfahrensver171
Vgl. Williams, Jurisprudence, S. 506. Thalmann, Der englische Zivilprozeß, JURA 1989, S. 180; Malterer, Lord Woolf's access to justice, S. 49. 173 Vgl. Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 90 f. 174 Zum adversary system vgl. u. S. 154 ff. 172
III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen
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einheitlichung lässt die dahinterstehende Motivation und die unterschiedlichen Prioritäten erkennen. Im 19. Jahrhundert wurde die Rechtsfindung in Deutschland und England durch eine Trennung der Rechtsordnungen erschwert. Auf deutschem Gebiet war die Trennung territorial, weil die souveränen Partikularstaaten vor ihrem Zusammenschluss zum Deutschen Reich einen Flickenteppich von eigenständigen Verfahrensordnungen gebildet hatten. Auf englischer Seite brachte die systematische Trennung der Rechtsmassen common law und equity unterschiedliche Verfahrensordnungen mit sich. Der anschwellende Wirtschaftsverkehr in Folge der Industrialisierung machte in beiden Rechtssystemen deutlich, dass sie die damit einhergehende Vervielfältigung der Rechtsstreitigkeiten nicht verarbeiten konnten. Der Handel und die intensiver werdenden Rechtsbeziehungen drängten in Deutschland danach, die engen Grenzen der zahlreichen deutschen Partikularstaaten zu überschreiten. In England verselbstständigte sich der Prozess in equity so weit, dass es zu Abgrenzungsschwierigkeiten zum common law kam, denn selbst wenn ein Kläger vor den common-law-Gerichten unterlag, konnte er sein Begehren möglicherweise immer noch vor die chancery bringen. Doppelte Rechtsschutzmittel und daraus resultierende divergierende Urteile schmälerten die Rechtssicherheit. Die Regeln des Zivilverfahrens gerieten so zu einem Stolperstein für wirtschaftliche Prosperität. Hinzu kam in Deutschland nach dem Fall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die Schwärmerei für einen deutschen Nationalstaat, die sich spätestens in der Revolution von 1848 zu einer dringenden politischen Forderung verdichtete. Liberale Grundgedanken begleiteten diesen Prozess und sollten sich in einem Zivilverfahren widerspiegeln, das einheitlich galt und den Grundsätzen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit folgte. Der gemeine Prozess, der auf dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 fußte und in der politischen Situation nach Ende des Dreißigjährigen Krieges entstanden war, entsprach nicht mehr dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Seine Aneinanderreihung von nicht-öffentlich durchgeführten Einzelterminen verzögerte den Verfahrensgang und machte die richterliche Entscheidung intransparent. Die überbetonte Schriftlichkeit passte nicht zu dem zeitgenössischen Wunsch nach einem öffentlichen Verfahren, in dem sich die Parteien persönlich gegenübertreten und ihren Fall mündlich vorbringen konnten. Die Hemmnisse des englischen Zivilverfahrens lagen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Unübersichtlichkeit der Gerichtsverfassung, der strikten Trennung zwischen den Rechtsbereichen common law und equity und der Komplexität der Verfahrensordnungen. Die Parteien stritten sich nicht mehr in der Sache, sondern um die Form und nutzten technische Fehler des Gegners statt materiellrechtlicher Argumente, um das Verfahren für sich zu entscheiden. Das Gericht förderte diese Taktik, indem es die Par-
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
teien beim Wort nahm und so häufig ein Urteil mit formalen Fehlern begründete, unabhängig von der materiellen Rechtslage. Die Anfälligkeit für prozessmissbräuchliches Verhalten machte eine Gesetzesreform unausweichlich: “The hour for reform has struck when the law can be made an instrument of abuse.”175 Den gemeinen Prozess, das common law und die equity einte im Ergebnis das Problem, dass die Entscheidungen zu oft am Kern des Rechtsstreits vorbeigingen, dass hohe Kosten den Zugang zur Justiz erschwerten und dass lange Verfahren die Herstellung des Rechtsfriedens verzögerten. Vor dem verfassungspolitischen Auftrag nach § 64 der Paulskirchenverfassung vom 28.03.1849, die Bildung einer deutschen Nation durch ein einheitliches Gerichtsverfahren rechtlich zu untermauern, war an ein einheitliches deutsches Zivilverfahren nicht zu denken. Eine belastbare rechtliche Grundlage schuf erst Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.04.1871, der das Gerichtsverfahren der Gesetzgebungskompetenz des Reiches zuordnete. Die sich anschließenden deutschen Prozesskonferenzen bereiteten die Neuausrichtung des Zivilverfahrens über 20 Jahre lang vor, um es schließlich auf einen Schlag zu vereinheitlichen. Da in England eine landesweite Kompetenz zur Gesetzgebung für das Zivilverfahren nicht erst geschaffen werden musste, erfolgte dort die Anpassung der Verfahren unmittelbar durch Gesetze. Die Neuentwürfe der Verfahrensordnung nahmen aber am bestehenden Verfahren nur Teilkorrekuren vor, in denen die Prozessformalia des überkommenen Verfahrens weiterhin eine große Rolle spielten. Damit blieben die Gesetze in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wegmarken, die auf die Vereinheitlichung des Zivilverfahrens zusteuerten; zwischen der Theorie des Gesetzestextes und der Praxis des Gerichtssaals klaffte aber noch eine Lücke. Erst die Judicature Acts 1873–1875 wandten sich endgültig von den forms of actions ab. 2. Konzepte der Verfahrensgestaltung Die drei ausschnittsweise untersuchten deutschen Verfahrensordnungen stehen exemplarisch für drei unterschiedliche Stadien des deutschen Verfahrensrechts in dem Zeitraum zwischen 1753 und 1850, in dem widerstreitende Konzepte miteinander um eine Abkehr vom gemeinrechtlichen Verfahrenssystem rangen.176 Der Codex Juris Bavarici Judicarii von 1753 folgte noch am konsequentesten dem gemeinrechtlichen Aufbau. Der Sonderweg, den Preußen durch seine Hinwendung zu den vernunftrechtlichen Kodifikationen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 und der Allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staa175 176
Bowen, Progress in the Administration of Justice, S. 527. Vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 7 ff.
III. Vergleich der Erneuerungsbestrebungen
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ten von 1793 beschritt, erhielt durch Preußens politische Bedeutung im Reichsgründungsprozess besonderes Gewicht, fand aber letztlich keine dauerhaften Nachahmer in der deutschen Prozessrechtslandschaft. Die Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850 schließlich verband auf bisher nicht gekannte Weise das gemeine Recht mit dem französischen Verfahren, von dem sie die Hauptverhandlung übernahm.177 Sie war, auch bedingt durch ihren einflussreichen Schöpfer Leonhardt178, ein zukunftsweisendes Werk für die Einigung des deutschen Verfahrensrechts. Damit war der schrittweise Übergang vom gemeinen Prozess mit schriftlicher Mittelbarkeit zum gegliederten Prozeß mit mündlicher Unmittelbarkeit französischer Prägung vorgezeichnet.179 Als „Musterbuch“180 bereitete die hannoversche Prozessordnung von 1850 den Weg für weitere Reformen und die Prozesskonferenzen zur Erarbeitung der CPO 1877. Im Bereich von Klageinhalt und Streitfestlegung gab aber keines der untersuchten deutschen Verfahren die aus dem gemeinen Prozess bekannte schriftliche Grundlage auf. Eine schriftliche Antragstellung und Sachverhaltsdarlegung durch den Kläger blieb die Konstante zur Ermittlung der Streitsache, und auch der Beklagte erwiderte regelmäßig zunächst schriftlich, auch wenn die richterliche Entscheidung des Falles in eine mündliche Hauptverhandlung ausgelagert wurde. In England hatte die Reformierung des Zivilverfahrens keine mit der deutschen Entwicklung vergleichbare politische Komponente, da es unter territorialen Aspekten bereits einheitlich geltende Verfahrensordnungen gab. Stattdessen sollte die systematische Trennung zwischen common law und equity beseitigt und die Verfahrensregeln vereinfacht werden. Das erste Gesetz zum Zivilverfahren, der Uniformity of Process Act 1833, glich den Verfahrensablauf der einzelnen common-law-Gerichte untereinander ab. Oberflächlich vereinheitlichte er auch die Klageeinleitung, da es nur noch ein einheitliches writ of summons geben sollte. Diese Vorgabe war jedoch nur eine scheinbare Vereinfachung, da der Kläger den gewünschten Rechtsschutz immer noch mit dem technischen Namen des alt177
Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2618. Adolf Leonhardt war seit 1848 Referent im hannoverschen Justizministerium, seit 1865 hannoverscher Justizminister, und begleitete als preußischer Justizminister von 1867–1879 maßgeblich die Arbeiten zu einem einheitlichen deutschen Zivilverfahrensgesetz. 179 Dahlmanns, Die Gesetzgebung zum Verfahrensrecht, S. 2618. Sie lassen sich einteilen in die beiden Verfahrenstypen eines schriftlichen Vorverfahrens mit mündlicher Schlussverhandlung in Bayern und Preußen einerseits und einer mündlichen Hauptverhandlung als Mittelpunkt mit marginaler schriftlicher Vorbereitung in Hannover andererseits, s. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 557. 180 Endemann, Betrachtungen über einige Hauptgrundlagen, AcP, Bd. 49 (1866), S. 2. 178
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2. Kapitel: Widerstreitende Konzepte und schrittweise Erneuerung
bekannten writ kennzeichnen musste und sich der weitere Verfahrensverlauf, vor allem die Form der pleadings und die anwendbaren materiellen Rechtsregeln, nach ihm richteten. Erst der Common Law Procedure Act 1852 befreite den Kläger von der Angabe der technischen writ-Bezeichnung. Wiederum war die praktische Erleichterung des Gerichtsverfahrens nur eine scheinbare, da die Richter die Einhaltung der spezifischen Verfahrensformalia forderten, als ob die Klage nach wie vor unter der Überschrift eines bestimmten writ stünde.181 Allerdings war man sich nun einig, dass die Nichteinhaltung der forms of action nicht mehr den Verlust des Prozesses bedeuten sollte. Im Common Law Procedure Act 1854 und Chancery Act 1852 näherten sich die Verfahren at law und in equity einander an, weil bestimmte Prozesshandlungen jetzt für beide Verfahren galten.182 Im Prozess des common law konnten die Parteien fortan auf eine jury verzichten und im equity-Verfahren passte man die bill of complaint an die aus dem common-lawVerfahren bekannten Anforderungen an, indem auch hier Regeln für einen kurzen und präzisen Sachvortrag entstanden. Die Judicature Acts 1873– 1875 vollendeten diese Verschmelzung der Verfahrensordnungen. Sie legten die Grundlage des modernen Zivilverfahrens durch Reformen in drei zentralen Punkten: Sie verschlankten die Gerichtsverfassung, verbanden die Rechtsbereiche common law und equity und vereinheitlichten den Verfahrensgang.
181 182
Vgl. o. S. 95. Vgl. o. S. 96 f.
Kapitel 3
Festlegung der Streitsache im vereinheitlichten Zivilverfahren I. Deutsche Streitgegenstandslehren I. Deutsche Streitgegenstandslehren
Nach der Vereinheitlichung des deutschen Zivilverfahrens wurde im 20. Jahrhundert die Figur des Streitgegenstandes zu einem zentralen Thema der Wissenschaft. Die folgende Darstellung hat das Ziel, ein Resümee zu den wichtigsten Lehrmeinungen zu ziehen und so den heutigen Stand der Diskussion auszuloten. Dazu bedarf es eines Überblicks über die vom Gesetzgeber aufgestellten Regeln zur Bestimmung des Rechtsstreits und zur Identifizierung eines eigenständigen prozessualen Anspruchs, an denen sich der Streit um eine Lehre zum Streitgegenstand entspann. Um die Ergebnisse anschließend mit dem englischen Zivilverfahrensrecht vergleichen zu können, konzentriert sich diese Arbeit auf die Leistungsklage.1 1. Gesetzliche Ausgangslage a) Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung Die Zeitgenossen der CPO 1877 hoben die unmittelbare mündliche Verhandlung, den Parteibetrieb sowie die Aufgabe des Beweisinterlokuts als wesentliche Merkmale des neuen Verfahrensgangs hervor.2 Das Ergebnis war ein ganz auf die mündliche Verhandlung ausgerichteter Verfahrensablauf, der zwar schriftlich eingeleitet, aber nicht weiter durch Schriftsätze vorbereitet wurde. Stationen des Erkenntnisverfahrens waren die schriftli1
Das englische Recht trifft keine mit der deutschen Diktion vergleichbare Unterscheidung zwischen Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklagen, sondern unterscheidet zwischen Klagen in personam und in rem. Urteile in personam gelten nur für die am Verfahren beteiligten Parteien. Urteile in rem liegen vor, wenn über den Status einer Person oder über bestimmte Eigenschaften einer Sache entschieden wurde. Dazu gehören sehr unterschiedliche Fälle wie beispielsweise Entscheidungen über den Rechtsschein von Testamentsurkunden, über Scheidungsurteile, aber auch über die Einordnung einer Straße als Autobahn, vgl. Tapper, Evidence, S. 94 f.; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 22.1. Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 111, orientiert sich an personen- und familienrechtlichen Streitigkeiten. Die Klage in rem kann eine Gestaltungswirkung entfalten, die der deutschen Gestaltungsklage vergleichbar ist. 2 Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 508, aus einer Stellungnahme von von Fäustle.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
che Einleitung, die mündliche Verhandlung, Aufklärung und Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht, die mündliche Verhandlung über die Beweisaufnahme sowie das Urteil.3 Eine gesonderte Vorbereitung der Hauptverhandlung kannte die CPO 1877 nur in Ausnahmefällen4 und gab den Parteien große Freiheiten bei der Bestimmung des Verfahrensablaufs5 und des Verfahrensinhalts. Die heutige Prozessrechtslehre teilt diese Parteiherrschaft in Verhandlungsgrundsatz und Dispositionsgrundsatz auf. Nach dem Verhandlungsgrundsatz obliegt es den Parteien, Tatsachen und Beweise, die sie für entscheidungserheblich halten, in das Verfahren einzubringen. Andere als die so eingeführten Tatsachen und Beweise darf das Gericht im Zivilverfahren nicht berücksichtigen.6 Von dieser Festlegung des Streitstoffs zu trennen ist der Dispositionsgrundsatz, nach dem die Parteien über den Streitgegenstand frei verfügen.7 Dies äußert sich beispielsweise in der Regel ne eat ultra petita partium, die in § 308 ZPO normiert ist.8 Das Gericht erhielt unter der CPO 1877 keine direkten Möglichkeiten, Umfang und Inhalt des Verfahrens zu beeinflussen. Eingeschränkt lenken konnte es den Streitstoff durch ein Fragerecht bei unklaren Parteivorträgen.9 Bald stellte sich heraus, dass diese Vorgehensweise, die dem liberalen Charakter der CPO 1877 entsprechend auf die freie Verhandlung und Prozessführung der Streitparteien setzte, die mündliche Verhandlung überforderte und das Verfahren verlangsamte. Der Gesetzgeber steuerte in der Verordnung vom 13. Februar 192410 gegen, indem er dem Verhandlungsgrundsatz mit der Vorgängernorm zu § 139 Abs. 1 ZPO eine richterliche 3
Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 501. Für komplizierte Rechnungssachen (§§ 313 ff. CPO) war ein vorbereitendes Verfahren vor einem beauftragten Richter vorgesehen, der auch ausnahmsweise für die Beweisaufnahme (§ 326 CPO) eingesetzt werden konnte, s. Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 501. 5 Die Parteien mussten die Ansetzung der mündlichen Verhandlung beantragen und konnten Verfahrensfristen und die Aufhebung von Terminen beeinflussen, vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 353. 6 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77, Rn. 7. Ausnahmen sind gem. § 291 ZPO offenkundige Tatsachen, die keines Beweises bedürfen. Über einmal eingebrachten Tatsachenstoff unterliegen die Parteien gem. § 138 Abs. 1 ZPO einer Erklärungs- und Wahrheitspflicht, s. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76, Rn. 2. 7 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76, Rn. 1. 8 § 279 CPO. Der Entwurf der CPO ordnete in § 269 die Regel ne ultra petita noch dem Verhandlungsgrundsatz zu, s. Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 285. Zur Ablösung des Dispositionsgrundsatzes vom Verhandlungsgrundsatz vgl. Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 21. 9 § 130 CPO. 10 Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13.02.1924 (Tag der Ausgabe 22.02.1924), RGBl. 1924 I, S. 135–150. 4
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„Frage-, Hinweis- und Erörterungspflicht“11 entgegensetzte. Weitere Einschränkungen erfuhr der Verhandlungsgrundsatz in der Novelle vom 27. Oktober 193312. Sie setzte einen vorbereitenden Richter ein, der den Rechtsstreit „verhandlungsreif“ machen sollte, bevor in der Hauptverhandlung über ihn entschieden wurde.13 Diese Maßnahme brachte das Problem mit sich, dass im Vorfeld der Hauptverhandlung viele einzelrichterliche Termine aneinandergereiht wurden, die den Verfahrensablauf zerfransten.14 Um wieder zur Konzentration auf die Hauptverhandlung zu gelangen, lenkte die Novelle vom 3. Dezember 1976 den Verfahrensablauf dahingehend, dass der Rechtsstreit möglichst in einem einzigen mündlichen Haupttermin verhandelt, gleichzeitig aber durch ein schriftliches Vorverfahren oder einen frühen ersten Termin umfassend vorbereitet werden sollte.15 Diese Struktur bilden die §§ 272 ff. ZPO ab, so dass das Verfahren in die Phasen der schriftlichen Einleitung, der Vorbereitung und der Hauptverhandlung aufgeteilt ist. Die Novelle vom 27. Juli 2001 führte zusätzlich die Stufe der Güteverhandlung ein, die gemäß § 278 ZPO der Hauptverhandlung vorgeschaltet ist. Das Ziel vor Augen, ein richterliches Urteil entbehrlich zu machen, unterstützt das Gericht damit die Verständigung der Parteien über ihren Streit in einem der mündlichen Verhandlung vorgeschaltetem Gütetermin gemäß § 278 Abs. 2–5 ZPO oder über einen schriftlichen Vergleichsvorschlag gemäß § 278 Abs. 6 ZPO.16 Auch das Vorverfahren unter richterlicher Leitung belässt den Parteien die Disposition über den Inhalt des Verfahrens, denn die §§ 273 ff. ZPO dienen der Vorbereitung der Hauptverhandlung, nicht einer Vorfestlegung 11
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77, Rn. 16. Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27.10.1933, RGBl. 1933 I, S. 780–788. 13 Vgl. §§ 348 ff. ZPO in der Fassung nach der Verordnung von 1924 und der Novelle von 1933; Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 501. 14 Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 501. 15 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 94, Rn. 8; Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 502. 16 Weitere mögliche Formen der Streitbeilegung ohne richterliche Entscheidung sind der Vergleich im schriftlichen Verfahren gem. § 278 Abs. 6 ZPO, die Klagerücknahme gem. § 269 ZPO, die Erledigungserklärung in der Hauptsache gem. § 91a ZPO, der Klageverzicht gem. § 306 ZPO oder das Anerkenntnis gem. § 307 ZPO, s. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95 Rn. 5 f. Auch eine außergerichtliche Streitschlichtung, für die sich in vielen Rechtsbereichen feste Schlichtungsstellen etabliert haben, vgl. für die wichtigsten Branchen Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 174 Rn. 10, kann das Gericht den Parteien gem. § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO vorschlagen. In einigen Fällen ist ein außergerichtlicher Schlichtungsversuch seit dem Jahr 2000 sogar obligatorisch für die Zulässigkeit der Klageerhebung, s. § 15a EGZPO, beispielsweise in Bayern umgesetzt durch das Bayerische Schlichtungsgesetz vom 25.04.2000, BayGVBl. Nr. 11/2000, S. 268–272. 12
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des Streitstoffs durch den beauftragten Richter des Vorverfahrens. Das Eventualprinzip kennt die ZPO nicht mehr. Die Einheit der mündlichen Verhandlung und der Verzicht der ZPO auf das Beweisinterlokut bringen es mit sich, dass die Parteien theoretisch bis zum Schluss des letzten mündlichen Termins neue Tatsachen vortragen dürfen.17 Dennoch dient das Vorverfahren gerade der Aussortierung des Unstreitigen, damit die entscheidungsbedürftigen Streitpunkte bei Eröffnung der Hauptverhandlung bereits klar sind. Die Lösung der ZPO sind Präklusionsvorschriften, bei deren Anwendung der Richter einen Ermessensspielraum hat. Diese wurden in der Geschichte der ZPO immer weiter ausgebaut. Ihre Ursprungsfassung sah lediglich negative Kostenfolgen vor, wenn das nachträgliche Vorbringen von Angriffs- oder Verteidigungsmitteln die Erledigung des Rechtsstreits verzögerte (§ 251 Abs. 2 CPO), sowie die Zurückweisung von Verteidigungsmitteln des Beklagten bei Verschleppungsabsicht (§ 252 CPO).18 Die Novelle von 1933 verschärfte die Regeln bei Versäumung von Parteihandlungen, indem sie für eine Zurückweisung nicht mehr Verschleppungsabsicht oder Nachlässigkeit forderte.19 Mit der Novelle von 1976 ging eine allgemeine Pflicht der Parteien zur Prozessförderung einher, die vor allem auf rechtzeitiges Vorbringen abstellt (vgl. § 282 ZPO). Missachten die Parteien diese Pflicht, oder halten sie vom Gericht gesetzte Fristen nicht ein, so geben Verspätungsvorschriften dem Gericht ein Ermessen, das Begehren der Parteien zurückzuweisen.20 Allgemeine Versäumungsfolge ist der Ausschluss der vorzunehmenden Prozesshandlung gemäß § 230 ZPO. Folglich findet im Verfahren nach der ZPO zwar keine Vorfestlegung des Streitstoffes durch das Vorverfahren statt, Präklusionsvorschriften sorgen aber dafür, dass Parteihandlungen möglichst früh geltend gemacht werden müssen und ihre erstmalige Einbringung in der mündlichen Hauptverhandlung erhöhten Begründungsanforderungen unterliegt. Das Gericht ist angehalten, das Verfahren aktiv durch Güteverhandlung und schriftliche Vergleichsvorschläge zu einer gütlichen Einigung zu führen.
17
Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 356. Die Verordnung von 1924 weitete diese Regelung aus, vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 367. 19 Vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 369. 20 Beispielsweise § 296 ZPO. 18
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b) Inhalt der Klage Die Klage im deutschen Zivilverfahren ist der Antrag des Klägers auf gerichtlichen Rechtsschutz durch Erlass eines Urteils.21 Gemäß § 253 Abs. 1 ZPO erhebt der Kläger die Klage durch Zustellung der Klageschrift. Die notwendigen gesetzlichen Anforderungen an die Klageschrift sind bis heute im Wortlaut identisch geblieben.22 In Bezug auf den Streitgegenstand sind § 230 Nr. 2 CPO beziehungsweise § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO relevant, die einstimmmig „die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs, sowie einen bestimmten Antrag“ fordern. Einigkeit herrscht darüber, dass die Angabe des Gegenstandes neben dem Antrag keine eigenständige Bedeutung besitzt, sondern gerade im Antrag enthalten ist.23 Der Kläger muss deutlich machen, welche Entscheidung er begehrt. Dies ist bereits Aufgabe des Antrags, in dem der Kläger die Verurteilung zu einer Leistung, die Feststellung oder die Gestaltung eines Rechtsverhältnisses fordert. Der Antrag ist bestimmt, wenn Art und Umfang des begehrten Rechtsschutzes erkennbar sind.24 Wann die Bestimmtheitsanforderungen erfüllt sind, beurteilt die Rechtsprechung einzelfallabhängig, indem sie das Interesse des Klägers an effektivem Rechtsschutz und das Interesse des Beklagten an Rechtssicherheit und der Ausschöpfung aller seiner Verteidigungsmöglichkeiten abwägt.25 Die begehrte Rechtsfolge muss sich aus einem bestimmten Tatsachenkomplex ergeben. Daraus folgt, dass der Grund des erhobenen Anspruchs derjenige Lebenssachverhalt ist, der den Antrag des Klägers in tatsächlicher Hinsicht trägt.26 Die Klageschrift dient auch dazu, den durch den Antrag eingebrachten Anspruch in tatsächlicher Hinsicht von gleichgelagerten Rechtsfolgebegehren zu unterscheiden. Dazu muss klar sein, welche Angaben für diese Unterscheidung notwendig sind. Heute ist man übereingekommen, dass eine rein rechtliche Qualifizierung des klägerischen Begeh21 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 88, Rn. 2. 22 § 230 CPO wurde durch die Novelle von 1898 inhaltlich unverändert zu § 253 ZPO, s. RGBl. 1898 I S. 457. 23 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 16; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 22. „Gegenstand“ meint den Inhalt des begehrten Anspruchs, ist aber nicht mit dem Streitgegenstand zu verwechseln, s. Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 24. 24 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 26. 25 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 26 mit Verweis auf BGH NJW 2003, S. 668, 669. 26 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 25. Der Grund des erhobenen Anspruchs wird auch Klagegrund genannt. Er darf nicht verwechselt werden mit dem Rechtsverhältnis zwischen den Parteien, denn dieses wird aus den Tatsachen, die den Klagegrund bilden, erst hergeleitet, s. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 17.
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rens nicht den Grund der Klage ausmacht.27 In der Klageschrift sind weder rechtliche Ausführungen erforderlich noch muss sich der Kläger auf eine konkrete Rechtsnorm berufen.28 Es würde beispielsweise nicht genügen, wenn der Kläger in seiner Klageschrift einen Anspruch „aus Darlehen gemäß § 488 BGB“ geltend macht.29 Die rechtliche Einordnung der Klage obliegt vielmehr gemäß dem Satz iura novit curia dem Gericht. Der daraus resultierende Schluss, dass erst Tatsachenangaben in der Klageschrift den vom Kläger geltend gemachten Anspruch identifizierbar machen, darf nicht zu der Annahme verleiten, die Klageschrift müsse den der Klage zugrundeliegenden Lebenssachverhalt bereits lückenlos enthalten. Systematische und verfahrenslogische Gründe sprechen gegen eine solche Substantiierungspflicht. Sie würde konsequenterweise bedeuten, dass zur zulässigen Erhebung der Klage auch ihre Schlüssigkeit gehörte.30 Die ZPO gesteht dem Kläger aber an einigen Stellen, beispielsweise in den §§ 139, 264 Nr. 1 und 282 ZPO, zu, die Klage nachzubessern, so dass es auf eine schlüssige Klage im Zeitpunkt ihrer Erhebung nicht ankommen kann. Eine Schlüssigkeitsprüfung nimmt das Gericht ohnehin nicht schon nach Einreichung der Klageschrift vor, da die ZPO unter Beachtung des Mündlichkeitsgrundsatzes nur das in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Material als Urteilsgrundlage anerkennt.31 Der einleitende Schriftsatz des Klägers soll gerade nicht die Verhandlung im mündlichen Termin vorwegnehmen, sondern lediglich das Gericht und den Beklagten wissen lassen, welche Streitsache anhängig gemacht werden soll.32 Will der Gläubiger in dem Beispiel des Darlehensvertrags eines von mehreren Darlehen einklagen, dann müsste er den Betrag genau27 Dies war nach Einführung der CPO 1877 umstritten. Nach der Individualisierungstheorie genügten Angaben, die das im Streit stehende Rechtsverhältnis kennzeichneten. Die Substantiierungstheorie dagegen forderte, dass Tatsachenangaben die Klage schlüssig, das heißt begründet erscheinen ließen, vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S.393 f.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 52; Schlinker, Litis Contestatio, S. 532 f. 28 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 19; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 25; Schlinker, Litis Contestatio, S. 603. 29 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 52. 30 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 21; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 53 f. 31 Schmidt, Die Klagänderung, S. 153 f.; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 349 f. Würde man die Klageschrift auf ihre Schlüssigkeit hin beurteilen, dann gäbe es keine klare Unterscheidung zwischen der Zulässigkeit einer Klage und ihrer Begründetheit. Eine Klage ist nur dann als unzulässig abzuweisen, wenn die Klageschrift überhaupt keine Tatsachenangaben enthält. Mangelnde Substantiierung führt erst im Zuge der mündlichen Verhandlung dazu, dass das Gericht die Klage als unbegründet abweisen wird, vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 22; Stein/Jonas/ Roth, Kommentar, § 253, Rn. 53 f. 32 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 19.
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er identifizieren. Er könnte dies durch eine Beschreibung des Zeitpunkts, Ortes oder Zwecks des Darlehens in der Klageschrift erreichen. Angaben zur Fälligkeit des Darlehens müsste er dagegen erst im Rahmen der Verhandlung machen, um die Klage begründet erscheinen zu lassen.33 Der Klagegrund ist daher ausreichend umschrieben, wenn er den Lebenssachverhalt von anderen abgrenzbar macht und diese Tatsachen geeignet sind, den prozessualen Anspruch des Klägers zu begründen.34 2. Entwicklung vom Klagerecht zum eigenständigen prozessualen Anspruch Aus dem Dispositionsgrundsatz und den Regeln zur Klageschrift geht hervor, dass der Kläger den Streitgegenstand in das Verfahren einbringt. Welchen Inhalt der Gesetzgeber dem Streitgegenstand beigemessen hat, lässt sich aus dem Gesetzestext nicht sicher schließen. Ihn zu präzisieren oblag der Wissenschaft. a) Anerkennung eines eigenständigen materiellen Anspruchs durch Windscheid Die historische Rechtsschule war noch davon ausgegangen, dass Streitsache des Zivilverfahrens ein besonderes materielles Klagerecht sei.35 Gegen diese „Metamorphose“ des subjektiven Rechts in ein Klagerecht wandte sich Windscheid im Jahr 1856.36 Das Klagerecht sei nicht von einer vorhergehenden Verletzung des subjektiven Rechts abhängig, ebensowenig dürfe man die Frage nach dem subjektiven Recht an der Möglichkeit der prozessualen Geltendmachung orientieren. Windscheid erklärte diese überkommene Orientierung aus der Stellung der actio im römischen Prozessgefüge. Wenn auch den Römern der Gedanke, dass es Rechte als obligationes unabhängig von einem Gerichtsverfahren gebe und dass sich nach diesen Rechten die Rechtsordnung aufbaute, nicht unbekannt war, widersprach er dennoch ihrer Grundvorstellung.37 Die römische Rechtsordnung habe dem Individuum nicht gesagt, „du hast dießes und dießes Recht, sondern: du hast dieße und dieße Actio.“38 Windscheid wies darauf hin, dass im antiken römischen Recht obligatio und actio nicht zwangsläufig in einer Reihenfolge gedacht wurden wie in 33
Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 52. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 95, Rn. 21; MüKo/Becker-Eberhard, § 253 Rn. 78. 35 Vgl. o. S. 57 ff. 36 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts. 37 Boor, Gerichtsschutz und Rechtssystem, S. 18; Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 3. 38 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 3. 34
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Savignys System, nach dem erst ein subjektives Recht bestehe und sich aus dessen Verletzung in einem zweiten, darauffolgenden Schritt das Klagerecht ergebe. Für die antiken Römer sei die actio „nichts Abgeleitetes, sie ist etwas Ursprüngliches und Selbstständiges“39. Da das Denken in Aktionen das Denken in materiellrechtlichen Vorstellungen ersetzt habe, seien obligatio und actio in aller Regel gleichbedeutende Begriffe gewesen.40 Im Mittelpunkt der zeitgenössichen Betrachtung stehe dagegen das materielle subjektive Recht, so dass das Klagerecht des 19. Jahrhundert, das „nichts als ein Schatten des Rechts“41 sei, anders als seinerzeit die römische actio seine eigenständige Bedeutung verloren habe.42 Folglich lehnte Windscheid das Klagerecht ab und ersetzte es durch den Begriff des „Anspruchs“. So werde terminologisch sichtbar, dass Ausgangspunkt des Rechtsbewusstseins die materielle Rechtsregel sei: „Jemand hat eine Actio, heißt, in die Sprache unserer Rechtsanschauung, für welche die gerichtliche Verfolgbarkeit erst die Consequenz des Rechts ist, übersetzt: Jemand hat einen rechtlich anerkannten Anspruch. Oder geradezu: Jemand hat einen Anspruch.“43 Die Begriffe actio und Anspruch seien damit noch keineswegs gleichzusetzen: „Man darf nicht sagen, die römische actio sei unser Anspruch; in dem Begriffe actio wird ein Element mitgedacht, welches in unserem Begriffe nicht enthalten ist, das Element des Gerichts, des gerichtlichen Gehörs, und des gerichtlichen Schutzes, der Möglichkeit der Erlangung richterlicher Zuerkennung für das Begehren, welches man hat.“44
Windscheid plädierte dafür, den materiellen Anspruch zunächst vollkommen von der Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung zu trennen.45 Wenn der Schuldner der materiellrechtlichen Verpflichtung nicht nachkomme, könne sich der Gläubiger an den Staat, mithin das Gericht, wenden.46 Das Klagerecht als unnötiges Zwischenglied zwischen subjektivem Recht und seiner gerichtlichen Durchsetzung spielte hierbei keine Rolle mehr. Die Erkenntnisse von Windscheid bedeuteten, dass ein Anspruch für seine rechtliche Relevanz keinen Gerichtsprozess benötigte, sondern schon nach Begründung eines Rechtsverhältnisses bestand, und zwar auch in ge39
Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 3. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488. 41 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 229. 42 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69. 43 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 6. 44 Zitiert nach Wach, Feststellungsanspruch, S. 92. 45 Laut Wach, Feststellungsanspruch, S. 91 hat Windscheid „dem Begriff des Anspruchs gegen die für unser Recht unverwendbare actio den Platz erobert.“ 46 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 3: „Actio ist die Befugniß, seinen Willen durch gerichtliche Verfolgung durchzusetzen.“ 40
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richtlich durchsetzbarer Form. Dies entspricht dem heutigen Verständnis des subjektiven Rechts. Schon ein begründetes subjektives Recht impliziert die Befugnis, Zwang auszuüben.47 Dem Recht entspricht auf Seiten des Schuldners eine Pflicht, die Leistung zu erbringen. Der Prozessbeginn als Geburtshelfer des durchsetzbaren Anspruchs hatte nach Windscheid endgültig ausgedient, da derselbe Anspruch bereits vor dem Prozess bestand oder nicht bestand.48 Verglichen mit Savigny, der unter dem Dach der actio dem materiellen Privatrecht sowohl das materielle Wiederherstellungsrecht als auch das subjektiv-öffentliche Recht auf Klage zuteilte,49 griff Windscheid das materielle Wiederherstellungsrecht heraus und identifizierte es als Anspruch. Indem er die prozessualen Elemente der römisch-rechtlichen actio ausschied, gewann er den Begriff des Anspruchs.50 Insgesamt sollte dadurch die prozessual orientierte Aktionenterminologie des gemeinen Rechts ersetzt werden durch die Sprache eines materiellrechtlichen Anspruchsdenkens.51 Windscheids Neuausrichtung des materiellrechtlichen Anspruchs führte ihn aber nicht zu einer Neubetrachtung des Verhältnisses von Privat- und Prozessrecht oder gar zu einer eigenständigen Kategorie eines prozessualen Anspruchs. Im Hinblick auf die Frage, was denn nun statt der materiellrechtlichen actio (des Klagerechts) Gegenstand des Gerichtsverfahrens sei, ging er davon aus, dies sei der materiellrechtliche Anspruch selbst.52 Damit hatte Windscheid zwar den Schritt von der actio zum Anspruch gewagt, verharrte aber bei dessen materiellrechtlicher Bedeutung. Dem Verfahrensrecht gestand er noch keinen eigenständigen Anspruchsbegriff zu. b) Anspruchsbegriff der Reichscivilprozeßordnung von 1877 Die CPO 1877 ließ die aktionenrechtliche Orientierung der historischen Rechtsschule hinter sich, verwendete den Begriff der actio nicht mehr und unterschied stattdessen Klagen nur noch nach dem Klageziel in Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklagen.53 Die Systematik des neuen Verfah47
Zum implizierten Leistungszwang von subjektiven Rechten vgl. Unberath, Die Vertragsverletzung, S. 195 ff. 48 Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 5 f. 49 Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 530. 50 Boor, Gerichtsschutz und Rechtssystem, S. 16. 51 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488; Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 230: „Sie [die Wissenschaft] muß das, was in der Sprache der Actionen ausgedrückt ist, in die Sprache der Rechte übersetzen.“ 52 Vgl. Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, S. 134 ff. 53 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 82.
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rensrechts ließ also das materielle Rechtsverhältnis zunächst außen vor und unterschied nur noch nach den vom Kläger erstrebten Rechtsschutzhandlungen. In der CPO 1877 tauchte erstmals der Begriff „Streitgegenstand“auf, allerdings in (bis heute) nicht definierter Form. Ebenfalls fehlte eine Definition des Anspruchsbegriffs, denn der Gesetzgeber ging davon aus, dass die CPO 1877 als Privatrechtsschutzordnung nicht von der ihr zugrundeliegenden Privatrechtsordnung zu trennen und somit der Anspruchsbegriff mit dem materiellrechtlichen Anspruch des Privatrechts identisch sei; das machte eine eigenständige prozessuale Definition des Begriffs aus Sicht der Verfasser der CPO 1877 entbehrlich.54 Damit übertrug die CPO 1877 den Anspruchsbegriff, wie er von Windscheid entwickelt worden war und sich seither in der Rechtswissenschaft durchgesetzt hatte, auf das Zivilverfahren.55 Auch bei den Vorschriften, die eine Abgrenzung des Klageinhalts erfordern, wie der Kumulationsvorschrift des § 260 ZPO, der Regelung der Rechtshängigkeit gemäß § 281 ZPO und der Grundregel für die materielle Rechtskraft gemäß § 322 ZPO, setzten die Verfasser der CPO 1877 den zivilrechtlichen Anspruch voraus.56 Nach dem Inkrafttreten des BGB, das den materiellrechtlichen Anspruch in § 194 I BGB legaldefiniert, veränderte man den Wortlaut der ZPO nicht. Dementsprechend gebraucht sie bis heute „Anspruch“57, „Streitsache“58 und „Streitgegenstand“59 als Synonyma. Ein Grund für die Konstruktion der vereinheitlichten deutschen Verfahrensordnung war ihre Fokussierung auf die Leistungsklage, bei der die materiellrechtliche Deutung des Anspruchs im Regelfall zielführend war.60 Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich aber bei Feststellungsund Gestaltungsklagen Probleme ergaben.61 Hier macht der Kläger keinen Anspruch im Sinne von § 194 I BGB geltend, so dass kein Streitgegenstand im Sinne der materiellrechtlichen Sichtweise des historischen Ge54
Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 482; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253 Rn. 7; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92 Rn. 8. 55 Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 255 ff.; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 24 f. Beispielsweise setzt Schmidt, Die Klagänderung, S. 204, das „durch seinen materiellen Inhalt individualisierte subjektive Privatrecht“ mit dem „,Streitgegenstand‘, ,Anspruch‘ im Sinne der CPO“ gleich. 56 Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 273. 57 Beispielsweise §§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 260, 306, 307, 322 Abs. 1 ZPO. 58 Beispielsweise § 261 Abs. 1 ZPO. 59 Beispielsweise §§ 59, 81, 83 Abs. 1 ZPO. 60 Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 273 f.; Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 82. 61 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253 Rn. 8.
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setzgebers entstehen kann.62 Der materielle Anspruchsbegriff ist daher nicht ohne weiteres auf die Gesamtsystematik der ZPO übertragbar. Erhebliche prozessuale Hürden bestehen auch bei materieller Anspruchskonkurrenz, da immer dann, wenn sich ein Anspruch aus unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen ergibt, trotz eines einheitlichen Sachverhalts und Anspruchsziels mehrere Streitgegenstände vorlägen. Paradebeispiel ist der Straßenbahnunfall, bei dem der verletzte Fahrgast Schadensersatzsansprüche aus Vertragsverletzung, unerlaubter Handlung sowie Gefährdungshaftung herleiten kann.63 Ebenso unbrauchbar ist die Gleichsetzung des Streitgegenstandes mit dem materiellen Anspruch bei unbegründeten Klagen, denn diese hätten nach der Konzeption der CPO 1877 strenggenommen nie einen Streitgegenstand gehabt. Schließlich hätte eine solche Gleichsetzung bedeutet, dass der Kläger den streitentscheidenden materiellrechtlichen Anspruch selbst in den Prozess hätte einführen müssen und damit der seit dem gemeinen Prozess geltende Grundsatz außer Kraft gesetzt worden wäre, nach der ein Kläger die seiner Klage zugrundeliegenden materiellen Rechtsregeln gerade nicht genau bezeichnen musste.64 Daraus ergibt sich, dass der historische Gesetzgeber für die Funktion der actio, die eine angemessene Verbindung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht herstellen sollte, noch kein Äqivalent gefunden hatte. Dem Anspruch der CPO 1877 fehlte der „spezifisch prozessuale Akzent“65, der ihn befähigt hätte, auf prozessuale Probleme, die die Nahtstelle zum materiellen Recht betrafen66, zu reagieren und alle Klagearten gleichermaßen zu erfassen. c) Herausbildung eines eigenständigen prozessualen Anspruchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts Die Problematik eines ausschließlich materiellrechtlich verstandenen Anspruchbegriffs im Zivilverfahren blieb in der Wissenschaft nicht ohne Gegenstimmen. In unmittelbarer Antwort an Windscheids Anspruchsterminologie griff Muther wieder auf das Klagerecht zurück, das aber seiner Ansicht nach ausschließlich prozessuale Bedeutung hatte. Es handele sich um 62 Dass sich der historische Gesetzgeber dieses Problems auch ansatzweise bewusst war, zeigt seine Bewertung der Feststellungsklage. Die Gesetzsredaktoren gingen davon aus, Gegenstand der Feststellungsklage sei ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Anerkennung des Rechtsverhältnisses, vgl. Wach, Feststellungsanspruch, S. 76; vgl. u. S. 113 ff. 63 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92, Rn. 9; Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 681 f.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 9. 64 Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488. 65 Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 82. 66 Dies sind insbesondere Rechtshängigkeit, objektive Klagehäufung und materielle Rechtskraft.
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das „Recht des in seinen Rechten Verletzten auf Staatshilfe“67. Mit seiner Deutung der actio setzte Muther nun einen extrem prozessualen Schwerpunkt und nahm damit den genauen Gegenpol zu Windscheids materiellrechtlichem Ansatz ein. Für eine klare Trennung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht bot sich die Bestimmung eines eigenständigen Anspruchs im Prozessrecht an. Dessen Existenz deutete erstmals Wach an: „Neben dem materiellen Begriffe [des Anspruchs] geht einher ein prozessualer, nach welchem Anspruch das Beanspruchte oder das Beanspruchen, den Klagantrag, bedeutet.“68 Aus der Erkenntnis, dass Rechtsbegründung und Rechtsdurchsetzung voneinander zu trennen sind, stellten Wach und dessen Ideen ausbauend Hellwig69 die Idee des Zivilverfahrens als Rechtsschutzform so weit in den Vordergrund, dass sie daraus ein subjektives öffentliches Recht, den „Rechtsschutzanspruch“ herleiteten.70 Dieser richte sich gegen den Staat, der das Rechtsschutzinteresse des Klägeres in ordnungsgemäßer Weise befriedigen müsse, sowie gegen den Beklagten, der die Rechtshandlung zu dulden habe.71 Letztlich setzte sich weder die prozessual positionierte actio nach Muther noch die Deutung des Anspruchs als subjektiv-öffentliches Recht auf Rechtsschutz in der Lehre durch, da diese Ansätze keine gangbare Brücke zwischen Privat- und Prozessrecht, wie es zuvor Aufgabe der actio gewesen war, schlagen konnten.72 Die zwischen materieller und prozessualer Seite hin- und herspringenden Extrempositionen der rechtswissenschaftlichen Diskussion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten aber zu der Erkenntnis, dass der materiellrechtliche Anspruch des Privatrechts nicht ohne weiteres auf das Zivilverfahren übertragbar war. Den Kommentatoren der ZPO am Übergang zum 20. Jahrhundert war bewusst, dass ein Prozessrechtsverhältnis auch entstehen können muss, ohne dass dem Kläger das in der Klageschrift behauptete Privatrecht materiellrecht-
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Muther, Lehre von der Römischen Actio, S. 47. Wach, Handbuch, S. 296. 69 Hellwig, Anspruch und Klagrecht, vor allem S. 145 ff. 70 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 43 und 46. 71 Vgl. Wach, Handbuch, S. 19 ff., 293 ff.; Wach, Feststellungsanspruch, S. 87 ff. 72 Vgl. Stein/Jonas/Brehm, Einl., Rn. 239 ff. m. w. N. – Die Lehre vom Rechtsschutzanspruch wirkt zwar im heutigen Prozess im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses als allgemeine Prozessvoraussetzung nach, als subjektiv-öffentliches Recht auf Rechtsschutz kann sie aber keinen wesentlichen Beitrag zur modernen Streitgegenstandslehre im Zivilverfahrensrecht leisten, vgl. Löwisch, Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 83 ff., insbesondere S. 86 f. 68
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lich zusteht73; denn ob ein Anspruch tatsächlich besteht, erkennt der Richter erst im Laufe des Verfahrens und entscheidet dies durch sein Urteil.74 Den Impuls für einen eigenständigen Anspruch im Sinne des Verfahrensrechts setzte Wach mit seinen Überlegungen, wie man die Feststellungsklage in das System der CPO 1877 integrieren könnte.75 Die frühen Kommentatoren der CPO 1877 hatten das Problem, dass bei der Feststellungsklage ein subjektives Recht überhaupt nicht in Streit stand, noch umgangen, indem sie annahmen, dass jedes Rechtsverhältnis zugleich ein Recht auf seine Anerkennung begründe. Es war dieses Recht auf Anerkennung, das die Feststellungsklage schützte, so dass man einen materiellrechtlichen Anspruch nicht benötigte.76 Wach folgte diesen Ausweichbewegungen nicht, sondern machte die Implementierbarkeit der Feststellungsklage im System der CPO 1877 davon abhängig, dass der materiellrechtliche Anspruch nicht mit dem Streitgegenstand gleichgesetzt werde.77 Durch das Bemühen um eine Einbindung des Anspruchsbegriffs in die Systematik der vereinheitlichten Verfahrensordnung vollzog die Rechtswissenschaft damit einen Dreierschritt von der Neubewertung der actio in materiellrechtlichem Gewand über den materiellen Anspruch hin zum eigenständigen prozessualen Anspruch. Aus der sich anschließenden Suche nach einem prozessualen Ansatz für die Festlegung des Streitgegenstandes ergaben sich die modernen Streitgegenstandslehren. 3. Kontrast zwischen materiellen und prozessualen Ansätzen in der deutschen Streitgegenstandslehre Es entspricht heute der ständigen Rechtsprechung des BGH, dass „mit der Klage nicht ein bestimmter materiell-rechtlicher Anspruch geltend gemacht [wird]. Gegenstand des Rechtsstreits ist vielmehr der als Rechtsschutzbegehren oder Rechtsfolgebehauptung aufgefasste eigenständige prozessuale Anspruch.“78 Da genaue Aussagen über die Elemente des 73
Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 551, Fn. 91. Vgl. Savigny, System, Bd. VI, S. 2. Wetzell, System, S. 36, 38, 143 f., hebt stets die Behauptung eines Rechts hervor, s. Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Verfahrensrecht, S. 58; Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 530. 75 Zu Wachs herausgehobenen Beitrag in der freilich schrittweise vollzogenen Trennung von Privatrecht und Prozessrecht vgl. Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, S. 135, 158 ff. 76 Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 257: „Denn wenn das Gesetz neben der Klage auf die dem Rechtsverhältnisse entsprechende Leistung eine Klage auf Feststellung einräumt, so erkennt es damit an, daß aus dem Rechtsverhältnisse neben dem Anspruch auf Leistung ein weiterer selbstständig verfolgbarer Anspruch auf Feststellung erwächst.“ 77 Vgl. Wach, Feststellungsanspruch, S. 76 ff.; Wach, Handbuch, S. 293 ff.; Schlinker, Litis Contestatio, S. 599. 78 BGH NJW 2007, S. 2560, 2561. 74
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Streitgegenstands in der ZPO fehlen, ist nach wie vor umstritten, wie sich der prozessuale Anspruch als Streitgegenstand79 genauer bestimmen lässt. Angesichts der Fülle an Literatur zur deutschen Streitgegenstandslehre ist es nicht Ziel der folgenden Darstellung, die bisherige Diskussion um die Bestimmung des eigenständigen prozessualen Anspruchs im Detail wiederzugeben.80 Es geht um eine Bestandsaufnahme mit dem Ziel, ein Resümee zu ziehen und die heutige Bedeutung der Problematik einzuordnen. a) Neue materiellrechtliche Ansätze Die uneingeschränkte Gleichsetzung des Streitgegenstands mit dem materiellen Anspruch nach dem Verständnis des historischen Gesetzgebers wird heute nicht mehr vertreten.81 Gleichwohl stellen manche Autoren die Eigenständigkeit eines prozessual definierten Streitgegenstands in Frage und nähern sich der Problematik wieder aus materiellrechtlicher Richtung.82 Dahinter steht das Bestreben, die zivilrechtliche Dogmatik mit dem Verfahrensrecht in Einklang zu bringen.83 In diese Richtung geht auch der Ansatz, der für die Abgrenzung des prozessualen Anspruchs das Recht der Abtretung heranzieht. Das Verfügungsobjekt im Sinne des Zessionsrechts bildet danach den Streitgegenstand.84 Den neuen materiellrechtlichen Lehren ist gemein, dass der Kläger nach ihnen im Prozess nur einen materiellrechtlichen Anspruch geltend macht, der mehrfach begründet ist.85 Die Entscheidung, ob ein oder mehrere Streitgegenstände gegeben sind, richtet sich dann nach den Rechtsfolgen. Sind bei einem Lebenssachverhalt, der den Tatbestand mehrerer Anspruchsgrundlagen verwirklicht, die Rechtsfolgen gleich, handelt es sich
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Prozessualer Anspruch und Streitgegenstand sind Synonyma, s. Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 3; Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl., Rn. 14. 80 Die Facetten der Diskussion wurden schon früh unübersichtlich. Im Jahr 1955 schrieb Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 272, es gebe „unter den lebenden Autoren nicht zwei […], deren Ansichten völlig übereinstimmen […]“. 81 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 193. 82 Einen Überblick geben Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 65 ff.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 31 ff.; Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 193. 83 Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 283; Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 800. 84 Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 272 ff.; Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 803 ff.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 32. 85 Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 283; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 35.
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um einen Streitgegenstand; sind die Rechtsfolgen verschieden, so liegen mehrere Streitgegenstände vor.86 b) Prozessuale Ansätze Die prozessualen Theorien betonen die Eigenständigkeit der zivilprozessualen Systematik und bilden den Streitgegenstand losgelöst von materiellrechtlichen Normen. Ausgangspunkt ist bei allen Theorien der Antrag des Klägers, mit dem dieser sein Klageziel bezeichnet. Zusätzlich zum klägerischen Antrag betrachtet der zweigliedrige Ansatz, den Rosenberg in der 1. Aufl. seines 1927 erschienenen Lehrbuchs zum Zivilprozessrecht einführte, für die Bestimmung des Streitgegenstandes den Lebenssachverhalt. Er liegt dem Antrag zugrunde und wird auch Klagegrund genannt.87 Im Zuge der Weiterentwicklung dieser zweigliedrigen Lehre durch Habscheid88 wurde der Lebenssachverhalt als „Grund des erhobenen Anspruchs“ gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO dabei zum gleichwertigen Bestandteil des Streitgegenstandes neben dem Klageantrag selbst.89 Die zweigliedrige prozessuale Lehre führt dazu, dass ein einzelner prozessualer Anspruch besteht, wenn sich ein Antrag auf einen Sachverhalt stützt. Mehren sich Antrag oder vorgetragener Sachverhalt oder gar beide gleichzeitig, dann führt das zu mehreren prozessualen Ansprüchen.90 Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er im Falle materiellrechtlicher Anspruchskonkurrenz ohne Umbildung des Anspruchsbegriffs im Sinne des § 194 Abs. 1 BGB zu einem einzigen prozessualen Anspruch findet. Hat der Kläger im Beispiel des Straßenbahnunfalls verschiedene materiellrechtliche Ansprüche aus Vertrag, Delikt und Gefährdungshaftung, so klagt er dennoch mit nur einem Antrag unter Behauptung eines Sachverhalts, so dass nach der zweigliedrig prozessualen Lehre nur um einen Streitgegenstand gestritten wird. Die auf Schwab91 zurückgehende Lehre vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff konzentriert sich ganz auf das prozessuale Begehren, den Klageantrag. Vor allem an der Konstellation der Klagehäufung will sie 86
Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 137. Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 206 ff.; Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 183 ff.; MüKo/Becker-Eberhard, Vor §§ 253 ff. Rn. 32 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92 Rn. 10. 88 Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 206 ff., 221 f.; Stein/Jonas/ Roth, Kommentar, 22. Aufl., Rn. 35, betont daneben die Bedeutung der Monographie von Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß. 89 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 682. Dagegen sah Rosenberg den Sachverhalt noch nicht als gleichwertiges Kriterium neben dem Antrag an, vgl. Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 18. 90 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 682. 91 Vgl. Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 183 ff. 87
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aufzeigen, dass es zur Abgrenzung von Klagen nur auf den klägerischen Antrag ankomme.92 Sei nur ein Antrag gestellt, dann liege auch nur ein Streitgegenstand vor. Daran ändere sich auch nichts, wenn mehrere Sachverhalte diesen Antrag begründen sollten oder wenn sich aus den unterschiedlichen Sachverhalten mehrere materiellrechtliche Ansprüche ergeben.93 Die eingliedrige prozessuale Lehre nimmt somit regelmäßig bei einem Antrag auch einen Streitgegenstand an und bei mehreren Anträgen mehrere Streitgegenstände. Sie ist fixiert auf das Klageziel94, nimmt den Lebenssachverhalt aus der Streitgegenstandsdefinition heraus und zieht ihn nur hinzu, wo er zur Individualisierung des Streitgegenstands unerlässlich erscheint.95 Der Lebenssachverhalt erhält nach dieser Theorie nur Bedeutung als Auslegungshilfe. c) Ansicht der Rechtsprechung Das Reichsgericht folgte zunächst der Konzeption der CPO 1877, wonach der Streitgegenstand mit dem materiellrechtlichen Anspruch gleichzusetzen war. Spätere Entscheidungen rückten den klägerischen Antrag stärker in den Mittelpunkt und deuteten auf eine mehr prozessual orientierte Auffassung hin.96 Der BGH legte sich zunächst nicht auf eine bestimmte Lehre fest, sondern verwies darauf, dass die Wissenschaft die nötige Vorarbeit leisten solle.97 Eine Festlegung vermied er zunächst mit der Bemerkung, der Theorienstreit sei für die praktische Lösung des Problems, ein einheitliches Rechtsschutzziel auf mehrere Lebenssachverhalte zu stützen, „weitgehend unfruchtbar“98. Er behielt sich vor, einzelfallabhängig zu entscheiden, ob er den Lebenssachverhalt als weiteres Element neben dem Antrag hinzuziehe, je nachdem ob es für das für vernünftig gehaltene Ergebnis zielführend sei.99 Spätestens seit den 1980er Jahren aber richtet sich der BGH in ständiger Rechtsprechung100 nach der prozessualen zweigliedrigen Theorie.101 Streit-
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Lüke, Zur Streitgegentandslehre Schwabs, S. 310 ff. Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 101. 94 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 683. 95 Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 190, 199. 96 Vgl. Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 10. 97 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 182; Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 681. 98 BGH Warn. 1970, S. 46, 48. 99 BGH Warn. 1970, S. 46, 48. 100 BGH LM Nr. 56 zu § 253 ZPO; BGH NJW 1983, S. 389; BGH NJW 2001, S. 157; BGH NJW 1999, S. 1407. 93
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gegenstand ist das „Rechtsbegehren des Klägers aufgrund eines bestimmten Lebenssachverhalts“102. Dementsprechend nimmt der BGH neben dem Antrag immer auch den Klagegrund als Lebenssachverhalt in seine Bewertung des Streitgegenstands hinein.103 Den Lebenssachverhalt fasst er weit; „zu ihm sind alle Tatsachen zu rechnen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht zu unterbreiten hat“.104 4. Relativierungstendenzen in den deutschen Lehrmeinungen Die Schwierigkeiten bei der Definition eines einheitlichen Streitgegenstandsbegriffs haben dazu geführt, dass die neuere Literatur zur Streitgegenstandsproblematik zunehmend die Auffassung vertritt, das Zivilverfahren trage kein „Einheitsgesicht“105, so dass auch kein Einheitsbegriff für sämtliche „Prüfsteine“ des Streitgegenstandes gefunden werden könne.106 Ebenso müsse eine ausgewogene Streitgegenstandslehre die Unterschiede zwischen den verschiedenen Klagearten der ZPO beachten. Die Anhänger eines relativen Streitgegenstandsbegriffs orientieren sich daher an der jeweiligen Verfahrenssituation und beziehen die Parteiinteressen stärker in ihre Streitgegenstandslehren mit ein.107 Es ist schon dem relativierenden Ansatz geschuldet, dass seine Facetten unbegrenzt erscheinen. Dennoch haben Vorschläge besondere Beachtung gefunden, die für die Unterscheidung von Streitgegenständen die Klageart, bestimmte Prozessmaximen, das Verfahrensstadium, oder Prozessökonomie und die Parteiinteressen berücksichtigen.
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Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 793, gab zu bedenken, dass diese Festlegung des BGH auf Antrag und Lebenssachverhalt keine den Theorienstreit beendende Kraft hat, da es sich zumeist um Entscheidungen zur Rechtskraft handelte und daher keine Gesamtschau der Problematik biete. 102 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 182. 103 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 183. 104 BGH NJW 2007, S. 2560, 2561; BGH NJW 1992, S. 1172; BGH NJW 1999, S. 3126, 3127 m. w. N.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253 Rn. 11; Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl., Rn. 21. 105 Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, S. 72. 106 Zöller/Vollkommer, Einl. Rn. 82. 107 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 41.
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a) Nach Klageart Ein Vorschlag bestimmt den Streitgegenstandsbegriff nach der Klageart. Für Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklagen sei der Streitgegenstand jeweils gesondert zu betrachten.108 Nur bei Feststellungsklagen gilt nach dieser Ansicht der Antrag alleine, denn die Benennung des absoluten Rechts oder des Rechtsverhältnisses reiche aus, um den Gegenstand des Rechtsstreits zu individualisieren.109 Bei Leistungs- und Gestaltungsklagen müsse die Streitgegenstandsdefinition wieder zweigliedrig erfolgen. b) Nach Prozessmaximen Jauernig erwägt, die Art des Streitgegenstands „variabel“110 an den Verhandlungs- oder Untersuchungsgrundsatz zu knüpfen.111 Wird ein Verfahren nach dem Untersuchungsgrundsatz geführt,112 so genüge für den Streitgegenstand der Antrag, da das Gericht den Sachverhalt sowieso ermitteln müsse. Dies gelte sowohl für Leistungs- als auch für Feststellungs- und Gestaltungsklagen.113 In Prozessen mit Verhandlungsmaxime dagegen solle dem Kläger die Möglichkeit verbleiben, den Verfahrensstoff zusätzlich durch seinen Sachverhaltsvortrag zu bestimmen.114 c) Nach Verfahrensstadium Andere trennen nach Sachzusammenhang zwischen der Wirkung des Streitgegenstandes im laufenden Verfahren und im Falle der Rechtskraft. In den unterschiedlichen Stadien des Zivilverfahrens sei der Telos der an den Streitgegenstand anknüpfenden Normen unterschiedlich und müsse jeweils gesondert ermittelt werden.115 Die Bestimmung des Streitgegenstandes geht vom dispositionsbefugten Kläger aus. Bei Fragen der anderweitigen Rechtshängigkeit, der Klageänderung und Klagehäufung sollen die Grenzen des Umfangs dieses Dispositionsakts weit gefasst werden, um eine umfassende Erledigung des angefallenen Streitstoffs zu erreichen.116 Dazu müsse der eingliedrige Streitgegenstandsbegriff herangezogen wer108
Zöller/Vollkommer Einl. Rn. 71, 77, 80. Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 800. 110 Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, S. 6 f. 111 Vgl. Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, insbesondere S. 23 ff., 72. 112 Beispielsweise im FamFG-Verfahren gem. § 26 FamFG. 113 Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 800. 114 Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 327; vgl. Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, 23 ff., 54 ff. 115 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 43, 46 ff.; Baumgärtel, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 75. 116 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 59 f. 109
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den, da bei ihm der Streitgegenstand bei unverändertem Antrag auch im Falle gewisser Erweiterungenen und Modifikationen des Klagegrundes immer noch derselbe sei. Nach Abschluss des Verfahrens werde der Umfang des Streitgegenstandes und damit seiner Rechtskraft eher eng gefasst, um die Präklusion neu vorgebrachter Tatsachen in Grenzen zu halten. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass ein Kläger den Verfahrensstoff im ersten Verfahren unnötig ausweitet, weil er befürchtet, sich die Erhebung darauffolgender Klagen aus weiterem Tatsachenstoff wegen einer umfassenden Rechtskraftwirkung des ersten Urteils abzuschneiden.117 Um den Streitgegenstand bei der Rechtskraft eng zu halten, sei dann der zweigliedrige Streitgegenstandbegriff anzuwenden.118 d) Nach Verfahrensökonomie und Parteiinteressen Zum Teil werden diese an der Verfahrensökonomie und den Parteiinteressen orientierten Überlegungen auf die flächendeckende Anwendung des zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs übertragen. Um mit einer einheitlichen Lehre befriedigende Lösungen zu erzielen, werde der Begriff des Lebenssachverhalts heute im laufenden Verfahren weit gefasst. Nach Abschluss des Verfahrens sei er wieder enger zu ziehen, um dem Kläger die berechtigte Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe nicht zu verwehren.119 Die Idee, den Streitgegenstand am Interessenkonflikt der Parteien anzulehnen, führt Althammer weiter aus.120 Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein statischer Einheitsbegriff kein Selbstzweck ist, betont er die „dynamische Seite“121 des Zivilprozesses und fordert, die den jeweiligen Verfahrensabschnitt prägenden Prinzipien mitzuberücksichtigten. Dies schließe einen Einheitsbegriff nicht grundsätzlich aus; dieser müsse aber an den Funktionszusammenhängen zwischen Rechtshängigkeit, Klagehäufung, Klageänderung und Rechtskraft ausgerichtet werden.122 5. Status quo der heutigen deutschen Streitgegenstandsdebatte Der Streit über die Natur des Streitgegenstandes hat sich heute unter Eindruck der verfestigten Rechtsprechung des BGH abgeschwächt. Neue Impulse gaben ihm seit den 1980er Jahren grenzüberschreitende Sachverhalte, als der EuGH für den Fall entgegenstehender Rechtshängigkeit im An117
Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 61. Ähnlich argumentiert Baumgärtel, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 73 f., der allerdings auch für die Rechtshängigkeit die zweigliedrige Theorie befürwortet. 119 Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl. Rn. 19. 120 Vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 199 und 505 ff. 121 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 201. 122 Vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 206 ff. 118
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wendungsbereich des EuGVO eine eigene Lösung entwickelte.123 Angesichts der im 20. Jahrhundert entstandenen Meinungsvielfalt, die in diesem Umfang eine deutsche Besonderheit ist, wurde der Streitgegenstand als „Lieblingskind der Begriffsjurisprudenz“124 verdächtigt und festgestellt, dass die Ergebnisse der einzelnen Ansätze selten divergieren.125 Damit ist aber noch nicht die zentrale Bedeutung des Streitgegenstandes für das Gefüge des deutschen Zivilverfahrens in Frage gestellt.126 Die neue Nüchternheit im Umgang mit dem Streitgegenstand folgt aus der Erkenntnis, dass auch bei diesem zentralen Institut des Zivilverfahrens, wie so oft, schematische Lösungen mit Vorsicht zu genießen sind. Angesichts der Abkühlung der Debatte um die Dogmatik des Streitgegenstands ist es angebracht, ein Resümee über die noch vorhandenen Auswirkungen der unterschiedlichen Facetten der Streitgegenstandslehren zu ziehen. a) Überwiegende Kritik an den materiellrechtlichen Ansätzen Das Hauptproblem sämtlicher materiellrechtlicher Lehren ist, dass sie den materiellrechtlichen Anspruch in ein prozessuales Gewand zwängen, das nicht für ihn geschneidert wurde. Sind die Voraussetzungen für eine Anspruchsgrundlage erfüllt, dann erwächst aus ihr ein eigener Anspruch. Das Zivilrecht kennt keinen einheitlichen Anspruch, sondern variiert die Eigenschaften von Ansprüchen in wichtigen Bereichen wie der Verjährung, dem Haftungsumfang, der Beweislast oder der Zulässigkeit der Aufrechnung.127 Das bürgerliche Recht ist gerade nicht so konzipiert, Ansprüche mit derselben Rechtsfolge als Einheit zu betrachten. Die Unterschiede zwischen den Eigenschaften der materiellrechtlichen Ansprüche sind auch durch die Schuldrechtsreform höchstens angeglichen, keinesfalls aber eingeebnet worden.128 So gelten für Ansprüche aus Kauf- oder Werkvertrag andere Verjährungsfristen als für deliktischen Ansprüche.129 Die materiellen Streitgegenstandstheorien vernachlässigen diese Unterschiede und be123
Vgl. u. S. 224 ff. So der Titel des Aufsatzes von Ekelöf, Der Prozeßgegenstand, ZZP, Bd. 85 (1972), S. 145. 125 Musielak, Grundkurs, Rn. 148; Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 685 bezeichnet die Wahl zwischen den Varianten der prozessualen Einheitslehre als „Geschmackssache“. 126 „Schlüsselbegriff des Zivilprozesses“, s. Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 305; Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 181. „Zentraler Begriff“, s. Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl. Rn. 14. Einschränkend Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 14. 127 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 685; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 9; Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 194; Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 802 f. 128 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 36. 129 §§ 438, 634a BGB einerseits und §§ 195 ff. BGB andererseits. 124
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schneiden damit die unterschiedlichen Varianten des Rechtsschutzes, die das Zivilrecht vorsieht. Sie haben daher die prozessuale Lehre nicht verdrängen können. b) Verhältnis der prozessualen Theorien untereinander Angriffsfläche bietet die zweigliedrige Variante der prozessualen Einheitslehre wegen des unklaren Umfangs des Begriffs „Lebenssachverhalt“. Von der Rechtsprechung ist eine nähere Ausformulierung wohl nicht zu erwarten, scheint sie doch gerade bestrebt, sich über die Termini der „natürlichen Betrachtungsweise“ und auch der „Verkehrsauffassung“ Spielräume für die Abgrenzung im Einzelfall offenzuhalten. Gegner der zweigliedrigen Lehre bemängeln, ihre Vertreter in der Literatur hätten keine überzeugenden Merkmale entwickelt, um den Lebenssachverhalt zu konkretisieren; es sei daher nicht möglich, ihn als gleichwertiges Element des Streitgegenstandes neben den Antrag zu stellen.130 Komme es zu der Situation, dass die Ansichten der Parteien in einem Verfahren darüber auseinandergingen, ob noch aufgrund desselben oder schon wegen eines anderen Sachverhalts gestritten werde, so könne eine Partei nicht verlässlich vorhersehen, was das Gericht unter „natürlicher Auffassung“ oder „Verkehrsauffassung“ verstehe. Dies beeinträchtige die prozessuale Berechenbarkeit.131 Unbefriedigend bleibt der Lösungsweg der zweigliedrigen prozessualen Lehre zudem, wenn sich ein einheitliches Klageziel auf mehrere Lebenssachverhalte stützt.132 Dies kann beispielsweise bei einer Klage auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme passieren, wenn der Kläger vorträgt, dass er und der Beklagte zunächst einen Kaufvertrag abgeschlossen haben, später aber der Beklagte zusätzlich ein Schuldanerkenntnis nach § 781 BGB abgegeben hat. Dasselbe gilt für den Fall, dass der Beklagte sich zunächst durch Kaufvertrag verpflichtet und später noch einen Wechsel hingibt.133 In diesen Fällen liegen strenggenommen zwei Sachverhalte vor, so dass die zweigliedrige Lehre konsequenterweise zwei Streitgegenstände annehmen müsste, obwohl der Kläger doch nur einmal Zahlung verlangt. Gegen eine solche alternative Klagehäufung wendete sich Schwab mit einem kostenrechtlichen Argument.134 Gehe die Klage beispielsweise gleichzeitig über Kaufvertrag und Anerkenntnis, dann sei der Kläger jedenfalls belastet. Verliert er, dann müsste er nach der konsequenten Anwendung der zweigliedrigen Theorie doppelt mit der Kostenfolge belastet werden, da er ja auch zwei Klagen erhoben hat. Selbst wenn der Kläger 130
Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 794 f., 807. Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 24. 132 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 25. 133 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 681 f. 134 Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 795 f. 131
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gewinnt, ginge seine Klage selbstverständlich nur einmal auf den eingeklagten Betrag135 und er erhielte den Betrag nicht etwa doppelt, sondern würde mit einer der beiden Klagen kostenpflichtig abgewiesen werden. Die eingliedrige prozessuale Theorie versucht diese Unstimmigkeiten auszublenden, indem sie konsequent auf den Antrag des Klägers abstellt. Ihre Kritiker halten dagegen, dass sie diese Schnörkellosigkeit nicht durchhält. Ihr Begründer Schwab deutet dies selbst an, indem er nicht vom bloßen Klageantrag spricht, sondern einen „ausgelegten“ Antrag als Grundlage seiner Lehre nimmt. Zu dieser Auslegung „muss der Sachverhalt herangezogen werden.“136 Dieses Ausweichen auf den Sachverhalt zeigt sich bei der Rechtskraft und bei Klagen, die sich ansonsten nicht individualisieren ließen. Vor allem bei Zahlungsklagen, die auf eine bestimmte Geldsumme gerichtet sind, macht der Antrag alleine nicht ersichtlich, worum sich der Fall dreht. Die eingliedrige prozessuale Lehre erkennt das an und bezieht die Umstände des Falles mit ein; ihr Standpunkt ist aber, dass der Sachverhalt nur der Erläuterung des Antrags diene, statt gleichwertiges Element des Streitgegenstands zu sein.137 Nur wenn der Antrag des Klägers aus seinem gesamten Vorbringen ermittelt werde, sei auch bei Klagen auf eine zunächst unbestimmte Leistung der Streitgegenstand sichtbar.138 Die Zugeständnisse, die die eingliedrige prozessuale Lehre machen muss, um ihre Reduzierung des Streitgegenstands auf den Antrag aufrecht zu erhalten, schwächen ihre Überzeugungskraft dennoch. Letztlich müssen im Erkenntnisverfahren sowieso die dem Antrag zugrundeliegenden und vorgebrachten Tatsachen herangezogen werden, denn erst der Lebenssachverhalt individualisiert das Rechtsbegehren. Mit ihm wird das geltend gemachte Recht inhaltlich umschrieben und nicht bloß „freischwebend“ mit materiellrechtlichen Normen belegt.139 Damit unterscheidet sich der eingliedrige Streitgegenstandsbegriff im Ergebnis nicht vom zweigliedrigen.140
135 Mit diesem Hinweis will Schwab die Ansicht von Nikisch, Die Lehre vom Streitgegenstand, AcP, Bd. 154 (1955), S. 285, entkräften, nach der die kostenrechtlichen Konsequenzen durchaus vertretbar seien, denn der Kläger habe ja tatsächlich zwei Ansprüche geltend gemacht. 136 Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 185. 137 Musielak, Grundkurs, Rn. 143. 138 Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 796. 139 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 187 f. 140 Schwab behielt die eingliedrige These vor allem deswegen bei, weil der Begriff des Lebensvorgangs zu unpräzise sei, um gleichwertiges Element neben dem Antrag sein zu können, s. Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 807. Und Habscheid verteidigte die zweigliedrige Variante deswegen, weil der Lebenssachverhalt für die Bestimmung des Streitgegenstandes wesentlich sei. Solange kein präziserer Be-
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c) Vermittlungsbemühungen zwischen der herrschenden prozessualen Einheitslehre und ihren Kritikern Die Kritik an der prozessualen Einheitslehre durch die Verfechter einer materiellrechtlichen und relativen Streitgegenstandsdefinition haben bewusst gemacht, dass eine befriedigende Lösung für alle Normen und Klagearten, bei denen der Streitgegenstand relevant wird, nicht in Sicht ist. Die seit Jahrzehnten andauernde Kontroverse hat aber aber ihren Höhepunkt überschritten und ist heute vermittelnden Stimmen gewichen, die betonen, der praktischen Auswirkungen der unterscheidlichen Lehren zeigten sich ohnehin nur in Grenzfällen.141 Nicht durchsetzen konnten sich die materiellrechtlichen Theorien mit ihrer Forderung, den Anspruch im Sinne von § 194 Abs. 1 BGB für das Zivilverfahren umzuformen. Ihr Ertrag liegt in einer „Abgrenzungshilfe“142 oder „Richtigkeitskontrolle“143 für die Ergebnisse, zu denen die prozessuale Lehre kommt.144 Eine Annäherung der prozessualen Streitgegenstandslehren an die materiellrechtlichen Lehren versucht der Ansatz, der grundsätzlich dem zweigliedrigen prozessualen Einheitsbegriff zustimmt, aber wenigstens dessen Schwachstelle, der Unbestimmbarkeit des Lebenssachverhalts, mit materiellrechtlichem Werkzeug zu Leibe rücken will.145 Nach dieser Sichtweise gehören zu dem für den Streitgegenstand maßgeblichen Lebenssachverhalt nur diejenigen Tatsachen, die auch für den in Frage kommenden materiellen Rechtssatz erforderlich sind.146 Die Abgrenzung des Lebenssachverhalts wird damit auf eine Schlüssigkeitsprüfung der Klage verkürzt.147 Doch auch diesem Ansatz ist vorgeworfen worden, dass er den Begriff des „Lebenssachverhalts“ in Wahrheit nicht konkretisiere, sondern die bekannten Probleme nur auf die Ebene des materiellen Rechts verschiebe.148 griff gefunden sei, müsse man sich mit dem wenig konturierten „Lebenssachverhalt“ begnügen, s. Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 182, 188. 141 Musielak, Grundkurs, Rn. 148; Musielak/Musielak, Kommentar, Einl., Rn. 68; Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 685. 142 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 12, 30. 143 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 40. 144 In jüngster Zeit geschah dies beispielsweise in wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklagen, vgl. BGH NJW 2003, S. 2317. 145 Musielak/Musielak, Kommentar, Einl., Rn. 75 f.; mit Sympathie für eine am materiellrechtlichen Anspruch orientierte Abgrenzung des Lebenssachverhalts Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 795. 146 Musielak/Musielak, Kommentar, Einl., Rn. 76; ähnlich MüKo/Becker-Eberhard, § 253 Rn. 81, der darauf hinweist, dass der Kläger ohnehin bemüht sein wird, eine schlüssige Klage anzubringen, damit ein Versäumnisurteil zu seinen Gunsten möglich bleibt. 147 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 39. 148 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 188.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Die Abgrenzung, „welcher rechtlich relevante Ausschnitt der Wirklichkeit aus dem gesamten Lebensverhältnis herausgegriffen wird“149, sei hier ebenso zu treffen.150 Auch im materiellen Recht seien nicht alle Schlüsselstellen klar konturiert; dies sehe man beispielsweise bei dem unscharfen Begriff der Adäquanz, der über die Kausalität in Schadensersatzansprüchen entscheide.151 So gesehen, greifen auch diese materiellrechtlichen Ansätze ein bekanntes Problem auf und versuchen lediglich, es anders zu erklären, ohne aber zu besseren Ergebnissen zu kommen.152 Mit einem ähnlichen Vorwurf, den die zweigliedrige prozessuale Lehre ihrer eingliedrigen Schwester macht, stellen die relativen Lehren die Existenz eines einheitlichen Streitgegenstandes insgesamt in Frage. Wo zu häufig Ausnahmen für Sonderkonstellationen gemacht werden müssen, verliere eine Regel ihren Sinn. Die Rechtsprechung bestätigt diese relativierenden Zweifel dadurch, dass sie sich nur grundsätzlich dem Einheitsbegriff zugewendet hat, ohne sich ihm aber im Einzelfall zu unterwerfen. Bei den relativen Ansätzen stellt sich aber neben der befürchteten „Konturlosigkeit“153 die berechtigte Frage, warum es bei der Bestimmung des Inhalts eines Rechtsstreits nicht mehr auf das eigentliche Vorbringen der Parteien, sondern vornehmlich auf die Umstände der Einbringung ankommen soll154. Ob der Ansatz, bei der Streitgegenstandsdefinition die Parteiinteressen in den Vordergrund zu stellen,155 hier Klärung schafft, bleibt abzuwarten. Überwiegend halten die Protagonisten der Streitgegenstandsdebatte daher heute weiterhin an der prozessualen Einheitslehre fest, allerdings in dem Bewusstsein, dass die Beanstandungen der Vertreter einer relativen Lehre häufig berechtigt sind.156 Spätestens seit der EuGH eine eigene Lehre zum Streitgegenstand im Geltungsbereich des EuGVVO entwickelt hat, sei „die Zeit dogmatischer Unschuld und systematischer Konstruktion“157 in der Streitgegenstandslehre vorbei. Trotzdem an einer exakten Definition und Reduzierung des Streitgegenstandsbegriffes auf zwei Elemente festzu-
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Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 38. Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 188. 151 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 188. 152 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 182, der von einer „facon d’expliquer“ spricht. 153 Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 685. 154 Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 800. Als Beispiel nennt Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 189, die Lehre Jauernigs. Bei der Unterscheidung zwischen Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime komme es darauf an, ob die Parteien oder das Gericht die relevanten Tatsachen des Falles in das Verfahren einbringen müssten. Dies ändere aber noch nichts am Inhalt des Streitgegenstands. 155 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 199. 156 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 85. 157 Stürner, Der deutsche Prozeßrechtslehrer, S. 836. 150
I. Deutsche Streitgegenstandslehren
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halten, sei heute auch ein didaktisches Mittel158 und gelte dem Bemühen nach Übersicht und begrifflicher Ordnung159. Festzuhalten bleibt als Resümee der Diskussion um die Elemente des Streitgegenstands, dass die Konstellationen, in denen die ZPO den prozessualen Anspruch voraussetzt, so unterschiedlich sind, dass es bisher nicht gelungen ist, sie widerspruchslos alle unter einen dogmatischen Hut zu bringen. Manche bezweifeln mittlerweile, dass es überhaupt eine überzeugende Lösung aller Probleme gibt.160 Die relativen Ansätze sind heute entsprechend populär geworden. Am praxisnächsten erscheinen dabei diejenigen Stimmen, die gerade den Lebenssachverhalt je nach Verfahrensstadium weiter oder enger ziehen wollen und dafür eingliedrige und zweigliedrige Variante der prozessualen Lehre teilweise kombinieren.161 Durch eine weite Fassung des Lebenssachverhalts hat sich der einheitliche Streitgegenstandsbegriff aber in der Praxis bewährt und durchgesetzt, allerdings in dem Bewusstsein, dass sein universeller Geltungsanspruch in Randbereichen und Einzelkonstellationen häufig zu Problemen führt. Relative und einheitliche Lehren bieten letztlich unterschiedliche Hilfsmittel, die Streitsache im Verfahrensgefüge der ZPO richtig zu verorten. Wer auf dem Grat zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht nach einem Kompass sucht, der den Weg durch das Zivilverfahren weist, ist bei der Einheitslehre gut aufgehoben. Er wird sich aber damit begnügen müssen, dass ein Kompass eben nur die grobe Himmelsrichtung anzeigt. Genügt das nicht, sollte zu einer detaillierten Karte gegriffen werden. Sie bietet höhere Chancen auf den individuell passenden Weg, freilich auf Kosten der Übersichtlichkeit. Ob sich die relativen Ansätze als präzise Karte eignen, ist fraglich, denn auch sie arbeiten letztlich mit den unbestimmten Begriffen der prozessualen Einheitslehre. Sie machen den Verfahrensstoff an sich nicht konkreter, sondern berücksichtigen nur die Umstände seiner Einbringung stärker. Vorzugswürdig erscheint daher die Beibehaltung eines einheitlichen Streitgegenstandsbegriffs, der sowohl Antrag als auch Sachverhalt angemessen berücksichtigt. In der Verfahrensrealität bietet gerade der Klagegrund für die Einheitslehre genügend Spielraum, den Normzweck und die Bedürfnisse der Parteien zu würdigen. Weiterhin gültig ist damit die
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Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 85. Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 189, möchte mit ihnen das „Begriffswirrwar“ relativer Ansätze vermeiden. 160 Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 794; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 85. 161 Baumgärtel, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 73 f.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 59 ff.; Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl. Rn. 19. 159
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Streitgegenstandsdefinition als „das Begehren der durch Klageantrag und Lebenssachverhalt bestimmten Entscheidung“ 162.
II. Elemente der englischen Streitsache II. Elemente der englischen Streitsache
Die Justizreformen der Judicature Acts 1873–1875, durch die erstmals der Gesetzgeber den Verfahrensablauf normierte, begründeten das moderne englische Zivilverfahren. Die tiefgreifenden Veränderungen gegenüber den früheren Verfahren des common law und der equity machen eine Neubestimmung der Streitsache für das moderne englische Zivilverfahren notwendig, die diese Arbeit anhand des Judicature Act (JA) von 1875, der Rules of Supreme Court (RSC) von 1965 und der Civil Procedure Rules (CPR) von 1998 vornimmt. So werden Änderungen der englischen Verfahrensordnung bis zur gegenwärtigen Regelung berücksichtigt. Zugrundegelegt wird der Verfahrensgang an der Queen´s Bench Division. Diese Abteilung des High Court ist für die Betrachtung des englischen Zivilverfahrens gut geeignet, da vor ihr regelmäßig Streitigkeiten in den zentralen Rechtsgebieten vertraglicher und deliktischer Ansprüche verhandelt werden.163 1. Gesetzliche Grundlage des englischen Zivilverfahrens Bereits der Uniformity of Process Act 1833 sowie die Common Law Procedure Acts 1852 und 1854 enthielten gesetzlich fixierte Regelungen des neuen Verfahrens. Durchbrochen wurde das alte Klagesystem der writs aber erst durch die klaren Vorgaben der Judicature Acts 1873–1875, die im Gegensatz zu den vorhergehenden Gesetzeswerken keine Schlupflöcher mehr boten, das alte Verfahren beizubehalten. Die an den JA 1875 angehängten orders164 legten den Grundstein für das heutige Zivilverfahren am High Court of Justice, in dem das mündliche trial weiterhin im Zentrum steht, aber durch ein detailliertes schriftliches Vorverfahren vorbereitet wird. Die orders des JA 1875 waren gleichwohl als Provisorium gedacht und sollten durch eine eigenständige Verfahrensordnung ersetzt werden. Dies ermöglichte JA, sec. 17, der den Richtern und der Anwaltschaft das Recht einräumte, die Verfahrensregeln selbst festzulegen und dann dem Parlament zur Verabschiedung vorzulegen.165 Der JA 1875 sollte demnach nur 162
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92, Rn. 22. Thalmann, Der englische Zivilprozeß, JURA 1989, S. 179. 164 Sie erhielten Gesetzesrang durch JA, sec. 16. 165 JA, sec. 17: „[…] the Supreme Court may at any time […] alter or annul the Rules of Court for the time being in force. […] All Rules of Court made in pursuance of this section shall be laid before each House of Parliament […].“ – Diese Möglichkeit dele163
II. Elemente der englischen Streitsache
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den gesetzlichen Rahmen für die Verfahrensordnung ziehen, der dann durch sogenannte delegierte Gesetzgebung166 auszufüllen war. Dafür wurde ein Gesetzgebungskommittee eingesetzt, das mit den RSC167 das maßgebliche Regelwerk für das Zivilverfahren der Obergerichte des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts schuf.168 Die RSC wurden 1883 durch den Statute Law Revision Act verabschiedet. In den für die Frage der Streitsache relevanten Vorschriften stimmen die RSC 1883 mit den orders des JA 1875 inhaltlich überein, so dass im Folgenden auf die Erläuterungen zu dessen Verfahren verwiesen werden kann. Grundlegend überarbeitet wurden die RSC im Jahr 1965169. Sie führten verschiedene Bereiche des Verfahrens, die zwischenzeitlich in neuen Gesetzen geregelt worden waren, zu einer einheitlichen Verfahrensordnung für die englischen Obergerichte zusammen und galten in dieser Fassung, bis im Jahr 1998 die CPR170 das Zivilverfahren neu ausrichteten.171 Die CPR 1998 gelten erstmals nicht nur für das Verfahren vor dem High Court, sondern auch für die County Courts. Lord Chancellor172 Lord Irvine of Lairg bezeichnete sie bei ihrer Einführung als „[…] a programme of the gierter Gesetzgebung findet sich schon in sec. 14 des Common Law Procedure Act 1852, es wurde aber erst nach den Judicature Acts auf sie zurückgegriffen. 166 In England ist die secondary oder delegated legislation durch Kommissionen gängige Gesetzgebungspraxis. Seit 1851 wurden mehr als 60 Kommissionen auf dem Gebiet des Prozess- und Gerichtsverfassungsrecht tätig, s. Schmidt, Der Abschied von der Mündlichkeit, S. 16. Die jüngste Kommission in diesem Bereich war das Civil Procedure Rule Committee gem. Civil Procedure Act 1997 (1997 c.12), sec. 2. 167 Mittels delegated legislation erlassene Rules haben den Charakter von statutory instruments (Rechtsverordnungen), vgl. Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 59 f. 168 Für die Untergerichte, die County Courts, galt bis zu den CPR 1998 das eigene Regelwerk der County Court Rules. Ihre Besonderheiten berücksichtigt diese Arbeit nicht. 169 RSC, S.I. 1965/1776; Stürner, Zur Struktur des des europäischen Zivilprozesses, S. 499. Die in dieser Arbeit zitierten Normen der RSC 1965 sind Mackay, Halsbury´s Laws of England, 4. Aufl., Bd. XXXVII, Bath, Neubearbeitung 2001, S. 531 ff., entnommen. 170 1998 No. 3132 (L. 17). Sie basieren auf zwei Kommissionsberichten, die unter Leitung von Lord Woolf, dem Master of the Rolls und damit Präsident des Court of Appeal, erarbeitet wurden, s. Woolf, Access to Justice, Interim Report und Final Report. Ausführlich zum sogenannten „Woolf-Report“ vgl. Malterer, Lord Woolf's access to justice, S. 94 ff. – Die in dieser Arbeit zitierten Normen der CPR 1998 sind (abgerufen am 09.12.2011) entnommen. 171 Der JA 1875 als gesetzliche Grundlage der englischen Zivilverfahrensordnung wurde im Jahr 1925 durch den Supreme Court of Judicature (Consolidation) Act 1925, sec 99 und schließlich im Jahr 1981 durch den Supreme Court Act 1981, sec. 84 abgelöst. 172 Der Lord Chancellor ist ranghöchster juristischer Beamter im Vereinigten Königreich, s. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 20.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
most fundamental change for the civil justice system since the reforms of Lord Selborne in the 1870s“173. Die Reform sollte vor allem den Zugang zur Justiz erleichtern174, die Kosten des Verfahrens kalkulierbarer machen, das Verfahren vereinfachen und dessen Terminologie modernisieren.175 Die CPR 1998 stellen dem englischen Zivilverfahren ausdrücklich eine übergreifende Zielsetzung voran: „These Rules are a new procedural code with the overriding objective of enabling the court to deal with cases justly.”176 Was der englische Gesetzgeber unter gerechter Fallbehandlung versteht, wird in den CPR 1998 konkretisiert. Das Gericht soll sicherstellen, dass sich die Parteien auf Augenhöhe begegnen können, es sollen Kosten gespart werden, die Art des Verfahrens soll die Eigenart des Falles besser berücksichtigen, der Fall soll schnell und fair behandelt werden und die Ressourcen des Gerichts sollen angemessen auf alle anhängigen Fälle verteilt werden.177 Um die Veränderungen durch die CPR 1998 bewerten zu können, muss man sich vor Augen führen, dass es eines der Ziele der Reform war, die Verfahrensordnung verständlicher zu machen und von überflüssigem Fachjargon zu befreien;178 viele Neuerungen betreffen daher terminologische Fragen, ohne inhaltlich viel zu ändern. Die CPR 1998 sind beeinflusst durch die sogenannte plain-English-Bewegung. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, lateinische oder dezidiert juristische Fachbegriffe der englischen Rechtssprache durch allgemein gebräuchliche Wörter zu ersetzen, wo dies ohne Präzisionsverlust möglich erscheint.179 Hintergrund ist das Anliegen, sowohl Juristen als auch Laien den Zugang zum Justizwesen zu erleichtern. Lord Woolf stellte die sprachlichen Vereinfachungen in Zusammenhang mit prozessökonomischen Erwägungen, da er davon ausging, dass vereinfachte Sprachvorgaben weniger Möglichkeiten boten, das wahre Vorhaben einer Partei hinter Fachterminologie und Phrasen zu verschleiern. Sie sollten dem Zivilverfahren zu zügigerem und zielorientierterem Parteiverhalten verhelfen.180 Man ging bei der Bereinigung der Rechtssprache sehr weit und ersetzte auch etablierte und dogmatisch bedeutsame englische Begriffe, um diese
173 In seinem Vorwort zu den CPR 1998 auf S. 3, zitiert nach Sobich, Civil Procedure Rules, JZ 1999, S. 775, Rn. 5. 174 So der Titel „Access to Justice“ des Woolf-Reports. 175 Vgl. Malterer, Lord Woolf's access to justice, S. 5 ff. 176 CPR 1.1 (1). 177 CPR 1.1 (2). 178 Hülper, Die englische Rechtssprache, S. 104. 179 Zur plain-English-Bewegung vgl. Hülper, Die englische Rechtssprache, S. 89 ff. 180 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–13.
II. Elemente der englischen Streitsache
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an die Alltagssprache anzugleichen.181 Eine Klage wird in den CPR nicht mehr als action, sondern als claim bezeichnet. Sie wird nicht mehr vom Kläger als plaintiff, sondern vom claimant erhoben, und zwar nicht mehr durch das klageeinleitende Formular des writ of summons, sondern durch ein claim form. Die Schriftsätze, vormals pleadings, werden bezeichnet als statements of case und die Klagebegründung heißt jetzt particulars of claim.182 2. Inhalt des klageeinleitenden Formulars Der JA 1875, die RSC 1965 und die CPR 1998 haben sich als Wegmarken des modernen englischen Zivilverfahrens erwiesen. Durch sie modifizierte der Gesetzgeber jeweils die Anforderungen an das klageeinleitende Formular. a) Judicature Act 1875 Die beim High Court of Justice erhobenen Klagen wurden einheitlich als actions bezeichnet183 und mit dem writ of summons eingeleitet, das die Parteien, das Klageziel sowie das angerufene Gericht benannte.184 Seiner Form nach entsprach es dem writ of subpoena aus dem früheren equityVerfahren.185 Wie dieses lud es den Beklagten zum Prozess und forderte ihn zur Einlassung auf. Neben der Klageeinleitung und der Ladung des Beklagten äußerte der Kläger mit dem writ of summons sein Rechtsbegehren. Ihn banden beim Erstellen des writ keine unterschiedlichen Klageformen mehr, er war aber dennoch gehalten, sein Klagebegehren mittels eines indorsement of claim so genau wie möglich zu benennen: „Every action in the High Court shall be commenced by a writ of summons, which
181 Englische Juristen haben die bloße Ersetzung von alten durch neue Begriffe im Zuge der Woolf-Reform kritisiert, da sie die eigentlichen Probleme der englischen Rechtssprache, die im Satzbau, der Grammatik und Präsentation verortet werden, ausspare, vgl. Hülper, Die englische Rechtssprache, S. 104. 182 Eine Auflistung der terminologischen Änderungen enthält Plant/Rose, Blackstone's Guide to the Civil Procedure Rules, S. 90. Zur Vereinfachung wählt diese Arbeit insbesondere bei der Klageeinleitung und dem Schriftsatzwechsel deutsche Übersetzungen, wenn nicht Besonderheiten der Verfahrensinstitute in den einzelnen Phasen des modernen englischen Zivilverfahrens erfordern, den speziellen englischen Begriff zu nennen. 183 JA, Ord. I: „All actions which have hitherto been commenced by writ in the Superior Courts of Common law at Westminster […], and all suits which have hitherto been commenced by bill or information in the High Court of Chancery […], shall be instituted in the High Court of Justice by a proceeding to be called an action.” 184 Eine Vorlage für das writ of summons war im Anhang des JA 1875 abgedruckt, s. JA, Ord. II r. 3 und Appendix A, No. 1 part 1. 185 Baker, Introduction to English Legal History, S. 68.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
shall be indorsed with a statement of the nature of the claim made, or of the relief or remedy required in the action […].”186 Ziel dieses indorsement war es, das klägerische Begehren frühzeitig deutlich zu machen, die Parteien darüber zu informieren und somit eine frühe Beilegung des Streits durch einen Vergleich zu ermöglichen.187 Nature of the claim stand für eine erste Anzeige des klagebegründenden Sachverhalts. Für die Aussagekraft der Klageschrift war es darüber hinaus entscheidend, dass der Kläger neben den wesentlichen Tatsachen das begehrte remedy (Rechtsschutzmittel) nannte, denn sonst blieb unklar, mit welchem Rechtsschutzziel er überhaupt vor das Gericht trat. Remedy dient im englischen Recht als Oberbegriff für die Rechtshilfe, die ein Kläger in seiner Klage verlangen kann.188 Zu den am häufigsten eingeforderten remedies gehören die Zahlung einer bestimmten Geldsumme, das Unterlassen einer bestimmten Handlung oder die Herausgabe einer Sache.189 Entgegen dem Gesetzeswortlaut, der die Natur des Begehrens und die Rechtsschutzmöglichkeit in ein Alternativverhältnis stellt, enthielt das Gros der writs of summons in der Praxis beide Elemente kumulativ, da der Kläger spätestens in seiner Klagebegründung die begehrten Rechtsschutzmöglichkeit ohnhehin benennen sollte.190 Eine Hintertür blieb dem Kläger jedoch offen, denn er konnte in seiner Klagebegründung „for general relief“191 bitten und die konkrete Rechtsschutzmöglichkeit im Ergebnis offenlassen. Die Begründung der Klage war im writ of summons noch nicht enthalten. Solange das indorsement nur den Inhalt des gewünschten Rechtsschutzbegehrens kurz umschrieb, sprach man von einem general indorsement. Dieses konnte beispielsweise lauten: „The plaintiff´s claim is 1000 GPB for money lent“, „The plaintiff´s claim is for damages for breach of contract to emply the plaintiff as traveller“, „The plaintiff´s claim is for damages for assault and false imprisonment” oder „The plaintiff´s claim is
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JA, Ord. II r. 1; vgl. auch JA, Ord. III r. 1: „The indorsement of claim shall be made on every writ of summons before it is issued.“ 187 Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 165: „The object of this indorsement seems to be to identify the controversy and the claim to which the action relates, so as, amongst other advantages, to facilitate a settlement whithout the action´s going further.” 188 Bunge, Terminologisches Wörterbuch, S. 152. Zur schwierigen dogmatischen Einordnung der remedy vgl. Zakrzewski, Remedies Reclassified, S. 43 ff. 189 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.010; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.33. 190 JA, Ord. XIX r. 8: „Every statement of claim shall state specificially the relief which the plaintiff claims, either simply or in the alternative, and may also ask for general relief […].” 191 JA, Ord. XIX r. 8.
II. Elemente der englischen Streitsache
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to recover a farm called Blackacre situate in the parish of Dale in the county of Kent”.192 Dem Kläger kam zugute, dass er sich in seinem indorsement of claim nicht exklusiv auf die rechtlich korrekte Bezeichnung eines einzelnen Rechtsschutzbegehrens festlegen musste, sondern dies auch dem Gericht überlassen konnte.193 Wichtig war nur, dass sein Klageziel deutlich wurde. Der Kläger lief somit nicht mehr Gefahr, den Prozess nur wegen der Wahl des falschen Rechtsschutzbegehrens zu verlieren. Im Falle einer Geldforderung war es ihm außerdem unbenommen, zusätzlich auf dem writ of summons noch eine kurze Klagebegründung, die particulars (Einzelheiten des Falles), zu vermerken.194 Dieses special indorsement war besonders sinnvoll, wenn der Kläger damit rechnete, dass sich der Beklagte nicht gegen die Klage verteidigen würde, denn dann konnte gegen den Beklagten gegebenenfalls ein Versäumnisurteil ergehen, bei dem das Gericht nur noch die Schlüssigkeit des im writ of summons enthaltenen special indorsement prüfte.195 b) Rules of Supreme Court 1965 Unter dem RSC 1965 wurde die Klage ebenso zumeist196 mit dem writ of summons eingeleitet, der den Beklagten aufforderte, entweder die Forderung des Klägers zu befriedigen oder eine beigelegte Zustellungsbestätigung (acknowledgement of service) an das Gericht als Erklärung zurückzusenden, sich gegen die Klage verteidigen zu wollen.197 Ein förmlicher Ladungsbefehl des Monarchen Großbritanniens erfolgte auf dem writ of summons seit dem Supreme Court Act 1981 nicht mehr, es erschien nur noch das königliche Wappen.198 Die Anforderungen an das writ of summons der RSC 1965 stimmten mit dem writ of summons des JA 1875 über192
Die Beispiele sind entnommen aus Maitland, The Forms of Action, S. 4. JA, Ord. III r. 2: „In the indorsement required by Order II, Rule 1, it shall not be essential to set forth the precise ground of comlaint, or the precise remedy or relief to which the plaintiff considers himself entitled.” 194 JA, Ord. III r. 6. 195 Vgl. JA, Ord. XIII r. 3, 4. 196 Am High Court gab es insgesamt vier Arten der Klageerhebung (RSC, Ord. 5 r.1), nämlich den writ-Prozess, den originating-summons-Prozess (RSC, Ord. 5 r. 5), die petition-Klage (RSC, Ord. 9) und die motion-Klage (RSC, Ord. 5 r. 5). Während petitionund motion-Klage Spezialfälle regelten, kam der originating-summons-Prozess zur Anwendung, wenn der Sachverhalt unstreitig war und es nur noch um Rechtsfragen ging, vgl. Thalmann, Der englische Zivilprozeß, JURA 1989, S. 180. 197 RSC, Ord. 1 r. 4 (1); vgl. RSC, Ord. 12. 198 Mit der Abschaffung des königlichen Ladungsbefehls hatte das writ nur noch die Funktion eines einfachen Hinweises, dass der Beklagte vor Gericht erscheinen möge, s. Baker, Introduction to English Legal History, S. 68. 193
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
ein.199 Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen general und special indorsement wurde allerdings als nutzlos erachtet und aufgegeben.200 Es lag nun in der Hand des Kläger, ob er im Stil eines special indorsement eine umfassendere Klagebegründung bereits durch das writ of summons lieferte oder ob er einem general indorsement entsprechend einen bestimmten Antrag stellte, nur knapp die Natur seines Anspruchs nannte und die Klage erst in dem gesonderten Schriftsatz des statement of claim begründete. Für die nötige Klarheit über das Klageziel sorgte RSC, Ord. 18 r. 15 (1), der dem Kläger nicht mehr erlaubte, nur pauschal um richterliche Abhilfe für sein rechtliches Problem zu bitten, sondern ihn verpflichtete, einen echten Antrag zu stellen und genau zu schreiben, was er vom Gericht erwartete.201 c) Civil Procedure Rules 1998 Dem Ziel entsprechend, frühzeitig alle wichtigen Informationen zwischen den Parteien auszutauschen und einen effizienten Verfahrensablauf zu gewährleisten202, machen es die CPR 1998 zur Voraussetzung für die Einleitung eines Zivilverfahrens, dass zunächst sogenannte pre-action protocols ausgetauscht werden.203 Die pre-action protocols sind offizielle Äußerungen der Parteien, die einen Vergleich ermöglichen sollen, bevor es überhaupt zur Eröffnung eines Verfahrens kommt.204 In einem letter of claim informiert der Kläger den künftigen Beklagten über den Klagegrund und fordert ihn zu einer Antwort auf. Darin legt er sich aber noch nicht über den Inhalt einer möglichen Klage fest. Eher dienen die pre-actionprotocols dazu, die Problemlage des Falles erstmalig zu schildern und schriftlich festzuhalten.205 199
RSC Ord. 6, r. 2 (1): „Before a writ is issued it must be indorsed – (a) with a statement of claim or, if the statement of claim is not indorsed on the writ, with a concise statement of the nature of the claim made or the relief or remedy required in the action begun thereby; (b) where the claim made by the defendant is for a debt or liquidated demand only, with a statement of the amount claimed in respect of the debt […].” 200 Sturge, Basic Rules, S. 13. 201 RSC, Ord. 18 r. 15 (1): „A statement of claim must state specifically the relief or remedy which the plaintiff claims; but costs need not be specifically claimed.” 202 Andrews, English Civil Procedure, S. 541 Fn. 22. 203 Das geschilderte Verfahren beschränkt sich auf die Klageeinleitung nach CPR part 7, die für den Großteil der Fälle gilt. Abweichend davon kann eine Klage nach den Regeln von CPR part 8 und CPR part 20 eingeleitet werden, vgl. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.13. 204 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 203. Die Nichteinhaltung der pre-action protocols kann durch Kostenauferlegung sanktioniert werden, s. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 205. 205 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.4.
II. Elemente der englischen Streitsache
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Die Klage wird regelmäßig206 eingeleitet, indem das Gericht auf die Bitte des Klägers hin ein claim form ausstellt. Das claim form hat damit das writ of summons als verfahrenseinleitendes Dokument ersetzt. In ihm muss der Kläger die Natur der geltend gemachten Klage knapp umreißen sowie den begehrten Rechtsschutz eintragen: „The claim form must – (a) contain a concise statement of the nature of the claim; (b) specify the remedy which the claimant seeks; (c) where the claimant is making a claim for money, contain a statement of value […].”207
Mit der Konzentration auf eine knappe Skizzierung der Hintergründe der Klage und dem daraus abgeleiteten Rechtsschutzmittel bleiben die CPR 1998 auf der Linie, die der JA 1875 vorgegeben hat. Die Anforderungen an das claim form sind aber insofern präziser, als dass seine Komponenten nun ausdrücklich kumulativ enthalten sein müssen und der Gesetzeswortlaut keine dem tatsächlichen Rechtsschutzbegehren ausweichenden Klagen mehr zulässt.208 Statt einer ausführlichen Schilderung des Falles schließt ein claim form mit dem Hinweis, dass die Tatsachen und Details des Falles in den Einzelangaben (particulars) folgen werden.209 Dies bedeutet nicht, dass das claim form unpräzise formuliert werden darf. Die in ihm enthaltenen Informationen sollen präzise sein, ohne ins Detail zu gehen.210 Erscheint dem Gericht das claim form zu ungenau, so kann es die Klage abweisen. Beispielsweise geschah dies in einem Fall, in dem das claim form für das Begehren nach Schadensersatz wegen falschen Informationen nicht weniger als sechs Rechtsschutzmittel nannte.211 Dem klagenden Unternehmen ging es entweder kumulativ oder alternativ um ein Urteil auf Schadensersatz wegen falscher Produktangaben, aus fahrlässigem deliktischen Verhalten, aus Finanzierungsmodellen, aus Hochrechnungen, aus Ratschlägen sowie aus Informationen, die sie von dem beklagten Unternehmen erhalten hatte.212 Es 206 Alternative Verfahrenseinleitungen ergeben sich aus CPR part 8, der den früheren originating-summons-Prozess ersetzt hat, vgl. Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 42. 207 CPR 16.2 (1). Das statement of value im Rahmen von Zahlungsklagen muss den eingeklagten Betrag anzeigen oder zumindest einschätzen (CPR 16.3). 208 Vgl. o. S. 133 ff. JA, Ord. II r. 1, RSC Ord. 6 r. 2 (1) und CPR 16.2 (1) fordern alle ein „concise statement of the nature of the claim”. Dass zusätzlich auch die remedy benannt wird, stellten JA 1875 und RSC 1965 als Option des Kläger dar („or of the relief or remedy required in the action”), die CPR 1998 machen es zur Bedingung des claim form („The claim form must […] specifiy the remedy which the claimant seeks”). 209 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.010. 210 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.32. 211 Nomura International Plc v. Granada Group Ltd [2008] Bus.L.R. 1; O´Hare/ Browne, Civil Litigation, Rn. 12.010. 212 Nomura International Plc v. Granada Group Ltd [2008] Bus.L.R. 1, at 3, per Cooke J.; O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.010.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
behauptete, dass diese falschen Informationen es dazu veranlasst hätten, einer Unternehmensfusion zuzustimmen, die ihm beträchtliche Verluste eingebracht hatte. Die Richter forderten genauere Angaben je nach rechtlicher Grundlage für den begehrten Schadensersatz, die schlaglichtartig auch schon das claim form enthalten müsse. Gehe es um eine Klage aus einem Vertrag, sei es notwendig, diesen genau zu identifizieren und den Vertragsbruch zu benennen. Gehe es um eine deliktische Pflichtverletzung, dann müsse man die betreffende Handlung beziehungsweise ihr Unterlassen genau herausarbeiten. Stehe eine Falschinformation in Rede, dann gelte dasselbe für den streitigen Rat oder die Information.213 Bedeutend im Rahmen des claim form ist, dass der Kläger das Gericht mit seiner Bitte nach Rechtsschutz nicht bindet. Das Gericht kann ihm jedes Rechtsschutzmittel gewähren, dass sich aus seinen Schilderungen ergibt, selbst wenn er es nicht in seinem claim form aufgeführt hat.214 Diese weite Entscheidungsbefugniss des Gerichts soll aber nicht die Dispositionsbefugnis des Klägers über die von ihm angestrengte Klage außer Kraft setzen. Hinter ihr steht die Überlegung, Parteien die ihnen rechtlich zustehende Entscheidung nicht deshalb zu versagen, weil sie sie nicht richtig benannt haben. In Anknüpfung an die Ziele der Prozessreform des JA 1875 soll der richterliche Spielraum den Kläger vor übermäßigem Formalismus schützen und greift wohl vor allem in denjenigen Fällen, in denen Parteien die Rechtslage im Vorhinein nicht ausreichend kennen oder beachtet haben.215 Letztlich ist das Gericht also weniger an das vom Kläger irrtümlich ausgewählte Rechtsschutzmittel, sondern an dessen Schilderungen gebunden. Seine Entscheidungsbefugnisse enden dort, wo das claim form und die particulars of claim keine tatsächliche Grundlage für ein Rechtsschutzmittel bieten. Diese Grenze setzt das Recht des Beklagten auf ein faires Verfahren, denn der Beklagte erwartet, dass der Fall nach denjenigen Grundlagen entschieden wird, die der Kläger gegen ihn vorgebracht hat.216 3. Regeln zur Präzisierung des Streits in den vorbereitenden Schriftsätzen Nachdem das klageeinleitende Formular den tatsächlichen Grund für die Klage und das Rechtsschutzziel umrissen hat, muss die Klageschrift den Hintergrund des Falls aufnehmen und entfalten. Der Kläger eröffnet damit 213
Nomura International Plc v. Granada Group Ltd [2008] Bus.L.R. 1, at 17, per Cooke J. 214 CPR 16.2 (5): „The court may grant any remedy to which the claimant is entitled even if that remedy is not specified in the claim form.” Zu diesem Spielraum des Gerichts auch schon vor Einführung der CPR 1998 vgl. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20. 215 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.011. 216 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.33.
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die pleadings217, in denen jede Partei den Fall so schildern soll, wie er sich ihrer Wahrnehmung nach zugetragen hat. Zur Technik der Schriftsatzerstellung hat sich in England eine rege Praktikerliteratur gebildet, die in Prozessformularhandbüchern Beispiele für korrekt abgefasste Schriftsätze in allen praxisrelevanten Bereichen des common law bietet.218 Die heutigen Regeln zur Formulierung der Schriftsätze bauen auf den Normen des JA 1875 auf, die durch die RSC 1965 und CPR 1998 den modernen Bedürfnisse des Verfahrensalltags angepasst wurden.219 Ihre Untersuchung kann daher für alle drei Phasen des vereinheitlichten englischen Zivilverfahrens mit Rücksicht auf Veränderungen und Entwicklungen gemeinsam erfolgen. a) Funktion der modernen pleadings Moderne pleadings verfolgen zwei übergreifende Ziele. Zum einen decken sie die issues des Falles auf. Nach englischer Vorstellung definieren die Parteien damit die Eigenheiten ihres Streits, die vom Gericht entschieden werden sollen.220 Die Reduktion auf die streitigen Punkte soll im sich anschließenden trial den Richter in die Lage versetzen, die Eckpunkte des Rechtsstreits rasch erkennen und effizient einer Entscheidung zuführen zu können. Ein Jahr nach Inkrafttreten des JA 1875 definierte Richter Jessel M.R. die Funktion der pleadings folgendermaßen: „The whole object of pleadings is to bring the parties to an issue, and the meaning of the rules […] was to prevent the issue being enlarged, which would prevent either party from knowing when the cause came on for trial, what the real point to be discussed and decided was. In fact, the whole meaning of the system is to narrow the parties to definite issues, and thereby to diminish expense and delay, especially as regards the amount of testimony required on either side at the hearing.”221
Zum anderen wird in England der Grundsatz hochgehalten, dass keine Partei uninformiert, mithin unvorbereitet, in ein trial eintreten soll. Dies gibt den vorbereitenden Schriftsätzen im modernen englischen Zivilverfahren eine neue Bedeutung. Im früheren common-law-Verfahren dienten die schriftlich verfassten und bei Gericht eingereichten pleadings dazu, den Gerichtsschreibern eine Vorlage für die mündlichen Parteivorträge im Hauptverfahren zu geben. Im modernen Verfahren werden die Schriftsätze 217 Die englische Praxis verwendet den Begriff für den obligatorischen Schriftsatzwechsel des Vorverfahrens zwischen den Parteien nach wie vor. Inzwischen setzt sich aber die Terminologie der CPR 1998 durch, die (synonym zu pleading) von statement of case sprechen, s. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, S. 1, Rn. 1–01. 218 Beispielsweise Brennan/Blair (Hrsg.), Precedents of Pleading; Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice; Casson, Odgers´ Principles of Pleading. 219 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–06. 220 Für das common law vor den Verfahrensreformen vgl. o. S. 32 f. 221 Thorp v. Holdsworth (1876) 3 Ch. D. 637, at 639.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
direkt zwischen den Parteien ausgetauscht, um die gegnerische Partei vom bevorstehenden Inhalt des Verfahrens zu informieren.222 Das Gericht erhält zwar eine Abschrift, diese bereitet jedoch das trial nicht inhaltlich vor, sondern soll in Zweifelsfällen Nachprüfungen ermöglichen, ob sich eine Partei schon im Vorverfahren auf einen bestimmten Tatsachenkomplex berufen hat oder nicht.223 Diese Entkoppelung der Schriftsätze vom unmittelbaren Inhalt der gerichtlichen Verhandlung schafft ein selbstständiges Vorverfahren. Eine Entscheidung, die am Übergang von den RSC 1965 zu den CPR 1998 erging, fasst die beiden Funktionen der pleadings zusammen: „the purpose of pleadings is to define the issues and give the other party fair notice of the case which he has to meet.“224 b) Ablauf des Schriftsatzwechsels Der Kläger eröffnete nach dem JA 1875 die pleadings, indem er ein statement of claim (Klagebegründung) verfasste.225 Nach Zustellung an den Beklagten antwortete dieser mit seiner defence (Verteidigungsschrift), die an die Stelle der plea des common law und der answer der equity getreten war. Auf sie konnte der Kläger mit einer reply (Replik) reagieren.226 Da der Schriftsatzwechsel kompakt gehalten werden sollte, folgten auf Klageschrift, Klageerwiderung und Replik regelmäßig keine weiteren Schriftsätze, so dass die pleadings geschlossen wurden.227 Diese Abfolge des Schriftsatzwechsels hat das englische Zivilverfahren im Grundsatz beibehalten.228 Nach den RSC 1965 tauschten die Parteien ihre pleadings allerdings erst aus, wenn der Beklagte mittels eines vorgefertigten Formulars, des acknowledgment of service, seinen Verteidi222 Die Informationsfunktion der Schriftsätze wird durch die CPR 1998 weiter gestärkt, da die Parteien über den Schriftsatzwechsel hinaus im Rahmen der sogenannten disclosure auch auf alle verfahrensrelevanten Dokumente und Beweismittel, die später im trial in den Prozess eingeführt werden sollen, hinweisen und diese unter Umständen untereinander austauschen müssen, vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 206 und 551 ff. 223 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20. 224 Barclays Bank v. Boulter [1999] 1 W.L.R. 1919, at 1924, per Lord Hoffmann. Die Entscheidung erging nach Einführung der CPR 1998, urteilte aber noch nach der alten Rechtslage unter den RSC 1965, s. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–12. 225 JA, Ord. XXI und Ord. XIX r. 2.1: „Unless the defendant in an action at the time of his appearance shall state that he does not require the delivery of a statement of complaint, the plaintiff shall within such time and in such manner as hereinafter prescribed, deliver to the defendant after his appearance a statement of his complaint and of the relief or remedy to which he claims to be entitled. […]” 226 JA, Ord. XIX r. 2; Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 62. 227 JA, Ord. XXV. 228 RSC, Ord. 18 r. 1–4; CPR part 16 und 15.
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gungswillen angezeigt hatte.229 Die pleadings galten als formelle Prozesshandlungen der Parteien, durch die sie den Verfahrensstoff erarbeiteten.230 Die Klageschrift nennen die CPR 1998 jetzt particulars of claim. Aus Gründen der Prozessbeschleunigung sollen sie möglichst schon auf der Rückseite des claim form plaziert werden, damit sie zusammen mit ihm dem Beklagten zugestellt werden können.231 Ansonsten werden sie, wie schon vor den CPR 1998 üblich, getrennt zugestellt.232 Im Verfahren der CPR 1998 müssen die Schriftsätze mit einem statement of truth versehen werden.233 Darin versichert die Partei beziehungsweise der vertretende Anwalt im Namen seines Mandanten, dass er glaubt, dass die im statement of case gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen.234 Sinn des statement of truth ist zum einen, dem Mandanten zu verdeutlichen, dass seine Tatsachenbehauptungen wohl gewählt sein müssen und nicht ins Blaue hinein gemacht werden dürfen.235 Es soll verhindert werden, dass Tatsachen nur aus rein prozesstaktischen Gründen behauptet werden, beispielsweise, um eine bessere Position in Vergleichsverhandlungen einzunehmen.236 Das statement of truth gibt einem statement of case Beweisqualität in allen Anhörungen außerhalb des trial.237 Der im früheren common law geltende Grundsatz, dass den Aussagen der Streitparteien selbst im Beweisverfahren keinerlei Beachtung geschenkt wird, gehört damit der Vergangenheit an.238 Beibehalten wurde das Abweichungsverbot.239 Nach ihm darf kein Schriftsatz einen neuen Klagegrund oder eine Tatsache vorbringen, die dem Vorbringen in früheren pleadings widerspricht. Ungeachtet der Möglichkeit, Schriftsätze unter bestimmten Umständen durch das formale Verfahren der Schriftsatzänderung mittels amendment zu ändern240, binden
229
RSC, Ord. 12. Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, 1. Aufl., S. 89. 231 CPR PD 16, Rn. 3.1. 232 CPR 7.4 (1) beziehungsweise (2). 233 CPR 22.1 (1) (a). 234 CPR PD 22, Rn. 2.2. 235 Der Anwalt ist verpflichtet, den Mandanten auf das statement of truth aufmerksam zu machen und ihn insbesondere darauf hinzuweisen, dass es den Straftatbestand des contempt of court erfüllen kann, den Inhalt der Schriftsätze nicht in gutem Glauben abgefasst zu haben, vgl. CPR 32.14 (1). 236 Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 43, Fn. 404. 237 CPR 32.6 (2) (a). 238 Vgl. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–21. 239 JA, Ord. XIX r. 19: „No pleading […] shall, except by way of amendment, raise any new ground of claim or contain any allegation of fact inconsistent with the previous pleadings of the party pleading the same.”; RSC, Ord. 18 r. 10; CPR PD 16 Rn. 11.2. 240 Vgl. u. S. 188 ff. 230
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
sich die Parteien damit unmittelbar an den Inhalt ihrer schriftlichen Äußerungen. c) Vortrag der wesentlichen Tatsachen (1) Auswirkung auf die Gestaltung der Schriftsätze Moderne Schriftsätze im englischen Zivilverfahren sind auf Kürze und Präzision ausgerichtet.241 Sie folgen darin der Tradition des juryVerfahrens, das es erforderlich machte, zur Verständlichkeit der Streitpunkte die Fakten in den pleadings präzise und knapp zu präsentieren.242 Der JA 1875 forderte darum, dass Schriftsätze so kurz zu halten sind, wie es die Umstände des Falles ermöglichen. Unnötige Weitschweifigkeit sollte der Richter mit Kostenauferlegung ahnden.243 Die RSC 1965 führten diese Richtung fort, indem sie statt einer detaillierten Geschichtserzählung eine Zusammenfassung des Falles forderten.244 In den CPR 1998 ist dieses Gebot der Kürze als Teil des übergreifenden Ziels enthalten, Verfahren effizient und zielführend zu gestalten. Knappe Schriftsätze als Verfahrensgebot sind allerdings nur sinnvoll, wenn sich der Verfasser gleichzeitig um Präzision bemüht.245 Trotz der zusammenfassenden Form des Schriftsatzes darf dessen Inhalt nicht verlorengehen. Kürze ist deswegen nicht mit Oberflächlichkeit zu verwechseln. Diese will das moderne englische Verfahrensrecht vermeiden, indem es von den Parteien verlangt, dass sie die wesentlichen Punkte ihres Falles deutlich herausarbeiten. In JA, Ord. XIX r. 4, vom RSC 1965 fast wortgetreu übernommen246, hieß es dazu: „Every pleading shall contain as concisely as may be a statement of the material facts on which the party pleading relies […].” Inhaltlich identisch formuliert CPR 16.4 (1) (a) speziell für die Klagebegründung: „Particulars of claim must include a concise statement of the facts on which the claimant relies”.
241
Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–24; Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 74. 242 Vgl. o. S. 30 ff. 243 JA, Ord. XIX r. 2.3: „Such statements shall be as brief as the nature of the case will admit, and the Court in adjusting the costs of the action shall inquire at the instance of any party into any unnecessary prolixity, and order the costs occasioned by such prolixity to be borne by the party chargeable with the same.” 244 RSC, Ord. 18 r. 7. 245 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 10 f. 246 RSC, Ord. 18 r. 7: „[…] every pleading must contain, and contain only, a statement in a summary form of the material facts on which the party pleading relies for his claim or defense, […] and the statement must be as brief as the case admits.” Der Einschub „and contain only” wurde eingefügt durch die RSC 1883 und sollte die Prägnanz der pleadings weiter schärfen, s. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–24, Fn. 91.
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Im Zentrum der Schriftsätze sollen die wesentlichen Tatsachen des Falles stehen. Dem widerspräche es, Details des Lebenssachverhalts im Sinne einer Geschichtserzählung beliebig aufzuzählen; stattdessen besteht die Kunst beim Verfassen englischer pleadings darin, die Beschreibung so zu reduzieren, dass sie die wesentliche Tatsachen von schmückendem Beiwerk befreit und so schon im Vorfeld des trial Klarheit über den Fall schafft. Gleichzeitig muss eine Partei darauf achten, dass sie keine Tatsachen, die für ihren Fall entscheidungsrelevant sind, unter den Tisch fallen lässt, denn das Gericht muss unerwähnte Tatsachen unberücksichtigt lassen, selbst wenn es davon ausgeht, dass eine Erweiterung des Tatsachenkomplexes den Ausgang der Klage entscheidend beeinflussen würde.247 Die Reduzierung des Falles auf seine wesentlichen Tatsachen spiegelt sich in der Gestaltung des einzelnen Schriftsatzes wieder. Die Klagebegründung besteht nicht aus einem Fließtext, sondern ist in möglichst knappe Absätze unterteilt, die der übersichtlicheren Schilderung des zwischen den Parteien Vorgefallenen dienen und die jeweiligen wesentlichen Tatsachen voneinander unterscheidbar machen sollen.248 Die Nummerierung249 dieser Absätze soll es der Gegenpartei erleichtern, unmissverständlich auf eine ganz bestimmte Tatsachenbehauptung zu erwidern, weil sie direkt auf jeden einzelnen Absatz Bezug nehmen kann.250 Der Parteivortrag der pleadings enthält „wesentliche Tatsachen“ (material facts) zum einen in Bezug auf die cause of action, zum anderen in Bezug auf die issues. Englische Rechtsprechung und Literatur grenzen beide Konstellationen, die ineinandergreifen und sich überlagern können, nicht immer deutlich voneinander ab. Die unterschiedlichen Dimensionen des wesentlichen Tatsachenvortrags erschließen sich aber, wenn man zunächst den Inhalt der Klagebegründung und sodann das Zusammenspiel von Klagebegründung und Klageerwiderung betrachtet. (2) Inhalt der Klagebegründung zur Bestimmung der cause of action In der Klagebegründung nennt der Kläger denjenigen Tatsachenkomplex, der seine Klage stützen soll. Die Sachverhaltsschilderung hat im englischen Zivilverfahren einen besonderen Zweck. Es geht im Rahmen der Klagebegründung darum, die notwendigen Tatsachen für eine vollständige cause of action einzubinden. Wesentliche Tatsachen sind daher diejenigen, 247
Al-Medenni v. Mars UK Ltd [2005] EWCA Civ 1041, [21], per Dyson L.J. JA, Ord. XIX r. 4: „[…] such statement being divided into paragraphs, numbered consecutively, and each paragraph containing, as nearly as may be, a separate allegation[…].” Vgl. ebenso RSC, Ord. 18 r. 6 (2). 249 JA, Ord. XIX r. 4; RSC, Ord. 18 r. 6 (2); CPR 16.4 (1) (a) fordert dies nicht mehr ausdrücklich. In der Praxis werden Schriftsätze aber weiterhin durch häufige Absätze gegliedert, s. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–27. 250 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.005. 248
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welche die vom Kläger geltend gemachte cause of action bilden.251 Die cause of action, das „dominating feature“252 des englischen Zivilverfahrensrechts in Bezug auf das Erkenntnisverfahren, beeinflusst den weiteren Verlauf des Verfahrens, weil die Verhandlung über ihn und der Beweis seiner Voraussetzungen im Mittelpunkt des trial stehen. Eine verbindliche Definition dafür, was sich hinter dem Begriff der cause of action genau verbirgt, kennt das englische Recht nicht. Die Literatur lehnt sich zur Beschreibung seiner Eigenschaften an den Begründungen einschlägiger Gerichtsurteile an253, ohne dass damit eine Systematisierung einhergeht. Erschwerend kommt hinzu, dass die CPR 1998 im Zuge der sprachlichen Bereinigungen von plain language auf eine begriffliche Differenzierung zwischen der Klage und der cause of action verzichten und stattdessen nur noch von claim sprechen.254 Sicher ist, dass eine bloße Geschichtserzählung nicht den verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Formulierung der cause of action genügt.255 Sie wäre zu weitläufig und widerspräche dem Gebot der Kürze und Präzision. Die cause of action ist auch nicht gleichzusetzen mit dem gesamten Lebenssachverhalt, der die rechtlichen Beziehungen zwischen den Streitparteien umrahmt.256 Belegen lässt sich dieser Befund daraus, dass aus einem Sachverhalt mehrere causes of actions erwachsen können. Im Fall Brunsden v. Humphrey257 beschädigte ein Angestellter von Humphrey aus Fahrlässigkeit die Droschke von Brunsden. Dieser klagte aus demselben fahrlässigen Verhalten zweimal, zunächst auf Schadensersatz wegen Beschädigung seiner Droschke und dann vor einem anderen Gericht auf Schadensersatz ob der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen. Die Richter urteilten, dass zwar niemand wegen derselben Sache zweimal gerichtlich in Anspruch genommen werden könne.258 Hier sei dieser Satz aber nicht anwendbar, da es in dem einen Fall um eine Beschädigung der Droschke 251 Bruce v. Odhams Press Ltd. [1936] 1 K.B. 697, at 712, per Scott L.J.: „The word ‚material‘ means necessary for the purpose of formulating a complete cause of action, and if any one ‚material‘ fact is omitted, the statement of claim is bad.“ 252 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 77. 253 Vgl. Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 75 f.; Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.12, Fn. 28, zählt die maßgeblichen Fälle auf. 254 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 15. 255 Fifoot, English Law and its Background, S. 162. 256 Cooke v. Gill (1873) L.R. 8 C.P. 107, at 109: „‚Cause of action’ does not necessarily mean the whole cause of action; but the act on the part of the defendant which gives the plaintiff his cause of complaint […].” A. A. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 105, der davon ausgeht, der cause of action sei der gesamte anspruchsbegründende Sachverhalt aus einem einheitlichen Sachkomplex. 257 (1884–85) L.R. 14 Q.B.D. 141, C.A. 258 Nemo debet bis vexari pro una et eadem causa, s. Brunsden v. Humphrey (1884– 85) L.R. 14 Q.B.D. 141, C.A., at 142.
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und in dem anderen Fall um die Gesundheitsverletzung des Klägers ging. Obwohl beide Schäden aus derselben Handlung resultierten, seien unterschiedliche causes of action vor die Gerichte gebracht worden.259 Teilweise berufen sich Gerichte darauf, die cause of action werde sichtbar, wenn man die unwesentlichen Tatsachen des Falles ausblende.260 Auch diese Vorgehensweise entbindet nicht von der Antwort auf die Frage, welche Tatsachen in diesem Sinne wesentlich, mithin Teil der cause of action sind und welche nicht. Eine gängige261 Beschreibung der cause of action stammt von Lord Diplock, der ihn an der Wende von JA 1875 zu den RSC 1965 als „simply a factual situation the existence of which entitles one person to obtain from the court a remedy against another person“262 bezeichnete. Frühe Gerichtsentscheidungen zum vereinheitlichten Zivilverfahren wendeten dazu einen Test an. Sie prüften, was passieren würde, wenn der Beklagte eine Tatsachenbehauptung der Klagebegründung bestritt. Jede Tatsache, die der Kläger in diesem Fall beweisen müsste, um sein Begehren vor Gericht durchzubringen und das Verfahren für sich zu entscheiden, war als Teil der cause of action wesentlich.263 Auch heutige Richter wenden diesen Test an.264 Der Beschreibung von Lord Diplock und dem von den Gerichten angewendeten Test ist gemein, dass sie die vorgebrachten Tatsachen auf ihre materiellrechtliche Bedeutung überprüfen. Der Richter gewährt dem Kläger am Ende eines Verfahrens denjenigen Rechtsschutz, den die vorgebrachten Tatsachen zulassen.265 Die Diskussion in englischen Urteilsbegründungen lässt nach dem Gesagten Grundvoraussetzungen zur Bildung der cause of action erkennen. Eine cause of action setzt sich aus denjenigen Tatsachen zusammen, die die Klage zum Erfolg führen.266 Sie verbindet damit eine Tatsachenschilderung mit einer materiellrechtlichen Impli-
259
Brunsden v. Humphrey (1884–85) L.R. 14 Q.B.D. 141, C.A., at 145, per Brett,
M.R.
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Vgl. etwa Savings & Investment Bank Ltd (In Liquidation) v. Fincken [2004] 1 W.L.R. 667, C.A. 261 Vgl. Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76; Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 18. 262 Letang v. Cooper [1965] 1 Q.B. 232, at 242, per Diplock L.J. 263 Coburn v. College [1897] 1 Q.B. 702, at 707, C.A., per Lord Esher M.R.; Cooke v. Gill (1873) L.R. 8 C.P. 107, at 116, per Brett, J.; Read v. Brown (1889) L.R. 22 Q.B.D. 128, C.A., at 131, per Lord Esher, M.R. 264 Vgl. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.17 und 6.49, mit Verweis auf West Bromwich Building Society v. Wilkinson [2005] UKHL 44. 265 Fifoot, English Law and its Background, S. 162. 266 Cooke v. Gill (1873) L.R. 8 C.P. 107, at 116, per Brett, J.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
kation. Derjenige Tatsachenkomplex, aus dem sich ein anerkannter Rechtsgrund für eine Klage ergibt, ist die cause of action.267 Die Klagebegründung soll den Sachverhalt auf denjenigen Tatsachenkomplex reduzieren, der zur Gewährung eines Rechtsschutzmittels berechtigt, falls der Kläger die Tatsachen im Laufe des Verfahrens beweisen kann. Sie ist das Forum, auf dem der Kläger die cause of action erstmals in das Verfahren einführt. In der englischen Literatur ist die Klagebegründung als „Skelett“ beschrieben worden.268 Die Technik der Schriftsatzabfassung erscheint so wie das forensische Zusammensetzen verschiedener Knochen, denen das Beweisverfahren später die entsprechenden Körperteile anfügen wird. Ergibt der daraus entstehende Körper eine Situation, in der das Gericht den beantragten Rechtsschutz zusprechen wird, so ist eine vollständige cause of action dargestellt.269 Im Fall einer Klage wegen negligence, also wegen deliktischer Haftung aus fahrlässiger Sorgfaltspflichtverletzung, bestünde dieses Skelett beispielsweise aus wenigstens drei Komponenten, die den materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Schadensersatz wegen negligence entsprechen. Der Kläger müsste erstens eine Situation deutlich machen, aus der sich eine Sorgfaltspflicht des Beklagten ihm gegenüber ergab, zweitens Tatsachen, die zur Verletzung dieser Sorgfaltspflicht führten, sowie drittens die Kausalität des Beklagten für die Sorgfaltspflichtverletzung und den daraus resultierenden Schaden. Vom Kläger bereitzustellende Zeugenaussagen und andere Beweismittel aus dem später durchzuführenden Beweisverfahren würden dann im sich anschließenden trial klären, wie sich die Angelegenheit tatsächlich abgespielt hatte, ob sie vom Beklagten verursacht wurde und ob der Kläger Schaden davontrug.270 (3) Zusammenspiel von Klage und Klageerwiderung zur Bestimmung der issues Die Anforderungen an Stichhaltigkeit und Präzision gelten auch für die Klageerwiderung. Statt das Begehren des Klägers pauschal zu bestreiten, muss der Beklagte auf jeden Punkt der Klageschrift gesondert eingehen und darf die wahren Tatsachen des Falles nicht verschleiern.271 Dabei bie267 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.12; Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76. 268 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.001. 269 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.17. 270 O´Hare/Browne, Civil Litigation, para 12.001; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.17. 271 CPR 16.5; JA, Ord. XIX r. 20: „It shall not be sufficient for a defendant in his defence to deny generally the facts alleged by the statement of claim, or for a plaintiff in his reply to deny generally the facts alleged in a defence by way of counterclaim, but each
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ten sich ihm die Möglichkeiten, das Behauptete zuzugestehen, es qualifiziert zu verneinen, oder Unkenntnis über den Punkt zu zeigen mit der Aufforderung zur Beweisführung.272 Versäumt es der Beklagte, zu einem Punkt aus dem klägerischen Schriftsatz Stellung zu nehmen, so gilt dieser regelmäßig als zugestanden.273 Unter diesen Voraussetzungen erhält der Begriff der „wesentlichen Tatsache“ eine weitere Bedeutung, die charakteristisch für das Verständnis englischer Juristen von den Schriftsätzen im Zivilverfahren ist. Wesentliche Tatsachen in diesem Sinne knüpfen an die ursprüngliche Funktion der pleadings an, die auf das alte common-law-Verfahren zurückgeht. Auch im modernen englischen Zivilverfahren ist es Aufgabe der Schriftsätze, die issues, die Streitpunkte zwischen den Parteien, zu identifizieren.274 Streitig sind alle Punkte, die von der einen Partei behauptet und von der anderen Partei bestritten werden.275 Um diese Punkte richterlich entscheiden zu können, muss über sie zunächst Beweis erhoben werden. Sobald für eine Partei absehbar ist, dass sie eine bestimmte Tatsache in der Hauptverhandlung wird beweisen müssen, sollte sie diese Tatsache in ihr pleading einschließen.276 Die Gegenseite erhält dadurch die Möglichkeit, Stellung zu nehmen und die Tatsache entweder zuzugestehen oder qualifiziert zu bestreiten. Wesentlich in diesem Sinne sind all diejenigen Tatsachen, die aus dem Zusammenspiel von Klage und Klageerwiderung streitig und folglich beweisbedürftig sind.277 Erst sie sind der Grund, weshalb die Parteien zur Regelung ihrer rechtlichen Beziehungen überhaupt richterlicher Hilfe bedürfen.278 Das Gericht wird seine Entscheidung anhand dieser Streitpunkte treffen.279 Dabei geht es wohlgemerkt nicht darum, etwaige Einwendungen der Gegenseite im eigenen Schriftsatz zu antizipieren, bevor sie überhaupt erhoben wurden. Diese Vorgehensweise wertet das englische Recht als übervorsichtig und als Anzeichen von Unsicherheit. Beispielsweise sollte ein party must deal specificially with each allegation of fact of which he does not admit the truth.”; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–34. 272 CPR 16.5(1). 273 CPR 16.5(5). 274 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 46; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.1; Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 74. 275 Woodley, Osborn´s Concise Law Dictionary, S. 234, Stichwort issue: „When the parties to an action have answered one another´s pleadings in such a manner that they have arrived at some material point or matter affirmed on one side and denied on the other, the parties are said to be ,at issue’.” 276 Samuels, Halsbury´s Laws of England: Pleading, Rn. 43. 277 Casson, Odgers´ Principles of Pleading, S. 135 f.; Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 47. 278 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.1. 279 Al-Medenni v. Mars UK Ltd [2005] EWCA Civ 1041, [21], per Dyson L.J.
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Kläger, der Schadensersatz aus einem Vertragsbruch begehrt und genau weiß, dass der Vertrag eine Ausschlussklausel für solche Fälle enthält, die Klausel trotzdem nicht schon in der Klageschrift erwähnen und begründen, weshalb er sie für ungültig oder unanwendbar hält, sondern zunächst abwarten, ob der Beklagte sie überhaupt durch seine Klageerwiderung in den Fall einbezieht.280 In einem der ersten Fälle, die sich nach Einführung des JA 1875 mit der Gestaltung der pleadings beschäftigte, verklagte Frau Millington ihren ehemaligen Verlobten Loring auf Schadensersatz, weil er sein Eheversprechen gebrochen hatte.281 Unstreitig musste sie die dafür erforderlichen materiellrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen in ihrem Schriftsatz darlegen, um eine cause of action schlüssig erscheinen zu lassen. Darüber hinaus gab sie in einem separaten Absatz an, der Beklagte habe ihr Vertrauen auf das Eheversprechen ausgenutzt, sie zum Geschlechtsverkehr verführt und dabei mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt. Da er dies bestritt, sah das Gericht auch diese Angabe als wesentliche Tatsache an. Es befand, dass alle Tatsachen wesentlich sein können, die eine Partei im trial beweisen muss, unabhängig davon, ob sie Bestandteil der cause of action sind.282 Die Behauptung, der Beklagte habe die Klägerin mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, hatte für die eigentliche cause of action keine Relevanz, so dass er nicht wesentlich war für eine schlüssige Klagebegründung. Der zur Bestimmung der cause of action angewendete Test hätte nicht funktioniert, da sich die fragliche Tatsache nicht auf den Erfolg der Klage insgesamt auswirkte. Sollte Frau Millington aber tatsächlich von ihrem Verlobten mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt worden sein, so hätte das zu einer Erhöhung ihres Schadensersatzanspruchs geführt. Es lag in ihrem Interesse, sich auf diesen Umstand im trial zu berufen und ihn zu beweisen.283 Wenn auch die cause of action von diesem issue unberührt blieb, so bildete es dennoch eine wesentliche Tatsache des Falles. Die CPR 1998 haben zusätzliche Bausteine in das Vorverfahren eingefügt, die die Identifizierung der Streitpunkte verbessern sollen. Bereits vor Einleitung des Verfahrens hat der Kläger dem Beklagten den Prozess im pre-action-protocol angekündigt. Während des Schriftsatzaustauschs kommt hinzu, dass die Parteien entscheidungserhebliche Dokumente aufdecken und Zeugenaussagen, die die Behauptungen der Parteien am trial 280
O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.033. Weitere Angaben wären aus englischer Sicht vorschnell und kämen dem traditionell zu vermeidenden „leaping before you come to the stile” gleich, s. Sir Ralph Bovey´s Case (1684) Vent 217, per Hale C.J. 281 Millington v. Loring (1880) L.R. 6 Q.B.D. 190. 282 Millington v. Loring (1880) L.R. 6 Q.B.D. 190, at 194, per Lord Selborne L.C. 283 Millington v. Loring (1880) L.R. 6 Q.B.D. 190, at 195, per Brett L.J.: „It is true that they are facts which are not necessary to establish the cause of action, but they are facts on which the plaintiff will rely at the trial.”
II. Elemente der englischen Streitsache
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beweisen sollen, austauschen müssen (disclosure). Diese Dokumente sind bei der Suche nach den Streitpunkten mitzuberücksichtigen und sollen zu einer Verschlankung der Schriftsätze führen.284 Die wesentlichen Tatsachen des Falles, die die Streitpunkte bilden, bleiben nach wie vor den Schriftsätzen vorbehalten. Ist es aber nötig, wegen der Komplexität des Falles weitere Details zu schildern, so sollten diese in die Zeugenaussagen ausgelagert werden.285 d) Bezugnahme auf die materielle Rechtslage Das englische Zivilverfahrensrecht unterscheidet in den Regeln beim Inhalt der Schriftsätze zwischen Tatsachenbehauptungen und rechtlichen Schlussfolgerungen. Nach dem JA 1875 mussten die Parteien nur die wesentlichen Tatsachen ihres Falles darlegen, diese aber nicht rechtlich einordnen.286 Die grundsätzliche Ablehnung von rechtlichen Ausführungen in den pleadings sollte die Partei daran hindern, die Fakten des Falls hinter unhaltbaren Rechtsbehauptungen zu verschleiern, und zum Ausdruck bringen, dass das Gericht an die Rechtsansichten einer Partei nicht gebunden ist. Im englischen Zivilverfahren genügt es wie schon vor den Verfahrensreformen nicht, ein Recht, eine Pflicht oder eine bestimmte Haftung bloß zu behaupten, da dies nur rechtliche Mutmaßungen sind. Maßgeblich für die pleadings sind die Tatsachen, die zu dem Recht, der Pflicht oder der Haftung geführt haben.287 Dies gilt beiderseits für Klage und Klageerwiderung. Behauptet der Kläger beispielsweise nur, der Beklagte schulde ihm 10.000 BPS, dann versteckt er sich hinter einer Rechtsfolge, ohne dass sich die Richtigkeit seines Vorbringens anhand von Tatsachen überprüfen ließe. Er müsste stattdessen den Sachverhalt so schildern, dass sich für einen rechtskundigen Betrachter daraus ergibt, ob der Forderung ein Vertrag, ein Treuhandverhältnis oder eine andere rechtliche Verpflichtung zugrundeliegt. Geht es etwa um einen Vertrag über die Lieferung von Waren, wären notwendige Bestandteile der Schilderung der Vertragsinhalt, wann die Ware geliefert wurde, etc.288 Der Beklagte auf der anderen Seite dürfte dann die Zahlung nicht pauschal verweigern, sondern müsste sich damit verteidigen, dass es 284
McPhilemy v. Times Newspapers Ltd. [1999] E.M.L.R. 751, C.A., at 776, per Lord Woolf M.R.; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–15; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.3 ff. 285 McPhilemy v. Times Newspapers Ltd. [1999] E.M.L.R. 751, C.A., at 776, per Lord Woolf M.R. In diesem besonders deutlichen Fall empfand das Gericht den Umfang einer Klageerwiderung von 38 Seiten als nicht hinnehmbar. 286 JA, Ord. XIX r. 4. 287 Gautret v. Egerton (1866–67) L.R. 2 C.P. 371; Day v. Brownrigg (1878–79) L.R. 10 Ch.D. 294, C.A. 288 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.006.
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überhaupt keine Abmachungen zwischen ihm und dem Kläger gab oder dass diese ungültig war, dass die Warenlieferung noch nicht stattgefunden habe oder dass er bereits bezahlt habe.289 Die Konzentration auf den Tatsachenvortrag behielt die Verfahrensordnung auch nach den Weiterentwicklungen der RSC 1965 und CPR 1998 bei.290 In den CPR 1998 sind rechtliche Aspekte jedoch nicht mehr aus den pleadings kategorisch verbannt, da sie die Parteien zumindest ansprechen dürfen, ohne Gefahr zu laufen, dass der Richter sie aus dem Schriftsatz herausstreicht.291 Das englische Verfahrensrecht geht heute davon aus, dass Tatsachen- und Rechtsausführungen häufig schwer zu unterscheiden sind. Mit der Zulassung von Rechtsbehauptungen fällt diese schwierig zu vollziehende Trennlinie zwischen wesentlichen Tatsachen, ihrer Orientierung nach der cause of action und dezidiert rechtlichen Argumenten weg. Auch im Hinblick auf das Ziel der CPR 1998, frühzeitig alle Probleme des Falles auf den Tisch zun legen, sind Rechtsausführungen hilfreich, wenn sie auf die materiellrechtliche Bedeutung der vorgebrachten Tatsachen bereits in den Schriftsätzen aufmerksam machen. Parteien können dadurch den Gehalt der gegnerischen Argumente besser einschätzen und sind möglicherweise früher zu einem Vergleich bereit.292 Das englische Recht betrachtet Tatsachen- und Rechtsausführungen also nicht mehr als sich ausschließende Gegensätze. Nicht mit einer rechtlichen Einordnung der Fallschilderung verwechselt werden dürfen die vom konkreten Fall losgelöste Stellungnahmen zur Auslegung einer materiellen Rechtsregel, denn diese sind dem Gericht vorbehalten. Klar bleibt, dass der Kern der Schriftsätze die wesentlichen Tatsachen sind.293 Die Rechtsausführungen eines Schriftsatzes können nicht mehr als solche Hinweise sein, sie legen keinen der Akteure des Verfahrens fest. Beim Gericht versteht sich das von selbst, soll es doch gerade ein unabhängiges Urteil über die Rechtslage fällen. Doch auch die Parteien können im weiteren Verfahrens-
289
O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.006. Vgl. Re Vandervell's Trusts (No. 2) [1974] Ch. 269, at 321, per Lord Denning M.R.: „It is sufficient for the pleader to state the material facts. He need not state the legal result. If, for convenience, he does so, he is not bound by, or limited to, what he has stated.” 291 RSC, Ord. 18 r. 11; CPR PD 16 Rn. 10.3 und 16.3. 292 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.10; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1– 29. Häufig ist es der Beklagte, der auf einer eigenen rechtlichen Einschätzung seine Verteidigung aufbaut. Steht beispielsweise ein Deliktstatbestand in Streit, der nur bei einer besonderen Schadensfolge gegeben ist, so könnte der Beklagte gerade diese rechtlich qualifizierte Schadensfolge in Abrede stellen, s. O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.007. 293 Sturge, Basic Rules, S. 59. 290
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verlauf wieder von ihrer in den Schriftsätzen geäußerten Rechtsmeinung abweichen.294 Obgleich der Kläger seine Ausführungen nicht explizit materiellrechtlich einordnen muss, könnte die Komprimierung des Sachverhalts auf eine cause of action, die das begehrte Rechtsschutzmittel rechtfertigt, für eine verstärkte Orientierung des Schriftsatzes an den materiellen Grundlagen der Klage sprechen. Die englische Praxis, die Klagebegründung in nummerierte Absätze zu gliedern,295 von denen jeder Absatz eine eigene Behauptung enthalten muss,296 spricht dafür. Neben den formalen Erleichterungen, dass der Schriftsatz übersichtlicher ist und der Beklagte auf Nummerierungen leichter erwidern kann, gibt die Gliederung nach Absätzen der Klagebegründung ein geeignetes Format, die einzelnen Voraussetzungen eines materiellrechtlichen Anspruchs abzubilden. Jacob deutet dies an, indem er die Klagebegründung als „Nahtstelle“297 zwischen einem Tatsachenkomplex und dem materiellen Recht bezeichnet. Bei der Erstellung seiner Klagebegründung müsse der Kläger immer die anwendbaren materiellen Rechtsregeln im Blick behalten, die sein Rechtsbegehren tragen. Ihre Tatbestandsvoraussetzungen formten die Grundlage seiner Klage und wirkten sich auf die Gestaltung der Klagebegründung aus.298 Hartwieg folgert daraus, dass die Abgrenzungen der Behauptungen in den Schriftsätzen aus materiellrechtlichen Gesichtspunkten erfolgten und sich die abfassende Partei anhand der materiellen Rechtslage entscheiden müsse, welche Tatsachenbehauptung zweckdienlich ist und in ihren Vortrag gehört.299 Die in der Gestaltung der Klagebegründung enthaltenen materiellrechtlichen Implikationen werden im englischen Recht nicht ausdrücklich thematisiert, sondern nur angedeutet.300 Deutlicher wird sie durch die gesetzliche Vorgabe, die cause of action müsse nachvollziehbar (reasonable) sein. Hier unterscheidet sich die moderne Gesetzeslage von dem früheren common law. Im Verfahren vor 1875 konnte die Gegenseite die materiellrechtliche Begründung einer Behauptung durch den Einwand des demurrer anzweifeln. Die Tatsachen wurden dann als zugestanden hingenommen und in einem zweiten Schritt der Sachverhalt dahingehend überprüft, ob es
294 Loveridge v. Healey [2004] EWCA Civ 173, C.A.; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.11. 295 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 93; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–27. 296 JA, Ord. XIX r. 4; RSC, Ord. 18 r. 6 (2). 297 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76. 298 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76. 299 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 94. 300 Vgl. Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
für ihn eine materiellrechtliche Grundlage gab.301 In rein tatsächlicher Hinsicht nahm das Gericht aber den Tatsachenvortrag als gegeben hin. Die heutige englische Verfahrensordnung fordert dagegen, dass sich bereits aus der Aufstellung der Tatsachen durch die pleadings eine nachvollziehbare Grundlage für eine erfolgreiche Klage ergeben müsse, andernfalls kann das Gericht den Punkt aus dem Schriftsatz streichen mit der Folge, dass dieser unberücksichtigt bleibt.302 Der Klagebegründung kann ihre Nachvollziehbarkeit in den recht eindeutigen Fällen fehlen, in denen sie sich überhaupt nicht um eine Präzisierung des klägerischen Begehrens bemüht oder in denen der Tatsachenvortrag nicht logisch ist und keinen Sinn ergibt. Aber auch wenn der Kläger einen zusammenhängenden Tatsachenkomplex schildert, dieser Tatsachenkomplex aber schon keine materiellrechtlich anerkannte Berechtigung des Klägers gegen den Beklagten hergibt, wird das Gericht die Klagebegründung in dieser Form nicht annehmen.303 Der Kläger kommt mit anderen Worten nicht umhin, den Tatsachenvortrag so aufzubauen, dass er erkennen lässt, auf welche materiellrechtliche Berechtigung der Kläger anspielt. Dies bedeutet, dass die englische Klagebegründung das Vorliegen einer cause of action schlüssig darlegen muss. Folglich dienen die Formalia der Schriftsatzerstellung nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern sie haben auch inhaltliche Bedeutung für die Streitsache. Die komprimierte Darstellung zielt auf eine schlüssige cause of action. Beispielsweise hätte eine Klage auf Schadensersatz wegen Vertragsbruch wenigstens vier wesentliche Teile: Die Klageschrift müsste die Situation schildern, aus der sich das Bestehen des Vertrags ergibt, die Klausel, gegen die der Beklagte angeblich verstoßen hat, den Vertragsbruch, sowie die Folgen, die daraus zum Schaden des Klägers geführt haben.304 Festzuhalten ist, dass die Klagebegründung zunächst ein schriftlicher Tatsachenvortrag ist. Die Verfahrensregeln fordern nicht, dass der Kläger die cause of action, die aus diesen Tatsachen erwachsen könnte, ausdrück301
Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–17. CPR 3.4 (2) (a); RSC, Ord. 18 r. 19 (1) (a). Zum Institut des Herausstreichens (strinking out) vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 917 ff.; Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 137 f. – Das Gericht kann aber auch andere Folgen aussprechen, wenn es sie für passender hält, z.B. Kostenauferlegung, einen geringeren Zinssatz, oder eine bestimmte Geldsumme, die bei Gericht eingezahlt werden muss, vgl. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–18. 303 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–17; Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 137 f. 304 O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.013; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.17. Dazu müsste der Kläger dann noch die Zinsen angeben, die sich aus dem Schaden ergeben haben, s. O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.034. 302
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lich herausarbeitet oder gar namentlich benennt.305 Der Kläger genügt den Anforderungen des Verfahrensrechts, wenn er die seiner Ansicht nach maßgeblichen Fakten vorträgt. Materiellrechtliche Verbindungen zwischen Klagebegründung und materieller Rechtslage bestehen gleichwohl, da das Gericht nur einen Schriftsatz, der alle Elemente der cause of action schlüssig berücksichtigt, also die Klage begründet erscheinen lässt, zulassen wird. Der Kläger sollte dazu die materielle Rechtslage bei der Formulierung der Klagebegründung genau kennen und ihre Gestaltung dementsprechend anpassen.306 e) Beweisanführungen JA 1875 und RSC 1965 untersagten den Parteien strikt, in ihren Schriftsätzen auch Beweise anzugeben.307 Grund für den Ausschluss von Beweisanführungen war die Befürchtung, dass die Schriftsätze ansonsten lang und unübersichtlich geraten würden mit dem Effekt, dass die pleadings die Streitpunkte zwischen den Parteien eher verschleierten als erhellten.308 Die historische Erfahrung mit den ausufernden Schriftsätzen im früheren equity-Verfahren diente hierbei als abschreckendes Beispiel.309 Die Beweisführung bereits in den pleadings würde nach traditioneller englischer Lesart einen logischen Schritt im Verfahrensgang überspringen, denn eine Tatsache muss zunächst behauptet werden, um sie beweisen zu können. Das frühere common law trennte diese Schritte streng und untersagte die Beweisführung in den pleadings.310 Die vereinheitlichten Zivilverfahrensregeln schlossen sich der Sichtweise an, dass es Aufgabe von Beweisführungen sei, die zwischen den Partien streitigen Tatsachen zu
305 Konskier v. B. Goodman Ltd. [1928] 1 K.B. 421, C.A., at 427, per Scrutton L.J.; Handley, Res Judicata, Rn. 7.16; Plant/Rose, Blackstone's Guide to the Civil Procedure Rules, Rn. 6.4.2. 306 Casson, Odgers´ Principles of Pleading, S. 135. Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 77 f., stehen den materiellrechtlichen Implikationen kritisch gegenüber, weil sie hohe Anforderungen an eine zulässige Klageeinbringung stellen. Sie plädieren dafür, den Tatsachenvortrag der Klagebegründung von den materiellen Rechtsgrundlagen zu entkoppeln, s. Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 85. 307 JA, Ord. XIX r. 4: „Every pleading shall contain as concisely as may be a statement of the material facts on which the party pleading relies, but not the evidence by which they are to be proved […].”; im Wortlaut fast identisch RSC, Ord. 18 r. 7: „[…] every pleading must contain, and contain only, a statement in a summary form of the material facts on which the party pleading relies for his claim or defense, as the case may be, but not the evidence by which those facts are to be proved […].” 308 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 50; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.10. 309 Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 118. 310 Casson, Odgers´ Principles of Pleading, S. 143 f.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
beweisen, nicht aber, diese streitigen Punkte festzulegen.311 Wollte eine Partei sich beispielsweise auf ein Zugeständnis des Gegners berufen, so wurde dies bereits als Beweisanführung bewertet.312 Die CPR 1998 erlauben dagegen die Anführung von Beweisen in den vorbereitenden Schriftsätzen.313 Hintergrund dafür ist das Problem, dass eine Partei vor Einführung der CPR 1998 in der Hauptverhandlung häufig durch unvorhersehbare Beweisantritte der gegnerischen Partei überrascht wurde.314 Dieser Überrumpelungseffekt war eine Erblast aus dem früheren common-law-Verfahren, in dem den Anwälten daran gelegen war, so viel Material wie möglich, das im trial als Beweis eingeführt werden sollte, im Vorfeld zu verbergen.315 Gegen diese weiterhin verbreitete Verfahrenstaktik gehen die CPR 1998 vor, indem sie es den Parteien ausdrücklich freistellen, den Schriftsätzen Beweise anzuhängen, und die Parteien im Rahmen der disclosure verpflichten, schon im Vorverfahren absehbare Beweisanführungen anzukündigen. Der Austausch der witness-statements im Vorverfahren nimmt die Beweisführung ohnehin vorweg.316 In jedem Fall wird die gegnerische Partei damit vor Beginn des trial über auf sie zukommende Beweisanträge informiert. f) Einschränkung der Herrschaft der Parteien über die Streitfestlegung Das englische Zivilverfahren weist den Parteien traditionell die Hauptrolle bei der Verfahrensgestaltung zu. Mit dem Begriff des adversary system beschreibt es die in England besonders ausgeprägte Verfahrensführung durch die Parteien, der weitgehende richterliche Passivität gegenübersteht.317 „Kampf318- und Sportmetaphern319“ verbildlichen die Vorstellung 311
Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 49. Davy v. Garrett (1877–78) L.R. 7 Ch.D. 473, C.A.; Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 50. 313 CPR PD 16, Rn. 10.3 und 16.3. 314 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 50. Das prozesstaktische Vorgehen, Beweismittel möglichst lange zurückzuhalten, um der gegnerischen Partei in der Hauptverhandlung das Reaktionsvermögen zu nehmen, bezeichneten englische Juristen als „trial by ambush“, s. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 542. 315 Spedding v. Fitzpatrick (1888) L.R. 38 Ch.D. 410, C.A., at 414, per Cotton L.J.: „[…]to conceal as much as possible what was going to be proved at the trial […].“ 316 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–30. 317 Dreymüller, Die Reform des englischen Zivilprozessrechts, ZVglRWiss, Bd. 101 (2002), S. 472. Zu diesem „fundamental, characteristic feature” des englischen Zivilverfahrenssystems sowie seine Hintergründe vgl. Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 5 ff. (Zitat S. 5). Daraus folgt die herausragende Bedeutung der pleadings zur Sortierung des Streitstoffs, s. Polden, The Courts of Law, Oxford History Bd. XI, S. 581. 318 Burmah Oil Co. v. Governor and Co. of the Bank of England [1979] 1 W.L.R. 473, C.A., at 484, per Lord Denning: „In litigation as in war, if one side makes a mistake, the other can take advantage of it. No holds are barred.“ 312
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von Parteien im direkten, mündlichen Schlagabtausch, während sich der Richter in die Rolle des Schiedsrichters zurückzieht, der nur noch bei der Verletzung formaler Regeln eingreift. Bis zu der gesetzlichen Festlegung von übergreifenden Prozessgrundsätzen in den CPR 1998 war das adversary system wohl die einzige unbestrittene Maxime des englischen Zivilverfahrens.320 Die Justizreform des JA 1875 ließ diesen Wesenszug des englischen Zivilverfahrens unangetastet und nahm auch keine grundsätzlichen Änderungen an der Rolle des Richters vor.321 In der Einführung der CPR 1998 zeigt sich dagegen ein verändertes Rechtsdenken. Nun sorgt das übergreifende Ziel gerechter Verfahrensdurchführung dafür, dass alle Parteien des Rechtsstreits intensiver eingebunden werden. Das Ziel effektiver und kostengünstiger Verfahrensdurchführung muss allgemein bei der Auslegung der Verfahrensregeln berücksichtigt werden,322 die Parteien sind zu seiner Förderung zur Zusammenarbeit mit dem Gericht verpflichtet323 und das Gericht erhält zahlreiche Kontrollpflichten, die als active case management bezeichnet werden324. Hintergrund dieser ökonomischen Erwägungen ist die Abkehr von der Sichtweise des adversary system, das den zivilen Rechtsstreit als reine Privatangelegenheit der Streitparteien verstand.325 Um Überlastungen in finanzieller und zeitlicher Hinsicht zu mildern, sind englische Gerichte in den CPR 1998 angehalten, die Bedeutung und den Umfang eines Verfahrens in ein Verhältnis zu den Gerichtsressourcen zu setzen und einen Ausgleich mit anderen Gerichtsverfahren herzustellen.326 Da durch eine frühe Streitbeilegung Gerichtsressourcen geschont und die Kosten niedrig gehalten werden können, verpflichten die CPR 1998 die Parteien vermehrt zur außergerichtlichen Streitschlichtung und Kooperation im Verfahren, beispielsweise durch die Ankündigung der Klage in dem letter of claim oder durch den frühen Austausch beweiserheblicher Dokumente und Zeugenaussagen.327 Das adversary system des früheren englischen Zivilverfahrens 319
Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 9. Hartwieg, Die Kunst des Sachvortrags, S. 75. In diese Richtung geht der Bericht über Reformen des Zivilverfahrensrechts der Royal Commission on Legal Services, Cmnd 7648, HMSO, October 1979, chaired by Sir Henry Benson, Rn. 17.8, p 189: "English law is neither codified nor inquisitorial. It is based on precedents and adversarial procedure." 321 Jacob, Civil Procedure since 1800, S. 205. 322 CPR 1.2. 323 CPR 1.3. 324 CPR 1.4; vgl. Andrews, English Civil Procedure, Rn. 13.02 ff. 325 Dreymüller, Die Reform des englischen Zivilprozessrechts, ZVglRWiss, Bd. 101 (2002), S. 472; Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 5 ff. 326 CPR 1.1 (2) (e). 327 Vgl. o. S. 136 ff. 320
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
weicht damit einem Modell mit kooperativen Zügen, das auf Mitarbeit aller Beteiligten und Führung durch das Gericht ausgelegt ist. Das Gericht ist im Zuge des case management aus seiner passiven Rolle herausgetreten und hat weitgehende Lenkungsbefugnisse erhalten, die sich auch auf die Schriftsätze der Parteien im Vorverfahren auswirken.328 Vor der Verfahrensreform von 1998 galt eine Involvierung des Richters vor Eröffnung des trial als überflüssige Einmischung in die Privatangelegenheiten der Parteien. Die Schriftsätze sollten das Gericht nicht über den Streitstand informieren oder ihm gar als Grundlage gewissenhafter Vorbereitung auf die anstehende Verhandlung dienen. Nach englischer Auffassung bargen vorbereitende Schriftsätze die Gefahr, das Urteilsvermögen des judge zu trüben.329 Um dieses Risiko auszuschließen, sollte seine ganze Aufmerksamkeit dem mündlichen Vortrag der Parteivertreter in der Hauptverhandlung gelten. Nach den CPR 1998 muss das Gericht die Schriftsätze vorab auf ihre Nachvollziehbarkeit prüfen und, wenn nötig, unschlüssige Schriftsätze „ausstreichen“.330 Um dies beurteilen zu können, benötigt das Gericht frühzeitig Einsicht in den Schriftsatzwechsel. Seine Kenntnis von deren Inhalt trägt zur effizienten Vorbereitung des trial bei. Nur mit dem Wissen um die neuralgischen Punkte des Rechtsstreits kann das Gericht den weiteren Verlauf des Prozesses richtig einschätzen und steuern.331 Neben der Ermittlung der Streitpunkte zwischen den Parteien informieren die Schriftsätze daher sowohl die Parteien als auch das Gericht über den Streitstand. Der erweiterte Adressatenkreis spricht für eine Veränderung des Rechtsdenkens unter den CPR 1998 vom adversary system hin zu einem kooperativen Verfahrensmodell. Die Herrschaft über das Verfahren wird in Teilen aus den Händen der Parteien genommen und in die Verantwortung des Gerichts gegeben.
328 Das case management ist in vielen weiteren Phasen des englischen Zivilverfahrens präsent, die nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Bereits im Vorverfahren ist das Gericht stärker eingebunden, denn mit der Anhängigkeit des Verfahrens legt es erstmals offizielle Gerichtsakten an. Schriftsätze und andere Dokumente müssen in Kopie an das Gericht gehen, s. Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 36 f. Im Hauptverfahren wird die verstärkte Leitungsfunktion des Richters vor allem dadurch deutlich, dass die Durchführung des Beweisverfahrens nun in seinen Händen liegt. Er entscheidet, über welche Fragen Beweis erhoben werden muss, welche Beweismittel dazu geeignet sind und wie diese erhoben werden sollen (CPR 32.1). Sachverständige sind vornehmlich nicht mehr den Parteien, sondern dem Gericht zur Begutachtung verpflichtet (CPR 35.3). Der Richter kann Sanktionen gegen eine Partei verhängen, die gegen Auflagen verstoßen oder Fristen versäumt hat, ohne dass die gegnerische Partei dies beantragt hat (CPR 3.4 ff.). 329 Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 64 f. 330 CPR 3.4 (2) (a). 331 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.1.
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4. Bedeutung des trial Trotz des englischen Bestrebens, einen Rechtsstreit bereits im Vorverfahren ohne richterliches Urteil beizulegen, bleibt es Hauptzweck des Vorverfahrens, das öffentlich, konzentriert und mündlich durchgeführte trial vorzubereiten. In der Hauptverhandlung als „crowning culmination“332 des englischen Zivilverfahrens erfolgt die Erhebung der Beweise, die die im Vorverfahren behaupteten Tatsachen belegen sollen, sowie der Richterspruch anhand des vom Kläger formulierten Klageziels und des Ergebnisses des Beweisverfahrens. Fraglich ist im Rahmen dieser Arbeit, ob die Verhandlung im trial noch einen eigenständigen Beitrag zur Streitbestimmung leistet. Gelingt es den Parteien nicht, ihren Streit im Rahmen des Austauschs ihrer Schriftsätze beizulegen, müssen sie für eine richterliche Entscheidung in das trial eintreten. Im JA 1875 lag die Initiative hierzu noch bei den Streitparteien selbst, meist beim Kläger, der dem Beklagten anzeigen musste, dass er den Streit ins Hauptverfahren tragen wollte.333 Die Parteien mussten sich dann über den Modus des trial einigen. Sie konnten insbesondere wählen, ob sie weiterhin Beweisfragen dem verdict der jury anheim geben wollten oder ob der judge zum einheitlichen Richter sowohl über Tatsachen- als auch Beweisfragen werden sollte.334 Nach einem ersten Vorschlag des Klägers war der Beklagte seinerseits berechtigt, Präferenzen über den gewünschten Verhandlungsmodus anzuzeigen.335 Diese Dispositionsbefugnis zur Übertragung ihres Rechtsstreits in das trial verloren die Parteien in den RSC 1965. Nach ihnen musste das Vorverfahren zunächst förmlich abgeschlossen und an den Richter des Hauptverfahrens mittels eines summons for directions verwiesen werden. Diese Zwischenstufe sollte erstens sicherstellen, dass in dem Streit tatsächlich keine gütliche Einigung möglich war, und zweitens förmlich bestätigen, dass der Streitstoff mittlerweile durch die pleadings so weit präzisiert und aufbereitet war, dass die Hauptverhandlung in einem zusammenhängenden Termin durchgeführt werden konnte.336 Aus Gründen der Begrenzung und Konzentration der Streitsache wurde der Schriftsatzaustausch des Vorverfahrens durch einen master oder registrar337 beaufsichtigt, der sich am Ende aktiv in den Austausch der Schriftsätze einschalten konnte. Er sollte den Parteien helfen, den bestehenden Streitstoff aufzubereiten und zu präzisie332
Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 148. JA, Ord. XXXVI. Dies geschah entweder in seiner Replik oder innerhalb von sechs Wochen nach Schließung der pleadings. 334 JA, Ord. XXXVI r. 2. 335 JA, Ord. XXXVI r. 3. 336 Vgl. RSC, Ord. 25 r. 1 (1). 337 Dies sind richterliche Unterbeamte, häufig Barrister oder Queen´s Councils, vgl. Bunge, Das untere Richterpersonal, S. 11 ff. 333
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
ren,338 um so das trial bestmöglich vorzubereiten. Schließlich entschied er über eine Verweisung des Verfahrens an den Richter des Hauptverfahrens. Erst durch das summons for directions, das die Parteien beim master beantragen mussten, konnte das Verfahren im trial fortgesetzt werden. Die Kontrollfunktionen des Richters, der das Vorverfahren betreut und heute als procedural judge bezeichnet wird, haben mit der Einrichtung des case management durch die CPR 1998 weiter zugenommen. Dies betrifft etwa die Bewertung der Parteischriften durch das Gericht. Zwar müssen die pleadings der Parteien schon seit dem JA 1875 nach Einleitung des Hauptverfahrens an das Gericht des trial weitergeleitet werden.339 Dies geschah aber vornehmlich zum Zweck der Aufbewahrung, um im Zweifelsfall nachprüfen zu können, ob eine Partei in ihrem mündlichen Vortrag im Rahmen des trial unzulässigerweise vom Inhalt ihres Schriftsatzes im Vorverfahren abwich.340 Im Verfahren der CPR 1998 hingegen sichten und bewerten die procedural judges den Schriftsatzaustausch341 und teilen den Fall anhand dieser Bewertung einem von drei verschiedenen tracks zu.342 Die tracks stehen für unterschiedlich schnelle Verfahrensgänge und richten sich nach Kriterien wie dem Streitwert und der zu erwartenden Komplexität des Falles.343 Die Einteilung in tracks soll das Prozedere in unkomplizierten oder weniger wichtigen Fällen schlank halten und eine schnellere Entscheidung ermöglichen. Erst nach dieser Zuordnung kann der Streit in das trial übergeleitet werden. Die Verfahrensordnungen seit dem JA 1875 enthalten nur wenige Regeln zum eigentlichen Ablauf des trial.344 Vorwiegend richtet er sich nach Richterrecht und durch die vom Verfahrensrecht getrennt geregelten Be338
RSC, Ord. 25 r. 4. JA, Ord. XXXVI r. 17.1: „The party entering the action for trial shall deliver to the officer a copy of the whole of the pleadings in the action, for the use of the Judge at the trial.” 340 Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 64. 341 Grundlage der Bewertung sind die Schriftsätze der Parteien, ein von den Parteien auszufüllender Fragebogen sowie gesetzlich vorgegebene Kriterien gem. CPR 26.8, die insbesondere auf die Höhe des Streitwerts und den Schwierigkeitsgrad des Falles abstellen. In unproblematischen Fällen, deren Streitwert 5.000 GBP nicht übersteigt, gilt der small claims track nach CPR Part 27. Liegt der Streitwert zwischen 5.000 und 15.000 GBP und lässt der Fall keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten erwarten, wird im fast track verhandelt gem. CPR Part 28. In den übrigen Fällen greift der multi track gem. CPR Part 29. 342 CPR r. 26.1 (2). 343 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 124 f. 344 Selbst die Vorschriften, die explizit zum trial Stellung nahmen, beschäftigten sich überwiegend mit Regelungen in seinem Vorfeld und sparten den Verlauf des eigentlichen Hauptverfahrens aus, vgl. nur RSC, Ord. 35, die mit proceedings at trial überschrieben ist, aber überwiegend der Vorbereitung des Hauptverfahrens und nicht seinem eigentlichen Verlauf dient. 339
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weisvorschriften.345 Die geringe Menge an Normen zum trial steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Bedeutung. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Grundprinzipien des trial, insbesondere seine Mündlichkeit, aus der Zeit stammen, als Tatsachenfragen in der Hauptverhandlung noch regelmäßig durch die jury entschieden wurden. Auch nach weitestgehender Abschaffung des trial by jury sah man diese Regeln als bewährt an und nahm sie mangels Neuregelungsbedarf nicht explizit in die geschriebene Verfahrensordnung auf.346 Der Anwaltsvertreter des Klägers eröffnet das trial durch sein Plädoyer, in dem er aus seiner Sicht die Einzelheiten des Falles sowie die Streitfragen, die einer Entscheidung des Gerichts bedürfen, mündlich vorträgt. Auf die Beweisaufnahmen der Parteien347 folgt das Plädoyer des Beklagtenvertreters, der ebenfalls Beweismittel anführen darf. An diese Runde der Beweisaufnahme schließen sich die Schlussplädoyers an. Die Hauptverhandlung folgt dem Konzentrationsgrundsatz und soll in einem Termin durchgeführt werden, der sich wohlgemerkt über mehrere Tage hinziehen kann. Das trial schließt mit dem Urteil des Richters,348 in dem er in der Regel nochmals die Tatsachen nennt, wie er sie während des trial vorgefunden hat, und daraus die rechtlichen Schlussfolgerungen zieht.349 Die Ausrichtung des trial auf die Maximen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit hat zur Konsequenz, dass die Parteien ihre Vorträge nicht auf einen Verweis auf den Inhalt ihrer Schriftsätze im Vorverfahren reduzieren können. Entscheidungsgrundlage für das Gericht ist nur der Verlauf der Hauptverhandlung. Dies könnte zu dem Schluss verleiten, der Schriftwechsel des Vorverfahrens wirke sich auf die mündliche Verhandlung gar nicht aus. Dies widerspräche allerdings dem Sinn des Vorverfahrens diametral. Die detaillierten Regeln zur Schriftsatzerstellung dienen ja gerade dazu, den Streitstoff klar herauszuarbeiten und auf die issues zu komprimieren. Aus diesem Grund geht das englische Recht davon aus, dass die Parteien mit Abschluss des Vorverfahrens den Inhalt ihres Rechtsstreits abschließend festgelegt haben. Die Schriftsätze des Vorverfahrens dienen hierzu als „Parameter“350. Sie setzen die inhaltlichen Grenzen der Klage, die nur erweitert werden können durch das formale Verfahren einer Schriftsatzänderung, dem amendment.351 Auf diese Weise legen die 345
Sturge, Basic Rules, Vorwort S. 4, 119. Schmitthoff, Der Zivilprozeß als Schlüssel, JZ 1972, S. 41 f. 347 Die examination in chief durch den Kläger und die cross-examination durch den Beklagten. 348 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 133. 349 Bailey/Gunn/Ching/Taylor, Modern English Legal System, Rn. 15–010. 350 McPhilemy v. Times Newspapers Ltd. [1999] E.M.L.R. 751, C.A., at 776, per Lord Woolf M.R.; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20. 351 Zu den Regeln des amendment vgl. u. S. 188 ff. 346
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Schriftsätze des Vorverfahrens die Parteien im trial indirekt fest: „Cases must be decided on the issues of the record; and if it is desired to raise other issues they must be placed on the record by amendment.”352 Ausdrücklich gesetzlich festgelegt ist diese Regel nicht,353 sie lässt sich aber mit der inneren Systematik der englischen Zivilverfahrensordnung begründen. Der Zweck des Vorverfahrens, die issues zwischen den Parteien verbindlich festzustellen, wird gesichert durch das Abweichungsverbot.354 Es verhindert im Rahmen des Vorverfahrens Widersprüche zwischen aufeinanderfolgenden Schriftsätzen derselben Partei, strahlt auf das trial aus und wird hier erst recht angewendet. Was eine Partei in ihrem vorbereitenden Schriftsatz nicht erwähnt, auf das kann sie in der Hauptverhandlung nicht Bezug nehmen.355 Hinzu tritt im heutigen englischen Zivilverfahren der Gedanke, dass eine Partei über die Ziele der Gegenseite frühestmöglich informiert werden muss und von deren Prozesshandlungen nicht überrumpelt werden darf.356 Ein weiterer Grund könnte in dem Bestreben liegen, widersprüchliches Parteiverhalten nicht zu dulden und mit Nichtzulassung des neu Vorgetragenen zu sanktionieren. Unstetes Parteiverhalten kommt einem Missbrauch des Verfahrens und der Gerichtsressourcen gleich.357 Den Einfluss der Schriftsätze für das trial bestätigt die Pflicht des Klägers, vor Eröffnung der Hauptverhandlung ein Paket aller relevanten Dokumente zu schnüren (trial bundle), zu dem auch die ausgetauschten Schriftsätze gehören.358 Das trial bundle dient nicht nur der Protokollierung des Vorverfahrens, sondern soll alle Beteiligten des Verfahrens über den aktuellen Stand informieren. Der unvorbereitete Richter, der bei Eröffnung des trial mit dem Streitstoff des Vorverfahrens noch keinerlei Berührung hatte, gehört damit der Vergangenheit an.359 Damit ergibt sich die paradoxe Situation, dass sich eine Partei einerseits im trial nicht auf ihren schriftlichen Vortrag im Vorverfahren berufen darf, andererseits aber dessen Inhalt aufgrund des Abweichungsverbots für den Inhalt des trial maßgeblich ist. Wie streng das Gericht die Parteien an den Umfang ihrer Ausführungen aus dem Vorverfahren bindet, liegt im 352
Blay v. Pollard [1930] 1 K.B. 628, C.A., at 634, per Scrutton L.J. Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20. 354 JA, Ord. XIX r. 19; RSC, Ord. 18 r. 10; Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 555; Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 64. 355 Al-Medenni v. Mars UK Ltd [2005] EWCA Civ 1041, [21], per Dyson L.J.; Philipps v. Philipps (1878) L.R. 4 Q.B.D. 127, C.A., at 133, per Brett L.J.; Samuels, Halsbury´s Laws of England: Pleading, Rn. 43, 69. 356 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–40. 357 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 137 f. 358 CPR 39.5, CPR PD 39A part 3.2 (1). 359 Vgl. Zuckermann, English Civil Procedure, ZZPInt, Bd. 1 (1996), S. 76. 353
III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik
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pflichtgemäßen Ermessen des Richters des trial im Einzelfall. Seine Richtschnur ist seit den CPR 1998 das übergreifende Ziel, den Fall gerecht zu behandeln im Sinne der Vorgaben von CPR 1.1. Sollte der Richter beispielsweise zu dem Schluss kommen, dass sich beide Parteien über die Natur der Klage bewusst sind, obwohl sie von den Feststellungen des Vorverfahrens abweicht, dann kann er eine Änderung des Streitstoffs auch ohne ein formales amendment zulassen.360 Der inneren Systematik des englischen Zivilverfahrens folgend, steht aber im Zeitpunkt der Eröffnung des trial das Streitprogramm regelmäßig fest. Trotz des Grundsatzes mündlicher Verhandlung sind die Parteien insofern an den Inhalt ihrer Schriftsätze gebunden, als dass deren Umfang nicht mehr beliebig verändert oder erweitert werden darf. Dies gilt im Besonderen für den Kläger, der durch das klageeinleitende Formular und seine schriftlichen Erläuterungen längst über die Streitsache disponiert hat. Im trial kann er daran regelmäßig nichts mehr ändern, so dass die mündliche Verhandlung zur Bestimmung der Streitsache nichts mehr beiträgt.
III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik der Streitsachenfestlegung III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik
1. Aufbau des reformierten Verfahrens Die Verbindungen der Zivilverfahrensregeln vor und nach der Verfahrensvereinheitlichung sind in Deutschland und England unterschiedlich ausgeprägt. In England suchten die Reformkommissionen nicht nach Inspiration von außerhalb, beispielsweise aus kontinentaleuropäischen Verfahrenssystemen, sondern strebten eine Erneuerung aus dem eigenen Rechtssystem heraus an, indem sie bewährte Teilstücke der früheren Verfahrensregeln zu einer neuen Verfahrensordnung zusammensetzten.361 Die Verfasser der CPO 1877 dagegen suchten nach einem grundsätzlich neuen Verfahrensmodell und wandten sich vom vorangegangenen gemeinen Prozess bewusst ab.362 Dieser existierte in Reinform nur noch in der gelehrten Literatur. Die partikulare Gerichtspraxis hatte seine Grundmuster in „heterogene Einzelerscheinungen“363 aufgelöst, so dass die Verfasser der CPO 1877 nicht auf einen gemeinsamen Grundstock an Verfahrensregeln zurückgreifen konnten: „Die Deutschen reden in civilproceßrechtlichen Dingen ganz verschiedene Sprachen, wodurch allein schon eine Verständigung, wenn überhaupt nicht ausgeschlossen, so doch im hohen Grade 360
Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20. Vgl. Jacob, Vision and Reality, S. 315. 362 Prütting, Zivilprozeß ohne Grenzen, S. 175. 363 Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, S. 643. 361
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
erschwert wird.“364 In Deutschland lag die Herausforderung in der territorialen Vereinheitlichung. Es kam gerade nicht darauf an, bewährte Verfahrensregeln als Essenz einer erneuerten Verfahrensstruktur beizubehalten; stattdessen stieß man den Schriftsatzwechsel der Parteien als Entscheidungsgrundlage ab, folgte der Attraktivität des französischen Code de procédure civile und machte die mündliche Hauptverhandlung zum Mittelpunkt des Verfahrens. Nach Inkrafttreten der CPO 1877 stellte sich heraus, dass eine weitgehend unvorbereitete Hauptverhandlung das Gerichtswesen überforderte. Die Reformen von 1924 und 1933 etablierten die Vorbereitung der Hauptverhandlung durch einen beauftragten Richter, brachten aber den Nachteil mit sich, dass sich der Rechtsstreit nun durch eine Reihe von vorbereitenden Einzelterminen schleppte. Seinen heutigen Charakter erhielt der Verfahrensablauf durch die Novelle von 1976, die die konzentriert durchgeführte mündliche Verhandlung zum Kern des Verfahrens machte und für deren Beschleunigung ein schriftliches Vorverfahren oder einen frühen ersten Termin vorsah.365 In England gelang der entscheidende Schritt mit den Judicature Acts 1873–1875, die die Gerichtsverfassung reformierten, die Gerichtsbarkeiten für die Rechtsbereiche common law und equity zusammenlegten und einheitliche Zivilverfahrensregeln für alle Obergerichte schufen. Seither ist das englische Zivilverfahren in ein schriftliches Vor- und ein mündliches Hauptverfahren eingeteilt. Der Verfahrensablauf übernahm durch seine Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit die Strukturen des common-law-Verfahrens, wohingegen das schriftliche und nicht-öffentliche Verfahren der chancery nicht überlebte.366 Insbesondere die Stufe des Vorverfahrens, das entweder eine frühe Streitbeilegung fördern, oder, falls dies nicht möglich ist, eine zügige Hauptverhandlung in einem zusammenhängenden Termin ermöglichen soll, hat sich im 20. Jahrhundert erneut gewandelt, um das Verfahren prozessökonomischer zu gestalten. Die Neuorientierung brachten die CPR 1998, die sowohl für die obereren als auch für die unteren Gerichte gelten. Trotz erheblicher Abweichungen zum deutschen Verfahren im Detail ist auch das englische Zivilverfahren bemüht, die mündliche Hauptverhandlung des trial intensiv vorzubereiten und den Streit idealerweise schon in dieser Phase zu beenden, ohne dass es überhaupt zur Hauptverhandlung kommt. Deutsche und englische Verfahrensordnung wollen durch diese Vorbereitungsleistungen eine Konzentration des Hauptverfahrens auf eine zusammenhängende mündliche Verhandlung erreichen. Englische Gerichte 364
Leonhardt, Das Civilproceßverfahren des Königreichs Hannover, S. 3. Vgl. o. S. 105 ff. 366 Jacob, Civil Procedure since 1800, S. 205. 365
III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik
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halten diesen Grundsatz strikt ein und verhandeln nötigenfalls an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen. In Deutschland hält man dies nicht so diszipliniert durch, denn hier wird die Vorgabe einer konzentrierten Hauptverhandlung in der Praxis „nicht selten durch eine Sequenz mehrerer Termine verwässert“367. Der Aufbau des vereinheitlichten englischen Zivilverfahrens lässt nach dem Gesagten drei Phasen erkennen, in denen über den Inhalt des Streits disponiert und entschieden wird. Erstens die Klageeinleitung, die ein bestimmtes rechtliches Begehren des Klägers signalisiert. Zweitens der Schriftsatzwechsel zwischen den Parteien im Vorverfahren, in dem sie die Einzelheiten des Falles aus ihrer Wahrnehmung heraus schildern. Und drittens das trial, in dem die eigentliche, mündliche Verhandlung stattfindet und Beweis erhoben wird. Die englischen Verfahrensregeln trennten bisher das Vorverfahren viel strenger von der Hauptverhandlung als die deutschen. Die Klageschrift der ZPO richtet sich sowohl an das Gericht als auch an den Gegner.368 In Verbindung mit dem Vorverfahren informiert sie auch das Gericht über den Streitstand und bereitet die mündliche Hauptverhandlung unmittelbar vor.369 Im englischen pre-trial-procedure vor den CPR 1998 führte der Kläger die Streitsache ein, die Parteien informierten sich untereinander schriftlich und legten die Streitpunkte fest. Für das Gericht waren die ausgetauschten Schriftsätze nicht bestimmt. Gleich einer „Prozesszäsur“370 trugen die Parteien im trial einem unvorbereitenden Richter mündlich vor, ohne auf ihre Schriftsätze verweisen zu dürfen. Auch die Beweise durften sie erst im trial erheben. Diese Trennung in „Behauptungs- und Beweisverfahren“371 haben die CPR 1998 gelockert. Sie erlauben Beweisanführungen bereits in den Schriftsätzen und verpflichten das Gericht, vorab die Schlüssigkeit des schriftlichen Parteivortrags zu prüfen und die Klage einem geeigneten track zuzuweisen. Das trial bundle, in dem der Kläger alle relevanten Dokumente aus dem Vorverfahren zusammenstellt,372 sichert bereits gewonnene Erkenntnisse und macht sie für das trial verwertbar. Der Richter wird damit in die Lage versetzt, sich über alle issues, Beweise und rechtlichen Ausführungen vorab zu informieren.373 367
Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 502. – § 227 Abs. 1 und 4 ZPO ermöglichen eine Vertagung des Termins, wenn die sachgerechte Abwicklung des Verfahrens sonst gefährdet wäre, s. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 104, Rn. 41. 368 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 1. 369 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 1. 370 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 622. 371 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 622. 372 CPR 39.5, CPR PD 39A, Rn. 3.2. 373 Zuckermann, English Civil Procedure, ZZPInt, Bd. 1 (1996), S. 76.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Die Phase des Vorverfahrens und der mündlichen Hauptverhandlung sind durch die ausgeweiteten Möglichkeiten der Beweisanführung und der Information sowohl der Gegenseite als auch des Gerichts weniger trennscharf geworden. Sie nähern sich dem deutschen Verfahren an, das einen großen Teil der rechtlichen Argumentation und der Sachverhaltsaufklärung bereits im frühen ersten Termin oder im schriftlichen Vorverfahren handhabt, die mündliche Hauptverhandlung für die Erkenntnisse dieser Vorbereitung öffnet und Bezugnahmen auf die Vorträge aus dem Vorverfahren ausdrücklich zulässt.374 2. Mechanismen der Streitfestlegung a) Klageeinleitung Im deutschen Zivilverfahren dient die Klageschrift zugleich der Einleitung des Verfahrens und der Identifizierung des klägerischen Rechtsschutzbegehrens. Diese Aufgabe kommt in England dem klageeinleitenden Formular zu, das seit der Abschaffung der writs einheitlich gestaltet ist und nicht durch eine vorgegebene Formulierung, sondern durch die individuellen Angaben des Klägers mit Inhalt gefüllt wird. Ungeachtet des systematischen Unterschieds zwischen einer vom Kläger erstellten Klageschrift und einem vom Gericht zur Verfügung gestellten Ladungsbefehls375 ähneln sich die gesetzlichen Anforderungen beider Rechtssysteme, denn sie laufen beide darauf hinaus, dass der Kläger sein Rechtsschutzbegehren durch einen Antrag offenlegt und es durch die Angabe von Tatsachen individualisiert. Der Kläger führt auf diesem Weg bei der Klageerhebung auch die Streitsache ein. Die Anforderungen an das klageeinleitende Formular präzisierte der englische Gesetzgeber im Laufe des 20. Jahrhundert. Während der JA 1875 nur alternativ die Skizzierung des Sachverhalts oder des begehrten Rechtsschutz forderte376 und es in den RSC 1965 genügte, wenn zumindest die Klageschrift den begehrten Rechtsschutz nannte,377 verlangen die CPR 1998, dass der Kläger sowohl die Tatsachengrundlage seiner Klage als auch die begehrte remedy umreißt378. Das klageeinleitende Formular geht immer mehr in Richtung einer das Begehren erläuternden Klageschrift. Die RSC 1965 schafften die ausdrückliche Unterscheidung zwischen general und special indorsement ab. Mit den CPR 1998 ist es der gesetzliche Re-
374
Vgl. § 137 Abs. 3 ZPO. Diesen systematischen Unterschied betont Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 620. 376 JA, Ord. II r. 1. 377 RSC, Ord. 6 r. 2 (1) und Ord. 18 r. 15 (1). 378 CPR 16.2 (1). 375
III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik
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gelfall geworden, dass die Begründung der Klage in Form der particulars of claim sogleich dem Klageformular beigefügt wird.379 b) Gestaltung der Klagebegründung Deutsche Klageschrift und englische particulars of claim liefern beide eine schriftliche Begründung der Klage. In Deutschland sind die gesetzlichen Anforderungen an den notwendigen Inhalt der Klageschrift seit Einführung der CPO 1877 gleich geblieben. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gibt vor, dass die Klageschrift Gegenstand und Grund des erhobenen Anspruchs sowie einen bestimmten Antrag enthalten muss, um das Streitprogramm einzuführen und den Streitgegenstand festzulegen. Da der Gegenstand im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO im Antrag enthalten ist, reduzieren sich die notwendigen Angaben auf den Antrag und den Grund des erhobenen Anspruchs. Speziell beim Inhalt der Klageschrift weist das moderne deutsche Zivilverfahren größere Konstanten zum gemeinen Prozessrecht auf als im übrigen Verfahrensablauf, der durch die mündliche Verhandlung einen Bruch zum gemeinen Prozess vollzieht. Ebenso wie das gemeine Recht verlangt die ZPO Antrag und Klagegrund, teilt dem „Rechtsgrund“ aber keine eigenständige Rolle mehr zu. Im englischen Zivilverfahren sollten bezüglich der schriftlichen Parteivorträge Regeln geschaffen werden, die weniger formalistisch waren, dafür aber eine präzisere Bestimmung der Probleme des jeweiligen Falles ermöglichten. Es ist nicht erkennbar, dass die Reformkommission der Judicature Acts 1873–1875 im Bereich der Klagebegründung ein bestimmtes Verfahren favorisierte. Gemäß der Vorgabe, das englische Zivilverfahren aus sich heraus zu modernisieren, jonglierte sie vielmehr mit den Bestandteilen der beiden Verfahren und setzte aus diesem Baukasten380 ein neues System zusammen: „The best system would seem to be one which combined the comparative brevity of the simpler forms of Common Law, [and] of the principle of stating, intelligibly and not technically, the substance of the facts relied on as constituting the plaintiff´s or defendant´s case as distinguished from his evidence.”381
Am common-law-Verfahren schätzten die Mitglieder der Reformkommission die Vorzüge des Grundsatzes der Bestimmtheit. Die Vorgabe an den Kläger, den begehrten Rechtsschutz in einem festgelegten Rahmen genau zu benennen, sollte als probates Mittel der Festlegung der Streitpunkte unbedingt beibehalten werden.382 Die Genauigkeit der pleadings war je379
CPR PD 16 Rn. 3.1. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 522, spricht von „einer Art Rosinentheorie“. 381 Zitiert nach Jacob, Vision and Reality, S. 315. 382 Sturge, Basic Rules, Vorwort, S. 7. 380
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
doch zugleich ihr größter Defekt. Im Laufe der Jahrhunderte hatten die englischen Juristen den Januskopf des Bestimmtheitsgrundsatzes zu spüren bekommen und gestanden sich bei der Verabschiedung des JA 1875 ein, dass übertriebene Präzision den Kläger durch Formalia zu stark an eine Klageform band und er das Verfahren allein schon wegen technischer Fehler verlor. An den pleadings der equity gefiel der Gedanke, Parteivorträge nicht auf ihre Form zu reduzieren, sondern wieder deren Inhalt in den Vordergrund zu rücken. Vermieden werden sollte aber das praktische Resultat der Verfahren vor der chancery, bei denen die Formfreiheit allzu oft mit unpräzisen und durch weitschweifige Erzählungen künstlich aufgebauschten Schriftsätzen einherging. Die Verfasser der neuen Verfahrensordnung zogen daraus die Lehre, dass die pleadings weniger formalistisch als im common-law-Verfahren und kürzer als im equity-Verfahren werden mussten.383 Ein Mittelweg, der die Vorteile beider Verfahren miteinander verband, sollte die Lösung bringen.384 Die Klagbegründung orientierte sich ihrer Form nach an der bill of complaint des früheren equity-Verfahrens. Die technische Unterscheidung zwischen general und special pleading gehörte damit der Vergangenheit an.385 Das neue Verfahren sollte der Erörterung von Tatsachen dienen statt von Prozessformalia. Dieser Prämisse folgend, ist das vereinheitlichte englische Zivilverfahren inhaltlich den Zielen des früheren equity-Verfahrens zugewandt.386 Aus ihm stammt die Regel, dass die Form einer Klage nicht über den Ausgang des Verfahrens entscheiden sollte. So kommt es, dass die Parteien im vereinheitlichten Verfahren ihre jeweiligen Erwägungen in den Schriftsätzen freier formulieren und auftretende Formfehler berichtigen dürfen.387 Aus dem common law behielt man die Vorgabe zur Präzision des Parteivorbringens bei, weil man sie als probates Mittel ansah, die Parteien frühzeitig zu einer Festlegung des Streitstandes zu bewegen und so bereits in diesem Stadium eine Einigung möglich zu machen.
383 384
06.
385
Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–05. Sturge, Basic Rules, Vorwort, S. 7; Blair/Zellick/Wilson, Introduction, S. 4, Rn. 1–
Trotz der Verwirrung, die das special pleading im früheren common law stiftete, wirkt seine ausdifferenzierte Gestaltung in der modernen Methodik des englischen Rechts insofern positiv nach, als dass es wichtige Grundsätze der juristischen Methodenlehre vorbereitete. Erst die exakte Festlegung eines Streitpunktes ermöglichte die Unterscheidung innerhalb eines Urteils zwischen dem Ergebnis, das alle nachfolgenden Gerichte bindet (stare decisis) und den obiter dicta, vgl. Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 331. 386 Baker, Introduction to English Legal History, S. 112. Kritisch Banbury v. Bank of Montreal [1918] A.C. 626, at 710, per Lord Parker of Waddington. 387 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 393.
III. Vergleich der Übergänge zur gegenwärtigen Methodik
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Englische Rechtsprechung und eine umfangreiche Praktikerliteratur haben diese Anforderungen an die particulars of claim gefestigt und weiter ausdifferenziert. Die englischen Zivilverfahrensregelungen wurden so zu einer Technik der Schriftsatzerstellung ausgebaut, die auf Kürze und Präzision ausgerichtet ist. Die Parteien sind heute in der Formulierung ihrer pleadings nicht frei, sondern müssen sich auf die „wesentlichen“ Tatsachen beschränken. Zum einen bedeutet dies, dass die klägerischen particulars of claim eine cause of action begründen müssen, in der diejenigen Tatsachen zusammenfallen, die eine rechtlich anerkannte Grundlage für eine Klage bilden.388 Zum anderen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der pleadings die issues, derentwegen sich die Parteien überhaupt an ein Gericht gewendet haben. Es sind die streitigen, mithin entscheidungsbedürftigen Fragen des Falles, auf die die Parteien keine einvernehmliche Antwort finden.389 Das pragmatische englische Zivilverfahren stellt sie, da sie den Kern des Rechtsstreits ausmachen, in den Mittelpunkt seiner Regeln zur Schriftsatzerstellung. Um sie wird sich das Gerichtsverfahren drehen, denn an ihnen entspinnen sich sowohl das Beweisverfahren bezüglich der issues über Tatsachenfragen als auch die rechtliche Würdigung des Richters zur Klärung der rechtlichen issues. In Deutschland dagegen kann die Geschichtserzählung in der Klageschrift ausführlicher ausfallen.390 Der Antrag muss Art und Umfang des begehrten Rechtsschutzes erkennen lassen und der Klagegrund individualisiert dieses Rechtsfolgebegehren in tatsächlicher Hinsicht. Wann Antrag und Klagegrund ordnungsgemäß vorgetragen sind, ist keiner festen Regel unterworfen, sondern unterliegt einer Abwägung des Gerichts anhand der Parteiinteressen im Einzelfall.391 Der im Vergleich zu England geringen Reduktion der Tatsachenangaben entspricht die deutsche Praxis, in der Klageschrift auch Beweise anzuführen. Die englische Verfahrensordnung hat sich an diese Vorgehensweise durch die CPR 1998 angenähert, denn diese verbannen rechtliche Ausführungen und Beweise nicht mehr aus den Schriftsätzen. JA 1875 und RSC 1965 waren noch davon ausgegangen, dass die Anführung von Beweisen in den pleadings die Einigung der Parteien auf die Streitpunkte erschweren würde, und beschränkten Beweisanführungen daher auf das trial. Hintergrund war die schlechte Erfahrung mit den pleadings des früheren equityVerfahrens, in denen die Parteien zu keinerlei Zusammenfassung ihres Vortrags angehalten worden waren. Wenn sie diese Freiheit missbrauchen 388
Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.12; vgl. o. S. 143 ff. Vgl. o. S. 146 ff. 390 Die „erheblichen Tatsachen“ (§ 139 Abs. 1 ZPO) sind in Deutschland nicht auf die streitigen Tatsachen beschränkt, vgl. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 623. 391 Vgl. o. S. 119 f. 389
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
und den Verfahrensgang lahmlegen wollten, verwickelten sie den Richter mit ausufernden Schriftsätzen, die ganze Auszüge aus beweiserheblichen Dokumenten wörtlich kopierten, in Schleifen von Beweisaufnahmen. Diese Gefahr sieht der englische Gesetzgeber seit den CPR 1998 nicht mehr, sondern lässt die Beifügung von Zeugenaussagen zu den Schriftsätzen des Vorverfahrens zu und erzwingt den frühen Austausch beweiserheblicher Dokumente, um eine möglichst frühe Aufklärung der Parteien über die Substanz der gegnerischen Behauptungen zu erreichen, Überraschungen zu vermeiden und um einen frühen Vergleich zu fördern.392 Die rechtliche Qualifizierung ist weder in Deutschland noch in England Voraussetzung eines ordnungsgemäßen Schriftsatzes. In Deutschland folgt dies aus dem vom gemeinen Prozess übernommenen Satz iura novit curia. In England war die Trennung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen vor den Justizreformen 1873–1875 essentiell für die Gliederung des Verfahrens, denn mit der jury und den judges entschieden über sie unterschiedliche Gremien. Als im vereinheitlichten Verfahren die jury immer unbedeutender wurde, behielt man die Trennung mit der Begründung aufrecht, dass rechtliche Argumentationen die tatsächliche Basis des Falles verschleiern würden.393 Erst die CPR 1998 lockerten sie zwecks Verfahrensbeschleunigung auf, so dass Rechtsansichten schon in den vorbereitenden Schriftsätzen geäußert werden dürfen. Sowohl in England als auch in Deutschland ist man sich jedoch einig, dass die rechtliche Einstufung des Streitstoffs durch die Parteien noch nicht den Inhalt des Rechsstreits identifiziert. c) Schlüssigkeit oder Identifizierbarkeit der Klage Die Anforderungen an die materiellrechtliche Plausibilität der Klageschrift haben sich in Deutschland gewandelt. Ein gemeines Verfahren war nur zustande gekommen, wenn sich der Kläger auf ein ihm zustehendes Recht schlüssig berufen konnte. Dies war der Fall, wenn die geschilderte Fallkonstellation, ihre Beweisbarkeit vorausgesetzt, das Begehren des Klägers rechtfertigte. Die Schlüssigkeit wurde vom Gericht vor der Zustellung der Klageschrift an den Beklagten geprüft; ein unschlüssiges Vorbringen des Klägers leitete die Klage nicht ein, sondern wurde zurückgewiesen.394 Heute ist es in der deutschen Rechtswissenschaft Konsens, dass die ZPO eine schlüssige Klageschrift nicht zur Voraussetzung eines Zivilverfahrens macht. Die erschöpfende Angabe aller Tatsachenangaben, die für den Erfolg der Klage notwendig sind, fordert das Gesetz nicht von ihr. Erforderlich ist nur, dass die Klageschrift den geltend gemachten Anspruch
392
Vgl. o. S. 153 f. Vgl. o. S. 149 ff. 394 Vgl. o. S. 13 ff. 393
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„identifizierbar“395 macht. Mit der Identifizierbarkeit hat die deutsche Klageschrift ihren Zweck erfüllt, so dass auch eine unschlüssige Klage zugestellt wird und ein Verfahren nicht ausschließt.396 Gleiches gilt für Klagen, die zwar zulässig erhoben sind, sich im Verlauf des Verfahrens aber als unbegründet erweisen. Ein prozessuales Rechtsverhältnis entsteht dennoch, so dass ein Sachurteil ergehen kann und das Verfahren nicht etwa bis zum Urteil als schwebend unwirksam oder je nach Ergebnis als aufschiebend bedingtes Rechtsverhältnis angesehen wird.397 Die englischen particulars of claim hingegen, die regelmäßig dem Klageformular beigefügt sind, müssen bereits die cause of action des Falles nachvollziehbar machen.398 Dahinter verbirgt sich die Anforderung, denjenigen Tatsachenkomplex anzugeben, der für die Gewährung des begehrten Rechtsschutzmittels erforderlich ist. Dies läuft auf eine Schlüssigkeitsprüfung hinaus, so dass sich die Klagebegründung letztlich an den Tatbestandsvoraussetzungen der in Frage kommenden materiellen Berechtigung orientieren muss. Erst wenn der Richter, der das Vorverfahren betreut, die Schlüssigkeit der Klagebegründung bejaht, kann das trial eröffnet werden. Eine dem deutschen Zivilverfahren vergleichbare Unterscheidung in Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage trifft das englische Zivilverfahren nicht. d) Gebot frühzeitigen Vorbringens Im englischen trial sorgt der umfassend verstandene Mündlichkeitsgrundsatz dafür, dass Bezugnahmen auf Schriftsätze den mündlichen Vortrag nicht ersetzen können. Der englische Schriftsatzwechsel bleibt aber der Ort, an dem der Kläger die cause of action einbringt und die Parteien sich über die issues des Falles einigen. Die Schriftsätze legen die Parteien inhaltlich aufgrund des Abweichungsverbots fest.399 Eine Erweiterung des Streitstoffes kann nach Abschluss des Schriftsatzwechsels nur noch ausnahmsweise durch das formale Verfahren der Schriftsatzänderung (amendment)400 erfolgen. Mechanismen, um die Parteien auf einmal schriftlich Vorgetragenes für den weiteren Verlauf des Verfahrens festzulegen, kennt auch das deutsche Zivilverfahren. Zwar muss in Deutschland der inhaltliche Umfang der Parteivorträge nicht schon bei Eröffnung der mündlichen Hauptverhandlung feststehen, sondern für die Entscheidung des Gerichts ist derjenige Tatsa395
Stein/Jonas/Roth, Kommentar, § 253, Rn. 52. Schlinker, Litis Contestatio, S. 552. 397 Schlinker, Litis Contestatio, S. 552 und 563. 398 Vgl. o. S. 143 ff. 399 Vgl. o. S. 157 ff. 400 Vgl. u. S. 188 ff. 396
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
chenstoff maßgeblich, der am Schluss der mündlichen Verhandlung in Streit steht. Jedoch sorgt das Gebot rechtzeitigen Vorbringens,401 dessen Verstoß mit Präklusionsfolgen sanktioniert werden kann,402 ebenso dafür, dass die Parteien ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel frühestmöglich offenlegen müssen. Beide Verfahrenssysteme lenken im Ergebnis den Verhandlungsgrundsatz in geordnete Bahnen, indem sie die Streitfestlegung in das Vorverfahren auslagern.403 3. Parteiherrschaft und richterliche Lenkung Bei der Disposition über den Inhalt des Zivilverfahrens glichen sich die untersuchten Verfahrenssysteme vor den Justizreformen des 19. Jahrhunderts. Das germanisch beeinflusste common law kennzeichnete eine ausgeprägte Parteiherrschaft.404 Im aktionenrechtlichen System der writs oblag es dem Kläger, schon mit der Klageeinleitung die Streitsache festzulegen. Im equity-Verfahren und gemeinen Prozess führten gemeinsame römisch-kanonische Wurzeln zu Parallelen und bewirkten bezüglich der Streitsache, dass der Kläger in seiner bill of complaint beziehungsweise Klageschrift über sie disponierte.405 Der Untersuchungsgrundsatz des preußischen Verfahrens konnte sich in Deutschland nicht durchsetzen. Alle Verfahrenssysteme stimmten darin überein, dass der Kläger ein Verfahren anstoß und die Streitsache einbrachte. Lediglich im Verfahren der equity war der Kläger nicht gezwungen, sich durch einen bestimmten Antrag auf den begehrten Rechtsschutz festzulegen.406 Die Schriftsätze waren im gemeinen Recht und equity-Verfahren die Entscheidungsgrundlagen des Gerichts, das in einer Reihe von Terminen über die Klage entschied. Anders verlief das common law, in dessen Verfahren die Schriftsätze nur die Protokollierung der Parteiaussagen erleichtern sollen, das Gericht aber aufgrund der mündlichen Vorträge im trial entschied. Die Schriftsätze gewannen an Bedeutung, als es zwischen den Parteien üblich wurde, sie zwecks Information und Abstimmung über die Streitpunkte untereinander auszutauschen. Der Richter blieb in diesem System außen vor.407 Auch die Beibringung der Tatsachen und die Beweiserhebung oblagen im gemeinen Recht und im common law den Parteien. Zur Amtsermittlung war der Richter nicht befugt, sondern beschränkte sich auf die Rechtsan401
§ 282 ZPO. Vgl. § 296 ZPO. 403 Für England vgl. Zuckermann, English Civil Procedure, ZZPInt, Bd. 1 (1996), S. 67 ff. 404 Stürner, Parteidisposition, S. 1063. 405 Van Caenegem, History of Civil Procedure, S. 14. 406 Sturge, Basic Rules, Vorwort, S. 7. 407 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 604. 402
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wendung anhand des ihm präsentierten Streitstoffs.408 Der Verhandlungsmaxime folgte auch die hannoversche Prozessordnung von 1850, die in diesem Punkt die Konzeption der CPO 1877 vorwegnahm. Der preußische Ansatz in der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793, die mit gemeinrechtlichen Traditionslinien brach und bei der Streitbestimmung auf die amtliche Aufklärung des Gerichts setzte, behauptete sich dagegen in Deutschland nicht. Eine Zwischenstellung nahm bei der Beibringung des Tatsachenstoffs das Verfahren der equity ein. Unter dessen Aufklärungsgrundsatz, einer Mischung zwischen Verhandlungsgrundsatz und Amtsermittlung, war der Richter aktiver Gestalter des Streitstoffs, dem aber die Parteien den Entscheidungsrahmen vorgeben konnten.409 Sie mussten die ihrer Ansicht nach entscheidungsrelevanten Tatsachen selbst einbringen, der Richter war aber daran nicht gebunden. Hatte eine Partei einen Tatsachenkomplex durch ihren Vortrag eröffnet, durfte sich der Richter nicht mit dieser formellen Wahrheit begnügen, sondern musste eigenständig anhand der Befragungen in den Einzelterminen den objektiv wahren Sachverhalt erforschen. Hinter der Einführung der CPO 1877 stand ein liberales politisches Programm mit dem Leitgedanken einer bürgerlichen Gesellschaft, die den Staat aktiv mitgestalten sollte.410 Im Zuge dessen wurde auch den Parteien vor Gericht größtmögliche Gestaltungsfreiheit eingeräumt. Das Ergebnis war ein nach der Parteiherrschaft ausgestaltetes Verfahren mit „fast schrankenloser Verhandlungs- und Dispositionsmaxime”411. In England behielt man die Tradition eines von den Parteien bestimmten Verfahrens im Rahmen des adversary system bei, das dem Richter die Rolle eines zurückhaltenden Schiedsrichters über einen reinen Privatstreit zuwies. Unter englischen Juristen war es bislang üblich, das englische adversary system dem vermeintlich „inquisitorisch“ geprägten kontinentaleuropäischen Zivilverfahren gegenüberzustellen. Von Inquisitionsprozess spricht man in Deutschland, wenn Prozessbetrieb und Beibringung der Tatsachen und Beweise dem Gericht übertragen sind.412 Die ZPO ist dagegen von Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz geprägt, kennt also nach 408
Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 597. Vgl. o. S. 44 ff. 410 Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 517, eine Stellungnahme von Klöppel wiedergebend: „[…] ich glaube, daß nur ein solches Prozeßverfahren unseren bürgerlichen und staatlichen Zuständen entspricht. Wie wir […] im ganzen Staatsleben bemüht sind, die freie Selbstthätigkeit des Bürgers an allen Stellen hervorzurufen, so können wir auch nur ein Prozeßverfahren gebrauchen, welches den Bürger in seinen eigenen Angelegenheiten möglichst auf die eigenen Füße stellt und ihm möglichst wenig durch Staatsfürsorge Heil und Segen zu bereiten sucht.“ 411 Sellert, Art. Zivilprozeß, Zivilprozeßrecht, HRG V, Sp. 1747. 412 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77, Rn. 1. 409
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deutschem Verständnis gerade keine inquisitorischen Elemente. Die heutige englische Prozessrechtsliteratur erkennt dies und gesteht zu, dass die Trennung zwischen adversary und inquisitorial system zu holzschnittartig ist und nicht der Verfahrensrealität entspricht.413 Die englische Sichtweise wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass englische Autoren mit der Bezeichnung einer Verfahrensordnung als „inquisitorisch“ nicht die Amtsermittlung nach deutscher Vorstellung verbinden. Sie meinen die Elemente der geltenden Fassung der ZPO, die zur Verhinderung von Prozessverschleppung und unter dem Aspekt des sozialen Rechtsstaats die Parteiherrschaft begrenzt und richterliche Lenkungspflichten in den Verfahrensgang implementiert haben. Die Frage-, Hinweis- und Erörterungspflichten in den Novellen 1924 und 1933, das Vorverfahren unter richterlicher Lenkung in der Gesetzesänderung von 1976 sowie die im Jahr 2001 ausgeweitete materielle Prozessleitung des § 139 ZPO sind nach englischer Sichtweise Kennzeichen „richterlicher Fürsorgepflicht“414. In der Tat unterschieden diese Elemente richterlicher Kontrolle im 20. Jahrhundert das deutsche vom englischen Zivilverfahren. In England blieben unter dem JA 1875 und den RSC 1965 die Parteien Herren des Verfahrens. Mit den Werkzeugen des case management in den CPR 1998 hat sich diese Denkweise gewandelt. Das Gericht ist heute gesetzlich zu aktiver Steuerung und Beschleunigung des Verfahrens angehalten. Im Bereich der Streitfestlegung wirkt sich diese Verpflichtung vor allem auf die Schlüssigkeitsprüfung von Klagebegründung und -erwiderung aus. Der Richter kann aus eigener Initiative Anweisungen treffen, um ordnungsgemäße Schriftsätze zu fördern und Fehlverhalten der Parteien zu sanktionieren. Zieht er eine Anweisung in Betracht, so muss er die Parteien darauf hinweisen.415 Im Ernstfall ist er befugt, einen unschlüssigen Vortrag durch das Instrument des strike out zurückzuweisen und aus dem Verfahren auszuschließen.416 Diese Befugnisse grenzen die Parteidisposition ein. Die CPR 1998 setzen damit eine Entwicklung des englischen Verfahrensrechts fort, die schon in den Verfahrensreformen 1873–1875 angelegt war. Es war das erklärte Ziel der Judicature Acts 1873–1875, mehr Wert auf inhaltlich folgerichtige Parteivorträge zu legen, so dass sich niemand mehr (auch das Gericht nicht) hinter Formalia verstecken konnte. Das Verschwinden der jury aus der Gerichtspraxis verstärkte die Verantwortung der Richter, denn diese verloren die Möglichkeit, Rechtsfragen in Sachfragen umzuinterpre413
Andrews, English Civil Procedure, Rn. 2.13 ff.; Jolowicz, On Civil Procedure, S. 181 f. 414 Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 365. 415 CPR 3.3. 416 CPR 3.4.
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tieren und dadurch eine Entscheidung auf die jury abzuladen.417 Die RSC 1965 stellten auch in England das Vorverfahren unter Leitung eines Richters, der dafür sorgen sollte, dass kein trial anberaumt wurde, ohne dass nicht die issues zwischen den Parteien feststanden. Dem Gericht war es auch nicht verwehrt, Parteien auf unzureichende Schriftsätze hinzuweisen und Korrekturen anzuregen.418 Ähnlichkeiten mit den deutschen Frageund Hinweispflichten gab es folglich bereits vor der case-managementDoktrin der CPR 1998. An dem Grundsatz, dass die Parteien Herren über den Streitstoff sind und der Kläger die Streitsache festlegt, ändern die neuen Hinweis- und Lenkungspflichten des Gerichts nichts. Sowohl das deutsche als auch das englische Zivilverfahren haben sich aber vom reinen Parteibetrieb entfernt und weisen dem Richter des Vor- und Hauptverfahrens heute mehr Lenkungsaufgaben zu. Bereits bei der Streitfestlegung soll richterliche Verfahrensleitung die Kooperation zwischen den Parteien fördern und die Chance eines frühen Vergleichs erhöhen.
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
1. Präzisierungsbedarf im Zuge der Verfahrensreformen Weder deutsche noch englische Juristen waren sich im 19. Jahrhundert dessen bewusst, dass die Justizreformen auf die Streitsache des Zivilverfahrens große Auswirkungen haben würden. Die Verfasser der CPO 1877 gingen davon aus, dass der Anspruch, wie ihn Windscheid 1856 beschrieben hatte, Streitgegenstand des Zivilverfahrens sei.419 Als deutlich wurde, dass ein aus dem materiellen Recht abgeleiteter Anspruchsbegriff zahlreiche prozessuale Konstellationen nicht erfassen konnte, bemühten sich die Prozessualisten, einen eigenständigen Anspruch im prozessualen Sinne zu bilden. Dieser Dreierschritt vom Klagerecht über den materiellen Anspruch zum prozessualen Anspruch war die Voraussetzung für die umfangreichen Auseinandersetzungen über eine Lehre zum Streitgegenstand in Deutschland.
417
Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 173. Belmont Finance Corp Ltd v. Williams Furniture Ltd. [1979] Chap. 250, at 269, per Buckley, L.J.; Watts v. Spence [1976] Ch. 165, at 175, per Graham J.; Andrews, Principles of Civil Procedure, Rn. 3–007 wies aber darauf hin, dass die Reichweite richterlicher Hinweismöglichkeiten unter den RSC 1965 nicht genau geklärt war. Er folgte der Ansicht, die dem Richter Hinweise zugestand, solange er seinen Standpunkt nicht aufdrängte und damit seine Unparteilichkeit aufgab. 419 Vgl. Schmidt, Die Klagänderung, S. 173 ff., 204. 418
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
In England überwog die Auffassung, die Abschaffung der forms of action wirke sich nur auf den Verfahrensablauf aus, lasse aber den Inhalt des Zivilverfahrens unberührt. Teilweise wurde sogar ausdrücklich in Frage gestellt, dass die forms of action durch Inkrafttreten des JA 1875 der Vergangenheit angehörten. Die Verfahrensreformen im 19. Jahrhundert hätten zwar bewirkt, dass formelle Fragen nicht mehr klageentscheidend sein sollten, der Inhalt der forms of action sei jedoch beibehalten worden.420 Diese Auffassung spiegelte die Befürchtung wieder, die Abschaffung des writ-Systems gefährde die Stabilität der englischen Rechtsordnung insgesamt, so dass man die Reform auf formale Fragen begrenzen müsse. Auch in Deutschland übersahen die Juristen die Tragweite der Verfahrensreformen für die Abgrenzung der Streitsache. Die Prozesskonferenzen und Reformkommissionen entfernten die neuen Verfahrensregeln zwar bewusst vom aktionenrechtlich orientierten gemeinen Recht, gingen aber nicht davon aus, dass der Inhalt eines Rechtsstreits neu definiert werden müsse und legten darum auch keine gesetzlichen Parameter dafür fest. Die Notwendigkeit einer Neubestimmung der Elemente der Streitsache wurde während des Reformprozesses nicht gesondert thematisiert, so dass ein Vakuum entstand, das erst wieder gefüllt werden musste. Als sich die Wissenschaft dieses Problems annahm, näherten sich die Prozessualisten einer Bestimmung des Streitgegenstands von „zwei Denkrichtungen“421, ohne sich bis heute auf eine einheitliche Eingrenzung einigen zu können. Die Streitgegenstandslehren unterteilten sich zunächst in materielle und prozessuale Ansätze und werden heute vermehrt um relative Theorien ergänzt, wobei das Konzept eines eigenständigen prozessualen Anspruchs nicht mehr in Frage gestellt wird.422 Möchte man die Methoden zur Streitsachenfestlegung in Deutschland und England vergleichen, so muss man sich vor Augen halten, dass sie in Deutschland hauptsächlich die wissenschaftliche Literatur, in England dagegen Richter durch ihre Urteile vorantrieben. Unter der Annahme, dass die Wissenschaft stärker an einer systematisch konsistenten Lösung interessiert ist als ein Gericht, das einen konkreten Fall entscheiden muss, verwundert es nicht, dass dezidierte Lehren zur Streitsache nur in Deutschland entstanden sind. In England geht auch die Literatur von den richterlichen Äußerungen in den einschlägigen Urteilsbegründungen aus, um die Methodik der Streitsachenfestlegung zu ergründen. Die unterschiedliche Motivation bei der Beschäftigung mit dem Inhalt eines Rechtsstreits macht verständlich, warum in Deutschland intensiver um eine einheitliche Lösung gerungen wird und weshalb englische Juristen von Beginn an einzel420
Bryant v. Herbert (1877–78), L.R. 3 C.P.D. 389, at 390, per Bramwell L.J. Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 181. 422 Vgl. o. S. 117 ff. 421
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
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fallorientiert vorgingen. Die englische Rechtsprechung würde es nicht der Wissenschaft überlassen, gesetzliche Unklarheiten über das Wesen der cause of action zu klären, wie dies in Deutschland durch den BGH bezüglich der Elemente des Streitgegenstands geschehen ist. 2. Bedeutung des klägerischen Antrags Unabhängig davon, dass die meisten423 Kommentare und Lehrbücher die Streitgegenstandsproblematik mit dem zweigliedrig prozessualen Ansatz lösen, ist es in der deutschen Wissenschaft Allgemeingut, dass der Antrag des Klägers für die Festlegung des Streitgegenstands zentrale Bedeutung besitzt. Selbst, wenn daneben als gleichwertiges Element der Klagegrund tritt oder die Bestandteile des Streitgegenstands relativ nach Verfahrenssituation oder Parteiinteressen bestimmt werden, ist das vom Kläger in der Klageschrift formulierte Rechtsschutzbegehren ein Fixpunkt für die Abgrenzung des Rechtsstreits.424 Der Antrag ist das Band, das fast alle zur deutschen Streitgegenstandsfrage vertretenen Lehren eint.425 Seit in England das Verfahren nicht mehr auf Gedeih und Verderb von seinem ersten Schritt, der Wahl des original writ, abhängt, ist auch hier der Antrag unverzichtbar für das Verständnis des Klageziels. Statt den Inhalt der Klage durch Förmlichkeiten zu determinieren, fordert der Kläger individuell seinen Rechtsschutz ein. Nach den vereinheitlichten englischen Zivilverfahrensregeln muss das klageeinleitende Formular eine knapp gehaltene Äußerung zur Natur der geltend gemachten cause of action sowie das Rechtsschutzmittel enthalten, das der Kläger begehrt. Gegen einen der deutschen Konzeption vergleichbaren Stellenwert des Antrags im englischen Zivilverfahren spricht aber, dass weder JA 1875 noch RSC 1965 dem Kläger zwingend vorschrieben, im writ of summons den begehrten Rechtsschutz beim Namen zu nennen.426 Einem klar formulierten Antrag ganz ausweichen konnte der Kläger im JA 1875, nach dessen Regelung sogar in der Klagebegründung ein allgemeiner Antrag auf Rechtsschutz genügte.427 Seit den RSC 1965 musste der begehrte Rechtsschutz zumindest in der Klageschrift angegeben werden.428 Erst die CPR 1998 verlangen, dass beide Elemente im klageeinleitenden Formular enthalten sind.429 Aus der Gesetzesgeschichte ist zu folgern, dass der Antrag 423
Vgl. die Nachweise von Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 18, Fn. 90. Vgl. o. S. 117 ff. 425 Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 432; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 86. 426 JA, Ord. II r. 1 und RSC, Ord. 6 r. 2 (1). 427 JA, Ord. XIX r. 8. 428 RSC, Ord. 18 r. 15 (1). 429 CPR 16.2 (1). 424
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
allein für die Streitsache im englischen Zivilverfahren nicht maßgeblich sein kann. Die Unterschiede zwischen dem deutschen und englischen Zivilverfahren in diesem Punkt zeigen sich auch in der Verbindlichkeit des Antrags. Für den Streitgegenstand eines deutschen Zivilverfahrens bestimmt § 308 ZPO, dass der Antrag konstitutiv ist, denn über den Satz ne eat ultra petita partium bestimmen die Parteien den Umfang der richterlichen Prüfung.430 In der Klageschrift legt der Kläger damit neben der Einführung der Streitsache auch den Umfang des Rechtsschutzes fest, den ihm das Gericht im Urteil zusprechen kann. Ausdrücklich legen im Gegensatz dazu die englischen CPR 1998 fest, dass der Antrag des Klägers das Gericht nicht auf den beantragten Rechtsschutz begrenzt: „The court may grant any remedy to which the claimant is entitled even if that remedy is not specified in the claim form.”431 Diese Regel ist schon in den JA 1875 angedeutet432 und auch unter den RSC 1965 finden sich Urteile, die im Zusammenhang mit den Regeln zur Klageänderung ein Abweichen vom klägerischen Antrag erlauben und stattdessen auf den Tatsachenvortrag des Klägers abstellen.433 Daraus zu schließen, der Antrag im englischen Zivilverfahren habe keine Bindungswirkung für den Inhalt der Klage und sei deshalb unbedeutend, ginge freilich zu weit.434 CPR 16.2 (5) ist zu lesen „im Sinne einer Auslegungsregel“435, die dem englischen Richter einen Freiraum zur Interpretation des klägerischen Begehrens gibt, den er in Deutschland nicht hätte. Einmal mehr steht bei ihr die Sorge im Hintergrund, dass sich ein Beklagter in seiner Verteidigung auf rein technische Fehler zurückziehen könnte, indem er ausschließlich die Wahl des falschen Rechtsschutzmittels rügt.436 Der 430
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 77, Rn. 3. CPR 16.2 (5). 432 JA, Ord. III r. 2: „In the indorsement required by Order II., Rule 1, it shall not be essential to set forth the precise ground of complaint, or the precise remedy or relief to which the plaintiff considers himself entitled.” 433 Belmont Finance Corp Ltd. v. Williams Furniture Ltd. [1979] Chap. 250, at 269, per Buckley L.J.: „[…] it appears to me that the court must have jurisdiction to grant any relief that it thinks appropriate to the facts as approved […].”; Watts v. Spence [1976] Ch. 165, 175, per Graham J.; vorsichtig gegenüber richterlichen Hinweismöglichkeiten Andrews, Principles of Civil Procedure, Rn. 3.007, der auf AB v. South Water Services Ltd. [1993] 2 W.L.R. 507, C.A., at 519, hinweist; darauf bezieht sich auch Stürner, Parteidisposition, S. 1070, Fn. 64. 434 Ausdrücklich das Recht auf Auswahl des Rechtsschutzmittels bejahend Andrews, New Civil Procedural Code, ZZPInt, Bd. 4 (1999), S. 9, allerdings mit der Einschränkung, dass diese Auswahl wegen CPR 16.2 (5) keine absolute Bindungswirkung entfalte. 435 Stürner, Parteidisposition, S. 1070, Fn. 64 mit Bezug auf Plant/Rose, Blackstone's Guide to the Civil Procedure Rules, S. 91. 436 Plant/Rose, Blackstone's Guide to the Civil Procedure Rules, S. 91. 431
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
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Auslegungsspielraum des englischen Gerichts blockiert diese Taktik, ungeachtet dessen, dass der Kläger gegen die Regeln der Kunst verstößt, wenn er den Antrag falsch oder ungenau formuliert.437 Die Bedeutung des Antrags für die Streitsache fällt damit unterschiedlich aus. In Deutschland ist er als Rechtsschutzbegehren zentraler Bestandteil (fast) aller zum Streitgegenstand vertretenen Ansichten; der Sachverhalt tritt meist mit unterschiedlicher Gewichtung hinzu. Dies führt dazu, dass sich die deutschen Streitgegenstandslehren in ihren Ergebnissen eher annähern als voneinander entfernen. Erklärt werden kann die Bedeutung des vom Kläger gestellten Antrags mit dem Ziel des historischen Gesetzgebers, die CPO 1877 als rechtliches Abbild einer liberalen Gesellschaft zu verfassen, in dem die Parteidisposition über den Inhalt des Verfahrens einen herausragenden Stellenwert einnimmt. In England ist das Gericht nicht an das abstrakte Begehren des Klägers gebunden. Dies zeigt, dass nicht auf dem Antrag der Schwerpunkt liegt, sondern auf dem tatsächlichen Vortrag des Klägers in den particulars of claim. Dabei kann es dem Gericht nicht darum gehen, sich über den Willen der Parteien hinwegzusetzen, denn damit gefährdete es seine Neutralität.438 Statt einer Beschneidung der Parteidisposition geht es aus englischer Sicht darum, das klägerische Begehren auszulegen, um das Potential des Falles voll auszuschöpfen. Der Kläger disponiert über den Inhalt des Verfahrens direkt aus seinem (Tatsachen-)Vortrag und nicht aus seinem abstrakten Begehren. Dies ist folgerichtig, wenn man sich auf die Gründe für die Justizreformen 1873–1875 besinnt. Das Zivilverfahren sollte seine Formelhaftigkeit ablegen und die Festlegung auf das falsche Rechtsschutzbegehren nicht mehr mit der Abweisung der Klage bestrafen. Das vereinheitlichte englische Verfahrensrecht verinnerlicht dies dadurch, dass es statt auf ein abstraktes Begehren auf den Inhalt des Parteivortrags abstellt. 3. Bedeutung des Sachverhalts a) Verhältnis zu den Tatbestandsvoraussetzungen materieller Berechtigungen Für eine zulässige Klage muss ein Kläger in Deutschland keine schlüssige Klageschrift vorlegen,439 denn der Streitgegenstand wird eigenständig prozessual bestimmt und ist nicht an die Voraussetzungen materieller Rechtsnormen gekoppelt. Aufgabe des Lebenssachverhalts ist es, das Rechtsschutzbegehren des Klägers mit Tatsachen zu stützen.440 Gemäß der „na437
Plant/Rose, Blackstone's Guide to the Civil Procedure Rules, S. 91. Stürner, Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, S. 1070. 439 Vgl. o. S. 109 ff. 440 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 11. 438
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
türlichen Betrachtungsweise“ kann der Klagegrund über die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale einer Rechtsgrundlage ausfüllen, hinausgehen.441 Allerdings soll der durch die Klageschrift eingeführte Lebenssachverhalt letztlich die Klage dadurch entscheiden, dass er die Voraussetzungen der in Frage kommenden materiellen Anspruchsgrundlagen trifft. Deutlich wird dies im Rahmen des Urkundenprozesses, der den Klagegrund auf „die sämtlichen zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen“ reduziert.442 Dies geht in Richtung der „wesentlichen Tatsachen“ des englischen Zivilverfahrens. Die Diskrepanz zwischen einer „einheitlichen Betrachtungsweise“ und den „zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen“443 hat Kritik an der Ungenauigkeit des deutschen „Lebenssachverhalts“ hervorgerufen.444 Vertreter relativer Ansätze wollen diese Ungenauigkeit beheben, indem sie den Lebenssachverhalt je nach Verfahrensstadium weiter oder enger ziehen445 oder die eingliedrige und zweigliedrige Variante der prozessualen Lehre kombinieren.446 Trotz der fast übeinstimmenden Annahme der deutschen Rechtswissenschaft, dass der Streitgegenstand nicht „die Behauptung eines materiellen Rechts einer bestimmten Qualität“, sondern die Behauptung „eines Rechts eines bestimmten Inhalts“447 ist, weisen Stimmen in der Literatur darauf hin, dass die Relevanz der vorgetragenen Tatsachen und die Abgrenzung des Lebenssachverhalts in der Praxis doch von den zugrundeliegenden materiellen Anspruchsgrundlagen beeinflusst wird.448 Musielak bemüht dafür den Lehrbuchfall eines Kaufvertrags, bei dem der Schuldner der Kaufpreisforderung einen Wechsel zu deren Sicherung hingibt. In seiner Klage auf Zahlung des geschuldeten Betrags müsse der Kläger nicht den gesamten Sachverhalt angeben. Welche Tatsachenbehauptungen aber in seiner Klageschrift notwendig sind, richte sich nach den materiellen Regeln zur Kaufpreisforderung und Wechselforderung, denn erst die materielle Eigenständigkeit der beiden Ansprüche bewirke eine Zäsur zwischen den zugrundeliegenden Sachverhalten.449 Jüngere Urteile des BGH zum Verhältnis öffentlich-rechtlicher Aufopferungsansprüche, zu Ansprüchen aus Ge441 442
BGH NJW 2007, S. 2560, 2561; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 11. § 592 S. 1 ZPO (Zitat); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 102,
Rn. 2. 443
§ 592 S. 1 ZPO. Vgl. etwa Schwab, Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, S. 794 f.; Musielak, Grundkurs, Rn. 144. 445 Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl. Rn. 19. 446 Baumgärtel, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 73 f.; Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 58 ff. 447 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 184. 448 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 12; Musielak, Grundkurs, Rn. 144. 449 Musielak, Grundkurs, Rn. 144. 444
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fährdungshaftung und Amtspflichtverletzung450 oder im Bereich des Wettbewerbsrechts451 scheinen den Hinweis auf das materielle Recht als Abgrenzungshilfe zu bekräftigen.452 Nach dem BGH „liegen bei gleichem Antrag unterschiedliche Streitgegenstände dann vor, wenn die materiellrechtliche Regelung die zusammentreffenden Ansprüche durch eine Verselbstständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar unterschiedlich ausgestaltet.“453 „Stillschweigend“454 greift die deutsche Gerichtspraxis also zuweilen auf die Tatbestandsvoraussetzungen der materiellen Rechtsnormen zurück, um den Lebenssachverhalt abzugrenzen. In England bestimmen die Verfahrensregeln mit der Forderung, die Klagebegründung müsse alle wesentlichen Tatsachen für eine schlüssige cause of action enthalten, genauer als in Deutschland, welcher Sachverhalt in die Klage eingeführt werden muss. Es fällt auf, dass im Rahmen des schriftlichen Klägervortrags keine Rede ist von der schlüssigen Behauptung einer materiellen Berechtigung des Klägers, die zu dem begehrten Rechtsschutz führen könnte, sondern von dem „Grund der Klage“. Das englische Rechtsdenken nimmt keine materiellrechtliche Perspektive ein, sondern richtet sich nach den Gesichtspunkten des Verfahrens. Diese Sichtweise folgt der Tradition der forms of action, die das englische Recht insgesamt nach verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten gliederten. Die Justizreformen 1873–1875 dienten nicht dazu, das prozessual ausgerichtete Rechtsdenken zu korrigieren. Man ging bei der Einführung des JA 1875 davon aus, dass sich die Abschaffung der forms of action nur auf die Verfahrensgestaltung auswirke, den Inhalt des englischen Zivilrechts aber im Übrigen unberührt lasse.455 So kam es zu der Auffassung, die forms of action seien lediglich durch ein neues Konzept der causes of action ersetzt worden.456 Die Zeitgenossen beachteten aber im Jahr 1875 nicht hinreichend, dass die forms of action selbst das englische Recht bis dato geformt hatten.457 Es entspann sich das Problem, dass die Abschaffung der vormals strukturgebenden writs die Einteilung und Anwendung materieller Rechtsregeln unsicher machte.458 Der Inhalt konkreter writs musste erst auf abstraktere materielle Berechtigungen zurückgeführt wer-
450
BGH NJW 1993, S. 2173. BGH NJW 2003, S. 2317. 452 Ausführlich Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 12. 453 BGH NJW 2008, S. 3570, 3571. 454 Musielak, Grundkurs, Rn. 144. 455 Bryant v. Herbert (1877–78), L.R. 3 C.P.D. 389, at 390, per Bramwell L.J.; Baker, Introduction to English Legal History, S. 68. 456 In diese Richtung Jacob, Vision and Reality, S. 314. 457 Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 331, 333 f. 458 Baker, Introduction to English Legal History, S. 68. 451
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
den, um das Gerüst der forms of action nicht nur formal, sondern auch rechtstatsächlich abbauen zu können. Materielle Rechtsregeln hatten sich bis zum 19. Jahrhundert unter der Hülle des writ hauptsächlich durch die Verhandlungen vor Gericht selbst gebildet. Ein gelehrtes Forum, vergleichbar mit der gemeinrechtlichen Wissenschaft, gab es in England nicht. Stattdessen sorgte vor allem die Praxis des versuchsweisen Klagevorbringens dafür, dass die materiellrechtlichen Voraussetzungen eines Begehrens durch Ausprobieren und Vergleichen alternativer Vorträge geschärft wurden.459 Als das prozessuale Gefäß der forms of action für die Schutzmöglichkeiten des common law zersprungen war, kamen materielle Rechtsregeln zum Vorschein, die von nun an nicht mehr aktionenrechtlich durch das System der writs zusammengehalten wurden. In bestimmten Teilbereichen bewirkte diese Befreiung materieller Rechtsregeln von ihrer „prozessualen Einkleidung“460 eine Systematisierung. Heute kennt man in England ein Vertragsrecht (law of contract), aber beispielsweise kein in sich konsistentes Deliktsrecht (law of tort).461 Bezeichnenderweise sprechen englische Lehrbücher teilweise im Plural von einem Deliktsrecht als law of torts.462 Bezogen auf das englische Zivilverfahren ist das inhaltsgebende Element der Klage die cause of action. Lange Zeit konnten sich englische Juristen aber nicht von der alten Struktur der forms of action lösen, so dass eine unausgesprochene Bindung der causes of action an die forms of action bestand. Darauf spielt Maitland an mit seiner vielzitierten Feststellung „the forms of action we have buried, but they still rule us from their graves.”463 Bei den pleadings behielten die Juristen ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel aus der Zeit vor den Prozessreformen bei, indem sie ihre Vorgehensweise von ihnen ableiteten.464 Noch im Jahr 1923 stellte Pollock auf die angebliche Verbindung zwischen forms of action und causes of action
459 Baker, Introduction to English Legal History, S. 78 f. Die Herausbildung allgemeiner materiellrechtlicher Grundsätze, die über die konkreten Tatbestandsvoraussetzungen hinausgingen, wurde aber bis zum 19. Jahrhundert durch die pleading-Technik nur selten gefördert, da die Tendenz bestand, materiellrechtliche Fragen in Tatsachenfragen umzudeuten, vgl. Lobban, Contract, Oxford History Bd. XII, S. 317. 460 Schlinker, Prozesseinleitung in der frühen Neuzeit, ZRG GA, Bd. 128 (2011), S. 87. 461 Henrich/Huber, Einführung in das englische Privatrecht, S. 79. Die intensivere systematische Durchdringung des englischen Vertragsrechts setzte allerdings schon vor den Prozessreformen ein, s. Lobban, Tort, Oxford History Bd. XII, S. 880. 462 Vgl. etwa Salmond/Heuston, Law of Torts. 463 Maitland, The Forms of Action, S. 1; Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 488 Fn. 100, vermutet, dass sich Maitland damit an eine Formulierung von Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, S. 232, anlehnt. 464 Lobban, Contract, Oxford History Bd. XII, S. 320.
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
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ab: „[…] the forms of action were only the marks and appointed trappings of causes of action […].”465 Eine eindeutige Stellungnahme zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen forms of action und causes of action erfolgte erst im Jahr 1965 durch Lord Diplock in Letang v. Cooper. Er unterschied die erhalten gebliebene Gewohnheit im Gerichtsbetrieb, Klagen mit den alten Namen des writ-Systems zu bezeichnen, von der eigentlichen Rechtslage, die den Begriff cause of action abstrakt verwende, um einen Sacherhalt zu kennzeichnen, der den Kläger dazu berechtige, gegen den Beklagten vom Gericht einen bestimmten Rechtsschutz zugesprochen zu bekommen.466 Damit arbeitete er heraus, dass eine cause of action ein Tatsachenkomplex mit materiellrechtlichen Implikationen ist,467 der aber keinen Bezug zu den früheren forms of action mehr aufweist. Die schlüssig dargelegte cause of action verknüpft die Tatsachen des Falles mit materiellen Rechtsregeln, so dass der Kläger aus dieser Nahtstelle vor Gericht das begehrte Rechtsschutzmittel herleiten kann.468 In der Klagebegründung stellt er zwischen den behaupteten Tatsachen und dem begehrten Rechtsschutz „an inner connection, a legal nexus“469 her. Seit den sprachlichen Vereinfachungen durch die CPR 1998 sprechen die englischen Verfahrensregeln von claim statt von cause of action; inhaltlich ändert dies nichts.470 Die genaue Kenntnis der materiellrechtlichen Grundlagen eines Begehrens ist damit in England unumgänglich für eine erfolgreiche Klagebegründung. Ein guter Schriftsatz stellt die wesentlichen Tatsachen heraus, die eine cause of action ergeben. Dieser schlägt die Brücke zu den materiellen Rechtssätzen, die der Klage zugrundeliegen, und kann auf diese Weise den vom Kläger begehrten Rechtsschutz rechtfertigen.471 Die Tatsachen müssen deshalb so aufbereitet werden, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der materiellen Berechtigung des Klägers deutlich werden, denn sie entscheiden letztlich über den Erfolg der Klage. 465 Pollock, The Law of Torts, S. 540; Holdsworth, A History of English Law, Bd. IX, S. 334. 466 [1965] 1 Q.B. 232, at 242–243. 467 Vgl. o. S. 143 ff. 468 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 76. Jacob bezeichnet dies als „the law/fact interface”. 469 Jacob/Goldrein, Pleadings: Principles and Practice, S. 71. 470 Der Begriff „claim” wird in den CPR 1998 nicht legaldefiniert, sondern in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen genutzt. Neben einer Bezeichnung für den Klagegrund kennzeichent der Begriff die gesamte Klage an sich sowie ein bestimmtes Klagebegehren, vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 15, Fn. 3. 471 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 106, weist darauf hin, dass das USamerikanische Verständnis von cause of action noch tatsachenbezogener ohne rechtliche Anknüpfung ist.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
Während damit der Sachverhalt in Deutschland überwiegend durch eine „natürliche Betrachtungsweise“ abgegrenzt wird und als Teil eines prozessual eigenständig bestimmten Streitgegenstandes gerade nicht auf zugrundeliegende materiellrechtliche Anspruchsvoraussetzungen bezogen ist, nimmt die englische Sachverhaltsschilderung mittels der schlüssigen cause of action direkten Bezug zur materiellen Rechtslage. b) Verhältnis zum Antrag Die deutschen prozessualen Lehren und ihre relativierenden Spielarten ziehen den Lebenssachverhalt bei der Bestimmung des Streitgegenstandes entweder als gleichwertiges Element neben dem Antrag oder als dessen Auslegungshilfe hinzu. Darin folgen sie dem gemeinrechtlichen Satz da mihi facta, dabo tibi ius.472 In England wird eine Klage zur Verhandlung angenommen, wenn der Kläger in der schriftlichen Klagebegründung schlüssig behauptet, dass eine cause of action vorliegt. Das Gericht kann ihm nur die sich exakt aus dieser Sachverhaltskonstellation ergebenden Rechtsschutzmittel gewähren. Um die cause of action dreht sich folglich der gesamte Rechtsstreit, in dessen Verlauf der Beklagte versuchen wird, durch eigene Schilderung des Falles das Vorliegen einer cause of action zu widerlegen und dem Kläger den Weg zum begehrten Rechtsschutzmittel zu versperren. Von der cause of action zu unterscheiden sind die issues des Falles. Ihre Herausarbeitung ist das zentrale Anliegen des Schriftsatzwechsels zwischen den Parteien. Erst Streitpunkte, die die Parteien selbstständig nicht auflösen können, machen es nötig, sich dem Urteil eines Richters zu unterwerfen. Die cause of action ist der Tatsachenkomplex, aus dem der Kläger die begehrte materielle Berechtigung herleiten kann. Er legt den Inhalt des Rechtsstreits fest. Die issues sind die Hindernisse, die vom Richter auf dem Weg zu seinem Urteil über das Bestehen der cause of action aus dem Weg zu räumen sind. Sie dienen der Präzisierung des Streits, nicht seiner Bestimmung.473 Bedenkt man, dass der Antrag das Gericht in England nicht bindet, so wird deutlich, dass die Tatsachenschilderung zentral ist, die zur cause of action führt, und nicht der Antrag. Der Inhalt des vereinheitlichten englischen Zivilverfahrens beruht auf „fact-based pleading”474. Ein Grund für 472
Ergänzt um jura novit curia, s. Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 184. Eine ähnliche Unterscheidung trifft Spellenberg, Prozeßführung oder Urteil, S. 845: Issues seien „das, worüber die Parteien im Laufe des Verfahrens gestritten haben und das Gericht dann entschieden hat, und nicht […] das, wenn man so will, worum gestritten wurde“. 474 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–01; vgl. Fifoot, English Law and its Background, S. 162: „[…] he [der Kläger] must still proof at the trial a combination of facts from which the court can extract some cause of action. The Judicature Acts offer 473
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
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die sachverhaltsorientierte Methode der Streitsachenfestlegung ist, dass es in England keine Tradition der Antragspräzisierung gibt. Diese war im früheren common law überflüssig, da schon der Titel des writ das Rechtsbegehren kennzeichnete und sich der Kläger von Beginn an auf einen ganz bestimmten Rechtsschutz beschränkte. Dagegen war eine prägnante Tatsachendarlegung umso wichtiger, denn diese oblag dem Urteil der jury. Vor dem Laiengremium fanden diejenigen Tatsachen Gehör, die einfach und präzise präsentiert wurden. Auch als die jury ihre Bedeutung im Zivilverfahren verlor, behielten die englischen Verfahrensregeln das Gebot eines prägnanten Tatsachenvortrags bei, um den wahren Fall nicht durch Ausschweifungen und Rechtsinterpretationen zu verschleiern.475 So etablierte sich eine Technik der Sachverhaltspräzisierung, die bis heute eine Hauptaufgabe englischer Anwälte bildet. Der Aufwand, den die Trennung von Sach- und Rechtsfragen und die Aufstellung einer jury im trial bedeutete, machte in England die Konzentration des Rechtsstreits auf ein einziges Verfahren besonders wünschenswert.476 Den Konzentrationsgrundsatz kennt auch das deutsche Recht, und auch hier schafft der Lebenssachverhalt eine Einheit, wo keine notwendige Anspruchseinheit besteht. Ein Beispiel ist ein Zahlungsanspruch, der aus Kauf und hilfsweise aus ungerechtfertigter Bereicherung hergeleitet ist, falls sich herausstellt, dass der Vertrag nichtig war.477 Materiellrechtlich sind dies zwei Ansprüche und auch der Höhe nach können sie wegen des möglichen Wegfalls der Bereicherung divergieren. Die Bezugnahme auf den Lebenssachverhalt aber schafft die nötige Einheit, um den Fall in einem einzigen Verfahren zu beenden.478 Der Unterschied zu England besteht darin, dass der Konzentrationsgrundsatz in Deutschland eine geringere Rolle spielt, da „die Streiterledigung durch Berufsrichter schlankere Verfahren erlaubt“479 als die Entscheidung durch ein Gremium aus Laien. Darum konnte es sich das deutsche Zivilverfahren in der CPO 1877 leisten, mit dem Antrag des Klägers den Gedanken der Parteidisposition stärker in den Vordergrund zu stellen.480 Der Sachverhalt tritt in Deutschland hinzu und wird weit verstanden als das gesamte relevante Lebensverhältnis in einer natürlichen Betrachtungsweise.481 Im sachverhaltsorientierten englischen Prozess ergibt sich him no letter of marque to adventure on the seas of litigation without regard to precedent.” 475 Vgl. o. S. 149 ff. 476 Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 477 Dieses Beispiel gibt Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 187 f. 478 Habscheid, Die neuere Entwicklung, S. 187 f. 479 Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 480 Vgl. Stürner, Parteidisposition, S. 1067 f. 481 Vgl. o. S. 120 f.
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3. Kapitel: Streitsache des vereinheitlichen Zivilverfahrens
die Konkretisierung der Streitsache nicht zuvörderst aus dem Antrag, sondern aus einem möglichst präzisen und komprimierten Sachverhaltsvortrag. Deutsche und englische Juristen legen die Streitsache des Zivilverfahrens demnach auf unterschiedliche Weise fest. In Deutschland richtet sich der Streitgegenstand nicht nach einzelnen materiellen Anspruchsgrundlagen, sondern nach dem übergreifenden Rechtsbegehren als Antrag in der Klageschrift. Der Lebenssachverhalt tritt als zweites Element des Streitgegenstandes oder als dessen Auslegungshilfe hinzu. In England gibt dagegen der Sachverhalt, zugespitzt auf die cause of action, dem Zivilverfahren seine Streitsache. 4. Ergebnis Sowohl in Deutschland als auch in England gingen die Verfasser der vereinheitlichenden Zivilverfahrensregeln in Bezug auf den Inhalt eines Rechtsstreits von Annahmen aus, die in der neuen Gesetzessystematik Probleme bereiteten. Für die ZPO kam die Rechtswissenschaft zu dem Schluss, dass der Streitgegenstand nicht mit dem vom historischen Gesetzgeber eingesetzten Anspruchsbegriff übereinstimmte. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dauerte es in England, bis richterlich geklärt wurde, dass die cause of action kein bloßer Ersatz für die früheren forms of action war. Der deutsche Streitgegenstand wird prozessual eigenständig gebildet. Über seine Elemente herrscht Streit, überwiegend folgen Literatur und Rechtsprechung der zweigliedrigen Lehre, die einheitlich auf den Antrag und einen weit verstandenen Lebenssachverhalt zurückgreift. Die in Deutschland vertretenen Lehren eint die zentrale Stellung, die sie dem klägerischen Antrag zusprechen. Die zahlreichen Varianten, die deutsche Juristen für die Elemente des Streitgegenstandes entwickelt haben, finden in England kein Pendant. Grund dafür ist, dass die Auslegung der Zivilverfahrensregeln in England den Gerichten obliegt und diese keine universale Lösung für die Methode der Streitsachenfestlegung anstreben, sonden kasuistisch vorgehen. Die für englische Verhältnisse ungewöhnlich zahlreiche Literatur zur Gestaltung der Schriftsätze hat die Einzelfallentscheidungen aber reflektiert und zu einer Systematik ausgebildet, die auch in England eine Lehre zur Streitsache erkennen lässt. Aus ihr ergibt sich, dass die geltend gemachte cause of action über den Inhalt des Rechtsstreits entscheidet. Unsicher ist man sich über eine genaue Definition dieser cause of action, geht überwiegend aber davon aus, dass es sich um denjenigen Tatsachenkomplex handelt, der den Kläger zu dem begehrten Rechtsschutz berechtigt. Der Sachverhalt gibt damit dem englischen Zivilverfahren seine Streitsache; er ist im Vergleich zum deutschen Lebenssachverhalt eng gehalten und an den Vorausset-
IV. Vergleich der Lehren zur Streitsache
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zungen der zugrundeliegenden materiellen Berechtigung orientiert. Da der Klageantrag für das Gericht mehr Auslegungshilfe als zwingende Disposition ist, muss die Konkretisierung des Rechtsstreits aus dem Sachverhalt gezogen werden. Dass die Sachverhaltsschilderung in England auf eine ganz bestimmte dogmatische Figur, die cause of action, hinaus will, verstärkt die Notwendigkeit einer präzisen Sachverhaltsschilderung. Nach deutschem Verständnis ist der Lebenssachverhalt als ausgleichendes Element zum eng verstandenen und wegen des Dispositionsgrundsatzes zwingend zu beachtenden Antrags dagegen weit zu ziehen.
Kapitel 4
Bedeutung der Streitsache als Abgrenzungswerkzeug im vereinheitlichten Zivilverfahren In mindestens vier Bereichen ist das deutsche Zivilverfahrensrecht auf den Streitgegenstand als Abgrenzungskriterium angewiesen; die Rechtswissenschaft nennt sie „Bewährungspunkte“1 oder „Prüfsteine“2 des Streitgegenstandes. Es handelt sich um die Institute der Rechtshängigkeit, der objektiven Klagehäufung, der Rechtskraft und der Klageänderung.3 Dahinter verbergen sich typische Probleme zur Abgrenzung von Gerichtsverfahren, die auch im englischen Recht auftreten. Die Herausarbeitung der Elemente, die die Streitsache des Zivilverfahrens festlegen, hat gezeigt, dass sich das deutsche und das englische Recht durch die Gewichtung von Antrag und Sachverhalt unterscheiden. Das folgende Kapitel untersucht, wie das englische Zivilverfahrensrecht auf die genannten weiterführenden Problemkonstellationen reagiert und welches Verständnis von der Bedeutung der Streitsache sich dabei zeigt. Die deutsche Rechtswissenschaft hat die Institute, bei denen der Streitgegenstand zur Abgrenzung verschiedener Klagen dient, hinlänglich erörtert.4 Die vorliegende Untersuchung geht daher auf deutscher Seite über eine Skizzierung der Problemkonstellationen nicht hinaus. Sie legt ihren Schwerpunkt auf die Vorgehensweise bei der Sicherung endgültiger Entscheidungsinhalte, denn neben der Einleitung des Verfahrens muss auch dessen Abschluss in den Blick genommen werden, wenn deutlich werden soll, über welchen Inhalt eigentlich in einem Zivilverfahren richterlich entschieden wird. Was in Deutschland mit dem Institut der materiellen Rechtskraft beschrieben wird, behandelt man in England mit der Doktrin der res judicata.
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Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 5. Baumgärtel, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 69 f.; Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 681. 3 Darüber hinaus kann der Streitgegenstand die örtliche und sachliche Zuständigkeit des Gerichts beeinflussen, vgl. Horn, Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 681. 4 Vgl. für einen Überblick Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §§ 97 ff. und 149 ff. 2
I. Problemkonstellationen im deutschen Zivilverfahren
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I. Problemkonstellationen im deutschen Zivilverfahren I. Problemkonstellationen im deutschen Zivilverfahren
1. Änderung der Klage Hat der Kläger in einem deutschen Zivilverfahren durch Zustellung der Klageschrift über den Inhalt des Verfahrens disponiert, so kann er von diesem nicht ohne weiteres abweichen. Eigenmächtig darf er seine Anführungen lediglich ohne Änderungen des Klagegrundes ergänzen, berichtigen, oder den Klageantrag modifizieren, ohne ihn qualitativ zu ändern.5 Für weitergehende Änderungen benötigt er regelmäßig die Einwilligung des Beklagten oder eine Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts.6 Die Änderung des Klagegrundes oder eine über § 264 Nr. 2 ZPO hinausgehende Modifizierung des Klageantrags können alternativ oder kumulativ die besonderen Regeln zur Klageänderung in Gang setzen. Damit bestimmen die beiden Elemente, die nach der herrschenden deutschen Ansicht den Streitgegenstand bilden, ob eine Klageänderung vorliegt oder nicht. 2. Zeitgleiche Verhandlung derselben Sache an mehreren Gerichten Es ist überflüssig, dass verschiedene Gerichte sich zeitgleich mit derselben Sache befassen. Zu der unnötigen Bindung von Gerichtsressourcen kommt die Gefahr der Rechtsunsicherheit, denn die entscheidenden Gerichte könnten zu unterschiedlichen Urteilen gelangen.7 Eine rechtshängige Klage kann daher nicht erneut anhängig gemacht werden;8 das Gericht wird sie als unzulässig abweisen.9 Die Prüfung, ob bereits über die Sache gerichtlich verhandelt wird, prüft das später angerufene Gericht, indem es die Streitgegenstände der in Frage stehenden Verfahren miteinander vergleicht.10 3. Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren Regelmäßig bringt der Kläger in ein Verfahren nur einen Streitgegenstand ein. Möchte er mehrere Streitgegenstände gegen denselben Beklagten in einem Verfahren bündeln, so muss er gemäß § 260 ZPO beachten, dass „für sämtliche Ansprüche das Prozessgericht zuständig und dieselbe Pro-
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§ 264 Nr. 1 und 2 ZPO. § 263 ZPO. 7 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 98, Rn. 18. 8 § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. 9 BGH NJW 1986, S. 2195; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 98, Rn. 18. 10 Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 307. 6
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
zessart zulässig“ ist. Auch hier entscheidet eine Abgrenzung des Streitgegenstandes, ob diese besondere Voraussetzung eingreift oder nicht.11 4. Sicherung des Urteilsinhalts Die Entscheidung über einen Rechtsstreit verspräche keine Rechtssicherheit, wenn eine der Parteien durch weitere Klagen die Chance hätte, das Urteil beliebig oft infrage zu stellen. Das Institut der materiellen Rechtskraft verhindert dies, indem es ein Verfahren über den Inhalt einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung als unzulässig abweist.12 Selbst wenn der Entscheidungsinhalt nur eine Vorfrage in einem späteren Verfahren bildet, bindet er das Gericht des späteren Verfahrens infolge Präjudizialität.13 Die Rechtskraft einer Entscheidung ist nicht unbeschränkt. Sachlich ist sie gemäß § 322 Abs. 1 ZPO auf den „durch die Klage […] erhobenen Anspruch“ begrenzt. Diese Regel führt zum Streitgegenstand zurück. Er ist der Inhalt des Rechtsstreits, über den das Gericht entscheidet. Entscheidungsgegenstand und Streitgegenstand decken sich regelmäßig, so dass Antrag und Lebenssachverhalt auch über die Rechtskraft einer Entscheidung bestimmen.14 Gleichzeitig ist damit der Umfang der materiellen Rechtskraft abgesteckt. Nur die im Urteilstenor festgehaltene Rechtsfolge erwächst bei einer Leistungsklage in Rechtskraft, so dass „die Gründe der Entscheidung an der Rechtskraft nicht teilnehmen“15. Eine Ausweitung des Entscheidungsinhalts ist nur möglich durch die Initiative einer Partei über die Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
1. Änderung der Klage In Abkehr vom früheren common law, das dem Kläger weder erlaubte, auf ein anderes writ umzuschwenken, noch das gewählte writ abzuändern, schuf das vereinheitlichte Zivilverfahren mit der Figur des amendment die Möglichkeit, Parteivorträge unter bestimmten Voraussetzungen zu berichtigen. Für die Zulässigkeit der Vortragsänderung stellten JA 1875 und RSC 1965 auf den Zeitpunkt der Schließung der pleadings ab. Damit erhielt jede Partei die Chance, auf das Vorbringen der Gegenseite im Vorverfah11
Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 313. Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 440, 693. 13 BGH NJW 2004, S. 1252, 1254; Musielak, Grundkurs, Rn. 583. 14 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 153, Rn. 1 f. 15 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 153, Rn. 9. 12
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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ren zu reagieren und den eigenen Schriftsatz auf deren Argumente einzustellen. Vor Schließung der pleadings durfte jede Partei ihren Schriftsatz einmalig ändern, ohne die gesonderte Zustimmung des Gerichts einholen zu müssen.16 Danach bedurfte es für eine ordnungsgemäße Änderung eines richterlichen Beschlusses.17 Das Gericht war sogar befugt, einen Schriftsatz eigenhändig zu korrigieren, wenn er nicht seinen Vorstellungen von einem ordnungsgemäßen pleading entsprach.18 Die Zulassung von Änderungen bis zur Schließung der pleadings bewirkte, dass sich die Parteien vor Beendigung des Vorverfahrens nicht sicher sein konnten, auf welche Tatsachen sich die Gegenseite letztlich berufen würde. Die gewünschte Präzision der Schriftsätze und Beschleunigung des Verfahrens wurde so nicht erreicht. Die CPR 1998 steuern dem entgegen, indem sie die Parteien anhalten, durch statements of truth jeden schriftlichen Vortrag zu verifizieren.19 Um zu gewährleisten, dass Änderungen des Tatsachenvortrags die Ausnahme bleiben, präzisierten die CPR 1998 zudem die Regeln des amendment. Sie erlauben keine Änderung der Schriftsätze mehr bis zur Schließung der pleadings, sondern stellen auf die Zustellung an die Gegenseite ab.20 Vor Zustellung an den Beklagten darf ein Kläger seine Klage beliebig ändern.21 Danach ist entweder die schriftliche Zustimmung der Gegenseite oder die Erlaubnis des Gerichts erforderlich.22 Aus prozessökonomischen Gesichtspunkten ist die Klageänderung wünschenswert, damit der Kläger keine neue Klage erheben muss und so die Rechtsstreitigkeiten vervielfacht.23 Die Regelung ähnelt den Vorschriften für die Klageänderungen im deutschen Verfahrensrecht. Dort ist sie bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung möglich,24 steht aber gemäß § 263 ZPO ebenfalls unter der Voraussetzung der Beklagteneinwilligung oder Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts. Die gesetzlichen Regeln zum amendment unterscheiden regelmäßig nicht zwischen formalen Berichtigungen, Ergänzungen und echten inhaltlichen Änderungen der Klagebegründung, wie das im deutschen Recht der Fall ist.25 Jede Änderung des Wortlauts eines Schriftsatzes gilt als amendment, so dass auch Berichtigungen formaler Fehler, wie falsche Daten oder 16
JA, Ord. XXVII r. 2 und 3; RSC, Ord. 20 r. 3(1). JA, Ord. XXVII r. 1; RSC, Ord. 20 r. 5. 18 JA, Ord. XXVII r. 1. 19 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–21. 20 CPR 17.1 (1). 21 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.38; O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.048. 22 CPR 17.1 (2) ff.; O´Hare/Browne, Civil Litigation, Rn. 12.049. 23 Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 34. 24 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 99, Rn. 17. 25 Vgl. CPR 17.1 (1) einerseits und § 264 ZPO andererseits. 17
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
falsche Parteienbezeichnungen, darunter fallen.26 Zu einer inhaltlichen Änderung der Klage kommt es, wenn der Kläger die cause of action auswechselt.27 Eine Aussage über inhaltliche Änderungen traf erstmals RSC, Ord. XX r. 1 (3) (b), die scheinbar eindeutig untersagte, die vorhandene cause of action zu verändern oder zu ersetzen. In der Praxis war es allerdings entgegen des Gesetzeswortlauts anerkannt, dass der Kläger die cause of action ändern durfte, solange er seinen Tatsachenbehauptungen nichts hinzufügen musste.28 War dies nicht möglich, so musste der Kläger statt eines amendment unter der geänderten Tatsachenbehauptung erneut klagen und eine Verbindung der beiden Klagen beantragen.29 Da die englischen Zivilverfahrensregeln nach den CPR 1998 im Regelfall30 keinen Unterschied zwischen „Schriftsatzänderung und Klageänderung“31 machen, unterliegen inhaltliche Änderungen keinen anderen Vorschriften als die Änderung von Formalia. Erst die Spezialvorschrift CPR 17.4 (2) regelt die Auswechlsung der cause of action gesondert. Sie erweitert inhaltliche Änderungen der Klage mit Zustimmung des Gerichts auf den Zeitraum nach Ablauf von Verjährungsfristen. Die Verjährungsfrist läuft im englischen Recht in der Regel mit Entstehung der cause of action an.32 Der Beklagte muss sie als Einrede geltend machen. Ließe man trotz eingetretener Verjährung ein amendment zu, überginge man diese Einrede des Beklagten, denn die cause of action gälte dann als rechtzeitig eingebracht und die Verjährungsfrist wäre gehemmt.33 Das englische Recht erkennt dies, sieht aber andererseits den Kläger in einer schützenswerten Stellung, wenn dieser gar keine neuen Tatsachen einbringen, sondern aufgrund derselben oder wesentlich gleichen Tatsachen die cause of action verändern will.34 Voraussetzung von CPR 17.4 (2) ist daher, dass die neue cause of action im Wesentlichen auf denselben Tatsachen beruht wie die ursprünglich be26
Ward, Walker & Walker's English Legal System, S. 383 f. Vgl. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.37: „amendments to a statement of case consist not just of changing the grounds of the party´s case but also in adding or removing causes of action […].” 28 Ward, Walker & Walker's English Legal System, S. 383. 29 Ward, Walker & Walker's English Legal System, S. 384. 30 CPR 17.1. 31 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 123. 32 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 24.13. 33 Goode v. Martin [2002] All E.R. 620. 34 Diese beiderseitigen Interessen beachtet bereits Limitation Act 1980, Sec. 35 (3), (4) und (5): Grundsätzlich kann keine neue Klage nach Ablauf der Verjährungsfrist zugelassen werden. Das Gesetz enthält aber eine Ausnahmeklausel, die Sonderregelungen in den CPR 1998 unter der Voraussetzung erlaubt, dass eine Klageänderung auf annähernd derselben Sachlage aufgebaut wird wie die ursprüngliche Klage, s. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.49 f. Diese Möglichkeit füllen CPR 17.1 (2) (b), 17.4 (1) und (2). 27
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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hauptete cause of action. Für die Abgrenzung der cause of action gelten die bekannten Tests.35 Auslegungsbedürftig ist die Wendung „substantially the same facts”36. Die Tatsachengrundlage bleibt in diesem Sinne dann wesentlich gleich, wenn sich für die Prüfung des Gerichts voraussichtlich nur geringfügige Unterschiede ergeben und keine umfangreicheren neuen Nachforschungen oder Beweise erforderlich sind. Die Unterschiede dürfen nur begleitend auftreten und keine Hauptbestandteile der neuen cause of action betreffen.37 Von einer solchen Konstellation geht aus englischer Sicht keine Benachteiligung des Beklagten aus. Dieser musste auch im Zusammenhang mit der ursprünglichen cause of action davon ausgehen, dass begleitende Punkte untersucht würden. Von diesem Standpunkt aus betrachtet werden bereits in das Verfahren eingebrachte Tatsachen durch das amendment nur anders betont.38 Häufig führt der Kläger dadurch eine neue cause of action ein, dass er eine neue Verpflichtung des Beklagten behauptet.39 In einer Schadensersatzklage wegen fahrlässig schlecht erfüllten Beratungsleistungen erhob der Kläger neue Vorwürfe, die weiter zurücklagen als die bisherigen. Daraus ergab sich eine neue cause of action, die sich allerdings ausschließlich auf die bereits bekannten Tatsachen des Falles stützte. Da der Kläger die Sachlage nicht veränderte, gab das Gericht der Klageänderung statt.40 Die ursprüngliche cause of action bleibt hingegen bestehen, wenn der Kläger derselben Pflichtverletzung lediglich einen neuen Aspekt hinzufügt.41 Daher erweiterte ein Kläger seine Klage wegen Vertragspflichtverletzung aufgrund Offenlegung von Vermögensgegenständen lediglich, als er einen weiteren offengelegten Vermögensgegenstand angab, und führte keine neue cause of action in das Verfahren ein.42 Aus den strengeren Regeln für ein amendment in Verjährungssituationen ergibt sich, dass der Kläger vor diesem Zeitraum die cause of action erst recht ändern darf.43 Ein amendment mit der Hürde der Zustimmung durch die Gegenseite oder das Gericht liegt aber bei sämtlichen Sachver35
Vgl. o. S. 143 ff. CPR 17.4 (2). 37 P & O Nedlloyd BV v. Arab Metals Co. (The UB Tiger) [2005] 1 W.L.R. 3733. 38 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.52. 39 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.54. 40 Chantrey Vellacott v. Convergence Group Plc [2005] EWCA Civ 290. 41 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.55. 42 Savings & Investment Bank Ltd (In Liquidation) v. Fincken [2001] EWCA Civ 1639, at 32. Richter Gibson verglich diesen Fall mit einer Klage wegen Personenschaden aufgrund von geringfügigen Verletzungen, die der Kläger abändern möchte auf schwerwiegendere Verletzungen, durch die ihm aber im Ergebnis derselben Schaden entstanden ist. Eine neue cause of action ergebe sich dadurch nicht, s. Savings & Investment Bank Ltd (In Liquidation) v. Fincken [2001] EWCA Civ 1639, at 38. 43 Vgl. Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 34. 36
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
haltsänderungen vor und nicht nur bei einem Austausch der cause of action. Diese ist nach englischem Verständnis nicht das allein ausschlaggebende Kriterium für die Änderung der Klage. Das englische Zivilverfahrensrecht hat damit ein enges Verständnis davon, wann für eine Änderung der Klage besondere Vorschriften eingreifen. In Deutschland unterliegt eine Änderung des Tatsachenvortrags nur den besonderen Voraussetzungen von § 263 ZPO, wenn der Lebenssachverhalt als Teil des Streitgegenstands verändert wird. Eine Berichtigung im Sinne des § 264 ZPO gilt nicht als Klageänderung. In England geht es dagegen rein um die technische Frage, ob neue Tatsachen vorgetragen werden, unabhängig davon, ob sich dadurch die cause of action oder nur die issues des Falls ändern. 2. Zeitgleiche Verhandlung derselben Sache an mehreren Gerichten Die englische Gesetzgebung übergeht den Fall, dass über dieselbe Sache gleichzeitg an mehreren innerstaatlichen Gerichten verhandelt wird. Ein Verfahren über die Sache ist nach englischem Verständnis eröffnet, wenn das klageeinleitende Formular ausgestellt und dem Beklagten zugestellt ist.44 Dabei ist aber zu beachten, dass das englische Recht, ebenso wie der internationale Sprachgebrauch,45 bei der Kennzeichnung des Beginns eines Verfahrens nicht differenziert zwischen „Anhängigkeit“ und „Rechtshängigkeit“ des Streits. Eine feste Lehre zur innerenglischen Lösung der mehrfachen Klageerhebung an unterschiedlichen Gerichten hat sich nicht gebildet.46 Dementsprechend erwähnen auch die Prozessrechtshandbücher das Problem nicht oder halten sich kurz.47 Lediglich für die Situation potentieller internationaler Zuständigkeit bei mehreren möglichen Gerichtsständen hat das englische Recht die aus Schottland bekannte forum-non-conveniens-Doktrin übernommen, die dem Richter ein weites Abwägungsermessen unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gibt, ob er eine in England erhobene Klage annimmt oder verweist.48 Eine Verweisung kommt dann in Betracht, wenn das angerufene Gericht der Überzeugung ist, ein anderes Gericht sei besser geeignet, das 44
Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.1. Die pre-action protocols verpflichten die Parteien, sich schon vorher über den Streit auszutauschen, das Verfahren beginnt mit ihnen aber noch nicht, vgl. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 3.4. 45 Nieroba, Die europäische Rechtshängigkeit, S. 3. 46 Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 268; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 189. 47 Vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 934–950; Andrews, Principles of Civil Procedure, Rn. 5–025 ff. 48 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 932; Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 268 f. Etabliert wurde die forum-non-conveniens-Doktrin im englischen Recht durch die Entscheidung MacShannon v. Rockare Glass Ltd., [1978] A.C. 795.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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betreffende Verfahren anzunehmen.49 Genaue Vorgaben für das angerufene Gericht existieren dabei nicht; vielmehr entscheidet es nach einer umfassenden Einzelfallabwägung, für die nicht nur der Inhalt der Klage von Belang ist, sondern auch räumliche Faktoren, Vollstreckungsfragen oder der Verfahrensstand eine Rolle spielen.50 Der weite Abwägungsspielraum des Gerichts bringt eine hohe Rechtsunsicherheit mit sich, wird aber vor allem deswegen als notwendig angesehen, um den Missbrauch von Wahlmöglichkeiten unter mehreren Gerichtsständen (forum shopping) zu verhindern.51 Für den Fall, dass ein Kläger denselben Streit gleichzeitig vor verschiedene englische Gerichte bringen möchte, haben sich daraus aber keine besonderen Regeln entwickelt. Das englische Recht geht selbstverständlich davon aus, dass mehrfache Verfahren über dieselbe Sache zur gleichen Zeit unzulässig sind.52 Jedenfalls, wenn der Kläger des Erstverfahrens einen Rechtsstreit gerichtlich doppelt überprüfen lassen will, liegt verfahrensmissbräuchliches Verhalten vor, dem das Gericht durch das Instrument der Verfahrensaussetzung (stay of proceedings) begegnet.53 Dies geschieht per Gerichtsbeschluss, der den Parteien jede weitere Handlung, die das Verfahren vorantreiben würde, untersagt.54 Anders als im deutschen Recht wird die Klage in diesem Fall nicht als unzulässig abgewiesen. Ein eindeutiges Verbot der doppelten Prozessführung kennt das englische Recht daher nicht. Stattdessen liegt die Beurteilung der erneuten Klageerhebung als verfahrensmissbräuchliches Verhalten, ähnlich wie bei der forum-non-conveniens-Doktrin, im Ermessen des Gerichts.55 Das Verfahren wird ausgesetzt und ruht, bis das früher angerufene Gericht zu einer Entscheidung gekommen ist.56 Anschließend kann 49
Huber, Die englische Forum-non-conveniens-Doktrin, S. 217; Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–007. 50 Vgl. Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 270, m. w. N. und Beispielen. 51 Vgl. Huber, Die englische Forum-non-conveniens-Doktrin, S. 145 ff. 52 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 934–950: „Prima facie […].” 53 Earl Poulett v. Viscount Hill [1893] 1 Ch. 227, C.A.; Williams v. Hunt [1905] 1 K.B. 512, C.A.; Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 934– 950. 54 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 926. Die Befugnis zur Verfahrensaussetzung wird teils aus spezialgesetzlichen Regelungen und aus den CPR 1998 hergeleitet, teils aus der inherent jurisdiction des Gerichts, vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 928 ff. Zur Figur der inherent jurisdiction vgl. u. S. 210 f. 55 Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 193; Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 268, bewertet diese Fallkonstellation als Teil der forum-non-conveniens-Doktrin. 56 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 927.
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
das später angerufene Gericht mit Hinweis auf die erste Entscheidung das Verfahren einstellen57 oder das Verfahren wieder freigeben, so dass die Parteien weiterverhandeln können58. Ob dieselbe Sache vorliegt, grenzt das Gericht danach ab, dass im Wesentlichen um dieselben issues gestritten wird.59 Nicht zwingend notwendig für eine Aussetzung des Verfahrens ist es, dass sich die cause of action gleicht.60 Er ist damit kein zwingendes Abgrenzungskriterium für das Verbot der Doppelverhandlung in England. 3. Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren Die moderne englische Verfahrensordnung ermöglicht es dem Kläger, verschiedene Klagen in einem Verfahren zu bündeln. Der JA 1875 zog dafür die cause of action als Abgrenzungsmerkmal heran. Die Figur des joinder of causes of action galt unter der Einschränkung, dass der Richter getrennte Verfahren anordnen konnte, wenn er der Meinung war, dass die in Streit stehenden causes of action nicht zweckdienlich zusammen verhandelt werden konnten.61 Voraussetzung für die Verhandlung mehrerer causes of action war, dass Kläger und Beklagter feststanden und sich die Parteien der jeweiligen causes of action nicht unterschieden.62 RSC 1965 und CPR 1998 haben an den Regeln des JA 1875 über die Verhandlung mehrerer causes of action in einem Verfahren inhaltlich nichts geändert.63 Den Be57
Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 271 f., geht davon aus, dass dies der Normalfall sein wird. 58 Vgl. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 927. 59 Thames Launches Ltd v. Trinity House Corp. (Deptford Strond) [1961] Ch. 197, at 204, per Buckley J.: „[…] substantially the same issues […]“. Zwar kollidierten in diesem Fall nicht zwei zivile Klagen, sondern Zivilprozess und Strafprozess, im Ergebnis änderte dies aber nichts (at 202, per Buckley J.); bestätigt für kollidierende Zivilverfahren in Royal Bank of Scotland Ltd v. Citrusdal Investments Ltd. [1971] 1 WLR 1469, at 1472–1473, per Plowman J. 60 Vgl. Thames Launches Ltd v. Trinity House Corp. (Deptford Strond) [1961] Ch. 197 einerseits und Royal Bank of Scotland Ltd v. Citrusdal Investments Ltd. [1971] 1 WLR 1469 andererseits. 61 JA, Ord. XVII r. 1: „[…] the plaintiff may unite in the same action and in the same statement of claim several causes of action, but if it appears to the Court or a Judge that any such causes of action cannot be conveniently tried or disposed of together, the Court or Judge may order seperate trials of any of such causes of action […].” Die Regelung ging zurück auf einen Vorschlag der Reformkommission im Jahr 1851 (1st report of Commissioners, Parlt. Papers 1851, Bd. XXII, S. 567/32), der in den Common Law Procedure Act 1852, sec. 41 inkorporiert wurde (Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 201). 62 Wilson, The Supreme Court of Judicature Acts, S. 200 f.; Holdsworth, A History of English Law, Bd. XV, S. 134. 63 RSC, Ord. 15 r. 1 (1): „Subject to Rule 5 (1), a plaintiff may in one action claim relief against the same defendant in respect of more than one cause of action […]”. RSC, Ord. 15 r. 5 (1): “If claims in respect of two or more causes of action are included by a
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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griff joinder oder consolidation verwenden die CPR 1998 nicht mehr, CPR 7.3 spricht nur noch von einem Recht, mit einem einzelnen claim form zwei oder mehr Klagen einzuleiten.64 Bereits aus demselben Sachverhalt können mehrere causes of action erwachsen, die der Kläger gemeinsam vor Gericht bringen darf.65 Gleiches gilt, wenn die causes of action auf unterschiedlicher Tatsachengrundlage beruhen. Beispielhaft beschreibt Arnheim66 eine Vertragsbeziehung zwischen zwei Geschäftspartnern, in der eine Vertragsverletzung in Rede steht. Der Kläger sitzt im Büro des Beklagten, der Stuhl bricht unter ihm zusammen und er bricht sich die Hüfte. Das Gericht wird es dem Kläger voraussichtlich erlauben, eine Klage auf Schadensersatz wegen Vertragsbruch und wegen Schadensersatz aufgrund des Personenschadens in einem einzelnen claim form geltend zu machen.67 Einer solchen Klagehäufung im Wege stehen könnten allerdings die neuen Regeln zur Einteilung der Klagen in verschiedene tracks.68 Diese richten sich unter anderem nach dem Streitwert. Wenn nun im obigen Beispiel der Streitwert der Vertragsklage 10.000 BPS und Verletzungsklage 75.000 BPS beträgt, dann müssten die Klagen aufgrund des divergierenden Streitwertes vor unterschiedliche Gerichte gebracht werden. Der Streitwert der Verletzungsklage würde die Zuständigkeit des High Court begründen, der Streitwert der Vertragsklage reicht dafür nicht aus, so dass das Gericht sich wohl für eine Trennung der Klagen entscheiden würde.69 Ähnlich wie das deutsche Zivilverfahren nutzen die englischen Verfahrensregeln die Streitsache, um mehrere Klagen voneinander abzugrenzen. Im Einzelnen ergeben sich freilich Unterschiede aufgrund der unterschiedlichen Elemente, die die Streitsache bilden. In Deutschland liegt eine objektive Klagehäufung vor, „wenn der Kläger mehrere Anträge stellt oder einen Antrag auf mehrere Lebenssachverhalte stützt“70. Wiederum ist hier nach der h. M. die Abgrenzung im Zusammenspiel von Antrag und Lebenssachverhalt vorzunehmen. Das englische Recht dagegen stellt auf die cause of action ab. Durch unterschiedliche Tatsachengrundlagen oder auch plaintiff in the same action […], and it appears to the Court that the joinder of causes of action […] may embarrass or delay the trial or is otherwise inconvenient, the Court may order separate trials or make such order as may be expenient.” CPR 7.3: „A claimant may use a single claim form to start all claims which can be conveniently disposed of in the same proceedings.” 64 CPR 7.3 regelt objektive und subjektive Klagehäufung gemeinsam, s. Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 21. 65 Brunsden v. Humphrey (1884–85) L.R. 14 Q.B.D. 141, C.A. 66 Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 22. 67 Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 22. 68 Vgl. o. S. 157 ff. 69 Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 22. 70 Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 731.
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
unterschiedliche Zusammenstellung desselben Sachverhalts71 postuliert der Kläger unterschiedliche Pflichten des Beklagten, die er in einem Verfahren kumulieren kann.72 4. Sicherung des Urteilsinhalts Den Rechtsstreit zwischen den Parteien klärt erst der richterliche Urteilsspruch. Dass die verfahrensabschließende Entscheidung einen Rechtsstreit möglichst endgültig beenden soll, ist sowohl der deutschen73 wie der englischen74 Zivilverfahrensordnung gemein.75 Die „sachlogische Notwendigkeit“76, dass das Urteil die Parteien für die Zukunft bindet, verhindert seine beliebige Aufhebbarkeit und Abänderbarkeit. Nur durch den endgültigen Abschluss des Streits kann das Zivilverfahren das Recht dauerhaft verwirklichen und damit sein Ziel erreichen, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu stiften. Der Urteilsgegenstand muss mit dem Inhalt der Klage korrespondieren, wenn die Parteiherrschaft über den Verfahrensinhalt gewahrt werden soll. Ebenso wie in Deutschland gilt in England, dass Streitsache „auch der potentielle Urteilsgegenstand oder der hypothetische Rechtskraftgegenstand“77 ist. Mit seiner Klagebegründung hat der Kläger die cause of action als Streitsache in das Verfahren eingebracht. Welchen Umfang die Streitsache als Gegenstand der richterlichen Entscheidung haben wird, ist mit diesem Schritt noch nicht geklärt. Erst der Urteilsgegenstand schließt den Rahmen über den Inhalt des Rechtsstreits, den der Kläger mit der Klagebegründung eröffnet hat. Für das Verständnis der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen und englischen Methodik der Streitfestlegung ist es daher von besonderer Bedeutung, den Umfang des endgültig festgestellten Entscheidungsinhaltes herauszuarbeiten. Das Urteil selbst kann den Streit nur dann endgültig beenden, wenn klar ist, worüber geurteilt wurde und wie weit der Richterspruch reichte; sein potentieller Gegenstand spiegelt somit wieder, was Sache des Rechtsstreits war. Das englische Recht löst dieses Problem der in deutscher Diktion materiellen Rechtskraft mit der Lehre der res judicata.
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Vgl. Brunsden v. Humphrey (1884–85) L.R. 14 Q.B.D. 141, C.A. Vgl. Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.54 (dort im Rahmen des amendment). 73 § 322 Abs. 1 ZPO; vgl. o. S. 188. 74 Supreme Court Act 1981, sec. 49 (2). 75 Im Übrigen stellen auch alle weiteren europäischen Verfahrensrechte diesen Grundsatz heraus, vgl. Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 913, Fn. 1. 76 Spellenberg, Prozeßführung oder Urteil, S. 841. 77 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 95 m. w. N. Vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 477 ff. 72
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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a) Einordnung der res-judicata-Lehre Feste Regeln zur res judicata, die als Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgetaucht war,78 entwarf die englische Rechtsprechung erstmals im 19. Jahrhundert.79 Die Lehre der res judicata konkretisiert den Prozessgrundsatz der finality in Bezug auf öffentliche und individuelle Interessen.80 Dieser besagt, dass Rechtsstreitigkeiten endlich sind und Angelegenheiten, über die bereits geurteilt wurde, nicht leichtfertig in einem neuen Verfahren wieder aufgebrochen werden sollen.81 Das richterliche Urteil kann das öffentliche Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, umschrieben mit der Maxime interest res publica ut finis litium sit,82 nur befriedigen, wenn Verlass auf seine Beständigkeit ist. Dem Schutz individueller Interessen entspricht die Maxime nemo debet bis vexari pro una es eadem causa.83 Ohne Rechtskraft wäre das erste Verfahren nicht mehr als eine „Generalprobe“ für weitere Auseinandersetzungen im Gerichtssaal; die berechtigte Erwartung der Partei, dass der Streit verlässlich beigelegt wurde, erfüllte sich nicht.84 Der systematische Standort der res-judicata-Lehre ist ungewöhnlich. Einschlägige englische Lehrbücher, die das Beweisrecht behandeln,
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Erstmals im Trial of the Duchess of Kingston (1776) 20 St. Tr. 355, at 359. Die hinter der res-judicata-Lehre stehende Problematik, eine erneute Streiterhebung über eine entschiedene Sache zu verhindern, wurde schon früher in den year books dokumentiert. Neben den Fällen, in denen eine identische Klage wiederholt erhoben wird, ging es in den überlieferten Fällen vor allem um Kompetenzabgrenzungen zwischen der Gerichtsbarkeit des common law und der Kirchengerichte, s. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 216. Auf die frühesten Entscheidungen weist Cohn, Die materielle Rechtskraft im englischen Recht, S 876 f., hin. 79 Rechtsprechung und Literatur zur res judicata sind heute für englische Verhältnisse erstaunlich umfangreich. Bedeutung besitzt vor allem die Monographie von Handley, Res Judicata, aus dem die Gerichte teilweise direkt zitieren, vgl. die Nachweise bei Handley, Res Judicata, Rn. 7.01 und 8.01. 80 Lockyer v. Ferryman (1877) L.R. 2 App. Cas. 519, at 530, per Lord Blackburn: „The object of the rule of res judicata is always put upon two grounds – the one public policy, that is the interest of the State that there should be an end of litigation, and the other, the hardship on the individual, that he should not be vexed twice for the same cause.”; Carl-Zeiss-Stiftung v. Rayner and Keeler Ltd. [1967] 1 A.C. 853, H.L. 81 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.01; Handley, Res Judicata, Rn. 5.01 ff. Supreme Court Act 1981, sec. 49 (2), lautet: „Every court […] shall so exercise its jurisdiction [… so as] to secure that […] all matters in dispute […] are completely and finally determined, and all multiplicity of legal proceedings […] is avoided.“ 82 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.02; 83 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.02; 84 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.03: „[…] merely a dress rehearsal for further contests“.
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
schließen sie darin mit ein.85 Allerdings geschieht dies im Rahmen der Kapitel zur Figur des estoppel, einer Rechtsscheins- und Vertrauenslehre, die nicht nur im Verfahrensrecht, sondern auch im materiellen Recht gilt.86 Ihr wohnt der Rechtsgedanke inne, den im deutschen Recht die Wendung venire contra factum proprium umschreibt. Er gilt für Situationen, in denen sich eine Partei auf Ereignisse stützt, auf die sie sich nicht berufen kann, ohne mit früher von ihr auf rechtsverbindliche Weise abgegebenen Erklärungen in einen unzulässigen Widerspruch zu geraten.87 Historisch sind drei Arten von estoppel zu unterscheiden, nämlich estoppel by record, estoppel by deed und estoppel in pais, auch equitable estoppel genannt.88 Das estoppel by record ist der älteste Bestandteil der estoppel-Lehre. Es bezog sich im früheren common law auf den Inhalt der Prozessakten. Widersprach eine neue Prozesshandlung einer Partei ihrem in den Akten aufgezeichneten prozessualen Vorverhalten, so hatte die Gegenseite die Prozesseinrede des demurrer, mit dem sie das estoppel by record geltend machen konnte.89 Der Beweisqualität von Prozessakten ebenbürtig waren Erklärungen, die durch gesiegelte Urkunde, der deed, festgehalten worden waren; hieraus konnte ein estoppel by deed erwachsen. Neben Situationen, in denen das widersprüchliche Verhalten einer Partei bereits aus Prozessakten oder Urkunden hervorging, erkannte das englische Recht weitere Publizitätsträger an, aus denen sich widersprüchliches Verhalten ergab, sogenannte acts in pais.90 Die Gegenseite musste diese Bindung aber erst nachweisen, indem sie ihren Rechtsfolgewillen öffentlich bekundete. Ihren Willen zur Beweisführung zeigte sie mit der allgemeinen Einrede des estoppel in pais oder equitable estoppel an. In der Sphäre dieses equitable estoppel bewegt sich die englische Lehre von der Endgültigkeit von Entscheidungen. Seinem Anwendungsbereich, der immer dann gegeben ist, wenn ein widersprüchliches Parteiverhalten 85 Vgl. etwa Tapper, Evidence, S. 95 ff.; Wilken/Villiers, Waiver, Variation and Estoppel, Rn. 14.01 ff. – Das Beweisrecht ist im englischen Recht aus dem allgemeinen Verfahrensrecht ausgelagert und gilt sowohl für das Zivil- als auch für das Strafverfahren, dort allerdings mit Sonderregelungen. 86 Beispielsweise die Anscheinsvollmacht (agency by estoppel), vgl. Bunge, Institutionen des englischen Zivilprozeßrechts, ZZP, Bd. 92 (1979), S. 361. 87 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 136. 88 Bunge, Institutionen des englischen Zivilprozeßrechts, ZZP, Bd. 92 (1979), S. 360. 89 Bunge, Institutionen des englischen Zivilprozeßrechts, ZZP, Bd. 92 (1979), S. 360. Der Begriff des estoppel by record verschwand mit der Abschaffung des demurrer im modernen Prozess. Überwiegend wird er heute als irrreführend betrachtet, da es nicht darauf ankommt, wie der Fall in den records festgehalten wurde, sondern ob die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen der res-judicata-Effekt eintreten kann, s. Handley, Res Judicata, Rn. 1.18. 90 Vgl. Bunge, Institutionen des englischen Zivilprozeßrechts, ZZP, Bd. 92 (1979), S. 360.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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noch gesondert nachgewiesen werden muss, entspricht die Situation, dass ein rechtskräftiges Urteil einem Zweitverfahren entgegensteht. Auch das Urteil des Erstverfahrens ist nicht in den Akten des Zweitverfahrens aufgezeichnet, so dass nur ein allgemeines estoppel helfen kann.91 Wird es erhoben, so ist die Gegenseite per rem judicatam an der erneuten Streitaustragung vor Gericht gehindert. Die frühere Entscheidung erhält damit die Eigenschaft eines unwiderlegbaren Beweises.92 b) Wirkung der res judicata Der res-judicata-Effekt kann sich grundsätzlich nur zwischen Verfahren entfalten, die beide vor einem zuständigen Gericht zwischen denselben Parteien geführt werden.93 Ursprünglich wirkte sich das estoppel-Prinzip entsprechend seiner Zugehörigkeit zum Beweisrecht nur auf duplizierte Beweisanführungen aus, so dass eine Partei daran gehindert war, im Zweitverfahren nochmalig oder abweichend vom Erstverfahren Beweis über eine bereits gewürdigte Tatsache zu erheben.94 Gerichtsgewohnheitsrecht weitete dieses Hindernis aus, indem es das estoppel auf den Parteivortrag an sich übertrug. Die Überlegung war, dass man einer Partei, der es verwehrt war, über eine Tatsache Beweis zu erheben, konsequenterweise bereits die Behauptung dieser Tatsache in ihrem Prozessvortrag versagen musste; denn eine behauptete streitige Tatsache, die nicht dem Beweis zugänglich gemacht werden konnte, war wertlos. Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine Partei schon daran gehindert ist, in einem zweiten Verfahren überhaupt etwas vorzutragen, über das im ersten Verfahren bereits entschieden wurde.95 Auswirkungen hat die Zugehörigkeit zum Beweisrecht bis heute bei der Frage, unter welchen Umständen eine entgegenstehende frühere Entscheidung überhaupt beachtet wird. Ein estoppel wird im englischen Recht immer als Einrede in das Verfahren eingeführt.96 Dementsprechend prüft das 91
Bunge, Institutionen des englischen Zivilprozeßrechts, ZZP, Bd. 92 (1979), S. 360. Morrison, Rose & Partners v. Hillman [1961] 2 Q.B. 266, C.A., at 277, per Pearson L.J.: „The easiest line of approach to this question is to regard the previous decision as conclusive evidence.“ 93 R. v. Hutchings (1881) L.R. 6 Q.B.D. 300, C.A.; Green v. Weatherill [1929] 2 Ch. 213. – Zu den Parteien werden auch ihre sogenannten privies gezählt. Typischer Fall eines privy ist der Rechtsnachfolger. Der Begriff geht aber im Einzelfall darüber hinaus, da die Rechtsprechung keine einheitliche Definition für den Kreis der privies anbietet, vgl. Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.13. Die Literatur hat zur näheren Bestimmung Fallgruppen gebildet, vgl. Tapper, Evidence, Fn. 111. 94 Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 121. 95 Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 121. 96 Tapper, Evidence, S. 93; Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 926. 92
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
Gericht nicht von Amts wegen, ob einem Verfahren möglicherweise ein rechtskräftiges Urteil entgegensteht; vielmehr muss die Rechtskraft im Schriftsatzverkehr geltend gemacht werden und von derjenigen Partei, die sich auf sie beruft, auch nachgewiesen werden.97 Alle Sachentscheidungen staatlicher Gerichte können den res-judicataEffekt erhalten.98 Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung endgültig ist; dies kann bereits zum Zeitpunkt des Urteilsspruchs der Fall sein. Für den Eintritt der materiellen Rechtskraft ist nicht die Unanfechtbarkeit des Urteils maßgeblich, sondern der Wille des Gerichts, den Rechtsstreit oder einzelne Streitfragen abschließend zu entscheiden. Einen Bedingungszusammenhang zwischen formeller und materieller Rechtskraft kennt das englische Recht nicht.99 So kann es zu der Situation kommen, dass ein im Sinne des res-judicata-Effekts rechtskräftiges Urteil weiterhin durch appeal angefochten werden darf.100 Prozessual führt die Rechtskraft englischer Zivilurteile zu einer Präklusion, indem sie ein Zweitverfahren über dieselbe Streitsache sperrt. Falls das Zweitverfahren zwar eine andere Streitsache als das ursprüngliche Verfahren hat, aber der Inhalt des Erstverfahrens erneut relevant wird, dann
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Nouvion v. Freeman (1890) L.R. 15 App. Cas. 1, at 9; Carl-Zeiss-Stiftung v. Rayner and Keeler Ltd. [1967] 1 A.C. 853, H.L. 98 Gleiches gilt gem. Arbitration Act 1996, sec. 58 für Schiedssprüche im Rahmen der Schiedsgerichtsbarkeit. Prozessurteile erwachsen hingegen nicht in Rechtskraft. Diese Begrenzung hat ihren Grund vornehmlich in den Zuständigkeitsregelungen der englischen Zivilgerichtsverfassung. Nur der High Court, der Court of Appeal sowie der neugeschaffene Supreme Court sind sachlich und örtlich allgemein zuständige Gerichte, s. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 229, Fn. 69. Wenn nun die Unzuständigkeitserklärung einer Kammer des High Court in materieller Rechtskraft erwüchse, könnte sich kein anderes Gericht mehr eines Rechtsstreits annehmen, vgl. Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 121, Fn. 663. 99 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 230 f. Das Zusammenspiel von formeller und materieller Rechtskraft bleibt im englischen Recht weitgehend undiskutiert, vgl. Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 925. Auch die Anhängigkeit einer Berufung schließt die Rechtskraftwirkung nicht aus, vgl. Scott v. Pilkongton, 2 B. & S. 11 (1862), 121 Eng. Rep. 978, 989 f. Spellenberg, Prozeßführung oder Urteil, S. 844, vermutet, dass der res-judicata-Effekt deswegen nicht an die Unanfechtbarkeit des Urteils gekoppelt ist, weil er den Regeln der estoppel-Doktrin folgt. 100 Handley, Res Judicata, Rn. 5.02: „Some decisions which are final for appeal are not final for res judicata, and strange as it may seem some decisions which are interlocutory for purposes of appeal are final for res judicata.” Dies gilt beispiesweise, wenn offensichtlich ist, dass das Gericht den Fall nicht endgültig klären wollte, oder bei rein formellen Fehlern. – Für den Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes vgl. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 231.
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bindet die res judicata die Parteien ebenso, denn in der Folgestreitigkeit darf vom Inhalt der ersten Entscheidung nicht mehr abgewichen werden.101 Die res judicata verändert auch die materielle Rechtslage durch den Effekt des merger by judgment.102 Wird der Klage stattgegeben, so verbraucht das Urteil die cause of action und verschmilzt ihn mit dem Titel.103 Aus diesem Vorgang des merger entsteht eine neue, selbstständige Legalobligation.104 Falls die Klage abgewiesen wird, so kann die in ihr geltend gemachte cause of action ebenfalls nicht mehr erhoben werden, da der Kläger an seiner nochmaligen Erhebung gehindert ist.105 c) Umfang der res judicata (1) Cause of action estoppel Kernbereich der res-judicata-Lehre ist das cause of action estoppel, das immer dann eingreift, wenn dieselbe cause of action zwischen denselben Parteien in einem Verfahren in Streit steht, obwohl in der identischen Sach- und Personenkonstellation bereits ein Urteil ergangen ist.106 Die im Urteilsspruch festgestellte cause of action kann in einem zweiten Verfahren nicht wieder in Frage gestellt werden.107 Bei der Frage der Identität der causes of action nimmt die Rechtsprechung eine Gesamtschau der im Erstverfahren vorgebrachten Tatsachen 101 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 245 f.; Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 606. 102 Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 921, vermutet, dass das englische Recht den merger-Effekt nicht mehr beachtet, weil er in der Literatur so wenig Niederschlag finde. Tatsächlich widmet aber Handley, Res Judicata, dem merger fast ein Drittel des Umfangs der Monographie. Auch Andrews, English Civil Procedure, S. 946, Rn. 40.16 behandelt ihn. Ebenso finden sich jüngere Urteile, vgl. etwa Republic of India v. India Steamship Co. Ltd. [1993] A.C. 410, H.L., at 417, per Lord Goff: „The basis of the principle is that the cause of action, having become merged in the judgment, ceases to exist, as is expressed in the Latin maxim transit in rem judicatam.” Zum noch nicht abschließend geklärten Verhältnis von estoppel und merger vgl. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 246. 103 Lockyer v. Ferryman (1877) L.R. 2 App. Cas. 519, at 528, per Lord Selborne: „When there is res judicata the original cause of action is gone.” 104 Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung, S. 136. 105 Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 121. 106 Ausnahmen bestehen bei Betrugs- oder Kollusionsfällen, vgl. Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40–13. 107 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, at 197, per Diplock L.J.: „The first species, which I will call 'cause of action estoppel,' is that which prevents a party to an action from asserting or denying, as against the other party, the existence of a particular cause of action, the non-existence or existence of which has been determined by a court of competent jurisdiction in previous litigation between the same parties.”
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
vor. Im beispielhaften Fall The Indian Grace108 verletzte das beklagte Frachtunternehmen seine Verpflichtungen aus einem Liefervertrag. Weil auf dem Frachtschiff ein Brand ausgebrochen war, war ein Teil der Ladung zerstört und der Rest beschädigt worden. Der Kläger klagte zunächst nur Schadensersatz wegen Zuweniglieferung ein. In Bezug auf die später nachgeschobene Klage auf Schadensersatz wegen Beschädigung des noch vorhandenen Teils der Ladung war er aber wegen eines cause of action estoppel präkludiert. Die Richter entschieden, dass die vorgetragenen Tatsachen mehrere Gründe für einen Vertragsbruch gegeben hätten. Es habe sich aber um denselben Vertrag gehandelt, so dass die cause of action gleich geblieben sei. Folglich könne nur einmal ein Vertragsbruch geltend gemacht werden.109 Ähnlich verhielt es sich bei einem Werkvertrag über den Bau eines Wohnhauses in Conquer v. Boot110. Der Kläger hatte auf Schadensersatz geklagt, weil der beauftragte Werkunternehmer das Haus nicht fachgerecht nach den Regeln der Handwerkskunst errichtet habe; das Gericht gab ihm Recht. Dann aber erhob der Kläger eine weitere Klage, in der er denselben Vertragsbruch monierte, diesmals allerdings mit der Begründung, das Haus sei nicht mit geeignetem Baumaterial errichtet worden. Das Gericht gestand ihm zu, dass durch das fehlerhafte Material ein abweichender Schaden entstanden sei. Die cause of action aber, hier der Vertragsbruch, sei in beiden Fällen identisch gewesen, so dass wegen des cause of action estoppel die zweite Klage abgewiesen wurde.111 (2) Issue estoppel Eine Besonderheit des englischen res-judicata-Effekts ist, dass er über den Tenor des Urteils hinausgehen kann, denn in Form des issue estoppel erfasst er auch Urteilsprämissen, wenn es sich um Streitpunkte handelt, über die in einem früheren Verfahren notwendigerweise entschieden worden ist.112 Nachweisen lässt sich eine genauere Unterschiedung zwischen cause of action estoppel und issue estoppel bereits zu Beginn des 108
India v. India Steamship Co. Ltd. (The Indian Endurance and The Indian Grace) (No.1) [1993] A.C. 410; vgl. Handley, Res Judicata, Rn. 7.12. 109 India v. India Steamship Co. Ltd. (The Indian Endurance and The Indian Grace) (No.1) [1993] A.C. 410, at 418–420, per Lord Goff of Chieveley. 110 [1928] 2 KB 336. 111 Conquer v. Boot [1928] 2 K.B. 336. 112 Blair v. Curran (1939) 62 CLR 464, at 531, per Dixon J.: „The decision may also create an issue estoppel on some question of fact or law that was necessarily decided as part of its legal foundation which prevents that question being re-litigated in proceedings on a different cause of action.”; New Brunswick Rly Co. Ltd. v. British and French Trust Corp Ltd. [1939] AC 1, H.L.; Carl-Zeiss-Stiftung v. Rayner and Keeler Ltd. [1967] 1 A.C. 853, H.L.; Andrews, English Civil Procedure, Rn.40.14.
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19. Jahrhunderts, obwohl die Klagen zu diesem Zeitpunkt noch genau durch das writ begrenzt wurden und daher keine technische Differenzierung zwischen dem Begriffspaar stattfand. In Outram v. Morewood113 hatte das beklagte Ehepaar Morewood aus einer Mine Kohle entnommen und verkauft. Herr Outram verklagte sie daraufhin auf Schadensersatz wegen ungerechtfertigtem Eingriff in sein Eigentum (trespass). Die Beklagten entgegneten, sie hätten das Land, auf dem die Mine stand, vom früheren Eigentümer erworben und seien somit berechtigt gewesen, Kohle abzubauen und zu verkaufen. Die Eigentumsübertragung war bereits in einem früheren Rechtsstreit zwischen den Streitparteien ein issue gewesen. Zwar war es damals nicht um Schadensersatz aus Eigentumsverletzung gegangen, so dass die cause of action der beiden Verfahren differierte. Den Streitpunkt der Eigentumsverhältnisse hatte aber bereits das Erstgericht gewürdigt und zugunsten von Herrn Outram entschieden, so dass sich die Morewoods im Zweitverfahren aufgrund eines issue estoppel nicht mehr darauf berufen konnten, Eigentümer der Mine gewesen zu sein.114 Falls ein issue die tatbestandliche Voraussetzung einer cause of action betrifft, muss sich das Gericht auf dem Weg zu seiner Entscheidung notwendigerweise auch ein Urteil über diesen einzelnen Streitpunkt bilden. Betrifft der Streitpunkt ein Problem, das Teil von mehreren causes of action ist, so können Fallkonstellationen entstehen, in denen dieselben Parteien zwar um unterschiedliche causes of action, aber um dasselbe issue streiten. Das cause of action estoppel greift hier nicht, da die causes of action auseinandergehen. Die Parteien sind aber durch das issue estoppel daran gehindert, einzelne Streitpunkte des Erstverfahrens wiederzueröffnen, die bereits dort entschieden wurden und damit rechtskräftig geworden sind.115 Im Ergebnis kann das Gericht im Zweitverfahren über die neu erhobene cause of action entscheiden, ist aber an gewisse issues aus dem Erstverfahren gebunden.116 113
(1803) 3 East 346. Outram v. Morewood (1803) 3 East 346, at 354–355, per Lord Ellenborough. 115 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, at 197–198, per Diplock L.J. „[…] there may be cases where the fulfilment of an identical condition is a requirement common to two or more different causes of action. If in litigation upon one such cause of action any of such separate issues as to whether a particular condition has been fulfilled is determined by a court of competent jurisdiction, […] neither party can, in subsequent litigation between one another upon any cause of action which depends upon the fulfilment of the identical condition, assert that the condition was fulfilled if the court has in the first litigation determined that it was not, or deny that it was fulfilled if the court in the first litigation determined that it was.” 116 Für Einschränkungen des res-judicata-Effekts, etwa bei Veränderung der Sachoder Rechtslage sowie bei besondern Umständen, zu denen die Rechtsprechung Fallgruppen gebildet hat, vgl. Andrews, English Civil Procedure, Rn. 40.17; Handley, Res Judicata, Rn. 8.08, 17.30. 114
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Für die Abgrenzung, ob in einem Folgeverfahren dieselbe cause of action in Streit steht, werden die Schriftsätze der Parteien und der eigentliche Urteilsschluss herangezogen.117 Für das issue estoppel ist aber anerkannt, dass auch alle übrigen Dokumente, die in den Verfahrensablauf einbezogen waren, den Nachweis desselben Streitpunkts erbringen können.118 Dies ist notwendig, weil der eigentliche Urteilsschluss nicht notwendigerweise kenntlich macht, welche Streitpunkte für den Ausgang des Falls wesentlich gewesen sind.119 Das Gericht des Zweitverfahrens wird daher für die Suche nach identischen Streitpunkten insbesondere die Urteilsgründe des Erstverfahrens berücksichtigen.120 (3) Nicht jede streitige Tatsache ergibt ein issue estoppel Aus der weiten Handhabung der Einrede des estoppel könnte man folgern, dass sämtliche Streitpunkte eines Gerichtsverfahrens von der Wirkung der res judicata erfasst werden. Tatsächlich muss ein issue dafür aber mehr als nur beiläufiger Teil des Erstverfahrens gewesen sein. Im Fall Hoystead121 wehrte sich eine Gruppe von Grundstückseigentümern gegen die ihrer Ansicht nach zu hoch angesetzte Grundsteuer. Bei seiner Steuerschätzung habe das Finanzamt missachtet, dass sie Gesamthandseigentümer seien. Die Grundsteuer falle dann nicht für jeden von ihnen separat, sondern insgesamt nur einmal an, und sei somit viel niedriger als veranschlagt. Im ersten Prozess entschied das Gericht, dass die Grundsteuer tatsächlich zu hoch veranschlagt worden sei. Es stimme, dass die Mieter Gesamthandseigentümer seien, die Steuer sei auf ein Sechstel zu reduzieren. Das Finanzamt wollte dem nicht folgen und setzte die Grundsteuer im darauffolgenden Jahr fast so hoch wie zuvor an, indem sie die Steuerschätzung nur um ein Sechstel reduzierte. Dagegen wehrten sich die Grundstückseigentümer erneut. In der ersten Instanz dieses zweiten Prozesses wies das Gericht die Klage zurück und beurteilte die Steuerschätzung als rechtmäßig, da aus dem ersten Prozess kein issue estoppel erwachsen sei. Die Berufungsinstanz wies das zurück. Der Ausgangsfall habe ergeben, dass die Personengruppe Gesamthandseigentümer gewesen sei. Dieser Streitpunkt sei für den Ausgang des Falles entscheidend gewesen, denn nur als Gesamthandseigentümer hätten sie entsprechend ihres Vorbringens 117
Handley, Res Judicata, Rn. 7.16. Handley, Res Judicata, Rn. 8.29 m. w. N. 119 Jackson v. Goldsmith (1950) 81 CLR 446, C.A., at 467, per Fullagar J. 120 Jackson v. Goldsmith (1950) 81 CLR 446, C.A., at 467–468, per Fullagar J.: „Where the plea is of issue estoppel, any material may be looked at which will show what issues were raised and decided. Reasons given for the judgment are likely to be especially important for this purpose.” 121 Hoystead and Others Appellants v. Commissioner of Taxation [1926] A.C. 155. 118
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besteuert werden können.122 Damit war der Streitpunkt des Gesamthandseigentums rechtskräftig festgestellt. Das Gericht gab der Berufung statt, so dass die Steuer erneut auf ein Sechstel reduziert werden musste. Dies zeigt, dass das issue dem Ausgangsurteil als rechtliche Basis oder Rechtfertigung für die Entscheidung gedient haben muss, um Teil der res judicata zu werden: „The estoppel covers only those matters which the prior judgment, decree or order necessarily establish as the legal foundation or justification of its conclusion. […] Nothing but what is legally indispensable to the conclusion is thus finally.”123
Allgemeine Aussagen, ob ein Streitpunkt vom res-judicata-Effekt erfasst ist, lassen sich kaum machen, denn die Rolle, die eine streitige Angelegenheit in einem Verfahren spielt, muss das Gericht für jeden Fall neu abgrenzen. Ist der Ausgang einer Streitfrage Voraussetzung für die cause of action des Falls, dann begründet dies ein issues estoppel.124 Wie genau englische Gerichte die Umstände des Einzelfalls abwägen, bevor sie ein issue estoppel zulassen, wird deutlich bei einer Gegenüberstellung der Fälle Thoday v. Thoday und Holland v. Holland, die beide eine Scheidungsklage zum Gegenstand hatten. Im Streit des Ehepaars Thoday125 begehrte Herr Thoday ein Scheidungsurteil, da ihn seine Frau verlassen hatte. Diese rechtfertigte sich damit, dass sie unter der häuslichen Gewalt ihres Ehemanns gelitten habe.126 Wegen eben jener Misshandlungen hatte Frau Thoday zuvor eine Scheidungsklage erhoben, die aber wegen ungenügender Beweislage abgewiesen worden war. Ihr Ehemann erhob im neuen Verfahren die Einrede des issue estoppel in Bezug auf den Vorwurf häuslicher Gewalt. Die Richter pflichteten ihm bei, dass dieser Vorwurf in beiden Verfahren tatsächlich entscheidungserheblich war, im Erstprozess als Scheidungsgrund, im Zweitprozess als Rechtfertigung für die bereits vollzogene Trennung. Sie verweigerten ihm die Einwendung dennoch, da das Urteil des Erstprozesses nicht abschließend festgestellt habe, dass die rechtlichen Voraussetzungen für den Scheidungsgrund der häuslichen Gewalt gefehlt hätten. Lord Diplock grenzte das issue estoppel scharf von reinen Tatsachenfeststellungen ab, die nur Beweiszwecken dienten.127 Das Gericht ha122
Hoystead and Others Appellants v. Commissioner of Taxation [1926] A.C. 155, at 171, per Lord Shaw. 123 Blair v. Curran (1939) 62 CLR 464, at 531, per Dixon J. 124 Barnett, Res Judicata, Rn. 1.40. 125 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, C.A.; als Beispiel für eine Abgrenzung zum cause of action estoppel vgl. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 237. 126 Dies erfüllte den Tatbestand der sogenannten matrimonial offence of cruelty. 127 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, C.A., at 198, per Diplock L.J.: „The determination by a court of competent jurisdiction of the existence or nonexistence of a fact, the
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
be damals nur festgestellt, dass sich die genauen Voraussetzungen des Scheidungsgrundes der häuslichen Gewalt, zu dem unter anderem auch körperliche Leiden des misshandelten Ehepartners gehörten, nicht hätten beweisen lassen. Dies sei eine reine Tatsachenfrage; für die Einordnung als issue fehle die rechtliche Verknüpfung mit der cause of action.128 Ein reines „fact estoppel“ ohne unmittelbare rechtliche Relevanz versagten die Richter dem Ehemann damit. Anders die Scheidungssache des Ehepaars Holland, die ebenfalls mit dem Vorwurf häuslicher Gewalt befasst war.129 In ihr ließen die Richter den Einwand des issue estoppel im Zweitverfahren zu, da der Vorwurf der Misshandlung im Erstverfahren bereits umfassend gewürdigt und rechtlich eingeordnet worden sei.130 (4) Deutsche Entscheidung gegen einen weiten Umfang der Rechtskraft Die englische res judicata hat damit einen größeren Umfang als die deutsche materielle Rechtskraft, die auf die im Urteilstenor ausgesprochene Rechtsfolge beschränkt ist.131 Das enge Verständnis in Bezug auf den Rechtskraftumfang ist aber in der Entwicklung des deutschen Zivilverfahrens nicht unumstößlich gewesen, sondern hat sich erst im Zuge seiner Vereinheitlichung als herrschende Ansicht durchgesetzt. Die Figur der res judicata verwendete auch die gemeinrechtliche Lehre: „Alle Wirkungen nun, welche das Endurtheil mit sich führt, sind in dem Ausdrucke ‚res judicata‘, Rechtskraft im materiellen Sinne, zusammengefaßt.“132 Für Savigny führte das Urteil des Erstverfahrens zu einer „Fiction der Wahrheit“133. Er bezweifelte, dass dafür die Beschränkung der Rechtskraftwirkung auf die bloße Rechtsfolge genügte: „Wenn in dem vollständigen Gedanken des Richters das logische Verhältnis von Grund und Folge enthalten ist (und Dieses wird sich meist darin finden), müssen wir dann auch einem solchen Grunde die Rechtskraft zuschreiben, oder vielmehr nur dem aus diesem Grunde abgeleiteten Ausspruch selbst?“134
existence of which is not of itself a condition the fulfilment of which is necessary to the cause of action which is being litigated before that court, but which is only relevant to proving the fulfilment of such a condition, does not estop at any rate per rem judicatam either party in subsequent litigation from asserting the existence or non-existence of the same fact contrary to the determination of the first court.” 128 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, C.A., at 199–200, per Lord Diplock L.J. 129 Holland v. Holland [1961] 1 W.L.R. 194, C.A. 130 Holland v. Holland [1961] 1 W.L.R. 194, C.A. 131 Vgl. o. S. 188. 132 Wetzell, System, S. 573. 133 Savigny, System, Bd. VI, S. 265, 271. 134 Savigny, System, Bd. VI, S. 352; Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 472.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
207
Um den Inhalt eines Urteils zu sichern, bejahte er diese Frage, so dass nach seiner Lehre auch „Präjudizialfragen oder Legitimationspunkte“135 in Rechtskraft erwuchsen. Damit dehnte er den Umfang der Rechtskraft auf die Urteilsgründe aus, allerdings ähnlich wie im englischen Recht mit der Einschränkung, dass nicht das gesamte Urteil, sondern nur entscheidungserhebliche Streitpunkte rechtskräftig wurden.136 Diese weite Ansicht von der Rechtskraft beschwor innerhalb der gemeinrechtlichen Literatur Widerstand herauf.137 Wetzell sah das Verhandlungsprinzip verletzt, da es zu rechtskräftigen Entscheidungen über Punkte kommen könnte, derer sich die streitenden Parteien überhaupt nicht bewusst waren.138 Er plädierte daher für die Beschränkung der Rechtskraftwirkung auf Klagerechte und lehnte eine Erweiterung auf „einzelne Tatsachen oder Rechtselemente“139 ab. Dieser Fokus auf den Verhandlungsgrundsatz über den Streitstoff und den Dispositionsgrundsatz über die Streitsache legte die Leitlinien, die in der Regelung der materiellen Rechtskraft für die CPO 1877 mündeten. Der Gesetzgeber beschränkte deren Umfang bewusst auf den „durch die Klage […] erhobenen Anspruch.“140 Mit der Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage wollte der historische Gesetzgeber wohlgemerkt den Dispositionsgrundsatz mit der Ansicht Savignys in Einklang bringen. Der Umfang der Rechtskraft könne so in dessen Sinne ausgeweitet werden, allerdings nicht per Gesetz, sondern aufgrund des Parteiwillens.141 Die Disposition über den Streitgegenstand sollte in den Händen der Parteien bleiben; sie sollten nicht durch eine Rechtskrafterstreckung auf Teile des Falles überrascht werden, über die gar nicht während des Verfahrens gestritten wurde, weil sie deren Relevanz für Folgeverfahren nicht abschätzen konnten.142 135 Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 473. Gaul erklärte diese Auffassung damit, dass Savigny schon wegen seiner Grundannahme, das positive Recht sei in Rechtsverhältnissen statt in subjektiven Rechten zu begreifen, „das ganze Rechtsverhältnis als Gegenstand der Rechtskraft betrachten musste“, so Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 473. 136 Savigny trennte hierfür zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Gründen, vgl. Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 473. 137 Vgl. Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 476 f. 138 Wetzell, System, S. 575 f. (Zitat S. 575): „Denn nach dem gemeinen Proceßrecht hat der Richter das Urtheil nicht aus objectiven Gründen zu schöpfen, sondern aus dem ihm von den Parteien gelieferten Material, und auf den Inhalt des Urtheils übt daher der Wille der Parteien durch Verzicht und Geständniß einen unbemeßbaren Einfluß.“ 139 Wetzell, System, S. 594. 140 § 293 Abs. 1 CPO (§ 322 Abs. 1 ZPO); Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 291; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 153, Rn. 10. 141 Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 291 f.; Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 479. 142 Vgl. Hahn, Materialien, Bd. II/1, S. 607 ff.
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
d) Ausweitung des res-judicata-Effekts zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch Über den Bereich des cause of action estoppel und issue estoppel hinaus zieht das englische Recht den Umfang der res-judicata-Wirkung noch weiter.143 Historischer Ausgangsfall, bis heute das Präjudiz für die Ausweitung, ist Henderson v. Henderson.144 Der Fall behandelte einen Rechtsstreit zwischen Bethel Henderson und den Angehörigen seines verstorbenen Bruders Jordan Henderson. Die beiden Brüder hatten gemeinsam ein Unternehmen mit Zweigstellen in Neufundland und Bristol in England geführt. Ihr verstorbener Vater hatte Bethel 15.000 Pfund gegeben zur treuhänderischen Verwaltung für seinen Bruder. Als Jordan verstarb, forderten seine Angehörigen vor einem Gericht in Neufundland von Bethel den Anteil am Unternehmen und den Nachlass des Vaters heraus. Der hielt dagegen, die treuhänderisch verwaltete Summe und den Vermögensanteil rechne er mit Schulden auf, die Jordan bei ihm gehabt habe. Jordan habe seine Einlagen in das Unternehmen nicht erbracht, die vom verstorbenen Vater an Bethel übertragene Summe gehöre zu den Vermögenswerten der Firma und der Nachlass von Jordan sei ihm geschuldet aufgrund privater Schulden. Bethels Eingaben konnten aber vom Gericht nicht berücksichtigt werden, da er zur Verhandlung in Neufundland weder erschien noch anwaltlich vertreten wurde. Das Gericht sprach daraufhin den Angehörigen von Jordan die 15.000 Pfund aus der Treuhand zu, nahm im Übrigen aber den Anteil am gemeinsamen Unternehmen aus, da Bethel keine Nachweise über die Verteilung der Unternehmensanteile vorgelegt hatte. Wegen des Unternehmensanteils verklagten die Angehörigen Bethel daher gesondert in Bristol. Dieser erhob Gegenklage vor dem Court of Chancery und klagte auf alle Punkte, die er in Neufundland aufgrund seiner Abwesenheit nicht angebracht hatte. Dabei behauptete er nicht, dass die erste Entscheidung für das Folgeverfahren in Gänze unbeachtlich sei. Vielmehr meinte Bethel, dass die für das Zweitverfahren in Bristol entscheidenden Fragen zwischen den Parteien nicht im ersten Urteil in Neufundland enthalten gewesen seien.145 Die Angehörigen von Jordan beriefen sich auf res judicata und erhielten Recht, da das Gericht der Ansicht war, Bethels Einwendungen hätten 143
Barnett, Res Judicata, Rn. 1.46 und Handley, Res Judicata, Rn. 26.01 ff.: „extended doctrine.“ 144 (1843) 3 Hare 100. Henderson v. Henderson ist ein nach wie vor intensiv diskutierter Fall. Die Zahl der Urteile, die ausdrücklich an die Entscheidung anknüpfen, ist längst dreistellig, s. Watt, The Danger and Deceit of the Rule in Henderson v. Henderson, Civil Justice Quarterly, Bd. 19 (2000), S. 288). 145 Watt, The Danger and Deceit of the Rule in Henderson v. Henderson, Civil Justice Quarterly, Bd. 19 (2000), S. 289.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
209
schon in Neufundland zur Entscheidung gestellt werden müssen. Richter Sir James Wigram urteilte, dass es den Parteien obliege, bereits im Ausgangsverfahren ihren ganzen Fall vorzubringen. Das Gericht werde es den Parteien, mit Ausnahme von besonderen Umständen, nicht erlauben, dieselbe Streitsache in Bezug auf Angelegeneheiten, die hätten erörtert werden können, aber nur wegen Fahrlässigkeit, einem Versehen, oder auch nur durch Zufall nicht erörtert wurden, erneut vor Gericht zu bringen.146 Dies führte er auf die Wirkung der res judicata zurück: „The plea of res judicata applies, except in special cases, not only to points upon which the court was actually required by the parties to form an opinion and pronounce a judgment but to every point which properly belonged to the subject of litigation and which the parties, exercising reasonable diligence, might have brought forward at the time.”147
Der Richter entschied damit, dass der res-judicata-Effekt selbst diejenigen Punkte treffen kann, die im Ausgangsverfahren überhaupt nicht in Streit standen, vernünftigerweise aber schon damals hätten angesprochen werden müssen.148 Die Unsicherheit, was wohl genau „angemessenerweise“ im Ausgangsverfahren hätte diskutiert werden müssen und was zur „gehörigen Sorgfalt“ gehört, konnte durch die Rechtsprechung im weiteren Verlauf nicht einmütig geklärt werden und führte zu unterschiedlichen Bewertungen.149 Zur weitesten Auslegung kam Lord Kilbrandon in Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd.150 Er stellte darauf ab, ob eine Angelegenheit bereits im Erstverfahren hätte geltend gemacht werden können. Nach dieser Auslegung zwingt allein die Möglichkeit der Geltendmachung die Parteien dazu, alle Eventualitäten in das Verfahren einzubringen, da sonst der Effekt der res judicata greift. Diese Bewertung der Regel aus Henderson v. Henderson traf schon bald auf Kritik.151 Sie verenge die Frage, wann die „gehörigen Sorgfalt“ die Offenlegung eines Streitpunktes erfordere, auf einen rein zeitlichen Faktor. Wenn eine Partei nicht den frühestmöglichen Zeitpunkt für ihr Vorbringen wähle, sei sie bereits präkludiert. Der Ansatz bringe keine gerechten Ergebnisse in denjenigen Fällen, in denen ein Kläger freiwillig verzichtet auf 146
Henderson v. Henderson (1843) 3 Hare 100, at 114. Henderson v. Henderson (1843) 3 Hare 100, at 115. 148 Cohn, Die materielle Rechtskraft im englischen Recht, S. 887; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 106 f. 149 Vgl. Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 238 f. mit einer Rechtsprechungsübersicht. 150 [1975] A.C. 581, at 590: „[…] there is a wider sense in which the doctrine [of res judicata] may be appealed to, so that it becomes an abuse of process to raise in subsequent proceedings matters which could and therefore should have been litigated in earlier proceedings.”. 151 Erstmals zurückgewiesen wurde sie in Brisbane CC v. A-G for Queensland [1979] A.C. 411, at 425, per Lord Wilberforce. 147
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
weiteres Vorbringen, weil er sein Klageziel schon auf ein Vorbringen des Beklagten stützen kann.152 Insbesondere seit den CPR 1998 wird argumentiert, dass die Forderung, alle Punkte sofort vorzubringen, dem Geist der Woolf-Reformen widerspreche, denn diese hielten die Parteien im Gegenteil dazu an, im Sinne prozessökonomischen Verhaltens selektiv nur die wirklich wichtigen Punkte vor Gericht zu bringen. Die einzige Möglichkeit, solche unbilligen Folgen zu vermeiden, ist die Klausel der „besonderen Fälle“ aus Henderson v. Henderson, die aber ihrerseits zu unpräzise ist.153 Nachfolgende Urteile gingen im Zuge der Kritik an dieser weiten Auslegung wieder einen Schritt zurück. Sie fügten hinzu, dass es nicht nur darauf ankomme, dass ein Punkt vorgebracht werden könne, sondern auch, ob er bei verständiger Wahrnehmung der Besonderheiten des Ausgangsfalles bereits in diesem erhoben werden solle.154 Die jüngere englische Rechtsprechung stellt in Fällen, in denen ein Streitpunkt nicht erhoben wurde, aber vernünftigerweise hätte erhoben werden müssen, vermehrt auf den Gedanke des abuse of process (Verfahrensmissbrauch) ab.155 Stellt das Gericht einen Verfahrensmissbrauch fest, so kann es das Verfahren aussetzen156 oder den Vortrag der Partei „herausstreichen“157. Es gibt keine einheitliche Definition, wann sich eine Partei tatsächlich verfahrensmissbräuchlich verhält.158 Stattdessen ist das Gericht im Rahmen seiner inherent jurisdiction159 ermächtigt, einzelfallabhängig 152
Watt, The Danger and Deceit of the Rule in Henderson v. Henderson, Civil Justice Quarterly, Bd. 19 (2000), S. 296. 153 Watt, The Danger and Deceit of the Rule in Henderson v. Henderson, Civil Justice Quarterly, Bd. 19 (2000), S. 297. 154 Barrow v. Bankside [1996] 1 All. E.R. 981, at 986, per Sir Bingham M.R., der das Urteil Lord Dennings in The Penelope II [1980] 2 Lloyd´s Rep. 17, at 19, zitiert: „[…] the defence is one which not only could but should have been raised in the previous proceedings. It does not apply […] when it would not have been sensible to raise it before.” 155 Ausgehend von Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd [1975] A.C. 581; Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 922 f., 925. 156 Stay of proceedings, vgl. o. S. 192 ff.; Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 931. 157 Sogenanntes strike out, vgl. o. S. 170 ff.; Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 917. 158 Für unterschiedliche Tests, die verfahrensmissbräuchliches Verhalten entlarven sollen, vgl. Handley, Res Judicata, Rn. 26.19. 159 Dies ist eine der Gerichtsbarkeit innewohnende Kompetenz, die weiter als bloße Rechtsauslegung bis hin zur Rechtsfortbildung geht. Inherent jurisdiction ermächtigt die Obergerichte, Gesetzesrecht zu ergänzen und damit das Verfahrensrecht weiterzubilden, s. Bremer v. South Indian Shipping Co. Ltd. [1981] AC 909, at 917, per Lord Diplock. Ein jüngeres Beispiel ist der Fall R v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte (No 2) [1999] 2 WLR 272, at 288–289, H.L. In diesem Fall war der Grundsatz der richterlichen Objektivität verletzt, denn der urteilende Richter war
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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über einen möglichen Verfahrensmissbrauch zu entscheiden. Dies soll verhindern, dass einer Partei allein daraus, dass sie vor Gericht rechtlich relevante Angelegenheiten zurückhält, Vorteile für ein Folgeverfahren erwachsen. Diese Auslegung entfernt sich von der bestehenden Einordnung der res judicata als Gegenstand eines estoppel. Wie sich die Aspekte des estoppel und des abuse of process zueinander verhalten, ist nicht geklärt,160 so dass in der englischen Literatur Zweifel aufgekommen sind, ob überhaupt noch eine zusammenhängende Lehre der res judicata existiert, ob diese weiterhin auf estoppel basiert161 oder ob sie auf die Figur des abuse of process zurückzuführen ist162. Das House of Lords entschied schließlich im Fall Johnson v. Gore Wood & Co.163, dass Fälle, in denen ein issue im Erstverfahren nicht eingebracht wurde, obwohl dies sinnvollerweise hätte geschehen müssen, unter dem Gesichtspunkt des Verfahrensmissbrauchs zu beurteilen seien. Dies unterscheide sie von der Situation eines cause of action estoppel oder issue estoppel.164 Es bleibt abzuwarten, ob mit dieser Entscheidung die bislang als ausgeweitete res judicata gewertete Regel, dass selbst Punkte in Rechtskraft erwachsen können, die im Ausgangsverfahren überhaupt nicht thematisiert wurden, zukünftig ganz von dem abuse-of-process-Gedanken ersetzt wird.165 Für englische Gerichte wäre eine eindeutige Festlegung ungewöhnlich. Sie betonen eher das gemeinsame Ziel von abuse of process und estoppel, den Grundsatz der Endgültigkeit von Gerichtsentscheidungen zu sichern.166 Ohnehin seien alle Umstände des Einzelfalles eingehend zu befangen. Das House of Lords nahm sich das Recht heraus, seine eigene fehlerhafte Entscheidung zu korrigieren, obwohl das (geschriebene) Verfahrensrecht eine solche Möglichkeit nicht vorsah. 160 Wilken/Villiers, Waiver, Variation and Estoppel, Rn. 14.01, bezeichnete das Verhältnis als „at best exiguous“; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 221 f. und 238. 161 Barnett, Res Judicata, Rn. 1.15. 162 Dahingehend Wilken/Villiers, Waiver, Variation and Estoppel, Rn. 14.01, Fn. 4, mit Übersicht der neueren Rechtsprechung. 163 [2002] 2 AC 1. 164 Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 A.C. 1, H.L., at 31, per Lord Bingham of Cornhill. 165 Überwiegend wird wohl weiterhin davon ausgegangen, dass es sich um eine ausgeweitete res-judicata-Lehre handelt, vgl. Handley, Res Judicata, S. 307 ff.; a.A. Watt, Henderson is dead! Long live Henderson!, Civil Justice Quarterly 2001, der die Verknüpfung von res judicata und abuse of process ganz auflösen möchte; vermittelnd Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 24.58, der zur besseren Unterscheidung von einem „abuse of process estoppel” spricht. 166 Johnson v. Gore Wood & Co [2002] 2 A.C. 1, H.L., at 30–31, per Lord Bingham of Cornhill: „It may very well be […] that what is now taken to be the rule in Henderson v Henderson has diverged from the ruling which Wigram V-C made, which was addressed
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
würdigen, so dass sich eine pauschale Definition verfahrensmissbräuchlichen Verhaltens verbiete.167 5. Gründe für die unterschiedlichen Lösungsansätze Eine vergleichende Betrachtung der Streitbestimmung und der Lehre zur Streitsache steht unter dem Vorbehalt, dass die Figur eines prozessualen Anspruchs als einheitlicher Streitgegenstand die Antwort der deutschen Rechtswissenschaft auf die spezifische Gesetzessystematik der ZPO ist. Als Lösung für das deutsche Zivilverfahren ist sie selbstverständlich nicht auf das englische Recht übertragbar, das seinerseits systematische Eigenheiten ausgebildet hat. Aus dem Gesetzeswortlaut wird weder in Deutschland noch in England die Bedeutung der Streitsache für das Verfahren ersichtlich, denn beide Rechtsordnungen verwenden keinen einheitlichen Begriff für die Abgrenzung des Inhalts eines Rechtsstreits. Während die ZPO in der Mehrzahl der hier erörterten Problemen immerhin die Bezeichnung „Anspruch“ nutzt,168 ist eine begriffliche Unterscheidung im englischen Recht schwierig, seit die CPR 1998 im Zuge der plain-languageBewegung statt von der Klage, der cause of action sowie dem Verfahren in seiner Gesamtheit nur noch von claim sprechen.169 Hinter dem deutschen Streitgegenstandsbegriff stehen Problemkonstellationen, die auch im englischen Recht eine Lösung fordern. Der Vergleich hat gezeigt, dass es diese Probleme teilweise anders einordnet. Die systematische Vielschichtigkeit, beispielsweise das ungeklärte Verhältnis der estoppel- und der abuse-of-process-Doktrin im Rahmen der res judicata, führt außerdem zu dem Schluss, dass eine kohärente Lösung für alle Problemkonstellationen im englischen Recht nicht angelegt ist und von engli-
to res judicata. But Henderson v. Henderson abuse of process, as now understood, although separate and distinct from cause of action estoppel and issue estoppel, has much in common with them. The underlying public interest is the same: that there should be finality in litigation and that a party should not be twice vexed in the same matter.” Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 923, sieht in der abuse-of-process-Doktrin eine „gemeinsame Grundvorstellung, auf der alle Formen der res judicata und des estoppel aufbauen“. 167 Johnson v. Gore Wood & Co [2002] 2 A.C. 1, H.L., at 31, per Lord Bingham of Cornhill: „It is, however, wrong to hold that because a matter could have been raised in earlier proceedings it should have been, so as to render the raising of it in later proceedings necessarily abusive. That is to adopt too dogmatic an approach to what should in my opinion be a broad, merits-based judgment […]. As one cannot comprehensively list all possible forms of abuse, so one cannot formulate any hard and fast rule to determine whether, on given facts, abuse is to be found or not.” Ebenso Specialist Group International v. Deakin [2001] EWCA Civ 777, C.A, per May L.J.; Wilken/Villiers, Waiver, Variation and Estoppel, Rn. 14.03. 168 In den §§ 260, 253 Abs. 2 Nr. 2, 322 Abs. 1 ZPO. 169 Vgl. o. S. 143 ff.
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schen Juristen auch nicht angestrebt wird. Sie fassen im Ergebnis unterschiedliche Prinzipien unter einem Dach zusammen. a) Disposition über Streitsache und Streitstoff Die Parteiherrschaft über die Streitsache und den Streitstoff ist ein Grundprinzip beider Verfahrensordnungen seit ihrer Vereinheitlichung. Die grundsätzliche Übereinstimmung wird dadurch abgeschwächt, dass bei der konkreten Anwendung deutsche und englische Vorstellungen von der Dispositionsfreiheit teilweise auseinandergehen. Bei der Änderung der Klage kollidiert die Dispositionsbefugnis des Klägers über den Streitgegenstand mit schützenswerten Interessen des Beklagten, der sich nur gegen die Klage verteidigen kann, wenn er Gewissheit hat, dass der Kläger dem Verfahren nicht durch veränderten Vortrag willkürlich eine neue Richtung gibt.170 Die deutsche Grundauffassung ist, dass der Streitgegenstand beibehalten wird mit der für den Kläger unangenehmen Folge, dass er die Kosten der Abweisung tragen muss, sollte die von ihm erhobene Klage unbegründet sein. Dies entspricht dem römischkanonischen Gedanken, dass Klageschrift und Einlassung des Beklagten eine Prozessobligation des Klägers begründen, genau diesen Klageinhalt zur Entscheidung zu stellen.171 Zu beachten ist aber auch, dass nicht ein undurchdringbares Verbot der Klageänderung den Kläger zwingen soll, abermals zu klagen und damit die Verfahren zu vermehren.172 Daher regelt § 263 ZPO, dass eine Klageänderung im Sinne einer Änderung des Streitgegenstandes bei Einwilligung des Beklagten oder Sachdienlichkeitserklärung des Gerichts zulässig ist. Das Gebot der Verlässlichkeit des Parteivorbringens kennt auch das englische Verfahrensrecht. Einzelne Tatsachenangaben in den Schriftsätzen können hier große Auswirkungen haben, da die Parteien aufgrund des Abweichungsverbots den genauen Streitstoff für das trial festlegen.173 Um den Streitstoff vorhersehbar zu machen, sind Änderungen an einem Schriftsatz nur bis zu dessen Zustellung an die Gegenseite möglich. Danach unterliegen sowohl Berichtigungen formaler Fehler als auch inhaltliche Änderungen der Zustimmung des Beklagten oder der richterlichen Ge-
170
Musielak, Grundkurs, Rn. 195. Vgl. o. S. 15 ff. Bieresborn, Klage und Klageerwiderung, S. 629, weist darauf hin, dass die deutsche Gerichtspraxis in der Zeit nach dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 Klageänderungen gestattete, weil sie in dieser Frage den sächsischen Verfahrensregeln folgte. 172 Musielak, Grundkurs, Rn. 195. 173 Blay v. Pollard [1930} 1 K.B. 629 C.A., at 634, per Scrutton L.J.; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.36. 171
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
nehmigung.174 Die Regeln zur Änderung von Schriftsätzen sind aufgrund der Bemühungen entstanden, den wahren Streit herauszuarbeiten und die Streitpunkte des Falles offenzulegen.175 Um die Lähmungserscheinungen, die der überbordende Formalismus des alten common-law-Verfahrens hervorgerufen hatte, nicht zu wiederholen, gestatteten die Richter nach den Justizreformen 1873–1875 Schriftsatzänderungen großzügig: „I know of no kind of error or mistake which, if not fraudulent or intended to overreach, the Court ought not to correct, if it can be done without injustice to the other party. Courts do not exist for the sake of discipline, but for the sake of deciding matters in controversy, and I do not regard such amendment as a matter of favour or of grace.”176
Die Regeln zum amendment tragen der Erkenntnis Rechnung, dass einer Partei häufig erst dann bewusst wird, dass sie eine wesentliche Tatsache ihres Falls übersehen hat, wenn sie die Antwort der Gegenseite auf ihren Tatsachenvortrag kennt.177 Grundlage für die Streitpunkte ist ausschließlich das von den Parteien Vorgetragene. Um Ungerechtigkeiten aufgrund der strengen Handhabung dieses Grundsatzes zu vermeiden, werden die Regeln zur Schriftsatzänderung großzügig gehandhabt. Es geht um einen Ausgleich des Interesses des Klägers, seinen Fall genau so vorzustellen, wie er ihn wahrgenommen hat, und dem Interesse des Beklagten, keine Nachteile durch späte Veränderungen der Klage zu erleiden, einschließlich einer Verzögerung des Verfahrensabschlusses.178 Diese interessengeleitete Handhabung macht im Einzelfall auch eine Klageänderung außerhalb des formellen Ablaufs möglich, wenn der Richter der Meinung ist, dass der anderen Seite klar ist, welchen tatsächlichen Hintergrund eine Klage hat.179 Die neuen Regeln sind von dem gesetzgeberischen Leitmotiv durchdrungen, kein Diktat aufzusetzen, sondern einzelfallbezogen die Verfahrensökonomie und Verfahrensgerechtigkeit zu unterstützen.180 174
CPR 17.1. – Das deutsche Recht differenziert stärker: Wird eine Klage nur nachgebessert, so gilt dies gem. § 264 ZPO nicht als zustimmungsbedürftige Klageänderung. Außerdem ist zu unterscheiden zwischen Tatsachen, die zwischenzeitlich neu entstanden sind, und solchen, die der Kläger bereits früher hätte vortragen können, dies aber unterlassen hat. In letzterer Konstellation könnten Präklusionsvorschriften greifen, vgl. §§ 282, 296 ZPO. 175 Cobbold v. Greenwich London Borough Council (August 1999, unreported), per Gibson L.J., zitiert nach Handley, Res Judicata, Rn. 18.08 und Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.41: „Amendments ought to be allowed so that the real dispute between the parties can be adjucated upon provided that any prejudice to the other party or parties caused by the amendment can be compensated for in costs, and the public interest in the efficient administration of justice is not significantly harmed.” 176 Cropper v. Smith (1884) 26 Ch. D. 700, C.A., at 710, per Bowen L.J. 177 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.36. 178 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.43. 179 Vgl. Barclays Bank v. Boulter [1999] 1 W.L.R. 1919. 180 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.46.
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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Dabei unterscheidet das englische Recht nicht zwischen einer „zulässigen Klageänderung“181 vergleichbar mit der Regelung von § 264 ZPO, die sich auf den Inhalt des Rechtsstreits nicht auswirkt, und einer Änderung der Streitsache. Das Gericht vergleicht im Rahmen des case management den Inhalt der Schriftsätze vornehmlich mit dem Ziel, die issues des Falles zu identifizieren.182 Die cause of action, verstanden als Festlegung der Streitsache, ist in England nicht das entscheidende Abgrenzungskriterium. Sie wird dagegen für die Frage herangezogen, ob der Kläger in einem Verfahren mehrere Klagen gebündelt hat. Ziel des vereinheitlichten englischen Zivilverfahrens ist es, einen Rechtsstreit einheitlich zu betrachten und nicht aufgrund von Formalia künstlich aufzuspalten. Mit Erhebung der Klage zwingt sich der Kläger nicht in ein bestimmtes Format, sondern soll die Möglichkeit erhalten, den Streit umfassend, das heißt bezüglich aller in Betracht kommenden Problemfelder, klären zu lassen.183 Diese Problemfelder werden durch die cause of action abgesteckt, die damit eine ähnliche Rolle einnimmt wie der Streitgegenstand des deutschen Verfahrens. Die erneute Erhebung einer Klage, die bereits an einem anderen Gericht anhängig ist, untersagen beide Verfahrensordnungen. Keine Voraussetzung dafür ist in England, dass es sich um die identische cause of action handelt; schon bei einzelnen Streitfragen kann das Zweitverfahren ausgesetzt werden, bis das Gericht im Erstverfahren zu einer Entscheidung gekommen ist. Die Sanktion ist milder als in Deutschland, wo eine Klage bei entgegenstehender Rechtshängigkeit mit negativer Kostenfolge als unzulässig abgewiesen wird. Aus dem Umfang des endgültig festgestellten Urteilsinhalts wird deutlich, dass das Maß der Parteiherrschaft über die Streitsache zwischen Deutschland und England weit auseinandergeht. In Deutschland beschränkt sich die Rechtskraft auf die im Urteilstenor festgestellte Rechtsfolge, die mit dem prozessualen Anspruch korrespondiert. Damit setzten sich in Deutschland diejenigen Stimmen durch, die den Umfang des Urteils nicht vom „Willen des Richters“, sondern von der „Absicht der Parteien“ abhängig machen wollten.184 Die Betonung des Dispositionsgrundsatzes führt dazu, dass nicht das Rechtsverhältnis im Sinne Savignys, sondern gemäß § 322 Abs. 1 ZPO ausschließlich der vom Kläger konkret benannte Streitgegenstand in Rechtskraft erwächst. Erweiterungen des Entscheidungsinhalts sind nur auf Initiative einer Partei durch die Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO möglich. 181
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 99, Rn. 12 über die Fälle, die unter § 264 ZPO fallen. 182 Andrews, English Civil Procedure, Rn. 10.79. 183 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 82 f. 184 Gaul, Die Entwicklung der Rechtskraftlehre seit Savigny, S. 478.
216
4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
Ungleich weiter entfernt von der Parteiherrschaft über die Streitsache sind die englischen Verfahrensregeln.185 Sie erstrecken den Urteilsinhalt auch auf dasjenige Material, das dem Richter zur Entscheidung übergeben wurde mit der Vorgabe, anhand von ihm die einschlägige Rechtsfolge festzustellen. Die „traditionellen“186 Bestandteile der res-judicata-Lehre, cause of action estoppel und issue estoppel, tragen bereits im Namen, dass nicht nur die cause of action, sondern auch bestimmte Streitpunkte des Ausgangsverfahrens für weitere Klagen bindend sind. Es handelt sich um diejenigen issues, die das Gericht vor seinem Urteilsschluss notwendigerweise klären musste. Die Klage hat sich folglich nicht nur um das eigentliche Rechtsschutzbegehren des Klägers, getragen von einer rechtlich relevanten Lebenssituation, gedreht. Die endgültig festgestellten issues ziehen die Streitsache weiter. Sie umfasst nach englischer Vorstellung nicht nur die cause of action, sondern auch diejenigen issues des Falls, die notwendige Vorfragen für dessen Entscheidung geworden sind. Die Einflussmöglichkeiten auf den Umfang der Streitsache sind in England folglich schwächer als in Deutschland.187 Das traditionelle englische Selbstverständnis, das sein Zivilverfahren als adversary system mit maximaler Parteiherrschaft begreift, mag historisch bezüglich des früheren Verfahrensablaufs und der Prozesshandlungen seine Berechtigung haben, der Verfahrensrealität bei der Festlegung des Streit- und Entscheidungsinhalts entspricht es aber nicht. b) Prozessökonomie Besonders in England ist die „Straffung und Vereinfachung des Zivilverfahrens“188, von den CPR 1998 als Teil des overriding objectice zum Prozessgrundsatz erhoben, ausschlaggebend für Reformen der Regeln zur Abgrenzung von Klagen gewesen. Dies zeigt sich bei der Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren. Die geltende Verfahrensordnung ist darauf ausgerichtet, möglichst viele Kontroversen zwischen den Parteien auf einmal abzuhandeln.189 Das Gericht wird in diese einheitliche Verfahrensabwicklung immer stärker eingebunden. Es ist nicht mehr bloßer Regelhüter, sondern erhält die Freiheit, unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden, ob eine durch den Kläger angestrebte Klagehäufung im 185
Stürner, Parteidisposition, S. 1067 f. Barnett, Res Judicata, Rn. 1.13 ff. 187 Laut Stürner, Parteidisposition, S. 1067, ist sie von allen europäischen Verfahrensordnungen „am weitestens entfernt von der Parteidisposition über den Verfahrensgegenstand“. 188 Sobich, Civil Procedure Rules, JZ 1999, S. 780. 189 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 12.1 f. Dies zeigen zahlreiche Gesetzesnormen, beispielsweise Supreme Court Act 1981, s.49(2); CPR 1.4 (2) (i), 3.1 (2) (g) und (h), 7.3, 17. 186
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
217
Einzelfall zweckdienlich (conveniently)190 oder als prozesshemmend abzulehnen ist. Damit korrespondiert die Befugnis des Gerichts, Verfahren zu verbinden,191 oder von sich aus mehrere Klagen in einem Verfahren zu bündeln192. Genaue Kriterien, wann die Klagehäufung als zweckdienlich anzusehen ist, existieren nicht.193 Das Gericht wird Klagen jedenfalls dann bündeln, wenn sie inhaltlich zusammengehören oder wenn bei getrennten Verfahren die Gefahr von miteinander unvereinbaren Entscheidungen droht.194 Aus ähnlichen Gründen sind die Anforderungen an eine Änderung der Klage verschärft worden. Für die Rechtsprechung zum JA 1875 war das Hauptkriterium für die Änderung der Klage gewesen, dass die abändernde Partei die durch die Vortragsänderung verursachten Kosten trug.195 Bereits sie ging aber davon aus, dass der Verfahrensfortschritt Indizwirkung für die Ablehnung des Änderungsantrags hatte, da bei Fortschreiten des Verfahrens eine Benachteiligung der Gegenseite wahrscheinlicher werde.196 Zudem prüfte das Gericht, ob die neuen Tatsachen schon früher eingebracht hätten werden können.197 Die CPR 1998 achten gemäß dem overriding objective einer gerechten Behandlung jedes einzelnen Falles auch darauf, dass eine Klageänderung den Beklagten nicht überrascht und dass die Klageänderung nicht das Gebot prozessökonomischen Verhaltens unterläuft.198 Vor allem die Dauer des Verfahrens ist angesichts knapper Gerichtsressourcen stärker in den Fokus gerückt.199 Prozessökonomische Gesichtspunkte nehmen auch in Deutschland das Gericht in die Pflicht und machen eine Klageänderung von ihrer Sachdien190
CPR 7.3. CPR 3.1 (2) (g). 192 CPR 3.1 (2) (h). 193 Arnheim/Stirling, Civil Courts Practice and Procedure, S. 21; auch die Kommentarliteratur hilft nicht weiter, vgl. beispielsweise Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 304. 194 Law Debenture Trust Corpn (Channel Islands) Ltd. v. Lexington Insurance Co. (November 12, 2001), unreported, zitiert nach Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 12.21; einen Anhaltspunkt mag RSC, Ord. 15 r. 5 (1) geben, nach der eine Klagehäufung nicht zulässig war, wenn die Gefahr der Verwirrung oder Verzögerung des Verfahrens bestand. 195 Clarapede & Co. v. Commercial Union Association (1883) 32 WR 262, C.A., at 263, per Brett M.R.: „However negligent or careless may have been the first omission, and however late the proposed amendment, the amendment should be allowed if it can be made without injustice to the other side. There is no injustice if the other side can be compensated in costs.” 196 James v. Smith [1891] 1 Ch. 384, at 389, per Kekewich J.; Bücker, Mündliche und schriftliche Elemente, S. 47. 197 Hipgrave v. Case (1885) L.R. 28 Ch.D. 356, at 360, per Selborne L.C. 198 Blair/Zellick/Wilson, Introduction, Rn. 1–20; Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.41. 199 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 6.42 und 6.44. 191
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
lichkeit abhängig. Das Gericht entscheidet nach seinem Ermessen darüber, ob die Klageänderung geeignet ist, „den sachlichen Streitstoff des Rechtsstreits auszuräumen und dadurch einem ansonsten zu erwartenden weiteren Prozess vorbeugt.“200 Die Regeln zur Klagehäufung und Klageänderung fügen sich damit unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie in das Bild verstärkter Sachleitungsbefugnisse sowie Hinweis- und Aufklärungspflichten des Richters ein, die den deutschen und englischen Verfahrenscharakter einander angenähert haben.201 c) Relevanz des Parteiverhaltens Hält sich eine Partei mit ihrem Vortrag ungebührlich lange zurück, so kann sie das Gericht in Deutschland über Präklusionsvorschriften daran hindern, neue Tatsachen in das Verfahren einzubringen.202 In der deutschen Diskussion über die mit dem Streitgegenstand verbundenen prozessualen Fragen spielt es aber eine untergeordnete Rolle, ob sich eine Partei bei ihrer Prozessführung im laufenden Verfahren etwas zu Schulden kommen lassen hat. In England fällt dem Parteiverhalten zur Lösung der untersuchten Problemkonstellationen größere Bedeutung zu. Will eine Partei dieselbe cause of action gleichzeitig mehrmals vor Gericht bringen, so fällt dies nach englischem Verständnis in den Bereich des abuse of process mit der Folge, dass das Gericht das Vorbringen in Gänze herausstreichen oder das Zweitverfahren aussetzen kann, bis im Erstverfahren eine Entscheidung ergangen ist.203 Auswirken kann sich das Parteiverhalten sogar im Rahmen der resjudicata-Lehre. Englische Richter sprechen selbst solchen Angelegenheiten den res-judicata-Effekt zu, die im Ausgangsverfahren nachweislich nicht verhandelt wurden, aber vernünftigerweise von den Parteien hätten angesprochen werden sollen. Überlegt man, diese Fragen ebenfalls zum Umfang der Streitsache des englischen Zivilverfahrens zu zählen, so ist Vorsicht geboten. Im Gegensatz zur traditionellen Doktrin, in der cause of action estoppel, issue estoppel und auch der merger-Effekt gerade verhindern wollen, dass eine bereits endgültig entschiedene Sache erneut vor Gericht kommt, geht es hier um Punkte, die im Ausgangsverfahren keinerlei Erwähnung gefunden haben. Die englische Rechtsprechung erkennt dies und differenziert deshalb teilweise zwischen den Punkten, die tatsächlich entschieden wurden und 200
Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn. 474. So auch Dreymüller, Die Reform des englischen Zivilprozessrechts, ZVglRWiss, Bd. 101 (2002), S. 481; ebenfalls Malterer, Lord Woolf's access to justice, S. 130 f. 202 Vgl. o. S. 105 ff. 203 Vgl. o. S. 192 ff. 201
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
219
denen, die von dem in der Entscheidung Henderson v. Henderson aufgestellten „weiten“ res-judicata-Effekt erfasst werden.204 Die Richter geben zu, dass es bei der ausgeweiteten res-judicata-Lehre gerade nicht um Punkte gehe, die bereits entschieden seien. Dass sie dennoch nicht mehr in einem Verfahren geltend gemacht werden können, liege nicht daran, dass sie bereits Gegenstand eines Rechtsstreits gewesen seien, sondern an dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung einer Vervielfältigung von Verfahren.205 Ein Beispiel mag dies illustrieren: Im Fall Talbot v. Berkshire County Council206 ging es um Schadensersatz nach einem Autounfall. Herr Talbot, der Fahrer des Wagens und selbst schwer verletzt, hatte den Unfall verursacht, bei dem sich die Beifahrerin Frau Bishop Verletzungen zuzog. In einem ersten Verfahren hatte Frau Bishop Herrn Talbot erfolgreich auf Schadensersatz für die angefallenen Heilbehandlungskosten verklagt. Talbot hatte damals die örtlichen Behörden von Berkshire in den Fall hineingezogen207 und in Mithaftung genommen, da diese ihre Straßenverkehrssicherungspflichten verletzt hatten. Nun versuchte er zusätzlich in einem neuen Verfahren, von der Stadt Berkshire Schadensersatz für seine eigenen Verletzungen zu erlangen. Die cause of action, nämlich die Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht der Stadt gegenüber Talbot, hatte im Ausgangsfall keinerlei Rolle gespielt. Dort war es nur um die Verletzung der Straßenerkehrssicherungspflicht gegenüber Bishop gegangen. Das Gericht verwies Talbot dennoch darauf, dass er diese Schadensersatzforderung schon hätte erheben müssen, als er die Stadt Berkshire im Ausgangsfall in Mithaftung genommen hatte. Aus Gründen verfahrensmissbräuchlichen Verhaltens war ihm die zusätzliche Klage auf Schadensersatz wegen seinen eigenen Verletzungen versagt.208 Die Bezeichnung als „ausgeweitete“ res-judicata-Lehre erscheint damit zumindest irreführend, denn es gab keine Entscheidung über die von der Ausweitung erfassten Punkte.209 Damit ist klar, dass sie nicht mit einer 204
Talbot v. Berkshire County Council [1994] Q.B. 290, C.A., at 296, per StuartSmith L.J., der „res judicata in the strict sense“ vom Fall Henderson v. Henderson trennt, da dieser zumindest nicht „res judicata in its true sense” verkörpere. 205 Specialist Group International v. Deakin [2001] EWCA Civ 777, C.A, per May L.J.; Talbot v. Berkshire County Council [1994] Q.B. 290, C.A., at 296, per Stuart-Smith L.J. 206 [1994] Q.B. 290. 207 Mit dem prozessualen Mittel der third party notice, s. Talbot v. Berkshire County Council [1994] Q.B. 290, C.A., at 294, per Stuart-Smith L.J. 208 Talbot v. Berkshire County Council [1994] Q.B. 290, C.A., at 298, per StuartSmith L.J. 209 Res judicata erhält in der englischen Rechtsprechung immer mehr die Funktion eines ordnenden Überbegriffs, dogmatisch wird ihr ausgeweiteter Anwendungsbereich aber vom abuse-of-process-Gedanken getragen, vgl. Chamberlain v. Deputy Comr of Taxation
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
„Weiterung“210 der Streitsache gleichgesetzt werden können. Die ausgeweitete res-judiacta-Lehre betrifft vielmehr Punkte, die gerade nicht Teil des Erstverfahrens waren und sich auf das ursprüngliche Verfahren zu keinem Zeitpunkt, weder in der Phase des Schriftsatzwechsels noch beim Urteilsschluss, ausgewirkt haben.211 In diesem Bereich der res-judicata-Lehre geht es also nicht darum, die Streitsache eines Verfahrens davor zu bewahren, dass sie abermals vor Gericht gebracht wird. Nach englischer Auffassung muss vielmehr berücksichtigt werden, dass eine Klage in diesem Fall verfahrensmissbräuchlich wäre.212 Das Gericht hat bei seiner Bewertung des Parteiverhaltens als abuse of process einen weiten Ermessensspielraum, da diese Figur gerade Konstellationen erfassen soll, die durch die geschriebene Verfahrensordnung nicht geregelt werden.213 Die Konsequenz dieses Ansatzes ist, dass der Richterspruch nicht allein maßgeblich ist, ob eine frühere Entscheidung Folgeprozessen entgegensteht, sondern auch das prozesstatsächliche Verhalten der Streitparteien.214 Sowohl die Lehre des estoppel als auch des abuse of process sagen letztlich, dass sich Parteien im Rechtsverkehr nicht zu ihrem Vorverhalten in Widerspruch setzen dürfen. Dies weitet den res-judicata-Gedanken über die eigentliche Streitsache hinaus aus. Die ausgeweitete res-judicata-Lehre erweitert nicht den Umfang der Streitsache, denn sie stellt auf das Parteiverhalten und nicht auf den Entscheidungsinhalt ab.
(1988) 164 CLR 502, at 505; Talbot v. Berkshire CC [1994] Q.B. 290, C.A., at 296, 301; Barrow v. Bankside Agency Ltd [1996] 1 WLR 257, C.A.; Barnett, Res Judicata, Rn. 1.16 und 1.46. Eine Abkehr vom Begriff der „extended doctrine“ fordert daher Watt, Henderson is dead! Long live Henderson!, Civil Justice Quarterly 2001, S. 90 ff. 210 So aber Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 238 ff. 211 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 24.81. 212 Dahingehend auch Stürner, Rechtskraft in Europa, S. 922 f., 925. 213 Zuckermann, Civil Procedure, Rn. 10.208: „Abuse of process fills the gap where the rules run out.“ Das Ermessen des Gericht ist aber dahingehend gebunden, dass abuse of process nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden soll, s. Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 931; Johnson v. Gore Wood & Co [2002] 2 AC 1, at 31; Specialist Group International v. Deakin [2001] EWCA Civ 777, C.A, per May L.J.: „The court will only stop a claim as an abuse after the most careful consideration.”; Wilken/Villiers, Waiver, Variation and Estoppel, Rn. 14.03. 214 Barnett, Res Judicata, Rn. 1.46: „However, the extended doctrine of res judicata is concerned with subject-matter that has not been rendered res judicata as such, but which could and should have been rendered res judicata had it been litigated in the earlier proceedings with all due diligence by the parties.“
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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d) Verfahrenskonzentration In den Klauseln der „Sachdienlichkeit“215 beziehungsweise „convenience“216 zeigt sich sowohl in Deutschland als auch in England das Bemühen, mit den Regeln zur Klageänderung und Klagehäufung zu verhindern, dass ein inhaltlich zusammenhängender Rechtsstreit in verschiedene Verfahren zerfällt. Die Streitigkeiten zwischen zwei Parteien sollen möglichst in einem einzigen Verfahren abgehandelt werden.217 Das common law verfolgt das Ziel der Verfahrenskonzentration jedoch mit einer Konsequenz, die das in Deutschland angelegte Maß übersteigt.218 Deutlich wird dies bei der Lehre des res judicata, die auch entscheidungserhebliche issues in den endgültig festgestellten Entscheidungsinhalt einbezieht und dadurch den Umfang der Streitsache erheblich ausweitet. Die Erstreckung des res-judicata-Effekts auf solche Tatsachen, die in keiner Weise im Erstverfahren eingebracht wurden, dort aber vernünftigerweise hätten geltend gemacht werden sollen, verstärkt die Verfahrenskonzentration zusätzlich. Ein Blick auf den bis zur Vereinheitlichung des englischen Zivilverfahrens üblichen trial by jury zeigt, dass die zusammenhängende Verhandlung eines Rechtsstreits notwendig war, um den Gerichtsbetrieb nicht kollabieren zu lassen. Der Aufwand, die ursprünglich zwölf Geschworenen der jury an einen bestimmten Ort zusammenzurufen, war hoch. Die Gerichte waren aus diesem Grunde bestrebt, eine bindende Entscheidung über alle zwischen den Parteien stehenden Streitpunkte zu erreichen.219 Das vereinheitlichte Zivilverfahren, in dem die jury fast bedeutungslos geworden ist, hat das Maß an Verfahrenskonzentration zur Verhinderung von Verfahrensvervielfältigungen beibehalten.220 Wollte man in Deutschland den Rechtsfriedenszweck des Verfahrens stärker betonen, so müsste man den Umfang der Rechtskraft an das englische Ausmaß annähern.221 Die deutschen Verfahrensregeln entscheiden sich aber anders und stufen „formale Rechtsklarheit durch strikte Parteiherrschaft“222 als wichtiger ein, so dass sie den Streitgegenstand und den rechtskräftigen Entscheidungsinhalt nach dem Antrag des Klägers ausrichten. Diese Gegenüberstellung zeigt die unterschiedlichen Zielsetzungen der Regeln zur Sicherung des Urteilsinhalts in Deutschland und England: Die 215
§ 263 ZPO. CPR 7.3. 217 Jacob, The Fabric of English Civil Justice, S. 82. 218 Ebenso für das US-amerikanische Recht Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 104 f. 219 Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 220 Vgl. o. S. 149 ff. und S. 157 ff. 221 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 153, Rn. 10. 222 Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 216
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4. Kapitel: Streitsache als Abgrenzungswerkzeug
materielle Rechtskraft gemäß § 322 Abs. 1 ZPO soll bestimmte Rechtsfolgen für die Zukunft außer Streit stellen. Daneben geht es weder um die Feststellung von streitigen Tatsachen noch um den Schutz des Beklagten vor mehreren Gerichtsverfahren.223 Die Lehre der res judicata berücksichtigt das Interesse der Parteien an der Klärung einer bestimmten Rechtsbeziehung ebenso. Darüber hinaus schützt sie aber auch sowohl das Interesse des Beklagten vor wiederholter gerichtlicher Inanspruchnahme als auch das öffentliche Interesse, mehrfache Verfahren über dieselbe Sache mit der Gefahr divergierender Entscheidungen zu verhindern.224 Diese weitere Zielsetzung der res-judicata-Lehre trägt dazu bei, dass der endgültig festgestellte Urteilsinhalt viel umfangreicher ist als im deutschen Recht und sich dadurch der Rechtsstreit auf das Ausgangsverfahren konzentriert. 6. Ergebnis Das englische Recht hat für die Problemkonstellationen, die im deutschen Zivilverfahren mit dem Streitgegenstandsbegriff abgegrenzt und gelöst werden, eigene Ansätze entwickelt, die nur teilweise in eine mit der deutschen Lehre vergleichbare Richtung gehen. Beide Verfahrensordnungen ziehen häufig dieselben Prozessgrundsätze heran, legen diese aber unterschiedlich aus und setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Historische Eigenheiten des englischen Rechts kommen hinzu. Insgesamt zeigt sich, dass englische Richter dogmatisch verbindlichen Strukturen reserviert gegenüber stehen und stattdessen einzelfallbasierte Lösungen bevorzugen, die auf das individuelle Parteiverhalten und vor allem auf den Sachverhalt abstellen. Übereinstimmungen zwischen deutschen und englischen Lösungsansätzen ergeben sich im Hinblick auf die cause of action. Ähnlich wie der in Deutschland aus Antrag und Lebenssachverhalt zusammengesetzte Streitgegenstand grenzt er bei den besprochenen Problemkonstellationen Klagen voneinander ab. Das englische Recht verfolgt aber keine Streitsachenlehre, die einheitlich auf die cause of action bezogen ist, sondern vergleicht bei der Abgrenzung von Klagen auch einzelne issues miteinander, wie die Regeln zum amendment, zur mehrmaligen Verhandlung derselben Sache zur gleichen Zeit und zur res judicata zeigen. Dass dieselbe cause of action vorliegt, ist folglich nach englischem Rechtsdenken für die Abgrenzung der Klage ein besonders aussagekräftiges, aber kein zwingendes Kriterium. Streitsache des heutigen englischen Zivilverfahrens ist damit das Begehren nach Rechtsschutz, das sich auf eine cause of action gründet und die entscheidungserheblichen issues mitumfasst. 223
Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 612 f. Vgl. o. S. 197 ff.; Andrews, English Civil Procedure, S. 942, Rn. 40.02 f.; Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 615. 224
II. Vergleich mit den englischen Lösungsansätzen
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Die deutsche Rechtswissenschaft fasst den Umfang des Streitgegenstands eng, indem sie auch den rechtskräftigen Entscheidungsinhalt auf die durch den Klageantrag präzisierte Rechtsfolge beschränkt, und fördert dadurch die Parteidisposition. Englische Juristen dagegen gehen davon aus, dass neben der cause of action und der daraus resultierenden Rechtsfolge auch die entscheidungserheblichen issues Teil des endgültig ergangenen Urteils werden und damit zum Umfang der Streitsache gehören. Davon zu trennen sind solche potentielle Streitfragen, die nie verhandelt wurden, aber vernünftigerweise hätten angesprochen werden müssen. Sie können zwar vom res-judicata-Effekt erfasst werden, sind aber von der Streitsache zu unterscheiden, da sie nie Teil des Rechtsstreits gewesen sind. Grund für die erhebliche Ausweitung des res-judicata-Effekts ist die Bedeutung, die das englische Recht dem Parteiverhalten beimisst. Der Fokus auf das Parteiverhalten zeigt die Einzelfallbezogenheit des englischen Rechts, die von den richterlichen Lenkungsbefugnissen im Rahmen des case management in den CPR 1998 noch verstärkt wird. Das Resultat des weiten Verständnisses vom Umfang der Streitsache in England ist eine hohe Verfahrenskonzentration und das Bestreben, den Rechtsstreit umfassend beizulegen. Im Ergebnis löst das englische Zivilverfahrensrecht die untersuchten Problemfelder kasuistisch und nicht anhand einer Lehre mit universalem Geltungsanspruch. Die cause of action ist dabei ein aussagekräftiges, aber kein notwendiges Abgrenzungskriterium. Der klägerische Antrag spielt insgesamt eine geringere Rolle als der streitige Sachverhalt, der das Rechtsfolgebegehren tragen soll. Auch einzelne issues sowie das Parteiverhalten können die Klagenabgrenzung entscheiden. Die Verantwortung des Richters hierbei hat durch die Vereinheitlichung des Zivilverfahrens und durch die CPR 1998 deutlich zugenommen. Die Orientierung am Sachverhalt für die Abgrenzung des Inhalts von Gerichtsverfahren erwuchs historisch aus der Notwendigkeit von Verfahrenskonzentration wegen der Aufwendigkeit des trial by jury. Das vereinheitlichte englische Zivilverfahren behielt sie bei, da es aus dem von Formalia geknebelten früheren common law die Lehren gezogen hatte, dass das Gericht dem Inhalt eines Rechtsstreits am besten gerecht wird, wenn es auf die von den Parteien eingebrachten Tatsachen abstellt.
Kapitel 5
Verhältnis zur europarechtlichen Abgrenzung der Streitsache Richtlinien, die den Inhalt eines Rechtsstreits festlegen, hat auch der EuGH bei der Auslegung von „demselben Anspruch“ gemäß Art. 27 EuGVVO (ehemals Art. 21 EuGVÜ)1 aufgestellt. Um den Rechtsschutz innerhalb der EU zu verbessern und die Anerkennung von Urteilen in unterschiedlichen Vertragsstaaten zu erleichtern,2 regelt diese Norm das Problem entgegenstehender Rechtshängigkeit von Klagen in verschiedenen Mitgliedstaaten.3 Sie löst den Streit über die Abgrenzung des Inhalts einer Klage aus dem rein nationalen Kontext heraus und verlagert ihn in das Europarecht. Eine ausgiebige Problematisierung, die über die Frage entgegenstehender Rechtshängigkeit hinausgeht und den Vergleich mit den nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten sucht, hat der EuGH ausdrücklich nicht angestellt, sondern seine autonome Auslegung betont.4 Auch hier kann diese Arbeit keine erschöpfende Erörterung leisten. Dennoch ist angesichts der Möglichkeit einer Vertiefung der europäischen Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zivilverfahrens5 die Frage berechtigt, ob im An-
1 Die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000 (EuGVVO, ABl. Nr. L 12 vom 16.1.2001, S. 1) hat am 1.3.2000 das Europäische Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968 (EuGVÜ, BGBl. 1972 II S. 774) weitgehend ersetzt. Art. 27 EuGVVO und Art. 21 EuGVÜ sind im Wortlaut identisch. 2 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 18. 3 Sie ist damit vergleichbar mit § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO im nationalen deutschen Kontext, s. Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 430. 4 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 11. 5 Art. 81 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 f) AEUV ermöglicht Initiativen zur weiteren Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Zwischen 1987 und 1993 entstand das Modellgesetz der Kommission für ein europäisches Zivilprozessrecht, der sogenannte Storme-Entwurf, vgl. Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 98 ff.; Stürner, Der deutsche Prozeßrechtslehrer, S. 836 f. – Eine verstärkte Angleichung der Zivilverfahren für den internationalen Geschäftsverkehr außerhalb des Recht der EU schlägt das American Law Institute in Zusammenarbeit mit UNIDROIT mit den Principles and Rules of Trans-
I. Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt
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satz des EuGH Anklänge an die Systematik nationaler Rechtsordnungen erkennbar sind. So können gemeinsame Grundlagen für eine mögliche Vereinheitlichung ausgelotet werden. Gemeint ist damit nicht die Ersetzung des nationalen Zivilverfahrens im Sinne einer vollständigen Aufgabe der nationalen prozessualen Identität; ein solcher Schritt ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur sehr schwer vorstellbar. Erprobt ist aber beispielsweise ein zweispuriges Modell;6 würde man es auf die Europäische Union anwenden, dann könnte bei Streitfällen mit internationalen Akteuren gleichsam „als zweite Säule“7 eine gesamteuropäische Verfahrensordnung mit besonders organisierter Gerichtsbarkeit in Konkurrenz zum nationalen Verfahrensrecht treten. Selbst wenn Gerichte oder der europäische Gesetzgeber bei zukünftigen Regelungen, die die Streitsache berühren, sich nicht bewusst nach einem bestimmten nationalen Ansatz richten, wird es umfangreichere oder geringere Gemeinsamkeiten mit nationalen Regelungen geben. In dieser Entwicklung wird auch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 27 EuGVVO zu berücksichtigen sein. In Bezug auf das englische und das deutsche Rechtssystem, die im Rechtsalltag miteinander konkurrieren,8 ist es daher hilfreich, das Verhältnis zu dieser Rechtsprechung auszuloten und damit die Richtung der Entwicklung abzuschätzen.
I. Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt I. Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt
Im Jahr 1987 stellte der EuGH im Fall Gubisch9 bei der durch Art. 27 EuGVVO (damals Art. 21 EuGVÜ) geregelten Problemkonstellation für die Abgrenzung zweier Rechtsstreitigkeiten darauf ab, ob sie auf demselben „Kernpunkt“10 beruhen. Die Firma Gubisch hatte in Flensburg den Italiener Palumbo auf Bezahlung einer Maschine verklagt. Palumbo erhob daraufhin in Rom eine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Kaufvertrags. In dieser Konstellation, in der sich an eine Leistungsklage national Civil Procedure vor, vgl. Schuster, Writ – claim form – Klage, S. 105 ff.; Stürner, Der deutsche Prozeßrechtslehrer, S. 837. 6 Eine solche zweispurige Gerichtsbarkeit findet sich in den Vereinigten Staaten sowie in der Schweiz, vgl. Stürner, Einheit oder Vielfalt, S. 3 f. m. w. N. 7 Stürner, Einheit oder Vielfalt, S. 3. 8 Vgl. etwa die jeweiligen Werbemaßnahmen der Law Society of England and Wales für England und deutscher Juristenvertretungen für Deutschland als Justizstandort, abrufbar unter: (abgerufen am 09.12.2011); (abgerufen am 09.12.2011). 9 EuGH NJW 1989, S. 665 (Gubisch). 10 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 16.
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
eine negative Feststellungsklage anschloss, hätten nach deutscher Dogmatik unterschiedliche Streitgegenstände bestanden, da sich die Anträge auf Leistung und auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses unterscheiden. Dies lässt sich auch aus § 256 Abs. 2 ZPO schließen, denn die Zwischenfeststellungsklage wäre überflüssig, wenn die Rechtshängigkeit der Klage auf Zahlung des Kaufpreises gleichzeitig auch die Vorfrage nach der Wirksamkeit des Kaufvertrags beträfe.11 Die negative Feststellungsklage in Italien wäre nach deutscher Lesart nicht an der Rechtshängigkeit der früher erhobenen deutschen Leistungsklage gescheitert.12 Der EuGH betonte aber, dass er sich nicht nach nationalen Regeln zur Streitsachenbestimmung richte, sondern den „Anspruch“ im Sinne von Art. 27 EuGVVO vertragsautonom auslege.13 Dabei traf der EuGH die Unterscheidung zwischen „Grundlage“ und „Gegenstand“ der Klage.14 Während er auf die „Grundlage“, die dasselbe Vertragsverhältnis sei, nicht weiter einging, stellte er zur Bestimmung des „Gegenstandes“ auf den Zweck der Klagen ab. Kernpunkt beider Klagen sei die Wirksamkeit des Kaufvertrags, so dass von demselben Gegenstand auszugehen sei,15 wobei es bei diesem Begriff nicht auf die formale Identität beider Klagen ankomme16. Hintergrund dieser Rechtsprechung war die Sorge um die Anerkennung von Urteilen innerhalb der EU. Der EuGH befürchtete, es könne, wenn er die Erhebung einer zweiten Klage wie im Fall Gubisch nicht beanstandete, zu der Situation kommen, dass das Gericht des einen Mitgliedstaates der Zahlungsklage stattgibt, während das Gericht des anderen Mitgliedstaates einen unwirksamen Kaufvertrag feststellt.17
11
Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 86. Fraglich wäre dann nach deutscher Diktion, ob der Feststellungsklage nicht das Feststellungsinteresse fehlte. Vgl. aber dazu unten (§ 5 II.) die Anmerkungen des BGH in NJW 1997, S. 870, 872 zur Bedeutung des Prioritätsprinzips bei Art. 27 EuGVVO, nach denen im Falle einer zuerst erhobenen negativen Feststellungsklage und nachfolgend erhobenen Leistungsklage das Feststellungsinteresse gerade nicht entfalle. 13 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 11. Dass der EuGH mit „Anspruch“ nicht den materiellen Anspruch meinte, sondern die Streitsache, wird deutlich in EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 9, in dem der EuGH von demselben „Gegenstand“ spricht. 14 Diese Unterscheidung geht auf die französische Fassung der Norm zurück, s. Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 433. Die deutsche Literatur geht überwiegend davon aus, dass dieser Unterschied zur deutschen Übersetzung „desselben Anspruchs“ nicht für die eigenständige Auslegung des EuGH ausschlaggebend war, vgl. Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 433, Fn. 30 m. w. N. 15 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 16. 16 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 17. 17 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 18. 12
I. Reduzierung eines Streits auf seinen Kernpunkt
227
Im 1994 entschiedenen Fall Tatry18 präzisierte der EuGH seine Kriterien zur Bestimmung der Streitsache im Rahmen von Art. 21 EuGVÜ. Hier war es zu der Konstellation gekommen, dass vorab eine negative Feststellungsklage und anschließend eine Leistungsklage erhoben wurde. Der Frachter „Tatry“ hatte Sojaöl für drei verschiedene Eigentümer von Rotterdam nach Hamburg verschifft. Bei der Löschung der Ladung in Hamburg stellte man Verunreinigungen fest. Die Eigentümer des Frachters begehrten in Rotterdam gegen zwei Ladungseigentümer die Feststellung, dass sie nicht oder nur beschränkt für die Verunreinigung hafteten. Nachdem einer der beklagten Ladungseigentümer einen Arrest in das Schiff erwirkt hatte, verklagte er die Eigentümer des Frachters in London auf Schadensersatz wegen der Verunreinigung. Der EuGH erhob die Frage des Bestehens der Verunreinigung zum Kernpunkt des Falles, so dass die Rechtshängigkeit der früher erhobenen negativen Feststellungsklage eine spätere Leistungsklage unzulässig machte.19 Aus prozesstaktischer Sicht erhält der Schuldner durch diese Rechtsprechung mit dem Prioritätsprinzip des Art. 27 EuGVVO ein wirksames Mittel in die Hand, um durch rasche Erhebung einer negativen Feststellungsklage den Gerichtsstand zu wählen.20 Dogmatisch wichtig ist die Entscheidung Tatry, weil der EuGH präzisierte, was er unter dem Kernpunkt des Rechtsstreits als Abgrenzungskriterium für die Streitsache einer Klage versteht, wobei er die Begriffe „Grundlage“ und „Gegenstand“ der Klage beibehielt. Noch deutlicher als im Fall Gubisch setzte der EuGH den „Gegenstand“ der Klage mit deren Zweck gleich.21 Als „Grundlage“ einer Klage nannte er jetzt „den Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird“.22 In der weiteren Entscheidung Drouot Assurances23 entschied der EuGH im Jahr 1998, dass sogar derselbe Anspruch zwischen denselben Parteien nach Art. 27 EUGVVO vorliegen könne, wenn es formal gar nicht dieselben Parteien seien. Es komme nicht auf die formale Personenidentität an, sondern darauf, dass dieselbe Interessenlage vorliegt und die Parteien durch diese miteinander verbunden sind.24 18
EuGH EuZW 1995, S. 309 (Tatry). EuGH EuZW 1995, S. 309 (Tatry). 20 Mit der für den Gläubiger unangenehmen Folge, dass sein Spielraum auf eine Leistungswiderklage am vom Schuldner bestimmten Gerichtsstand beschränkt ist, s. Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 88. 21 EuGH EuZW 1995, S. 309, 311 (Tatry), Entscheidungsgrund 41. 22 EuGH EuZW 1995, S. 309, 311 (Tatry), Entscheidungsgrund 39. 23 EuGH ZZPInt. 3 (1998), S. 246 (Drouot Assurances). 24 EuGH ZZPInt. 3 (1998), S. 246, 248 f. (Drouot Assurances), Entscheidungsgrund 19. Der Fall umfasste zum einen die Klage des Versicherers eines gesunkenen Schiffes gegen den Eigentümer der Ladung und dessen Versicherer und zum anderen eine Klage des Eigentümers der Ladung und dessen Versicherer gegen den Schiffseigentümer. Der 19
228
5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
Die autonome Auslegung der Streitsache durch den EuGH ist in Deutschland als sehr weit und konträr zu gemeineuropäischen Verfahrensrechtsentwicklungen eingestuft worden.25 Auffällig ist die Nichtbeachtung des Antrags26 sowie das pragmatische Verständnis eines Sachverhalts, dessen Abgrenzung sich vor allem nach den materiellen Rechtsfolgen eines Streits richtet.27 Der EuGH zieht nicht das abstrakte Rechtsbegehren, sondern die konkrete „Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird“28, zu seiner Bestimmung der Streitsache hinzu. Leiten lässt er sich durch den Zweck29 der Klage und die dahinterstehenden Interessen30 der Parteien.
II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH
Diese Konstruktion der europarechtlichen Streitsache entfaltet im Anwendungsbereich des EuGVVO auch Wirkung in den Mitgliedstaaten. Der BGH hat in einer Entscheidung über das Verhältnis zwischen negativer Feststellungsklage und nachrangig erhobener Leistungsklage festgestellt, dass in europäischen Fällen auch die deutschen Gerichte die Kernpunkttheorie anwenden müssen.31 In diesem Fall gelte die deutsche innerprozessuale Regel des Vorrangs der Leistungsklage32 nicht, denn Art. 21 EuGVÜ (heute Art. 27 EuGVVO) folge dem Prioritätsprinzip, so dass auch bei einer zuvor erhobenen negativen Feststellungsklage das FeststellungsEuGH entschied, im Verhältnis des Versicherers des Schiffes und des versicherten Schiffseigentümers könne dieselbe Interessenlage vorliegen, weil der Versicherer kraft übergegangenen Rechts klagte und der Versicherungsnehmer darauf keinen Einfluss nehmen konnte, im Ergebnis aber davon betroffen war, s. Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 88 f. 25 Stein/Jonas/Roth, Kommentar, vor § 253, Rn. 44; Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 433 ff.; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 91. 26 Vgl. EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgründe 15 ff. 27 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 91. 28 EuGH EuZW 1995, S. 309, 311 (Tatry), Entscheidungsgrund 39. Falls auf Grundlage verschiedener Rechtsordnungen entschieden werden soll, kann nicht auf dieselbe Rechtsnorm im formalen Sinn abgestellt werden, sondern auf funktionelle und teleologische Vergleichbarkeit, vgl. Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel IVO, Rn. 8. 29 EuGH NJW 1989, S. 665, 666 (Gubisch), Entscheidungsgrund 16; EuGH EuZW 1995, S. 309, 311 (Tatry), Entscheidungsgrund 41. 30 ZZPInt. 3 (1998), S. 246, 248 f. (Drouot Assurances), Entscheidungsgrund 19 f. 31 BGH NJW 1997, S. 870, 872. 32 Das Feststellungsinteresse für eine negative Feststellungsklage entfällt nach deutschem Recht regelmäßig dann, wenn eine Leistungsklage denselben Anspruch durchsetzen will und der Anspruchsteller diese nicht mehr einseitig zurücknehmen kann, s. BGH NJW 1994, S. 3107.
II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH
229
interesse nicht entfalle.33 Der Kläger der negativen Feststellungsklage könne nicht davon ausgehen, dass im Rahmen der nachfolgenden Leistungsklage inzident über sein Feststellungsbegehren entschieden werde, da sich das später angerufene Gericht gemäß Art. 21 EuGVÜ zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären habe.34 Die deutsche Streitgegenstandsdebatte in der Wissenschaft hat die Tragweite der Entwicklung in der europäischen Rechtsprechung erkannt35 und in ein Verhältnis zu den Lehren gestellt, die für das nationale Recht aufgestellt wurden.36 Kritisiert wird der Zusammenhang, den der EuGH zwischen Streitsache und Rechtsvorschriften herstellt.37 Dieser Ansatz messe den materiellrechtlichen Grundlagen des Klagebegehrens eine zu große Rolle bei.38 Er nehme die Gegenposition zu den deutschen Lehren ein, deren Verdienst es gerade gewesen sei, den prozessual verstandenen Anspruch vom materiellen Recht zu lösen. Danach komme es gerade nicht auf die rechtliche Begründung des Begehrens an.39 Nur eine Mindermeinung will den deutschen Streitgegenstandsbegriff mit der europäischen Rechtsprechung dadurch vereinbar machen, dass sie auch die materiellen Rechtsvorschriften für die Streitgegenstandsbestimmung berücksichtigt.40 Auf Unverständnis stößt die Missachtung des Klageantrags durch den EuGH, der im Anwendungsbereich von Art. 27 EuGVVO rein auf den Zweck der Klage abstellt. Dieser spiegelt das Interesse wider, das der Kläger verfolgt, woraus zum Teil geschlossen wird, der Zweck sei weiter gefasst als der formale Klageantrag.41 Andere folgern deutlicher, die europäische Streitsache werde „in keiner Weise“ durch den Antrag bestimmt.42 Einig ist man sich, dass der Antrag für nach der weit überwiegenden Mei33 BGH NJW 1997, S. 870, 871 f. Durch das Prioritätsprinzip soll der Schuldner eine Chance erhalten, ebenso wie der Gläubiger das streitentscheidende Gericht zu bestimmen, s. BGH NJW 1997, S. 870, 872. 34 BGH NJW 1997, S. 870, 872. 35 Zuletzt Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 126: „Paukenschlag“. 36 Diese Arbeit gibt die Debatte verkürzt wieder. Für eine ausführlichere Darstellung des Meinungsstands vgl. Nieroba, Die europäische Rechtshängigkeit, S. 140 ff., 168 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 158 ff. 37 EuGH EuZW 1995, S. 309, 311 (Tatry), Entscheidungsgrund 39 38 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 8. 39 Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 432; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92, Rn. 23. 40 Wernecke, Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand, S. 106 ff. 41 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 8a. 42 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 91 (Zitat); Stürner, Parteidisposition, S. 1068 f.; a. A. Wernecke, Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand, S. 24 f., nach der der Antrag immerhin dazu dient, den Blick auf die entscheidungserheblichen Rechtsnomern und Tatsachen zu lenken.
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
nung in Deutschland ein unverzichtbares Abgrenzungskriterium ist mit der Folge, dass verschiedene Anträge zu verschiedenen Streitgegenständen führen.43 Die Kernpunkttheorie unterschiedet sich davon grundlegend, weshalb ihr vorgeworfen wird, sie schränke den Justizgewährleistungsanspruch des Klägers ein44 und schwäche die Parteiherrschaft über die Streitsache45. Die Konsequenzen aus der unterschiedlichen Bewertung des Antrags für die Rechtspraxis bei innerdeutschen Rechtsstreitigkeiten sind noch unklar. Während der wohl überwiegende Teil der Literatur eine Anpassung der deutschen Streitgegenstandslehre an den Ansatz des EuGH ablehnt,46 kommt eine andere Meinung zu dem Ergebnis, die Kernpunkttheorie müsse zumindest für das Problem entgegenstehender Rechtshängigkeit ganz in die nationale Rechtspraxis übernommen werden47. Jüngst hat Althammer versucht, konstruktive Schlüsse aus der europäischen Rechtsprechung für den deutschen Streitgegenstandsbegriff zu ziehen.48 Innerhalb der EuGVVO weist er zudem auf mögliche Widersprüche der Auslegung des EuGH zu Art. 34 Nr. 3 EuGVVO hin.49 Die Kernpunkttheorie des EuGH kollidiert auch mit der bisherigen englischen Lösung bei der Abgrenzung ausländischer Parallelverfahren. Als lis alibi pendens bezeichnet, ordnen englische Gerichte das Problem ausländischer Rechtshängigkeit als „Unterfall“ der forum-non-conveniensLehre ein.50 Darunter fallen vor allem die Situationen, dass dieselbe Klage parallel in mehreren Staaten erhoben wird, dass der Beklagte des Erstverfahrens im Ausland zum Kläger eines Zweitverfahrens in England wird oder dass der Beklagte des Erstverfahrens im Ausland eine Widerklage erhebt, die mit dem englischen Zweitverfahren identisch ist.51 Wann parallele Verfahren inhaltlich kollidieren, wird ebenso wie bei innerenglischen 43 Vgl. o. S. 119 f.; Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH ZZP, Bd. 111 (1998), S. 432; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 86; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 8a. 44 Geimer/Schütze/Geimer, Europäisches Zivilverfahrensrecht, A.1 Art. 27, Rn. 31. 45 Stürner, Parteidisposition, S. 1068, der neben Streitsache und Rechtshängigkeit auch die Problematik der Rechtskraft betroffen sieht. 46 Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 424; Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 454. 47 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 94. Vgl. zum Stand der Debatte Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 178 ff. 48 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 617 ff. Auch er kommt zu dem Schluss, dass die Rechtsprechung des EuGH nicht ungeprüft ins deutsche Recht übertragbar ist (S. 193 f.), nimmt diese Rechtsprechung aber zum Anlass für eine Orientierung am Rechtsschutzinteresse der Parteien (S. 441 ff. und 505 ff.). 49 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 626 ff. 50 Huber, Die englische Forum-non-conveniens-Doktrin, S. 217 (Zitat). 51 Andrews, Principles of Civil Procedure, Rn. 5–030.
II. Resonanz auf die Rechtsprechung des EuGH
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Fällen52 nicht einheitlich abgegrenzt, sondern hängt davon ab, ob dieselbe Tatsachengrundlage in Streit steht und ob dieselben oder zumindest ähnliche Streitpunkte betroffen sind.53 Wiederum sieht die englische Rechtsordnung keine Notwendigkeit, parallele Verfahren grundsätzlich zu verbieten; stattdessen muss der Kläger des problematischen Zweitverfahrens zum einen glaubhaft darlegen, dass die zusätzliche Inanspruchnahme von Gerichtsressourcen und die anfallenden Kosten des Zweitverfahrens dem Beklagten keine unangemessene Bürde auferlegt. Zum anderen muss der Kläger selbst einen so erheblichen persönlichen oder rechtlichen Vorteil aus dem Zweitverfahren ziehen, dass es nicht hinnehmbar erscheint, ihm diese Chance zu nehmen.54 Das Gericht hat in Anknüpfung an das weite Ermessen der forum-nonconveniens-Lehre mehrere Möglichkeiten, auf eine lis alibi pendens zu reagieren. Unter anderem kann es den Kläger auffordern, seine Klage an einem der Gerichtsstände zurückzuziehen, oder es kann mittels stay of proceedings das in England erhobene Verfahren unterbrechen.55 Letztlich hängt der Fortgang eines Verfahrens davon ab, ob das Gericht es als „geeignet“ (appropriate) ansieht, den Rechtsstreit prozessökonomisch und den Interessen der Streitparteien gemäß beizulegen.56 Auch die Parteien können diese Entscheidung beeinflussen, denn falls sie im Vorfeld vertraglich vereinbart haben, dass mehrere Klagen an unterschiedlichen Gerichten möglich sein sollen, ist es wahrscheinlich, dass das Gericht diese Vereinbarung akzeptiert und parallele Verfahren zulässt.57 Für kollidierende Verfahren an Gerichten unterschiedlicher Mitgliedstaaten der EU musste sich aber auch die englische Rechtsprechung den Vorgaben von Art. 27 EuGVVO beugen.58 In der Frage, wann die Streitsache zweier Verfahren identisch ist, gehen die Richter in konsequenter Übernahme der pragmatischen europäischen Rechtsprechung davon aus, dass es für die Übereinstimmung der Streitsache im Rahmen von Art. 27 EuGVVO weder auf identische Anträge noch auf identische Parteien ankommt, sondern auf eine identische Interessenlage.59 Die englische Lösung würde im nächsten Schritt die Entscheidung über die Rechtsfolgen der 52
Vgl. o. S. 192 ff. Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–035. 54 The Abidin Daver [1984] A.C. 398, at 411–412, per Lord Diplock; Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–036. 55 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 933. 56 Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–007 und 12–036. 57 Royal Bank of Canada v. Cooperatieve Centrale Raiffeisen-Boerenleenbank BA [2004] EWCA Civ. 7; Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–037. 58 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 933. 59 Turner v. Grovit [2000] Q.B. 345, C.A.; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 89; Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–053 ff. 53
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
Streitgegenstandsidentität in das weite Ermessen des Richters stellen; das strenge Prioritätsprinzip von Art. 27 EuGVVO widerspricht diesem Spielraum.60 Auf diese Unterschiede hat die englische Literatur weniger mit einer wertenden Diskussion über das Verhältnis von lis-alibi-pendens-Lehre und europäischer Rechtsvereinheitlichung reagiert, sondern grenzt eher nüchtern ab, in welchen Fallkonstellationen der englische Lösungsansatz überhaupt noch angewendet werden kann.61 Für den Grundfall, dass sowohl die Parteien als auch die Gerichte Vertragsstaaten des EuGVVO angehören, ist unstrittig, dass der englische Lösungsansatz auch für englische Gerichte keine Rolle mehr spielt. Lediglich in Fällen, in denen sich das alternative Gericht außerhalb des Geltungsbereichs des EuGVVO in einem Drittstaat befindet, ist für die lis-alibi-pendens-Lehre weiterhin Platz.62
III. Vergleich der deutschen und englischen Lehren mit der Kernpunktlösung III. Vergleich von nationalen Lehren und Kernpunktlösung
1. Systematische Bedeutung der Streitsache Die europarechtliche Festlegung der Streitsache beeinflusst folglich die Rechtsprechung deutscher und englischer Gerichte. Deutsche Autoren machen in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass auch der BGH in gewissen Fällen Klagen rein über einen weit verstandenen Lebenssachverhalt abgrenzt. Bei Abänderungsklagen in Unterhaltssachen bestätigte er die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf, nach der trotz unterschiedlicher Anträge in Erst- und Zweitverfahren derselbe Streitgegenstand vorliegen könne.63 Dabei ging es um zwei Klagen auf Änderung der Höhe des bereits richterlich festgestellten Unterhalts, von denen die eine Klage den Unterhalt niedriger und die andere den Unterhalt höher ansetzte. Der BGH stellte fest, dass sich die Streitgegenstände glichen; selbst, wenn die Abänderungsklagen unterschiedliche Ziele verfolgten, müssten sie durch Klage und Widerklage in einem Verfahren einheitlich entschieden werden.64
60
Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–002. Andrews, Principles of Civil Procedure, Rn. 5–031 ff.; Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 933. 62 Die unterschiedlichen Fallkonstellationen beleuchtet Huber, Die englische Forumnon-conveniens-Doktrin, S. 218 ff. 63 BGH FamRZ 1997, S. 488 (Nr. 338); OLG Düsseldorf FamRZ 1994, S. 1535; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 92. 64 BGH FamRZ 1997, S. 488 (Nr. 338); Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 92; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92, Rn. 18; 61
III. Vergleich von nationalen Lehren und Kernpunktlösung
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Trotz dieses deutschen Rückgriffs auf den Lebenssachverhalt als einziges Abgrenzungsmerkmal in einem Sonderfall bleibt es aber grundsätzlich bei der unterschiedlichen Konnotation von „Anspruch“ im deutschen und im europäischen Verfahrensrecht. In Zusammenhang mit dem deutschen Zivilverfahren ist das durch den Antrag formulierte Rechtsschutzbegehren gemeint, wohingegen der EuGH bei Art. 27 EuGVO auf das materielle Rechtsverhältnis abstellt.65 Als „pragmatisch verstandene Einheit des Streites der Parteien über die Rechtsfolgen eines Lebenssachverhalts“66 wird auf europäischer Ebene ein Tatsachenkomplex in seiner ganzen Breite zur Streitsache, auf deren Umfang der Kläger mit seinem Antrag keinen unmittelbaren Einfluss nehmen kann. Die englische Lehre berücksichtigt bei Klagenkonkurrenzen die Parteien, die issues sowie die cause of action; der im einleitenden Klageformular enthaltene Antrag ist nicht entscheidend.67 Für die Abgrenzung paralleler Klagen orientieren sich englische Juristen besonders über das Merkmal der issues letztlich am streitigen Sachverhalt.68 Damit eint die englische Methode zur Festlegung der Streitsache und die Kernpunkttheorie des EuGH, dass der Klageantrag kein formales Abgrenzungskriterium ist, sondern die Rückkopplung an den Sachverhalt im Vordergrund steht.69 Im Detail stellt die englische Literatur zum internationalen Zivilverfahrensrecht jedoch Unterschiede fest. Klagen, die in England nebeneinanderlaufen können, weil ihnen verschiedene causes of action zugrundeliegen, können in von Art. 27 EuGVVO erfassten Konstellationen konkurrieren.70 Die Unterschiede sind darauf zurückzuführen, dass der EuGH den Sachverhalt so umfassend betrachtet. Die englische Technik der Sachverhaltsdarstellung läuft dagegen auf die größtmögliche Präzisierung der streitigen Punkte hinaus.71 Auch die Tatsachenangaben für die Kategorisierung der causes of action sollen in England auf deren Tatbestandsmerkmale zugeschnitten werden; sie sind im Ergebnis wesentlich engmaschiger als der verallgemeinernde Blick des EuGH auf die materiellrechtlichen Folgen eines Lebenssachverhalts. Wann eine entgegenstehende Rechtshängigkeit nach Art. 27 EuGVVO anzunehmen ist, richtet sich auch danach, wie streng die Kriterien des 65
Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP Bd. 111 (1998), S. 401. 66 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 91. 67 Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 436, Fn. 48. 68 Vgl. o. S. 192 ff. 69 Dahingehend auch Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 421 f.; Stürner, Der deutsche Prozeßrechtslehrer, S. 835 f. 70 Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–055. 71 Vgl. o. S. 139 f.
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
EuGH auszulegen sind. Englische Richter beurteilen dies nach dem Zweck der EuGH-Rechtsprechung, widersprüchliche Urteile in den Mitgliedstaaten zu vermeiden.72 Bemerkenswert ist, dass sie sich für die Weiterführung eines Verfahrens in England gerade dadurch ein Schlupfloch offenzuhalten scheinen, dass sie den EuGH beim Wort nehmen. Da nach dessen Auslegung für die Abgrenzung der Streitsache der Sachverhalt entscheidend ist sowie die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird, nutzen englische Richter vor allem die besondere Technik des Tatsachenvortrags sowie die besondere materiellrechtliche Systematik des common law als Argument, entgegenstehende Rechtshängigkeit gemäß Art. 27 EuGVVO zu verneinen und das Verfahren in England fortzuführen. Beispielsweise entschied die Chancery Division des High Court im Fall Mecklermedia Corp v. DC Congress GmbH73, dass das englische passing off (ein Rechtsschutzmittel zum Schutz nicht registrierter Markenrechte) vom deutschen Markenrecht grundverschieden sei und dass die in England vorgetragenen Tatsachen keine Gemeinsamkeiten mit dem Sachverhalt des deutschen Verfahrens hätten. Die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen im Sinne der europäischen Rechtsprechung bestehe daher nicht.74 Die Bemühungen um eine genaue Definition der Streitsache sind im Ergebnis unterschiedlich stark ausgeprägt. Dies liegt auch an ihrer unterschiedlichen Bedeutung in den untersuchten Verfahrenssystemen. Während der Streitgegenstand in Deutschland eine zentrale Stellung einnimmt und neben dem bloßen Klageinhalt weitere prozessuale Probleme entscheidet, sucht die englische Verfahrensordnung nicht nach einem Zentralbegriff, sondern löst Probleme im Zusammenhang mit Klagenkonkurrenzen sowohl durch Abgrenzung der causes of action und der issues als auch mit allgemeinen Rechtsgedanken wie dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens (estoppel) und dem Verbot von Verfahrensmissbrauch (abuse of process). Im gegenwärtigen europäischen Verfahrensrecht ist ein übergreifender Begriff der Streitsache nicht angelegt, da Art. 27 EuGVVO nur Aussagen über das Problem entgegenstehender Rechtshängigkeit macht. Die Unterschiede ergeben sich aus den Zielen, die den Begriff der Streitsache begleiten: In Deutschland strebt die Rechtswissenschaft nach einem einheitlichen Begriff, um mit ihm auch das Verhältnis von materiellem Recht und Verfahrensrecht zu klären. Einen solchen Willen zur Trennung von Rechtssphären haben englische Juristen nie deutlich artikuliert; das Ergebnis war eine lange Phase der Unklarheit, in der sich die causes of action langsam aus ihrer Abhängigkeit von den forms of action heraustas-
72
Collins, Conflict of Laws, Bd. I, Rn. 12–055. [1998] Ch. 40. 74 Mecklermedia Corp v. DC Congress GmbH [1998] Ch. 40, at 45. 73
III. Vergleich von nationalen Lehren und Kernpunktlösung
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teten.75 Der EuGH umschifft in seiner Rechtsprechung zu Art. 27 EuGVVO eine präzise Abgrenzung von materiellen Berechtigungen und ihrer prozessualen Durchsetzung, indem er den gesamten Streit der Parteien sowohl aufgrund des Sachverhalts als auch aufgrund der einschlägigen materiellrechtlichen Ansprüche einheitlich betrachtet. 2. Spannungsfeld zwischen Konzentration des Verfahrens und Parteiherrschaft Die europäische Rechtsprechung geht einen grundlegend anderen Weg als deutsche Juristen, die den Antrag des Klägers als wesentliches Element des Streitgegenstandes begreifen. Der EuGH dagegen grenzt Klagen ungeachtet des Antrags nach dem Sachverhalt und den entscheidungserheblichen materiellen Rechtsvorschriften ab. Der Dispositionsgrundsatz des deutschen Verfahrensrechts kann sich in dieser Auslegung nicht entfalten. Auch in England bindet ein Kläger das Gericht mit seinem Antrag nicht76; stattdessen entscheiden die an materiellrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen orientierte cause of action sowie die issues über die Streitsache einer Klage. Obwohl der EuGH in den einschlägigen Urteilen wiederholt seine autonome Auslegung betont hat,77 steht seine Auslegung der englischen Herangehensweise sehr nahe78. Unterschiede bestehen im Umfang des betrachteten Sachverhalts: Während der EuGH den gesamten Streit zwischen den Parteien in seine Abgrenzung mit einbezieht, achten englische Gerichte wegen des Gebots der Kürze und Präzision auf die Strukturierung des Tatsachenkomplexes in cause of action und issues. Der EuGH möchte widersprüchliche Entscheidungen vermeiden, die englischen Verfahrensregeln möchten die Bindung von Gerichtsressourcen und Kosten reduzieren. Im Ergebnis sind beide Herangehensweisen darauf ausgelegt, eine größtmögliche Verfahrenskonzentration zu erreichen.79 Diesem Ziel muss sich auch die Disposition der Parteien über ihren Streit unterordnen. Symptomatisch steht dafür neben der Befugnis des Gerichts, in seiner Entscheidung über den Antrag des Klägers hinauszugehen,80 die Erstreckung des res-judicata-Effekts auch auf die issues des Streits, soweit sie dem Ausgangsurteil als rechtliche Basis oder Rechtfertigung für die 75
Vgl. o. S. 177 ff.; Letang v. Cooper [1965] 1 Q.B. 232, at 242, per Diplock L.J. CPR 16.2 (5); vgl. o. S. 175 ff. 77 Vgl. o. S. 225 ff. 78 Dahingehend auch Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 105; Stürner, Parteidisposition, S. 1068; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 96 f. 79 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 93 f. und 96 f.; Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 80 CPR 16.2 (5). 76
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
Entscheidung gedient haben81. Dass der res-judicata-Effekt sogar bei solchen Streitpunkten eingreifen soll, die im Ausgangsverfahren nicht zur Sprache kamen, vernünftigerweise aber schon dort hätten diskutiert werden müssen, sanktioniert denjenigen Kläger, der den Inhalt eines Gerichtsverfahrens dadurch steuern möchte, dass er nur ausgewählte Teile des streitigen Sachverhalts in seine Klage einbezieht. Diese Ausweitung des resjudicata-Effekts zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch82 unterstreicht die Bedeutung der Verfahrenskonzentration im englischen Recht. Von der Art und Weise der Abgrenzung der Streitsache zu trennen sind die Folgen für das Verfahren, wenn feststeht, dass parallele Verfahren dieselbe Streitsache haben. Deutsche und europäische Verfahrensregeln knüpfen über das Prioritätsprinzip an die zeitliche Abfolge der Klagen an. Das englische Recht belässt dem Gericht auch bei Streitsachenkollision paralleler Klagen ein Ermessen. Hintergrund ist das adversary system, das die Prozessführung durch die Parteien zum Grundsatz macht und dem Richter Zurückhaltung auferlegt. Haben die Parteien beispielsweise vereinbart, dass Verfahren an unterschiedlichen Gerichten über ihren Fall möglich sein sollen, so kann es sein, dass die angerufenen Gerichte diese Vereinbarung akzeptieren werden.83 Letztlich kommt es darauf an, ob das Gericht die parallele Prozessführung als abuse of process einstuft; dies wird der Regelfall sein.84 3. Mögliche Auswirkungen der Kernpunkttheorie auf den Umfang der Rechtskraft Deutsche Autoren diskutieren, ob das europarechtliche Verständnis der Streitsache auch die Regeln zur Rechtskraft beeinflussen könnte.85 Sowohl die Regeln zum Problem entgegenstehender Rechtshängigkeit als auch zur Rechtskraft sind darauf ausgelegt, widersprüchliche Entscheidungen über denselben Streit zu verhindern. Es böte sich daher an, die Streitsache in beiden Problemkonstellationen auf dieselbe Weise zu bestimmen.86 Dabei 81
Vgl. o. S. 204 ff. Vgl. o. S. 208 ff. 83 Royal Bank of Canada v. Cooperatieve Centrale Raiffeisen-Boerenleenbank BA [2004] EWCA Civ. 7; vgl. o. S. 228 ff. 84 Marsh, Halsbury´s Laws of England: Practice and Procedure, Rn. 934–950. 85 Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1590 ff.; Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 421 ff.; Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 449 ff.; dazu auch Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 183; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 95 ff. 86 Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 449; Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1592. 82
III. Vergleich von nationalen Lehren und Kernpunktlösung
237
sind zweierlei Überlegungen zu unterscheiden: Zum einen könnte die Auslegung des EuGH von Art. 27 EuGVVO das Tor zu einer europäischen Rechtskraftlehre öffnen, zum anderen könnte sie sich auf das nationale Verständnis der Rechtskraft auswirken. Der Normtext der EuGVVO sagt aber über die materielle Rechtskraft nichts aus. Diese mangelnde Koppelung der europarechtlichen Regelung entgegenstehender Rechtshängigkeit und der Rechtskraftproblematik, welche weiterhin national nach dem Recht des Urteilsstaats gelöst wird,87 ist aus deutscher Sicht ein Bruch.88 Beide Problemkonstellationen stehen dadurch in systematischem Zusammenhang, dass sie mehrfache Verfahren über denselben Streitgegenstand verhindern. Darüber hinaus unterscheiden sich Rechtshängigkeit und Rechtskraft nach deutschem Verständnis nur durch ein zeitliches „Nacheinander“, indem die Rechtshängigkeit gleichzeitige Verfahren und die Rechtskraft aufeinanderfolgende Verfahren ausschließt.89 Bezugspunkt ist in beiden Fällen der Streitgegenstand. Funktional wäre es verfehlt, diese Systematik auf andere Verfahrensordnungen zu übertragen. Die fehlende Kohärenz zwischen entgegenstehender Rechtshängigkeit und materieller Rechtskraft im europäischen (und auch im englischen) Verfahrensrecht zeigt vielmehr, dass die Streitsache dort nicht die zentrale Stellung einnimmt, die sie in der ZPO innehat. Da der Zweck von Art. 27 EuGVVO darauf begrenzt ist, parallele, sich inhaltlich überschneidende Verfahren zu verhindern, spricht systematisch nichts für eine Regelung der Rechtskraft im Europarecht.90 Die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu Art. 27 EuGVVO kann daher für die materielle Rechtskraft keine Erkenntnis bringen. Stattdessen normiert Art. 33 Abs. 1 EuGVVO, dass in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen in den übrigen Mitgliedstaaten anzuerkennen sind, und zwar in ihrem jeweiligen Umfang. Obwohl eine europarechtliche Regelung der materiellen Rechtskraft nicht in Sicht ist, könnte die Kernpunkttheorie eine Neubewertung der nationalen Lehren von der Rechtskraft erfordern; gerade in Deutschland drängt sich dies wegen des bestehenden sachlichen Zusammenhangs zwischen Rechtshängigkeit und Rechtskraft auf.91 Die Konzentration des umfassend verstandenen Sachverhalts auf das Erstverfahren liefe auf eine Ausweitung der materiellen Rechtskraftwirkung auf Vorfragen und Urteilsgründe hinaus. Da diese Diskussion in Deutschland bereits im 87 Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 450. 88 Vgl. Nieroba, Die europäische Rechtshängigkeit, S. 179. 89 Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1591 (Zitat). 90 Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1598; Nieroba, Die europäische Rechtshängigkeit, S. 179. 91 Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1600.
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
19. Jahrhundert geführt worden war und sich die Verfasser der CPO 1877 gegen eine Ausweitung der Rechtskraft nach den Vorstellungen Savignys entschieden haben,92 stoßen solche Überlegungen in der deutschen Literatur auf wenig Gegenliebe. Die Autoren bemängeln ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Schwächung der Parteiherrschaft über den Inhalt des Rechtsstreits, die zu Überraschungseffekten führen könne,93 die Gefahr der Perpetuierung von fehlerhaften Entscheidungen94 sowie die erhöhten Kosten, weil Teilklagen dann nicht mehr möglich wären95. Die Gesetzeslage nach § 322 Abs. 1 ZPO sowie die Zulässigkeit von Zwischenfeststellungklagen nach § 256 Abs. 2 ZPO und von Teilklagen ließen eine solche Ausweitung der Rechtskraftwirkung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der ZPO auch nicht zu.96 Der englischen Rechtstradition steht die Überlegung, den weiten Ansatz zur Streitsache des EuGH auf die Rechtskraft zu übertragen, viel näher. Der res-judicata-Effekt knüpft an die Tatsachenbasis des Erstverfahrens an. Er reicht denkbar weit und erstreckt den Umfang der Streitsache auf entscheidungserhebliche issues.97 „Im Ansatz“98 entsprechen sich daher der Ansatz des EuGH und das weite englische Verständnis vom Umfang des Urteilsinhalts. Gegen die Änderung der Rechtskraftlehre im Sinne der europäischen Rechtsprechung sind in Deutschland neben systematischen Bedenken auch kostenrechtliche Argumente vorgebracht worden. Wenn ein Rechtsstreit konzentriert in einem einzigen Verfahren verhandelt werden müsse, stiegen die Kosten des Verfahrens, da der Streitwert nicht mehr durch Teilklagen gesteuert werden könne.99 In England stellt sich dieses Problem nicht,
92
Vgl. o. S. 206 ff. Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 451; Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 421. 94 Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 422 f.; Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 98. 95 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 99. 96 Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, ZZP, Bd. 111 (1998), S. 421 f.; Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl., Rn. 22; Zeuner, Rechtskraft und ihr Verhältnis zur Rechtshängigkeit, S. 1600; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 92, Rn. 22. 97 Vgl. o. S. 202 ff. 98 Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 97; ebenso Stürner, Parteidisposition, S. 1068. 99 Otte, Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen, S. 52 ff. 93
III. Vergleich von nationalen Lehren und Kernpunktlösung
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da vor allem Anwaltskosten nach Stundensätzen und nicht nach Streitwert berechnet werden.100 Möglicherweise könnten aber diese aus deutscher Sicht unbefriedigenden Ergebnisse vermieden und dennoch eine Konzentrationswirkung ähnlich der Kernpunkttheorie erzielt werden, wenn man die Präklusionswirkung einer Klage in den Blick nimmt.101 Sowohl das deutsche als auch das englische Recht verbieten, dass eine Partei durch erneuten Sachvortrag einen Rechtsstreit beliebig oft vor Gericht bringt. In England kann sie denselben Tatsachenkomplex nicht erneut vortragen, weil die cause of action des Erstverfahrens durch die Wirkung des merger mit dem Urteil verschmolzen ist. Möchte sie abweichende Tatsachen vortragen, so kann dies entweder ein issue estoppel verhindern oder aber die „ausgeweitete“ resjudicata-Lehre, die eine Partei zwingt, inhaltliche Tatsachen bereits im Erstverfahren zu thematisieren. Verspäteter Tatsachenvortrag wird dann als abuse of process gewertet. Für das deutsche Recht ist zu beachten, dass die materielle Rechtskraft sich auf Rechtsfolgen bezieht,102 die tatsächliche Feststellung einer Entscheidung hingegen gerade nicht umfasst103. Dennoch verbietet es das Gebot des ne bis in idem, den Streit über ein und denselben Streitstoff zu wiederholen.104 Eine Partei kann die Rechtskraft einer Entscheidung nicht mit der Begründung aushebeln, die im Erstverfahren festgestellten Tatsachen müssten berichtigt oder ergänzt werden.105 Zweck des Streitgegenstandes ist es daher auch, die Parteien mit nachträglichem Vorbringen von Tatsachen, die bei einer natürlichen Betrachtungsweise zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehört hätten, auszuschließen.106 Erst wenn sich der im Zweitverfahren vorgetragene Sachverhalt „seinem Wesen nach“ von den ins Erstverfahren eingebrachten Tatsachen unterscheidet, geht mit der materiellen Rechtskraft keine Präklusion einher.107 Je nachdem, wie weit man die Präklusionswirkung des Sachverhalts im Erstverfahren zieht, könnte man damit eine Wirkung erzielen, welche die Rechtskraft an die Rechtshängigkeit im Sinne der Kernpunkttheorie angleicht. Wohlgemerkt wäre eine so weite Präklusion nach gegenwärtiger 100
Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 97. Den Gedanken der Präklusion thematisiert bereits in diesem Zusammenhang Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 98. 102 Vgl. o. S. 220 ff. 103 Stein/Jonas/Leipold, Kommentar, § 322, Rn. 77. 104 BGH NJW 2004, S. 1805, 1806. 105 Stein/Jonas/Leipold, Kommentar, § 322, Rn. 218, 220, der Parallelen zu § 767 Abs. 2 ZPO für die Vollstreckungsabwehrklage zieht. 106 BGH NJW 1992, S. 1172, 1173; BGH NJW 2004, S. 1805, 1806; Stein/Jonas/Leipold, Kommentar, § 322, Rn. 218, 222. 107 BGH NJW 1981, S. 2306 (Zitat). 101
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5. Kapitel: Verhältnis zum Europarecht
Rechtsauffassung in Deutschland wohl nicht zu erreichen, da die Präklusionswirkung auf den Sachverhalt des im Erstverfahren entschiedenen Anspruchs begrenzt ist; die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge bleibt der maßgebliche Anknüpfungspunkt.108 Stattdessen müsste man das Verständnis von der natürlichen Betrachtungsweise auf die zugrundeliegenden Tatsachen als Lebenssachverhalt von der in Streit stehenden Rechtsfolge entkoppeln. Vorstöße, die sich ähnlich wie die Kernpunkttheorie des EuGH stärker an den Tatbeständen der materiellen Normen orientieren, sind der deutschen Rechtwissenschaft nicht fremd.109 In Deutschland überwiegen jedoch bisher die Bedenken gegen die Ausweitung der Rechtskraftwirkungen, sei es über die Einbeziehung der Urteilsgründe ähnlich der englischen Verfahrensregeln, sei es über strengere Präklusionsvorschriften. Ein auf dem Gedanken der Präklusion aufbauendes Modell hätte aber den Vorteil, dass es das Konzentrationsbedürfnis der europäischen Rechtsprechung auf das Erstverfahren befriedigte und dennoch die Parteiherrschaft über den Inhalt des Rechtsstreits, zumindest im Erstverfahren, erhalten bliebe. Zudem nähme dieser Ansatz Rechtsgrundsätze auf, die in der deutschen und englischen Verfahrensordnung bereits angelegt sind.
IV. Ergebnis IV. Ergebnis
Die Kernpunktlösung stimmt mit keiner der beiden untersuchten Rechtsordnungen überein. In seinem „Erfindungsreichtum“110 nimmt der EuGH identische Klagen an, wenn sie auf demselben Sachverhalt basieren, funktional vergleichbare Rechtsvorschriften anwendbar sind und der im Kern gleiche Zweck verfolgt wird.111 In Deutschland kann der Kläger den Inhalt der Klage mit seinem Antrag deutlicher begrenzen,112 in England mit der cause of action mittels der genau umrissenen Technik der Schriftsatzerstellung präziser herausarbeiten. Das deutsche Streitgegenstandsverständnis entkoppelt den Anspruch des Zivilverfahrens von der materiellen Rechtslage. Der EuGH hingegen fragt, ob die eventuell kollidierenden Klagen auf dieselben materiellen Rechtsgrundlagen zurückgeführt werden. In dieser sachverhaltsorientierten, die materielle Rechtslage berücksichtigenden Vorgehensweise ähnelt er dem 108
Stein/Jonas/Leipold, Kommentar, § 322, Rn. 226, 228. Vgl. Stein/Jonas/Leipold, Kommentar, § 322, Rn. 227, der vor allem auf Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, S. 43 ff., verweist. 110 Geimer/Schütze/Geimer, Europäisches Zivilverfahrensrecht, A.1 Art. 27, Rn. 31. 111 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 8b. 112 Deutschland reiht sich damit in die Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU ein, die den Streitgegenstand anhand der Parteien, des Antrags und des Klagegrundes abgrenzen, s. Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 193. 109
IV. Ergebnis
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englischen Verfahren, in welchem der Antrag ebenfalls nicht über die Streitsache entscheidet und in welchem die cause of action auf die Voraussetzungen der zugrundeliegenden materiellen Berechtigung zurückgeführt werden muss. Die prozessual eigenständige, antragsorientierte deutsche Lösung ist weiter von der Rechtsprechung des EuGH entfernt als die materiellrechtlich geprägte, sachverhaltsorientierte englische Lösung. Das traditionelle deutsche Streitgegenstandsverständnis, das auf eine Einheitslehre mit festen Kriterien setzt, ist angesichts der interessengeleiteten Rechtsprechung des EuGH in Frage gestellt worden. Sie hat den Anhängern eines relativen Streitgegenstandsbegriffs neue Argumente an die Hand gegeben. Die Strukturen der europäischen und englischen Streitsache zeigen, dass ein auf Konzentration des Rechtsstreits bedachtes Denken in der Entwicklung des europäischen Zivilverfahrens eine wichtige Rolle spielt. In Deutschland kommt es zu der Situation, dass die prozessual zweigliedrige Lehre zwar ihre Bedeutung als Kompass für den Weg zwischen den unübersichtlich gewordenen Meinungen zum Inhalt des Zivilverfahrens behält. Die Gerichtspraxis kennt aber Variablen, so dass sie den Streitgegenstand während des laufenden Verfahrens weit versteht, um den Rechtsstreit möglichst an einem Gericht auf einmal beilegen zu können, nach der Entscheidung den Streitgegenstand aber wieder enger zieht, um den Justizgewährungsanspruch der Parteien in Folgeverfahren nicht übermäßig zu beschneiden und neuen Tatsachenvortrag zu verhindern.113 Soll das deutsche Streitgegenstandsverständnis für Rechtshängigkeit und Rechtskraft wieder angenähert werden, und zwar nach Maßgabe der weiten Auslegung des EuGH, dann bietet sich der Gedanke der Präklusion an. Parteien, die im Erstverfahren Tatsachen nicht eingebracht haben, obwohl diese bei natürlicher Betrachtungsweise zum entscheidungserheblichen Sachverhalt gehörten, könnten diese Tatsachen dann im Zweitverfahren nicht mehr verwenden.
113
Prütting/Gehrlein, ZPO, Einl., Rn. 19.
Schlussfolgerungen: Von der strengen Klageformel zur sachverhaltsgeleiteten Streitsache Kommt ein Rechtsstreit vor ein Zivilgericht, dann legen deutsches und englisches Verfahrensrecht dessen Inhalt unterschiedlich fest. Deutsche Rechtswissenschaftler ringen seit langer Zeit um ein Konzept, das die Streitsache einheitlich und für alle Stationen eines Zivilverfahrens bestimmt. Englische Juristen legen seit jeher großen Wert auf feste Regeln, nach denen sich die Streitparteien untereinander über ihren Rechtsstreit verständigen. Angesichts der voranschreitenden Europäisierung des Rechts, die bereits Teile des Zivilverfahrensrechts erfasst hat, hat diese Arbeit die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Klageinhalt und die Streitstoffbestimmung verglichen. Einerseits könnten sich dadurch herausgearbeitete Gemeinsamkeiten gegenseitig Impulse für eine Verbesserung der nationalen Zivilverfahrensregeln geben, andererseits sollten deutlich gewordene Unterschiede bei zukünftigen Ausweitungen der Zivilverfahrensregeln auf europäischer Ebene berücksichtigt werden, um deren Umsetzbarkeit und Akzeptanz in den Mitgliedstaaten zu erhöhen. 1. Aktionenrechtliche Systeme über Klagerechte und Klageformeln Eine gemeinrechtliche Klage setzte sich zusammen aus einem Rechtsgrund, dem Lebenssachverhalt sowie dem Antrag, der das Begehren des Klägers gegenüber dem Beklagten enthielt. Die Klageschrift beinhaltete regelmäßig nur den Lebenssachverhalt und den klägerischen Antrag; der Rechtsgrund musste daraus ableitbar sein. Folglich brachte der Kläger mit seinem Antrag den Klageinhalt zwar auf den Weg, hinzukommen musste aber eine schlüssige Schilderung des Falles, die den Voraussetzungen der begehrten actio entsprach. Aus der Klageschrift und der Einlassung des Beklagten als litis contestatio ergab sich der Streitstand (status controversiae) des Falles. Die Prozessualisten des 19. Jahrhunderts machten die actio als materiellrechtlich geprägtes Klagerecht zur Streitsache des Zivilverfahrens. Die Abgrenzung von Klagen erfolgte aber über die res de qua agitur, die weiter reichen konnte als die einzelne actio. Der gemeinrechtliche Klageaufbau erodierte im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend. Als Anknüpfungspunkt für die Verfahrensordnungen der deutschen Partikularstaaten und Wetzstein für Reformvor-
Schlussfolgerungen
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schläge blieb er aber bis zur Rechtsvereinheitlichung im Jahr 1877 für die deutschen Zivilverfahrensrechte prägend. In England strukturierten die writs das common law. Nur über diese genau vorgegebenen Klageformulare konnten Privatpersonen ihre materiellen Berechtigungen einklagen. Die writs leiteten eine Klage ein und hatten jeweils besondere Verfahrensregeln zur Folge. In dem starren System von Klageformeln, das schon durch die Wahl des Klageformulars die Streitsache bestimmte, waren die pleadings der Parteien besonders wichtig, um den Rechtsstreit zu individualisieren. Mit Hilfe der mündlichen Vorträge sollte der Sachverhalt auf die entscheidungserheblichen Streitpunkte (issues) des Falles zugespitzt werden. Da die Klageformulare selbst keine genauen Angaben für eine Klage enthielten, waren die pleadings zudem notwendig, um überhaupt klare Voraussetzungen für eine begründete Klage entwickeln zu können. Statt wissenschaftlicher Bearbeitung wie im gemeinen Recht wurden subjektive Rechte des common law nach und nach im Gerichtssaal durch versuchsweises Vorbringen von Fallvariationen und das Abgleichen von Formulierungen zwischen Parteien und Gericht konkretisiert. Ähnlich wie im gemeinen Prozess verschriftlichten sich die englischen Parteivorträge ab dem 16. Jahrhundert. Allerdings wurde der Schriftsatz im gemeinen Prozess unmittelbar zum Verfahrensstoff, während englische Schriftsätze ursprünglich nur der Vorbereitung der Gerichtsschreiber auf die Hauptverhandlung dienen sollten. Gleichwohl wichen die Parteien in ihren mündlichen Vorträgen im trial nicht mehr von ihren schriftlichen Vorlagen ab. Die formale Strenge des common law veranlasste die königliche Rechtsprechung, mit dem Recht der equity ein Korrektiv zu schaffen, das aber bald selbst feste Rechtsregeln herausbildete. Streitsache der equity war der Rechtsschutz, den der Kanzler durch sein Urteil schuf. Die deutschen und englischen Rechtsordnungen waren somit unterschiedlich stark nach Aktionen ausgerichtet. Das gemeine Recht orientierte sich aktionenrechtlich; man ging davon aus, dass für jeden Rechtsgrund eine actio gewährt werde. Daher lässt sich die actio als verfahrensrechtliche Transformation und als Ordnungstitel eines ohnehin bestehenden materiellen Rechts verstehen. Common law und equity dagegen dachten in Aktionen, weil ohne das writ beziehungsweise die Rechtshilfe des Kanzlers materielle Berechtigungen nicht einklagbar waren und folglich von verfahrensrechtlicher Warte aus gar nicht existierten. In den Verfahrensmodellen vor Vereinheitlichung des Zivilverfahrens deuteten sich die unterschiedliche Gewichtung von beantragter Rechtsfolge und geschildertem Sachverhalt der gegenwärtigen Lehren zur Streitsache an. Im gemeinen Prozess brachte der Kläger den begehrten Rechtsschutz durch einen Antrag in Form der Klageschrift vor Gericht. Dieser war im writ des common law nicht enthalten, da es sich nicht um ein klägerisches Schreiben, sondern um einen königlichen Ladungsbefehl handelte. Statt
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Schlussfolgerungen
des Antrags stand in England die Umschreibung des Sachverhalts, im Mantel der technischen forms of action, im Mittelpunkt. 2. Einheitliche oder relative Streitsache im vereinheitlichten Zivilverfahren Sowohl deutsche als auch englische Juristen machten nach der Vereinheitlichung des Zivilverfahrens die Erfahrung, dass die Vorstellungen des Gesetzgebers über den Inhalt eines Rechtsstreits nicht immer mit der Rechtsanwendung vor Gericht kompatibel waren. In Deutschland bemühte sich die Literatur um einen Anspruchsbegriff, der zur Gesetzessystematik der ZPO passte; in England benötigten die Gerichte viel Zeit, um zu einer deutlichen Unterscheidung zwischen den abgeschafften forms of action und den durch den JA 1875 in den Vordergrund gerückten causes of action zu finden. Die CPO 1877, deren Verfahrensablauf bereits in der hannoverschen Prozessordnung von 1850 angedeutet und dann in mehreren Prozesskonferenzen entwickelt worden war, verwarf das gemeinrechtliche Aktionensystem und sah den Anspruch, wie er von Windscheid entwickelt worden war, als Gegenstand eines Rechtsstreits an. Dieses materiellrechtliche Verständnis des Anspruchs erwies sich als inkompatibel mit dem System der CPO 1877 bei Feststellungs- und Gestaltungsklagen sowie bei Konkurrenzfragen. Die deutsche Rechtswissenschaft bemühte sich daher um eine prozessual eigenständige Definition des Anspruchs. Alle wesentlichen Lehrmeinungen zum Streitgegenstand sehen heute den klägerischen Antrag als entscheidenden Hebel, der das Verfahren auf die begehrte Rechtsfolge lenkt. Die herrschende zweigliedrig prozessuale Variante kombiniert ihn mit dem Element des Lebenssachverhalts. Für die Formulierung einer Klage behält sie damit die von den gemeinen Prozessualisten angesetzten Elemente bei. Inhaltlich hat sich die Streitsache der ZPO allerdings von ihren gemein- und partikularrechtlichen Vorgängern entfernt; sie ist das Ergebnis eines Dreierschritts von der gemeinrechtlichen actio über das Anspruchsverständnis Windscheids hin zum heute etablierten prozessualen Anspruch. Die Unbeweglichkeit der forms of action verbaute dem englischen Recht eine Erneuerung aus der Rechtsprechung heraus. Stattdessen sollte eine gesetzliche Normierung des Zivilverfahrens verkrustete Strukturen aufbrechen und die formale Trennung zwischen common law und equity aufheben. Schrittweise tastete sich der englische Gesetzgeber im Laufe des 19. Jahrhunderts an diese Rechtsvereinheitlichung heran. Im JA 1875 entschied er sich für eine Kombination der bestehenden Verfahrenskonzepte, indem er das Gebot präziser pleadings aus dem common law mit der Fokussierung auf den tatsächlichen Inhalt des Rechtsstreits aus der equity verband. Die Abschaffung der forms of action beseitigte nicht nur formale Hürden für die Klageeinleitung, sondern stellte auch die bisherige Struktur
Schlussfolgerungen
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des englischen Rechts insgesamt in Frage. Bis heute hat das englische Recht nur in Teilbereichen materielle Rechtsregeln ohne ihre prozessuale Einkleidung systematisiert, beispielsweise im Vertragsrecht. An anderen Stellen, etwa im law of torts, lehnen sich die materiellrechtlichen Ansprüche begrifflich noch deutlich an frühere Klagebezeichnungen an. Die englische Streitsache fußt seit der Verfahrensvereinheitlichung auf dem Sachverhalt des Rechtsstreits, dessen „wesentliche Tatsachen“ im Vordergrund des Gerichtsverfahrens stehen. Ziel des klägerischen Schriftsatzes ist es, seine cause of action schlüssig zu beschreiben. Bei der cause of action handelt es sich um denjenigen Tatsachenkomplex, der den Kläger zum begehrten Rechtsschutz berechtigt. Der Schriftsatzwechsel zwischen den Parteien soll dann die issues des Falles sichtbar machen. Dabei hat der klägerische Antrag geringere Bedeutung als im deutschen Recht; insbesondere kann das Gericht seit den CPR 1998 über den Antrag hinausgehen und dem Kläger jede Rechtsfolge zusprechen, die ihm seiner Tatsachendarlegung zufolge zusteht. Die Vorrangstellung des Sachverhalts gegenüber dem Antrag verwirklicht nach englischem Rechtsdenken das aus dem früheren equity-System stammende Ideal eines Gerichtsverfahrens, das rechtlich-formalen Verschleierungen widersteht und stattdessen den tatsächlichen Inhalt eines Rechtsstreits bewertet. Über die einheitliche Definition der Streitsache werden in Deutschland nicht nur die Inhalte isolierter Klagen bestimmt, sondern auch Klagen voneinander abgegrenzt. Damit verbundene Problemkonstellationen löst das englische Recht zum Teil variabler: Nach Zustellung der Klage an den Beklagten kann der Kläger seine Ausführungen im Schriftsatz, die ihn aufgrund des Abweichungsverbots auch im trial binden, nur noch über die Regelungen des amendment ändern. Bei inhaltlichen Änderungen, die über bloß formale Fehlerkorrekturen hinausgehen, richtet sich die Abgrenzung nach der cause of action. Soll diese ausgetauscht werden, so ist dies nur mit Zustimmung des Beklagten oder des Gerichts möglich. Auch bei der Verhandlung mehrerer Klagen in einem Verfahren wird nach der cause of action differenziert. Bei der Problematik, dass eine Partei parallele Verfahren über dieselbe Sache anstrengen will, kann die cause of action eine Rolle spielen, das englische Recht fragt aber eher danach, ob die erneute Anrufung eines Gerichts verfahrensmissbräuchlich ist (abuse of process). Dies kann bereits bei einzelnen Streitfragen der Fall sein. Ähnlich verhält es sich bei der Methodik zur Sicherung des Urteilsinhalts. Während das deutsche Recht den Umfang der materiellen Rechtskraft auf die vom Kläger beantragte und im Urteil festgestellte Rechtsfolge begrenzt, geht das englische Recht viel weiter, indem es sämtliche entscheidungserhebliche issues dem res-judicata-Effekt unterwirft. Dessen dogmatische Zuordnung schwankt zwischen dem Beweisrecht und dem allgemeinen Verbot des Verfahrensmissbrauchs.
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Schlussfolgerungen
Das Ideal eines einheitlichen Begriffs der Streitsache, der wie in Deutschland alle Problemkonstellationen bei der Abgrenzung von Klagen erfassen soll, kennt das englische Recht folglich nicht. Auch eine mit dem Zentralbegriff des Streitgegenstandes verbundene Trennung von prozessualem und materiellem Recht nimmt es nicht explizit vor. Die Streitsache ist kein abstrakter Begriff, sondern wird über die cause of action und die issues sachverhaltsbezogen konkretisiert. Die richterlichen Ermessensspielräume, bei denen der Rückgriff auf den Rechtsgedanken des abuse of process eine große Rolle spielt, führen zu einer relativen Festlegung der Streitsache im jeweiligen Einzelfall. Diese Herangehensweisen lassen Rückschlüsse auf die Entwicklung des Rechtsdenkens zu. In Deutschland hat es sich von der materiellrechtlichen Einteilung in Aktionen hin zu den Rechtsfolgen gewendet, um die im Zivilverfahren gestritten wird. Dieser Wandel hat eigenständige prozessuale Lehren ermöglicht, die vom materiellrechtlichen Anspruch unabhängig sind. Das englische Recht stellt für den Inhalt eines Rechtsstreits auf schlüssig vorgetragene Tatsachen ab. Nach der Idee der equity sollen sich die Parteien statt mit Formeln mit dem Inhalt dieses Rechtsstreits beschäftigen. Dieser muss sich nach englischer Sichtweise aus dem Sachverhalt ergeben; Voraussetzung dafür ist nach dem Ideal des common law dessen präzise Erfassung und Verarbeitung. Gerade bei den Regeln zum Schutz des Urteilsinhalts hat sich zudem die unterschiedliche Gewichtungen im Spannungsfeld zwischen Dispositionsgrundsatz und Verfahrenskonzentration des deutschen und englischen Rechts gezeigt. Die liberalen gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus der Entstehungszeit der ZPO räumten der Parteiherrschaft über den Klageinhalt besondere Bedeutung ein. Die damit verbundene Schlüsselrolle des klägerischen Antrags für den Streitgegenstand ist in Deutschland nach wie vor unbestritten. Im common law erforderte dagegen der aufwendige und kostspielige trial by jury, dass ein Rechtsstreit in einem einzigen Verfahren umfassend beigelegt wurde. Auch nach weitgehender Abschaffung der jury schätzt das englische Recht das öffentliche Interesse an prozessökonomischer Streitbeilegung als so hoch ein, dass die Disposition der Parteien über den Umfang einer Entscheidung zurückstehen muss. 3. Mögliche Annäherungen der deutschen und englischen Streitbestimmung Die untersuchten deutschen Lehren zur Streitsache zeigen, dass die Ansätze zur Abgrenzung des Inhalts einer Klage heute auch in Deutschland elastischer geworden sind. Relative Lösungen der Prozesspraxis verweisen die Einheitslehre in manchen Rechtsgebieten in die Rolle einer didaktischen Grundregel. Gerade der Spielraum bei der Definition des „Lebenssachverhalts“ über eine „natürlichen Betrachtungsweise“ der Rechtsprechung
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macht es möglich, den Gegenstand des Rechtsstreits unterschiedlichen Stadien eines Verfahrens anzupassen, indem beispielsweise der berücksichtigte Sachverhalt während des laufenden Verfahrens weit gezogen wird, um den Rechtsstreit möglichst an einem Gericht auf einmal beilegen zu können, nach dem Urteil dann aber wieder enger, um den Parteien die Wahrnehmung ihrer Interessen in Folgeverfahren nicht abzuschneiden. Beachtenswert ist die große Aufmerksamkeit, die englische Juristen der Technik der Schriftsatzerstellung widmen. Hinter den Verfahrensregeln zu den pleadings steht die Erkenntnis, dass sich die Parteien zuerst selbst über ihren Streit klar werden müssen, bevor sich ein Richter sinnvoll mit ihm befassen kann. Der Verhandlungsmaxime folgt freilich auch das deutsche Recht. Stärker als in Deutschland nehmen aber die englischen Verfahrensregeln die Streitparteien in die Pflicht, die wesentlichen, das heißt streitentscheidenden Punkte selbst zu definieren und ihren Vortrag auf diese Punkte zu komprimieren, anstatt dem Gericht lediglich eine zusammenhängende Geschichtserzählung zu liefern. Die englischen Verfahrensregeln gehen davon aus, dass die Reduzierung des Tatsachenstoffs am besten geeignet ist, einen Streit effizient beizulegen.1 Klarere Anforderungen an die Gestaltung der Parteischriftsätze könnten auch in Deutschland die Streitfindung übersichtlicher gestalten und damit beschleunigen. Das deutsche Recht möchte Verfahrenseffizienz durch richterliche Kontroll- und Hinweispflichten fördern. Ihre Etablierung und Erweiterung im Laufe des 20. Jahrhunderts zeugt von der Auffassung des Gesetzgebers, dass es für einen geordneten Verfahrensablauf sinnvoll ist, wenn das Gericht das Verfahren leitet und die Parteien bei der Verfolgung ihrer rechtlichen Ziele innerhalb der Grenzen seiner richterlichen Unabhängigkeit unterstützt. Der klassischen englischen Auffassung von der Rolle des Richters käme dies als ungebührliche Einmischung in das adversary system des common law vor. Spätestens mit Einführung der CPR 1998, deren Ziel eine gerechte Verfahrensdurchführung jedes Einzelfalles ist, ist das Gericht aber aus dieser passiven Rolle herausgetreten und leitet das Verfahren im Sinne des case management aktiv. Die untereinander ausgetauschten Dokumente müssen die Parteien auch dem Richter vorlegen, der den Parteivortrag erst auf seine Schlüssigkeit prüft, bevor er ihn für das trial annimmt. Prozesshinderliches Verhalten kann der Richter sanktionieren, ohne dass die Gegenseite dies beantragt hat. Ausgebaute Hinweis- und Nachforschungspflichten machen deutlich, dass das englische Recht das Zivilverfahren nicht mehr als reine Privatsache ansieht, sondern den Richter stärker in die Streitdefinierung unter den Parteien involviert. Dieser Aus1
Inwieweit prozesspraktische Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel die Kosten, die Dauer des Verfahrens oder die mengenmäßige Belastung des Gerichts, hat diese Arbeit nicht überprüft. Ihre empirische Aufarbeitung bedürfte einer eigenen Untersuchung.
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Schlussfolgerungen
bau richterlicher Verfahrensleitungsbefugnisse hat das englische an das deutsche Verfahrensverständnis herangeführt.2 Auffallend ist schließlich die Initiative zu gütlicher Streitbeilegung in beiden Verfahrensordnungen. Das deutsche Recht zieht gemäß § 278 Abs. 1 ZPO einvernehmliche Lösungen einem Urteil vor, das die Erwartungen einer Seite notwendigerweise enttäuscht, und hat aus diesem Grund Güteverhandlungen und die Möglichkeit von Vergleichsvorschlägen ausgebaut. Dieselbe Richtung hat die englische Rechtsordnung mit den CPR 1998 eingeschlagen. Sie hält die Parteien zu möglichst früher Kommunikation an, indem der Kläger seine Klage in einem letter of claim ankündigt und vor Beginn eines Verfahrens pre-action protocols ausgetauscht werden müssen. Auch das Gericht ist angehalten, die Zusammenarbeit unter den Parteien durch seine neuen Kompetenzen zur Verfahrensleitung zu fördern. Das adversary system wird so immer stärker durch ein kooperatives Verfahrensmodell ersetzt. 4. Anregungen für die Zukunft der europäischen Streitsache Weiter als die nationalen Verfahrensordnungen fasst der europäische Ansatz im Rahmen von Art. 27 EuGVVO die Streitsache bei entgegenstehender Rechtshängigkeit an Gerichten unterschiedlicher Mitgliedstaaten. Er fragt allein danach, ob die durch den Sachverhalt und die Rechtsvorschriften begründete Interessenlage der Parteien im Kernpunkt übereinstimmt, und lässt die Klageanträge im Übrigen unberücksichtigt. Ähnlich wie der englische Ansatz zur Festlegung der Streitsache bewirkt die Rechtsprechung des EuGH eine größtmögliche Konzentration des Rechtsstreits auf das Erstverfahren. Mit dem englischen Recht ist die Kernpunkttheorie des EuGH deswegen leichter zu vereinbaren, weil in England dem Mangel an Disposition über die Streitsache mehr Möglichkeiten für die Parteien gegenüberstehen, über ihren Tatsachenvortrag den Inhalt des Zivilverfahrens zu steuern. Durch präzise Vorgaben zur Schriftsatzerstellung geleitet, bestimmen die Parteien durch ihre Sachverhaltsangaben über die Streitsache, die neben der cause of action auch einzelne issues umfasst. Dieses sachverhaltsorientierte, materiellrechtliche Verständnis von der Streitsache widerspricht der antragsbezogenen deutschen Streitgegenstandslehre, die aber in entsprechenden Fallkonstellationen trotzdem die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 27
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Ob die deutsche Rechtslage Pate für die englischen Verfahrensreformen 1998 stand, kann hier nicht beantwortet werden. Die Berichte von Lord Woolf geben keine deutlichen Hinweise. Jedenfalls im Ergebnis fällt eine Annäherung an das deutsche Zivilverfahren auf, s. Malterer, Lord Woolf's access to justice, S. 305; Dreymüller, Die Reform des englischen Zivilprozessrechts, ZVglRWiss, Bd. 101 (2002), S. 481.
Schlussfolgerungen
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EuGVVO beachten muss. Will man den auf diese Weise „gespaltenen“3 Streitgegenstandsbegriff wieder in Kohärenz bringen, so müsste gerade im Rahmen der materiellen Rechtskraft der Weg über das englische Modell führen mit einem sachverhaltsorientiertem Streitgegenstandsbegriff, der sich auch auf entscheidungserhebliche Streitpunkte erstreckt. Nach deutscher Gesetzeslage ist ein solcher Schritt aber nicht denkbar. Eine Lösung, die dem Antrag seine Bedeutung bei der Bestimmung der Streitsache zumindest im Erstverfahren belässt, könnte der Präklusionsgedanke sein. Sowohl das deutsche als auch das englische Recht sperren im Zweitverfahren Tatsachen, die bei natürlicher Betrachtungsweise bereits zum Lebenssachverhalt des Ausgangsverfahrens gehörten. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz ne bis in idem oder auch, wie in England, aus den Verboten widersprüchlichen Verhaltens und des Verfahrensmissbrauchs. Für eine Präklusionswirkung, die dem Umfang der Kernpunkttheorie des EuGH entspricht, müsste das deutsche Recht allerdings seine Fokussierung auf die beantragte und im Urteil festgestellte Rechtsfolge aufweichen. Zukünftige Rechtsvereinheitlichungen auf europäischer Ebene könnten den Präklusionsgedanken aufnehmen und dadurch Brüche in den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten abfedern.
3
Gottwald, Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, S. 99.
Summary: The road from forms of action to a subject matter of litigation based on facts If parties to a legal dispute go to court, German and English civil procedure rules apply different criteria to determine the subject matter of litigation (Streitsache). This thesis, having in mind the growing unification of European civil procedural law, compares different approaches. On the one hand, its findings could improve the application of existing national civil procedure rules. On the other, it could support the interpretation of European civil procedure rules to enhance their practicability in the member states of the European Union. 1. The historical system of writs and other legal set phrases An action of the ius commune was built up of three parts: A legal ground, the facts of the case, and a request of the claimant. Usually, the claimant’s statement of case included only the facts of the case and the request of the claimant; it fell on the judge to derive the legal ground from that. The legal ground structured the action and was known as the actio. The statement of claim and the statement of defence added up to the status controversiae. In the 19th century, German lawyers considered the actio as the subject matter of litigation. But the differentiation of actions was made by the res de qua agitur, which tended to cover more than a single actio, i. e. res de qua agitur included all facts the parties argued about, notwithstanding their legal impetus. This concept of action broke up more and more during the 19th century when most of the various German states established their own civil procedure rules. Exemplifying this development, this thesis examines the civil procedure rules of Bavaria, Hanover and Prussia. In English law, the common law was structured by writs. Only with these standard forms private persons could claim for their private legal rights. The writs initiated an action and involved special procedure rules in each case. As a main result, the subject matter of litigation was defined only by the type of writ chosen. In this inelastic system of legal set phrases, pleadings became the key part of civil procedure to individualize a legal dispute. The pleadings of the parties were supposed to point out the issues of the action. In addition, pleadings were crucial to develop precise conditions for establishing an action. Instead of scientific classification
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comparable to the ius commune, private legal rights of the common law were created step by step in court by adjusting the formulations of the legal dispute. The law of equity resulted in the need of soothing the exactingness of the common law writs, but the law of equity established its own procedure rules shortly. Subject matter of litigation in equity was the remedy which the chancellor granted to the applicant. German and English civil procedure rules therefore varied in their alignment for legal set phrases. The ius commune was built on the assumption that for every legal ground there was an actio, with the result – vice versa – that a legal ground existed even without civil proceedings. On the contrary, Common law and equity were structured by practice and procedure, because private legal grounds were non-existent without a writ or a remedy. In these models of civil procedure the modern emphasis on the request of the claimant or on the facts of the case is already foreshadowed: In the ius commune the claimant formulated a specific request. Whereas, in common law this was no part of the writ, because the writ was originally a royal command. Instead of a private request, the appointment of facts was the key part in English civil proceedings. 2. Uniform or relative subject matter of litigation in the unified civil procedure After the reform of civil procedure, German and English lawyers both noticed that the idea of the subject matter of litigation contained in the new law was not always compatible with the daily needs in court. In Germany, lawyers searched for a term of Anspruch which matched the system of the German Code of Civil Procedure (ZPO). In England, the courts had difficulties in separating the abolished forms of action and the causes of action which came to the fore in the Judicature Act 1875. The ZPO originally chose the term Anspruch developed by Windscheid for the subject matter of litigation, but this construction was too closely related to substantive law and therefore failed at certain stages of civil procedure. As a consequence, German lawyers tried for a specific procedural concept of Anspruch, also called Streitgegenstand. Nowadays, all opinions on the problem of defining the subject matter of litigation regard the request of the claimant (Antrag) as the key part. Usually combined with the facts of the case (Lebenssachverhalt), the Antrag constitutes the German Streitgegenstand. In terms of defining the subject matter of litigation, the English reforms of civil procedural law during the years 1873–75 combined the two existing systems at law and in equity. The Judicature Act 1875 followed both: the imperative of precise pleadings derived from common law and the focus on the actual content of the legal dispute derived from equity. The abolition of forms of action was far-reaching not only because civil procedure
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rules abandoned standard legal set phrases, but also because the structure and categories of English law had to be rescheduled. The modern English subject matter of litigation is based on the substantive facts of the case. The purpose of a statement of claim is to describe a cause of action conclusively. The cause of action is a complex of facts which entitles the claimant to a certain remedy. Furthermore, in their pleadings, the parties shall identify the issues of the case. The request of the claimant is less important in these proceedings as it is in German law. In particular, under the Civil Procedure Rules 1998, the judge can exceed the request of the claimant and adjudge every legal consequence the claimant is entitled to by his presentation of the facts. From an English point of view, the primacy of facts implements the idea, based on equity, of a civil procedure which overcomes the temptation of given set phrases and reviews the substantive content of a legal dispute instead. The German concept of a universal Streitgegenstand not only determines the subject matter of a single action but also separates different actions in order to avoid multiple actions on the same legal issue. Notably, English law is more flexible: To guarantee that the subject matter of litigation will not be changed randomly, substantive amendments are only allowed in general if the cause of action is not changed. Also, if several actions are to be bundled in a single civil procedure, the cause of action is the tool for separating the actions. But in the situation that a claimant wants to claim the same subject matter several times, English judges rather apply the concept of abuse of process and ask if initiating civil proceedings another time would be an abuse. In a similar way the concept of res judicata is applied: Whereas German procedural law limits the extent of res judicata to the request of the claimant, English law goes further by subjecting all substantive issues to res judicata. The systematic status of the concept of res judicata has not been completely determined yet, but ranges between the concepts of estoppel and abuse of process. As a result, there is no universal idea of subject matter of litigation in English law. The subject matter of litigation is no abstract term but is substantiated by the cause of action and the substantive issues of the case. Discretionary power of the judge in avoiding abuse of process results in a determination of the subject matter of litigation on a case-to-case basis. These different approaches give insights into the development of the content of an action. In Germany, the abolition of the classification of actiones advanced the independent procedural concept of Streitgegenstand, which is independent from substantive law. In English law, lawyers focuse on the facts of the case instead of forms of action. Accordingly, precise reporting and considering of facts are emphasized in civil procedure rules.
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3. Possible convergence of German and English determination of legal disputes The modern German concept of Streitgegenstand is not as universal as it used to be. Nowadays, in some areas of law the universal concept plays the role of an object lesson, but in the daily practice of the courts a case-tocase approach prevails. The scope of the term Lebenssachverhalt enables the judges to adjust the factual content of the subject matter of litigation to the specific stage of the procedure. While the action is pending, a judge would widen the scope of the Lebenssachverhalt and consider as many facts as possible to solve the legal dispute in one action. Afterwards, the judge would narrow the scope relating to res judicata to prevent the parties being hindered from pursuing their legal interests. The English technique of pleading takes into account that the parties themselves are obliged to clarify the facts and define the substantive issues of the case. This needs to be done before a judge is concerned with the legal dispute. English lawyers are convinced that reducing the amount of facts helps most to settle a legal dispute. This maxim is implied in German civil procedure rules as well. But the German requirements on statements of case should be compared with the English rules in order to arrange the determination of substantive issues of the case faster and more clearly. The ZPO promotes effective civil proceedings by certain duties of the judge to control the progress of the proceedings and to give advice. German lawyers believe that it makes sense for effective civil proceedings if the judge manages the case and supports the parties in pursuing their goals without losing his judicial independence. The original English point of view, on the contrary, is an adversarial system of common law. But by the establishment of Civil Procedure Rules in 1998, which have the overriding objective of enabling the court to deal with cases justly, the judge lost his passive role and is now authorized to do case management. This includes more duties to clarify the facts of the case and to put them in order with the result that English law does not consider civil proceedings as a private affair only, but encourages the judge to guide the legal dispute. At this point, English and German civil procedure rules start to converge. Both ZPO and CPR 1998 also promote out-of-court settlements. German law prefers mutual solutions of legal disputes and therefore requires the parties to enter into a conciliation hearing at first. If an out-of-court settlement fails, there is always the alternative of in-court settlements. Under the CPR 1998 parties are obliged to communicate as early as possible, the claimant has to give notice of his action in a letter of claim and the parties have to exchange pre-action protocols. The court shall assist this cooperation with its new competences in case management as well. In this way, the adversary system has been replaced by a cooperative concept of civil procedure.
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4. Suggestions for a European subject matter of litigation The construction of the subject matter of litigation by the European Court of Justice regarding the problem of lis pendens in Art. 27 Council Regulation (EC) No 44/2001 on jurisdiction and the recognition and enforcement of judgments in civil and commercial matters (Brussels I) differs from the German national legal practice. The only test European judges apply is the question whether the interests of the parties based on the facts of the case and legal rules are the same; the request of the claim is irrelevant. Similar to the English concept, the whole legal dispute is dealt with in only one action. This concept is more compatible to the English civil procedure rules because the parties have more possibilities to regulate the subject matter of litigation by pleading certain facts. This fact-based concept of the subject matter of litigation conflicts with the German concept based on the request of the claimant which, nevertheless, has to follow the European law of Brussels I. As a result, the German concept is split into a national and a European approach. It can only overcome this disruption by focusing on the facts of the case rather than on the request of the claimant, like the English civil procedure rules do. The current German civil procedure rules do not allow such a change. Another solution consistent with the ZPO could be strengthening the maxim of preclusion. Facts which could and should have been brought forward in a first action are barred in a second one in German as well as in English civil procedure. This approach is based on the idea of ne bis in idem and, in England, on the idea of abuse of process; it could help to avoid inconsistencies between national and European concepts of subject matter of litigation and enable the courts to deal with legal disputes more efficiently.
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Sachregister Abuse of process 208ff., 218, 220ff., 234, 236, 239 Actio 11 f., 14, 56f., 67 Adversary system 100, 154ff., 171, 216, 236 Aktionenkonkurrenz 60f. Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover 78ff., 102f. Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten 72, 74ff., 102f. Amendment 161, 188ff., 214, s. auch Klageänderung Amtsermittlungsgrundsatz, s. Untersuchungsgrundsatz Anspruch 29, 57, 62f., 79, 94, 111ff., 136, 146, 151, 165, 168, 173f., 178, 184, 188, 224, 227, 229, 239ff., s. auch actio; Klagerecht; writ; cause of action – materieller 111ff. – prozessualer, s. Streitgegenstandsbegriff Antrag, s. Klageantrag Aufklärungsgrundsatz 46, 55, 91, 171 Auslegung 120, 126, 150, 155, 176f., 182, 191, 209, 211, 223, 228, 234f. Beibringungsgrundsatz, s. Verhandlungsgrundsatz Beweisinterlokut 9f., 55, 81ff., 105, 108 Beweisrecht 199f. Bill of complaint 45, 54, 67, 96, 104, 166 Cause of action 95, 143ff., 150ff., 167, 169, 175, 179ff., 190ff., 194ff., 203f., 212, 215, 218f., 222f., 235, 239f. Civil Procedure Rules 130, 136ff. Civilprozeßordnung (1877) 85, 113ff. Codex Juris Bavarici Judicarii 73f., 82, 102f.
Common Law Procedure Acts 95f. Confession and Avoidance 34f., 52 Corpus Iuris Fridericianum 84ff. Court of Chancery Procedure Act 96 Demurrer 34, 45, 52, 151, 198 Dispositionsgrundsatz 17, 75, 106, 170ff., 207, 213ff., 223, 235, 246, s. auch Parteiherrschft Due process of law 40, 42 Elemente der Klage 10ff., 22ff., 48f., 73ff., 164ff., 173ff. Estoppel 198f., 211 – cause of action 201f. – issue 202ff., 239 Eventualgrundsatz, s. Verfahrenskonzentration Fiktionen 92f. Henderson-Doktrin 208ff., 219 Hinweispflicht 107, 172f., 218 Indorsement 133ff. Inherent Jurisdiction 210 Inquisitionsprozess 75, 171 Issue 32f., 146ff. – general 33, 52 – substantial, s. wesentliche Tatsache Joinder of causes of action 194f. Judicature Acts 97ff., 133f. Jüngster Reichsabschied 7 Jury 31f., 46, 50, 53f., 66, 96, 142, 157, 168 Kameralprozess 8f. Kernpunkttheorie 224ff. Klageabweisung 24, 38, 177, 213 Klageänderung 18, 80, 187ff., s. auch amendment
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Sachregister
Klageantrag 32, 48, 64, 67, 79f., 119, 123, 126, 187, 223, 229, 233 Klagebegehren, s. Klageantrag Klagegrund 12, 33, 48, 77f., 83, 111, 119ff., 136, 166f., 175, 187 Klagehäufung 64f., 119f., 126, 195, 217f., 221, s. auch joinder of causes of action Klagerecht 11, 14, 56ff., 60ff., 69, 74, 111ff., 115, 173, 207 Klageschrift 10ff., 48f., 54, 58, 67f., 73ff., 82ff., 109ff., 134, 139ff., 152, 164ff., 175, 177ff., 213 Klageziel 12, 64, 113, 119f., 125, 133, 135f., 157, 175, 210 Konzentrationsgrundsatz, s. Verfahrenskonzentration Ladung 32, 44, 47f., 50, 54, 133, 164 Lebenssachverhalt 10ff., 46, 48f., 64, 109, 118ff., 144, 177ff., 194, 223, 232f. Lis pendens, s. Rechtshängigkeit Litis contestatio 15f., 50, 67, 81ff. Material facts 142ff. Merger 201, 218, 239 Mündlichkeitsgrundsatz 78, 84, 110, 159, 169, 84 Ne bis in idem 239 Parteiherrschaft 106, 170ff., 196, 213ff., 221, 230, 235f., s. auch Dispositionsgrundsatz Petitum, s. Klageantrag Plain Language 144 Pleading 30ff., 139f. – mündlich 30ff., 36f. – schriftlich 36f., 138ff. – special 34, 166 Präjudizialität 20, 23, 40, 43, 188, 207f. Präklusion 10, 65, 108, 123, 170, 200, 218, 239f., 249 Precedent, s. Präjudizialität Prozessökonomie 100, 121, 216ff. Rechtsfortbildung, s. inherent jurisdiction Rechtshängigkeit 192ff., 215, 224ff.
Rechtskraft, 61, 114, 123, 188, 196, 206f., 215, 221f., 236ff., s. auch res judicata Rechtsschutzanspruch 116 Register 28 Remedy 63, 134, 145, 164, 176 Res de qua agitur 12, 60ff., 68 Res judicata 197ff., 212, 221f. Rules of Supreme Court 135f. Statement of claim 136, 140 Status controversiae 17, 83 Stilus curiae 8 Streitgegenstandsbegriff 106ff. – eingliedriger 119f., 122, 126, 128f., 178 – materieller 113ff., 118f., 124f. – prozessualer 115ff., 119f., 125f. – relativer 221ff., 127ff. – zweigliedriger 119f., 125ff., 175, 178, 184, 241 Subject matter 4 Traverse 34f., 52 Trial 31, 35, 37f., 46, 51f., 55, 100, 130, 139f., 144, 148, 154, 157ff., 162f., 169, 183, 213f. Uniformity of Process Act 94 Untersuchungsgrundsatz 46, 75, 122, 170ff. Urteil 20, 22, 48, 62, 66, 79, 100f., 107, 109f. ,117, 145, 157, 159, 174, 176, 182, 188, 196f., 201ff., 215f., 221f. Verfahrensmissbrauch, s. abuse of process Verfahrenskonzentration 9f., 16, 52, 83, 100, 197, 157, 159, 162, 183, 220ff., 235ff. Verhandlungsgrundsatz 17f., 100, 106, 170f., 207 Wesentliche Tatsache 51, 134, 142ff., 179, 181, 214 Woolf-Reform 132, 210 Writ 21ff., 27ff. – of summons 94f., 133ff., 175 – original 23, 26, 28, 41, 48f., 175