Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess: Ein Beitrag zum Verhältnis von Parteiherrschaft und Richtermacht, zur Wechselwirkung von materiellem Recht und Prozessrecht sowie zur Risikoverteilung und Effizienz im Zivilprozess 9783161526572, 9783161526565

Mängel der Tatsachenfeststellung führen dazu, dass materielle Berechtigung und prozessuale Durchsetzbarkeit auseinanderf

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
§ 1 Einleitung
I. Problemstellung
1. Die rechtliche und rechtspolitische Perspektive: Die Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage
2. Die ökonomische Perspektive: Die Steuerungswirkung der Rechtsprechung
3. Die Gemengelage aus materiellrechtlicher und prozessualer Mitwirkung der Parteien sowie der Reduktion der Darlegungs- und Beweisanforderungen
II. Wertungsgesichtspunkte zur Konkretisierung der Mitwirkungsverantwortung der Parteien und der Darlegungs- und Beweisanforderungen
1. Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht
a) Einfluss des Prozessrechts auf das materielle Recht
b) Materialisierung des Zivilprozessrechts
2. Wechselwirkungen zwischen Mitwirkung und Beweiserleichterungen
III. Ansätze zur Problemlösung
IV. Ziel der Untersuchung
1. Die Bereinigung der Gemengelage
2. Bedeutung des Verfahrensrechts vor dem europäischen Hintergrund
3. Kernfragen
Teil 1: Grundlagen
§ 2 Relevanz der Informationsbeschaffung
I. Anforderungen an den Parteivortrag und damit verbundene Schwierigkeiten
1. Klageerhebung
2. Hauptverhandlung und schriftsätzliche Vorbereitung
3. Ergebnis
II. Das System der Risikozuweisung
1. Behauptungs- und Beweisbedürftigkeit
a) Nicht bestrittene Behauptungen und zugestandene Tatsachen
b) Offenkundige Tatsachen
aa) Offenkundigkeit
bb) Behauptungslast
cc) Gegenbeweis
2. Beweislast
a) Objektive Beweislast
b) Subjektive Beweislast
c) Konkrete Beweisführungslast
3. Behauptungslast
a) Objektive und subjektive Behauptungslast
b) Abstrakte und konkrete Behauptungslast
4. Beweiswürdigung
5. Beweismaß
a) Vollbeweis als Regelbeweismaß
b) Glaubhaftmachung
6. Beweiserleichterungen und Beweislastumkehr
7. Ergebnis
§ 3 Rechtsvergleichende Grundlagen
I. USA
1. Klageerhebung und pretrial
2. Sinn und Zweck der pretrial discovery
3. Instrumente der pretrial discovery im Einzelnen
4. Risiken der pretrial discovery und Gegenmaßnahmen
5. Grenzen der pretrial discovery
a) Privileges
b) Protective orders
c) Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen gegenüber dem Prozessgegner
6. Folgen einer Mitwirkungsverweigerung
7. Fazit zum US-amerikanischen Recht
II. England
1. Woolf-Reforms
2. Disclosure
3. Grenzen der disclosure
4. Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen
5. Search order (Anton-Piller-Order)
6. Fazit zum englischen Recht
III. Österreich
1. Materielle richterliche Prozessleitung
2. Vorlagepflichten der Parteien
3. Beweiserhebung von Amts wegen
4. Weigerungsrechte
5. Sanktionen
6. Fazit zum österreichischen Recht
IV. Schweiz
1. Materielle richterliche Prozessleitung
2. Verhandlungsgrundsatz als Ausgangspunkt
3. Tatsachenfeststellung
4. Mitwirkungslasten und -pflichten
5. Weigerungsrechte
6. Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen
7. Sanktionen
8. Fazit zum Schweizer Recht
V. Zusammenfassung
1. Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien
2. Reichweite der Mitwirkungspflichten
3. Risiken und Grenzen
4. Sanktionsmechanismen
5. Fazit zur Rechtsvergleichung
§ 4 Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke
I. Ansätze im europäischen Zivilprozessrecht: Der Storme-Bericht
1. Offenlegungspflichten der Parteien
2. Offenlegungspflichten Dritter
3. Fazit
II. Principles of Transnational Civil Procedure
1. Richterliche Prozessleitung und Verhandlungsgrundsatz
2. Zugang zu Informationen und Beweismitteln
3. Sanktionen bei verweigerter Mitwirkung und Kostentragung
4. Fazit
III. Internationale Schiedsgerichtsbarkeit
IV. Die Enforcement-Richtlinie und ihre Umsetzung
1. Beweismittelvorlage
2. Beweissicherungsmaßnahmen
3. Recht auf Auskunft
4. Bewertung
Teil 2: Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht: Parteivortrag und richterliche Prozessleitung als Mittel zur Aufklärung
§ 5 Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes
I. Inhalt und Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes
II. Gerichtliche Erörterungs- und Hinweispflicht
III. Beweiserhebung von Amts wegen
IV. Mitwirkungsverantwortung der Parteien
V. Fazit
§ 6 Grenzen der Hoheit der Parteien
I. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht
1. Pflicht zur Wahrhaftigkeit
2. Legitimation eines unwahren Tatsachenvortrags
a) Neuregelung der Rechtsbeziehung durch die Parteien
aa) Bindung des Gerichts an übereinstimmende Rechtsauffassungen
bb) Prozessökonomische Vorteile
cc) Ergebnis
b) Zulässigkeit der Beendigung des Verfahrens durch Klagerücknahme, Erledigungserklärung und Prozessvergleich
c) Zulässigkeit von Anerkenntnis und Verzicht
d) Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis
e) Wirkung der gerichtlichen Entscheidung
3. Bindung der Parteien und des Gerichts an wahrheitswidrigen Vortrag
4. Ergebnis
II. Unzulässige Erklärung mit Nichtwissen
1. Erkundigungspflicht
2. Eigener Organisationsbereich
3. Vertretung
4. Folge der unzulässigen Erklärung mit Nichtwissen
5. Fazit
III. Folgerungen für die Aufklärung und Mitwirkung
Teil 3: Information und Offenlegung
§ 7 Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten
I. Materiellrechtliche Ansprüche zur Überwindung von Informationsdefiziten
1. Besondere gesetzlich geregelte Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten
a) Die Wahrnehmung der Interessen einer anderen Partei
b) Eingriff in einen anderen Rechtskreis
c) Klärung des Anspruchsinhalts oder bestehender Einwendungen
d) Sicherung eines Rechts
e) Informationsrechte aus besonderem sozialen Kontakt
aa) § 809 Var. 2 BGB
bb) § 810 BGB
(1) Urkunde
(2) Zweck oder Inhalt der Urkunde
(3) Rechtliches Interesse
(4) Anspruchsgegner
(5) Würdigung
2. Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben
a) Rechtliche Sonderverbindung
b) Entschuldbare Ungewissheit über den Umfang des Rechts
c) Keine Möglichkeit der Beschaffung auf zumutbare Weise
d) Möglichkeit und Zumutbarkeit der Auskunft
e) Inhalt
3. Durchsetzung der materiellrechtlichen Informationsansprüche
4. Fazit
II. Prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten
1. Modifikation der Substantiierungslast
a) Voraussetzungen und Inhalt
b) Abgrenzung
c) Würdigung
2. Pflicht zur Vorlage nach §§ 422 ff. ZPO
a) Vorlegungspflicht des Gegners nach bürgerlichem Recht
b) Vorlegungspflicht des Gegners bei Bezugnahme
c) Fazit
3. Anordnung der Urkundenvorlegung nach § 142 ZPO
a) Diskussionen im Gesetzgebungsverfahren
b) Vorgeschlagene Einschränkungen
aa) Beschränkung auf Funktion der materiellen Prozessleitung
bb) Übertragung der Voraussetzungen des Urkundenbeweises
cc) Ergebnis
c) Voraussetzungen der Vorlageanordnung
aa) Das Ausforschungsverbot
(1) Bestimmtheit der Tatsachenbehauptung und des Beweismittels
(2) Behauptungen »ins Blaue hinein«
(3) Offene Ausforschung
(4) Fazit
bb) Substantiierter Tatsachenvortrag
(1) Entwicklung der Rechtsprechung
(2) Würdigung
(3) Ergebnis
cc) Bestimmte Bezeichnung der Urkunde
dd) Fazit
d) Grenzen der Anordnungsbefugnis
aa) Richterliche Ermessensausübung
bb) Ermessensreduzierung auf Null
cc) Ausnahmecharakter
e) Rechtsfolgen bei Nichterfüllung
f) Rechtsmittel gegen Vorlageanordnung oder unterlassene Anordnung
g) Fazit
4. Ergebnis zu den prozessualen Aufklärungspflichten
III. Würdigung: Der Fortentwicklungsbedarf
1. Verbleibende Unzulänglichkeiten und Fortentwicklungsoptionen
2. Materiellrechtliche und prozessuale Lösung im Vergleich
a) Primat des materiellen Rechts
b) Gleichlauf der inner- und außerprozessualen Rechtslage
c) Grenzen materiellrechtlicher Ansprüche
d) Prozessuale Lasten- und Pflichtenbegründung
e) Flexibilität und Einheitlichkeit der prozessrechtlichen Lösung
f) Möglichkeit zur innerprozessualen Sanktionierung
3. Lehren aus der rechtsvergleichenden Umschau und den Harmonisierungsbestrebungen
4. Ergebnis: Fortentwicklung prozessualer Instrumente
§ 8 Entwicklung einer prozessualen Verwirklichung der Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz
I. Erweiterung der Mitwirkungsverantwortung: Einführung einer sekundären Mitwirkungsverantwortung
1. Erweiterung der sekundären Behauptungslast
a) Einführung einer sekundären Vorlegungslast
b) Grenzen einer sekundären Vorlegungslast
c) Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
2. Auskunft über Existenz von Urkunden
a) Einführung einer sekundären Informationslast
b) Grenzen einer sekundären Informationslast
3. Abstimmung der Anordnung der Urkundenvorlegung nach § 142 ZPO mit dem Urkundenbeweis nach §§ 422, 423 ZPO
4. Parteivortrag als Grenze
5. Fazit
II. Weigerungsrechte und Privilegien im Prozess
1. Prozessualer Geheimnisschutz de lege lata
a) Geheimnisschutz durch den Ausschluss der Öffentlichkeit
b) Geheimnisschutz für die Parteien und Dritte
aa) Geheimnisschutz Dritter
(1) Sachliches Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 Nr. 3 ZPO
(2) Persönliches Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
(3) Ergebnis
bb) Geheimnisschutz der Prozessparteien
(1) Hintergrund des Fehlens eines expliziten Geheimnisschutzes
(2) Keine entsprechende Anwendung der Zeugnisverweigerungsrechte
(3) Ausnahmsweise zu gewährender Geheimnisschutz
(4) Auswirkungen für die Parteien
(5) Ergebnis
cc) Fazit
2. Schützenswerte Sphären
a) Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse
b) Privatsphäre
aa) Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts
bb) Wirkung im Zivilrecht
c) Beziehung zwischen Anwalt und Mandant
aa) Strafprozessualer Schutz
bb) Schutz im Insolvenzverfahren
cc) Zivilprozessuale Wertungen
d) Gefahr strafrechtlicher Verfolgung
aa) Strafprozessualer Schutz
bb) Zivilprozessuale Wertungen
cc) Verfassungsrechtliche Wertung
dd) Zusammenfassende Würdigung
e) Öffentliche Interessen
3. Ergebnis
III. Umsetzung des Geheimnisschutzes
1. Mögliche Regelungsmechanismen
a) Materielles Recht als Vorbild
b) Prozessuale Vorbilder
aa) Erkenntnisse aus der rechtsvergleichenden Umschau
(1) USA
(2) England
(3) Zürcherische und Schweizerische Zivilprozessordnung als Vorbild
bb) Anerkennung von Geheimhaltungsinteressen in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
(1) Mittelbare Beweisführung
(2) Kritik an der Entscheidung
(3) Würdigung
(4) Ergebnis
cc) Geheimverfahren in der obergerichtlichen Rechtsprechung
dd) Das Düsseldorfer Verfahren in Patentrechtsstreitigkeiten als Vorbild
c) Ergebnis
2. Geheimhaltung und der Anspruch auf rechtliches Gehör
a) Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
b) Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs
c) Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts
d) Sichtweise des Bundesgerichtshofs
e) Bewertung
3. Dogmatische Begründung
a) Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei
b) Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei
c) Ergebnis
4. Umsetzung der Geheimhaltung
a) Verfahrensmäßige Behandlung
b) Zweistufiges Verfahren
c) Beteiligung und Einsichtnahmerecht des Anwalts
d) Geheimhaltung im Urteil und vollstreckungsfähiger Tenor
e) Selbstständige Anfechtung der Vorlageanordnung
f) Vorgelagerte Zeitpunkte des Geheimnisschutzes
5. In camera-Verfahren als ultima ratio
6. Ergebnis
IV. Sanktionsmechanismen
§ 9 Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien
I. Standpunkt der Rechtsprechung
II. Standpunkt der herrschenden Literatur
III. Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien
1. Der Ansatz Stürners im Einzelnen
2. Zustimmende Stellungnahmen
IV. Lehren aus den Harmonisierungsbestrebungen und den vereinheitlichten Regelwerken
V. Würdigung im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse
Teil 4: Beweiserleichterungen
§ 10 Gesetzliche Beweiserleichterungen
I. Glaubhaftmachung
1. Beweismaßreduktion
2. Anwendungsfälle
3. Verfahrensbesonderheiten
4. Ausweitung auf andere Fälle
II. Beweiserleichterungen nach § 287 ZPO
1. Ratio der Beweiserleichterungen
2. Anwendungsbereich
a) Abgrenzung
b) Erweiterungen
c) Anwendungsbereich des § 287 Abs. 2 ZPO
3. Rechtsfolge
a) Beweismaßsenkung
b) Verfahrenserleichterungen
4. Vorgebrachte Änderungsforderungen
a) Neufassung der Vorschrift aus Bestimmtheitsgründen
b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs
aa) De minimis non curat praetor
(1) Definition der Kleinigkeit
(2) Missbrauchsmöglichkeit
(3) Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis
(4) Unverhältnismäßigkeit
(5) De minimis-Prinzip im materiellen Recht
(6) Ergebnis
bb) Anerkennung prozesswirtschaftlicher Erwägungen
cc) Materiellrechtliche Lösung als Alternative
dd) Fazit
5. Lösungsvorschlag: Prozessuale Änderungen zur Berücksichtigung verfahrenswirtschaftlicher Gründe
§ 11 Richterrechtliche Beweiserleichterungen
I. Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr
II. Anscheinsbeweis
1. Voraussetzungen und Rechtsfolgen
2. Erfahrungssätze als Grundlage des Anscheinsbeweises: Notwendige Differenzierungen
a) Zwingende Erfahrungssätze
b) Erfahrungsgrundsätze
c) Einfache Erfahrungssätze
3. Gegenbeweis
4. Dogmatische Einordnung
a) Keine Beweislastumkehr
b) Rechtsprechung
c) Meinungsstand im Schrifttum
d) Würdigung
5. Fazit
III. Tatsächliche Vermutungen
1. Die Verwendung tatsächlicher Vermutungen durch die Rechtsprechung
a) Umkehr der Beweislast
aa) Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit
bb) Vermutung der Ursächlichkeit
cc) Vermutung für Wiederholungsgefahr
dd) Widerlegbare Vermutung bei Nichteinhaltung von DIN-Normen
b) Beweiswürdigung
2. Würdigung
3. Fazit
IV. Beweisvereitelung
1. Voraussetzungen
2. Rechtsfolgen
a) Die flexible Lösung der Rechtsprechung: Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr
b) Beweislastumkehr
c) Umkehr der konkreten Beweisführungslast
d) Beweiswürdigung
e) Beweismaßsenkung
f) Wahrunterstellung
g) Würdigung
3. Dogmatische Einordnung
a) Materiellrechtliche Einordnung
b) Prozessrechtlicher Grundsatz von Treu und Glauben
c) Prozessrechtliche Begründung
d) Würdigung
4. Ergebnis
V. Beweismaßsenkung im Einzelfall
VI. Fazit
Teil 5: Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts als Anreizsystem und als Mechanismus des Interessenausgleichs
§ 12 Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung
I. Anforderungen an die Kausalität: Nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit
II. Voraussetzungen einer Analogie
III. Würdigung
IV. Fazit
§ 13 Gesetzgeberische Risikozuweisung über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln
I. Überblick und Abgrenzungen
II. Gesetzliche Vermutungen
1. Widerlegbarkeit
a) Unwiderlegbare Vermutungen
b) Widerlegbare Vermutungen
2. Vermutungsgegenstand
a) Tatsachenvermutungen
b) Rechts(zustands)vermutungen
3. Dogmatische Einordnung der gesetzlichen Vermutungen
a) Beweisregel oder Beweislastregel
b) Behauptungslast des Vermutungsbegünstigten
4. Hinweispflicht des Gerichts
5. Zusammenfassung
III. Fiktionen
IV. Auslegungsregeln
V. Fazit
1. Risikozuweisung über Vermutungen
2. Zulässigkeit und Grenzen der Anordnung von Vermutungen
Teil 6: Schluss
§ 14 Fazit
I. Reform des Zivilprozessrechts: Neue Wege zur Feststellung des Sachverhalts
II. Vorzüge des Prozessrechts – Ergänzungen im materiellen Recht
III. Verhandlungsgrundsatz und richterliche Prozessleitung im Einklang
1. Geleiteter Verhandlungsgrundsatz
2. Beweisantragsrecht
3. Sozialer Zivilprozess und sporting theory of justice
4. Maximendenken
IV. Einbettung der Mitwirkungsverantwortung
V. Verfahrensökonomie
1. Verfahrensökonomie als Zielgedanke: Zweckmäßige Gestaltung und Durchführung des Verfahrens
2. Effizienz durch Parteiverantwortung
3. Gesetzgeberische Risikozuweisung
§ 15 Ergebnisse
I. Konkrete Änderungsvorschläge
II. Zusammenfassung in Thesen
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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JUS PRIVAT UM Beiträge zum Privatrecht Band 174

Raphael Koch

Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess Ein Beitrag zum Verhältnis von Parteiherrschaft und Richtermacht, zur Wechselwirkung von materiellem Recht und Prozessrecht sowie zur Risikoverteilung und Effizienz im Zivilprozess

Mohr Siebeck

Raphael Koch, geb. 1977; Studium der Rechtswissenschaft in Münster und Cambridge; 2003 Erstes Staatsexamen; 2005 Promotion; 2005 LL.M.; 2007 Zweites Staatsexamen; 2009 EMBA; 2012 Habilitation an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; seit 2012 Universitätsprofessor an der Universität Augsburg.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-152657-2 ISBN 978-3-16-152656-5 ISSN  0940-9610 (Jus Privatum) Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ biblio­graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt, auf alterungs­ beständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Otters­weier gebunden.

Meinen Eltern

Vorwort Die Sachverhaltsfeststellung erfolgt an der Schnittstelle von materiellem Recht und Prozessrecht. Eine spannungsgeladene Gemengelage entsteht, der sich diese Untersuchung widmet. Ziel ist es, ein dogmatisches Fundament zu entwickeln, auf dem aufbauend Reichweite und Grenzen der Mitwirkungsverantwortung der Parteien sowie der Darlegungs- und Beweisanforderungen etabliert werden können. Methodisch wird erstens von der Unterscheidung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht ausgegangen, weil auch die Lösungen der jeweiligen Ebene zuzuordnen sind. Im Wege einer ganzheitlichen Betrachtung sind jedoch die vernachlässigten Wechselwirkungen zu konkretisieren. Zweitens wird die Steuerungswirkung der gesetzgeberischen Vorgaben und der Rechtsprechung in den Blick genommen. Der dritte methodische Ansatzpunkt ist die rechtsvergleichende Analyse, um die Vor- und Nachteile andersartiger Konzepte der Tatsachensammlung aufzuzeigen. Die Arbeit ist im Sommersemester 2012 von der Juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen worden. Für die Drucklegung wurde sie aktualisiert. Mein herzlicher Dank gilt meinem akademischem Lehrer Herrn Professor Dr. Ingo Saenger, der mich zu dem Schritt in die Wissenschaft ermutigte und auf dem Weg zur Habilitation in jeder Hinsicht – weit über die Betreuung der Arbeit hinaus – förderte. Zugleich ließ er mir die notwendigen Freiräume. Die Zeit an seinem Lehrstuhl in Münster wird mir stets in bester Erinnerung bleiben. Herrn Professor Dr. Johann Kindl danke ich für die außerordentlich zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Seine wertvollen Anregungen konnte ich für die Drucklegung berücksichtigen. In vielfältiger Weise haben mich Freunde unterstützt – durch Rat und Tat, durch Ablenkung, in der Endphase insbesondere durch Korrekturen und inhaltliche Hinweise. Insoweit seien genannt: Alex, Anncathrin, Caro, Florian, Matthias, Mirjam und Steffen. Danke! Zudem konnte ich mich auf die studentischen Hilfskräfte am Lehrstuhl in Münster verlassen. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses ist der VG WORT zu danken. Zu besonderem Dank bin ich meinen Eltern, Elisabeth und Reinhard Koch, sowie meinen Brüdern, Claudius und Sebastian, verpflichtet, auf deren familiären Rückhalt und Zuspruch ich immer vertrauen kann. Münster/Augsburg, im Februar 2013

Raphael Koch

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI §  1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil  1

Grundlagen §  2 Relevanz der Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . 23 §  3 Rechtsvergleichende Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 §  4 Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Teil  2

Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht: Parteivortrag und richterliche Prozessleitung als Mittel zur Aufklärung §  5 Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 97 §  6 Grenzen der Hoheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Teil  3

Information und Offenlegung §  7 Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten . . . . . . 129 §  8 Entwicklung einer prozessualen Verwirklichung der Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz . . . . . . . . . . . 185

X

Inhaltsübersicht

§  9 Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Teil  4

Beweiserleichterungen §  10 Gesetzliche Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 §  11 Richterrechtliche Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . 291 Teil  5

Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts als Anreizsystem und als Mechanismus des Interessenausgleichs §  12 Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung . . . . . . . . . . 327 §  13 Gesetzgeberische Risikozuweisung über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Teil  6

Schluss §  14 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 §  15 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX §  1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1. Die rechtliche und rechtspolitische Perspektive: Die Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage . . . 3 2. Die ökonomische Perspektive: Die Steuerungswirkung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3. Die Gemengelage aus materiellrechtlicher und prozessualer Mitwirkung der Parteien sowie der Reduktion der Darlegungs- und Beweisanforderungen . . . . . . . . . . . 7 II. Wertungsgesichtspunkte zur Konkretisierung der Mit wirkungsverantwortung der Parteien und der Darlegungs und Beweisanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht . . . . 10 a) Einfluss des Prozessrechts auf das materielle Recht . . 11 b) Materialisierung des Zivilprozessrechts . . . . . . . . . 13 2. Wechselwirkungen zwischen Mitwirkung und Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Ansätze zur Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Die Bereinigung der Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Bedeutung des Verfahrensrechts vor dem europäischen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Kernfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil  1

Grundlagen §  2 Relevanz der Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Anforderungen an den Parteivortrag und damit verbundene Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Klageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Hauptverhandlung und schriftsätzliche Vorbereitung . . . 25 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Das System der Risikozuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Behauptungs- und Beweisbedürftigkeit . . . . . . . . . . . 27 a) Nicht bestrittene Behauptungen und zugestandene Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Offenkundige Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 aa) Offenkundigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 bb) Behauptungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 cc) Gegenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Objektive Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Subjektive Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 c) Konkrete Beweisführungslast . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Behauptungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Objektive und subjektive Behauptungslast . . . . . . . 36 b) Abstrakte und konkrete Behauptungslast . . . . . . . . 37 4. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5. Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Vollbeweis als Regelbeweismaß . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 6. Beweiserleichterungen und Beweislastumkehr . . . . . . . 42 7.  Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 §  3 Rechtsvergleichende Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Klageerhebung und pretrial . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Sinn und Zweck der pretrial discovery . . . . . . . . . . . . 48 3. Instrumente der pretrial discovery im Einzelnen . . . . . . 49 4. Risiken der pretrial discovery und Gegenmaßnahmen . . . 50 5. Grenzen der pretrial discovery . . . . . . . . . . . . . . . . 52 a) Privileges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Protective orders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen gegenüber dem Prozessgegner . . . . . . . . . . . . . . . 53 6. Folgen einer Mitwirkungsverweigerung . . . . . . . . . . . 56 7.  Fazit zum US-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . 56 II. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Woolf-Reforms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Disclosure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Grenzen der disclosure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

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XIII

4. Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen . . . 61 5. Search order (Anton-Piller-Order) . . . . . . . . . . . . . . 62 6. Fazit zum englischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Materielle richterliche Prozessleitung . . . . . . . . . . . . 65 2. Vorlagepflichten der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Beweiserhebung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . 66 4. Weigerungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6. Fazit zum österreichischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Materielle richterliche Prozessleitung . . . . . . . . . . . . 69 2. Verhandlungsgrundsatz als Ausgangspunkt . . . . . . . . . 70 3. Tatsachenfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Mitwirkungslasten und -pflichten . . . . . . . . . . . . . . 71 5. Weigerungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6. Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen . . . 72 7.  Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 8. Fazit zum Schweizer Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien . . . . . . 75 2. Reichweite der Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . 76 3. Risiken und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Sanktionsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Fazit zur Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

§  4 Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 I. Ansätze im europäischen Zivilprozessrecht: Der Storme-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Offenlegungspflichten der Parteien . . . . . . . . . . . . . 82 2. Offenlegungspflichten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Principles of Transnational Civil Procedure . . . . . . . . . . . 84 1. Richterliche Prozessleitung und Verhandlungsgrundsatz . 85 2. Zugang zu Informationen und Beweismitteln . . . . . . . . 85 3. Sanktionen bei verweigerter Mitwirkung und Kostentragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Internationale Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 87 IV. Die Enforcement-Richtlinie und ihre Umsetzung . . . . . . . 90

XIV

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1. Beweismittelvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Beweissicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Recht auf Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Teil  2

Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht: Parteivortrag und richterliche Prozessleitung als Mittel zur Aufklärung §  5 Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 97

I. Inhalt und Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes . . . . 98 II. Gerichtliche Erörterungs- und Hinweispflicht . . . . . . . . . 102 III. Beweiserhebung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Mitwirkungsverantwortung der Parteien . . . . . . . . . . . . 106 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

§  6 Grenzen der Hoheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Pflicht zur Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Legitimation eines unwahren Tatsachenvortrags . . . . . . 112 a) Neuregelung der Rechtsbeziehung durch die Parteien . 113 aa) Bindung des Gerichts an übereinstimmende Rechtsauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 bb) Prozessökonomische Vorteile . . . . . . . . . . . . 116 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Zulässigkeit der Beendigung des Verfahrens durch Klagerücknahme, Erledigungserklärung und Prozess vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Zulässigkeit von Anerkenntnis und Verzicht . . . . . . 118 d) Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . 119 e) Wirkung der gerichtlichen Entscheidung . . . . . . . . 119 3. Bindung der Parteien und des Gerichts an wahrheitswidrigen Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Unzulässige Erklärung mit Nichtwissen . . . . . . . . . . . . 123 1. Erkundigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Eigener Organisationsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

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4. Folge der unzulässigen Erklärung mit Nichtwissen . . . . 126 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Folgerungen für die Aufklärung und Mitwirkung . . . . . . . 127 Teil  3

Information und Offenlegung §  7 Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten . . . . . . . 129 I. Materiellrechtliche Ansprüche zur Überwindung von Informationsdefiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Besondere gesetzlich geregelte Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Die Wahrnehmung der Interessen einer anderen Partei 131 b) Eingriff in einen anderen Rechtskreis . . . . . . . . . . 132 c) Klärung des Anspruchsinhalts oder bestehender Einwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Sicherung eines Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 e) Informationsrechte aus besonderem sozialen Kontakt . 134 aa) §  809 Var. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) §  810 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (1) Urkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (2) Zweck oder Inhalt der Urkunde . . . . . . . . . 137 (3) Rechtliches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . 138 (4) Anspruchsgegner . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (5) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben . . . . . . . . 140 a) Rechtliche Sonderverbindung . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Entschuldbare Ungewissheit über den Umfang des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Keine Möglichkeit der Beschaffung auf zumutbare Weise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 d) Möglichkeit und Zumutbarkeit der Auskunft . . . . . . 142 e) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Durchsetzung der materiellrechtlichen Informations ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten . . . . . 146 1. Modifikation der Substantiierungslast . . . . . . . . . . . . 147 a) Voraussetzungen und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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c) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Pflicht zur Vorlage nach §§  422 ff. ZPO . . . . . . . . . . . 151 a) Vorlegungspflicht des Gegners nach bürgerlichem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Vorlegungspflicht des Gegners bei Bezugnahme . . . . 151 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO . . . 152 a) Diskussionen im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . 153 b) Vorgeschlagene Einschränkungen . . . . . . . . . . . . 154 aa) Beschränkung auf Funktion der materiellen Prozessleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Übertragung der Voraussetzungen des Urkunden beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 c) Voraussetzungen der Vorlageanordnung . . . . . . . . . 159 aa) Das Ausforschungsverbot . . . . . . . . . . . . . . 159 (1) Bestimmtheit der Tatsachenbehauptung und des Beweismittels . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (2) Behauptungen »ins Blaue hinein« . . . . . . . . 161 (3) Offene Ausforschung . . . . . . . . . . . . . . . 162 (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Substantiierter Tatsachenvortrag . . . . . . . . . . 163 (1) Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . 163 (2) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 cc) Bestimmte Bezeichnung der Urkunde . . . . . . . 166 dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 d) Grenzen der Anordnungsbefugnis . . . . . . . . . . . . 171 aa) Richterliche Ermessensausübung . . . . . . . . . . 171 bb) Ermessensreduzierung auf Null . . . . . . . . . . . 172 cc) Ausnahmecharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 e) Rechtsfolgen bei Nichterfüllung . . . . . . . . . . . . . 174 f) Rechtsmittel gegen Vorlageanordnung oder unterlassene Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 g) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Ergebnis zu den prozessualen Aufklärungspflichten . . . . 177 III. Würdigung: Der Fortentwicklungsbedarf . . . . . . . . . . . . 177 1. Verbleibende Unzulänglichkeiten und Fortentwicklungs optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Materiellrechtliche und prozessuale Lösung im Vergleich . 178 a) Primat des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Gleichlauf der inner- und außerprozessualen Rechtslage 179

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c) Grenzen materiellrechtlicher Ansprüche . . . . . . . . 180 d) Prozessuale Lasten- und Pflichtenbegründung . . . . . 180 e) Flexibilität und Einheitlichkeit der prozessrechtlichen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 f) Möglichkeit zur innerprozessualen Sanktionierung . . 182 3. Lehren aus der rechtsvergleichenden Umschau und den Harmonisierungsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4. Ergebnis: Fortentwicklung prozessualer Instrumente . . . 184 §  8 Entwicklung einer prozessualen Verwirklichung der Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz . . . . . . . . . . . . 185 I. Erweiterung der Mitwirkungsverantwortung: Einführung einer sekundären Mitwirkungsverantwortung . . . . . . . . . 185 1. Erweiterung der sekundären Behauptungslast . . . . . . . 186 a) Einführung einer sekundären Vorlegungslast . . . . . . 186 b) Grenzen einer sekundären Vorlegungslast . . . . . . . . 187 c) Gesetzgeberischer Handlungsbedarf . . . . . . . . . . . 188 2. Auskunft über Existenz von Urkunden . . . . . . . . . . . 189 a) Einführung einer sekundären Informationslast . . . . . 189 b) Grenzen einer sekundären Informationslast . . . . . . . 190 3. Abstimmung der Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO mit dem Urkundenbeweis nach §§  422, 423 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4. Parteivortrag als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Weigerungsrechte und Privilegien im Prozess . . . . . . . . . 194 1. Prozessualer Geheimnisschutz de lege lata . . . . . . . . . 195 a) Geheimnisschutz durch den Ausschluss der Öffent lichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Geheimnisschutz für die Parteien und Dritte . . . . . . 196 aa) Geheimnisschutz Dritter . . . . . . . . . . . . . . . 197 (1) Sachliches Zeugnisverweigerungsrecht nach §  384 Nr.  3 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . 198 (2) Persönliches Zeugnisverweigerungsrecht nach §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO . . . . . . . . . . . 198 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 bb) Geheimnisschutz der Prozessparteien . . . . . . . 200 (1) Hintergrund des Fehlens eines expliziten Geheimnisschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (2) Keine entsprechende Anwendung der Zeugnisverweigerungsrechte . . . . . . . . . . 200

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(3) Ausnahmsweise zu gewährender Geheimnisschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (4) Auswirkungen für die Parteien . . . . . . . . . 202 (5) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Schützenswerte Sphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse . . . . . . . . . . . 205 b) Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts . . 208 bb) Wirkung im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 209 c) Beziehung zwischen Anwalt und Mandant . . . . . . . 210 aa) Strafprozessualer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Schutz im Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . 211 cc) Zivilprozessuale Wertungen . . . . . . . . . . . . . 212 d) Gefahr strafrechtlicher Verfolgung . . . . . . . . . . . . 214 aa) Strafprozessualer Schutz . . . . . . . . . . . . . . . 215 bb) Zivilprozessuale Wertungen . . . . . . . . . . . . . 215 cc) Verfassungsrechtliche Wertung . . . . . . . . . . . 216 dd) Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . 218 e) Öffentliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 III. Umsetzung des Geheimnisschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Mögliche Regelungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Materielles Recht als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Prozessuale Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 aa) Erkenntnisse aus der rechtsvergleichenden Umschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (1) USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (2) England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (3) Zürcherische und Schweizerische Zivilprozess ordnung als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . 225 bb) Anerkennung von Geheimhaltungsinteressen in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts . 227 (1) Mittelbare Beweisführung . . . . . . . . . . . . 227 (2) Kritik an der Entscheidung . . . . . . . . . . . 228 (3) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 cc) Geheimverfahren in der obergerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 dd) Das Düsseldorfer Verfahren in Patentrechts streitigkeiten als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . 232 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

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2. Geheimhaltung und der Anspruch auf rechtliches Gehör . 235 a) Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung . . . . . . . . 236 b) Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . 238 c) Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . 238 d) Sichtweise des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . 239 e) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Dogmatische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei . . 240 b) Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei . . . . . . 242 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Umsetzung der Geheimhaltung . . . . . . . . . . . . . . . 244 a) Verfahrensmäßige Behandlung . . . . . . . . . . . . . . 244 b) Zweistufiges Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Beteiligung und Einsichtnahmerecht des Anwalts . . . 247 d) Geheimhaltung im Urteil und vollstreckungsfähiger Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 e) Selbstständige Anfechtung der Vorlageanordnung . . . 249 f) Vorgelagerte Zeitpunkte des Geheimnisschutzes . . . . 250 5. In camera-Verfahren als ultima ratio . . . . . . . . . . . . . 251 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 IV. Sanktionsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 §  9 Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. II. III. IV. V.

Standpunkt der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Standpunkt der herrschenden Literatur . . . . . . . . . . . . . 256 Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien . . . 257 1. Der Ansatz Stürners im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Zustimmende Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Lehren aus den Harmonisierungsbestrebungen und den vereinheitlichten Regelwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Würdigung im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse . . . . . 264 Teil  4

Beweiserleichterungen §  10 Gesetzliche Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

I. Glaubhaftmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Beweismaßreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

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3. Verfahrensbesonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Ausweitung auf andere Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 II. Beweiserleichterungen nach §  287 ZPO . . . . . . . . . . . . . 273 1. Ratio der Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 a) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 b) Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 c) Anwendungsbereich des §  287 Abs.  2 ZPO . . . . . . . 276 3. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Beweismaßsenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 b) Verfahrenserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4. Vorgebrachte Änderungsforderungen . . . . . . . . . . . . 279 a) Neufassung der Vorschrift aus Bestimmtheitsgründen 279 b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . . 280 aa) De minimis non curat praetor . . . . . . . . . . . . 280 (1) Definition der Kleinigkeit . . . . . . . . . . . . 281 (2) Missbrauchsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . 281 (3) Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . 282 (4) Unverhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . 284 (5) De minimis-Prinzip im materiellen Recht . . . 284 (6) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 bb) Anerkennung prozesswirtschaftlicher Erwägungen 286 cc) Materiellrechtliche Lösung als Alternative . . . . . 288 dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5. Lösungsvorschlag: Prozessuale Änderungen zur Berück sichtigung verfahrenswirtschaftlicher Gründe . . . . . . . 290 §  11 Richterrechtliche Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . 291 I. Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr . . . . . 291 II. Anscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Voraussetzungen und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Erfahrungssätze als Grundlage des Anscheinsbeweises: Notwendige Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Zwingende Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Erfahrungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 c) Einfache Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Gegenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a) Keine Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c) Meinungsstand im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . 301

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d) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 III. Tatsächliche Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Die Verwendung tatsächlicher Vermutungen durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Umkehr der Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 aa) Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit . . 307 bb) Vermutung der Ursächlichkeit . . . . . . . . . . . . 308 cc) Vermutung für Wiederholungsgefahr . . . . . . . . 309 dd) Widerlegbare Vermutung bei Nichteinhaltung von DIN-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 IV. Beweisvereitelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Die flexible Lösung der Rechtsprechung: Beweis erleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr . . . . . 315 b) Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 c) Umkehr der konkreten Beweisführungslast . . . . . . . 315 d) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 e) Beweismaßsenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 f) Wahrunterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 g) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Materiellrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Prozessrechtlicher Grundsatz von Treu und Glauben . 319 c) Prozessrechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 V. Beweismaßsenkung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . 323 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

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Teil  5

Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts als Anreizsystem und als Mechanismus des Interessenausgleichs §  12 Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung . . . . . . . . . . 327 I. Anforderungen an die Kausalität: Nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 II. Voraussetzungen einer Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 III. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 §  13 Gesetzgeberische Risikozuweisung über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 I. Überblick und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 II. Gesetzliche Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 1. Widerlegbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 a) Unwiderlegbare Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Widerlegbare Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Vermutungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Tatsachenvermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 b) Rechts(zustands)vermutungen . . . . . . . . . . . . . . 336 3. Dogmatische Einordnung der gesetzlichen Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 a) Beweisregel oder Beweislastregel . . . . . . . . . . . . . 338 b) Behauptungslast des Vermutungsbegünstigten . . . . . 339 4. Hinweispflicht des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 III. Fiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 IV. Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Risikozuweisung über Vermutungen . . . . . . . . . . . . . 343 2. Zulässigkeit und Grenzen der Anordnung von Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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XXIII

Teil  6

Schluss §  14 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 I. Reform des Zivilprozessrechts: Neue Wege zur Feststellung des Sachverhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 II. Vorzüge des Prozessrechts – Ergänzungen im materiellen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 III. Verhandlungsgrundsatz und richterliche Prozessleitung im Einklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Geleiteter Verhandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Beweisantragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 3. Sozialer Zivilprozess und sporting theory of justice . . . . 350 4. Maximendenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 IV. Einbettung der Mitwirkungsverantwortung . . . . . . . . . . 352 V. Verfahrensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Verfahrensökonomie als Zielgedanke: Zweckmäßige Gestaltung und Durchführung des Verfahrens . . . . . . . 353 2. Effizienz durch Parteiverantwortung . . . . . . . . . . . . 355 3. Gesetzgeberische Risikozuweisung . . . . . . . . . . . . . 356 §  15 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

I. Konkrete Änderungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 II. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

§  1  Einleitung Der Zivilprozess dient der Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte.1 Der Einzelne kann seine Rechte grundsätzlich nicht im Wege der Selbsthilfe durchsetzen, darf aber als Ausgleich auf den Staat vertrauen, der das Gewaltmonopol beansprucht und die Wege und Mittel zur Durchsetzung der Rechte vorgibt.2 Ohne die Rechtsverwirklichung mithilfe staatlicher Gerichte kann das subjektive Recht wertlos sein.3 Bezweckt der Zivilprozess die Gewährung der subjektiven Rechte,4 indem er einen privaten Interessenkonflikt der Parteien nach rechtlichen Kriterien löst,5 bedeutet das allerdings nicht, dass sich die objektive (materielle) Rechtslage immer durchsetzt. Die objektive Rechtslage und das Ergebnis des Prozesses können voneinander abweichen, wenn das Gericht nicht über vollständige Tatsachenkenntnis verfügt. Der Ausgang des Prozesses hängt von dem Sachverhalt ab, von dem das Gericht ausgeht. 6 Das objektiv richtige Ergebnis eines Rechtsstreits wird nur erreicht, 7 wenn der Sach1   BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828; BGHZ 18, 98, 106 = NJW 1955, 1513, 1514; Savigny, §  204, 2: Das Klagerecht ist das subjektive Privatrecht im Zustand seiner »Verteidigung«; Boehmer, S.  94 ff.; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  8 ; ähnlich Gaul AcP 168 (1968), 27, 46 ff.; Roth JZ 2009, 194. Darüber hinaus dient der Zivilprozess der Bewährung und Fortbildung des objektiven Rechts sowie der Herstellung des Rechtsfriedens, doch sind dies nachrangige Gesichtspunkte; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  1 Rn.  9 f.; Habscheid ZZP 81 (1968), 175, 189; Rüthers JZ 2008, 446, 447; Unberath ZZP 120 (2007), 323, 332 f.; ausführlich dazu E. Schmidt, S.  12 ff.; a. A. noch Schönke, S.  13 f., der den Zweck des Zivilprozesses im Interesse der Allgemeinheit in dem Schutz des objektiven Rechts und der Wahrung des Rechtsfriedens sieht, nicht hingegen in der Durchsetzung der Rechte des Einzelnen. In Sondermaterien kann der Zivilprozess auch öffentliche Interessen verfolgen, etwa bei Verbandsklagen nach dem Unterlassungsklagengesetz oder dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Generell kritisch zur Verwirklichung der Funktionen: Stahlmann, S.  69 ff. 2   Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  5, 9; Habscheid ZZP 96 (1983), 306, 307. In umgekehrter Richtung dient der Prozess der Abwehr unberechtigter Ansprüche; Boehmer, S.  94. 3   Zur dienenden Funktion und Durchbrechung: Zöllner AcP 190 (1990), 471, 477 ff. 4   Freilich gibt es verschiedene Konstellationen, in denen sich das materielle Recht nicht durchsetzt, wie etwa im Falle der Präklusion oder der Säumnis; Spickhoff, S.  18. 5   Zu Gerichtsverfahren als Mechanismus zur Bereinigung sozialer Konflikte: Hagen ZZP 84 (1971), 385, 390; Stahlmann, S.  9 ff. 6   Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  25; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 36. 7   Einschränkend ist insoweit zu betonen, dass die Regelungen der Beweislast nach allgemeiner Ansicht zum Recht der Materie gehören und es sich deswegen bei einer Beweislastentscheidung um eine materiell korrekte Entscheidung handelt; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  78 f.; Baumgärtel, in: FS Habscheid, S.  1, 3. Mit der objektiven Rechtslage ist hier die rechtliche Einordnung unter Kenntnis aller relevanten tatsächlichen Umstände gemeint.

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§  1  Einleitung

verhalt, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, dem Richter zur Kenntnis gebracht wird und dieser das Recht anwendet: da mihi factum, dabo tibi ius. Die Rechtsanwendung ist originäre Aufgabe des Gerichts, und zwar umfassend und in alle denkbaren Richtungen. 8 Das Gericht kennt das Gesetz: iura novit curia.

I. Problemstellung Die Sachverhaltskenntnis kann schwierig sein, wenn es nachträglich nicht mehr möglich ist, einen bestimmten Geschehensablauf zu rekonstruieren. Möglicherweise muss das Gericht einen hypothetischen Geschehensablauf bewerten, der weder durch die Parteien noch durch Sachverständige aufklärbar ist. Bei Schadensereignissen mag die Kausalität eines Umstands für den Eintritt des Schadensereignisses nicht bestimmt werden können. Eine Ereignisrekonstruktion aufgrund der Vielzahl der betroffenen Personen samt ihrer Rechte und Rechtsgüter ist nicht mehr möglich.9 In der Regel geht es dabei um Haftungsansprüche, die prozessual durchgesetzt werden sollen, d. h. zum Beispiel die Fälle der Produzenten- bzw. Produkthaftung, der Arzthaftung und der Haftung wegen Aufklärungs- und Beratungspflichtverletzungen.10 Denkbar ist, dass lediglich eine Partei durch Preisgabe von Informationen oder Urkundenvorlage zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen kann, doch hat diese Partei daran kein Interesse, weil die Preisgabe für sie den Prozessverlust bedeuten würde. Solche Schwierigkeiten können sich im vertraglichen Bereich ergeben, falls eine Partei im Besitz von Unterlagen ist, die der anderen Partei nicht zugänglich sind. Eine Partei kann ihrer Behauptungslast deshalb gegebenenfalls nicht genügen, weil sie auf Informationen außerhalb ihrer Sphäre angewiesen ist. Auch kann es sein, dass sie sich an den relevanten Lebenssachverhalt nicht mehr erinnern kann. Die Durchsetzung materiellen Rechts wird mangels Informationen zur Substantiierung der Klage oder aufgrund fehlender Beweismöglichkeiten erschwert. Der Justizgewährungsanspruch verlangt als Ausgleich für das staatliche Gewaltmonopol die Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Effektivität bedeutet tatsächlich wirksamen Rechtsschutz entsprechend der materiellen Rechtslage. Das beinhaltet eine Entscheidung auf der Grundlage des tatsächlichen Sachverhalts.11 Der Richter muss allerdings auch eine Entscheidung treffen, wenn sich   Becker-Eberhard, in: MünchKommZPO, §  253 Rn.  76.   Siehe dazu von Bar, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 9 ff., für die Problematik bei Massenschäden. 10   Katzenmeier ZZP 117 (2004), 187. In Haftungsprozessen resultieren die Schwierigkeiten aus den Risikopotentialen und multikausalen Schädigungen, die die industrialisierte Welt mit sich bringt; siehe auch Baumgärtel, in: FS Fasching, S.  67. Ausführlich zur Arzthaftung: Katzenmeier, S.  377 ff. 11   BVerfGE 84, 59, 77 = NJW 1991, 2008, 2010 – Mulitple-Choice-Verfahren; BGHZ 37, 113, 120 = NJW 1962, 1291, 1292; ausführlich Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  284 ff.; Ro8 9

§  1  Einleitung

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der Sachverhalt nicht aufklären lässt. Die Ablehnung einer Entscheidung wäre ein Verstoß gegen das Rechtsverweigerungsverbot des Art.  6 Abs.  1 EMRK.12 Ob die Wahrheitsfindung selbst Zweck des Zivilprozesses ist, ist umstritten. Die herrschende Ansicht lehnt die Wahrheitsfindung als Prozesszweck ab.13 Eine Geringschätzung ist damit jedoch nicht verbunden. Sie bleibt eine wesentliche (Zwischen-) Aufgabe des Zivilprozesses, weil sie jedenfalls dem Individualrechtsschutz dient.14 Aus diesem Grund ist im Zivilprozess von entscheidender Bedeutung, wie der Sachverhalt ermittelt wird.15 1.  Die rechtliche und rechtspolitische Perspektive: Die Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage Aus einer nicht vollständig erfolgten Aufklärung folgt, dass die Gerechtigkeit der Entscheidung für die Parteien ungewiss ist, weil die materielle Richtigkeit dem Zufall überlassen bleibt. Den Ausgang des Prozesses bestimmt die Beweislastverteilung (non liquet-Entscheidung16). Die Entscheidung erfolgt nach Recht und Gesetz und ist insoweit »richtig«. Ihr liegt eine materielle Gerechtigkeitsüberlegung zugrunde. Aufgrund dieser Regeln wird die Entscheidung für die Parteien voraussehbar.17 Die Erkenntnisse des Gerichts führen zu einer formellen Wahrheit – mit der Konsequenz einer nur formalen Beendigung des Streits.18 Beweist eine Partei eine Tatsache nicht, für die ihr die Beweislast obliegt, hat dies unter Umständen zur Folge, dass das Urteil zu ihren Ungunsten erlassen wird, obwohl sie materiell Recht hatte.19 Einzelfallgerechtigkeit kann über solche Entscheidungen nicht hergestellt werden. senberg/Schwab/Gottwald, §  3 Rn.  1 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  43; Habscheid ZZP 96 (1983), 306, 308. 12   Prütting, S.  58 f. 13   Brehm, S.  28; Grunsky, S.  4 ; Rosenberg, Beweislast, S.  66; Heinze, in: FS Beys, S.  515, 523 ff.; Leipold, in: FS Nakamura, S.  301, 318 ff.; Reischl ZZP 116 (2003), 81, 89; differenzierend Larenz, S.  307; a. A. Stürner, Aufklärungspflicht, S.  48 ff.; siehe auch schon Pagenstecher, S.  145 ff., 302 ff. 14   Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  25; Bosch, S.  13: Beweisrecht als »Rückgrat des Prozesses«; Habscheid ZZP 96 (1983), 306: »Das Recht auf den Beweis«. 15   Böhm, in: Ius Commune VII, S.  136, 143: »Gerade für die Herausbildung des modernen Zivilprozesses und seiner Grundstruktur gibt indes kaum ein Thema mehr Aufschluß als die Art der Stoffsammlung und die dafür leitenden Gesichtspunkte.« 16  Objektiv besteht ein Informationsdefizit; siehe dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  17 (im Rahmen des Anscheinsbeweises). 17   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  42; Baumgärtel, in: FS Fasching, S.  67; ders., in: FS Habscheid, S.  1, 3. 18   Greger JZ 2000, 842, 847; Unberath ZZP 120 (2007), 323, 324; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  6 : nur gradueller Unterschied zwischen formeller und materieller Wahrheit; kritisch zu dem Begriff der formellen Wahrheit Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  152, der wohl eher von einer relativen Wahrheit sprechen möchte. Siehe auch den Vergleich zum englischen Recht bei Zuckerman, para. 2.190. 19   Zur Problematik Greger, S.  1; Arens, in: FS Müller-Freienfels, S.  13 ff.

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§  1  Einleitung

Rechtspolitisch ist eine Vermeidung von non liquet-Entscheidungen wünschenswert. Entscheidungen auf sicherer Tatsachengrundlage dürften in der Bevölkerung eine größere Akzeptanz genießen.20 Ziel eines Prozesses ist die Übereinstimmung formeller und materieller Wahrheit, jedenfalls sind größtmögliche Schnittmengen zu erreichen. Darin zeigt sich die Qualität des Prozesses und übergeordnet der Rechtspflege insgesamt.21 Das Gewaltmonopol des Staats ist nur zu rechtfertigen, wenn ein begründetes Vertrauen im Hinblick auf die Wege und Mittel zur Durchsetzung der Rechte besteht. Schließlich wird vorgebracht, dass die Ermittlung der Tatsachen deswegen eine größere Bedeutung erlangt habe, weil das Rechtsmittelrecht geändert wurde.22 Eine Überprüfung der festgestellten Tatsachen in der Berufungsinstanz erfolgt nur noch bei konkreten Zweifeln an ihrer Richtigkeit oder Vollständigkeit (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO).23 §  529 ZPO ist ein Kernelement der Ausgestaltung des neuen Berufungsverfahrens, welches nicht mehr einer Wiederholung der Tatsacheninstanz, sondern insoweit lediglich der Fehlerkontrolle und -beseitigung dient.24 Die grundsätzliche Bindung des Berufungsgerichts an die Feststellungen der ersten Instanz erfordere ein einheitliches Verfahren im Hinblick auf die Feststellung der Tatsachen. Nur dann sei die Beschränkung der Berufungsinstanz zu rechtfertigen.25 Der Gesetzgeber begründet die Ausweitung der Sachverhaltsaufklärung mit einer zu erwartenden erhöhten Akzep  Laumen NJW 2002, 3739, 3743; Lepa DRiZ 1966, 112; Greger JZ 2000, 842, 847.   Unberath ZZP 120 (2007), 323, 324; siehe auch (für das englische Recht) Lord Woolf C. J., in: Jones v. University of Warwick [2003] EWCA Civ 151, [2003] 1 W. L. R. 954, 962: »It would be artificial and undesirable for the actual evidence, which is relevant and admissible, not to be placed before the judge who has the task of trying the case.« 22   Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I 2001, S.  1887 ff. 23  Zu den Berufungsgründen nach dem Zivilprozessreformgesetz Rimmelspacher NJW 2002, 1897 ff.; zur ökonomischen Analyse der Rechtsmittel G. Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  157 ff. 24   Siehe Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  61, 64, 100; Heßler, in: Zöller, §  529 Rn.  1; ausführlich Unberath ZZP 120 (2007), 323, 336; Beispiel für eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung in der ersten Instanz: BGHZ 162, 313 ff. = NJW 2005, 1583 ff. Freilich ist fraglich, ob es auch tatsächlich zu einer bemerkenswerten Änderung gekommen ist. Eine Tatsachenbindung besteht nicht, soweit konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine neue Feststellung gebieten; BGHZ 158, 269 = NJW 2004, 1876. Zweifel bejaht die Rechtsprechung bereits bei der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung, insbesondere wenn das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz; BGH NJW 2005, 1583, 1584; 2005, 1487; so auch BVerfG NJW 2003, 2524. Letztlich führen die geringen Anforderungen an konkrete Anhaltspunkte für Zweifel zur regelmäßigen Erneuerung der Beweisaufnahme in zweiter Instanz. Die Reformabsicht hat sich damit in ihr Gegenteil verkehrt; Greger NJW 2003, 2882, 2883; siehe auch Manteuffel NJW 2005, 2963 ff.; zur beschränkten Wirkung der Reform Nassall NJW 2012, 113, 115 f.; Stackmann NJW 2007, 9 ff. 25   Musielak, in: FG Vollkommer, S.  237, 238. 20 21

§  1  Einleitung

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tanz der Parteien.26 Die Forderungen nach einem vorhersehbaren Verfahren der Tatsachenfeststellung sind verständlich. Allerdings ist zu betonen, dass die grundsätzliche Bindung des Berufungsgerichts lediglich eine zusätzliche Erwägung sein kann, weil unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Rechtsmittelrechts Wert auf eine vollständige Tatsachenermittlung bereits in erster Instanz gelegt werden muss.27 Die Änderung des Rechtsmittelrechts ist vor diesem Hintergrund ein zusätzliches, freilich nicht das entscheidende Argument. 2.  Die ökonomische Perspektive: Die Steuerungswirkung der Rechtsprechung Entscheidungen auf unsicherer Tatsachengrundlage können falsche materielle Anreize setzen. Das materielle Recht soll eine Steuerungswirkung entfalten. Für einen Hersteller von Produkten besteht ein Anreiz, Vorkehrungen gegen Schadenseintritte zu treffen. Nimmt man an, der Eintritt eines Schadens (Wahrscheinlichkeit des Schadens sei 100%) in Höhe von 100 Euro lässt sich durch Vorkehrungen verhindern, die Kosten in Höhe von 80 Euro verursachen, ist ein ökonomischer Anreiz gegeben, die Schadensvorkehrungen zu treffen. Allerdings besteht dieser Anreiz nur, wenn die Rechtsprechung in entsprechender Weise urteilt. Sprechen die Gerichte (irrtümlich) aus, dass bereits durch Maßnahmen zu Kosten von 60 Euro der Sorgfaltsmaßstab eingehalten wird und dementsprechend eine Haftung abzulehnen ist, besteht für den Handelnden kein Anreiz, Schadensverhütungsmaßnahmen zu mehr als 60 Euro vorzunehmen.28 Freilich ist zu berücksichtigen – worauf Wagner 29 hinweist –, dass es für die Beteiligten nicht darauf ankommt, wie das Gericht ex post entscheidet, weil in diesem Zeitpunkt die Vorkehrungen bereits abgeschlossen sind. Entscheidend ist vielmehr die Perspektive ex ante, d. h. eine Antizipation einer eventuellen Gerichtsentscheidung. Es geht um eine Prognose der Rechtsprechung, weil der Beteiligte seine Handlungen so ausrichtet, dass sie dem Maßstab der künftigen Rechtsprechung genügen werden. Aus dieser ex ante-Betrachtung ergibt sich keineswegs die Unbeachtlichkeit der Rechtsprechung, sondern gerade ihre Bedeutung. Die Streitentscheidung dient ökonomisch dazu, das Verhalten der Handelnden in der Zukunft zu steuern.30 Die Rechtsprechung der Vergangenheit dient als Anhaltspunkt dafür, wie die Gerichte in Zukunft entscheiden werden. Idealiter entscheidet das Gericht so, wie das materielle Recht es verlangt.31 Die Verhaltensanreize werden richtig ge26   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  58 ff. 27  Ebenso Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1626. 28   Siehe zu dem Beispiel G. Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  157, 172. 29   G. Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  157, 172. 30   Eidenmüller, S.  397 ff.; Kirchner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  85, 87; Schmidtchen/Bier, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  51, 56; Unberath ZZP 120 (2007), 323, 325. 31   Eidenmüller, S.  400 ff.; G. Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  157, 172.

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setzt, wenn falsche Urteile vermieden werden, und zwar unabhängig davon, ob sie sich für eine Prozesspartei positiv oder negativ auswirken. Es kommt auf eine exakte Abbildung des materiellen Rechts in den Urteilen an. Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass rechtswidriges Verhalten nicht sanktioniert und rechtmäßiges Verhalten nicht honoriert wird, desto geringer ist der Anreiz zu normkonformem Verhalten. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind fehlerhafte Entscheidungen nachteilig, weil sie nicht nur der Einzelfallgerechtigkeit widersprechen, sondern zukünftiges Verhalten Dritter in eine ineffiziente Richtung lenken.32 Gerichtliche Irrtümer ergeben eine Fehlleitung künftigen Verhaltens, sodass Wohlfahrtseinbußen entstehen.33 Die Wahrscheinlichkeit falscher Urteile muss daher verringert werden, um die Verhaltensanreize richtig zu setzen. Erforderlich ist darüber hinaus ein hoher Grad an Vorhersehbarkeit, der aber nicht zu erreichen ist, wenn die Rechtsprechung im Einzelfall gewisse Beweis­ erleichterungen gewährt. Beweiserleichterungen wirken sich auf die Kalkulation von Unternehmen aus. Müssen Unternehmen mit einer Haftung rechnen, legen sie die Risiken auf die Produktpreise um.34 Das Risikomanagement verlangt eine sachgerechte Prognose schadensersatzrechtlicher Konsequenzen. Angestrebt werden muss eine klare materiellrechtliche Regelung mit einem vorhersehbaren prozessualen Verfahren. Die Steuerungswirkung der Rechtsprechung spricht somit entscheidend dafür, die Sachverhaltsaufklärung zu stärken. Richtige volkswirtschaftliche Anreize gehen nur von Entscheidungen aus, die auf Grundlage von »richtig« festgestellten Sachverhalten ergangen sind. Dementsprechend sollten im Prozess die unmittelbaren Wissensträger zur Mitwirkung herangezogen werden. Umfassende gegenseitige Mitwirkungspflichten vermindern das Beweis- und Irrtumsrisiko im Prozess. Müssen die Informationen bereits in einem frühen Zeitpunkt gegeben werden, können die Parteien die Prozesschancen einschätzen.35 Das wiederum kann zur einvernehmlichen Streitbeilegung beitragen. Die Steuerungswirkung kann verloren gehen, wenn die Rechtslage unklar ist, eine Partei das (Prozess-) Risiko deswegen nicht einschätzen kann und von einer Geltendmachung des Anspruchs absieht. Erschwert wird die Risikoeinschätzung durch die unübersichtliche Gewährung von Beweiserleichterungen. Aus Sicht der ökonomischen Analyse bewirken sowohl die Unvorhersehbarkeit der Recht-

32   Eidenmüller, S.  56; Friedl, S.  19 f.; Schmidtchen/Bier, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  51, 53; G. Wagner, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  157, 173. Grundlegend zur ökonomischen Analyse des Rechts Posner, passim; zur Sozialwohlfahrt Schäfer/Ott, S.  11 ff.; Posner, §  1.2. 33   Posner, §  21.1; Schmidtchen/Bier, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  51, 53; 34   Schäfer/Ott, S.  194 ff.; vgl. auch G. Wagner ZEuP 2007, 180, 207 ff. Zusammenfassung der Meinungen zu der Aufgabe von Haftungsregeln aus ökonomischer Sicht bei Adams, S.  17 ff. 35   Gottwald, in: FS Fasching, S.  181, 185 f.

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sprechung als auch »Fehlurteile« eine Verzerrung der Verhaltensanreize des materiellen Rechts.36 3.  Die Gemengelage aus materiellrechtlicher und prozessualer Mitwirkung der Parteien sowie der Reduktion der Darlegungs- und Beweisanforderungen Das (Prozess-) Recht muss bestrebt sein, Mittel und Wege zur Verfügung zu stellen, um eine vollständige Sachverhaltsaufklärung zu gewährleisten. Das Zivilprozessrecht stellt jedoch den Parteien im Grundsatz keine Mittel bereit, sich vor Prozessbeginn Informationen für die Klage bzw. die Verteidigung zu beschaffen, sondern setzt erst bei der Beweiserhebung über Tatsachenbehauptungen an.37 Dies führt für die Substantiierung der Klage oder der Verteidigung sowie in der Beweisführung zu Schwierigkeiten, wenn Tatsachen im Einflussbereich des Gegners nicht bekannt sind und dementsprechend nicht vorgetragen werden können. Eine Beweisführung ist nicht möglich. Reine Ausforschungs- oder Beweisermittlungsanträge sind nach allgemeiner Ansicht de lege lata nicht zulässig.38 Die Gerichte können zu einer Überzeugung von der Wahrheit der tatsächlichen Behauptungen (§  286 Abs.  1 S.  1 ZPO) häufig nicht gelangen, auch nicht bei Ausschöpfung aller objektiv-rationalen Erkenntnisquellen.39 Die Rechtsprechung bezeichnet die Hindernisgründe als Defizite des Rechts, weil materielle Berechtigung und prozessuale Durchsetzbarkeit auseinanderfallen. Das Gebot der Waffengleichheit, welches dem Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG) und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art.  3 Abs.  1 GG) entspringt, erfordere eine Korrektur dieses Befunds. Im Zivilprozess ist das Gebot der Waffengleichheit zu verstehen »als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter, der – auch im Blick auf die grundrechtlich gesicherte Verfahrensgarantie aus Art.  103 Abs.  1 GG – den Prozeßparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen hat, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen.«40   Eidenmüller, S.  400 ff.; Jacoby, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  229 ff.   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  2. 38   BGH NJW-RR 1994, 377, 378; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  5 ff.; Katzenmeier JZ 2002, 533, 534. 39   Katzenmeier ZZP 117 (2004), 187. 40   BVerfGE 52, 131, 156 = NJW 1979, 1925, 1927 – Arzthaftung (es handelte sich um eine 4:4-Entscheidung, wobei die Frage der Waffengleichheit im Grundsatz gleich beurteilt wurde; Unterschiede ergaben sich in der Beurteilung der konkreten Auswirkungen des Verfassungsrechts auf das zivilprozessuale Verfahren und die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben). Zustimmend das Schrifttum, siehe etwa Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  115; Vollkommer, in: FS Schwab, S.  503, 508 ff. Das Gebot der Waffengleichheit ist darüber hinaus durch die EMRK gewährleistet; insoweit folgt es aus dem Recht auf ein faires 36 37

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Um zu verhindern, dass das materielle Recht in einer Vielzahl von Fällen nicht durchgesetzt werden kann, bedient sich die Rechtsprechung verschiedener Institute, die zum Teil ausdrücklich im Gesetz vorgesehen sind und teilweise von ihr entwickelt wurden: Modifikation der Substantiierungslast, Informationsansprüche und Aufklärungspflichten (Urkundenvorlagepflichten), Gewährung von Beweiserleichterungen und Vornahme einer Beweislastumkehr, Rückgriff auf Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln. Die Rechtsprechung ist von dem Versuch geprägt, jeweils Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen, worunter jedoch die Vorhersehbarkeit leidet. Deutlich wird das an der von der Rechtsprechung geprägten Formulierung »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr«41, auch wenn die Rechtsprechung in jüngerer Vergangenheit von dieser Formulierung (teilweise) Abstand genommen hat.42 Die Rechtsprechung zieht zwischen den einzelnen Instituten mitunter keine klaren Grenzen und lässt nicht erkennen, welche »Beweiserleichterung« angewendet wurde.43 Der BGH hält an dem Grundsatz fest, dass das Bestehen von Auskunftsansprüchen eine »Frage des materiellen Rechts« sei; ebenfalls wird konstatiert, dass das materielle Recht – von Ausnahmevorschriften abgesehen – keine allgemeine Auskunftspflicht enthalte, und es »nicht Aufgabe des Prozessrechts [sei], sie einzuführen«.44 Zugleich bedient sich die Rechtsprechung aber unterschiedlicher prozessualer Hilfsmittel zur Unterstützung der nicht risikobelasteten Prozesspartei.45 Dabei entwickelt der BGH prozessuale Informationsbeschaffungspflichten, die der Sache nach als anerkannt anzusehen sind, obwohl das Gericht sie im Grundsatz ablehnt.46 Weil ihre Bedeutung geleugnet wird, hat sich eine dogmatische Grundlage nicht herausgebildet. Vielmehr werden im Einzelfall Begründungen gesucht, die eine Abweichung von bestimmten Grundsätzen (angeblich) nicht erfordern, obwohl tatsächlich eine Abweichung Verfahren (Art.  6 Abs.  1 EMRK); EGMR, Urteil vom 27.10.1993, No.  14448/88, Serie A Nr.  274, Rn.  33 = NJW 1995, 143 – Dombo Beheer B. V./Niederlande. 41   BGHZ 72, 132, 136 = NJW 1978, 2337, 2338; NJW 1972, 1520. 42   BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012 f. 43   Aus diesem Grunde kritisch Stoll AcP 176 (1976), 145, 147 f., der aber andererseits auch feststellt, dass »die Vielgestaltigkeit der Haftungsprobleme [.  .  .] zur ständigen Verfeinerung des Haftungsrechts und zu seiner Anpassung an neue Bedürfnisse« nötige; siehe auch Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  129; Laumen NJW 2002, 3739 ff. 44   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 45   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 460. Übersicht über die Informationsbeschaffung im Zivilprozess bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  7 ff. 46   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 467; ähnlich Greger JZ 2000, 842, 846; siehe auch Lange NJW 1990, 3233: »Nicht wenige Beweisaufnahmen in unseren Zivilprozessen dienen nicht eigentlich dazu, dem Gericht ›die Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung zu verschaffen‹, sondern eher dazu, die für die sachgerechte Beurteilung notwendigen Einzelheiten eines nur sehr pauschal vorgetragenen Sachverhalts zu ermitteln [.  .  .].«; Katzenmeier JZ 2002, 533, 535 (mit dem Hinweis, dass die Rechtsfolgen hinter einer allgemeinen Aufklärungspflicht zurückblieben); ebenfalls Adloff, S.  179.

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stattfindet. In der Sache könnte mithin bereits eine Annäherung der Sichtweise des BGH und der Befürworter einer prozessualen Lösung stattgefunden haben. Anschaulich verdeutlicht das eine Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2004.47 Inhaltlich geht es um die Ersparnis von Aufwendungen als Voraussetzung der Anrechnungspflicht nach §  324 Abs.  1 S.  1 BGB a. F. (entspricht §  326 Abs.  2 S.  2 BGB n. F.). Dazu führt der BGH aus, die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Schuldner Aufwendungen erspart hat, trage der Gläubiger. Dies ergebe sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Verteilung der Darlegungslast, nach denen jede Partei die ihr günstigen Tatsachen darzulegen habe, sowie der Systematik der gesetzlichen Regelung, nach der die Anrechnung als Einrede ausgestaltet sei. Die Gläubigerin hatte jedoch keinen Einblick in die Kalkulation der Schuldnerin, sodass sie die Voraussetzungen der Anrechnungspflicht nicht schlüssig darlegen konnte. Der BGH sieht als Ausweg aus diesem (prozessualen) Dilemma der Gläubigerin die sog. sekundäre Darlegungslast. Danach kann der nicht Darlegungspflichtige gehalten sein, Angaben über innerbetriebliche und deshalb dem Gegner unzugängliche Vorgänge zu machen, wenn er hierzu unschwer in der Lage ist und die Fallumstände eine entsprechende Beweisführungserleichterung nahelegen. Der BGH erörtert prozessuale Informationspflichten, ohne vorher auf materiellrechtliche Auskunftsansprüche einzugehen. Eine Verweisung des darlegungspflichtigen Gegners auf einen Auskunftsanspruch bedürfe es entgegen früherer Entscheidungen des Senats48 nicht.49 Diese Aussage führt zu der Frage, ob der BGH am Primat des materiellen Rechts insoweit nicht mehr festhalten möchte.50 Die Herangehensweise der Rechtsprechung ist insgesamt recht unterschiedlich, wie ähnlich gelagerte Sachverhalte zeigen. In einem Fall benötigte ein pflichtteilsberechtigter Erbe Informationen über eine angebliche Schenkung des Erblassers an einen Miterben.51 Der BGH gewährte einen Anspruch auf Auskunft aus Treu und Glauben (§  242 BGB). Hingegen verweigerte der BGH in einem anderen Fall einen Auskunftsanspruch des Konkursverwalters gegen den Sohn des Gemeinschuldners im Hinblick auf angebliche Rechtsgeschäfte zwischen dem Gemeinschuldner und dem Sohn.52 Die Rechtsprechung erscheint flexibel. Zwar ist das Ziel berechtigt, einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, gleichwohl stellt sich die Frage nach dem richtigen Weg. Die Gewährung von Beweiserleichterungen ist in der Vergangenheit immer wieder auf Kritik gestoßen, insbesondere aufgrund ihrer feh  BGH NJW-RR 2004, 989; dazu Waterstraat ZZP 118 (2005), 459 ff.   BGH NJW 2002, 57, 58; 2001, 3535, 3537. 49   Kritisch zu dieser Haltung des BGH, weil im konkreten Fall aufgrund der vertraglichen Sonderverbindung alle Voraussetzungen für einen materiellrechtlichen Auskunftsanspruch vorgelegen hätten: Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 461 Fn.  9. 50   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 461. 51   BGHZ 61, 180 ff. = WM 1973, 1115 f. 52   BGHZ 74, 379 ff. = NJW 1979, 1832 f. 47

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lenden dogmatischen Grundlage.53 Aus dem bruchstückhaften Vorbringen der Parteien werde über die Anwendung komplizierter richterrechtlicher Regeln zur Darlegungs- und Beweislast häufig ein Sachverhalt herausgefiltert, der nicht der Realität entspreche.54 Es finde nicht eine Bewertung realer, sondern fiktiver Sachverhalte statt. Den unterschiedlichen prozessualen Instituten zum Umgang mit Beweisschwierigkeiten (etwa der Beweisvereitelung oder der sekundären Darlegungs- und Beweislast) wird ihre mangelnde Vorhersehbarkeit vorgeworfen, woraus sich ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren ergebe.55 Insgesamt ist festzuhalten, dass sich daraus eine unübersichtliche Gemengelage gebildet hat, die eine einheitliche Struktur, Systematik und Dogmatik vermissen lässt. Das Beweisrecht wird sozialbereichsspezifisch ausgestaltet, sodass ein verästeltes und hochdifferenziertes, aber kaum verständliches System der Informationsbeschaffungslasten entstanden ist.56

II.  Wertungsgesichtspunkte zur Konkretisierung der Mitwirkungsverantwortung der Parteien und der Darlegungsund Beweisanforderungen Aus diesem Grund bedarf es eines dogmatischen Fundaments, auf dem aufbauend Reichweite und Grenzen der Mitwirkungsverantwortung der Parteien sowie die Grenzen der Darlegungs- und Beweisanforderungen aufzuzeigen und verfahrensmäßig abzusichern sind. Ein sachgerechter Weg im »Widerstreit von materieller Einzelfallgerechtigkeit und generellen Gerechtigkeitsprinzipien«57 ist aufzuzeigen. Einige Leitlinien sollen die zur Ausarbeitung von Lösungsansätzen zu beachtenden Gesichtspunkte verdeutlichen und gleichzeitig den Untersuchungsgegenstand näher konturieren. 1.  Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht Die Unterscheidung von materiellem Recht und Prozessrecht ist eine geläufige Form der Systematisierung.58 Hintergrund dessen ist die Trennung von Anspruch und Klage, die von Windscheid dargelegt wurde und bedeutet, dass der

53   Katzenmeier ZZP 117 (2004), 187, 188; kritisch auch Stoll AcP 176 (1976), 145, 147 f.; Peters, in: FS Schwab, S.  399, 400 ff.; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 464; Katzenmeier JZ 2002, 533, 540 beklagt einen »undurchdringlichen dogmatischen Wildwuchs«. 54   Greger JZ 2002, 1020, 1026; ebenso Gottwald, in: Gilles/Pfeiffer, S.  53, 59. 55   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1010. 56   Paulus ZZP 104 (1991), 397, 406; Katzenmeier JZ 2002, 533, 535; Schlosser JZ 1991, 599 spricht von einem »undurchdringlichen Wildwuchs verschiedenartiger Pflanzen«. 57   Prütting Sonderheft VersR 1990, 3. 58  Siehe Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  31 ff.; Zöllner AcP 190 (1990), 471 ff.; grundlegend Bülow, S.  1 ff.; ders. ZZP 27 (1900), 201 ff.; ebenfalls Konzen, S.  19 ff., 105 ff.

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Anspruch das Erzeugende und die Klage das Erzeugte ist.59 Umgekehrt folgt daraus, dass jeder materiellrechtliche Anspruch prozessual durchsetzbar sein muss. 60 Materielles Recht und Prozessrecht sind geprägt durch Wechselbeziehungen und Schnittstellen. 61 Sie spielen nicht nur deswegen zusammen, weil das Prozessrecht der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, sondern darüber hinaus haben zivilrechtliche Regelungsbereiche häufig eine materiellrechtliche und eine prozessuale Seite. 62 Trotz der Unterscheidung von materiellem Recht und Prozessrecht kann die eine Materie nicht ohne die andere gesehen werden. 63 Ein materiellrechtlicher Anspruch kann im streitigen Verfahren nur durchgesetzt werden, wenn die anspruchsbegründenden Voraussetzungen dargelegt und bewiesen sind. Ein deliktischer Anspruch nach §  823 Abs.  1 BGB besteht, wenn dem Schädiger ein persönliches Fehlverhalten (Verschulden) nachweisbar zur Last gelegt werden kann und der Schaden nachweisbar auf dessen Handlung beruht. 64 a)  Einfluss des Prozessrechts auf das materielle Recht Werden das materielle Recht und das Prozessrecht betrachtet, erfolgt in der Regel der Blick vom materiellen Recht zum Prozessrecht. Das Prozessrecht wird in seiner dienenden Funktion zur Durchsetzung des materiellen Rechts wahrgenommen. 65 Diese Perspektive darf nicht die alleinige sein, sondern daneben muss der Blick ausgehend vom Prozessrecht auf das materielle Recht gerichtet werden. Das Prozessrecht definiert, unter welchen Bedingungen das materielle Recht durchgesetzt wird. 66 Dies zeigt sich an dem Beweisrecht, einer Schnittstelle von materiellem Recht und Prozessrecht.   Windscheid, passim.   Zöllner AcP 190 (1990), 471, 473. 61  Grundlegend: Henckel, passim; Zöllner AcP 190 (1990), 471 ff.; siehe auch Konzen, S.  24 ff.; Gottwald ZZP 92 (1979), 364, 369. 62   Oestmann JZ 2003, 285; Zöllner AcP 190 (1990), 471, 476: »Dieses Verhältnis von materiellem Recht und Prozeßrecht, mit dem, so scheint es, niemand je zu Ende kommt, stellt sich zu jeder Zeit neu und es stellt sich jedem Juristen, dem an einem ganzheitlichen Grundverständnis von Recht und Rechtsverwirklichung liegt.«; grundlegend Henckel, passim. 63   Zöllner AcP 190 (1990), 471, 474: »Materielles Recht ist [.  .  .] stets nur die halbe Wahrheit«; siehe auch G. Wagner ZEuP 2001, 441, 446: materielle Rechte ließen sich durch ein unangemessen gestaltetes Verfahren de facto vereiteln. 64   Stoll AcP 176 (1976), 145, 161. Das Beispiel gilt für die Verschuldenshaftung; differenziert ist die Situation bei der Anordnung einer Gefährdungshaftung oder einer Haftung für vermutetes Verschulden zu beurteilen. 65   Dieses herkömmliche formale Verständnis bedeutet, dass sich das Zivilprozessrecht den Wertungen des materiellen Rechts gegenüber indifferent verhält; G. Wagner ZEuP 2008, 6, 13 ff. mit Hinweis auf Durchbrechungen dieses Verständnisses in wichtigen Bereichen des modernen Wirtschaftsrechts; zur Verfahrensgerechtigkeit im Allgemeinen Röhl/Röhl, S.  513 ff. 66   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 447; siehe Sutter-Somm, in: Sutter-Somm/Hasenböhler, S.  11, 22 zum maßgeblichen Einfluss der früher bestehenden unterschiedlichen Ausgestaltung 59

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Beweiserleichterungen dienen dazu, einer Partei in der Situation einer Beweisnot zu helfen und so Unbilligkeiten zu vermeiden. Diese Unbilligkeiten können durch das materielle Recht, etwa die Beweislastregelung, hervorgerufen werden. 67 Die Regelungen der Beweislast gehören nach allgemeiner Ansicht zum materiellen Recht, wobei konkreter von einer Zuordnung zum Recht der Materie zu sprechen ist. 68 In manchen Konstellationen wird die strikte Anwendung der im Gesetz vorgesehenen Beweislastregelungen als unbefriedigend empfunden, weil sie zu Ergebnissen führten, die sonstigen materiellrechtlichen Wertungen widersprächen. Beweislastveränderungen bewirken damit eine Änderung des materiellen Rechts. Ebenfalls bedeuten sonstige im Einzelfall vor­ genommene Korrekturen in Form von Beweiserleichterungen eine materiellrechtliche Risikoverlagerung. 69 Die Grundsätze der Beweiswürdigung oder die verlangte Höhe des Beweismaßes entscheiden darüber, ob eine bestimmte Rechtsfolge eintritt, sodass sie materiellrechtliche Wirkung entfalten. Sie legen letztendlich Voraussetzungen fest, bei deren Vorliegen die Rechtsfolgen einer Norm eintreten sollen.70 Es kann somit zu einer Gestaltung oder Veränderung des materiellen Rechts durch das Prozessrecht kommen, weil als unbillig empfundene Ergebnisse korrigiert werden. Insbesondere das Haftungsrecht wird richterrechtlich über beweisrechtliche Instrumente an neue Bedürfnisse angepasst, indem das Verschulden vermutet wird.71 Es erfolgt eine mittelbare Änderung des materiellen Rechts, allerdings »ohne erklärte Abwendung vom materiellen Recht«72 . Die abstrakt-generellen Regelungen des materiellen Rechts werden aus Billigkeitserwägungen »geändert«. Unbilligkeit alleine kann aber nicht der Grund sein, denn eine Beweislastentscheidung wird in der Regel von der unterliegenden Partei als unbillig empfunden.73 Die Suche nach der Gerechtigkeit im Einzelfall darf nicht dazu führen, die allgemeinen Zusammenhänge und Prinzipien des Beweisrechts außer Acht zu lassen.74 des Zivilprozessrechts in den Schweizer Kantonen auf die Durchsetzung des materiellen Rechts. 67   Assmann, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  183, 184; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 447. 68   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  78 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  31; ausführlich zur Rechtsnatur Prütting, S.  175 ff. 69   Grundlegend zur »Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel« Stoll AcP 176 (1976), 145 ff.; siehe auch Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn.  366 ff. Zum Arzthaftungsrecht Katzenmeier, S.  172 ff. 70   Jacoby, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  229; Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 8. 71   Adams, S.  110; Laufs, in: FS Gernhuber, S.  245, 253; Stoll AcP 176 (1976), 145, 146; Stürner ZZP 98 (1985), 237 ff. 72   Stoll AcP 176 (1976), 145, 146. 73  BGH NJW-RR 1997, 892; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  37; Stadler/Bensching JZ 2000, 790, 792. 74   Leipold, Beweismaß und Beweislast, S.  5; Maassen, S.  126 zur Beweislastverteilung:

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Zu berücksichtigen ist, dass etwa Schadensereignisse naturgemäß vom Normalfall abweichen und in der Regel Aufklärungsschwierigkeiten zur Folge haben.75 Aufklärungsschwierigkeiten alleine können deshalb vom Normalfall abweichende Regelungen nicht rechtfertigen. Entscheidend können – wenn überhaupt – nur übergeordnete Gesichtspunkte sein, die das Prozessrisiko kalkulierbar halten.76 Die Einwirkung des Beweisrechts auf das materielle Recht und schließlich die Korrektur des materiellen Rechts mithilfe des Beweisrechts bedarf zum einen einer Rechtfertigung, zum anderen Grenzen. Es stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Korrektur des materiellen Rechts über das Prozess­ recht zulässig ist, vor allem wenn die Korrektur nicht offensichtlich, sondern eher »durch die Hintertür« erfolgt.77 Daher ist zu untersuchen, ob beweisrechtliche Instrumente auf das materielle Recht einwirken, ob dies zulässig ist und wie deren Wirkung gegebenenfalls begrenzt werden kann. b)  Materialisierung des Zivilprozessrechts Weil das Prozessrecht faktisch das materielle Recht beeinflusst, ist darüber hinausgehend die Frage zu stellen, ob das Zivilprozessrecht gezielt auf die Funktionen des materiellen Rechts ausgerichtet sein sollte, um eine effektive Rechtsdurchsetzung zu gewährleisten. Soll dem (materiellen) Recht eine Steuerungswirkung zukommen, muss dies durch wirksame prozessrechtliche Institutionen flankiert werden. Dazu gehört die Gewährung oder Nichtgewährung von Beweiserleichterungen innerhalb der richtigen Grenzen.78 Schranken der Anspruchsdurchsetzung, die verhindern, dass das materielle Recht zur Geltung kommt, sind abzubauen. Nach allgemeiner Ansicht muss sich die Auslegung des Zivilprozessrechts an den Vorgaben des materiellen Rechts orientieren, mithin ist eine materiellrechtsfreundliche Auslegung des Zivilprozessrechts vorzunehmen.79 Das Verfahrensrecht darf nicht dazu führen, dass das materielle Recht nicht mehr durchsetzbar ist, entwertet wird, untergeht oder ohne Rechtsschutz bleibt. 80 »Flickwerk von Ausnahmen«. Darüber hinaus wird gerade durch die Suche nach der »billigen« Lösung diese häufig verfehlt; Mäsch, S.  423; ders. ZEuP 2006, 657, 674. 75   Stürner ZZP 98 (1985), 237, 238. 76   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  37. 77   Kreuzer, in: FS Lorenz, S.  123, 125 weist darauf hin, dass in anderen Rechtsordnungen der Ansatz im materiellen Recht erfolgt, indem etwa für das Verschulden nicht eine richterrechtliche Beweislastumkehr vorgenommen, sondern eine objektive Haftung angeordnet wird. 78   G. Wagner ZEuP 2001, 441 ff.; ders. ZEuP 2008, 6, 15 für das private enforcement im Kartellrecht. 79  So Schumann, in: FS Larenz, S.  571 ff.; siehe auch Vollkommer, in: Zöller, Einl. Rn.  99. Bereits das Reichsgericht (RGZ 105, 422, 427) formulierte: »Das materielle Recht soll und darf unter der Herrschaft der Prozeßvorschriften nicht oder doch möglichst wenig leiden.« 80  BVerfG NJW 2005, 814 (Leitsatz Nr.  1 des Gerichts): »Der in Art.  2 Abs.  1 i. V. mit Art.  20 Abs.  3 GG gewährte Anspruch auf ein faires Verfahren schließt die Verpflichtung der

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Insoweit wird von einer Materialisierung des Zivilprozessrechts gesprochen, welches die »Politik des Gesetzes« in Zukunft stärker fördere und umsetze. 81 Anhand dessen zeigt sich, dass eine Orientierung des Prozessrechts am materiellen Recht diskutiert und befürwortet wird. Im Umkehrschluss könnte zu folgern sein, dass eine Veränderung des materiellen Rechts durch das Prozessrecht ausgeschlossen sein muss. Es zeigt sich das soeben angesprochene Spannungsfeld, wenn Beweiserleichterungen einerseits gewährt werden, um dem materiellen Recht zur Wirksamkeit zu verhelfen, dadurch jedoch andererseits Veränderungen des materiellen Rechts eintreten. 2.  Wechselwirkungen zwischen Mitwirkung und Beweiserleichterungen Eine Diskussion um die Grenzen von Darlegung und Beweis muss zwei Kon­ stellationen unterscheiden. Zum einen geht es darum, dass eine der beteiligten Parteien oder ein Dritter zur Aufklärung beitragen könnte, weil sie/er die erforderlichen Informationen oder Dokumente besitzt, jedoch an einer Sachverhaltsaufklärung kein Interesse hat, weil sie den Prozessverlust bedeuten würde. Zum anderen geht es darum, dass eine Aufklärung weder einer beteiligten Partei noch dem Gericht möglich ist. Die Differenzierung dieser Bereiche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Verbindungslinien bestehen, die in der Untersuchung beachtet werden müssen. Lösungsansätze müssen nicht nur die Wechselwirkungen zwischen Prozessrecht und materiellem Recht berücksichtigen, sondern zusätzlich die Beziehungen der prozessrechtlichen Institute untereinander, etwa der Informationsbeschaffung und der Beweiserleichterungen. Aufklärungspflichten der Parteien würden die Notwendigkeit anderer prozessualer Hilfsmittel seltener werden lassen. Gewährt man einer Partei Zugang zu Unterlagen der anderen Partei, kann die Absenkung der Darlegungslast obsolet sein und Beweislastentscheidungen dürften seltener werden. Die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Klage gegen den Hersteller eines Produkts hängt nicht nur von der Gewährung von Beweiserleichterungen oder einer Beweislastumkehr ab, sondern vorgeschaltet ist die Frage, ob den Hersteller des Produkts prozessuale Aufklärungspflichten treffen. 82 In umgekehrter Richtung regeln Beweiserleichterungen und Beweislastumkehr nicht lediglich den Umgang mit einem ungewissen Sachverhalt, sondern Gerichte ein, das Verfahrensrecht so zu handhaben, dass die eigentlichen materiellen Rechtsfragen entschieden werden und ihnen nicht durch übertriebene Anforderungen an das formelle Recht ausgewichen wird.«; siehe auch BVerfGE 63, 131, 143 = NJW 1983, 1179, 1180 – Gegendarstellung. 81  Dazu G. Wagner ZEuP 2008, 6, 18; zur Materialisierung auf europäischer Ebene Heinze JZ 2011, 709, 715 f.; zur Materialisierung auf amerikanischer Ebene Cover 84 Yale Law Journal (1975), 718, 739 f. 82   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 447.

§  1  Einleitung

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führen zudem dazu, die andere Partei zur Aufklärung zu bewegen, weil sie einen negativen Prozessausgang verhindern möchte. Beweiserleichterungen und Beweislastumkehr können somit über eine Verschiebung des Prozessrisikos mittelbar zu einer Aufklärung führen.

III.  Ansätze zur Problemlösung Die Sachverhaltsfeststellung kann auf verschiedenen Ebenen gesteuert werden. Dementsprechend dürfen sich Lösungsansätze nicht allein auf einen Bereich konzentrieren, sondern die Tatsachenermittlung muss in Gänze betrachtet werden. Dessen ungeachtet muss eine umfassende Untersuchung Schritt für Schritt verlaufen, um abschließend eine Zusammenführung zu leisten, also eine Verknüpfung und Einbettung in übergeordnete Prinzipien (Fazit in Teil  6). Nach der Darstellung der Relevanz der Informationsbeschaffung, einem rechtsvergleichenden Überblick über die Tatsachenermittlung sowie einem Blick auf europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen im Prozessrecht (Teil  1) sind die einzelnen Aspekte der Reichweite und der Grenzen der Mitwirkungsverantwortung der Parteien des Zivilprozesses sowie der Darlegungsund Beweisanforderungen zu untersuchen. Ausgangspunkt der Tatsachenermittlung im Zivilprozess ist der Verhandlungsgrundsatz, wonach die Parteien dem Richter den Sachverhalt darlegen und den Beweis für bestrittene Tatsachenbehauptungen antreten. Dabei stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis dazu die Befugnis des Richters zur materiellen Prozessleitung steht. Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft (Verhandlungsgrundsatz) und Richtermacht ist aufzulösen. Es ist herauszuarbeiten, worin die Grenzen der Hoheit der Parteien liegen und inwieweit der Parteivortrag und die richterliche Prozessleitung einen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts leisten können (Teil  2). Auf der zweiten Stufe ist zu untersuchen, ob von einer Partei, die über die notwendigen Informationen verfügt, die Preisgabe der Informationen verbunden mit der Offenlegung entsprechender Dokumente verlangt werden kann (Teil  3). Nach der Darstellung der materiellrechtlichen Ansprüche zur Überwindung von Informationsdefiziten soll Schwerpunkt der Ausführungen sein, wie weit die Mitwirkungspflichten der Parteien nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes83 reichen. Durch das Zivilprozessreformgesetz haben sich Modifizierungen des Beibringungsgrundsatzes ergeben, wobei die Einzelheiten jedoch keineswegs geklärt sind. 84 Eine Abgrenzung des §  142 ZPO zu §§  422, 423 ZPO ist erforderlich, weil die Vorschriften gesetzgeberisch unver  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I 2001, S.  1887 ff.  Kritisch zur Gesetzgebungstechnik (zu dem Kriterium der Zumutbarkeit in §§  142 Abs.  2, 144 Abs.  2 ZPO) Schellhammer MDR 2001, 1081, 1084: »Richter wie Dritter dürfen raten. [.  .  .] ein weiterer eindrucksvoller Beweis für ›Bürgernähe‹ und ›Transparenz‹.« 83

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bunden nebeneinander stehen. Nach der Analyse der materiellrechtlichen und prozessualen Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten erfolgt ein Vergleich der Systeme, in dem die Vor- und Nachteile herausgestellt werden. Verbleiben Informationslücken, ist zu überlegen, ob eine Fortentwicklung materiellrechtlicher oder prozessualer Instrumente vorzugswürdig ist. Sodann ist eine entsprechende Fortentwicklung zu skizzieren. In diesem Zusammenhang stehen die Forderungen nach einer allgemeinen Aufklärungspflicht der Parteien. 85 Dementsprechend ist zu untersuchen, ob für eine allgemeine Aufklärungspflicht eine Notwendigkeit besteht oder andere Institute die Problematik besser lösen können. Die Forderungen, der Gesetzgeber solle sich dem Thema der Informationsbeschaffung im Zivilprozess stärker widmen, sind umfassend zu analysieren. Die in dem Grundlagenteil gewonnenen Erkenntnisse, wie die Sachverhaltsfeststellung in anderen Rechtsordnungen gelöst wird, können gegebenenfalls für die Fortentwicklung des deutschen Rechts fruchtbar gemacht werden. Auf einer dritten Stufe sind die Beweiserleichterungen zu untersuchen (Teil  4). Dabei sollen die gesetzlichen Beweiserleichterungen (Glaubhaftmachung/Schadensschätzung) erörtert werden. Ziel der Untersuchung ist unter anderem die Herausarbeitung der ratio von Beweiserleichterungen. Ausgehend hiervon werden Überlegungen angestellt, ob eine Ausdehnung der Anwendungsbereiche, etwa der Schadensschätzung auf Neben- oder Bagatellforderungen, sinnvoll wäre. 86 Diese Punkte führen zu der Diskussion, ob in einem Bagatellbereich generell eine Verkürzung der Darlegungs- und Beweisanforderungen zu befürworten ist. Daran anschließend sind die richterrechtlich entwickelten Beweiserleichterungen Gegenstand der Abhandlung. Die Rechtsprechung gewährte – jedenfalls in der Vergangenheit87 – »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr«, wobei eine klare Abgrenzung vielfach unterblieb. Notwendig sind eine dogmatische Einordnung und eine Erläuterung der Grenzen. Im Vordergrund soll dabei stehen, inwieweit eine Durchbrechung des Erfordernisses des Vollbeweises stattfindet. Schließlich ist zu untersuchen, ob eine Verstärkung des materiellen Rechts im Sinne eines Anreizsystems erforderlich ist (Teil  5). Es könnte notwendig sein, 85  Grundlegend: von Hippel, passim; Peters, Ausforschungsbeweis, passim; Lüderitz, passim; Stürner, Aufklärungspflicht, passim; ders. NJW 1979, 1225 ff.; ders. ZZP 104 (1991), 208 ff.; ders., in: FG Vollkommer, S.  201, 213; darüber hinaus Schlosser JZ 1991, 599 ff.; ders. NJW 1992, 3275 ff.; Katzenmeier JZ 2002, 533 ff.; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 43 ff.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465 ff.; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 474 ff.; Peters, in: FS Schwab, 1990, S.  399 ff.; Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  11; differenzierend Henckel ZZP 92 (1979), 100 ff.; Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 15 ff.; zustimmend J. Lang, S.  264 ff.; Greger JZ 1997, 1077, 1080; ders. JZ 2000, 842, 847. 86  Dafür Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  36. 87   Nunmehr von dieser Formulierung Abstand nehmend BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012 f.

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bereits im materiellen Recht anzusetzen und über eine beweisorientierte Auslegung des materiellen Rechts Beweisprobleme zu verhindern. Es existieren Forderungen, den Anscheinsbeweis auf eine materiellrechtliche Grundlage zurückzuführen oder das Erfordernis des Kausalzusammenhangs analog §§  119 Abs.  1, 2087 Abs.  1 BGB als nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit zu verstehen, 88 um Beweisschwierigkeiten bereits durch die Ausgestaltung des materiellen Rechts zu verhindern. Sodann ist auf die gesetzgeberische Risikozuweisung einzugehen. Über die Ausgestaltung des materiellen Rechts kann prozessuale Unsicherheit vermieden werden. Der Gesetzgeber hat die Probleme einer Nachweisführung teilweise durch die Anordnung von Vermutungen, Auslegungsregeln und Fiktionen gelöst. Ihre Wirkung besteht materiellrechtlich, d. h. sie haben Einfluss auf die Rechtslage; ihre Wirkung zeigt sich allerdings vor allem im Prozess.89 Darin liegt nämlich bereits die Entscheidung des Gesetzgebers, zu wessen Lasten ein non liquet gehen soll.90 Relevant ist das, weil sich daraus ein Aufklärungsanreiz ergeben kann.

IV.  Ziel der Untersuchung Die Feststellung der Tatsachen entscheidet über den Ausgang des Prozesses. Der praktischen Relevanz steht der Befund gegenüber, dass die Sachverhaltsfeststellung im deutschen Zivilprozess »von einer unübersichtlichen Gemengelage aus Parteiherrschaft und Richtermacht, aus Erleichterungen und Einschränkungen der Wahrheitsermittlung gekennzeichnet«91 ist. Diese Gemengelage ist aufzulösen und durch sachgerechte Wege der Tatsachenfeststellung zu »ersetzen«. 1.  Die Bereinigung der Gemengelage Zur »Bereinigung« der Gemengelage soll unter Berücksichtigung der aktuellen »tiefgreifenden Veränderungen« das Verhältnis von Parteiherrschaft und Richtermacht austariert werden. Grund und Grenzen der Mitwirkungsverantwor  Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  35.   Oestmann JZ 2003, 285. 90   Untersuchungsgegenstand ist indes nicht die Beweislastverteilung an sich. Lediglich in dem hier angesprochenen Rahmen der Vermutungen wird sie behandelt. 91   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 153. Zur Unübersichtlichkeit trägt auch der Gesetzgeber bei, der einerseits die Anordnungskompetenz nach §  142 ZPO erweitert, andererseits in Umsetzung der Enforcement-Richtlinie (Richtlinie 2004/48/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl.  Nr. L 195 vom 2.6.2004, S.  16 ff.) für spezielle Bereiche materiellrechtliche Informationsansprüche einführt (siehe etwa §  140b Abs.  1 PatG oder §  101a UrhG; eingefügt durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7.7.2008, BGBl.  I 2008, S.  1191 ff.); siehe dazu Stadler, in: FS Leipold, S.  201 ff. 88 89

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tung92 der Parteien sowie der Anforderungen an Darlegung und Beweis sind herauszuarbeiten. In erster Linie sollen nicht die Voraussetzungen der Institute im Sinne einer isolierten Betrachtung herausgearbeitet werden, sondern die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Wechselwirkungen und ihre dogmatische Grundlage.93 Dadurch sollen allgemeine Wertungsprinzipien herausgestellt werden. Dies erfolgt mit einem Blick auf die Risikoverteilung im Zivilprozess und die Effizienz des Zivilprozesses. Aktuelle Entwicklungen, die die »Mitverantwortung des Gerichts für eine umfassende tatsächliche und rechtliche Klärung des Streitstoffs«94 stärken sollen, könnten eine Verschiebung der Wertungen bedeuten. Haben gesetzgeberische Aktivitäten der jüngeren Vergangenheit dazu geführt, dass mittlerweile andere Lösungen möglich und notwendig sind? Es wird – nicht ausschließlich – ein induktiver Ansatz verfolgt, indem keine abstrakte Darstellung des Verhandlungsgrundsatzes erfolgt, sondern aus der Betrachtung einzelner Fragen und der tatsächlichen Ausgestaltung der Vorschriften auf die Reichweite des Verhandlungsgrundsatzes geschlossen wird. Aus der Betrachtung des Besonderen werden Folgerungen für die allgemeine, übergeordnete Frage entnommen, wie weit die Mitwirkungsverantwortung der Parteien reicht. Erkenntnisse zur Reichweite des Verhandlungsgrundsatzes können daraus entnommen werden. Ziel der Arbeit ist es, auf der Basis des geltenden Rechts Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Stellt sich heraus, dass das aktuelle Gesetzesregime keine ausreichenden Möglichkeiten bietet, ist zu analysieren, ob insoweit gesetzgebe­ rischer Handlungsbedarf besteht. Dabei sollen – soweit möglich – gemeinsame Wertungen für die Verkürzung der Anforderungen an Vortrag und Beweis herausgearbeitet werden. Dadurch soll ein Beitrag zur Konkretisierung des Beweisrechts und des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozessrecht geleistet werden. Rechtssicherheit setzt nicht nur ein klares materielles Recht voraus, sondern ebenfalls ein Beweisrecht, welches eindeutigen und feststehenden

92   Siehe auch Thole JR 2011, 327, 334: »Es spricht daher einiges dafür, nicht mehr das Bestehen der Aufklärungspflicht zu leugnen als vielmehr ihre noch auszulotenden Grenzen zu konturieren; das wäre ein Thema für sich.« 93   Monographien zu Informationslasten, Beweiserleichterungen oder der Beweislastverteilung liegen bereits vor. Die Frage einer prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien ist etwa eingehend von Stürner erörtert worden; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976; siehe auch Lang, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses vor dem Hintergrund der europäischen Rechtsvereinheitlichung, 1999. Zu den weiteren Instituten: Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978; M. Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, 1983; Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, 1985; Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, 1975; Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, 1966; Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979. 94   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  77.

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Kriterien und Regeln folgt.95 Das verlangt, jeweils die dogmatische Rechtfertigung für zivilprozessuale Instrumente herauszuarbeiten.96 Weil materielles Recht und Prozessrecht vielfach miteinander verbunden sind, erfolgt ihre Untersuchung nicht getrennt, sondern als »Sinneinheit«97. Die Auswirkungen materiellrechtlicher Institute auf das Prozessrecht sowie die Auswirkungen prozessrechtlicher Institute auf das materielle Recht sollen aufgezeigt werden. Zu verhindern ist die Fragmentierung des Zivilprozesses zu einem Flickenteppich von Sondermaterien.98 Der Zivilprozess muss die effektive Durchsetzung der subjektiven Rechte ermöglichen, um sich gegenüber einer (zunehmenden) Privatisierung der Streitlösung zu »behaupten«.99 2.  Bedeutung des Verfahrensrechts vor dem europäischen Hintergrund Die Untersuchung soll zugleich einen Beitrag zur Erarbeitung sachgerechter Regelungen für eine europäische Zivilprozessordnung oder eine teilweise Angleichung der Prozessrechte leisten, falls die Entwicklung in eine solche Richtung ginge.100 Letztlich wäre die prozessrechtliche Rechtsharmonisierung eine Konsequenz aus der Harmonisierung des materiellen Rechts und einer Ma-

95   Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 5 mit dem Hinweis, dass dies Flexibilität nicht ausschließen müsse. 96   Stoll AcP 176 (1976), 145, 147 ff. 97   Zöllner AcP 190 (1990), 471, 481. 98   G. Wagner ZEuP 2008, 6, 18. 99   G. Wagner ZEuP 2008, 6, 31 konstatiert einen Trend weg vom staatlichen Gerichtsverfahren und zur Privatisierung der Streitlösung. 100   Die Kommission betont die Erforderlichkeit einheitlicher kohärenter prozessualer Mittel; siehe etwa die Verordnung (EG) Nr.  861/2007 des europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen vom 11.7.2007, ABl.  Nr. L 199 vom 31.7.2007, S.  1 ff.; siehe auch Storme, S.  7 ff./41 ff. In der Folge könnte dies zu einer EG-Zivilprozessordnung führen; siehe zu dem »Paradigmenwechsel« Varga, in: Rauscher, Einf. EG-BagatellVO Rn.  1 ff. (insbesondere Rn.  6). Siehe auch den sog. Storme-Bericht der Working Group for the Approximation of the Civil Procedure Law, die zwar nicht den Entwurf einer vollständigen Zivilprozessordnung, aber ausgewählte Vorschläge für einzelne Bereiche des Prozessrechts vorgelegt haben; siehe Storme, S.  3 ff.; dazu Roth ZZP 109 (1996), 271 ff. Für eine internationale Prozessrechtsharmonisierung St. Huber, Modellregeln, S.  11 ff.; Waterstraat, S.  149 f.; kritisch hingegen Walter/Baumgartner ZZPInt 5 (2000), 477, 480; Roth ZZP 109 (1996), 271, 311: Er habe keine Stelle »aufspüren können, wo die Verschiedenheit der nationalen Prozessrechte wirklich praktische Probleme aufgeworfen hätte«. Auch sei ein Bedürfnis nicht von europaweit tätigen Unternehmen artikuliert worden. Daraus könne der Schluss gezogen werden, dass es an einer Notwendigkeit für eine Prozessrechtsangleichung fehle. Für den Handelsverkehr sei die Vereinheitlichung der internationalen Zuständigkeit und der erleichterten Anerkennung und Vollstreckung der Urteile anderer EG-Staaten durch das europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen notwendig, aber auch hinreichend. Der Fokus müsse daher auf einem einheitlichen internationalen Prozessrecht, und zwar insbesondere auf den Gebieten der Zustellung und der Beweishilfe liegen; siehe dazu Stürner, in: Wege zu einem europäischen Zivilprozeßrecht, S.  1, 18.

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terialisierung des Prozessrechts.101 Die Vereinheitlichung des Privatrechts würde unvollständig bleiben, wenn nicht eine einheitliche, oder jedenfalls effiziente Rechtsdurchsetzung gewährleistet wäre. Ein strenges (auf europäischem Recht beruhendes) materiellrechtliches Haftungsrecht würde seine Wirksamkeit und vor allem die beabsichtigte Vereinheitlichung verfehlen, wenn die Durchsetzung in den europäischen Staaten aufgrund der Differenz der Prozessrechtsordnungen ganz unterschiedlich wäre. Im Rahmen einer Vereinheitlichung wird die Entscheidung für eine Grundtendenz gefordert: entweder das Leitbild des »sozialen Zivilprozesses«, in dem der Richter eine starke Stellung hat, oder das Leitbild eines eher in die Hand der Parteien gelegten Prozesses, der sich an der Verhandlungsmaxime orientiert (»sporting theory of justice«).102 Dazu gehören die Bereiche Tatsachensammlung, Zugang zu Informationsquellen und Beweiserhebung. Selbst ohne Vereinheitlichung des Prozessrechts wäre die Ausgestaltung des Verfahrensrechts vor dem europäischen Hintergrund bedeutsam. Die Durchsetzung des materiellen Privatrechts erfolgt im »nationalen« Zivilprozess unter Anwendung des »nationalen« Prozessrechts.103 Die Gewährleistung materieller Rechte ist ohne eine entsprechende Möglichkeit der verfahrensrechtlichen Durchsetzung unvollkommen.104 Das Prozessrecht, etwa das Beweisrecht, prägt die Durchsetzung materieller Rechte.105 Der EuGH unterstreicht die Bedeutung des Prozessrechts. Er betont zwar ausdrücklich, dass Fragen der Zuständigkeit der nationalen Gerichte und der Verfahrensausgestaltung mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten seien, dass aber die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert

  Prütting, Die Entwicklung eines europäischen Zivilprozessrechts, S.  18; G. Wagner ZEuP 2008, 6, 18; siehe zur Harmonisierung auch Rechberger, in: Gottwald, Aktuelle Entwicklungen des europäischen und internationalen Zivilverfahrensrechts, S.  1, 12 ff. 102   Schlosser JZ 1991, 599, 603; G. Wagner ZEuP 2008, 6, 22. 103   Kritisch zu einer fehlenden Vereinheitlichung des Prozessrechts aus historischer und rechtsvergleichender Perspektive G. Wagner ZEuP 2001, 441, 443 ff. 104   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 448 ff.; ders. ZEuP 2008, 6, 22; siehe auch Sutter-Somm, in: Sutter-Somm/Hasenböhler, S.  11, 23 zu einem vergleichbaren Sachverhalt, nämlich dem früheren Nebeneinander von 26 kantonalen Zivilprozessgesetzen in der Schweiz: »Die Rechtsvereinheitlichung des materiellen Rechts ist im Grunde erst dann abgeschlossen, wenn auch das Zivilverfahrensrecht gesamtschweizerisch geregelt ist.« 105   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 447 und 458 mit dem Hinweis auf die Erfolgsaussichten einer Produkthaftungsklage und auf die Notwendigkeit der Harmonisierung nicht der lediglich »technischen« Regelungen, sondern einer Angleichung in den zentralen Punkten, die die Durchsetzungsbedingungen des materiellen Rechts definierten. Einer tatsächlichen Vereinheitlichung des Beweisrechts tritt er freilich hinsichtlich seiner Machbarkeit skeptisch gegenüber: »Sollbruchstelle« (S.  455). 101

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werden dürfe.106 Vielmehr müssten die europarechtlich gewährten Rechte mittels der nationalen Verfahren durchgesetzt werden können. Dass der Zugang zu den Beweismitteln auf der Agenda der EU steht, zeigt das Grünbuch zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts.107 Darin wird als besondere Schwierigkeit der Schadensersatzklagen in Wettbewerbsfällen konstatiert, dass die relevanten Beweise häufig nicht leicht verfügbar seien und sich in den Händen der sich rechtswidrig verhaltenden Partei befänden, der Zugang zu ihnen aber Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Klage sei (Punkt 2.1). Daher müsse geprüft werden, ob die Verpflichtung zur Aushändigung von Dokumenten oder anderweitigen Zurverfügungstellung von Beweisen eingeführt werden sollte. 3. Kernfragen Das Verfahrensrecht intendiert nicht die Erforschung der Wahrheit um jeden Preis, sondern in den prozessual zulässigen Grenzen.108 In diesen Grenzen strebt es nach dem materiell richtigen Ergebnis.109 Daraus folgen die Kernfragen: Wie weit reicht die Verantwortung der Parteien für die Sachverhaltsermittlung? Wo sind die Grenzen ihrer Hoheit über die Tatsachengrundlage zu ziehen? Kann die gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen gestützt werden, die dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien widersprechen, wenn das Gericht den Behauptungen der Parteien insoweit misstraut? Wo liegen die Grenzen der Darlegungs- und Beweisanforderungen? Welche gegenseitige Mitwirkungsverantwortung – auch jeweils zu eigenen Lasten – trifft die Parteien bei der Aufklärung des Sachverhalts (Preisgabe von Informationen oder Urkundenvorlage)? Welche Instrumente gibt es zur Vermeidung oder Überwindung von Beweisschwierigkeiten und sollten sie eingeschränkt oder ausgeweitet werden? Ist bei geringen Forderungen eine Verkürzung der Suche nach der Wahrheit zu rechtfertigen? Können Tatsachen ohne entsprechenden Vortrag der Parteien verwertet werden? Welche Möglichkeiten bestehen für den Gesetzgeber, über die Ausgestaltung des materiellen Rechts Anreize zu einem bestimmten Parteiverhalten zu schaffen?

 Siehe nur EuGH, Urteil vom 14.12.1995, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, 4620 f. = EuZW 1996, 636, 637 (Rn.  12 ff.) – Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS/Belgien. 107   Vom 19.12.2005, KOM (2005) 672 endgültig. 108   Larenz, S.  306; siehe auch die abweichende Meinung des Richters Geiger in einem Beschluss über die Verletzung der richterlichen Frage- und Aufklärungspflicht als Verfassungsverstoß: BVerfGE 42, 64, 73 = NJW 1976, 1391, 1393 – Zwangsversteigerung I. 109   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  8. 106

Teil  1

Grundlagen §  2  Relevanz der Informationsbeschaffung Die Einführung von Tatsachen in den Prozess kann durch den Richter selbst erfolgen. Eine solche Vorgehensweise wird als Untersuchungsgrundsatz bezeichnet.1 Eine andere Möglichkeit, die nach herkömmlicher Ansicht im Grundsatz für das streitige Verfahren im Zivilprozess gilt – ihm jedenfalls seine Prägung gibt –, ist die Einführung der Tatsachen durch die Parteien. Dieses Modell wird als Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz bezeichnet. 2 Tragen die Parteien nicht einheitlich vor, sondern behaupten unterschiedliche, sich widersprechende Tatsachen, muss ein Weg zur Feststellung der Tatsachen gefunden werden, die dem Urteil zugrunde gelegt werden. Erforderlich ist dafür die Beibringung von Beweismitteln, die wiederum in die Hände des Richters oder der Parteien gelegt werden kann.3 Der Gesetzgeber der ZPO hat sich insoweit im Grundsatz ebenfalls für die Parteihoheit entschieden, lässt dem Gericht allerdings die Möglichkeit zur Beweiserhebung von Amts wegen (§§  142 ff., 448 ZPO).4 Die Parteien können aber nur vortragen (beibringen), soweit sie über die dazu erforderlichen Informationen verfügen. Die Relevanz der Informationsbeschaffung wird deutlich, wenn man sich die Anforderungen vergegen  Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  178; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  1.   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  146; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  1. Die Entstehung der CPO 1877 war geprägt vom Liberalismus des Bürgertums, dem es entsprach, die Parteiverantwortung herauszustellen. Die Verhandlungsmaxime wurde der CPO zugrunde gelegt, ohne ihre Berechtigung zu begründen. Freilich war der Verhandlungsgrundsatz flankiert von beschränkten Fragerechten des Richters und der Möglichkeit des amtswegigen Sachverständigenbeweises und der amtswegigen Augenscheinseinnahme. Durch die Vereinfachungsnovelle 1976 wurde die richterliche Prozessleitungsbefugnis ausgebaut, der Verhandlungsgrundsatz jedoch nicht abgeschafft; siehe zur Entwicklung Damrau, S.  21 ff., 119 ff., 228 ff., 291 ff., 375 ff., 408 ff. und 489 ff.; Kapoor, S.  54 ff. Kritisch jedoch Schönfeld, S.  53, nach dessen Ansicht die »Geschichte der Novellierung der ZPO [.  .  .] die Geschichte der Zurückdrängung der Parteiherrschaft im Zivilprozeß [ist]«. 3   Die Beibringung des Tatsachenstoffes und die Beschaffung der Beweismittel wird insgesamt als Stoffsammlung bezeichnet; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  1. 4   Für das schiedsrichterliche Verfahren hat sich der Gesetzgeber für einen beschränkten Untersuchungsgrundsatz entschieden (§  1042 Abs.  4 S.  2 ZPO). Danach kann das Schiedsgericht auch ohne entsprechenden Parteiantrag eine Beweiserhebung anordnen und durchführen, soweit das aufgrund einer Schlüssigkeitsprüfung zur Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist; Saenger, in: Hk-ZPO, §  1042 Rn.  16. 1 2

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Teil 1:  Grundlagen

wärtigt, die an den Vortrag und die Beibringung von Beweismitteln gestellt werden. Darauf aufbauend können die Folgen eines nicht ausreichenden Vortrags oder Beweisantritts betrachtet werden, mithin das System der Risikozuweisung im Zivilprozess.

I.  Anforderungen an den Parteivortrag und damit verbundene Schwierigkeiten Die Frage, ob ein ausreichender Parteivortrag gegeben ist, stellt sich im Rahmen der Klageerhebung sowie in der Hauptverhandlung und bei der schriftsätzlichen Vorbereitung. 1. Klageerhebung Neben dem bestimmten Antrag bedarf die Klageschrift unter anderem der Angabe des Grunds des Antrags (§  253 Abs.  2 Nr.  2 ZPO). Der Grund ist der tatsächliche Vorgang (Lebenssachverhalt), auf den der Kläger seinen Antrag stützt.5 Eine ordnungsgemäße Erhebung der Klage setzt voraus, dass sie konkretisierte Angaben zum Klagegrund enthält. 6 Nicht notwendig ist es, dass der Lebenssachverhalt bereits in der Klageschrift vollständig beschrieben und der Anspruch schlüssig und substantiiert dargelegt wird.7 Die ordnungsgemäße Klageerhebung als Voraussetzung der Zulässigkeit der Klage verlangt lediglich, dass der Streitgegenstand individualisierbar und der geltend gemachte Anspruch von Ansprüchen gleicher Art unterscheidbar ist. 8 Die Angaben müssen geeignet sein, den prozessualen Anspruch des Klägers möglicherweise zu begründen.9 Diese Anforderungen sind das Ergebnis eines mittlerweile als weitgehend überholt anzusehenden Streits zwischen der Individualisierungs- und Substantiierungstheorie.10 Nach der Individualisierungstheorie ist die Angabe der Merkmale erforderlich, durch die sich das der Klage zugrunde liegende Rechtsverhältnis von anderen Rechtsverhältnissen unterscheidet, also die rechtliche Qualifizierung des Klagegrunds. Dazu ist die Angabe von Tatsachen möglich,   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  95 Rn.  17.   BGHZ 117, 1, 5 = NJW 1992, 1172, 1173; BGHZ 157, 47, 51 = NJW 2004, 1252, 1253; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  95 Rn.  17. 7   Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52. 8   Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  95 Rn.  19. 9   BGH NJW 2000, 3492, 3493 f.; Becker-Eberhardt, in: MünchKommZPO, §  253 Rn.  79. 10   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 45 f. mit der Feststellung, dass daher kein so großer Unterschied zur Klageschrift nach den Federal Rules of Procedure bestehe; zu den Ansichten im Einzelnen Becker-Eberhardt, in: MünchKommZPO, §  253 Rn.  77 ff., der im Grundsatz von der Substantiierungstheorie ausgehen will; Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52, der im Grundsatz von der verbesserten Individualisierungstheorie ausgehen will. 5 6

§  2  Relevanz der Informationsbeschaffung

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aber nicht zwingend. Gegen die Individualisierungstheorie spricht, dass es die Aufgabe des Gerichts ist, die rechtliche Einordnung vorzunehmen.11 Hingegen verlangt die Substantiierungstheorie die Angabe von »Tatsachen, die rechtlich geeignet oder erforderlich sind, um den Schluss auf die Begründetheit des Klageantrags zu rechtfertigen«.12 Danach ist die Schlüssigkeit der Klage bereits ihre Zulässigkeitsvoraussetzung. Gegen eine solche Sichtweise spricht, dass die nachträgliche Ergänzung des Sachverhalts gesetzlich zugelassen wird (arg. ex §§  139, 264 Nr.  1, 282 ZPO).13 Das Substantiierungserfordernis greift erst in der schriftsätzlichen Vorbereitung der Hauptverhandlung oder innerhalb der Hauptverhandlung ein. 2.  Hauptverhandlung und schriftsätzliche Vorbereitung In der schriftsätzlichen Vorbereitung der Hauptverhandlung oder in der Hauptverhandlung selbst muss der Kläger Tatsachen vortragen, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen.14 Die Angabe näherer Einzelheiten ist nur erforderlich, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind. Das Gericht muss aber jedenfalls in der Lage sein, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs vorliegen.15 Der Beklagte wiederum hat in der Klageerwiderung, die ihm das Gericht zur Vorbereitung des frühen ersten Termins oder zur Vorbereitung des Haupttermins aufgeben kann (§§  275 Abs.  1 S.  1, 276 Abs.  1 S.  2 ZPO), seine Verteidigungsmittel vorzubringen, soweit es nach der Prozesslage einer sorgfältigen und auf Förderung des Verfahrens bedachten Prozessführung entspricht (§  277 Abs.  1 ZPO). Mithin benötigt der Kläger Informationen für eine erfolgreiche Klage, der Beklagte für eine erfolgreiche Klageverteidigung. Die Zivilprozessordnung sieht keine vorprozessuale Aufklärungspflicht gegenüber der anderen Partei vor, sodass Informationsquellen das Wissen und die Unterlagen der Partei sind.16 Keine Probleme ergeben sich im Hinblick auf den Vortrag und die Vorlage, wenn sich die notwendigen Dokumente in ihrem Besitz befinden. Anders ist es, wenn sich die Unterlagen in den Händen der gegnerischen Partei befinden. Einer Prozesspartei gelingt es in der Regel nicht, Einblick in die Unterlagen des Gegners zu erhalten, jedenfalls nicht, wenn der

  Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52.   RGZ 143, 57, 65. 13   Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52. 14   BGH NJW 1991, 2707, 2709. 15   BGH NJW 1991, 2707, 2709. 16   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  2 ; Stürner, in: FG Vollkommer, S.  201, 202. 11

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Teil 1:  Grundlagen

Grundsatz gilt, dass keine Partei gehalten ist, dem Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt.17 Freilich kann ein Sachverhalt über ein selbstständiges Beweisverfahren in Erfahrung gebracht werden (§§  485 ff. ZPO). Im selbstständigen Beweisverfahren kommen als Beweismittel der Augenschein (§  371 ZPO), der Zeugenbeweis (§  373 ZPO) und das Sachverständigengutachten (§§  402, 411 ZPO) in Betracht. Der Urkundenbeweis (§  415 ZPO) und die Parteivernehmung (§  445 ZPO) scheiden aus, mithin genau die Beweismittel, über die regelmäßig Tatsachenkenntnis erworben werden könnte, die nur die Gegenseite besitzt. Ferner ist das selbstständige Beweisverfahren nur zulässig, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird (§  485 Abs.  1 ZPO; Ausnahme in Abs.  2 für ein schriftliches Sachverständigengutachten). Ein selbstständiges Beweisverfahren durchzuführen, um vor Klageerhebung lediglich Klarheit über die Beweislage zu erhalten, scheidet dementsprechend aus. Für eine Partei kann sich eine missliche Situation ergeben, weil sie ihrer Darlegungslast nicht genügen kann, wenn sie nicht über die dazu erforderlichen Informationen verfügt. Über die Beweisaufnahme wird die Partei die erforderlichen Informationen nicht erhalten, denn der Beweis wird »nur« erhoben, wenn ein substantiierter Tatsachenvortrag gegeben ist. Die Beweiserhebung dient nicht dazu, erst Tatsachen herauszufinden. Eine Ausforschung der anderen Partei basierend auf ganz unbestimmten Beweisanträgen ist nicht zulässig.18 Entscheidend ist demnach, ob der Parteivortrag eine ausreichende Konkretisierung enthält. Dabei kann eine Partei lediglich von ihr vermutete Tatsachen als Behauptung in den Rechtsstreit einführen. Die Fähigkeit zum Beweis wird erst relevant, wenn die Behauptung bestritten wird. Ein Beweisantrag darf nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil es sich um eine Vermutung handelt.19 Es wird für eine Partei sogar häufig notwendig sein, Tatsachen zu behaupten, über die sie keine genauen Kenntnisse haben kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält. Auch wenn es damit möglich ist, eine Klage auf Behauptungen zu stützen, von deren Vorliegen man keine genaue Kenntnis hat, verbirgt sich dahinter jedoch ein Risiko.20 Über die vorgerichtliche Korrespondenz ist vielleicht ersichtlich, welche Behauptungen der Gegner bestreiten wird. Kaum vorhersehbar ist aber das Ergebnis einer Beweisaufnahme.

  So BGH NJW 1958, 1491, 1492; NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205.   Im Einzelnen zu den Grenzen siehe §  7 II. 3. c) aa). 19   BGH NJW 1968, 1233, 1234. 20   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  3. 17 18

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3. Ergebnis Die Angabe des Grunds des erhobenen Anspruchs in der Klageschrift wird dem Kläger nur selten eine nicht zu bewältigende Aufgabe stellen. Die Klage muss noch nicht schlüssig erhoben werden, denn dies ist eine Frage der Begründetheit der Klage. Mangels Kenntnis notwendiger Tatsachen wird eine Klageerhebung erst scheitern, wenn überhaupt keine Tatsachenangabe möglich ist.21 Schwieriger kann es für den Kläger sein, in der Hauptverhandlung oder der schriftsätzlichen Vorbereitung so vorzutragen, dass die behaupteten Tatsachen geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen. Insoweit kann ein substantiierter Vortrag an einem Informationsdefizit scheitern. Weil im gewissen Maße Vermutungen Grundlage von Tatsachenbehauptungen sein dürfen, kann dieser Umstand zwar gegebenenfalls überwunden werden, doch besteht sodann ein hohes Risiko eines Prozessverlusts wegen der Unvorhersehbarkeit einer Beweisaufnahme. Zudem ist fraglich, ob der Beweis überhaupt geführt werden kann, wenn das nur mithilfe der Gegenpartei möglich ist. Darüber hinaus kann es bereits an der Grundlage für eine Vermutung fehlen, sodass nicht ausreichender Tatsachenvortrag gegeben ist.

II.  Das System der Risikozuweisung Die Parteien im Zivilprozess, die sich kontradiktorisch gegenüberstehen, beteiligen sich an der Sachverhaltsaufklärung, wenn sich die Mitwirkung zu ihren Gunsten oder die Nichtmitwirkung zu ihren Lasten auswirkt. Die Aussicht auf den Prozessgewinn bzw. das Risiko der Prozessniederlage ist – in Form eines positiven bzw. negativen Anreizes – die wesentliche Motivation der Parteien.22 Die Risikoverteilung, mithin die Erfolgsaussichten einer Klage oder der Klageverteidigung, ergibt sich aus der Verteilung von Beweis- und Behauptungslast, für deren Verständnis überdies ein Blick auf Beweiswürdigung und -maß geworfen werden muss. 1.  Behauptungs- und Beweisbedürftigkeit Behauptungs- und Beweislast werden relevant, wenn eine Tatsache der Behauptung oder des Beweises bedarf. Daran fehlt es jedoch teilweise, wobei die Einzelheiten umstritten sind.

  Roth, in: Stein/Jonas, §  253 Rn.  52.   Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 695. Die Notwendigkeit einer Beweislastverteilung ergibt sich somit aus dem kontradiktorischen Verfahren; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  56. 21

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Teil 1:  Grundlagen

a)  Nicht bestrittene Behauptungen und zugestandene Tatsachen §  288 ZPO einerseits und §  138 Abs.  3 ZPO andererseits sind Grenzen der Beweisbedürftigkeit. Eine Partei muss die von ihr behaupteten Tatsachen nicht mehr beweisen, wenn sie von der anderen Seite zugestanden sind (§  288 ZPO). Neben dem ausdrücklichen Zugeständnis führt das Nichtbestreiten zu einer Fiktion der Geständniswirkung (§  138 Abs.  3 ZPO).23 Gleichwohl ist ein Nichtbestreiten nicht dem förmlichen Geständnis gleichzusetzen, weil das Nichtbestreiten einer Tatsache grundsätzlich nicht bindend ist. 24 Ausnahmsweise kann dem Nichtbestreiten Geständniswirkung zuerkannt werden, wenn es in Verbindung mit anderen Äußerungen erkennen lässt, dass die Partei eine Tatsache außer Streit stellen will.25 Freilich unterliegen §  288 ZPO und §  138 Abs.  3 ZPO ihrerseits Grenzen. Im Grundsatz bindet das Geständnis das Gericht. Eine Ausnahme wird zugelassen in dem Fall der offenkundigen Unwahrheit.26 Hingegen ist nach der Rechtsprechung das bewusst falsche Geständnis bindend.27 Problematisch ist allerdings, dass dies mit der Wahrheitspflicht des §  138 Abs.  1 ZPO nicht in Einklang zu bringen ist. Danach müsste der unwahre Tatsachenvortrag zurückgewiesen werden. Wenn das Gericht – etwa aufgrund privaten Wissens (das Wissen müsste natürlich in den Prozess eingebracht werden können) – erkennt, dass die Parteien nicht die Wahrheit vortragen, erscheint es widersprüchlich, den Vortrag zu berücksichtigen.28 Wie weit die Hoheit der Parteien insoweit reicht, ist noch im Einzelnen zu untersuchen.29 b)  Offenkundige Tatsachen Die Durchführung einer Beweisaufnahme wäre reine Förmelei, wenn die Tatsache offenkundig ist. Folgerichtig bedürfen offenkundige Tatsachen nach §  291 ZPO keines Beweises. Die Anordnung der Entbehrlichkeit der Beweiserhebung dient der Förderung eines effizienten Verfahrens. Es handelt sich bei §  291 ZPO nicht um eine Beweiserleichterung im engeren Sinne, weil bereits die Beweisbedürftigkeit genommen wird. In der Wirkung ist die Vorschrift mit einer Be­

23   Zu §  138 Abs.  3 ZPO siehe BGH NJW 1987, 499, 500. Terminologisch ist zu beachten, dass auch im Rahmen des §  138 Abs.  3 ZPO teilweise von einer Fiktion der Geständniswirkung gesprochen (siehe etwa Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  9), zum Teil aber auch die Terminologie des Geständnisses lediglich für §  288 ZPO verwendet wird (siehe etwa BGH NJW 2000, 2669, 2672; 1994, 3109). 24   BGH NJW 2000, 2669, 2672 (insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 144, 343 ff.). 25   BGH NJW 1994, 3109. 26   Greger, in: Zöller, §  288 Rn.  7. 27   BGHZ 37, 154, 155 = NJW 1962, 1395; 129, 108, 111 = NJW 1995, 1432, 1433. 28   So auch Huber, in: Musielak, §  288 Rn.  9. 29   Siehe §  6.

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weiserleichterung jedoch vergleichbar. Die Gefahr der Nichterweislichkeit einer Tatsache besteht nämlich nicht. aa) Offenkundigkeit Zu den offenkundigen Tatsachen gehören die allgemeinkundigen und gerichtskundigen Tatsachen. Allgemeinkundig sind Tatsachen, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten kann.30 Dazu gehören die in den Medien berichteten Ereignisse der Zeitgeschichte, die Entfernung zweier Orte, die sich aus den Landkarten ergibt, Zahlenangaben aus statistischen Jahrbüchern,31 der Index der Lebenshaltungskosten 32 oder die im Wirtschaftsteil der Zeitungen abgedruckten Börsenkurse. Abzustellen ist auf die Kenntnis verständiger und vernünftiger Kreise, sodass die Nichtexistenz magischer Kräfte als allgemeinkundig zugrunde gelegt werden kann.33 Rechtsbegriffe können grundsätzlich nicht als Rechtstatsache wie (echte) Tatsachen behandelt werden, es sei denn, es handelt sich um einfache und allgemein bekannte Begriffe, etwa Eigentum oder Kauf.34 Die Allgemeinkundigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass erst Nachforschungen zur Gewissheit führen. Das private Wissen des Richters kann ebenfalls zur Allgemeinkundigkeit führen.35 Der Richter muss die Parteien darauf hinweisen und ihnen rechtliches Gehör gewähren.36 Im Kollegium ist die Kenntnis der Mehrheit der Richter ausreichend, denn das Gericht entscheidet über die Frage der Offenkundigkeit durch Mehrheitsbeschluss (§  196 Abs.  1 GVG).37 Gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Gericht, nicht nur der Spruchbehörde, aus amtlicher Tätigkeit bekannt sind.38 Dazu gehören die Kenntnisse aus früheren Verfahren,39 dienstlichen Erklärungen oder amtlichen Mitteilungen.40 Nicht ausreichend ist das private Wissen des Richters, weil insoweit die Kenntnisnahme mit Bezug zur amtlichen Tätigkeit fehlt.41 Ebenfalls nicht unter den 30   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §   112 Rn.   26; ähnlich Leipold, in: Stein/Jonas, §   291 Rn.  5. 31   BGH NJW-RR 1993, 1122, 1123. 32   BGH NJW 1992, 2088. 33   LG Kassel NJW 1985, 1642. 34   BGH NJW 1958, 1968. 35   Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  7. 36   BGH NJW 2007, 3211. 37   Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  7; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  29. 38   BGHSt 6, 292, 293 = NJW 1954, 1656, 1657; Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  8 ; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  28. 39   Stackmann NJW 2010, 1409. 40   BVerwG NVwZ 1990, 571, 572. 41   BGH NJW 1987, 1021.

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Teil 1:  Grundlagen

Begriff der gerichtskundigen Tatsachen fallen die aktenkundigen Tatsachen. Voraussetzung für eine gerichtskundige Tatsache ist, dass der Richter davon bereits Kenntnis genommen hat. Ein lediglich verfügbares Wissen, welches sich der Richter aus anderen Akten verschaffen kann, genügt nicht.42 Zu den lediglich aktenkundigen Tatsachen, die bei streitigem Vortrag eines Beweises bedürfen, gehören Einträge im Handelsregister oder im Grundbuch. Von den gerichtskundigen Tatsachen zu unterscheiden ist schließlich die Sachkunde des Gerichts. Die Sachkunde kann einen Sachverständigenbeweis überflüssig machen. Dementsprechend kann die Frage, wie die angesprochenen Verkehrskreise eine bestimmte Werbung verstehen, nicht i. S. von §  291 ZPO offenkundig sein, weil sich die Feststellung der Verkehrsauffassung auf Erfahrungswissen stützt, nicht hingegen auf Tatsachen.43 Hingegen kann etwa in Kapitalanlageverfahren der bestimmte Fehler eines Prospekts, der bereits in einem anderen Verfahren erkannt worden ist, als gerichtsbekannte Tatsache behandelt werden.44 bb) Behauptungslast Das Gericht hat die offenkundigen Tatsachen der Entscheidung ohne Beweiserhebung zugrunde zu legen. Fraglich ist, ob die Parteien die Tatsachen vortragen müssen. Nach einer Ansicht sind die offenkundigen Tatsachen nur bei entsprechendem Vortrag der Parteien zu berücksichtigen.45 Unter Geltung der Verhandlungsmaxime sei es Sache der Parteien, die Tatsachen in den Prozess einzuführen, und es sei davon auszugehen, dass die Parteien die für sie günstigen Tatsachen vortragen. Die Parteien könnten die Entscheidungsgrundlage des Gerichts beschränken, indem sie auf bestimmten Tatsachenvortrag verzichteten. §  291 ZPO entbinde (lediglich) von der Notwendigkeit der Beweisführung (Beweisführungslast). Aus einem Umkehrschluss ergebe sich, dass die Behauptungslast nicht entfalle. Gegen den Umkehrschluss lässt sich vorbringen, dass der Gesetzgeber regelmäßig nur die Beweislast regelt. Beweis- und Behauptungslast sind nur unterschiedlich zu behandeln, wenn der Gesetzgeber eine unterschiedliche Behandlung anordnet. Aufgrund der »engen Verzahnung« von Beweis- und Behaup42   BGH NJW-RR 2011, 568, 569; Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  9 ; Greger, in: Zöller, §  291 Rn.  1a; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  28; a. A. Reichold, in: Thomas/Putzo, §  291 Rn.  2. 43   BGHZ 156, 250, 253 f. = NJW 2004, 1163, 1164 – Marktführerschaft; anders noch BGH NJW-RR 1990, 1376 – Meister-Kaffee; NJW 1998, 3498, 3499 – Vitaminmangel; Huber, in: Musielak, §  291 Rn.  3. 44   Stackmann NJW 2010, 1409, 1410 (unter der Voraussetzung, dass sich der Fehler des Prospekts aus dem Prospekt selbst ergebe und nicht erst aus einem Umstand außerhalb des Prospekts); a. A. Pörnbacher/Suchomel NJW 2010, 3202, 3204. 45   BAGE 28, 196, 201 = NJW 1977, 695; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  291 Rn.  7; Oberheim JuS 1996, 636, 639.

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tungslast entfällt auch die Behauptungslast.46 Das Gericht ist der Ermittlung der Wahrheit verpflichtet und darf daher nicht eine Entscheidung den offenkundigen Tatsachen zuwider erlassen.47 Zwar ist es richtig, dass die Parteien über Dispositionsmöglichkeiten für den Tatsachenvortrag verfügen, doch sind diesen Möglichkeiten Grenzen gesetzt. Das Geständnis, welches offenkundig unwahr ist, entfaltet entgegen §  288 ZPO keine Bindungswirkung.48 Mithin ist die Offenkundigkeit eine Grenze, über die sich weder die Parteien noch das Gericht hinwegsetzen dürfen. Einer Entscheidung entgegen einer offenkundigen Tatsache heftet die Unrichtigkeit »auf der Stirn« – einem offenen Widerspruch hat das Gericht entgegenzuwirken. Leipold nimmt im Anwendungsbereich der Verhandlungsmaxime an, dass die Offenkundigkeit im Grundsatz nur für solche Tatsachen in Betracht komme, die von einer Partei in den Prozess eingeführt worden seien.49 Allerdings habe das Gericht nach §  139 ZPO zu verfahren, wenn insoweit Zweifel bestünden. Das Gericht dürfe nicht den Streitgegenstand erweitern, indem es Rechtsfolgen aus Tatsachen herleite, auf die sich die Parteien nicht berufen wollten.50 Darüber hinaus dürfe das Gericht seine Entscheidung nicht auf Tatsachen stützen, deren Gegenteil offenkundig sei.51 Daher sei ein Geständnis oder ein Nichtbestreiten solcher Tatsachen unbeachtlich. Die Ansicht Leipolds wird im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass das Gericht die offenkundigen Tatsachen berücksichtigt, weil sich nach einem richterlichen Hinweis die Partei, für die die Tatsachen günstig sind, darauf berufen wird. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen offenkundige Tatsachen der Entscheidung zugrunde zu legen sind, ist der Verhandlungsgrundsatz, wonach die Parteien den Sachverhalt festlegen. Allerdings sollte einer Partei ihr Recht nicht vorenthalten werden, wenn sie einen bestimmten Gesichtspunkt aus Unwissenheit nicht vorträgt. Kennt das Gericht eine Tatsache im Gegensatz zu den Parteien aus anderen Prozessen, handelt es sich um eine gerichtskundige Tatsache. Den Parteien sollte diese Kenntnis nicht vorenthalten werden. Um das rechtliche Gehör der Parteien zu wahren (Art.  103 GG), sind die Parteien auf die Tatsache und deren Offenkundigkeit hinzuweisen (§  139 Abs.  2 S.  1 ZPO).52 Ihnen wird dadurch die Möglichkeit gegeben, sich zu den Tatsachen zu äußern, insbesondere um den Beweis des Gegenteils anzutreten.   Prütting, in: MünchKommZPO, §  291 Rn.  13.   BAG NZA 1998, 661, 663. 48   Greger, in: Zöller, §  288 Rn.  7; Prütting, in: MünchKommZPO, §  288 Rn.  4. 49   Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  18. 50   Brüggemann, S.  341 ff. 51   BAGE 87, 234, 241 = NZA 1998, 661, 663. 52  Anders Pantle MDR 1993, 1166, 1167 für die allgemeinkundigen Tatsachen: Sie dürften bis zur Grenze der unzulässigen Überraschungsentscheidung auch verwertet werden, wenn sie nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden seien. 46

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Teil 1:  Grundlagen

Die besseren Argumente sprechen unter dieser Voraussetzung dafür, die offenkundigen Tatsachen unabhängig von einer Berufung einer Partei darauf zu berücksichtigen. Dafür kann vor allem das Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht angeführt werden. Die Parteien können ihre Rechtsbeziehungen materiellrechtlich in den Grenzen des zwingenden Rechts frei gestalten. Über das so gestaltete Rechtsverhältnis hat das Gericht zu entscheiden. Möchten die Parteien ihr Verhältnis anders regeln, können sie das materiellrechtlich tun. Es kann aber das Gericht nicht dazu veranlasst werden, auf falscher Tatsachengrundlage zu entscheiden, indem offenkundige Tatsachen nicht genannt werden. Kennt das Gericht aufgrund von Offenkundigkeit die Tatsachen bereits, bedarf es der Beibringung durch die Parteien nicht,53 solange die Tatsachen innerhalb des Lebenssachverhalts liegen, den die Parteien zum Gegenstand des Prozesses gemacht haben. Das bedeutet keine Abkehr von dem Verhandlungsgrundsatz, sondern nur eine Durchbrechung, die das Gesetz ausdrücklich für den Beweis vorsieht (§  291 ZPO) und die auf den Tatsachenvortrag entsprechend anzuwenden ist.54 In Einklang damit steht eine Entscheidung des BGH zur Frage des Prüfungsumfangs der Berufung. Der V. Senat führte aus, dass Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit des Urteils unabhängig von dem Parteivortrag zu prüfen sind, wenn sich die Zweifel aus gerichtskundigen Tatsachen ergeben.55 cc) Gegenbeweis Die Offenkundigkeit (Allgemeinkundigkeit/Gerichtskundigkeit) kann nicht Gegenstand eines beachtlichen Beweisantritts sein.56 Fraglich ist, ob der Gegenbeweis der Tatsache selbst ausgeschlossen ist. Teilweise wird ein Gegenbeweis zugelassen, wie dies gegenüber einer aus einer Beweisaufnahme geschöpften Überzeugung der Fall sei,57 während zum Teil die Möglichkeit eines Gegenbeweises abgelehnt wird.58 Vermittelnd wird vorgebracht, dass ein Gegenbeweis zwar grundsätzlich möglich sei, das Gericht aber einen darauf gerichteten Beweisantrag nicht beachten müsse.59 53   Prütting, in: MünchKommZPO, §  291 Rn.  13; zustimmend Huber, in: Musielak, §  291 Rn.  4 ; Saenger, in: Hk-ZPO, §  291 Rn.  10; Pantle MDR 1993, 1166, 1167. Siehe auch Brüggemann, S.  338: Insoweit dürfe die Maxime (Verhandlungsmaxime) nicht zum Prinzip erhoben werden. 54   A. A. wohl Pörnbacher/Suchomel NJW 2010, 3202, 3204. 55   BGHZ 158, 269, 278 f. = NJW 2004, 1876, 1878. 56   Greger, in: Zöller, §  291 Rn.  4. 57   BGHZ 156, 250, 253 = NJW 2004, 1163, 1164; grundlegend Stein, S.  171; Huber, in: Musielak, §  291 Rn.  3 ; Leipold, in: Stein/Jonas, §  291 Rn.  12; Prütting, in: MünchKommZPO, §  291 Rn.  19; Saenger, in: Hk-ZPO, §  291 Rn.  8 ; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  29; Lindacher BB 1991, 1524. 58   Pantle MDR 1993, 1166, 1167. 59   Greger, in: Zöller, §  291 Rn.  4.

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Zunächst ist zu betonen, dass es hier um die Führung eines Gegenbeweises geht, also die Erschütterung der Überzeugung. Nicht in der Diskussion steht der Beweis des Gegenteils, der gegen eine widerlegbare gesetzliche Vermutung, nicht aber gegen eine offenkundige Tatsache geführt werden kann. Für die Möglichkeit des Gegenbeweises spricht, dass sich das Gericht irren kann und dementsprechend eine Partei das berechtigte Interesse hat, das Gericht davon zu überzeugen, dass die Tatsache unwahr ist. Der richtige Weg dafür kann jedoch nicht in der Eröffnung des Gegenbeweises liegen, sondern muss bereits grundlegend ansetzen. Weil das Gericht die Parteien auf die offenkundige Tatsache hinweisen muss, besteht für die Partei die Möglichkeit, insoweit ihre Bedenken vorzutragen. Das Gericht kann dann zu dem Ergebnis kommen, dass die Tatsache nicht offenkundig ist. Weil es damit an der Offenkundigkeit fehlt, ist der Weg für eine Beweiserhebung über die Tatsache eröffnet. Ist der Gegenbeweis ausgeschlossen, folgt daraus, dass die Anforderungen an die Offenkundigkeit hoch gehalten werden müssen. 60 Nur dann ist es gerechtfertigt, eine Beweiserhebung über die offenkundige Tatsache und deren Gegenteil auszuschließen. Für die Parteien ergibt sich daraus kein Ausschluss der Geltendmachung ihrer Rechte, weil das Berufungsgericht die Offenkundigkeit selbstständig feststellt und das Revisionsgericht den Begriff der Offenkundigkeit sowie die richtige Anwendung des §  291 ZPO als Rechtsfragen selbstständig beurteilt. 61 2. Beweislast Eine Sachentscheidung, wenn der dem Prozess zugrunde liegende Sachverhalt nicht zur Überzeugung des Gerichts aufgeklärt wurde, setzt Regeln voraus, die festlegen, wie im Falle einer objektiven Beweislosigkeit zu verfahren ist: die Regeln der Beweislast. 62 a)  Objektive Beweislast Die objektive Beweislast (Feststellungslast) regelt, zu wessen Nachteil es geht, wenn eine beweisbedürftige Tatsache trotz Ausschöpfung aller zulässigen Beweismittel unerweislich bleibt (non liquet). 63 Die objektive Beweislast dient somit der Entscheidung des Rechtsstreits trotz des non liquet. 64 Das Gericht kann

  Pantle MDR 1993, 1166, 1168.   Saenger, in: Hk-ZPO, §  291 Rn.  13. 62   Engisch, S.  111: »[E]ine der sinnreichsten gedanklichen Figuren, die der juristische Verstand ausgebildet hat«. 63   BGH VersR 1969, 453; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  32; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  53; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  3. 64   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  48; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  93. 60 61

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seiner aus dem Justizgewährungsanspruch folgenden Entscheidungspflicht entsprechen. 65 Die objektive Beweislast wird relevant, wenn das Verfahren der Beweiswürdigung durchgeführt worden ist, die behauptete Tatsache jedoch nicht als bewiesen angesehen werden kann, weil die Zweifel des Richters an der Wahrheit nicht beseitigt wurden. 66 Nach der sogenannten negativen Grundregel der Beweislast unterbleibt die Anwendung eines Tatbestands, wenn der Richter nicht die volle Überzeugung hiervon erlangen kann. 67 Aus diesem Grund trägt jede Partei die Beweislast für das Vorhandensein ihr günstiger (auch negativer) 68 Voraussetzungen derjenigen Normen, ohne deren Anwendung ihr Prozessbegehren keinen Erfolg haben kann; der Kläger somit für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen, der Beklagte für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden und rechtshemmenden Tatbestandsmerkmale oder der entsprechenden Normen (sogenannte Normentheorie Rosenbergs). 69 Diese Grundregel wird mittlerweile als Teil des geltenden Rechts angesehen.70 Die allgemeine Grundregel wird teilweise durchbrochen, etwa durch gesetzliche Beweislastregeln; 71 die Beweislast kann ferner durch gesetzliche Regelungen oder Richterrecht verändert werden. Widmet man sich Fragen der Beweislast, muss man sich vergegenwärtigen, welche Folgen mit einer Entscheidung über die Beweislast verbunden sind. Eine Rechtsfolge tritt ein, wenn seine Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Bleibt eine Voraussetzung unaufgeklärt, wird grundsätzlich ihr Nichtbestehen für die Entscheidung des Richters fingiert. Die Beweislast entscheidet somit darüber, ob in einem Zweifelsfall an einem Merkmal als Voraussetzung einer Norm festgehalten wird oder nicht; ob eine Rechtsfolge ohne Gewissheit über ein Tatbe-

65   Baumgärtel, Rn.  10; Laumen NJW 2002, 3739, 3741. Die Regeln der objektiven Beweislast gelten nicht nur in Verfahren mit Verhandlungsmaxime, sondern auch in Verfahren mit Untersuchungsmaxime: Lüke JZ 1966, 587, 589. 66   Eine Beweislastentscheidung wird erst notwendig, wenn durch die Beweisaufnahme das (Nicht-) Vorliegen einer Tatsache nicht festgestellt werden konnte. Die Notwendigkeit einer Beweislastentscheidung wird daher direkt beeinflusst von den Anforderungen, die an Beweisführung und Beweismaß gestellt werden; Assmann, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  183, 186 f. 67   Zur Methodik der Rechtsanwendung beim Beweislosigkeit im Einzelnen Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  104 ff.; Heinrich, in: FS Musielak, S.  231, 232 ff. 68   BGH NJW 1985, 1774, 1775. 69  Grundlegend Rosenberg, Lehrbuch Zivilprozeßrecht, §  114 I 1; ders., Beweislast, S.  12, 98; st. Rspr., BGHZ 121, 357, 364 = NJW 1993, 2168, 2170; 1999, 352, 353; 2005, 2395, 2396; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  17a; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  62; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  111; ders., S.  266; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  7 ff.; ähnlich auch §  193 des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich von 1888; methodische Einwendungen bei Schwab, in: FS Bruns, S.  505 ff. 70   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  112; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  61 ff. 71   Siehe dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  11.

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standsmerkmal eintreten soll.72 Die Verteilung der Beweislast ist damit eine Frage des materiellen Rechts,73 und zwar der gerechten Zuordnung von Gütern oder Freiheiten.74 Die Folgen der Beweislosigkeit müssen sich an dem Maßstab der materiellen Gerechtigkeit messen lassen.75 Mittelbar setzt die Beweislastverteilung Anreize zur Sachverhaltsaufklärung, weil die beweisbelastete Partei die negativen Folgen der Beweislosigkeit vermeiden will. In dogmatischer Hinsicht ist zu betonen, dass sich der Begriff der objektiven Beweislast gefestigt hat, obwohl es sich nicht um eine den Parteien auferlegte Last im prozessualen Sinne handelt, sondern um eine Regelung, wie das Gericht im Falle des non liquet zu entscheiden hat. Die Erfüllung einer Last ist in das freie Belieben der Parteien gestellt. Es steht der Partei frei, die Last zu erfüllen oder stattdessen die Nachteile in Kauf zu nehmen, die sich aus ihrer Nichterfüllung ergeben.76 Trotz aller Parteibemühungen kann es zu einem non liquet kommen, sodass weder von einer Pflicht noch einer Last der Partei gesprochen werden kann.77 Es handelt sich bei der objektiven Beweislast vielmehr um eine Entscheidungsgrundlage für das Gericht.78 b)  Subjektive Beweislast Die subjektive Beweislast (auch bezeichnet als formelle Beweislast oder besser als abstrakte Beweisführungslast) gibt an, welche Partei einen Beweis antreten darf und muss, wenn sie nicht beweisfällig werden und deshalb einen Prozessverlust erleiden will.79 Wird kein Hauptbeweis angeboten, darf kein (vom Gegner angetretener) Gegenbeweis erhoben werden, sondern die Behauptung ist als unbewiesen zu behandeln. 80 Die subjektive Beweislast gibt es nur in Verfahren mit Verhandlungsmaxime. 81 Grundsätzlich stimmt die subjektive mit der objektiven Beweislast überein. 82 Abweichungen können sich jedoch ergeben, wenn

  Stürner NJW 1979, 1225, 1226.   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  9 f.; Prütting, S.  175 ff. Für die Zuordnung hilfreich ist die Satzbaulehre bzw. Normentheorie Rosenbergs; Rosenberg, Beweislast, S.  98 ff.; dazu Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  58; Baumgärtel, Rn.  155. 74   Stürner ZZP 98 (1985), 237, 238. 75   Stürner ZZP 98 (1985), 237, 238; für eine Beweislastverteilung unter Berücksichtigung des Effizienzkriteriums Friedl, S.  74 ff. 76  Grundlegend Lent ZZP 67 (1954), 344, 350 f.; Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  209; Musielak, in: Musielak, Einl. Rn.  56. 77   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  100; Baumgärtel, Rn.  6, 9; Laumen NJW 2002, 3739, 3741. 78   Baumgärtel, Rn.  6 . 79   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  4. 80   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  33; Born JZ 1981, 775, 776 f.; Weber NJW 1972, 896, 897; a. A. Walther NJW 1972, 237, 238. 81   Baumgärtel, Rn.  15. 82   Zu dem grundsätzlichen Nebeneinander: Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  18. 72

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das Gericht Tatsachen von Amts wegen ermittelt oder der Beweisgegner zur Aufklärung verpflichtet ist. Für die Frage der Risikozuweisung bedeutet dies, dass sich an der objektiven Beweislast, die vor Prozessbeginn feststeht, nichts ändert. Unterschiede können sich jedoch ergeben, weil eine Partei, die beweisfällig werden würde und die Nachteile davon tragen müsste, davon verschont bleibt, weil das Gericht von Amts wegen ermittelt und eine Beweisfälligkeit verhindert. Bei der subjektiven Beweislast handelt es sich um eine Last im prozessualen Sinne. 83 Die sie tragende Partei hat gegebenenfalls die Nachteile ihrer Nichterfüllung zu tragen. c)  Konkrete Beweisführungslast Von der abstrakten ist die konkrete Beweisführungslast zu unterscheiden. 84 Hat die abstrakt beweisführungspflichtige Partei das Gericht von einer Tatsache überzeugt, liegt es nun an der Gegenpartei, diese Überzeugung zu erschüttern – sie trifft somit die konkrete Beweisführungslast. Zu Beginn des Prozesses stimmt die konkrete mit der der abstrakten Beweisführungslast überein. Im Verlauf des Prozesses, abhängig vor allem von der Beweiswürdigung durch das Gericht, kann sie jedoch – gegebenenfalls mehrmals – wechseln. 85 Die konkrete Beweisführungslast entspricht der konkreten Behauptungslast. 3. Behauptungslast Die Behauptungslast besteht nur in Verfahren mit Verhandlungsmaxime, denn Gegenstand der Behauptungslast ist die Frage, welche Partei Behauptungen in den Prozess einführen muss. 86 a)  Objektive und subjektive Behauptungslast Objektive und subjektive Behauptungslast korrespondieren jeweils mit der objektiven und subjektiven Beweislast. 87 Dementsprechend behandelt die objektive Behauptungslast die Frage, wie das Gericht zu entscheiden hat, wenn eine Behauptung nicht vorliegt. Gegenstand der subjektiven Behauptungslast ist die Frage, welche Partei Behauptungen in den Prozess einführen muss, um nicht Nachteile im Rechtsstreit zu erleiden. 88

  Grundlegend zur Unterscheidung: Lent ZZP 67 (1954), 344, 350 ff.  Grundlegend zu der Bedeutung dieser Rechtsfigur Rosenberg, Beweislast, S.  166 ff.; Prütting, S.  7 ff., 29 f.; siehe auch ders., in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  98. 85   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  103. 86   Baumgärtel, Rn.  29; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  38. 87   Baumgärtel, Rn.  29. 88   Prütting, S.  44. 83

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Objektive und subjektive Behauptungslast sind für die Risikozuweisung ganz entscheidend. Aufgrund der objektiven Behauptungslast erleidet eine Partei Nachteile, wenn sie zu ihren Gunsten wirkende Behauptungen nicht in den Prozess einführt. Für eine Partei ist dies relevant und wirkt sich nachteilig aus, wenn sie mangels Tatsachenkenntnis Behauptungen nicht in den Prozess einführen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Behauptung auch dann nicht gegeben ist – jedenfalls nicht in für das Gericht zu beachtendem Inhalt –, wenn eine hinreichende Substantiierung fehlt. 89 b)  Abstrakte und konkrete Behauptungslast Die (abstrakte) Behauptungslast (bzw. Darlegungslast) legt fest, wer Behauptungen aufstellen und somit Tatsachen zum Inhalt der Verhandlung und richterlichen Rechtsanwendung machen muss.90 Nach Gegenstand und Umfang deckt sich die (abstrakte) Behauptungslast mit der objektiven Beweislast.91 Als Grundsatz ist anerkannt, dass jede Partei die konkreten Behauptungen aufstellen muss, die die abstrakten Voraussetzungen der ihr günstigen Normen ergeben.92 Von der abstrakten Behauptungslast ist die konkrete Behauptungslast, die besser als Substantiierungslast bezeichnet wird, zu unterscheiden. Sie legt fest, wie konkret (detailliert) Behauptungen in der jeweiligen Prozesssituation erfolgen müssen und richtet sich grundsätzlich nach der Einlassung des Gegners. Der Tatsachenvortrag bedarf der Ergänzung, wenn er infolge der Einlassung des Gegners unklar wird und nicht mehr auf die Entstehung des geltend gemachten Rechts schließen lässt.93 Die (abstrakt) behauptungsbelastete Partei muss daher am Anfang des Prozesses (lediglich) Tatsachen schlüssig vortragen, d. h. Tatsachen, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist erforderlich, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind.94 Die andere Partei muss diese Tatsachen substantiiert bestreiten, ansonsten sind sie als zugestanden anzusehen (§  138 Abs.  3 ZPO). Im Falle des Bestreitens wiederum erhöhen sich die Anforderungen an den Vortrag der Partei, die nun detaillierter vortragen muss.95 Die Substantiierungslast kann im Verlauf des Prozesses zwischen den Parteien wechseln und sich dabei erhöhen – entsprechend der konkreten Beweisfüh89   Lange NJW 1990, 3233 beklagt die fehlende wissenschaftliche Behandlung der Substantiierung und der damit zusammenhängenden Fragen. 90   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  84. 91   BGH NJW 1989, 161, 162; Baumgärtel, Rn.  32. 92   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  38. 93   BGH NJW 1991, 2707, 2709. 94   BGH NJW 1991, 2707, 2709. 95   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  89.

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rungslast.96 Der Umfang der konkreten Darlegungslast richtet sich nach der Einlassung des Gegners.97 Eine Klage kann nur Erfolg haben, wenn der Anspruchsgrund behauptet und substantiiert vorgetragen wird.98 Methodisch ist es wichtig, die objektive Beweislast und die Substantiierungslast zu unterscheiden. Die Verteilung der objektiven Beweislast ist eine Rechtsfrage, während die Verteilung der Substantiierungslast eine Tatfrage ist, die von der Beweiswürdigung des Gerichts abhängt.99 4. Beweiswürdigung Zu einer Beweislastentscheidung kommt es, wenn der Richter weder vom Vorliegen einer Tatsache noch von seinem Gegenteil überzeugt ist (non liquet). Ob der Richter von einer Tatsache überzeugt ist, richtet sich unter anderem nach den Anforderungen, die an Beweisführung und Beweismaß gestellt werden. Geringe Anforderungen an Beweisführung und Beweismaß führen dazu, dass der Richter eher eine ausreichende Überzeugung bildet, es somit nicht zu einem non liquet und entsprechend einer Beweislastentscheidung kommt. Die erste entscheidende Ebene für die Frage, ob Ansprüche prozessual durchgesetzt werden können, ist somit die Beweiswürdigung. Dabei handelt es sich (wie bei der Beweiserhebung) um eine originäre Aufgabe des Prozessgerichts (§§  286 Abs.  1, 355 Abs.  1 S.  1 ZPO).100 Zwar verhandeln die Parteien über das Ergebnis der Beweisaufnahme, doch ändert sich dadurch nichts an der Hoheit des Gerichts über die Beweiswürdigung. Die Beweiswürdigung bezeichnet den Vorgang, durch den das Gericht prüft, ob ein Beweis gelungen ist – anhand eines Vergleichs des Beweisergebnisses mit dem Beweisthema.101 Das Gericht hat nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist (§  286 Abs.  1 S.  1 ZPO). Die Bewertung der in dem Prozess gefundenen Erkenntnisse erfolgt grundsätzlich frei, d. h. ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln (§  286 Abs.  2 ZPO). Das Gericht ist lediglich dem Gesetz und seinem Gewissen unterworfen. Es befindet selbst über den Beweiswert eines Beweismittels und kann einer Parteibehauptung mehr Glauben schenken als einem Zeugen oder Sachverständi-

  Baumgärtel, Rn.  30; Prütting, S.  4 4; a. A. Rosenberg, Beweislast, S.  172 f.   BGH NJW-RR 1996, 1211 f.; NJW 1991, 2707, 2709. 98   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  95 Rn.  22. 99   Laumen NJW 2002, 3739, 3742. In der Praxis wird vielfach ohne Unterscheidung von einer Beweislastumkehr gesprochen, wobei es sich inhaltlich teilweise um eine Umkehr der Substantiierungslast handelt; siehe die Kritik bei Baumgärtel, Rn.  222. 100   Ausnahmsweise erfolgt die Übertragung auf ein Mitglied des Prozessgerichts oder ein anderes Gericht (§  355 Abs.  1 S.  2), wie etwa im Falle der Einnahme des Augenscheins (§  372 Abs.  2 ZPO); darüber hinaus: §§  375, 402, 434, 451, 479 ZPO. 101   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  1. 96 97

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gen.102 Die freie Beweiswürdigung entbindet den Richter nicht von Denk-, Erfahrungs- und Naturgesetzen. Das ergibt sich bereits aus dem Willkürverbot.103 Die Schlussfolgerungen des Gerichts müssen widerspruchsfrei sein, die Beweise sind kritisch und einzelfallbezogen zu würdigen.104 Das Gericht trifft die Pflicht zur erschöpfenden Beweisaufnahme, d. h. das Gericht muss alle angetretenen und angebotenen Beweise erheben, soweit nicht ein bestimmter Grund zur Ablehnung des Antrags gegeben ist.105 Ausgeschlossen ist die freie Beweiswürdigung, soweit gesetzliche Beweisregeln eingreifen (§  286 Abs.  2 ZPO).106 Gesetzliche Beweisregeln geben eine bestimmte Beweiswürdigung vor oder schließen sie aus, wenn die Voraussetzungen der entsprechenden Regelung vorliegen, ohne dass es auf die richterliche Überzeugung ankommt. Zulässig ist allerdings der Beweis des Gegenteils.107 Gesetzliche Beweisregeln bestehen beispielsweise für die Beweiskraft des Protokolls (§  165 S.  2 ZPO), des Tatbestands des Urteils (§  314 S.  2 ZPO) und von Urkunden (§§  415–418 ZPO). Die Parteien können Vereinbarungen über Fragen des Beweises treffen.108 Solche Beweisverträge dürfen nicht in die freie Beweiswürdigung eingreifen.109 5. Beweismaß Unter dem Beweismaß versteht man den Grad der richterlichen Erkenntnis, der zur Feststellung einer Tatsache vorliegen muss, also die notwendige Überzeu-

102   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  1; Reinecke MDR 1986, 630 ff., jedoch kritisch zur Übung der freien Beweiswürdigung in der Praxis; zur Beweiswürdigung bei parteiischen Zeugen ausführlich Foerste NJW 2001, 321 ff. 103   BVerfG NJW 1994, 2279, 2280. 104   Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  13; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  3 ; Reinecke MDR 1986, 630, 636. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§  286 Abs.  1 S.  2 ZPO). Erforderlich ist eine rationale, auf den Einzelfall bezogene und nachvollziehbare Begründung. Aus diesem Grunde ist etwa die sog. Beifahrerrechtsprechung mancher Instanzgerichte, nach der Aussagen von Insassen unfallbeteiligter Kraftfahrzeuge oder von Verwandten oder Freunden der Unfallbeteiligten nur für den Fall Beweiswert zuzuerkennen war, dass sonstige objektive Gesichtspunkte für die Richtigkeit der Aussagen sprechen, vom BGH zurückgewiesen worden; BGH NJW 1988, 566, 567. Ein Schwerpunkt der Begründung liegt auf der Auseinandersetzung mit solchen Umständen und Beweismitteln, die zu einer anderen als der getroffenen Beurteilung führen können; BGH NJW-RR 1998, 1117. Der Begründungszwang dient auf der ersten Stufe der Überzeugungsbildung des Gerichts und erst auf der zweiten Stufe der Überzeugung der Parteien. 105   BGHZ 53, 245, 259 = NJW 1970, 946, 949. 106  Abgesehen von wenigen Ausnahmen hat der Gesetzgeber gesetzliche Beweisregeln nach französischen Vorbild in bewusster Abkehr vom kanonisch-gemeinen Prozess abgeschafft; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  1. 107   BGH NJW 2002, 3027, 3028. 108   Im Einzelnen zu den Beweisverträgen G. Wagner, S.  608 ff. 109   BGH NJW 1993, 1856, 1860.

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gung.110 Das kann überwiegende, hohe oder an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, Gewissheit oder naturwissenschaftliche Sicherheit sein.111 Maßstab für das Erreichen des Beweismaßes ist die persönliche Gewissheit, nicht die objektive Gewissheit, weil von dem Richter mehr als die subjektive Überzeugung nicht verlangt werden kann.112 Gleichwohl muss es objektivierbare Umstände geben, die auf das Erreichen des erforderlichen Grads hindeuten.113 a) Vollbeweis als Regelbeweismaß Nach §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Die herrschende Meinung entnimmt dieser Anordnung, dass das Gericht von der Wahrheit einer Tatsache überzeugt sein muss, um sie seiner Entscheidung zugrunde zu legen (sog. Vollbeweis als Regelbeweismaß). Die erforderliche Überzeugung des Richters bedeutet danach keine absolute Gewissheit oder eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.114 Für ein solches Beweismaß spricht neben dem Wortlaut des §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO (für wahr oder für nicht wahr) der systematische Vergleich mit anderen Vorschriften. §  287 Abs.  1 ZPO stellt ebenfalls auf die (freie) Überzeugung des Gerichts ab, allerdings ohne Bezugnahme auf die Wahrheit.115 Ein Umkehrschluss zu §  294 ZPO zeigt, dass eine Glaubhaftmachung im Anwendungsbereich des §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO nicht ausreichen kann. Schließlich beruht das materielle Recht nicht auf Wahrscheinlichkeiten, sondern die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm müssen gegeben sein und die Wahrscheinlichkeit ihres Vorliegens reicht nicht aus.116 Ausgenommen sind diejenigen materiellrechtlichen Tatbestände, in denen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gerade als Tatbestandsvoraussetzung vorgesehen ist. Diese Vorschriften zeigen darüber   Greger, S.  8 ff.; Walter, S.  5.   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  17. 112   BGHZ 53, 245, 256 = NJW 1970, 946, 948; h. M. im Schrifttum: Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  34; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  19; Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  19; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  13; Jauernig/Hess, §  49 Rn.  4 ; Baumgärtel, in: FS Rechtswissenschaftliche Fakultät Köln, S.  165, 170 f.; a. A. Kegel, in: FG Kronstein, S.  321, 334. 113   M. Huber, S.  97 ff., 113 ff.; Baumgärtel, in: FS Rechtswissenschaftliche Fakultät Köln, S.  165, 166. 114   Ständige Rspr., grundlegend BGHZ 53, 245, 256 – »Anastasia«; aus neuerer Zeit BGH NJW 2003, 1113, 1117; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  5 ; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  35 ff.; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  18 f.; a. A. Kegel, in: FG Kronstein, S.  321, 335: die überwiegende Wahrscheinlichkeit müsse ausreichen, weil sie »das Beste [sei], was wir haben können«. 115   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  36. 116   Kargados, in: Habscheid/Beys, S.  583, 693; Musielak, in: FS Kegel, S.  451 ff. 110 111

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hinaus ebenfalls in einem Umkehrschluss, dass die Wahrscheinlichkeit als Regelbeweismaß ausscheidet.117 Abzulehnen ist demgegenüber eine generelle Beweismaßsenkung, die zwar von einigen Stimmen gefordert wurde,118 von der überwiegenden Ansicht jedoch zu Recht abgelehnt wird.119 Hintergrund der Forderungen nach einer allgemeinen Beweismaßsenkung ist, dass nach Ansicht ihrer Befürworter auf weitere gesetzliche oder richterliche Beweiserleichterungen verzichtet werden könnte. So wäre im Arzthaftungsrecht ein Schadensersatzanspruch zu bejahen, wenn eine Verletzung überwiegend wahrscheinlich auf einem Behandlungsfehler beruht (und die weiteren Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs gegeben wären). Entscheidendes Gegenargument zu dieser Lösung ist, dass letztlich eine Haftung bereits für wahrscheinliches Verhalten bestehen würde, obwohl das materielle Recht das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen verlangt, nicht lediglich ihr wahrscheinliches Vorliegen. Abgesehen davon sieht §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO in der aktuellen Fassung als Regelbeweismaß die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit einer tatsächlichen Behauptung vor.120 Möchte man (in Teilbereichen) eine Haftung für wahrscheinliches Verhalten oder wahrscheinliche Zusammenhänge bejahen, ist der Ansatz im materiellen Recht zu wählen. b) Glaubhaftmachung Das Gesetz sieht teilweise die Glaubhaftmachung als Beweismaß vor. Eine Glaubhaftmachung (§  294 Abs.  1 ZPO) verlangt, dass das Gericht die Wahrheit der behaupteten Tatsache für überwiegend wahrscheinlich hält.121

  Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 7.   Kegel, in: FG Kronstein, S.  343 ff.; für mehrere abgestufte Regelbeweismaße Bender, in: FS Baur, S.  247, 257 ff.; für ein besonderes Beweismaß für Kausalfragen Gottwald, S.  186 ff.; Weber, S.  177 ff. 119   Prütting, S.  59 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  9 ; ders., Beweismaß und Beweislast, S.  1, 6 ff.; Habscheid, in: FS Baumgärtel, S.  105 ff.; Rechberger, in: FS Baumgärtel, S.  471 ff.; Schwab, in: FS Fasching, S.  451 ff.; Baumgärtel, in: Habscheid/Beys, S.  543, 556 ff., der sich jedoch für eine Abweichung vom Regelbeweismaß ausspricht, wenn es die materielle Gerechtigkeit gebiet; siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  13 ff.: im praktischen Ergebnis bestehe kaum ein Unterschied zwischen den Auffassungen. 120   Für eine Beweismaßsenkung de lege ferenda werden vor allem im skandinavischen System Anleihen genommen; siehe zum schwedischen Överviktsprincip Musielak, in: FS Kegel, S.  451; gegen eine Beweismaßreduzierung im Arzthaftungsrecht) Katzenmeier, S.  503 ff. 121   BGHZ 156, 139, 142 = NJW 2003, 3558; Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  24; enger Greger, in: Zöller, §  294 Rn.  6: »ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an Glaubhaftigkeit«, d. h. in Abhängigkeit von der Tragweite der Entscheidung; ausführlich siehe bereits Leipold, Einstweiliger Rechtsschutz, S.  66. 117 118

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6. Beweiserleichterungen und Beweislastumkehr In bestimmten Konstellationen – so die Annahme der Rechtsprechung – ist es typischerweise der Fall, dass eine Partei den Beweis nicht erbringen kann, jedenfalls wenn man die »üblichen«, d. h. generalisierenden122 Anforderungen an die Beweisführung stellt. Eine Beweisproblematik ergibt sich etwa immer wieder bei dem Nachweis eines Kausalzusammenhangs. Darüber hinaus kann sich die schwierige Beweislage aus den Besonderheiten des Einzelfalls ergeben, etwa aufgrund der fehlenden Möglichkeit zur Einsicht in die Verhältnisse des Prozessgegners.123 In solchen Fällen, in denen in der Regel Beweisproblematiken auftreten, gewährt die Rechtsprechung Beweiserleichterungen. Sie können sich aus dem Gesetz ergeben oder sind von der Rechtsprechung entwickelt worden. Einerseits kann an dem notwendigen Maß der Überzeugungsbildung (Beweismaß) angesetzt werden, andererseits an den Anforderungen an die Beweisführung. Die Terminologie zur Beweiserleichterung ist keineswegs einheitlich.124 Einigkeit herrscht insoweit, als allgemein unter einer Beweiserleichterung eine Vereinfachung der Beweisführung im Einzelfall verstanden wird, sozusagen als eine Art »Minus« gegenüber dem üblicherweise von der beweisbelasteten Partei zu führenden Beweis.125 Insgesamt werden ganz unterschiedliche Institute unter dem Begriff der Beweiserleichterung diskutiert, auf die im Laufe der Untersuchung einzugehen ist: 126 Anscheinsbeweis, Indizienbeweis, tatsächliche Vermutungen, richterliche Schadensschätzung nach §  287 ZPO, Beweismaßsenkung, Glaubhaftmachung und die Folgen der Beweisvereitelung. Darüber hinausgehend erkennt der BGH an, dass in bestimmten Konstellationen eine Beweislastumkehr in Betracht kommen kann.127 Die richterrechtliche Beweislastumkehr muss sich an den methodischen Vorgaben der Rechtsfortbildung, ihren Grundsätzen und Grenzen messen lassen. Insbesondere bedarf sie einer Begründung, warum eine Abweichung von der gesetzlichen Anordnung   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  17.   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  25. 124   Laumen NJW 2002, 3739, 3740 führt an, dass einige Streitfragen auf eine unpräzise Terminologie zurückzuführen seien. 125   Baumgärtel, Rn.  217; Laumen NJW 2002, 3739, 3743. 126   Laumen NJW 2002, 3739, 3743. 127   Zum Teil wird unter Beweislastumkehr jede von der Grundregel abweichende Verteilung der objektiven Beweislast verstanden (Verwendung des Begriffs in diesem Sinne etwa in BGH NJW 1980, 2186, 2187), sodass auch §  280 Abs.  1 S.  2 oder §  476 BGB als Beweislastumkehr eingeordnet werden. Hingegen verstehen andere unter einer Beweislastumkehr eine Abweichung von den normativen Regeln, in denen somit das Gericht die Verteilung der objektiven Beweislast abweichend von den gesetzlichen Vorgaben vornimmt (Prütting, S.  22; ders., in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  123; Leipold, Beweismaß und Beweislast, S.  21; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  22; Laumen NJW 2002, 3739, 3742; siehe auch Musielak, S.  132 ff.). Inhaltlich wirkt sich die Frage der Terminologie nicht aus; hier geht es um die richterrechtliche Beweislastumkehr. 122 123

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notwendig ist.128 Über die Verteilung der Beweislast erfolgt – wie bereits dargelegt – die materielle Risikozuweisung. Dementsprechend bedeutet eine Umkehr der Beweislast eine Änderung der Folgen der Beweislosigkeit. Nimmt man eine Änderung der Beweislast in dem Sinne vor, dass der Gegner das Nichtvorliegen der Voraussetzung beweisen muss, ändert sich letztlich die Tatbestandsseite der Rechtsnorm. Im Falle der Nichtaufklärbarkeit wird das Bestehen fingiert, sodass die Rechtsfolge eintritt, obwohl das tatsächliche Bestehen des Merkmals unsicher ist, also ebenso nicht vorliegen kann; die Voraussetzungen der Norm werden dadurch gemindert, das materielle Recht wird letztlich verändert.129 Als Beispiel für die Einwirkung der Beweislast auf das materielle Recht kann die Hühnerpest-Entscheidung130 des BGH dienen. Wird jemand bei bestimmungsgemäßer Verwendung eines Industrieerzeugnisses an einem der in §  823 Abs.  1 BGB geschützten Rechtsgüter dadurch geschädigt, dass dieses Produkt fehlerhaft hergestellt war, so ist es nach dem BGH Sache des Herstellers, die Vorgänge aufzuklären, die den Fehler verursacht haben, und dabei darzutun, dass ihn hieran kein Verschulden trifft.131 Abweichend von der Grundregel des §  823 Abs.  1 BGB muss nicht der Geschädigte das Verschulden des Herstellers beweisen, sondern der Hersteller hat den (Haupt-) Beweis für sein fehlendes Verschulden zu erbringen. Im Bereich der Produzentenhaftung lautet §  823 Abs.  1 BGB daher eigentlich: »Wer als Produzent durch das von ihm hergestellte Produkt das Leben, den Körper usw. eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet, es sei denn, dass er nicht vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat.« 132 Eine richterrechtliche Beweislastumkehr findet vor allem im Falle der groben Verletzung von Berufspflichten (Arzthaftungsrecht und Anwaltshaftung) oder im Rahmen der Produkthaftung statt.133 Sie erfolgt, wenn ein Gefahr bringender Umstand objektiv vorhanden war,134 etwa die Fehlerhaftigkeit der explodierenden Flasche in dem Limonadenflaschen-Fall135 , der übersehene Gallenstein in dem Prozess auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller und immaterieller Schäden136 oder die Infarktgefahr in dem Prozess auf Zahlung einer Unterhaltsschadensrente137. Eine Beweislastumkehr erfolgt sodann für die Kausalität oder das Ver  Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  123.  Siehe Stürner NJW 1979, 1225, 1226. 130   BGHZ 51, 91 = NJW 1969, 269. 131   BGHZ 51, 91, 104 = NJW 1969, 269, 274. 132  Siehe Laumen NJW 2002, 3739, 3742; ähnlich Schwab, in: FS Bruns, S.  505, 507. 133   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  26 ff. 134   OLG Karlsruhe JZ 2000, 789, 790 (aufgehoben aus anderen Gründen durch BGH NJW 2001, 2019). 135   BGHZ 104, 323 ff. = NJW 1988, 2611 ff. 136   NJW 1996, 779 ff. 137   BGHZ 132, 47 ff. = NJW 1996, 1589 ff. 128 129

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schulden.138 Voraussetzung und Gemeinsamkeit ist häufig ein bestimmtes Gefahrenmoment. Die Beweislastumkehr kann nur zulässig sein, wenn es sich um verallgemeinerungsfähige Sachverhalte handelt. Der BGH prüft allerdings in einigen Entscheidungen, ob einer Partei die gesetzliche Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf. Damit bewegt sich der BGH jedoch in Richtung einer Einzelfallrechtsprechung, die abzulehnen ist. Die Intention des BGH – Gerechtigkeit – mag lobenswert sein, ihrer Umsetzung fehlt jedoch die gesetzliche Grundlage und dogmatische Untermauerung. Erreicht wird eine Flexibilität, jedoch zulasten der Rechtssicherheit. Eine Änderung der Beweislast zur Behebung der Beweisnot (lediglich) im Einzelfall nach Billigkeit, Treu und Glauben oder billigem Ermessen des Richters ist abzulehnen.139 Im Laufe des Prozesses kann sich lediglich die konkrete Beweisführungslast ändern, wenn eine Partei ihrer abstrakten Beweisführungslast genügt hat.140 Die Einzelheiten der Beweislast sowie Grund und Grenzen einer Beweislastumkehr bleiben in dieser Untersuchung außen vor. Analysiert wird nicht die Situation des non liquet, sondern vorhergehend die Wege zur Vermeidung eines non liquet. Das schließt nicht aus, dass die Beweislastumkehr in Einzelfällen als Option erörtert wird, doch liegt darauf nicht der Schwerpunkt, der eine eigenständige Diskussion der richterrechtlichen Beweislastumkehr rechtfertigen würde. Beweiserleichterungen setzen an auf der Ebene der Beweiswürdigung. Die Beweislast und damit ihre Umkehr werden hingegen erst relevant, wenn die Beweiswürdigung nicht zu der erforderlichen Überzeugung des Gerichts geführt hat. Ihre Verschiedenheit ergibt sich bereits aus ihrer Stellung im Prozessverlauf. Beweiswürdigung und Beweislast sind nicht unter Billigkeitsgesichtspunkten austauschbar. Problematisch sind dementsprechend Formulierungen der Rechtsprechung, wonach »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislast­ umkehr«141 in Betracht kämen.142 Darauf wird noch einzugehen sein.143

138   Etwa für den Kausalitätsnachweis in Arzthaftungssachen soll eine Beweislastumkehr jedenfalls bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers eingreifen; BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012; G. Wagner, in: MünchKommBGB, §  823 Rn.  804 ff.: Anscheinsbeweis; siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  25 139   Nunmehr auch deutlich BGHZ 159, 48, 53 f. = NJW 2004, 2011, 2012 f.; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  17; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  123; ders., S.  352 f.; ders. Sonderheft VersR 1990, 3, 9; grundsätzlich auch Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  207; ders., Beweismaß und Beweislast, S.  22, der jedoch eine Beweislastumkehr aufgrund der konkreten Umstände des Falles in ganz besonderen Ausnahmesituationen für zulässig erachtet. 140   Laumen NJW 2002, 3739, 3746; siehe bereits §  2 II. 2. c). 141   Kritisch zur Terminologie des BGH: Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  22 (»unscharf und irreführend«); Musielak/Stadler, Rn.  264 (»unklar«); Laumen NJW 2002, 3739, 3743. 142   Tendenziell wie die Rechtsprechung auch Gottwald, S.  212 ff.; Walter, S.  248; ablehnend Baumgärtel, Rn.  62 ff.; Prütting, S.  59; ders. Sonderheft VersR 1990, 3, 5 f.; nunmehr gegen diese Einordnung BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012 f. 143   Siehe §  11 I.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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7. Ergebnis Die Rechtsprechung verlangt von dem Kläger und Beklagten jeweils – jedenfalls im Grundsatz – einen substantiierten Vortrag. Dieser ist nur möglich mit bestimmten Informationen. Um der Substantiierungspflicht zu genügen, muss der Kläger bereits vor dem Prozess Kenntnis über die entsprechende Tatsachengrundlage besitzen. Daher trägt jede Partei das Risiko, wenn sie mangels Kenntnis bestimmte Tatsachen nicht vortragen kann. Der Zugang zu Informationen ist für eine Partei daher von großem Interesse, um den Anforderungen an den Parteivortrag genügen zu können. Hat eine Partei keine zum Vortrag ausreichende Tatsachenkenntnis, könnte sie dazu angeleitet werden, dennoch solche Tatsachen als sicher zu behaupten.144 Hat eine Beweisaufnahme stattgefunden und kann sich das Gericht nach Würdigung der Ergebnisse nicht in dem erforderlichen Maß von der zu beweisenden Tatsache überzeugen, liegt ein Fall der Unerweislichkeit vor (sog. non liquet). Das Gericht geht bei seiner Entscheidung dann von dem Nichtvorliegen der betreffenden Tatsache zu Ungunsten der beweisbelasteten Partei aus. Damit kann es unter Umständen zu einer Entscheidung kommen, die dem materiellen Recht widerspricht. Das System der Risikozuweisung zeigt verschiedene »Stellschrauben« auf, um eine Beweislastentscheidung zu verhindern.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen Die Problematik der Tatsachenermittlung und -feststellung stellt sich ebenfalls in anderen Rechtsordnungen, weil die Lebenssachverhalte naturgemäß vergleichbar sind. Der Zweck des Zivilprozesses ist in den unterschiedlichen Rechtsordnungen im Grundsatz identisch: »the correct application of the law to the true facts«145 . Die prozessuale Herangehensweise, um eine Entscheidung in Kenntnis der wahren Tatsachenlage zu ermöglichen, ist hingegen durchaus verschieden. In der Tat kann man von ganz andersartigen Konzepten der Tatsachensammlung und Beweiserhebung sprechen, worin sich das jeweilige Verständnis der Grenzen sachgerechter Aufklärung widerspiegelt.146 In anderen Rechtsordnungen, etwa in den USA, besteht in einem gewissen Maße die Möglichkeit, die Ausforschung der anderen Partei zu betreiben.147

144   Bernhardt, in: FG Rosenberg, S.  9, 25; siehe auch Rosenberg ZZP 58 (1934), 283, 288; zustimmend Jacoby ZZP 74 (1961), 145, 161. 145   Zuckerman, in: Zuckerman, S.  3, 4 (mit Verweis auf Jeremy Bentham). 146   Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 21. 147   Schütze, Rn.  278 (zu den Grenzen: Rn.  279).

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Teil 1:  Grundlagen

Der Kontrast der Zivilprozessrechte, denen ein anderes Verfahrensverständnis zugrunde liegt,148 lässt die unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten hervortreten.149 Die rechtsvergleichende Betrachtung dient dazu, die Grundwertungen anderer Konzepte vorzustellen, um die Vor- und Nachteile aufzuzeigen sowie Anschauungsmaterial und Lösungsansätze für das deutsche Prozessrecht zu finden oder auszuschließen.150 Ein Überblick über Verfahrensausgestaltungen in allen Mitgliedstaaten der EU kann nicht geleistet werden. Ausgewählt wurden England und Österreich, die exemplarisch unterschiedliche Herangehensweisen verdeutlichen. Darüber hinaus wird ein Blick auf das Schweizer Recht geworfen, weil die zürcherische Zivilprozessordnung ausgewogene Regelungen im Hinblick auf die Mitwirkungspflichten der Parteien beinhaltete. Insoweit ist zu überprüfen, ob die neue Schweizerische Zivilprozessordnung, die die kantonalen Prozessrechte ersetzt, ebenfalls einen angemessenen Interessenausgleich verwirklicht. Aufgrund der Prägung der Diskussion um die Offenlegungspflichten durch die amerikanische discovery ist das US-amerikanische Prozessrecht zu beleuchten. Die Betrachtung der Rechtslage in anderen Rechtsordnungen kann nicht erschöpfend erfolgen. Sie konzentriert sich auf die für diese Untersuchung maßgeblichen Fragestellungen. Die Darstellung der unterschiedlichen Rechtsordnungen folgt keinem einheitlichen Raster, weil die Ansätze zu verschieden sind. Um eine Vergleichbarkeit und Wertung zu gewährleisten, werden die wesentlichen Erkenntnisse schließlich zusammengeführt.

I. USA In den USA galt lange Zeit der Grundsatz nemo contra se edere tenetur, der erst durch die Federal Rules of Civil Procedure im Jahre 1938 abgelöst wurde. Mittlerweile ist die Sachverhaltsaufklärung durch einen umfassenden Zugang zu Informationen und Beweismitteln geprägt (discovery; Rule 26 (b) (1) F. R. C. P.).151 Freilich resultiert daraus die Gefahr eines Missbrauchs (abuse of discovery),152 woran sich zeigt, dass die Einhaltung der Grenzen schwierig zu kontrollieren ist.153   Stürner, in: FS Stiefel, S.  763 ff.   Schlosser, Justizkonflikt, S.  1; daraus resultiert auch der Titel seiner Arbeit: »Der Justizkonflikt zwischen den USA und Europa«; siehe auch Mössle, S.  35 ff. 150   Zum Rechtsvergleich im Zivilprozessrecht siehe Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  443 (klassische Ziele der Rechtsvergleichung: Suche nach Grundwertungen, Reform- und Vereinheitlichungsimpulse); Zuckerman, in: Zuckerman, S.  3 ff. 151   Zu den Zwecken, die mit der discovery verfolgt werden, siehe die Ergebnisse der Umfrage bei Glaser, S.  60 f. (Table 3). Zur historischen Entwicklung der discovery Junker, S.  48 ff.; Jacoby ZZP 74 (1961), 145, 146 ff. 152   Glaser, S.  117 ff.; Brazil American Bar Foundation Research Journal (1980), 217, 250. 153   Zu den Vor- und Nachteilen einer pretrial-discovery siehe Glaser, S.  34 ff.; insgesamt kritisch zu dem amerikanischen Prozess: Olson, passim. 148 149

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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Neben bundesrechtlichen Regelungen existieren in den USA die einzelstaatlichen Prozessrechte.154 Gleichwohl werden hier lediglich die Federal Rules of Civil Procedure (F. R. C. P.) analysiert,155 die im Jahre 1938 in Kraft getreten sind und grundsätzlich für alle nicht strafrechtlichen Verfahren vor den Bundesdistriktgerichten (U. S. District Courts) gelten (Rule 1 F. R. C.P).156 Erhöht wird ihre Bedeutung dadurch, dass viele Bundesstaaten die Federal Rules of Civil Procedure als Staatenrecht übernommen oder ihre eigene Prozessordnung an sie angelehnt haben.157 Soll das US-amerikanische Zivilprozessrecht Erkenntnisse für den deutschen Zivilprozess liefern, darf sich die Betrachtung nicht auf den engen Bereich der discovery beschränken. Die Informations- und Offenlegungspflichten im deutschen und US-amerikanischen Zivilprozess sind in ganz unterschiedliche Systeme eingebettet.158 1.  Klageerhebung und pretrial Anders als im deutschen Recht kann eine US-amerikanische Klageschrift (filing a complaint; Rule 3 F. R. C. P.) kurz und wenig aussagekräftig sein. Der Sachverhalt wird lediglich in groben Zügen geschildert. Darüber hinaus enthält die Klageschrift den Klageantrag (Rule 8 (a) F. R. C. P.). Ein Vortrag des vollständigen tatsächlichen Lebenssachverhalts (i. S. von §  253 ZPO) muss sich aus der Klageschrift nicht ergeben, erst recht sind Beweisangebote nicht notwendigerweise enthalten.159 Die Klageschrift dient lediglich dazu, den Gegner über die Klage und den groben Grund zu informieren (notice pleading). Die Ermitt154  Siehe Großfeld, S.  96: »Die USA sind kein Staat im Sinne unserer kleineuropäischen Vorstellung – sie sind ein Kontinent! Es geht daher nicht um die einheitliche Rechtsordnung eines Staates in unserem Sinne, sondern um die Vielfalt und die Unterschiede in einem Kontinent. Es gibt nicht ein, es gibt 50 Amerikas, d. h. 50 Mitgliedstaaten, von denen jeder seine eigene Identität hat.«; siehe auch Hay, Rn.  101 ff.; Schack, Rn.  4 ff.; Junker ZZP 101 (1988), 241, 242 ff. 155   Zur Rechtsgrundlage siehe kurz Hay, in: Assmann/Bungert, Kap.  8 Rn.  22. 156   Zur Entstehung Junker, S.  48 ff.; ders. ZZP 101 (1988), 241, 253 ff.; Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 21. Die Federal Rules of Civil Procedure werden teilweise durch Local Rules der Bundesdistriktgerichte und der Court of Appeals ergänzt; Böhm, Rn.  189; Junker, S.  71 f.; Schack, Rn.  29; Stadler, S.  59 ff. 157   Schack, Rn.  31; Schlosser JZ 1991, 599, 600. 158   Zu den Unterschieden zwischen US-amerikanischem und europäischem Verfahrensverständnis Stürner, in: FS Stiefel, S.  763 ff. 159   Schack, Rn.  99. Siehe aber die Entscheidung des Supreme Court in Bell Atlantic Corp. v. Twombly, 550 U. S.  544, 547 (2007), in der das Gericht einen Tatsachenvortrag verlangte, der den Antrag aus Sicht des Gerichts plausibel macht. Siehe auch Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 45 f. mit dem Hinweis, dass die Unterschiede zur Klageschrift im Sinne des §  253 ZPO in der Praxis nicht so groß – wie häufig behauptet werde – sind. Spiegelbildlich gelten die Anforderungen auch für die Klageerwiderung, wobei nach Rule 8 (b), (d) ein pauschales Bestreiten nicht zulässig ist; Böhm, Rn.  339 ff.; Junker ZZP 101 (1988), 241, 255 ff.

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lung des Tatsachenstoffs erfolgt erst in dem Verfahrensstadium des pretrial.160 Kernbereich dieses Stadiums, das vor der Hauptverhandlung (trial) stattfindet,161 sind disclosure und discovery, mithin die wechselseitige Offenlegung von Informationen und Beweismitteln. Aufgrund der grundsätzlich geltenden american rule,162 nach der die unterlegene der siegreichen Partei keine Kosten erstatten muss, besteht durchaus ein Anreiz, »auf gut Glück« zu klagen – in der Hoffnung, die discovery werde klagebegründende Tatsachen aufdecken.163 2.  Sinn und Zweck der pretrial discovery Die discovery findet im Wesentlichen in der Verantwortung der Parteien und ihrer Anwälte statt,164 wodurch die Verfahrenshoheit der Parteien über den Zivilprozess (adversary system) deutlich wird. Das Gericht übt in dieser Phase lediglich eine Schutzfunktion aus (Rule 26 (c), Rule 37 F. R. C. P.). Die discovery US-amerikanischer Prägung ist sowohl in persönlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht sehr weitgehend.165 Neben den Prozessparteien können nicht am Prozess beteiligte Dritte zur discovery herangezogen werden. Gegenstand der discovery können sämtliche für den Fall relevante Informationen sein. Sie ist nicht auf zulässige Beweisgegenstände beschränkt, weil die Rules of Evidence in diesem Stadium nicht gelten. Ausreichend ist, dass die Information zu verwert­ barem Beweismaterial führen kann (Rule 26 (b) (1) F. R. C. P.).166 Durchaus möglich sind fishing expeditions, denen über protective orders nur selten Einhalt geboten wird.167 Es soll ein Prozess »auf Augenhöhe« (Waffengleichheit) vorbereitet werden, in dem beide Parteien Kenntnis der Beweismittel besitzen und

160   Mössle, S.  77 f.; Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 243; Stadler, S.  63 f. Auch in den kontinentaleuropäischen Prozessordnungen gibt es Vorbereitungsverfahren, wie etwa nach §§  276 ff. ZPO ein schriftliches Vorverfahren. Allerdings handelt es sich nicht um eine so deutliche Trennung des Verfahrens in zwei Teile wie pretrial und trial, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass der pretrial in der Hand der Parteien nicht subsumtionsgebunden, sondern eine mehr oder weniger freie Stoffsammlung ist; siehe dazu Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 764 f. 161   Zur Trennung der Verfahrensabschnitte Junker ZZP 101 (1988), 241, 268 f.; Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 764 ff. 162   Siehe dazu Schack, Rn.  22 ff. 163   Schack, Rn.  99. Die discovery wird daher als Grund/Beschleuniger für das Anwachsen von materiellen Rechtsbehelfen bezeichnet; Friedenthal 69 California Law Review (1981), 806, 818: »Discovery as a Catalyst for the Growth of Substantive Remedies«; siehe auch Junker, S.  97. 164   Hay, in: Assmann/Bungert, Kap.  8 Rn.  6 ; Schack, Rn.  110; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 398 f.; Prütting AnwBl 2008, 153, 154. 165   Hickman v. Taylor, 329 U. S.  495, 501 (1947): »vital role in the preparation for trial«; siehe dazu Jacoby ZZP 74 (1961), 145, 149 ff. 166   Junker, S.  120. 167   Hay, Rn.  189; Mössle, S.  104 ff.; Schack, Rn.  111.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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Zugang zu ihnen haben.168 Dazu wird es in Kauf genommen, Geschäftsgeheimnisse oder für andere Klagegründe relevante Informationen aufzudecken. Überraschungen in der Hauptverhandlung werden vermieden, weil beide Parteien bereits vorab Kenntnis von den relevanten Unterlagen haben.169 Hinter der discovery steht der Gedanke, dass den Parteien alle Informationen zur Verfügung gestellt werden, um ihnen die Durchsetzung ihrer (materiellen) Rechte zu ermöglichen.170 Die umfangreiche discovery dient der Ermittlung der Wahrheit in größtmöglichem Maße, wodurch der Gerechtigkeit am besten gedient werden soll.171 Die Rechtsdurchsetzung soll nicht an Informationsdefiziten scheitern. Ferner sollen die Parteien nach der pretrial discovery die Prozess­ chancen einschätzen können, um die Vergleichsbereitschaft zu erhöhen.172 3.  Instrumente der pretrial discovery im Einzelnen Ausgangspunkt der discovery sind die conference of the parties und die initial disclosure.173 In der conference of the parties sollen die Parteien den Rechtsstreit erörtern und sich auf den Ablauf der discovery in good faith einigen (Rule 26 (f) F. R. C. P.). Die initial disclosure (Rule 26 (a) (1) F. R. C. P.) erfasst den ungefragten Austausch der möglicherweise verfahrenswesentlichen Beweisstücke und Informationen (Name und Anschrift voraussichtlicher Zeugen, Urkunden, Akten, Augenscheinsgegenstände, Berechnung der Geldforderungen samt Belegen, Austausch über erforderliche Sachverständige).174 Entgegen früherer Rechtslage müssen die Parteien die für sie ungünstigen Tatsachen (the smoking gun) nicht mehr von sich aus offenlegen.175 Seit dem Jahre 1983 hat der Richter in dem pretrial-Verfahren zudem größeren leitenden Einfluss.176 Er beruft pre­ trial-Konferenzen ein, um den Prozessstoff zu klären oder einzugrenzen, unnötige discovery zu vermeiden und Vergleichsabschlüsse zu fördern (Rule 16  Freilich werden damit aber auch teilweise falsche Anreize (etwa zum Vergleich) geschaffen; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 401 f. 169  Siehe dazu und zur Förderung eines konzentrierten Verfahrens von Mehren, in: FS Coing, S.  361, 362 ff. 170   Paulus ZZP 104 (1991), 397, 401. 171   Brazil 31 Vanderbilt Law Review (1978), 1295, 1298; Schack, Rn.  111; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 48. 172   Prütting AnwBl 2008, 153, 154; zur Frage, ob eher Kenntnis oder eine gewisse Unkenntnis die Vergleichsbereitschaft steigert, siehe Brazil 31 Vanderbilt Law Review (1978), 1295, 1302. 173  Die Conference of the Parties ist durch die Reform im Jahre 1993 an die Stelle der discovery conference getreten; sie findet nunmehr allein in Verantwortung der Parteien, ohne das Gericht, statt. Die initial disclosure ist im Jahre 1993 eingeführt worden; siehe dazu Reimann IPRax 1994, 152, 153. 174   Siehe dazu Schack, Rn.  143; Prütting AnwBl 2008, 153, 154. 175   Schack, Rn.  143. 176   Schack, Rn.  144; Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 768. 168

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Teil 1:  Grundlagen

F. R. C. P.). Auch in dem Vorverfahren ist somit mittlerweile eine gewisse materielle Prozessleitung vorhanden.177 Kurz vor der Hauptverhandlung sind die im Rahmen der Beweisaufnahme einzuführenden Urkunden, Augenscheinsgegenstände und Zeugen konkret zu bezeichnen (pretrial disclosures; Rule 26 (a) (3) F. R. C. P.). Die Nichterfüllung wird dadurch sanktioniert, dass Beweismittel nicht zugelassen, Tatsachen als bewiesen angesehen oder weitere Beweismittel ausgeschlossen werden (Rule 37 F. R. C. P.).178 Auf die initial disclosure folgen konkrete wechselseitige discovery-Ersuchen. Nach der Reform im Jahre 2000 gelten auf Bundesebene und auf Ebene der einzelnen Staaten unterschiedliche Regelungen.179 In den meisten Bundesstaaten ist wie früher nach den Federal Rules eine discovery in Bezug auf alle Umstände erlaubt, die für den Streitstoff Bedeutung erlangen können. Auf Bundesebene ist die discovery beschränkt auf solche Umstände, die sich im konkreten Fall als maßgeblicher einzelner Anspruch oder Einwand erweisen können (Rule 26 (b) F. R. C. P.). Zulässig ist aber in jedem Fall die Abfrage von Informationen, die zur Aufdeckung weiterer Informationen führen kann. Insoweit handelt es sich um eine bewusst zulässige Ausforschung (sog. fishing expeditions).180 Es sind fünf discovery-Bereiche zu unterscheiden, über die die wechselseitige Information bewirkt werden soll.181 Relevant sind dabei insbesondere die Vernehmung von Parteien und Zeugen (depositions; Rule 30 F. R. C. P.), schriftliche Fragen an die Gegenpartei, die diese umfassend und unter Anstellung weiterer Nachforschungen unter Eid beantworten muss (interrogatories; Rule 33 (b) F. R. C. P.) sowie der Austausch von Urkunden und Augenscheinsgegenständen (production of documents and things; Rule 34 F. R. C. P.).182 4.  Risiken der pretrial discovery und Gegenmaßnahmen Weil es den Parteien im Grundsatz verwehrt ist, in der Hauptverhandlung neue Beweise einzuführen,183 wird die discovery weit ausgedehnt.184 Die Gefahr der uferlosen discovery wurde erkannt, weshalb durch die discovery-Reform im   Böhm, Rn.  492 ff.; Junker, S.  104 ff.; Stadler, S.  6 4.   Prütting AnwBl 2008, 153, 154. 179   Böhm, Rn.  405; Prütting AnwBl 2008, 153, 154; zu den vielfältigen Zivilprozessrechten der USA und ihren Entwicklungen Junker ZZP 101 (1988), 241, 242 ff. 180   Paulus ZZP 104 (1991), 397, 399; Prütting AnwBl 2008, 153, 154. 181  Siehe Böhm, Rn.  419 ff.; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 399 f.; Prütting AnwBl 2008, 153, 155. 182  Anschaulich: Volkswagen Aktiengesellschaft v. Superior Court of Alameda County, 123 Cal.App.  3d 840 ff. (1981); siehe dazu Schlosser, Justizkonflikt, S.  8 f.; ders. ZZP 95 (1982), 364, 366 f.; Stürner/Brand Jura 1983, 422 ff. 183  Grundlegend: Smith v. Ford Motor Co., 626 F.2d 784, 794 (10th Cir. 1980). 184   Ein weiterer Grund dafür liegt in der Angst vor Haftpflichtprozessen wegen unzureichender Sachverhaltsaufklärung; Schack, Rn.  112. 177 178

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Jahre 1993 Einschränkungen eingefügt wurden.185 Eingeführt wurde die initial disclosure (Rule 26 (a) (1) F. R. C. P.), die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit fördern und eine Ausuferung durch überbordende discovery-Ersuche verhindern soll. Es sollten lediglich extreme Auswüchse verhindert werden. Rule 26 (b) F. R. C. P. beinhaltet als Einschränkung das Kriterium der Relevanz. Eine wirkliche Einschränkung ist damit aber kaum verbunden,186 weil solche Umstände offengelegt werden müssen, die zwar nicht dem beweisrechtlichen Relevanzgrundsatz entsprechen, aber zu relevanten Umständen führen können. Im Vergleich zum deutschen Recht bleibt die discovery ein ausgedehntes Instrument. Sie ist angelegt auf die Beweisausforschung (fishing expedition).187 Die Relevanz ist nur zu verneinen, wenn der Umstand in keinem vorstellbaren Zusammenhang mit dem Fall steht; 188 ein möglicherweise bedeutsamer Umstand muss hingegen offengelegt werden. Die discovery kann zu einem mit hohen Kosten verbundenem Aufwand der Parteien führen.189 Dabei ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich jede Partei ihre Kosten trägt (für ein discovery-Ersuchen und für die Beantwortung), und zwar unabhängig vom Prozessausgang.190 Außerdem besteht im Rahmen der discovery die Gefahr der Offenbarung wertvoller Geschäftsgeheimnisse.191 Weil mit der Möglichkeit, eine discovery-Maßnahme zu erzwingen, solche weitreichenden Konsequenzen verbunden sind, ist ihnen ein hoher Lästigkeitswert (nuisance value) immanent (hoher Zeitaufwand und damit verbundene Anwaltskosten sowie Offenlegung interner Informationen).192 Wirtschaftlich ist es für eine Partei vielfach sinnvoller, einen Vergleich abzuschließen als die discovery-Kosten auf sich zu nehmen.193 Die hohe Kostenbelastung führt zu einer – letztlich ungewollten – Vergleichsbereitschaft auf Seiten des Beklagten.194 Ein Anreiz zum Vergleich wird zusätzlich durch die offer of judgment geschaffen (Rule 68 F. R. C. P.).195 Bis zu 14 Tage vor der Hauptverhandlung kann   Ausführlich dazu Junker ZZPInt 1 (1996), 235 ff.; Hay, in: Schlosser, S.  1, 32 ff.   Hay, in: Schlosser, S.  1, 35. 187   Böhm, Rn.  406; Hay, Rn.  189; ders., in: Assmann/Bungert, Kap.  8 Rn.  205; Junker, S.  120 ff. 188   Oppenheimer Fund, Inc. v. Sanders, 437 U. S.  340, 351 (1978). 189  Zur Ineffizienz der discovery: Brazil American Bar Foundation Research Journal (1980), 217, 230 ff. 190  Nach Glaser, S.  162 ff. sind die Kosten der discovery geringer als allgemein angenommen wird; er stützt seine Ansicht auf eine durchgeführte Umfrage. 191   Schack, Rn.  123 ff. 192   Junker, S.  91: »Die Erpressung hat Methode«; Mössle, S.  80 ff.; Olson, S.  247 ff.; Stadler, S.  67 f.; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 400. 193   Schack, Rn.  114. 194   Die Vergleichsquote in dem Stadium vor der Hauptverhandlung wird mit ca. 90% beziffert (Schack, Rn.  146; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 400). 195  Ausführlich Böhm, Rn.  520 ff. 185

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Teil 1:  Grundlagen

der Beklagte dem Kläger ein beziffertes Vergleichsangebot machen. Nimmt der Kläger das Vergleichsangebot nicht an und spricht das spätere Urteil ihm nicht mehr als die angebotene Summe zu, trägt der Kläger die Kosten, die ab dem Zeitpunkt des Vergleichsangebots angefallen sind (Rule 68 (d) F. R. C. P.). Eine weitere Möglichkeit, das Verfahren bereits nach der discovery zu beenden, ist ein summary judgment (Rule 56 F. R. C. P.). Der Antrag auf ein summary judgment kann sowohl von dem Kläger als auch dem Beklagten innerhalb von 30 Tagen nach dem Schluss der discovery gestellt werden. Er zielt auf ein Sachurteil unter Abkürzung des Verfahrens.196 Voraussetzung für ein summary judgment ist, dass nach der Aktenlage (also aufgrund pleadings, the discovery and disclosure materials on file, and any affidavits197) ein unstreitiger Sachverhalt gegeben ist und das Urteil lediglich Rechtsfragen aufwirft. Entscheidend ist mithin der durch die discovery »bestimmte« Sachverhalt. Das summary judgment ist daher ein Hilfsmittel der discovery198 . 5.  Grenzen der pretrial discovery Inhalt und Reichweite der discovery sind nicht grenzenlos. Neben dem Relevanzkriterium gibt es Weigerungsrechte (privileges), die als unmittelbare Schranken der discovery fungieren. Davon zu unterscheiden sind gerichtliche Beschränkungen, die im Einzelfall angeordnet werden können (protective orders).199 a) Privileges Die Federal Rules of Civil Procedure erkennen privileges der Parteien an (Rule 26 (b) (1) F. R. C. P.), ohne sie jedoch näher zu bezeichnen. Die Parteien müssen sich auf die privileges berufen (adversary system).200 Sie ergeben sich im Wesentlichen aus verfassungsrechtlichen und sonstigen normativen Geheimhaltungsrechten. Neben Diplomaten-, Militär- und Amtsgeheimnissen (executive privilege) sind höchstpersönliche Lebensdaten geschützt.201 Anerkannte Aussageverweigerungsrechte sind darüber hinaus das Weigerungsrecht des Anwalts bezüglich vertraulicher Gespräche (attorney-client privilege), 202 das Weigerungsrecht des Arztes und des Psychotherapeuten (doctor-patient privilege/

  Hay, in: Assmann/Bungert, Kap.  8 Rn.  241 ff.; Schack, Rn.  145.   Affidavits entsprechen eidesstattlichen Versicherungen. 198   Junker, S.  111. 199  Zur ratio dieses zweistufigen Schutzsystems Junker, S.  136. 200   Junker, S.  126. 201   Böhm, Rn.  453 ff.; Junker, S.  129 f. 202   Upjohn Company v. United States, 449 U. S.  383, 389 ff. (1981); siehe dazu Junker, S.  128 f.; Mössle, S.  123 ff. 196 197

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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psychotherapist-patient privilege) 203 oder des Ehegatten (spousal privilege) sowie das Weigerungsrecht bei Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (V. Amendment zur US-Verfassung: privilege against self-incrimination).204 Schließlich sind Unterlagen privilegiert, die konkret für den Prozess vorbereitet worden sind (work product rule). Diese Regel wurde vom Supreme Court in Hickman v. Taylor 205 entwickelt und ist nunmehr in Rule 26 (b) (3) F. R. C. P. kodifiziert.206 Insoweit greift jedoch wiederum eine Ausnahme, wenn die andere Partei auf die Unterlagen angewiesen ist (Rule 26 (b) (3) (A) F. R. C. P.). b)  Protective orders Über diese immanenten Grenzen hinaus kann das Gericht im Einzelfall auf Antrag einer Partei Schutzanordnungen zur Abwendung erheblicher Nachteile (for good cause) treffen (protective orders; Rule 26 (c) F. R. C. P.).207 Dabei kann das Gericht die discovery verbieten oder verfahrensmäßige Auflagen bestimmen.208 Beispielhaft sind einzelne Maßnahmen in Rule 26 (c) (A)–(H) F. R. C. P. aufgeführt. Die Auswahl des Schutzinstruments steht im Ermessen des Gerichts. Aufgrund der Ermessensregelung kommt es stärker auf die Einschätzung des Richters denn auf die abstrakten Normen an.209 c)  Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen gegenüber dem Prozessgegner Die Offenlegung von Informationen im Rahmen der discovery kann mit dem Geheimhaltungsinteresse einer Partei kollidieren. In Wirtschaftsprozessen ist dabei vor allem an den Schutz eines Geschäftsgeheimnisses (trade secret210 ) zu 203   Jaffee v. Redmond, 518 U. S.  1, 2 (1996); siehe auch United States ex rel. Edney v. Smith, 425 F.Supp.  1038, 1040 (E. D. N. Y. 1976). 204   Siehe dazu Stadler, S.  136 ff. 205   Hickman v. Taylor, 329 U. S.  495 ff. (1947). 206   Siehe dazu Böhm, Rn.  461 ff.; Junker, S.  131 ff.; Mössle, S.  126 ff. 207   Siehe dazu Mössle, S.  122 ff. 208   Siehe dazu Mössle, S.  145 ff. 209   Cohn 63 Minnesota Law Review (1978–1979), 253, 268, 271: »having a rule on the books is not an answer in itself«; Pike/Willis 7 University of Chicago Law Review (1939–40), 297, 327; Junker, S.  136 f.; siehe auch Stadler, S.  129 zur allgemeinen Tendenz des US-amerikanischen Rechts, Entscheidungen in das Ermessen des Richters zu stellen. 210   Die Einordnung als trade secret erfolgt durch die US-amerikanischen Gerichte unter ähnlichen Voraussetzungen wie die Einrodnung als Geschäftsgeheimnis durch den BGH. Der BGH definiert das Geschäftsgeheimnis i. S. des §  17 UWG wie folgt: »Unter einem Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis ist jede im Zusammenhang mit einem Betrieb stehende Tatsache zu verstehen, die nicht offenkundig, sondern nur einem eng begrenzten Personenkreis bekannt ist und nach dem bekundeten Willen des Betriebsinhabers, der auf einem ausreichenden wirtschaftlichen Interesse beruht, geheimgehalten werden soll.« (GRUR 1955, 424); siehe auch bereits RGZ 54, 323, 325; 149, 329, 334. Im Einzelnen zu den Anforderungen an ein Geschäftsgeheimnis Stadler, S.  6 ff. Auch die US-amerikanischen Gerichte verlangen im We-

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denken. Schutzinteressen können dabei gegenüber der gegnerischen Partei oder gegenüber der Öffentlichkeit 211 bestehen. Relevant ist hier insbesondere das Schutzinteresse gegenüber dem Prozessgegner. Zum Schutz eines Geschäftsgeheimnisses (trade secret) ist die Anordnung der Vertraulichkeit oder der diesbezügliche Ausschluss der discovery von elementarer Bedeutung (Rule 26 (c) (1) (G)).212 Die Entscheidung des Gerichts über den Schutz des Unternehmensgeheimnisses ist das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. In die Abwägung fließen unter anderem die Missbrauchsgefahr, die Motivation der Parteien (keine Prozessverschleppung), die Verfügbarkeit anderer Beweismittel sowie die Angemessenheit von Schutzmaßnahmen ein. 213 Tendenziell ist eine Neigung zur Zulassung der discovery gerichtet auf Geschäftsgeheimnisse zu erkennen.214 Der vollständige Ausschluss der discovery, ohne dass die sich auf den Geheimnisschutz berufende Partei prozessuale Nachteile erleidet, wird nur zurückhaltend gewährt.215 Stattdessen werden Anordnungen zum Schutz der Vertraulichkeit erlassen, etwa das an den Gegner gerichtete Verbot, die Informationen in anderen Verfahren oder zu geschäftlichen Zwecken zu verwerten, schließlich die Untersagung der Weitergabe an Dritte.216 Die Entscheidung über die Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse erfolgt in einem in camera-Verfahren. Hintergrund dafür ist, dass das Gericht lediglich in Kenntnis des trade secret und der gegen die Verwendung vorgebrachten Einwände über die Zulassung entscheiden kann.217 In diesem Verfahren werden die gegnerische Partei und ihr Anwalt, bei dem trade secret eines Dritten beide Parteien und ihre Anwälte ausgeschlossen. Anstelle des Richters kann die Überprüfung der Geheimhaltungsbedürftigkeit durch einen special master erfolgen,

sentlichen die Merkmale der Nichtoffenkundigkeit, des Geheimhaltungswillens und des Geheimhaltungsinteresses; im Einzelnen dazu Stadler, S.  17 ff. 211   Zur Zulässigkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit siehe grundlegend: State ex rel. Ampco Metal, Inc. v. O’Neill, 273 Wis. 530 ff. (Wis. 1956). Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen und stattdessen ein in camera-Verfahren durchgeführt werden. In camera-Verfahren bedeutet dann eine Verhandlung unter Beteiligung des Gerichts, der Parteien und ihrer Anwälte sowie gegebenenfalls der jeweils einzeln zu vernehmenden Zeugen; siehe Stadler, S.  170. Zur Wahrung der Vertraulichkeit im pretrial-Verfahren kann eine protective order erforderlich sein (Rule 26 (c) (1) (G) F. R. C. P.); Stamicarbon, N. V. v. American Cyanamid Co., 506 F.2d 532 ff. (2d Cir. 1974). 212  Grundlegend Stadler, S.  33 ff.; siehe auch Mössle, S.  131 f. 213   Stadler, S.  142. 214   Stadler, S.  143. 215   La Chemise Lacoste v. General Mills, Inc., 53 F. R. D. 596, 604 (Del. 1971), affirmed, 487 F.2d 312 (1973). 216   Hughes/Anderson 23 University of Florida Law Review (1970–1971), 289, 298, 301; dazu Junker, S.  141. 217   Siehe beispielsweise Burlington Industries v. Exxon Corp., 65 F. R. D. 26, 32 (D. Maryland 1974); U. S. v. International Business Machines Corp., 82 F. R. D. 183, 184 (S. D. N. Y. 1979).

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einem dafür eingesetzten Hilfsrichter.218 Bei fehlender Sachkunde kann der Richter oder special master einen Sachverständigen hinzuziehen.219 Darüber hinaus kann das Gericht die Personen bestimmen, die bei einer discovery-Maßnahme überhaupt anwesend sein dürfen (Rule 26 (c) (1) (E) F. R. C. P.).220 Dadurch kann eine Partei ausgeschlossen werden, hingegen wird der Ausschluss des Prozessvertreters nicht erwogen. Grund dafür ist, dass das US-amerikanische Zivilprozessrecht die discovery-Phase in die Hände der Prozessvertreter legt und eine discovery-Maßnahme unter Ausschluss des Prozessvertreters nicht sinnvoll durchgeführt werden kann.221 Problematisch ist die Zulassung der Anwälte, weil die Gefahr besteht, dass Geheimnisse unter Verstoß gegen ein Offenbarungsverbot an den Mandanten weitergegeben werden. 222 Offenbar wird diese Problematik bei der Anwesenheit der in-house counsel, die in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zur Prozesspartei stehen. Auch in diesen Fällen wird ein genereller Ausschluss des in-house counsel abgelehnt. Die Gefahr der Weitergabe von Informationen durch in-house counsel sei nicht unbedingt höher als bei externen Anwälten, denn diese pflegten teilweise lange und feste Beziehungen zu ihrem Mandanten. Der Erlass einer Vertraulichkeitsordnung in Form einer protective order gewähre ausreichenden Schutz.223 Geschäftsgeheimnisse können ebenfalls geschützt werden, indem das Gericht – jedenfalls vorrangig – dasjenige Beweismittel wählt, welches eine Offenlegung der Tatsachen, bezüglich derer ein Geheimhaltungsinteresse geltend gemacht wird, verhindert.224 Erst wenn darüber keine ausreichende Aufklärung erreicht werden kann, wird subsidiär zu weiteren Beweismitteln gegriffen. Die gesetzliche Grundlage für ein solches Vorgehen bietet Rule 26 (c) (1) (C) F. R. C. P., wonach das Gericht eine discovery-Methode bestimmen kann, die von der Wahl der discovery ersuchenden Partei abweicht. Ein in den USA gängiges Instrument zur Wahrung der Vertraulichkeitsinteressen – unter gleichzeitiger Ermöglichung der effektiven Rechtsdurchsetzung – ist die Einschaltung von Mittelspersonen. Das bietet sich an, wenn es auf bestimmte Geschäftsgeheimnisse für die Entscheidung nicht ankommt, eine Offenbarung bei der Beweisaufnahme aber nicht zu verhindern ist. Die zur Vertraulichkeit verpflichtete Mittelsperson erfährt von den geschützten Geschäfts-

  Stadler, S.  154.   Siehe etwa Automatic Drilling Machines, Inc. v. Miller, 515 S. W.2d 256, 260 (Tex. 1974): Hinzuziehung eines expert witness. 220   Beispiel für eine entsprechende Anordnung: Tavoulareas v. Washington Post Co., 724 F.2d 1010, 1013 Fn.  6 (D. C. Cir. 1984); dazu Stadler, S.  224. 221   Stadler, S.  228 f. 222   Diese Gefahr betont Stürner JZ 1985, 453, 458 f.; ebenso Stadler, S.  228. 223   U. S. Steel Corp. v. U. S., 730 F.2d 1465, 1468 (Fed. Cir. 1984). 224   General Mills, Inc. v. Standard Brands, Inc., 195 U. S. P. Q. 173, 174 (E. D. Tenn.  1976); dazu Stadler, S.  218 f. 218 219

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geheimnissen, berichtet gegenüber der gegnerischen Partei aber unter Ausschluss oder Unkenntlichmachung der Geschäftsgeheimnisse.225 6.  Folgen einer Mitwirkungsverweigerung Greift kein privilege ein und erlässt das Gericht keine protective order, ist den Aufforderungen Folge zu leisten; ansonsten kann die andere Partei einen Antrag auf Anordnung der discovery stellen (Rule 37 (a) (1): motion for an order compelling disclosure or discovery). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Bestrafung wegen contempt of court (Rule 37 (b) (2) (A) (vii)), d. h. der Anwendung von Beugemitteln.226 Schließlich kann das Gericht weitere Anordnungen treffen, die es für angemessen erachtet (Rule 37 (b) (2)). Insoweit kann das Gericht demjenigen, der einer Aufforderung nicht nachgekommen ist, die Mehrkosten auferlegen oder den Tatsachenvortrag als zugestanden ansehen. 7.  Fazit zum US-amerikanischen Recht Die Einführung der discovery im Jahre 1938 wird als Abschied von der »sporting theory of justice« und Hinwendung zur Suche nach der Wahrheit im Interesse beider Parteien interpretiert: »The fundamental premise of the federal rules is that a trial is an orderly search for the truth in the interest of justice rather than a contest between two legal gladiators with surprise and technicalities as their chief weapons.«227 Das Ziel des US-amerikanischen Prozesses ist die Aufdeckung der objektiven Wahrheit – mit allen erdenklichen Mitteln, unter anderem dem Instrument der discovery.228 Die discovery dient damit der Durchsetzung des materiellen Rechts im Prozess (dem Schluss der »Lücke« zwischen »Recht haben« und »Recht bekommen«).229 Dem entspricht es, fishing expeditions zuzulassen (Rule 26 (b) (1) F. R. C. P.).230 Nicht die einzelnen Maßnahmen der discovery sind ihr entscheidendes Merkmal, sondern ihr Umfang, der Umstände und Gegenstände erfasst, die lediglich zu verwertbarem Beweismaterial 225  Beispiele: Service Liquor Distributors, Inc. v. Calvert Distillers Corp., 16 F. R. D. 513, 514 (S. D. N. Y. 1955); Triangle Ink. and Color Co. v. Sherwin-Williams Co., 61 F. R. D. 634, 636 f. (1974). 226   Schack, Rn.  128; Paulus ZZP 104 (1991), 397, 400; zur hohen Bedeutung der Sanktionsgewalt Jacoby ZZP 74 (1961), 145, 155 f. 227   Arthur T. Vanderbilt, Chief Justice of the New Jersey Supreme Court, zitiert nach Kaufman 29 Federal Rules Decisions (1962), 207, 213. Zu den Gefahren des adversary system (jedenfalls in »reiner« Form), dass eine Partei lediglich die ihr günstigen Tatsachen vorträgt, siehe Glaser, S.  6 ff. 228   Mössle, S.  79 f.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 462. 229   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 49; Brazil 31 Vanderbilt Law Review (1978), 1295, 1302; Böhm, Rn.  406. 230   Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 238: »Verfahrensabschnitt mit eingebauten Ausforschungselement«.

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führen können. Hinzu kommt – durch die niedrigen Anforderungen an die Klageschrift – die geringe »Eintrittsschwelle«, um zu dem Stadium der discovery zu gelangen. Problematisch sind die Folgen, die sich in der Praxis aus den discovery-Möglichkeiten ergeben. Die discovery wird von den Parteien »pervertiert«231. Die Gerichte gebieten dem Vorgehen keinen Einhalt. Unter dem Vorwand der Wahrheitsermittlung wird die discovery gezielt als Lästigkeitswert (nuisance value) eingesetzt. Die Gegenpartei muss die Kosten eigener Nachforschungen und Auskünfte tragen, sodass schnell ein wirtschaftlicher Nachteil erreicht wird, der einen Vergleichsschluss günstiger erscheinen lässt. Über den Vergleichsschluss können materiellrechtlich nicht bestehende Ansprüche (teilweise) durchgesetzt werden, woraus ein Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit folgt.232 Die Intention der discovery, die auf der Grundlage beruht, dass sie von »skilled gentlemen of the bar, without wrangling and without the intervention of the court«233 durchgeführt wird, wird ad absurdum geführt, weil die (Anwälte der) Parteien von der Gegenseite viel erfahren, von sich aber nur wenig preisgeben möchten.234

II. England Das englische Verfahrensrecht wird traditionell als Gegenmodell zu dem kontinentaleuropäischen Verfahren bezeichnet, weil es Mittel zur wechselseitigen Offenlegung von Informationen beinhaltet. Letztlich besteht ein System von Pflichten zur Sachverhaltsaufklärung, die vor allem in der pretrial-Phase, d. h. dem Zeitraum zwischen Klageerhebung und Hauptverhandlung, zu erfüllen sind. Durch die Woolf-Reforms235 aus dem Jahre 1999 ist eine Annäherung des englischen Systems an den kontinentaleuropäischen Prozess erfolgt, obgleich von einem Gleichlauf keineswegs gesprochen werden kann.236

  Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 49.   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 50. 233   Harlem River Consumers Cooperative, Inc. v. Associated Grocers of Harlem, Inc. 54 F. R. D. 551, 553 (S. D. N. Y. 1972); gleichzeitig jedoch mit der Feststellung: »The vision is an unreal dream. Regrettably, hostility, and bitterness are more the rule than the exception in unsupervised discovery proceedings.« 234   Brazil American Bar Foundation Research Journal (1980), 217, 250; Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 240; siehe auch Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 50; zum Missbrauch der discovery auch Schroeder/Frank Arizona State Law Journal (1978), 475, 476. 235  Siehe Lord Woolf, Final Report; zu den Reformen: Grainger/Fealy/Spencer, passim; Zuckerman, passim; Andrews ZZPInt 4 (1999), 3 ff.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 452 ff. m. w. N. 236   G. Wagner ZEuP 2008, 6, 22. 231

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1. Woolf-Reforms Es gelten nunmehr die Civil Procedure Rules 1999 (CPR), die auf das Verfahren vor der Civil Division of the Court of Appeal, dem High Court und den County Courts anwendbar sind (Rule 2.1 (1)), sodass es sich um einheitliche Regeln für den Zivilprozess handelt.237 Insoweit muss nicht mehr für die Verfahren vor dem High Court auf die Rules of the Supreme Court 1965 (RSC) und für die Verfahren vor den County Courts auf die County Court Rules 1981 (CCR) zurückgegriffen werden. Diese Regeln sind vielmehr in den Civil Procedure Rules aufgegangen.238 Grund für die umfassende Reform waren insbesondere die hohen Kosten und die lange Verfahrensdauer des englischen Zivilprozesses. 239 Als Ursache für die hohen Kosten und die lange Verfahrensdauer wurde wiederum die adversary procedure 240 ausgemacht, also die Führung des Verfahrens in der Hand der Parteien verbunden mit weitreichenden Dokumentenvorlagepflichten.241 Die aktive materielle Prozessleitung (active case management, siehe Rule 1.4) wurde als wesentliches Element eines effizienten Verfahrens eingestuft. 2. Disclosure Die disclosure im Rahmen des pretrial-Verfahrens ist weiterhin ein zentrales Element des englischen Zivilprozesses.242 Die wechselseitige Offenlegung der   Überblick dazu bei Jolowicz, S.  386 ff.; Sobich JZ 1999, 775 ff.   Bedeutung behalten die RSC und CCR jedoch als Anhang zu den CPR (Schedule 1 und Schedule 2). 239   Kessel ZVglRWiss 92 (1993), 395 f. Befürchtet wurde, dass sich der Markt hochwertiger Rechtsanwaltsdienstleistungen von England in Richtung USA und Kontinentaleuropa verschiebt; siehe ausdrücklich Lord Woolf, Interim Report, Ch. 3 para. 28; dazu G. Wagner ZEuP 2001, 441, 452 f. Fraglich ist, ob tatsächlich diese Änderungen zu einer Abnahme der Verfahren und Kosten geführt haben. Es liegt wohl näher, dass die Änderungen im Kostenrecht (dazu: Bütter RIW 2000, 111 ff.; Sobich JZ 1999, 775, 779), dabei vor allem die Begrenzung der zu erstattenden Kosten, dazu geführt haben; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 454; kritisch zu der Wirksamkeit der Begrenzungsinstrumente Bütter RIW 2000, 111, 112. 240   Dazu ausführlich Andrews, Principles, Rn.  3-001 ff. Das adversary system in Reinform bedeutet die vollständige Herrschaft der Parteien über den Prozessstoff. Es findet keine materielle Prozessleitung durch das Gericht statt. Vielmehr bringen die Parteien den Prozessstoff und die Beweismittel bei und verhören die Zeugen im Haupttermin. Der Richter trifft die Entscheidung sodann nach einer freien Beweiswürdigung. Das entspricht der traditionellen englischen Sichtweise, siehe Jacob, S.  5 : »This system has been the traditional, cardinal basis for the conduct of civil procedure in England since about the middle of the thirteenth century, and it is well settled and deeply rooted.« Nunmehr haben sich Verschiebungen ergeben, siehe Glasser 56 Modern Law Review (1993), 307, 308, 317: »we have moved towards a quasi-adversary system of civil procedure«. 241   Andrews, in: Zuckerman/Cranston, S.  169; Mackie, in: Zuckerman/Cranston, S.  137; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 453. 242   Jacob, S.  68: »In the fabric of English civil justice, the cornerstone of the mansion or the centerpiece of the tapestry, whichever image you prefer, is the system of procedure before the trial.«; zu den Funktionen: Jacob, S.  70 ff. 237

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Dokumente soll die Parteien in die Lage versetzen, die Erfolgsaussichten der Klage oder die Verteidigungsaussichten der Klageerwiderung realistisch beurteilen zu können. Damit soll die Vergleichsbereitschaft der Parteien bereits vor der Hauptverhandlung gesteigert werden.243 Kommt es in dem Abschnitt vor der Hauptverhandlung nicht zu einem Vergleichsschluss, soll die Vorbereitung Überraschungen im Haupttermin ausschließen und eine zeitsparende mündliche Verhandlung ermöglichen.244 Für das Verfahren wurde nicht nur eine neue Bezeichnung – disclosure statt discovery – gewählt, sondern auch inhaltlich haben sich Änderungen, letztlich in Form von Begrenzungen, ergeben.245 Die Civil Procedure Rules sehen eine standard disclosure (Rule 31.6) und eine specific disclosure (Rule 31.12) vor, die die Vorlage solcher Urkunden erfassen, die den Vortrag der Gegenpartei stützen. Part 31 der Civil Procedure Rules gilt allerdings nicht für Verfahren im small claims track (Rule 31.1 (2)).246 Die Benennung aller relevanten Urkunden muss vor Prozessbeginn erfolgen, und zwar ohne Antrag der anderen Partei oder richterliche Anordnung. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage (Order 24 RSC) müssen im Rahmen der standard disclosure nur diejenigen Dokumente vorgelegt werden, die für den Rechtsstreit unmittelbar relevant sind (Rule 31.6), hingegen nicht mehr diejenigen, die lediglich zur Auffindung weiterer Beweismittel führen könnten.247 Nach Rule 31.8 (1) ist die Vorlagepflicht beschränkt auf Dokumente unter seiner (früheren) Kontrolle (»which are or have been in his control«). Mit dem Begriff control wird jedoch eine tatsächliche Beschränkung kaum erreicht, weil ausweislich der Legaldefinition in Rule 31.8 (2) eine weite Auslegung vorzunehmen ist. Das Gericht kann eine specific disclosure anordnen, sodass die betreffende Partei die Existenz weiterer Dokumente offenlegen muss (Rule 31.12). Insoweit kann die Vorlage mittelbar relevanter Dokumente verlangt werden (Rule 31.12).   Hollander, Rn.  1-03; Jacob, S.  92 ff. Die hohe Vergleichsquote ist allerdings maßgeblich auch mit den hohen drohenden Kosten zu erklären; Schaaff, S.  24; Kessel ZVglRWiss 92 (1993), 395, 396, 407. 244   Kessel ZVglRWiss 92 (1993), 395, 407. 245   Katzenmeier JZ 2002, 533, 538. 246   Das Gericht teilt die Verfahren auf drei tracks auf (Rule 26.5); zur Verfügung stehen the small claims track, the fast track und the multi-track (Rule 26.1 para. 2). Lässt man Ausnahmen und Besonderheiten außen vor, gilt the small claims track für Klagen bis zu 5.000 Pfund (Rule 26.6 para. 1). Es bietet ein zügiges, informelles Verfahren ohne die Notwendigkeit anwaltlicher Vertretung. Klagen mit einem Streitwert über 5.000 Pfund bis maximal 15.000 Pfund werden dem fast track zugeordnet (Rule 26.6 para. 4), wenn das Verfahren voraussichtlich nicht länger als ein Tag dauern wird (Rule 26.6 para. 5). The multi-track ist vorgesehen für Verfahren mit einem höheren Streitwert, mit schwierigen Rechtsfragen und höherer Bedeutung (Rule 26.6 para. 5). Im Einzelnen sind jedoch verschiede Kriterien zu berücksichtigen (Rule 26.8). Zur Einteilung der Verfahren in eine der drei Kategorien siehe Zuckerman, para. 11.1; Greger JZ 2002, 1020, 1025; Sobich JZ 1999, 775, 778 f.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 453 f. 247   Grainger/Fealy/Spencer, S.  88; Hollander, Rn.  7–18. 243

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Teil 1:  Grundlagen

Die Nichterfüllung der Offenlegungspflichten stellt einen contempt of court dar, der mit weitreichenden Maßnahmen, die im Ermessen des Gerichts stehen, sanktioniert werden kann: »The powers at the disposal of the court range from making orders as to costs to imprisonment and sequestration.«248 3.  Grenzen der disclosure Beschränkungen stellen die Rechte zur Verweigerung der Einsichtnahme dar. Nach Rule 31.3 kann die Einsichtnahme verweigert werden, »where the party disclosing the document has a right or a duty to withhold inspection of it«. Zu den Weigerungsrechten gehören das legal professional privilege, die public interest immunity und das private privilege. Das legal professional privilege schützt die vertrauliche Beziehung und damit die Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant.249 Erfasst von dem Schutz sind nicht lediglich auf die Prozessführung gerichtete Vorgänge, sondern alle Dokumente, die eine Rechtsberatung betreffen.250 Die Kommunikation des Anwalts mit Dritten wird hingegen nur geschützt, soweit sie der Prozessvorbereitung dient. Die public interest immunity als Grund für die Verweigerung der Einsichtnahme ist in Rule 31.19 aufgenommen worden. Danach sind Urkunden nicht vorzulegen, deren Vertraulichkeit für die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung erforderlich ist.251 Um über die Vertraulichkeit zu befinden, kann sich das Gericht unter Ausschluss der anderen Partei die Urkunden vorlegen lassen.252 Schutzwürdige Privatinteressen werden von dem private privilege erfasst. Neben rein privaten Umständen und dem privilege against self-incrimination, 253 welches davor schützt, sich selbst zu belasten und der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen, fallen darunter Unternehmensgeheimnisse. Dabei gewähren die englischen Gerichte jedoch keinen absoluten Geheimnisschutz, weil das als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren angesehen wird.254 Viel248   Federal Bank of the Middle East Ltd. v. Hadkinson, [2000] 1 W. L. R. 1695, 1711 (C. A. 2000, per Mummery, L. J.). 249   Siehe grundlegend zur Bedeutung des legal professional privilege: Regina v. Derby Magistrates Court, Ex parte B (1996) A. C. 487, 507 (1995, per Lord Taylor, C. J.).: »fundamental condition on which the administration of justice as a whole rests«. 250   Regina v. Board of Inland Revenue, Ex parte Goldberg, (1989) 1 Q. B. 267, 273 ff. (D. C. 1988, per Watkins, L. J.). 251   Burmah Oil Co. Ltd. v. Governor and Co. of the Bank of England, [1980] A. C. 1090, 1121 (H. L. (E.) 1979 per Lord Salmon). 252   Burmah Oil Co. Ltd. v. Governor and Co. of the Bank of England, [1980] A. C. 1090, 1121, 1130, 1136, 1147 (H. L. (E.) 1979, per Lord Salmon); kritisch zur Möglichkeit, in einem Geheimverfahren über die Vertraulichkeit zu befinden: Zuckerman, para. 14.58. 253   Zuckerman, para. 14.51; siehe auch G. Wagner ZEuP 2001, 441, 480. 254   Zuckerman, para. 2.188 ff., 14.51.

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mehr wägen sie das Interesse an Aufklärung gegen das Geheimnisinteresse ab und ordnen in der Folge ausgleichende Maßnahmen an, die die beiderseitige Interessenwahrnehmung jeweils in einem möglichst großen Umfang gewährleistet.255 Dabei wird im Zweifel dem Aufklärungsinteresse der Vorrang eingeräumt, wenn es um private Geheimnisinteressen geht (Ausnahme ist insoweit freilich das privilege against self-incrimination).256 In Spezialbereichen bestehen jedoch Ausnahmen von dem privilege against self-incrimination, etwa im Recht des geistigen Eigentums oder im gewerblichen Rechtsschutz.257 Ein Verstoß gegen das strafrechtliche Selbstbezichtigungsverbot wird durch das sog. secondary privilege vermieden, indem die im Zivilprozess erlangten Erkenntnisse im Strafprozess nicht verwertet werden dürfen.258 4.  Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen Für den Schutz von Unternehmensgeheimnissen haben die Gerichte gestaffelte Instrumente entwickelt, die vor allem in Patentverletzungsverfahren angepasst an den Einzelfall ausgewählt werden können: 259 ein Geheimverfahren, in dem ein unabhängiger und zur Verschwiegenheit verpflichteter Gutachter oder Anwalt die geheimen Erkenntnisse lediglich an das Gericht, nicht jedoch die gegnerische Partei weitergibt; 260 die Einschaltung eines Vertreters der gegnerischen Partei, der über die durch den Gutachter oder Anwalt gewonnen Erkenntnisse informiert wird, gegenüber der Partei jedoch zur Verschwiegenheit verpflichtet ist; 261 die Erlaubnis an einen zur Verschwiegenheit verpflichteten Vertreter der gegnerischen Partei, die Untersuchungen in der geschützten Sphäre selbst durchzuführen.262 Die Einschaltung eines zur Verschwiegenheit verpflichteten Vertreters der gegnerischen Partei ist dabei mit Risiken verbunden, weil die Überwachung der Verschwiegenheit und die Sanktionierung einer Verletzung mit Schwierigkeiten verbunden sind. Die englischen Gerichte sehen diese Pro­ 255   Warner-Lambert Co. v. Glaxo Laboratories Ltd., [1975] R. P. C. 354, 356 (C. A. 1975, per Buckley, L. J.); Zuckerman, para. 14.51. 256   Zuckerman, para. 14.51 ff. 257  Section 72 Supreme Court Act 1981; dazu Andrews, English Civil Procedure, Rn.  29.24 ff. 258   Andrews, English Civil Procedure, Rn.  29.24, 29.32 ff. 259   Siehe dazu G. Wagner ZEuP 2001, 441, 480 f. 260   Colley v. Hart [1890] 7 R. P. C. 101, 104; zurückhaltend zum Geheimverfahren: Dyson Ltd. v. Hoover Ltd. (No.  3) [2002] EWHC 500 = [2002] R. P. C. 42, Pat Ct, [27] (per Laddie, J.). Ebenfalls nur für ein solches Verfahren in Ausnahmefällen Zuckerman, para. 14.72: »Such justification may exist, for example, where disclosure to the party could defeat the ends of justice because of a risk of abuse of the disclosed materials.« 261   Warner-Lambert Co. v. Glaxo Laboratories Ltd., [1975] R. P. C. 354, 361 (C. A. 1975, per Buckley, L. J.). 262   Coloured Asphalte Co. Ld. v. British Asphalt & Bitumen Ld., [1936] 53 R. P. C. 89, 91 f. (Ch. 1935, per Farwell, J.).

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blematik durchaus, nehmen sie aber im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes in Kauf.263 5.  Search order (Anton-Piller-Order) Ein weitreichendes Instrument zur Informationsbeschaffung stellt im englischen Recht die search order dar, die in Rule 25.1 lit.  h CPR i. V. mit Sec. 7 Civil Procedure Act 1997 normiert ist. Durch diese Regelung ist die Anton-Piller-Order normiert worden.264 Die Anton-Piller-Order geht zurück auf den Fall Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd.265 und galt ursprünglich lediglich für Fälle aus den Bereichen des gewerblichen Rechtsschutzes.266 Es handelt sich um eine Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes (interim remedy), die bereits vor der Hauptverhandlung und ohne Anhörung des Gegners (ex parte) 267 ergehen kann.268 Durch die search order wird dem Antragsgegner aufgegeben, darin einzuwilligen, dem Antragsteller und seinen Anwälten (gegebenenfalls begleitet von Sachverständigen) Zutritt zu seinem Gelände und seinen Räumen zu gewähren, sodass sie die Räume durchsuchen und gegebenenfalls Beweise sichern können. Die Ausführung wird in der Regel von einem Supervising Solicitor überwacht (Practice Direction 25A para. 7.2; Ausnahme vorgesehen in para. 7.7). Weil es sich um einen weitreichenden Eingriff in die Rechte des Antragsgegners handelt (»perhaps the most draconian order the court can make«269), 270 wird die search order nur unter strengen Voraussetzungen angeordnet: 271 (1) Es 263   Warner-Lambert Co. v. Glaxo Laboratories Ltd., [1975] R. P. C. 354, 363 (C. A. 1975, per Russell, L. J.). 264   Weiterhin ist die Verwendung des Begriffs Anton-Piller-Order gebräuchlich. 265   (1976) 1 Ch. 55 ff. Bereits in E. M. I. Ltd. v. Pandit (1975) 1 W. L. R. 302 ff. (Ch.D.) wurde jedoch eine solche Anordnung erlassen. 266   Zur Entwicklung Schaaff, S.  120 f. 267   Gerade deshalb handelt es sich um ein wirksames Instrument, weil dadurch ein Überraschungseffekt hergestellt wird. Regelmäßig erfolgt der search order-Antrag daher bereits vor Klageerhebung. 268   Sony Corporation v. Times Electronics (1981) 1 W. L. R. 1293 ff. (Ch.D.). 269   Hollander, Rn.  3 –05. 270  Eingehend Columbia Pictures Industries Inc. v. Robinson (1987) 1 Ch. 38, 73; siehe auch Booker McConnell plc v. Plascow (1985) R. P. C. 425, 441 mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der vorrangigen Prüfung milderer Maßnahmen. 271  Die Anton-Piller-Order sollte zunächst auf Ausnahmefälle begrenzt sein (»that such an order can only be justified in the most exceptional circumstances«); Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. (1976) 1 Ch. 55, 58. Im Laufe der Zeit hat es sich jedoch als routinemäßiger Antrag etabliert, sodass von einem auf Ausnahmefälle beschränkten Institut nicht mehr gesprochen werden konnte; siehe Columbia Pictures Industries Inc. v. Robinson (1987) 1 Ch. 38, 73; Hay, in: Schlosser, S.  1, 43 f. Teilweise wird das zurückgeführt auf die Schwierigkeiten der Gerichte, das Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelnen zu prüfen; Dockray/ Laddie 106 L. Q. R. (1990), 601, 605. Mittlerweile wird der Erlass wieder zurückhaltender gewährt; siehe Hollander, Rn.  3 –05.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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muss nach dem ersten Anschein eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des von dem Kläger geltend gemachten Hauptsacheanspruchs gegeben sein (»extremely strong prima facie case«); 272 (2) dem Antragsteller muss ein erheblicher Schaden entstanden sein oder drohen (»the damage, potential or actual, must be very serious for the applicant«); (3) es müssen sich klare Beweise dafür finden, dass sich in dem Besitz des Antragsgegners relevantes Beweismaterial befindet und die ernste Möglichkeit besteht, dass er dieses vernichtet (»clear evidence that the defendants have in their possession incriminating documents or things, and that there is a real possibility that they may destroy such material before an application inter partes can be made«).273 Darüber hinaus muss sich der Antragsteller verpflichten, die Schäden des Antragsgegners zu ersetzen, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Maßnahme ungerechtfertigt war. Die Anordnung des Gerichts ist so zu wählen, dass dem Antragsgegner kein echter Nachteil entsteht (»no real harm«).274 Die formellen Voraussetzungen für die Anordnung ergeben sich aus Practice Direction 25A para. 7. Weigert sich der Antragsgegner, die Einwilligung entsprechend der Anordnung zu erteilen, stellt das eine Missachtung des Gerichts (contempt of court) dar, die zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe führen kann. Darüber hinaus kann das Gericht die verweigerte Einwilligung negativ würdigen.275 Faktisch bleibt dem Antragsgegner daher nur die Möglichkeit der Einwilligung.276 6.  Fazit zum englischen Recht Die Parteien sind im englischen Zivilprozess somit zur Aufklärung und Do­ kumentenvorlage verpflichtet, und zwar unabhängig davon, ob der Inhalt der Dokumente zum eigenen Vor- oder Nachteil gereicht.277 Unter Geltung des früheren Rechts führte die discovery zu einem aufgeblähten Vorverfahren.278 Es bestand eine Vorlagepflicht für Dokumente, die erst zu unmittelbar beweisrelevantem Material führen, selbst aber nicht unmittelbar beweisrelevant sind

272  Die search order dient mithin nicht Ausforschungszwecken; Greek City Co. Ltd. v. Demetriou and Athanasiou (1983) F. S. R. 442, 448 (Ch.D.). 273   Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. (1976) 1 Ch. 55, 62 (per Ormrod, L. J.). 274   Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. (1976) 1 Ch. 55, 61 (per Lord Denning, M. R.). Letztlich folgt aus diesem Kriterium eine Abwägung zwischen den Interessen des Antragstellers und Antragsgegners. Teilweise wird das auch als vierte Voraussetzung eingeordnet; siehe etwa Dockray/Laddie 106 L. Q. R. (1990), 601, 605. 275   Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. (1976) 1 Ch. 55, 62 (per Ormrod, L. J.). 276   Hay, in: Schlosser, S.  1, 46. 277   In der Tat geht es ja gerade um die Dokumente, deren Inhalt für die vorlegende Partei nachteilig ist; Mackie, in: Zuckerman/Cranston, S.  137, 138. 278   Lord Woolf, Interim Report, Ch. 3 para. 10: »completely out of control«; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465.

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Teil 1:  Grundlagen

(»which may fairly lead him to a train of inquiry«279). Das traditionelle englische System wurde reformiert, weil es von den eigenen »Anwendern« als nicht sachgerecht eingestuft wurde. Als Vorbild für das deutsche (oder ein europäisches) System kann das traditionelle englische Zivilprozessrecht daher nicht dienen.280 Durch die Woolf-Reforms sollten die Auswüchse verhindert werden. Terminologisch sollte der Wandel dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass nunmehr statt discovery der Begriff disclosure verwendet wird.281 Ein wesentlicher Aspekt der Woolf-Reforms war die Stärkung der materiellen Prozessleitung im vorprozessualen Verfahren. Wohl vor allem dadurch konnte die Anzahl der Verfahren, die durch einen Vergleich oder Klagerücknahme beendet wurden, erhöht werden.282 Die aktive materielle Prozessleitung (active case management, siehe Rule 1.4) trägt somit zu einer geringeren Verfahrensdauer bei.283 In Folge der Woolf-Reforms ist das Gericht in der Lage, das Beweisverfahren zu kontrollieren, sodass Auswüchse von Informations- und Vorlagepflichten verhindert werden können.284 Im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Aufklärungsaufwand zu dem Streitwert nicht außer Verhältnis steht (vgl. Practice Direction 31A para. 2).285 Weiterhin steht im englischen Zivilprozess – und an dieser Grundhaltung hat sich durch die Woolf-Reforms nichts geändert – die Ermittlung der Wahrheit im Vordergrund: »In plain language, litigation in this country is conducted ›cards face up on the table.‹ Some people from other lands regard this as incomprehensible. ›Why,‹ they ask, ›should I be expected to provide my opponent with the means of defeating me?‹ The answer, of course, is that litigation is not a war or even a game. It is designed to do real justice between opposing parties and, if the court does not have all the relevant information, it cannot achieve this object.«286

279   Compagnie Financière du Pacifique v. Peruvian Guano Co. [1882] 11 Queen’s Bench Division (Q. B. D.) 55, 63 (Brett, L. J.). 280   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465; tendenziell anders Roth ZZP 109 (1996), 271, 291 ff. 281   Der Begriff disclosure ist der Oberbegriff für die Offenlegung der Existenz eines bestimmten Dokuments, inspection bezeichnet die Einsicht eines bestimmten Dokuments; CPR Rules 31.2, 31.15; Lord Woolf, Interim Report, Ch. 21 para. 10. 282  The Lord Chancellor’s Department, Civil Justice Reform Evaluation (March 2001), Nr.  4.3 und 4.4; dazu auch Greger JZ 2002, 1020, 1025. 283   Greger JZ 2002, 1020, 1025 f.; Andrews, in: Zuckerman/Cranston, S.  169, 173 f. Zu den Schritten, die bereits vorher eingeleitet wurden, um die Stellung des Gerichts zu stärken, siehe Glasser 56 Modern Law Review (1993), 307 ff. (darüber hinaus zur teilweisen Abschwächung des principle of orality). 284   Greger JZ 2000, 842, 847 Fn.  48: »sehr differenzierte Regelung«; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 462. 285   G. K. R. Karate (U. K.) Ltd. v. Yorkshire Post Ltd., [2000] 1 W. L. R. 2571, 2577 (Court of Appeal, May, L. J.). 286   Davies v. Eli Lilly & Co., [1987] 1 W. L. R. 428, 431 (Court of Appeal, Sir Donaldson, M. R.); zustimmend: Andrews, Principles, Rn.  2–005.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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III. Österreich Die Stoffsammlung erfolgt in Österreich wie in Deutschland in der Verantwortung der Parteien (§§  178 Abs.  1, 226 Abs.  1 öZPO). Die Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Parteien wird jedoch immer stärker in Richtung Untersuchungsgrundsatz verschoben, sodass teilweise von einem abgeschwächten Untersuchungsgrundsatz ausgegangen wird.287 Im Unterschied zum reinen Untersuchungsgrundsatz kann der Richter jedoch nicht von Anfang an ohne Behauptungen der Parteien nach Tatsachen forschen. Ausgangspunkt der Stoffsammlung ist damit weiterhin der Verhandlungsgrundsatz.288 Dabei sind die Parteien an die Wahrheitspflicht gebunden.289 Dementsprechend müssen die Parteien neben den für sie günstigen auch die ungünstigen Umstände vortragen.290 1.  Materielle richterliche Prozessleitung Der Verhandlungsgrundsatz wird durch Einwirkungsmöglichkeiten des Gerichts flankiert. Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen tatsächlichen Angaben gemacht oder ungenügende Angaben vervollständigt, die Beweismittel bezeichnet oder die angebotenen Beweise ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur wahrheitsgemäßen Feststellung des Tatbestands der von den Parteien behaupteten Rechte und Ansprüche notwendig erscheinen (§  182 Abs.  1 öZPO).291 Die materielle Prozessleitung zur wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung wird betont. Dadurch sollen der Tatsachenvortrag und die Beweisangebote der Parteien vervollständigt, Widersprüche und Unklarheiten aufgeklärt werden.292 2. Vorlagepflichten der Parteien Vergleichbar dem deutschen Recht sind die Regelungen der §§  303 ff. öZPO ausgestaltet. Behauptet eine Partei, dass sich eine für ihre Beweisführung erhebliche Urkunde in den Händen des Gegners befindet, so kann auf ihren Antrag das Gericht dem Gegner die Vorlage der Urkunde durch Beschluss auftragen (§  303 Abs.  1 öZPO). Die antragstellende Partei muss den Inhalt der Urkunde mög-

  Rechberger, in: Fasching, vor §  266 Rn.  1 f.; Rechberger/Simotta, Rn.  403.   Rechberger/Simotta, Rn.  403. 289   Fasching, Rn.  653. In diesem Punkt wird eine Hinwendung zum Untersuchungsgrundsatz gesehen; Rechberger/Simotta, Rn.  404. 290   Fasching, Rn.  653. 291   Sog. »diskretionäre Gewalt« des Richters zur möglichst wahrheitsgemäßen Sachverhaltsfeststellung; Rechberger/Simotta, Rn.  404. 292   Fasching, Rn.  655. 287

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lichst genau und vollständig angeben sowie die Tatsachen anführen, die durch die vorzulegende Urkunde bewiesen werden sollen (§  303 Abs.  2 öZPO). Im Vergleich zum deutschen Recht sind die Anforderungen an die Konkretisierung geringer. Ein unzulässiger Erkundungsbeweis wird erst angenommen, wenn eine Tatsache nicht behauptet wurde, sondern über den Beweis ermittelt werden soll (unzulässiger Erkundungsbeweis).293 Hingegen werden nicht ausreichend konkretisierte oder »auf gut Glück« formulierte Beweisanträge als zulässig erachtet, weil die Zulässigkeit eines Beweisantrags ansonsten vom Formulierungsgeschick einer Partei abhänge.294 Zwar enthält die österreichische Zivilprozessordnung vergleichbar dem deutschen Recht die Regelung, dass sowohl die Tatsachen als auch die Beweismittel genau zu bezeichnen sind (§  226 öZPO). Allerdings ist ratio dieses Konkretisierungserfordernisses nicht die Verhinderung einer Ausforschung der Gegenseite, sondern es soll die Vorbereitung der Beweisaufnahme durch das Gericht ermöglichen.295 Die öZPO intendiert die vollständige Vorlage der Beweismittel, eine Vorenthaltung der Beweismittel der anderen Partei gegenüber ist zu verhindern. 296 Die Vorlage der Urkunde kann nicht verweigert werden, wenn der Gegner selbst auf die Urkunde zum Zwecke der Beweisführung im Prozess Bezug genommen hat; wenn der Gegner nach bürgerlichem Rechte zur Aushändigung oder Vorlage der Urkunde verpflichtet ist; wenn die Urkunde ihrem Inhalte nach eine beiden Parteien gemeinschaftliche ist (§  304 Abs.  1 öZPO). Die Vorlage anderer Urkunden, auf deren Vorlage der Antragsteller keinen Anspruch hat, kann unter bestimmten Voraussetzungen (Beispiele: Urkunde betrifft Familienangelegenheiten; Vorlage würde eine Verschwiegenheitspflicht oder ein Geschäftsgeheimnis verletzen) verweigert werden (§  305 öZPO). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass diese Urkunden vorgelegt werden müssen, wenn kein Weigerungsrecht besteht (sog. »bedingte Vorlagepflicht«297). 3. Beweiserhebung von Amts wegen Darüber hinaus kann das Gericht Beweise von Amts wegen erheben. Um ein vollständiges Bild über die Tatsachengrundlage zu erhalten, kann der Vorsitzende unter anderem die Vorlage der in den Händen der Parteien befindlichen Urkunden, auf welche sich die eine oder die andere berufen hat, Akten, Auskunftssachen oder Augenscheinsgegenstände anordnen (§   183 Abs.   1 Nr.   2 öZPO). Diese Verfügungen können jedoch in Ansehung von Urkunden (und Zeugen) nicht getroffen werden, wenn sich beide Parteien dagegen erklären   Fasching, Rn.  898; Kapoor, S.  141.   Fasching, Rn.  898; Kapoor, S.  141. 295   Fasching, Rn.  9 04. 296   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 16. 297   Fasching, Rn.  959. 293

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§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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(§  183 Abs.  2 öZPO).298 Das Gericht soll einen Beweis sogar über Tatsachen erheben können, die von den Parteien nicht vorgetragen worden sind (Ausforschungs- oder Erkundungsbeweis).299 Insoweit zeigt sich ein Unterschied zum deutschen Verfahren, in dem eine amtswegige Beweisaufnahme nicht der Erforschung eines neuen Sachverhalts dienen darf. Umstritten ist zur österreichischen Rechtslage »lediglich«, ob das Gericht die über den bisherigen Tatsachenvortrag festgestellten Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde legen darf, wenn die Parteien sich diese nicht zu eigen gemacht haben.300 Die Rechtsprechung lässt das teilweise zu,301 solange die Parteien sich nicht ausdrücklich gegen eine Verwertung aussprechen.302 Nach Auffassung des Schrifttums sind die »überschießenden Beweisergebnisse« der Entscheidung zugrunde zu legen, selbst wenn die behauptungsbelastete Partei untätig bleibt. Ansonsten würde das Gericht entgegen der gewonnenen Erkenntnisse ein auf unrichtiger Tatsachengrundlage beruhendes Urteil erlassen.303 Voraussetzung sei jedoch die Gewährung rechtlichen Gehörs, mithin die Erörterung der Ergebnisse mit den Parteien.304 Das Gericht verfügt somit im Gegensatz zum deutschen Recht über ein »Initiativrecht«. Freilich ist dieses nicht unbeschränkt, sondern wird durch die Bindung an das Geständnis einer Partei (§§  266, 267 öZPO) oder einen übereinstimmenden Vortrag der Parteien begrenzt. 4. Weigerungsrechte Im Vergleich zum deutschen Zivilprozessrecht sind die Weigerungsrechte der Parteien und Dritter weitgehend.305 Sie können die Aussage nach §§  321, 380 öZPO verweigern. Ein Weigerungsrecht besteht insbesondere bei der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (§  321 Abs.  1 Nr.  1 öZPO). Dritte können die Aus298   Diese Ausnahmevorschrift wird in der österreichischen Literatur als systemwidrig kritisiert (»der Wahrheitserforschung ohnedies kontraproduktiv«), teilweise wird die Einschränkung auch als überschätzt angesehen, weil sich in der Praxis ein Bedürfnis nach Aufnahme eines Zeugen- und Urkundenbeweises gegen den Willen der Parteien kaum ergebe; Rechberger/Simotta, Rn.  404. Die Einschränkung gilt nicht für den Augenschein, Sachverständige und Parteivernehmung, weil dem Gericht insoweit die persönliche Wahrnehmung nicht abgeschnitten werden soll; Fasching, Rn.  660. 299   Fasching, Rn.  659; Rechberger/Simotta, Rn.  405. 300  Dazu Fasching, Rn.  899; Rechberger/Simotta, Rn.  405. 301   OGH JBl.  1964, 208. 302   OGH JBl.  1972, 271, 272; tendenziell auch OGH RZ 1967, 105; anders hingegen OGH SZ 7/247; SZ 41/87: Parteien müssen befragt werden, ob sie zu dem überschießenden Be­ weisergebnis entsprechende Tatsachenbehauptungen aufstellen. 303   Holzhammer, S.  128; Fasching, Rn.  661. 304   Fasching, Rn.  899. 305  Kritisch zu solch weitgehenden Weigerungsrechten Schlosser, in: FS Sonnenberger, S.  135, 141; kritisch in Bezug auf die Anlehnung an den für Zeugen geltenden Vorschriften G. Wagner ZEuP 2001, 441, 495.

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Teil 1:  Grundlagen

sage verweigern, wenn sie einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Nachteil bedeuten würde (§  321 Abs.  1 Nr.  2 öZPO). Auf dieses Weigerungsrecht können sich die Parteien nicht berufen (§  380 Abs.  1 S.  2 öZPO). Angesprochen wurde bereits das Weigerungsrecht der Vorlage von Urkunden nach §  305 öZPO, welches für die Parteien, nicht aber für Dritte gilt. Dieses Weigerungsrecht betrifft Urkunden, auf deren Vorlage kein Anspruch besteht. Weigerungsrechte bestehen insoweit zum Schutz von Familienangelegenheiten, zum Schutz der Ehrenpflicht, wenn die Vorlage der Partei oder dritten Personen zur Schande gereichen oder die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung begründen würde, zum Schutz der Verschwiegenheitspflicht sowie aufgrund anderer gleichwertiger Gründe. 5. Sanktionen Die Mitwirkung einer Partei wird im Falle der (nicht berechtigten) Verweigerung nicht erzwungen (§  380 Abs.  3 öZPO), sondern der Partei drohen insoweit Prozessnachteile.306 Das Gericht kann die verweigerten Handlungen nach seinem Ermessen würdigen. Die Aussageverweigerung ist unter sorgfältiger Würdigung aller Umstände zu beurteilen (§  381 öZPO). Legt der Gegner entgegen einer Anordnung des Gerichts die Urkunde nicht vor, steht es nach sorgfältiger Würdigung aller Umstände im richterlichen Ermessen, die Angaben des Beweisführers über den Inhalt der Urkunde als erwiesen anzusehen (§  307 Abs.  2 öZPO).307 Die Beurteilung im Ermessen des Gerichts gilt zudem für die verweigerte Herausgabe einer Sache in dem Besitze der Gegenpartei oder in der Verwahrung einer öffentlichen Behörde oder eines Notars zwecks Beweises durch Augenschein (§  369 öZPO). Die verweigerte Mitwirkung eines Dritten kann hingegen unmittelbar sanktioniert werden. Gegen den ordnungsmäßig geladenen, jedoch ausgebliebenen Zeugen wird eine Ordnungsstrafe verhängt (§  333 Abs.  1 öZPO). Die Urkundenvorlage durch einen Dritten kann zwangsweise erwirkt werden (§  308 Abs.  2 S.  3 öZPO). 6.  Fazit zum österreichischen Recht Die weitgehenden Befugnisse des Gerichts im Vergleich zum deutschen Zivilprozess führen dazu, dass von einem »abgeschwächten Untersuchungsgrundsatz« gesprochen wird.308 Insoweit ist in der Tat das gesetzliche Regime dafür vorhanden. Eine starke Stellung des Gerichts ist gesetzlich vorgesehen. Die Anforderungen an die Konkretisierung der Urkunde, um einen Vorlagebeschluss   Kritisch dazu G. Wagner ZEuP 2001, 498.   Rechberger, in: Fasching, §  307 Rn.  18. 308   Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 696; Holzhammer, S.  127 f. spricht von einer »Sammelmaxime« bei auf Parteien und Gericht verteilter Verantwortung. 306 307

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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des Gerichts herbeizuführen, sind im Vergleich zum deutschen Recht geringer. Darüber hinaus ermöglichen die gesetzlichen Grundlagen sogar eine über den Tatsachenvortrag der Parteien hinausgehende Beweiserhebung. Damit kann das Gericht die Vorlage von Urkunden anordnen, die dem Prozessgegner zum Prozesssieg verhelfen.309 Gleichwohl sollte nicht von der Geltung eines Untersuchungsgrundsatzes gesprochen werden,310 sondern von einem Verhandlungsgrundsatz mit Elementen des Untersuchungsgrundsatzes.311 Die materielle richterliche Prozessleitung ist stark ausgeprägt. Es ist die Tendenz zu erkennen, sich von der sporting theory of justice zu verabschieden: »Im Prozeß soll nicht der Aktivere und Geschicktere siegen, sondern derjenige, der recht hat. Das läßt sich nur durch eine Verstärkung der Parteipflichten und der aktiven Rolle des Richters erreichen.«312

IV. Schweiz In der Schweiz bestand bis zum 31.12.2010 kein einheitliches »schweizerisches« Zivilprozessrecht, sondern ein Konglomerat von 26 kantonalen Zivilprozessgesetzen und verschiedenen Normen des Bundesrechts.313 Die Schweizerische Zivilprozessordnung (sZPO),314 die zum 1.1.2011 in Kraft getreten ist, ersetzt die kantonalen Zivilprozessgesetze und führt zu einem vereinheitlichten Verfahrensrecht.315 1.  Materielle richterliche Prozessleitung In der Schweiz erfolgt eine materielle richterliche Prozessleitung, von der vor allem in der Instruktionsverhandlung, die das Gericht jederzeit durchführen kann (Art.  226 Abs.  1 sZPO), Gebrauch gemacht wird.316 Die Instruktionsverhandlung dient der freien Erörterung des Streitgegenstands, der Ergänzung des Sachverhalts, dem Versuch einer Einigung und der Vorbereitung der Hauptverhandlung (Art.  226 Abs.  2 sZPO). Darüber hinaus kann das Gericht bereits Beweise abnehmen (Art.  226 Abs.  3 sZPO).   Rechberger, in: Fasching, vor §  266 Rn.  3 : »allgemeine Pflicht des Verfahrensgegners zur Nutzbarmachung aller Beweismittel«. 310   Fasching, Rn.  660. 311   Siehe OGH SZ 23/332: Betonung des von der Verhandlungsmaxime geleiteten Zivilprozesses; Fasching, Rn.  665. 312   Fasching, Rn.  651. 313   Dazu im Überblick Sutter-Somm, in: FS Leipold, S.  751 ff. 314   Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19.12.2008, BBl.  2009, 21 ff.; AS 2010, 1739 ff. 315   Zu der Entwicklung im Überblick Sutter-Somm, in: FS Leipold, S.  751, 759 ff. Im Einzelnen: Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28.6.2006, BBl.   2006, 7221 ff.; Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung, BBl.  2006, 7413 ff. 316   Siehe dazu im Einzelnen Naegeli, in: Oberhammer, Art.  226 Rn.  1 ff. 309

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Teil 1:  Grundlagen

2.  Verhandlungsgrundsatz als Ausgangspunkt In der Schweizerischen Zivilprozessordnung werden in Art.  55 sowohl der Verhandlungs- als auch der Untersuchungsgrundsatz genannt. Im Grundsatz haben die Parteien im ordentlichen Verfahren 317 dem Gericht die Tatsachen und die Beweismittel anzugeben (Art.  55 Abs.  1 sZPO). Das Verfahren wird von dem Verhandlungsgrundsatz geprägt.318 Es gilt das Prinzip der formellen, relativen Wahrheit.319 Allerdings bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhalts und die Beweiserhebung von Amts wegen vorbehalten (Art.  55 Abs.  2 sZPO). Darüber hinaus ist eine gerichtliche Fragepflicht (nicht lediglich ein Fragerecht320 ) normiert, um unklaren, widersprüchlichen, unbestimmten oder offensichtlich unvollständigen Parteivortrag zu klären und zu ergänzen (Art.  56 sZPO). Die Fragepflicht ist auf »klare Mängel« beschränkt, um nicht einen Widerspruch zum Verhandlungsgrundsatz hervorzurufen.321 3. Tatsachenfeststellung Gegenstand des Beweises sind rechtserhebliche, streitige Tatsachen (Art.  150 Abs.  1 sZPO).322 Die Beweisaufnahme erfolgt in der Regel aufgrund der von den Parteien angebotenen Beweismittel (Art.  152 Abs.  1 sZPO). Eine Beweiserhebung von Amts wegen hat zu erfolgen, wenn der Sachverhalt von Amts wegen festzustellen ist (Art.  153 Abs.  1 sZPO). Darüber hinaus kann das Gericht von Amts wegen Beweis erheben, wenn an der Richtigkeit der unstreitigen Tatsache erhebliche Zweifel bestehen (Art.  153 Abs.  2 sZPO). Insoweit besteht also keine Bindung an die Tatsachengeständnisse der Parteien. Nach herrschender Mei-

317   Im vereinfachten Verfahren gilt in bestimmten Angelegenheiten der Untersuchungsgrundsatz (Art.  247 Abs.  2 sZPO). 318   Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28.6.2006, BBl.  2006, 7221, 7275; siehe auch Walder-Richli/Grob-Andermacher, §  17 Rn.  1 ff.; Domej ZZPInt 11 (2006), 239, 254 (zu dem Entwurf für eine Schweizerische Zivilprozessordnung); Gasser/Rickli, Art.  55 Rn.  2 ff.; Oberhammer, in: Oberhammer, Art.  55 Rn.  7; Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  10 Rn.  20 ff. und §  18 Rn.  7. 319   Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28.6.2006, BBl.  2006, 7221, 7311; Gasser/Rickli, Art.  150 Rn.  1. 320   Der Wortlaut des Vorentwurfs sah noch ein Fragerecht vor; siehe dazu Domej ZZPInt 11 (2006), 239, 256 f. 321  Kritisch Domej ZZPInt 11 (2006), 239, 256 f., die konstatiert, dass die materielle Prozessleitung gleichwohl deutlich hinter den Möglichkeiten im deutschen Prozess (§  139 ZPO) zurückbleibe. 322   Im Schweizerischen Zivilgesetzbuch ist der Grundsatz der Beweislastverteilung geregelt (Art.  8): »Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet.« Dies gilt, soweit bundesrechtliche Ansprüche zu beurteilen sind; Frank/Sträuli/Messmer, vor §  133 ZPO Rn.  1.

§  3  Rechtsvergleichende Grundlagen

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nung können überschießende Erkenntnisse ganz oder teilweise verwertet werden.323 4.  Mitwirkungslasten und -pflichten Die Schweizerische Zivilprozessordnung regelt ausdrücklich Mitwirkungspflichten und -lasten sowie Verweigerungsrechte der Parteien und Dritter.324 Als Mitwirkungsbeiträge sieht Art.  160 Abs.  1 sZPO vor, dass Parteien und Zeugen wahrheitsgemäß auszusagen, Urkunden herauszugeben sowie einen Augenschein an Person oder Eigentum durch Sachverständige zu dulden haben.325 Dabei handelt es sich für Dritte um eine echte Pflicht, die sanktionsbewehrt ist (Art.  167 sZPO); für die Parteien handelt es sich um eine prozessuale Last (Art.  164 sZPO).326 Ausgenommen von der Urkundenherausgabe ist die anwaltliche Korrespondenz, soweit sie die berufsmäßige Vertretung einer Partei oder einer Drittperson betrifft (Art.  160 Abs.  1 lit.  b sZPO).327 Darüber hinaus darf die Urkundenvorlage nicht einem Beweisfischzug dienen, sondern die Urkunde muss spezifiziert sein.328 Vergleichbar dem deutschen Recht (§  258 HGB) ist die Pflicht zur Vorlage von kaufmännischen Geschäftsbüchern prozessualer Natur (Art.  963 Obligationenrecht). Die prozessualen Mitwirkungslasten und -pflichten sind deswegen so essentiell, weil die Durchsetzung der materiellrechtlichen Editionsansprüche (etwa aus dem Obligationenrecht) zeitintensiv sein kann und es im Ermessen des Gerichts steht, ob es das anhängige Verfahren bis zur Entscheidung über die Vorlageklage aussetzt.329 Privatrechtliche Vorlagepflichten werden daher bedeutsam für die Einsichtnahme zu Informationszwecken außerhalb des Prozesses, insbesondere im Hinblick auf einen möglichen künftigen Prozess.330 5. Weigerungsrechte Die Parteien können sich darauf berufen, dass sie eine ihnen nahestehende Person der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder zivilrechtlicher Verantwortlichkeit aussetzen würden (Art.  163 Abs.  1 lit.  a sZPO). Ein Verweigerungsrecht   Leuenberger, in: FS Kellerhals, S.  313 ff.   Siehe dazu Sutter-Somm ZZPInt 7 (2002), 369, 382 ff. (zum Vorentwurf); zu den Vorlagpflichten siehe Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  110. 325  Dritte haben einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung (Art.  160 Abs.  3 sZPO). 326   Gasser/Rickli, Art.  164 Rn.  1 und Art.  168 Rn.  1; Schmid, in: Oberhammer, Art.  160 Rn.  1; Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  65. 327   Siehe dazu Gasser/Rickli, Art.  160 Rn.  8 ff. 328   Gasser/Rickli, Art.  160 Rn.  7. 329   Habscheid, Rn.  684. 330   Siehe dazu Frank/Sträuli/Messmer, vor §  183 ZPO Rn.  5. 323 324

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Teil 1:  Grundlagen

besteht ebenfalls, wenn sich die Partei wegen Verletzung eines Geheimnisses strafbar machen würde (Art.  163 Abs.  1 lit.  b sZPO); ausgenommen sind die Revisorinnen und Revisoren. Mit Ausnahme der Anwältinnen und Anwälte sowie der Geistlichen haben die Parteien jedoch mitzuwirken, wenn sie einer Anzeigepflicht unterliegen oder wenn sie von der Geheimhaltungspflicht entbunden worden sind, es sei denn, sie machen glaubhaft, dass das Geheimhaltungsinteresse das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt (Art.  163 Abs.  1 lit.  b a. E. i. V. mit Art.  166 Abs.  1 lit.  b Hs.  3 sZPO). Die Trägerinnen und Träger anderer gesetzlich geschützter Geheimnisse können die Mitwirkung verweigern, wenn sie glaubhaft machen, dass das Geheimhaltungsinteresse das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt (Art.  163 Abs.  2 sZPO). Für Dritte wird zwischen einem umfassenden und einem beschränktem Verweigerungsrecht unterschieden. Jede Mitwirkung (umfassendes Verweigerungsrecht) kann verweigern, wer mit einer Partei in einem bestimmten Näheverhältnis steht (siehe Art.  165 Abs.  1 sZPO). Das beschränkte Verweigerungsrecht sieht unter anderem vor, dass ein Dritter die Mitwirkung grundsätzlich verweigern kann, soweit er sich wegen Verletzung eines Geheimnisses strafbar machen würde (Art.  166 Abs.  1 lit.  b sZPO). Über die Mitwirkungspflicht und das Verweigerungsrecht klärt das Gericht die Parteien und Dritte auf (Art.  161 Abs.  1 sZPO). Unterlässt es die Aufklärung über das Verweigerungsrecht, darf es die erhobenen Beweise nicht berücksichtigen, es sei denn, die betroffene Person stimmt zu oder die Verweigerung wäre unberechtigt gewesen (Art.  161 Abs.  2 sZPO). Verweigert eine Partei oder eine dritte Person die Mitwirkung berechtigterweise, darf das Gericht daraus nicht auf die zu beweisende Tatsache schließen (Art.  162 sZPO). 6.  Insbesondere: Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen Zur Wahrung der schutzwürdigen Interessen einer Partei oder eines Dritten trifft das Gericht die erforderlichen Maßnahmen (Art.  156 sZPO), wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.331 Im Einzelfall kann der Ausschluss einer Partei angeordnet werden.332 Als schutzwürdig werden explizit Geschäftsgeheimnisse eingestuft. 333 331   Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28.6.2006, BBl.  2006, 7221, 7314; Gasser/Rickli, Art.  156 Rn.  2 ; Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  25; Dolge, in: Spühler, S.  33, 38. 332   Schmid, in: Oberhammer, Art.  156 Rn.  4. 333   Der Schweizer Bundesgesetzgeber hatte sich bereits in dem Bundesgesetz über den Zivilprozess vom 4.12.1947 (das Bundesgesetz regelt das Verfahren in den vom Bundesgericht als einziger Instanz auf Klage zu beurteilenden Streitsachen, die in Artikel 120 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17.6.2005 [BGG] angeführt sind; zu den Streitigkeiten gehören insbesondere Kompetenzkonflikte zwischen Bundesbehörden und kantonalen Behörden sowie zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder zwi-

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Anders als die Verweigerungsrechte führen die Schutzmaßnahmen nicht zu einer vollständigen Verweigerung der gesetzlichen Mitwirkung, weil aufgrund des Amtsgeheimnisses eine Äußerung oder Urkundenvorlage gegenüber dem Richter möglich bleibt.334 Es stellt sich dann aber die Frage, ob das Gericht diesen Beweis verwerten darf. Problematisch ist das im Hinblick auf das rechtliche Gehör der Parteien, das ihnen eine Teilnahme am Beweisverfahren und die Möglichkeit der Äußerung gewährt. Daher muss das Gericht die Parteien über den wesentlichen Inhalt der Beweisaufnahme informieren, etwa durch die Abschrift eines Protokolls, und ihnen Gelegenheit zu Zusatzfragen geben. Unter diesen Voraussetzungen soll die Verwertung des Beweisergebnisses zulässig sein.335 Um einen Ausgleich zwischen Erkenntnis und Geheimhaltung zu gewährleisten, bestand unter Geltung der zürcherischen Zivilprozessordnung ein weites richterliches Ermessen.336 Für Urkunden kam als ausgleichende Schutzmaßnahme etwa die Beschränkung der Einsicht auf den Parteivertreter in Betracht.337 Möglich war ebenfalls die Einschaltung eines unbeteiligten Dritten (Sachverständigen), der den Beweis erhebt und die Parteien vom Ergebnis unterrichtet. Der Richter konnte den Beweis ohne Zuziehung der Parteien (bzw. der risikobelasteten Partei) erheben. Entsprechend der Geheimhaltungsnotwendigkeit konnte der Richter die Parteien darüber unterrichten oder das Urteil sogar ohne Unterrichtung der Partei(en) fällen.338 Schließlich war es zulässchen Kantonen) für die Möglichkeit eines Geheimverfahrens entschieden. Nach Art.  38 S.  1 des Bundesgesetzes über den Zivilprozess vom 4.12.1947 sind die Parteien zwar grundsätzlich berechtigt, der Beweiserhebung beizuwohnen und in die vorgelegten Urkunden Einsicht zu nehmen. Wo es zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen einer Partei oder eines Dritten nötig ist, hat der Richter jedoch von einem Beweismittel unter Ausschluss der Gegenpartei oder der Parteien Kenntnis zu nehmen (Art.  38 S.  2). Der Zivilprozess wurde damit in Ausnahmefällen ausdrücklich zum Geheimverfahren erhoben; positiv bewertend G. Wagner ZZP 108 (1995), S.  193, 211; kritisch Habscheid, Rn.  659. Das Geheimverfahren war auch in Zivilprozessordnungen einiger Kantone vorgesehen, siehe etwa die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern vom 7.7.1918; für den Urkundenbeweis: »Wenn durch die Herausgabe von Urkunden an das Gericht berechtigte Interessen verletzt würden, so kann verfügt werden, dass der Instruktionsrichter oder eine Abordnung des Gerichtes beim Inhaber von der Urkunde Einsicht nehmen.« (Art.  229 Abs.  2 ZPO BE); inhaltsgleich für den Beweis durch Augenschein: »Soweit es sich um Geschäftsgeheimnisse handelt, kann das Gericht den Ausschluss derjenigen Partei verfügen, welche nicht berechtigt ist, von dem Geheimnis Kenntnis zu nehmen.« (Art.  261 Abs.  2 ZPO BE); für das Parteiverhör: »Handelt es sich um ein Geschäftsgeheimnis, so kann die nicht einvernommene Partei zum Austritt verpflichtet werden.« (Art.  276 Abs.  2 ZPO BE). 334   Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  26. 335   Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  26. 336   Habscheid, Rn.  659. 337   Frank/Sträuli/Messmer, §  145 ZPO Rn.  3a (zum Akteneinsichtsrecht nach §  56 Abs.  2 ZPO ZH). 338   Kritisch insoweit Habscheid, Rn.  659, der auf den Schutz des rechtlichen Gehörs hinweist.

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Teil 1:  Grundlagen

sig, bei Urkunden schutzwürdige Stellen, die für den Prozess unerheblich waren, abzudecken (§  186 Abs.  3 ZPO ZH). Diese Schutzmaßnahmen wird man unter Geltung der Schweizerischen Zivilprozessordnung weiterhin zulassen können. 7. Sanktionen Die unberechtigte Verweigerung einer Partei ist vom Gericht bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (Art.  164 sZPO), wobei dies de facto zu einer Fiktion der Wahrheit der behaupteten Tatsache führen kann.339 Im Falle der unberechtigten Verweigerung340 eines Dritten kann das Gericht (a) eine Ordnungsbuße bis zu 1.000 Franken anordnen; (b) eine Strafdrohung aussprechen; (c) die zwangsweise Durchsetzung anordnen; (d) die Prozesskosten auferlegen, die durch die Verweigerung verursacht worden sind (Art.  167 Abs.  1 sZPO). 8.  Fazit zum Schweizer Recht Der Verhandlungsgrundsatz gilt in der Schweizerischen Zivilprozessordnung nicht in reiner Form. Er ist Ausgangspunkt der Ermittlung der relativen Wahrheit, doch wird über Einschränkungen versucht, sich der materiellen Wahrheit anzunähern. Der Ermittlung des tatsächlichen Lebenssachverhalts dienen die richterliche Fragepflicht bei unklarem Parteivorbringen, Beweiserhebungen von Amts wegen sowie insbesondere die prozessualen Mitwirkungslasten und -pflichten, wobei die Vorlagepflichten hervorzuheben sind. Ein Kompromiss ist für die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen vorgesehen. Diese werden als schutzwürdig eingestuft, gleichwohl führt das nicht zum Ausschluss der Mitwirkung. Vielmehr ordnet das Gericht unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit die zur Wahrung des Geschäftsgeheimnisses erforderlichen Maßnahmen an. Das kann bis zum Ausschluss der Gegenpartei führen. Die Schweizerische Zivilprozessordnung ähnelt der früheren zürcherischen Zivilprozessordnung, die einerseits umfassende prozessuale Editionspflichten beinhaltete, andererseits eine »Überaufklärung« verhinderte.341 Dies konnte so weit gehen, dass der Zivilprozess teilweise als Geheimverfahren durchgeführt wurde (§  145 ZPO ZH). Nach der zürcherischen Zivilprozessordnung (ZPO ZH) war es Sache der Parteien, die Tatsachen vorzutragen; es galt somit ebenfalls der Verhandlungsgrundsatz. Die Parteien mussten alle relevanten Urkunden auf richterliche Anordnung vorlegen (§  183 Abs.  1 ZPO ZH), und zwar   Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  34.   Die Säumnis der dritten Person hat die gleichen Folgen wie deren unberechtigte Verweigerung; Art.  167 Abs.  2 sZPO). 341   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 65. 339

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unabhängig von einem materiellrechtlichen Vorlageanspruch.342 Die Vorlage konnte nicht erzwungen werden, die Nichtbefolgung jedoch frei gewürdigt werden (§§  183 Abs.  2, 148 S.  2 ZPO ZH).343

V. Zusammenfassung Die rechtsvergleichende Betrachtung kann lediglich Anhaltspunkte für eine sachgerechte Gestaltung des deutschen Rechts bieten, aber nicht die Übertragung »fremder« Bereiche in das deutsche Recht bedeuten. Insoweit hat sich gezeigt, dass die Informations- und Offenlegungspflichten in unterschiedliche Systeme eingebettet sind.344 Es müssen unterschiedliche »Stellschrauben« beachtet werden, wenn man die Informationsbeschaffung und Tatsachenfeststellung untersucht. Die grundlegenden Unterschiede sollen noch einmal für die untersuchten Rechtsordnungen zusammengeführt werden. 1.  Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien Die angelsächsische discovery bzw. disclosure gehört zu einem völlig anderen System der Tatsachenfeststellung, dem die Erarbeitung des Sachverhalts und der Beweismittel in der Verantwortung der Anwälte – außerhalb des Gerichts – zugrunde liegt.345 Grundprinzip ist die Sach- und Rechtsfindung in der Verantwortung der Parteien, die den Tatsachenstoff präsentieren und in einen argumentativen Wettstreit treten.346 Im Verständnis des Common Law wird die deutsche Verhandlungsmaxime dementsprechend eher als inquisitorial denn adversary system bezeichnet.347 Bemerkenswert ist jedoch, dass es sogar im US-amerikanischen Prozessrecht mittlerweile Tendenzen zu einer aktiven Rolle des Richters gibt. Die Reform 342  Die prozessrechtliche Vorlagepflicht wurde durch das Gesetz über den Zivilprozess vom 13.6.1976 für den Kanton Zürich eingeführt; OS (= Offizielle Sammlung der seit dem 10.3.1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich) 46, 139 und GS (=Zürcher Gesetzessammlung 1981) II, 471. Vorher richtete sich die Pflicht zur Urkundenvorlage nach den Bestimmungen des Privatrechts (§  228 ZPO ZH a. F.); zur Entstehung der prozessrechtlichen Vorlagepflicht siehe Herzog, S.  7 ff. 343   Siehe dazu Frank/Sträuli/Messmer, §  148 ZPO Rn.  10 f. 344   Zu den grundlegenden Unterschieden des US-amerikanischen und europäischen Zivilprozesses Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 764 ff. 345   Schack, Rn.  110; Jacoby ZZP 74 (1961), 145, 160 (allerdings sodann mit dem Vorschlag, ein von der Beweisaufnahme abgesondertes Vorverfahren in den deutschen Zivilprozess einzuführen [S.  161 ff.]). 346   Böhm, Rn.  194. 347   Zeidler 55 The Australian Law Journal (1981), 390; siehe auch Jacob, S.  7: »The main alternative method of conducting civil procedure is that prevailing in the civil law countries of Europe which is called ›the inquisitorial system‹.«, gegen ein solche Einstufung Langbein 52 University of Chicago Law Review (1985), 823, 824; auch von Mehren, in: FS Coing, S.  361 Fn.  3 ordnet den deutschen Zivilprozess als adversary ein.

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der Federal Rules of Civil Procedure stärkt die Stellung des Richters. Im Vorverfahren nimmt er prozessleitende Funktionen wahr (case management). Das adversary system wird zugunsten einer Zusammenarbeit der Parteien und ihrer Anwälte abgeschwächt.348 Rechtsvergleichend nimmt die materielle Prozessleitung im US-amerikanischen Zivilprozessrecht eine untergeordnete Bedeutung ein, doch sind die Tendenzverlagerungen sichtbar. Eine Tendenz zur materiellen Prozessleitung ist im englischen High-CourtVerfahren durch die Woolf-Reforms erkennbar (active case management). Traditionell ist in den kontinentaleuropäischen Prozessrechten eine stärkere Stellung der Richter vorgesehen, die sich in der Befugnis und Pflicht zur materiellen Prozessleitung ausdrückt. In der Schweiz hat die gerichtliche Frage- und Aufklärungspflicht bereits eine lange Tradition.349 In Österreich wird mittlerweile von einem abgeschwächten Untersuchungsgrundsatz und den Grundsätzen der »Arbeitsgemeinschaft Zivilprozess« gesprochen.350 2.  Reichweite der Mitwirkungspflichten Obwohl die US-amerikanische discovery und die englische disclosure auf die gleiche historische Wurzel zurückgehen, zeigen sich inhaltlich deutliche Unterschiede. Wie in Deutschland gibt es in den USA keine prozessuale Möglichkeit, die Materialien für den Prozess bereits vor Klageerhebung zu erlangen. Die discovery findet erst nach Klageerhebung statt und entfaltet keine Vorwirkung. Es besteht jedoch auch kein vergleichbar hoher Bedarf an einer vorprozessualen Informationserlangung. Die fehlende Möglichkeit wird für den US-amerikanischen Prozess dadurch ausgeglichen, dass die Anforderungen an die Klageschrift gering sind und Klagen kaum an fehlender Substantiierung scheitern.351 Letztlich ist dieser Unterschied zwischen den Rechtssystemen ein maßgeblicher Grund für die Möglichkeit der Ausforschung.352 Durch die discovery US-amerikanischen Rechts in den Händen der Parteien wird ein Sachverhalt eröffnet, der über das zur Entscheidung notwendige Wissen hinausgeht. Obgleich durch die Reform der Federal Rules of Civil Procedure im Jahre 1993 dem Missbrauch der discovery Grenzen gesetzt wurden, ist sie vergleichsweise umfassend. Während die discovery ein Rückgrat des US-amerikanischen Prozesses bildet, ist die Bedeutung der disclosure in England deutlich geringer.353 Im Gegensatz zum amerikanischen Recht lässt das englische Recht keine Beweisfischzüge   Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 252.   Gasser/Rickli, Art.  56 Rn.  1. 350   Rechberger/Simotta, Rn.  399 ff. 351   Junker, S.  116. 352   Stürner, in: FG Vollkommer, S.  201, 208; ders. RabelsZ 69 (2005), 201, 232 ff.; siehe auch Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 569 ff. 353   Junker, S.  60 f. 348 349

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zur Ermittlung von Beweismitteln zu.354 Ganz deutlich werden die englischen Vorbehalte gegen die discovery US-amerikanischer Prägung dadurch, dass die Abwehr der discovery of documents in Art.  23 des Haager Beweisübereinkommens maßgeblich auf britische Initiative aufgenommen wurde.355 Im österreichischen Recht sticht hervor, dass es ein Verbot des Ausforschungsbeweises nicht gibt. Begründet wird dies mit der Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht der Parteien einerseits, mit der korrespondierenden Sachaufklärungspflicht des Gerichts andererseits.356 Nach der schweizerischen ZPO kann das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufklären, wenn es Zweifel an dem Tatsachenvortrag der Parteien hat. Eine Bindung an einen übereinstimmenden Parteivortrag besteht dann nicht. Hier verbindet sich der Verhandlungsgrundsatz mit der Idee eines sozialen Zivilprozesses.357 Prozessual kann die Parteien die Last treffen, Urkunden herauszugeben. 3.  Risiken und Grenzen Die discovery US-amerikanischer Prägung führt zu der Gefahr von Klagen »auf Verdacht« oder »ins Blaue«,358 weil erst über die Ausforschung herausgefunden werden soll, ob die Klage Aussicht auf Erfolg hat. Vor dem Hintergrund der geringen Anforderungen an die Klageschrift und dem geringen Kostenrisiko besteht kaum eine Hürde zur Verhinderung missbräuchlicher Klagen. Durch die Reform im Jahre 1993 wurden daher Einschränkungen der discovery angeordnet. Wenn diese auch in ihrer praktischen Wirksamkeit kritisch zu beurteilen sind, zeigt sich an ihnen jedenfalls die Erkenntnis, dass eine umfassende discovery Gefahren beinhaltet. Die Risiken folgen zum Teil aus dem Verhalten der Rechtsanwälte, welches aus ihrem Aufgabenverständnis resultiert. Der Anwalt im US-amerikanischen Zivilprozess ist nicht ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, dessen Aufgabe die objektive Wahrheitsfindung ist, sondern seine Pflicht besteht in der Förderung der Interessen des Mandanten, unter Umstän  Junker, S.  62.   Junker, S.  44. Siehe zu dem Vorbehalt aus der Sicht deutscher Unternehmen Bolthausen MDR 2006, 1081 ff. Zur Möglichkeit, über die US-amerikanische Beweishilfe auch außerhalb der USA befindliche Dokumente durch ein discovery-Verfahren zu erlangen und sodann im deutschen Zivilprozess zu verwenden, siehe G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801, 816 f. und Kraayvanger RIW 2007, 496 ff., jeweils mit Verweis auf die Entscheidung des US-District Court or the Southern Distrcit of New York: In Re Application of Gemeinschaftspraxis Dr. med. Schottdorf, abrufbar unter Westlaw 2006 WL 3844464 (S. D. N. Y.); siehe zuvor zu den grundsätzlichen Anforderungen an die Beweishilfe die Intel-Entscheidung des U. S. Supreme Court: Intel Corp. v. Advanced Micro Devices, Inc., 542 U. S.  241 (2004); dazu G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801, 814 f.; Kraayvanger/Richter RIW 2007, 177 ff. 356   Fasching, Rn.  659. 357   Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 41 f. 358   Schütze, Rn.  277. 354 355

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den mit Verschleppungs- und Verwirrungstaktiken.359 Die discovery US-amerikanischer Lesart zeigt die Schwierigkeit, einerseits Mitwirkungspflichten zu statuieren, andererseits einen Missbrauch zu verhindern.360 Hinzu kommen Gesichtspunkte, die weitgehende Offenbarungspflichten mit sich bringen, und zwar die damit verbundenen Kosten. Gegenseitige Mitwirkungspflichten können zu extremen Kosten führen, deren Wirkungen sich potenzieren können, wenn die siegreiche von der unterlegenen Partei keine Kosten­erstattung verlangen kann (American Rule361). Nach der Relationstechnik sind im deutschen Zivilprozess nur die relevanten Tatsachen zu klären. Scheitert ein Anspruch bereits an einem Merkmal, findet eine Beweisaufnahme über eine andere streitige Tatsache, die nun nicht mehr erheblich ist, nicht statt.362 Im US-amerikanischen Zivilprozess werden hingegen durch die Parteien häufig Beweise erhoben, denen nachträglich keine Relevanz mehr zukommt. Die Kosten des Verfahrens insgesamt, also einschließlich der Anwaltskosten, steigen dementsprechend.363 Im Vergleich des deutschen mit dem US-amerikanischen und dem zürcherischen Recht wurde die zürcherische ZPO als sachgerecht und modern bewertet. Einerseits vermeide sie eine »Überaufklärung« (wie das US-amerikanische Recht), andererseits ein Zuwenig an Sachaufklärung (wie das deutsche Recht).364 Die Sachaufklärung dient nicht zur Gewinnung schlüssiger Tatsachenbehauptungen, sondern zum Nachweis der bereits aufgestellten schlüssigen Tatsachenbehauptungen. Die Grundelemente der zürcherischen Zivilproessordnung sind nunmehr in der Schweizerischen Zivilprozessordnung aufgegangen.

359   So der U. S. Supreme Court ausdrücklich in Walters v. National Association of Radiation Survivers, 473 U. S.  305, 325 (1987): »To be sure, counsel can often perform useful functions even in welfare cases or other instances of mass justice; they may bring out facts ignored by or unknown to the authorities, or help to work out satisfactory compromises. But this is only one side of the coin. Under our adversary system the role of counsel is not to make sure the truth is ascertained but to advance his client’s cause by any ethical means. Within the limits of professional propriety, causing delay and sowing confusion not only are his right but may be his duty.«; siehe auch Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 56. 360   Brazil American Bar Foundation Research Journal (1980), 217, 232; Langbein 52 University of Chicago Law Review (1985), 823, 841 zum adversary system generell: »You have to take the bad with the good; if you want adversary safeguards, you are stuck with adversary excesses.« 361   Siehe dazu Schack, Rn.  22 ff. Die American Rule kann allerdings auch die Kostenlast der Partei steigern, die um discovery ersucht, weil sie die Kosten für den Zeitaufwand des eigenen Anwalts und etwa der Urkundskopien tragen muss; siehe dazu Reitz ZZP 104 (1991), 381, 391 f. 362   Freilich schließt dies nicht aus, dass Zeugen bereits vorbereitend geladen wurden (§  273 Abs.  2 Nr.  4 ZPO), doch werden sie sodann nicht mehr gehört. 363   Reitz ZZP 104 (1991), 381, 383 mit dem Hinweis, dass potentielle Zeugen in vielen Fällen zwei- bis dreimal verhört würden. 364   Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 39.

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4. Sanktionsmechanismen Die Wirksamkeit der Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten bemisst sich unter anderem nach den Sanktionsmechanismen. In der Regel wird ein unmittelbarer Zwang gegen die Prozesspartei nicht ausgeübt, sondern die Sanktionierung erfolgt über den Prozessnachteil, den die Partei hinnehmen muss.365 Nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung kann eine Vorlage von Urkunden nicht erzwungen, sondern (lediglich) negativ gewürdigt werden. Einerseits ist der risikobelasteten Partei damit in der Regel geholfen, andererseits kann die zur Vorlage verpflichtete Partei immerhin noch wählen, ob sie vorlegen oder den Prozessnachteil tragen möchte. Alternative dazu ist die Durchsetzung der Mitwirkung über Zwangsmittel. Die verweigerte Mitwirkung kann im US-amerikanischen Recht nicht nur dazu führen, das Vorbringen des Beweisführers als richtig anzusehen, sondern eine Nichtbeachtung der prozessleitenden Schriftsätze (striking pleadings; Rule 37 (b) (2) (A) (iii) F. R. C. P.) oder ein Versäum­ nisurteil (default judgment; Rule 37 (b) (2) (A) (vi) F. R. C. P.) zur Folge haben. Schließlich kommt die Anwendung von Beugemitteln in Betracht. Der »Zwang« zur materiellen Wahrheit ist im US-amerikanischen Zivilprozessrecht am stärksten ausgeprägt.366 Die Weigerungsrechte unterstreichen dieses Ziel, weil sie dort am geringsten ausgeprägt sind.367 5.  Fazit zur Rechtsvergleichung Die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt die Tendenz, Mitwirkungs- und insbesondere Dokumentenvorlagepflichten sowohl der Parteien als auch Dritter unabhängig von materiellrechtlichen Ansprüchen anzuerkennen.368 Die Voraussetzungen freilich unterscheiden sich im Einzelnen. Lediglich teilweise werden Beweisfischzüge zugelassen oder eine Anordnung von Amts wegen. Unterschiede bestehen ebenfalls in den Anforderungen an die konkrete Bezeichnung der Beweismittel. Ein Rechtssystem ist maßgeblich gekennzeichnet durch die Rollenverteilung zwischen Richter und Anwälten,369 wobei selbst im amerikanischen Rechtskreis verstärkt eine starke und aktive Rolle des Richters befürwortet wird.370 Die Reformen aus dem Jahre 1993 können als Ansatz eines Paradigmenwechsels gedeutet werden.371 Es wurde erkannt, dass das Verfahren in den Händen der Par  Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 772.   Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 773. 367   Stürner, in: FS Stiefel, S.  763, 774. 368   Zu den Gründen für diese weitgehende Konvergenz St. Huber, Modellregeln, S.  335 ff. 369   Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 258; Reitz ZZP 104 (1991), 381. 370   Langbein 52 University of Chicago Law Review (1985), 823 ff. 371   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 54; Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 243: »Annäherung der Prozeßrechtssysteme in Kontinentaleuropa und in den Vereinigten Staaten«; anders Reimann 365

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teien ohne gerichtliche Leitung und Regulierung die Missbrauchsgefahr erhöht.372 Die Missbrauchsgefahr resultiert zu einem großen Teil aus der Herrschaft der Anwälte über das »Ob« und »Wie« der discovery.373 Die gerichtliche Leitung der Tatsachenermittlung und die Zusammenarbeit der Anwälte mit dem Gericht können dem entgegenwirken.374 Generell ist rechtsvergleichend eine Tendenz zur verstärkten materiellen Prozessleitung zu erkennen, um ein effizientes Verfahren, weitgehend gerichtet auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit zu ermöglichen, dabei aber Exzesse zu verhindern.375 Vorsicht ist geboten bei der Betrachtung einzelner Elemente fremder Rechtsordnungen. Systemfremde Elemente können nicht isoliert in das deutsche Prozessrecht eingeführt werden.376 Aus der grundlegend anderen Rollenverteilung folgt, dass bestimmte Elemente nicht austauschbar sind.377

§  4  Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke Vor dem europäischen Hintergrund sind neben der Ausgestaltung der Tatsachenermittlung in anderen Rechtsordnungen auch die Tendenzen einer Rechtsharmonisierung zu berücksichtigen, namentlich die Bestrebungen, zu einer europäischen Zivilprozessrechtsordnung378 zu gelangen oder Principles of EuropeIPRax 1994, 152: »[D]er amerikanische Bundesgesetzgeber [führt] jetzt Neuerungen ein, die manchem europäischen Juristen die Sprache verschlagen werden: [.  .  .] Eine Partei muß nicht nur den Gegner in ihren Gewässern fischen lassen, sondern ihm sogar selbst und von sich aus die Fische bringen.« Allerdings konstatiert auch er, dass die Streitenden nach der discovery-Reform nunmehr in einem kooperativeren Verhältnis stehen und insoweit eine Annäherung des amerikanischen an den kontinentaleuropäischen Zivilprozess erfolgt; Reimann IPRax 1994, 152, 156. 372   Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 26; Olson, S.  229. 373   Brazil 31 Vanderbilt Law Review (1978), 1295, 1349 ff.; Junker ZZPInt 1 (1996), 235, 244. 374   Langbein 52 University of Chicago Law Review (1985), 823, 833 ff.; siehe auch Rechberger, in: Fasching, vor §  266 Rn.  3, der die Auswüchse der US-amerikanischen discovery für das österreichische Recht nicht befürchtet, weil dort die Stoffsammlung in der Hand des Richters liege und die Weigerungsgründe (§§  305, 321 öZPO) für eine Begrenzung der Mitwirkungspflichten sorgten. 375   Gasser/Rickli, Art.  56 Rn.  1; Rechberger, in: Gottwald, Aktuelle Entwicklungen des europäischen und internationalen Zivilverfahrensrechts, S.  1, 9; Rechberger/Simotta, Rn.  403. Siehe auch Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 60, der konstatiert, dass das Recht den aktiven Richter wolle. Übergeordnet leitet er das daraus ab, dass der Richter die Mitverantwortung für die Lösung des sozialen Konflikts trage, der sich in dem Rechtsstreit offenbare. Der moderne Staat müsse ein Gerechtigkeitsstaat sein. 376   Cohn, in: FS von Hippel, S.  41, 43 Fn.  4 ; Reitz ZZP 104 (1991), 381, 396: »der ›deutsche Vorteil‹ [lasse sich] nicht mit dem ›amerikanischen Vorteil‹ kombinieren«. 377   Reitz ZZP 104 (1991), 381, 392 ff. 378   Die Tendenz der Kommission zur Erforderlichkeit einheitlicher kohärenter prozessualer Mittel wird beispielsweise an der Verordnung (EG) Nr.  861/2007 des europäischen Parla-

§  4  Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke 81

an Civil Procedure379 zu entwickeln. Innerhalb solcher Regelungswerke müssten die Bereiche der Tatsachensammlung, des Zugangs zu Informationen und der Beweiserhebung eine zentrale Position einnehmen,380 weil sie weitreichende materielle Konsequenzen bedeuten. Es handelt sich um Grundfragen des Verfahrensrechts, die für eine über die »technische Angleichung« hinausgehende Harmonisierung beantwortet werden müssten.381 Darüber hinaus sind die Principles of Transnational Civil Procedure zu untersuchen, die einen Beitrag zur internationalen Prozessrechtsharmonisierung leisten sollen, sowie die Regeln der Schiedsgerichtsbarkeit, weil von ihnen Impulse für die Ausgestaltung des staatlichen Verfahrens ausgehen können. Schließlich wird ein Blick auf die Enforcement-Richtlinie geworfen, die für das Recht des geistigen Eigentums Offenlegungs- und Auskunftsansprüche vorgibt. Den genannten Werken können gegebenenfalls Hinweise für sachgerechte Regelungen entnommen werden.

I.  Ansätze im europäischen Zivilprozessrecht: Der Storme-Bericht Die Working Group for the Approximation of the Civil Procedure Law (Storme group) entstand auf dem VIII. Internationalen Kongress für Prozessrecht in Utrecht im Jahre 1987. Eine von der EG-Kommission vorläufig geförderte Arbeitsgruppe von zwölf Mitgliedern unter dem Vorsitz von Marcel Storme 382 begründete mit einem im Jahre 1988 vorgelegten Grundlagentext die Notwendigkeit einer europäischen Zivilprozessordnung. Im Jahre 1990 erhielt die Arbeitsgruppe von der europäischen Kommission den offiziellen Auftrag, bis zum Jahre 1992 ein Modellgesetz einer europäischen ZPO zu entwerfen. Nach einem Zwischenbericht und einer Fristverlängerung wurde der Abschlussbericht samt Begründung im Jahre 1993 der Kommission vorgelegt und im Jahre 1994 in Buchform 383 veröffentlicht.384 Es handelt sich nicht um den Entwurf einer vollständiments und des Rates zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen vom 11.7.2007 deutlich; ABl.  Nr. L 199 vom 31.7.2007, S.  1 ff. Zu Tendenzen, dass sich der Vereinheitlichungsprozess in Richtung einer EG-Zivilprozessordnung entwickeln könnte, siehe Varga, in: Rauscher, Einf. EG-BagatellVO Rn.  1 ff. 379   G. Wagner ZEuP 2008, 6, 22 f. 380   Aufgrund der bestehenden Divergenzen dürfte eine Harmonisierung in diesen Bereichen sehr schwierig, aber im Sinne einer tatsächlichen Rechtsangleichung notwendig werden; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 457 f. 381   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 513 f. 382  Neben Storme (Belgien) gehörten der Arbeitsgruppe zuletzt an: Huss (Luxemburg), Jolowicz (England), Kerameus (Griechenland), Long (Irland), Meijknecht (Niederlande), de Miguel (Spanien), Normand (Frankreich), Pessoa Vaz (Portugal), Prütting (Deutschland), Smith (Dänemark) und Tarzia (Italien). 383   Storme (ed.), Rapprochement du droit judiciaire de l’Union Européenne – Approximation of Judiciary Law in the European Union, Dordrecht 1994. 384   Ausführlich zur Entwicklung des Entwurfs: Prütting, in: FS Baumgärtel, S.  457, 460 f.

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gen Zivilprozessordnung, sondern um ausgewählte Vorschläge für einzelne Bereiche.385 Die Ergebnisse des Berichts sind diejenigen der Arbeitsgruppe, nicht der Kommission.386 1. Offenlegungspflichten der Parteien Abschnitt 4 des Abschlussberichts, der von Jolowicz (England) als Berichterstatter verfasst wurde, befasst sich mit der Offenlegung von Informationen (la découverte des documents/discovery). Die englische Handschrift des Abschnitts ist deutlich zu erkennen. Im Vergleich zum herkömmlichen deutschen Prozessrechtsverständnis handelt es sich um weitgehende Rechte des Zugangs zu Informationsquellen.387 Nach Art.  4.1.1 sind die Prozessparteien verpflichtet, der anderen Prozess­ partei eine Liste der in ihrem Besitz, Gewahrsam oder Machtbereich (possession, custody or power) befindlichen Dokumente (documents) vorzulegen,388 die sich auf einen Streitpunkt des Prozesses beziehen (which relate to any question in issue in the action). Die Formulierung ist angelehnt an Order 24 Rule 2 (1) Rules of the Supreme Court 389, sodass im Hinblick auf die Auslegung dort erste Anhaltspunkte gefunden werden können. Die Relevanz für den Streitgegenstand wird im englischen Zivilprozess bereits angenommen, wenn lediglich eine potentielle Eignung gegeben ist.390 Aufgrund der Orientierung an der englischen Regelung wird diese weite Auslegung für den Storme-Entwurf zu übernehmen sein.391 Allerdings muss die Vorlage der Liste nur erfolgen, wenn das nationale Recht dies erfordert (Art.  4.1.1 lit.  a) oder das Gericht eine entsprechende Anordnung erlässt (Art.  4.1.1 lit.  b). Eine automatische Übermittlung   Storme, S.  V II/IX; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 450; ders. ZEuP 2008, 6, 22.   Darauf weist Storme, S.  V II/IX, in dem Vorwort ausdrücklich hin. Storme, S.  V II/IX sowie S.  28/62, versteht den Bericht als einen Schritt in Richtung eines einheitlichen Zivilprozessrechts (sog. Einheitslösung); anders Prütting, Die Entwicklung eines europäischen Zivilprozessrechts, S.  18, der darin einen Modellentwurf sieht, »der die einzelnen Mitgliedstaaten in die Lage versetzt, das jeweilige nationale Recht zu überprüfen und vielleicht teilweise zu ersetzen oder jedenfalls Lücken auszufüllen«. 387   Roth ZZP 109 (1996), 271, 291. 388  Unter documents dürften auch elektronische Dokumente fallen; St. Huber, Modellregeln, S.  362. 389   Siehe dazu Jolowicz, S.  4 4; Kaplan/Clermont, Ordinary Proceedings in First Instance – England and the United States, S.  3, 14. Die Rules of the Supreme Court wurden mittlerweile durch die Civil Procedure Rules abgelöst, behalten jedoch teilweise Geltung als Schedule 1. Im Unterschied zum englischen Recht sind nach dem Storme-Entwurf nur diejenigen Dokumente erfasst, die die Prozesspartei aktuell in ihrem Besitz, Gewahrsam oder Machtbereich hat, nicht hingegen diejenigen, die sie hatte; siehe dazu St. Huber, Modellregeln, S.  363. 390   Compagnie Financière du Pacifique v. Peruvian Guano Co. [1882] 11 Queen’s Bench Division (Q. B. D.) 55, 62 f. (Brett, L. J.). 391  Ebenso St. Huber, Modellregeln, S.  364; dafür wohl auch Roth ZZP 109 (1996), 271, 292; kritisch G. Wagner ZEuP 2001, 441, 469. 385

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der Liste erfolgt somit nur, wenn das nationale Recht – wie etwa das englische Recht (nunmehr Rule 31.6 Civil Procedure Rules: standard disclosure der Dokumente, die für den Rechtsstreit unmittelbar relevant sind) – dies vorsieht. Die Dokumentenliste muss angeben, ob die Partei Gründe geltend macht, aus denen sich das Recht zur Verweigerung der Offenlegung oder Übermittlung ergibt (Art.  4.1.2), wobei die Verweigerungsrechte dem nationalen Recht zu entnehmen sind (Art.  4.1.3). Die nicht geschützten Dokumente müssen der anderen Partei übermittelt oder es muss ihr Gelegenheit zur Einsicht und Anfertigung von Kopien gegeben werden (Art.  4.2.1). Das Gericht kann allerdings auf Antrag einer Partei von dieser Pflicht befreien, wenn die Übermittlung oder Einsichtnahme und Kopie einen übermäßigen Nachteil für die Partei bedeuten würde (Art.  4.2.2). Das Gericht kann die Vorlage aber auch anordnen, wenn die Voraussetzungen für ein geltend gemachtes Verweigerungsrecht nicht bestehen oder ein Dokument nicht in die Liste aufgenommen wurde, obwohl es hätte aufgenommen werden müssen (Art.  4.3). Die Konsequenzen einer Nichtoffenlegung regelt Art.  4.4. Danach werden die Dokumente, die nicht offengelegt oder übermittelt worden sind, der Entscheidung nicht zugrunde gelegt, es sei denn, das Gericht beschließt nach Anhörung der Parteien anders. Mit anderen Worten werden die Unterlagen zulasten der Partei, die sich darauf beruft, nicht berücksichtigt.392 Sachgerecht ist diese Folge allerdings nur, wenn die Dokumente für die vorlagepflichtige Partei vorteilhaft wären. Wären die Dokumente für die vorlagebegehrende Partei günstig, bedarf es einer anderen Sanktion. Daher kann das Gericht einerseits eine an das französische Recht angelehnte astreinte anordnen (Art.  13.1), wonach die sich weigernde Partei einen bestimmten (zwangsweise durchsetzbaren) Geldbetrag an die andere Partei zahlen muss (Art.  13.3). Andererseits kann das Gericht, selbst wenn das nicht ausdrücklich vorgesehen ist, die verweigerte Vorlage im Rahmen der freien Beweiswürdigung berücksichtigen.393 2.  Offenlegungspflichten Dritter Dritte können nach Art.  4.5.1 auf Antrag einer Prozesspartei verpflichtet werden, Dokumente offenzulegen und den Parteien zu übermitteln.394 Eingeschränkt wird die Verpflichtung Dritter durch Art.  4.5.2. Insbesondere darf sich eine Anordnung nach Art.  4.5.2 lit.  a (iii) nicht auf ein Dokument beziehen, für welches sich eine Partei auf ein Verweigerungsrecht berufen könnte, wenn es sich in ihrem Besitz befinden würde. Darüber hinaus darf die Anordnung nur   Roth ZZP 109 (1996), 271, 293.   St. Huber, Modellregeln, S.  371. 394   Zur Einführung der Vorlagepflicht Dritter aus rechtsvergleichender Sicht St. Huber, Modellregeln, S.  361. 392 393

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ergehen, wenn die antragende Partei den Dritten für alle mit der Offenlegung verbundenen Kosten entschädigt. 3. Fazit Der Storme-Bericht sieht im Vergleich zum deutschen Recht weitgehende Offenbarungspflichten vor, und zwar sowohl für die Prozessparteien als auch für Dritte. Der Storme-Bericht unterstützt durch seine Ausrichtung somit die Forderungen nach weitgehenderen Offenlegungspflichten der Parteien.395 Im Hinblick auf die Urkundenvorlage erscheint der Storme-Entwurf allerdings noch nicht ausgereift. Zum einen ist die Urkundenvorlage detailliert geregelt, zum anderen soll das Bestehen von Verweigerungsrechten weiterhin eine Frage des nationalen Rechts bleiben. Letztlich muss man konstatieren, dass der StormeBericht zu wesentlichen Fragen, wie dem Zugang zu Informationsquellen und dem Beweisrecht, schweigt.396

II.  Principles of Transnational Civil Procedure Im Jahre 2004 stimmten die Members of the American Law Institute und das Governing Council of Unidroit den Principles of Transnational Civil Procedure397 zu, die von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des American Law Institute und Unidroit erarbeitet wurden.398 Die Principles definieren grundlegende Anforderungen an gerichtliche Verfahren in internationalen (grenzüberschreitenden) Handelssachen (international commercial disputes). Sie enthalten dieser Zielsetzung entsprechend keine Detailregelungen, sondern geben Leitlinien

395   Storme, S.  97; den Entwurf insoweit positiv bewertend: Roth ZZP 109 (1996), 271, 291 ff. 396   Katzenmeier JZ 2002, 533, 538; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 450 f.; ders. ZEuP 2008, 6, 22. 397   Unidroit 2004 Study LXXVI – Doc. 11 (Draft with Comments); abgedruckt in 9 Uniform Law Law Review (2004), 758 ff. (with Comments); RabelsZ 69 (2005), 341 ff.; ausführlich dazu Waterstraat, S.  149 ff. 398   Neben den Principles wurden auch Rules of Transnational Civil Procedure von der Joint American Law Institute/Unidroit Working Group erarbeitet (Unidroit 2004 Study LXXVI – Doc. 12 [Draft]), die den Beschlussorganen allerdings nicht vorgelegt wurden. Sie wurden den Principles lediglich als Ergänzung beigefügt, um eine beispielhafte Umsetzung der Principles zu veranschaulichen. Die Rules stellen eine Studie der Berichterstatter dar und fungieren als Musterbeispiel für eine Umsetzung; Waterstraat, S.  149; im Einzelnen zu dem Verhältnis Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 209 und 214 ff.; siehe auch St. Huber, Modellregeln, S.  388 ff.; Ferrand ZEuP 2004, 616, 618; Hazard 6 Uniform Law Review (2001), 753, 754 f.; Kronke 6 Uniform Law Review (2001), 740, 748 ff.; Pfeiffer 6 Uniform Law Review (2001), 1015 ff.; siehe auch zu den Vor- und Nachteilen von Principles und Rules Walter/Baumgartner ZZPInt 5 (2000), 477, 495 f.

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vor, die zu einer Harmonisierung des Prozessrechts für internationale Handelsstreitigkeiten beitragen sollen.399 1.  Richterliche Prozessleitung und Verhandlungsgrundsatz Die Principles gehen von einem Modell aus, in dem der Richter nicht lediglich den Streit der Parteien überwacht, sondern eine aktive Prozessleitung übernimmt (Principles 14.1, 9.3), insbesondere im Rahmen der Tatsachenfeststellung/Beweiserhebung (Principle 22).400 Das Gericht kann die Parteien zu ergänzendem Vortrag oder Beweisangeboten auffordern und eine Beweisaufnahme ohne Antrag einer Partei anordnen. Ferner kann es sich auf eine rechtliche Begründung oder eine Würdigung von Tatsachen oder Beweismitteln stützen, die von keiner Partei vorgebracht worden sind (Principle 22.2.). Gleichwohl handelt es sich nicht um ein inquisitorisches Modell, denn das Gericht führt keine neuen Tatsachen in den Prozess ein, sondern es besteht weiterhin die vorrangige Verantwortung der Parteien (Beibringungsgrundsatz).401 Als Pflicht der Parteien ist die Förderung einer fairen, effizienten und angemessen schnellen Streiterledigung vorgesehen, dessen Ausprägung das Verbot des missbräuchlichen Verhaltens, etwa einer Beweisvereitelung ist (Principle 11.2). Im schriftlichen Verfahren müssen die Parteien die rechtserheblichen Tatsachen, ihre Rechtsausführungen und ihre Anträge hinreichend substantiiert und bestimmt vorbringen sowie die verfügbaren Beweismittel, die sie zum Beweis ihrer Tatsachenbehauptungen anbieten, hinreichend genau beschreiben (Principle 11.3). 2.  Zugang zu Informationen und Beweismitteln Der Zugang zu Informationen und Beweismitteln ist explizit in Principle 16 geregelt. Als Grundsatz ist der Zugang der Prozessbeteiligten zu allen Beweismitteln enthalten (Aussage von Parteien und Zeugen, Sachverständigenbeweis, Urkunden, Augenschein an beweglichen Gegenständen und Grundstücken und – soweit angemessen – Untersuchung des Körpers oder Geistes einer Person), die erheblich sind (relevant) und nicht dem Schutz von Weigerungsrechten (nonprivileged) unterliegen (Principle 16.1). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Beweismittel für die Partei günstig oder ungünstig ist. Das Gericht soll auf Antrag einer Partei die Offenlegung erheblicher und ausreichend bestimmter Beweismittel anordnen, die nicht dem Schutz von Weigerungsrechten unterliegen und sich im Besitz oder unter der Kontrolle einer anderen Partei oder eines 399   Siehe zum Zweck im Einzelnen Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 209 ff.; kürzer Waterstraat, S.  152. 400   Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 228 ff. 401   Waterstraat, S.  156; Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 229.

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Dritten402 befinden (Principle 16.2 – disclosure).403 Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass das Beweismittel einer Partei oder dem offenlegenden Dritten nachteilig sein könnte.404 Zum Schutz vertraulicher Informationen gegen unbillige Offenlegung trifft das Gericht die notwendigen Anordnungen (Principle 16.5).405 Der Gefahr einer Ausforschung soll einerseits über das Relevanzkriterium (Principle 16.1), andererseits über die Substantiierungs- und Bestimmtheitserfordernisse (Principles 11.3 Satz 1 und 16.2) vorgebeugt werden.406 Nur ausnahmsweise kann eine Aufklärung ohne ausreichend substantiierten Tatsachenvortrag oder ohne genügend bestimmte Beschreibung der Beweismittel erfolgen. Die Partei muss gute Gründe für ihr Unvermögen vorbringen und es muss die Möglichkeit bestehen, dass sich die notwendigen Tatsachen und Beweismittel später im Verlauf des Verfahrens ergeben oder herausstellen können (Principle 11.3 Satz 2). Hier werden somit Schwierigkeiten bei der Beschaffung der notwendigen Tatsachenkenntnis berücksichtigt. 3. Sanktionen bei verweigerter Mitwirkung und Kostentragung Die verweigerte Mitwirkung kann insbesondere über eine nachteilige Würdigung sanktioniert werden (Principle 17.3 Satz 1), indem ungünstige Schlüsse gezogen werden (Principle 21.3). Eine solche Sanktion bietet sich gegenüber einer Partei an, weil der drohende Prozessnachteil ein starker »negativer Anreiz« ist. Darüber hinaus kommt unmittelbarer Zwang in Betracht (Principle 17.3 Satz 2). Die Verhängung von Sanktionen setzt voraus, dass das Gericht eine Abwägung mit den Weigerungsrechten einer Partei oder eines Dritten vorgenommen hat (Principle 18). Im Rahmen der Kostenentscheidung kann (vor-) prozessuales Fehlverhalten der Parteien berücksichtigt werden (Principles 17.3 und 25.2). Im Vorfeld des Prozesses kann durch einstweilige Maßnahmen die zwangsweise Sicherung von Beweismitteln erfolgen (Principle 8.1). Der obsiegenden Partei werden die Kosten erstattet (Principle 25.1), worunter die Kosten für die Dokumentenvorlage fallen. Eine Partei muss also damit rechnen, gegebenenfalls nachträglich die Kosten der anderen Partei zu tragen. Das kann unter Umständen einen Anreiz 402   Die Vorlageanordnung gegenüber einem Dritten setzt deren Erforderlichkeit und die Wahrung billiger Bedingungen voraus. 403   Die Prinzipien folgen damit dem Grundsatz, dass keine Partei über das ihr Mögliche verpflichtet wird (ultra posse nemo obligatur). 404   Ferrand ZEuP 2004, 616, 622 f.: Recht auf Beweis nach dem englischen Modell der disclosure. 405   In den Rules ist vorgesehen, dass das Gericht im Interesse der Vertraulichkeit in besonderen Fällen einen Beweis in camera erheben kann (Rule 24.7). 406   Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 236; ders., in: FG Vollkommer, S.  201, 210; siehe auch St. Huber, Modellregeln, S.  400 ff.

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bieten, von der Dokumentenvorlage nicht unnötig Gebrauch zu machen.407 Die Kostenerstattung ist aber beschränkt auf den angemessenen Kostenaufwand (Principle 25.1), sodass dadurch Zurückhaltung erreicht werden kann. Schließlich kann das Gericht eine Kostenerstattung versagen, wenn die Kosten in nicht gerechtfertigter Weise entstanden sind (Principle 25.2). 4. Fazit Die Principles of Transnational Civil Procedure gehen vom Beibringungsgrundsatz aus, betonen aber gleichzeitig die Verantwortung des Gerichts für die Tatsachenfeststellung. Das Gericht betreibt eine aktive materielle Verfahrensleitung (active case management). Sowohl das Gericht als auch die Parteien haben Zugang zu allen Beweismitteln, die erheblich sind und nicht dem Schutz von Weigerungsrechten unterliegen. Dadurch wird eine gegenseitige Aufklärungspflicht auf prozessualer Basis beschrieben. Darüber hinaus kann das Gericht eine Beweiserhebung ohne Parteiantrag anordnen. Leitlinie des Verhaltens der Parteien sind die Grundsätze redlicher Prozessführung (good faith). Die Principles statuieren weitgehende Befugnisse des Richters und intendieren eine bestmögliche Sachverhaltsaufklärung.408 Als Instrument zur Verhinderung einer Ausforschung dienen die strengen Relevanz-, Substantiierungs- und Bestimmtheitserfordernisse (Principles 11.3 Satz 1, 16.1 und 16.2). Die Verknüpfung einer generellen Vorlagepflicht mit diesen Beschränkungen entspricht internationalen Standards.

III.  Internationale Schiedsgerichtsbarkeit In den Schiedsordnungen selbst wird der Sachverhaltsermittlung in der Regel vergleichsweise wenig Raum gewidmet. In der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer (ICC) 409 stellt das Schiedsgericht nach Art.  25 Abs.  1 Schiedsgerichtsordnung den Sachverhalt in möglichst kurzer Zeit mit allen geeigneten Mitteln fest. In jedem Stadium des Verfahrens können die Parteien aufgefordert werden, weitere Beweise beizubringen (Art.  25 Abs.  5). Dementsprechend besteht die Mitwirkungsverantwortung der Parteien für die Sachverhaltsfeststellung. Der Verfahrensleitung wird großer Wert zugemessen. Das Schiedsgericht beruft frühzeitig eine Verfahrensmanagementkonferenz ein (Art.  24 Abs.  1) und kann das im Laufe des Verfahrens wiederholen. Dabei kann das Gericht Vorgaben für die Vorlage von Dokumenten beim Urkundenbeweis 407   St. Huber, Modellregeln, S.  421 f. weist darauf hin, dass ein Anreiz zur Zurückhaltung in stärkerer Weise gefördert würde, wenn die vorlagebrechtigte Partei der anderen Partei einen Kostenvorschuss leisten müsste. 408   Waterstraat, S.  164. 409   Gültig ab 1.1.2012.

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machen, unter anderem die Aufforderung an die Parteien erlassen, Dokumente bereits zusammen mit den zugehörigen Schriftsätzen vorzulegen (siehe Anhang IV d) (1)). Die ICC-Schiedsordnung geht im Grundsatz jedenfalls vom Untersuchungsgrundsatz aus. Konkrete Regelungen finden sich hingegen in den IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit (IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration) 410 . Sie sehen eine eingeschränkte Pflicht zur Urkundenvorlage vor.411 Nach Art.  3 Abs.  1 hat jede Partei innerhalb der vom Schiedsgericht bestimmten Frist dem Schiedsgericht und den anderen Parteien sämtliche Dokumente einzureichen, auf die sie sich stützt und über die sie verfügt. Darüber hinaus kann jede Partei innerhalb der vom Schiedsgericht bestimmten Frist an das Schiedsgericht und an die anderen Parteien einen Antrag auf Vorlegung von Dokumenten stellen (Art.  3 Abs.  2). Der Antrag auf Vorlegung von Dokumenten muss eine Beschreibung jedes vorzulegenden Dokuments, die dessen Identifizierung ermöglicht, oder eine ausreichend detaillierte Beschreibung (mit Inhaltsangabe) einer eng umschriebenen Kategorie von vorzulegenden Dokumenten, für deren Existenz hinreichende Anhaltspunkte bestehen, enthalten (Art.  3 Abs.  3 lit.  a). Die vorzulegenden Dokumente müssen relevant für den Fall und wesentlich für seine Entscheidung sein (Art.  3 Abs.  3 lit.  b). Es findet somit in einem ersten Schritt keine umfassende Urkundenvorlage statt, sondern nur derjenigen Dokumente, auf die sich eine Partei berufen hat. Erst in einem zweiten Schritt sind weitere Dokumente vorzulegen. Im Hinblick auf die Konkretisierung wird ein Kompromiss eingeschlagen: Neben der genauen Konkretisierung reicht die Beschreibung der Kategorie der vorzulegenden Dokumente. Damit soll ein pauschales Vorlagebegehren zur Ausforschung der anderen Partei verhindert, gleichzeitig die Hürde zur Aufklärung nicht zu hoch gelegt werden.412 Nicht eindeutig Stellung nehmen die IBA-Regeln zu der Frage, ob Dokumente vorgelegt werden müssen, die nicht unmittelbar relevant sind. Die Notwendigkeit der Erklärung, in welcher Weise die vorzulegenden Dokumente relevant für den Fall und wesentlich für seine Entscheidung sind (Art.  3 Abs.  3 lit.  b), deutet darauf hin, dass jedenfalls eine Ausforschung nicht betrieben werden darf.413 Art.  9 Abs.  2 lit.  a gibt einer Partei die Möglichkeit des Antrags auf Ausschluss eines Beweismittels, wenn eine hinreichende Relevanz für den Fall oder eine hinreichende Wesentlichkeit für seine Entscheidung fehlen. Die Begriffe der hinreichenden Relevanz oder Wesentlichkeit sind jedoch auslegungsfähig   Angenommen mit Beschluss des IBA-Councils vom 29.5.2010.  Ausführlich Raeschke-Kessler 18 Arbitration International (2002), 411 ff. 412   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 472. Dabei handelt es sich um einen Kompromiss über eine in der Arbeitsgruppe umstrittene Frage; siehe dazu St. Huber, Modellregeln. S.  384. 413   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 473. 410 411

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und -bedürftig. Zu berücksichtigen ist, dass die Gefahr der Ausforschung besteht, wenn mittelbar relevante Dokumente (train-of-inquiry-Dokumente) vorgelegt werden müssen.414 Aus diesem Grund ist eine unmittelbare Relevanz oder Wesentlichkeit zu verlangen, sodass train-of-inquiry-Dokumente von der Vorlagepflicht ausgeschlossen sind.415 Die IBA-Regeln enthalten in Art.  9 Abs.  2 insgesamt einen Katalog von Einwendungen, die die Partei, gegen die der Antrag auf Vorlegung von Dokumenten gerichtet ist, gegen die Vorlegung erheben kann (Art.  3 Abs.  5). Einwendungsgründe sind unter anderem rechtliche Hindernisse oder Verweigerungsrechte (privileges), die sich aus wirtschaftlich oder technisch begründeten Verschwiegenheitspflichten (lit.  e) oder besonderen politischen oder institutionellen Geheimhaltungsinteressen (lit.  f) ergeben können. Schließlich können Erwägungen der Prozessökonomie, Verhältnismäßigkeit, eines fairen Verfahrens oder der Gleichbehandlung der Parteien (lit.  g) eine Einwendung begründen. Die Prüfung der Berechtigung einer Einwendung kann das Schiedsgericht einem unabhängigen und unparteiischen, zur Verschwiegenheit verpflichtetem Sachverständigen übertragen. Hält das Schiedsgericht nach dem Bericht des Sachverständigen die Einwendung für begründet, darf der Sachverständige weder dem Schiedsgericht noch den anderen Parteien den Inhalt des Dokuments mitteilen (Art.  3 Abs.  8). Die Anerkennung der Geheimhaltungsinteressen durch die IBA-Regeln führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem Ausschluss als Beweismittel. Vielmehr kann das Schiedsgericht die notwendigen Maßnahmen treffen, damit Beweismittel unter geeignetem Vertraulichkeitsschutz angeboten oder ausgewertet werden können (Art.  9 Abs.  4). Die einzelnen Maßnahmen werden dabei nicht konkretisiert, sondern in das Ermessen des Gerichts gestellt. Jedenfalls kann aber festgehalten werden, dass Möglichkeiten bestehen, um Geheimhaltungs- und Aufklärungsinteressen zu verbinden. Legt eine Partei ein Dokument ohne triftigen Grund nicht vor oder stellt es ein anderes Beweismittel nicht zur Verfügung, kann das Schiedsgericht das nachteilig würdigen (Art.  3 Abs.  5 und 6). Die IBA-Regeln zeigen, dass Mitwirkungs- und insbesondere Dokumentenvorlagepflichten nicht eine uferlose Weite bedeuten müssen.416 Vielmehr können Grenzen gezogen werden, indem einerseits hohe Anforderungen an die konkrete Bezeichnung der Urkunden und sonstigen Beweismittel gestellt werden, an414   Raeschke-Kessler, in: Gottwald, Revision des EuGVÜ – Neues Schiedsverfahrensrecht, S.  211, 239 f.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 472 f., der die unklaren Begrifflichkeiten kritisiert. 415   Raeschke-Kessler, in: Böckstiegel, S.  60; siehe auch die Sichtweise der IBA-Arbeitsgruppe, die die Regeln ausgearbeitet hat, in dem Commentary on the New IBA Rules of Evidence in International Commercial Arbitration: Bagner u. a. (IBA Working Party) 2 Business Law International (2000), 16, 19 ff. (Anmerkung zu Art.  3). 416   Es sollte keine discovery US-amerikanischer Prägung eingeführt werden; RaeschkeKessler 18 Arbitration International (2002), 411, 415.

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dererseits Einwendungstatbestände normiert werden, die etwa Geheimhaltungsinteressen der anderen Partei berücksichtigen. Die Anordnung von Mitwirkungspflichten ist demnach kein isoliert zu betrachtender Teil einer Prozessordnung, sondern ist gemeinsam mit Privilegien und Geheimhaltungsrechten zu betrachten. Die Weigerungstatbestände sind der Ausgleich zu den Mitwirkungstatbeständen.417 Die IBA-Regeln lassen schließlich die Tendenz zu einer hohen Bedeutung der materiellen richterlichen Prozessleitung erkennen.

IV.  Die Enforcement-Richtlinie und ihre Umsetzung Der europäische Gesetzgeber hat sich für den Sonderbereich der Rechte des geistigen Eigentums mit deren Durchsetzung beschäftigt. Hintergrund dafür war die Erkenntnis, dass eine effektive Durchsetzung der Immaterialgüterrechte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht in gleichwertiger Weise gewährleistet ist. Das materielle Recht zum Schutz des geistigen Eigentums sollte durch Elemente zu seiner Durchsetzung flankiert werden.418 Die Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (sog. Enforcement-Richtlinie) 419 knüpft an das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums an (sog. TRIPS-Übereinkommen420 ), welches als internationale Vereinbarung Instrumente zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums enthält.421 Das TRIPS-Übereinkommen wurde im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde geschlossen, mittlerweile ist es Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der WTO. Das Übereinkommen beinhaltet Mindestbestimmungen für den Schutz der Immaterialgüterrechte.422 Trotz der Umsetzung weisen die Regelungen in den Mitgliedstaaten große Unterschiede auf.423 Ziel der Enforcement-Richtlinie ist ein Ausgleich des typischerweise bestehenden Informationsdefizits des Verletzten gegenüber dem Verletzer. Die Enforcement-Richtlinie betrifft Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums si417   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 483; Raeschke-Kessler 18 Arbitration International (2002), 411, 430: »a well-balanced system«. 418   McGuire GRUR Int. 2005, 15. 419   Richtlinie 2004/48/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl.  Nr. L 195 vom 2.6.2004, S.  16 ff. 420   BGBl.  II 1994, S.  1730 ff.; Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights. 421   Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum, KOM (2003) 46 endgültig vom 30.1.2003, S.  13 ff. 422   Dreier GRUR Int. 1996, 205, 208. 423   Siehe den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum, KOM (2003) 46 endgültig vom 30.1.2003, S.  13 f.

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cherzustellen (Art.  1 S.  1 Enforcement-RL). Instrumente dafür sind insbesondere die Beweismittelvorlage (Art.  6 Enforcement-RL), Beweissicherungsmaßnahmen (Art.  7 Enforcement-RL) und ein Recht auf Auskunft (Art.  8 Enforcement-RL). 1. Beweismittelvorlage Im Einzelnen verlangt Art.  6 Abs.  1 S.  1 Enforcement-RL, dass die nationalen Gerichte auf Antrag einer Partei die Vorlage der in der Verfügungsgewalt der gegnerischen Partei befindlichen Beweismittel anordnen können, sofern der Schutz vertraulicher Informationen gewährleistet wird.424 In Abgrenzung zu Art.  7 Enforcement-RL setzt Art.  6 Enforcement-RL ein bereits anhängiges Verfahren voraus. Das ergibt sich zum einen daraus, dass Art.  6 Enforcement-RL auf die Vorlage durch die »gegnerische Partei« zielt, zum anderen daraus, dass Art.  7 Enforcement-RL ausdrücklich für Maßnahmen zur Beweis­ sicherung vor Einleitung eines Verfahrens gilt. Voraussetzung für eine Vorlageanordnung ist die hinreichende Begründung des Antrags. Das erfolgt durch die Vorlage aller vernünftigerweise verfügbaren Beweismittel. Fraglich ist jedoch, wann eine hinreichende Begründung angenommen werden kann. Dabei dürfen die Anforderungen nicht so hoch sein, dass der über Art.  6 Enforcement-RL bezweckten Beweiserleichterung ihre Wirksamkeit genommen wird.425 Würde man bereits einen vollen Beweis für die hinreichende Begründung verlangen, wäre eine Vorlage weiterer Dokumente nicht mehr notwendig. Allerdings besteht eine gewisse Hürde, um eine Ausforschung ohne berechtigten Anlass zu verhindern. Der Anspruch muss glaubhaft gemacht werden, um eine Vorlage der Beweismittel aus der Sphäre des Prozessgegners zu rechtfertigen.426 Die Anordnung kann sich auf alle vorlagefähigen Beweismittel beziehen, mithin auf Urkunden und Augenscheinsgegenstände.427 Die Beweismittel müssen »bezeichnet« sein, sodass eine hinreichende Konkretisierung zu verlangen ist. Ein Antrag, der pauschal auf alle relevanten Beweismittel in den Händen des Gegners gerichtet ist, genügt diesen Anforderungen nicht. Der Schutz vertraulicher Informationen ist zu gewährleisten. Nähere Vorgaben zur Umsetzung der Vertraulichkeit sind in der Richtlinie nicht enthalten. Die Richtlinie verlangt somit eine durchsetzbare Vorlagepflicht und unterscheidet sich insoweit von dem TRIPS-Übereinkommen, wonach die negative   Vorbild für diese Regelung war Art.  43 Abs.  1 TRIPS-Übereinkommen.   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 19. 426   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 19; anders St. Huber, Modellregeln, S.  376, nach dem ein Anfangsbeweis genügen soll, dessen Überzeugungsgrad unterhalb der Glaubhaftmachung angesiedelt sein sollte. 427   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 19. 424

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Teil 1:  Grundlagen

Beweiswürdigung als Sanktion ausreicht (Art.  43 Abs.  2 TRIPS-Übereinkommen). Durch die Richtlinie ist nicht vorgegeben, ob die Vorlagepflicht materiellrechtlich oder prozessual umgesetzt wird. Insoweit besteht ein Spielraum der Mitgliedstaaten. Der deutsche Gesetzgeber hat sich für eine materiellrechtliche Umsetzung der Enforcement-Richtlinie entschieden. In den Spezialgesetzen zum geistigen Eigentum sind materiellrechtliche Vorlageansprüche nach dem Vorbild des §  809 BGB eingefügt worden (§  140c PatG, §  24c GebrMG, §  19a MarkenG, §  9 HalblSchG, §  101a UrhG, §  46a GeschmMG, §  37c SortSchG).428 In Anlehnung an die Faxkarte-Rechtsprechung429 des BGH lässt der Gesetzgeber eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Schutzrechtsverletzung als Grundlage eines Vorlageanspruchs ausreichen,430 wobei die Inanspruchnahme bei Unverhältnismäßigkeit im Einzelfall ausgeschlossen ist (jeweils Abs.  2 der Normen). Die Gewährleistung des Vertrauensschutzes, den die Richtlinie ausdrücklich fordert, wird jeweils über Abs.  1 S.  3 der genannten Vorschriften verwirklicht. Gleichlautend wird bestimmt: »Soweit der vermeintliche Verletzer geltend macht, dass es sich um vertrauliche Informationen handelt, trifft das Gericht die erforderlichen Maßnahmen, um den im Einzelfall gebotenen Schutz zu gewährleisten.«431 Die Einführung spezialgesetzlicher materiellrechtlicher Vorlagepflichten ist – betrachtet aus einer größeren Perspektive – gleichzeitig eine Beschränkung, weil sie eine Absage an eine »allgemeine« prozessuale Aufklärungspflicht bedeutet. Der Gesetzgeber hat bewusst eine Beschränkung auf den Bereich des geistigen Eigentums vorgenommen.432 Darüber hinaus sind die Richtlinienvorgaben nicht vollständig umgesetzt worden. Die Richtlinie erfordert nicht lediglich, dass die Vorlage erzwingbar ist, sondern deren Erzwingbarkeit im Verletzungsprozess. Das ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Richtlinie. Allerdings verlangt Art.  3 Abs.  1 S.  2 Enforcement-RL, dass die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe fair und gerecht sein müssen, außerdem dürfen sie nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein und keine unangemessenen Fristen oder ungerechtfertigten Verzögerungen mit sich bringen. Schließlich müssen die von dem Gericht ergriffenen Maßnahmen wirksam sein (Art.  3 Abs.  2 Enforcement-RL). Ein Vergleich mit Art.  43 Abs.  2 TRIPS-Übereinkommen zeigt, dass Art.  6 Abs.  1 S.  1 Enforcement-RL die Sanktion der negativen Beweiswürdigung nicht als ausreichend erachtet. Art.   43 Abs.   2 TRIPS-Übereinkommen sieht nämlich die negative Beweiswürdigung aus428   Eingefügt durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7.7.2008, BGBl.  I 2008, S.  1191 ff. 429   BGHZ 150, 377 ff. = GRUR 2002, 1046; so bereits auch vorher in der Druckbalken-Entscheidung: BGHZ 93, 191, 205 = NJW-RR 1986, 480, 482. 430   Haedicke, in: FS Leipold, S.  53, 58 kritisiert die fehlende Differenzierung nach Beweiskraft und Sensibilität. 431   Für §  9 HalblSchG über die Verweisung in dessen Abs.  2 auf §  24c GebrMG. 432   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 278.

§  4  Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke 93

drücklich als Sanktion vor, Art.  6 Abs.  1 S.  1 Enforcement-RL aber gerade nicht. Vielmehr sollte die Richtlinie gerade über die Vorgaben des TRIPS-Übereinkommens hinausgehen.433 Die Erzwingbarkeit im Verletzungsprozess selbst ist über den materiellrechtlichen Anspruch nicht gewährleistet, denn die Vorlegungspflicht nach bürgerlichem Recht (§§  422, 371 Abs.  2 ZPO) wird über eine negative Beweiswürdigung sanktioniert (§  427 ZPO). Möglich ist das nur über einen selbstständigen Prozess um den Vorlage- und Besichtigungsanspruch. Zeigt sich erst im Verletzungsprozess die Notwendigkeit der Vorlage/Besichtigung, wäre der Weg des parallel durchzuführenden einstweiligen Rechtsschutzes zu wählen. Insgesamt würde es sich um einen komplizierten Verfahrensgang handeln, der mit den Vorgaben der Richtlinie, ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, welches nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein darf (Art.  3 Abs.  1 Enforcement-RL), nicht in Einklang steht.434 Zur Lösung kann nicht auf §  142 ZPO abgestellt werden, denn einerseits ist darin kein Vorlageanspruch normiert, sondern die Anordnung steht im Ermessen des Gerichts, andererseits ist die Vorlage ebenfalls nicht erzwingbar. Desgleichen gibt die Umsetzung des Vertrauensschutzes Anlass zu Bedenken.435 Fraglich ist, ob die Rechtsgrundlage ausreichend ist, um den Ausschluss der Partei von der Beweiserhebung und die Verpflichtung des Anwalts zur Verschwiegenheit gegenüber seinem Mandanten zu erreichen. Problematisch ist, dass die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht de lege lata nicht straf- oder standesrechtlich bewehrt ist. Darüber hinaus ist sehr fraglich, ob sich die Gerichte auf Grundlage einer solchen Generalklausel zu einem in camera-Verfahren durchringen werden.436 2. Beweissicherungsmaßnahmen Art.  7 Enforcement-RL sieht Maßnahmen zur Beweissicherung vor. Nach dessen Abs.  1 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass bereits vor Verfahrens­ einleitung auf Antrag einer Partei einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der rechtserheblichen Beweismittel – unter Wahrung des Schutzes vertraulicher Informationen – angeordnet werden können. Vorbild für die Regelung war die Anton-Piller-Order437 des englischen Zivilprozessrechts, die nunmehr als search order in Rule 25.1 lit.  h Civil Procedure Rules i. V. mit Sec. 7 Civil Procedure Act 1997 normiert ist, sowie die saisie-contrefaçon 438 des französischen   Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 203.   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 278. 435   Haedicke, in: FS Leipold, S.  53, 59 f. 436   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 281. 437  Die Anton-Piller-Order geht zurück auf den Fall Anton Piller KG v. Manufacturing Processes Ltd. (1976) 1 Ch. 55; ausführlich dazu bereits §  3 II. 5. 438   Siehe dazu Treichel GRUR Int. 2001, 690, 692 ff. 433

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Teil 1:  Grundlagen

Rechts.439 Aus der Orientierung an diesen Instituten ergibt sich, dass über die Beweissicherung unbekannte Beweismittel ermittelt und sichergestellt werden können.440 Die Vorgabe der Beweissicherung wurde durch Abs.  3 der bereits genannten spezialgesetzlichen Vorschriften umgesetzt, wonach die Verpflichtung zur Vorlage einer Urkunde oder zur Duldung der Besichtigung einer Sache im Wege der einstweiligen Verfügung nach den §§  935–945 ZPO angeordnet werden kann. Das Gericht hat den Schutz vertraulicher Informationen zu gewährleisten (jeweils Abs.  3 S.  2). Letztlich wird über den Verweis auf die Vorschriften zum einstweiligen Rechtsschutz erreicht, dass die Anordnung der Vorlage oder Besichtigung nicht an dem Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache scheitert. 441 Mit der Vorlage im einstweiligen Verfügungsverfahren wird sogar über die Vorgaben der Enforcement-Richtlinie hinausgegangen, weil die Richtlinie lediglich die Beweissicherung verlangt, nicht aber bereits die Vorlage selbst.442 Die fehlende zwangsweise Durchsetzung im Hauptsacheverfahren ist problematisch, wenn nicht zunächst der Weg über eine separate Klage aus dem materiellrechtlichen Anspruch verfolgt wird. Zwar kann parallel zum Hauptsacheverfahren die Vorlage im einstweiligen Verfügungsverfahren durchgesetzt werden, doch handelt es sich dabei um ein Verfahren, welches nicht einem einfachen und effizienten Verfahren i. S. von Art.  3 Enforcement-RL entspricht.443 Darüber hinaus ist der daraus resultierende Beweiswert nicht identisch mit einer Vorlage im Hauptverfahren. Ein nach Vorlage im einstweiligen Verfügungsverfahren erstelltes Sachverständigengutachten wäre im Hauptsacheverfahren als Parteigutachten einzubringen und hätte damit einen anderen Wert als ein Gutachten eines von dem Gericht im Hauptsacheverfahren bestellten Sachverständigen.444 3.  Recht auf Auskunft Schließlich ist in Art.  8 Enforcement-RL ein Recht auf Auskunft enthalten. Unter bestimmten Voraussetzungen, wozu vor allem eine festgestellte Schutzrechtsverletzung zählt, muss dem Kläger Auskunft über den Ursprung und die Vertriebswege von Waren oder Dienstleistungen, die ein Recht des geistigen Eigentums verletzen, von dem Verletzer und gegebenenfalls weiteren Personen, die in gewerblichem Ausmaß an der Schutzrechtsverletzung beteiligt sind, er  Begründung des Richtlinienvorschlags vom 30.1.2003, KOM(2003) 46 endgültig, S.  22.   Haedicke, in: FS Schricker, S.  19, 21; siehe auch Begründung des Richtlinienvorschlags vom 30.1.2003, KOM(2003) 46 endgültig, S.  22. 441   Dreier, in: Dreier/Schulze, §  101a UrhG Rn.  9; zum Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache siehe nur Vollkommer, in: Zöller, §  938 Rn.  3. 442   Aus diesem Grunde kritisch Ohst, in: Wandtke/Bullinger, §  101a UrhG Rn.  34. 443   Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 208. 444   Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 208. 439

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§  4  Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke 95

teilt werden. Für das deutsche Recht erfolgte keine Anpassung an diese Vorgaben, weil der Gesetzgeber davon ausging, dass die materiellrechtlichen Auskunftsansprüche, die durch das Produktpirateriegesetz 1990 445 eingefügt worden sind, den Vorgaben bereits entsprachen (§  140b PatG, §  24b GebrMG, §  19 MarkenG446 , §  9 HalblSchG, §  101 UrhG, §  37b SortSchG; nunmehr auch §  46 GeschmMG). Diese Auskunftsrechte entsprechen inhaltlich in der Tat den Vorgaben der Enforcement-Richtlinie. Das Recht auf Auskunft umfasst nach der Rechtsprechung des BGH den Anspruch auf Vorlage von Beweismitteln.447 Mittlerweile hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich auf die Personen erweitert, die in gewerblichem Maße an der Schutzrechtsverletzung beteiligt waren (jeweils in Abs.  2 der genannten Normen).448 Freilich erfordert Art.  8 Enforcement-RL, dass das Recht auf Auskunft im laufenden Verfahren geltend gemacht werden kann. Das ist sowohl für den Auskunftsanspruch als auch für den Vorlageanspruch problematisch, weil eine zwangsweise Durchsetzung im laufenden Verfahren – wie zu §  422 ZPO soeben dargelegt – nicht vorgesehen ist. Für den Bereich des geistigen Eigentums hat der deutsche Gesetzgeber somit umfassende Auskunftsansprüche normiert, wenn die Schutzrechtsverletzung feststeht. Entgegen der Richtlinienvorgabe fehlt die Möglichkeit der Durchsetzung im Verletzungsprozess. Inhaltliche Auswirkungen auf die Entscheidung im Verletzungsprozess hat das, wenn die prozessualen Nachteile als Sanktion unzureichend sind, weil dem Gericht für eine negative Würdigung jegliche Anhaltspunkte fehlen. Die Beweiswürdigung wird aufgrund des Fehlens der Beweise zulasten des Klägers gehen, nicht hingegen zulasten des Vorlagepflichtigen.449 4. Bewertung Neben den bereits angesprochenen Kritikpunkten in den Einzelheiten der Umsetzung fällt übergreifend negativ ins Gewicht, dass es sich um eine zerstückelte materiellrechtliche Lösung handelt. Die Umsetzung in den Spezialgesetzen führt dazu, dass weitere Sondermaterien entstehen und das Flickwerk der Regelungen ausgeweitet wird. Demgegenüber hätte eine prozessuale zugleich eine einheitliche Lösung bewirken können. Ansatzpunkt hätte §  142 ZPO sein können, der insoweit fortzuentwickeln gewesen wäre.450 Freilich bedeutet das nicht, dass materiellrechtliche Ansprüche in Spezialbereichen nicht hilfreich sein kön445   Gesetz zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7.3.1990, BGBl.  I 1990, S.  422 ff. 446   §  19 MarkenG ist an die Stelle von §  25 WarenzeichenG getreten. 447   BGH NJW-RR 2003, 910 = GRUR 2003, 433, 434; McGuire GRUR Int. 2005, 15, 18. 448   Siehe zum Auskunftsanspruch gegenüber im gewerblichem Maße an der Schutzrechtsverletzung Beteiligte Spindler ZUM 2008, 640, 642. 449   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 20. 450   Stadler, in: FS Leipold, S.   201 ff.; McGuire GRUR Int. 2005, 15, 21; siehe auch

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Teil 1:  Grundlagen

nen. Gleichwohl sollte eine einheitliche Lösung bevorzugt werden, wenn dem keine Gesichtspunkte entgegenstehen. Das setzt voraus, dass eine übergreifende prozessuale Lösung widerspruchsfrei möglich gewesen wäre.

Haedicke, in: FS Schricker, S.  19, 25, der allgemein die Ausweitung prozessualer Aufklärungspflichten erwägt.

Teil  2

Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht: Parteivortrag und richterliche Prozessleitung als Mittel zur Aufklärung §  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes Die Grenzen der Darlegungs- und Beweisanforderungen sind unmittelbar abhängig von der Reichweite des Verhandlungsgrundsatzes und dessen Grenzen. Wenn der Richter im Rahmen der materiellen Prozessleitung tätig wird, kann das eine Verkürzung der Darlegungs- und Beweisanforderungen für die Parteien bedeuten. Der Verhandlungsgrundsatz1, für den es eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage nicht gibt, 2 gilt im Zivilprozess nicht in Reinform, sondern es liegen Ausnahmen und Durchbrechungen vor. Aufgrund der vielfältigen Durchbrechungen, etwa durch eine Beweiserhebung von Amts wegen, wird der Grundsatz in Frage gestellt. In umgekehrter Richtung wird aus der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes teilweise geschlossen, dass eine Partei nicht zur Aufklärung zugunsten der Gegenpartei herangezogen werden könne.3 Je nach Stoßrichtung wird also entweder der Verhandlungsgrundsatz verwendet, um Ausnahmen und Durchbrechungen als unzulässig einzustufen, oder es werden die Ausnahmen und Durchbrechungen als Argument angeführt, um die Geltung und Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes in Frage zu stellen.4

1   Der Begriff wurde geprägt von Gönner, S.  119 ff., 175 ff. (allerdings mit einem inhaltlichen Verständnis, das heute der Dispositionsmaxime entspricht; siehe Böhm, in: Ius Commune VII, S.  136, 142; Damrau, S.  32 Fn.  3); eingeführt wurde er durch die CPO von 1877; siehe dazu Damrau, S.  21 ff.; Zettel, S.  54 ff.; Brüggemann, S.  41 ff.; kurzer Überblick bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  2. 2   Seine Geltung kann jedoch etwa aus §  138 Abs.  3 ZPO oder in einem Umkehrschluss aus §  127 FamFG (früher §  616 ZPO) entnommen werden; Prütting NJW 1980, 361, 362. 3   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  26; siehe auch Arens ZZP 96 (1983), 1, 18: Aufklärungspflicht würde einer weitgehenden Aufhebung der Unterschiede zwischen Verhandlungs- und Inquisitionsmaxime hinauslaufen; Lüke JuS 1986, 2, 3. 4   Zu den Kontroversen um Parteiherrschaft oder Richtermacht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Dimension und den Zwecken des Zivilprozesses siehe grundlegend Svarez/ Goßler, S.  9 ff.; Gönner, S.  119 ff.; Wach, Handbuch, S.  3 ff.: Zweck des Prozesses sei die Bewährung der Privatrechtsordnung durch Gewährung von Rechtsschutz; Goldschmidt, S.  253 ff.; von Hippel, S.  170 ff.; Klein, Pro futuro, S.  19; ders., Zeit- und Geistesströmungen,

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

Vor allem in jüngerer Vergangenheit hat der Gesetzgeber Neujustierungen des Verhältnisses von Parteiherrschaft und Richtermacht vorgenommen.5 Der Gesetzgeber hat mit dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreformgesetz (ZPO-RG) 6 die richterliche Prozessleitung verstärkt.7 Die »Mitverantwortung des Gerichts für eine umfassende tatsächliche und rechtliche Klärung des Streitstoffs« sollte hervorgehoben werden. 8 Fraglich ist, wie sich die verstärkte materielle richterliche Prozessleitung auf den Verhandlungsgrundsatz auswirkt. Eine verstärkte materielle richterliche Prozessleitung könnte die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweisaktivitäten der Parteien verringern, weil nicht mehr die Parteien tätig werden müssen, sondern der Richter aktiv den Stoff ermittelt. Verschiebungen des Verhältnisses zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht könnten sich zudem durch die erweiterten Möglichkeiten der Beweiserhebung von Amts wegen ergeben haben.

I.  Inhalt und Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes Nach dem Verhandlungsgrundsatz ist es Sache der Parteien, den Prozessstoff vorzutragen und die Beweismittel beizubringen. Das Gericht darf nur den von den Parteien eingeführten tatsächlichen Prozessstoff bei seiner Entscheidung berücksichtigen.9 Eine Beweiserhebung darf es nur anordnen, wenn zumindest eine Partei dies beantragt.10 Hinter dem Verhandlungsgrundsatz steht der Gedanke, dass der Zivilprozess der Durchsetzung privater Rechte dient und darauf vertraut werden kann, dass die Parteien die ihnen günstigen Tatsachen vortragen.11 Ein öffentliches Interesse an der Ermittlung der Tatsachenlage der streitigen Privatrechtsbeziehung besteht nicht. Flankiert wird der Verhand-

S.  25; E. Schmidt, S.  31 ff.; Wassermann, S.  49 ff.; Bathe, S.  13 ff.; Zettel, S.  174 ff., 188 ff.; Henckel, S.  48 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  378 ff.; ders., Richterliche Aufklärung, Rn.  3 ff. 5   Etwa durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I S.  1887. Generell zu der Verschiebung von der »Parteiherrschaft« in Richtung einer »Richterherrschaft« Baur, in: FS Kralik, S.  75 ff. 6   Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I 2001, S.  1887. 7   Die Hinweispflicht des Gerichts war bereits in der Civilprozeßordnung des Jahres 1877 enthalten (§§  130, 464 CPO), ebenfalls ganz allgemein die gerichtliche Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung; Spickhoff, S.  24; Bettermann ZZP 91 (1978), 365, 389. Die CPO von 1877 unterschied sich dadurch von dem Gemeinen Prozeßrecht; Stein, S.  96. 8  Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  77. 9   BVerfG NJW 1995, 40; BGH NJW 1998, 156, 159. 10   BVerfG NJW 1994, 1210, 1211. 11   Dabei wird davon ausgegangen, dass die Parteien am besten über den Sachverhalt informiert sind; Lange NJW 2002, 476, 478 f. Hierbei handelt es sich um die »technische« Begründung des Verhandlungsgrundsatzes; daneben tritt die »ideologische« Begründung, die in dem Verhandlungsgrundsatz die Fortsetzung der Privatautonomie sieht; Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 200.

§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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lungsgrundsatz von der Dispositionsmaxime12 , wonach die Parteien den Streitgegenstand des Zivilprozesses bestimmen und über den Streitgegenstand verfügen können.13 Die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes ist immer wieder kritisiert worden.14 Hauptkritikpunkt ist, dass der Verhandlungsgrundsatz nur zu einer formellen, nicht aber materiellen Wahrheit führe, etwa wenn sich eine Partei auf bestimmte Tatsachen nicht beriefe oder eine Partei eine von der anderen Partei behauptete, aber unrichtige Tatsache nicht bestreite. Die Tatsachengrundlage entspreche dann nicht der objektiven Wahrheit, wodurch eine materiell richtige Entscheidung verhindert werde. Nur auf Grundlage einer vollständigen Tatsachengrundlage könne eine »richtige« Entscheidung getroffen werden. Der Verhandlungsgrundsatz unterstelle ein Dispositionsrecht über Tatsachen, welches nicht existiere. Er übernehme ohne kritische Auseinandersetzung das überkommene Maximendenken und verfehle eine praxisnahe Betrachtung des Zivilprozessrechts.15 Darüber hinaus entspreche die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes nicht der ZPO.16 Bereits §  139 Abs.  1 ZPO zeige die Mitverantwortung des Gerichts für die Sachverhaltsaufklärung.17 Gegen diese Kritik ist einzuwenden, dass der Verhandlungsgrundsatz lediglich die prozessuale Seite der Verfügungsbefugnis über private Rechte, mithin des Grundsatzes der Privatautonomie, ist.18 Parteifreiheit und Parteiverantwortung setzen sich im Zivilprozess fort. Das BVerfG hat hervorgehoben, dass der   Sie folgt aus einzelnen Vorschriften, zum Beispiel aus §  253, §  269 oder §  308 ZPO.   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  76 Rn.  1 f. Die Abgrenzung Verhandlungsmaxime/Dispositionsmaxime ist mittlerweile ganz allgemeine Vorgehensweise. Hingegen ordnete Gönner diejenigen Einwirkungsmöglichkeiten, die heute als Ausprägung der Dispositionsmaxime angesehen werden, noch als Bestandteil der Verhandlungsmaxime ein; Gönner, S.  236. Zur Einordnung bei Gönner siehe Böhm, in: Ius Commune VII, S.  136, 142; Damrau, S.  32 Fn.  3 ; Leipold JZ 1982, 441, 442. Die Differenzierung von Verhandlungs- und Dispositionsmaxime erfolgte – soweit ersichtlich – durch von Canstein, S.  185 ff., 195 ff.; siehe dazu Bomsdorf, S.  161, 175. 14   Zettel, S.  140 ff. Freilich wird die Geltung und vor allem Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes im Zivilprozess auch grundlegend bestritten; siehe etwa Bomsdorf, S.  279 ff. Zu den ideologisch geprägten Angriffen gegen den Verhandlungsgrundsatz Leipold JZ 1982, 441 ff. m. w. N.; deutliche Ablehnung bei Ratz AcP 143 (1937), 282, 309; differenzierend Cohn, in: Erinnerungsgabe Grünhut, S.  31 ff. 15   Bomsdorf, S.  279 ff. 16   Zettel, S.  140 ff.: aufgrund der vielfältigen Durchbrechungen könne nicht mehr von der allgemeinen Geltung des Verhandlungsgrundsatzes gesprochen werden, sondern es sei festzustellen, »in welchen Fällen er rein [gelte]«; einschränkend ebenso Bathe, S.  215 ff. 17   So bereits Wassermann, S.  99 ff. Zur Klärung des Sachverhalts durch den Richter Lange NJW 2002, 476, 478. 18   Brehm, S.  32; Henckel, in: GS Bruns, S.  111, 126; Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 340; ders. JZ 1982, 441, 448; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  76 Rn.  1, §  77 Rn.  3 ; Spickhoff, S.  23: Parallele, jedoch nicht vollständige Deckungsgleichheit. Im Einzelnen kann man noch fragen, ob der Verhandlungsgrundsatz Konsequenz der materiellrechtlichen Parteifreiheit ist oder deren Ausformung; siehe dazu Reischl ZZP 116 (2003), 81, 103. 12 13

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

Verhandlungsgrundsatz als Prozessmaxime verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, weil er das prozessuale Pendant zur Privatautonomie darstelle und diese ihrerseits unter dem Schutz der Verfassung stehe.19 Teilweise wird sogar angeführt, dass die Geltung einer »reinen« Inqusitionsmaxime, welche die Sachverhaltsaufklärung ausschließlich richterlicher Aktivität anvertraue, in einem Prozess um Ansprüche, die der Privatautonomie entspringen, gegen das Grundgesetz verstoßen würde.20 Die Verhandlungsmaxime drückt das Verständnis des Zivilprozesses als Mittel zur Durchsetzung subjektiver Rechte aus.21 Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich selbst unter Geltung der Untersuchungsmaxime nicht immer die materielle Wahrheit durchsetzt, obwohl die Untersuchungsmaxime als Prinzip der materiellen Wahrheit bezeichnet wird.22 Eine Sachaufklärung wird im Rahmen des Vortrags stattfinden, soweit sich nicht aus den Unterlagen eine weitergehende Aufklärung aufdrängt. Am Verhandlungsgrundsatz an sich kann nicht festgemacht werden, dass es im Zivilprozess zur Feststellung einer nur formellen Wahrheit kommen kann.23 Vielmehr vertraut man darauf, dass die den Parteien obliegende Aufgabe, den Tatsachenstoff beizubringen, gerade der Wahrheitsfindung dient.24 Die Parteien werden aufgrund ihrer gegensätzlichen Interessen und angehalten durch die Wahrheitspflicht (§  138 Abs.  1 ZPO) den Streitstoff vollständig dem Gericht unterbreiten.25 Der Zivilprozess dient dem Individualrechtsschutz, und es ist zu erwarten, dass der Einzelne die für ihn sprechenden Tatsachen vorträgt.26 Die Berechtigung des Verhandlungsgrundsatzes ergibt sich dementsprechend nicht nur aus der Fortführung der Privatautonomie in dem Prozess, sondern auch daraus, dass die Parteien in der Lage sind, in effizienter Weise den wirklichen Tatsachenvorgang zu schildern.27 Dementsprechend stellt die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes nicht lediglich das Ergebnis einer gesetzgeberischen Zweckmäßigkeitsentscheidung dar, sondern ergibt sich aus den Wertungen des materiellen Rechts und Prozessrechts. Der Gesetzgeber nutzt seinen Wertungsspielraum in zulässiger Weise: 19   BVerfGE 52, 131, 153 = NJW 1979, 1925, 1927 – Arzthaftung; BVerfG NJW 1994, 1210, 1211. 20   Stürner, in: FS Baur, S.  6 47, 657; Birk NJW 1985, 1489, 1497. 21   BVerfG NJW 1994, 1210, 1211; Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  149; ders. JZ 1982, 441, 448; siehe auch Jauernig/Hess, §  25 Rn.  59. 22   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  6 . 23   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  152; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  6. 24   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  151. 25   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  3. 26   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  3 ; Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit, S.  174 ff.; dazu Book, S.  199 ff. 27   BVerfGE 52, 131, 153 = NJW 1979, 1925, 1927 – Arzthaftung; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 39; Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 200 ff.

§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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»Daß im Zivilprozeß die Wahrheitspflicht wesentliche Bedeutung hat, erlaubt nicht den Schluß, die Parteien seien generell zu dem Verhalten verpflichtet, das am besten der Wahrheitsfindung dient. Weder die Aufgabe der Wahrheitsfindung noch das Rechtsstaatsprinzip hindern den Gesetzgeber daran, den Zivilprozeß der Verhandlungsmaxime zu unterstellen und es in erster Linie den Parteien zu überlassen, die notwendigen Tatsachenbehauptungen aufzustellen und die Beweismittel zu benennen. Darauf beruht auch die Regelung der Behauptungs- und Beweislast im Zivilprozess.«28

Nicht entkräftet ist bislang der Einwand gegen den Verhandlungsgrundsatz, dass die Parteien dem Gericht einen unwahren Tatsachenvortrag unterbreiten und das Gericht dadurch zu einer Entscheidung auf falscher Tatsachengrundlage veranlassen können. Insoweit ist jedoch zu betonen, dass die materielle und die prozessuale Seite der Privatautonomie Einschränkungen unterliegen. Der Verhandlungsgrundsatz kann nicht als absolut verstanden werden. 29 Das Prozessrecht erkennt die Freiheit der Parteien im Grundsatz an, jedoch ergeben sich Einschränkungen unter anderem aus der Erklärungs- oder Wahrheitspflicht, die im Folgenden noch zu konkretisieren sind. Die Parteien müssen ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abgeben. Andererseits erfüllt der Richter im Rahmen der materiellen Prozessleitung seine Hinweis- und Fragepflichten.30 Somit ist der Richter keineswegs in eine völlig passive Rolle versetzt. Der Zivilprozess hat sich von dem liberalen Verständnis gelöst, welches der ZPO ursprünglich zugrunde lag.31 Es ist nicht mehr der freie »Kampf« der Parteien vor einem Richter, den die Zivilprozessordnung in verträgliche Bahnen lenkt.32 Vielmehr ist eine Tendenz zum sozialen Zivilprozess erkennbar, der die Wahrheitsermittlung nicht lediglich im Interesse der streitenden Parteien, sondern zugleich im Interesse der Allgemeinheit bezweckt.33 Das Verfahrensrecht ist mittlerweile von sozialen Schutzerwägungen geprägt, die durch die Stärkung der Richtermacht verwirklicht werden.34 Daher bedeutet der Verhandlungsgrundsatz in seiner heutigen Ausprägung nicht mehr den »freien Kampf« der Parteien vor dem »passiven Richter«. Der Verhandlungsgrundsatz ist dementsprechend nicht als pauschales Argument gegen richterliche Aktivität geeignet.

  BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205.   Henckel, in: GS Bruns, S.  111, 126; Greger, in: Gottwald/Greger/Prütting, Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, S.  77, 79 ff.; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 40; Cahn AcP 198 (1998), 35, 38 ff.; Katzenmeier JZ 2002, 533, 536. 30   Siehe dazu umfassend Stürner, Richterliche Aufklärung, passim. 31   Siehe dazu Bettermann ZZP 91 (1978), 365, 389 ff.; Greger JZ 1997, 1077 ff. 32   Gaul AcP 168 (1968), 27, 47. Grundlegend zu dieser Vorstellung Rudolf von Jhering in seinem Vortrag »Der Kampf ums Recht« im Jahre 1872 in Wien; siehe von Jhering, insbesondere S.  13 ff. 33   Grundlegend (für die österreichische ZPO) Klein, Zeit- und Geistesströmungen, S.  25 ff. 34   Peters, Richterliche Hinweispflichten, S.  4 ff.; Bettermann ZZP 91 (1978), 365, 389; Gottwald ZZP 95 (1982), 245, 259 ff.; Katzenmeier ZZP 115 (2002), 51, 81 f. 28 29

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

Der Verhandlungsgrundsatz ist berechtigterweise der Ausgangspunkt der Tatsachenermittlung im Zivilprozess. Gleichwohl sind im Laufe der Geltung der ZPO Änderungen zu verzeichnen, die Auswirkungen auf Inhalt und Reichweite des Verhandlungsgrundsatzes haben. Der Gesetzgeber hat im Laufe der Zeit erkannt, dass der Verhandlungsgrundsatz in Reinform nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt. Die Prozessförderungspflicht, die durch die Vereinfachungsnovelle von 197635 eingeführt wurde, hat eine Zusammenarbeit von Gericht und Parteien zur Folge.36 Die Parteien können allerdings nach einem richterlichen Hinweis davon absehen, bestimmte Tatsachen vorzutragen. Dementsprechend kann die Prozessförderungspflicht nicht als Argument dienen, nunmehr von einem Kooperationsgrundsatz anstelle des Verhandlungsgrundsatzes zu sprechen.37 Die Regelungen der ZPO zur materiellen Prozessleitung betreffen nicht den Kern des Verhandlungsgrundsatzes,38 weil sich die Prozessleitung im Rahmen des Parteivortrags hält. Der Prozess wird von selbstverantwortlichen Parteien getragen.39 Der Verhandlungsgrundsatz beinhaltet Durchbrechungen. Die gesetzliche Wirklichkeit geht nicht von einem Verhandlungsgrundsatz in Reinform aus. Im Vordergrund der weiteren Untersuchung steht deshalb nicht der Verhandlungsgrundsatz an sich, sondern dessen Konturierung, mithin die richtige Gewichtung von Parteiverantwortung und Richtermacht.40

II.  Gerichtliche Erörterungs- und Hinweispflicht Umgesetzt wurde die Stärkung der Mitverantwortung des Gerichts unter anderem dadurch, dass die allgemeine und umfassende Erörterungspflicht des Gerichts in §  139 Abs.  1 S.  1 gestellt wurde (in der Fassung vom 1.1.1964 verortet in §  139 Abs.  1 S.  2 ZPO). §  139 Abs.  2 ZPO enthält nunmehr das Verbot der Überraschungsentscheidung, welches zuvor in §  278 Abs.  3 ZPO a. F. geregelt war. Auch inhaltlich wurde eine Änderung vorgenommen: §  278 Abs.  3 ZPO a. F. stellte seinem Wortlaut nach auf einen von einer Partei übersehenen oder für unerheblich gehaltenen rechtlichen Gesichtspunkt ab. §  139 Abs.  2 S.  1 ZPO   Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 3.12.1976 (Vereinfachungsnovelle), BGBl.  I 1976, S.  3281 ff. 36   Greger, in: Gottwald/Greger/Prütting, Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, S.  77: »Kooperationsmaxime«; der Begriff ist wohl geprät worden durch Bettermann JBl 1972, 57, 63; siehe auch ders. ZZP 91 (1978), 365, 391; Hahn, passim; Birk NJW 1985, 1489, 1496; Lange NJW 2002, 476, 479. 37  Jedoch Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  5 : Kooperationsmaxime modifiziere den Beibringungsgrundsatz; ähnlich Adloff, S.  68: »Geltung eines modifizierten Verhandlungsgrundsatzes«. 38   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  5. 39   Baur, in: FS Kralik, S.  75, 81 f.; Kuhn/Löhr JR 2011, 369 (zu §  142 ZPO). 40   Stürner, Richterliche Aufklärung, Rn.  1. 35

§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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sieht diese Einschränkung nicht vor, um zu verdeutlichen, dass sich in der Praxis tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte häufig nur schwer voneinander trennen lassen und tatsächliche Gesichtspunkte für den Ausgang des Rechtsstreits ebenso bedeutsam sind.41 Inhaltlich neu eingefügt wurden Verfahrensvorschriften bezüglich der Hinweispflichten. Hinweise sollen einerseits in einem möglichst frühen Stadium erteilt werden, andererseits sind sie aktenkundig zu machen (§  139 Abs.  4 S.  1 ZPO). Die Erteilung der Hinweise kann bereits im schriftlichen Vorverfahren oder in der Terminsvorbereitung erfolgen. Die intensive Erörterung der Sachund Rechtslage mit frühzeitigen Hinweisen intendiert eine Konzentration des Rechtsstreits auf wesentliche Fragen, um ausufernden, aber nicht zielführenden (Zeit-) Aufwand zu vermeiden.42 Dadurch soll nicht das Gericht Aufgaben der Parteien oder der Prozessvertreter übernehmen, sondern eine prozessfördernde Zusammenarbeit zwischen Gericht und Parteien erreicht werden.43 Zu berücksichtigen ist, dass die richterliche Hinweispflicht nicht eine bloße Förmlichkeit beinhaltet, sondern als Ausdruck der materiellen Prozessleitung der Durchsetzung des materiellen Rechts dient.44 Die richterliche Frage- und Hinweispflicht bezieht sich auf den von den Parteien in den Prozess eingeführten Sachvortrag.45 Dementsprechend handelt es sich nicht um eine Aufklärung des Sachverhalts, sondern des Parteivortrags.46 Die Frage- und Hinweispflicht des Gerichts ist somit keine (allgemeine) Aufklärungspflicht.47 Ihre Funktion besteht vielmehr darin, der Partei Gelegenheit zur Konkretisierung oder Ergänzung ihres Vortrags zu geben. Die Grundlage dafür müssen weiterhin die Parteien legen. Mit dieser Sichtweise steht die Frage- und Hinweispflicht nicht im Widerspruch zum Verhandlungsgrundsatz.48 Nicht zu leugnen ist, dass in der praktischen Anwendung des §  139 ZPO die 41   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  77. 42   Greger, in: Zöller, §  139 Rn.  1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  5. 43   Fraglich ist jedoch, ob die Änderungen tatsächlich eine aktive Verfahrensgestaltung sicherstellen. Insoweit wird vorgebracht (Greger JZ 2000, 842, 845), dass die Änderungen an der falschen Stelle ansetzten. Entscheidend sei es, über Verfahrensvorschriften zu gewährleisten, dass der »frühe erste Termin« (§§  272 Abs.  2 Var. 1, 275 ZPO) statt eines Durchlauftermins ein echter Vorbereitungstermin sei. Vorbild könne die case management conference des neuen englischen Zivilprozessrechts sein (Rule 29.3 CPR; siehe dazu bereits §  3 II. 1.). 44   Schumann, in: FS Leipold, S.  175, 181 f., 200: »Gebot einer materiellrechtsfreundlichen Prozeßgestaltung«; siehe dazu generell ders., in: FS Larenz, S.  571 ff.; Spickhoff, S.  19 ff., 38 ff. 45   Heinze, in: FS Beys, S.  515, 527 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, §  139 Rn.  3 ; ders., in: FS Fasching, S.  329, 341. 46   Leipold, in: Stein/Jonas, §  139 Rn.  3 ; Reischl ZZP 116 (2003), 81, 85. 47   A. A. Bender/Schumacher, Erfolgsbarrieren, S.  118, die generell davon ausgehen, dass die Zivilprozessordnung von der Aufklärungsmaxime geprägt sei; ähnlich, wenn auch zurückhaltender formulierend Bender JZ 1982, 709, 711. 48   Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 341.

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

Gefahr besteht, in die Nähe der Inquisition zu geraten.49 Insoweit ist jedoch gerade über den Verhandlungsgrundsatz dieser Gefahr entgegenzutreten, indem sich die Reichweite des §  139 ZPO an den Vorgaben des Verhandlungsgrundsatzes orientiert. Verhandlungsgrundsatz sowie richterliche Frage- und Hinweispflicht spielen so zusammen.50 Die Frage- und Hinweispflicht schränkt die Freiheit der am Zivilprozess beteiligten Parteien nicht ein, sondern eröffnet ihnen die Möglichkeit, ihren Tatsachenvortrag dem Gericht zu unterbreiten.51 Sie ist eine Ausprägung des Grundsatzes der »Waffengleichheit« im Zivilprozess und als ihr dienendes Element zu befürworten.

III. Beweiserhebung von Amts wegen Die Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses mit den Parteien (§  139 Abs.  1 ZPO) 52 beschreibt den Kern der richterlichen Pflichten,53 der ergänzt und konkretisiert wird durch die weiteren Absätze des §  139 ZPO sowie insbesondere §§  138, 141, 142, 144, 273, 396 Abs.  2 und 448 ZPO. Die Regierungsbegründung zum Entwurf des Zivilprozessreformgesetzes zu §  139 Abs.  1 S.  2 ZPO hebt einerseits »die Verantwortung des gesamten Spruchkörpers für die materielle Prozessleitung« hervor, andererseits wird »die Verantwortung der Parteien für eine vollständige, aber auch zügige und ökonomische Prozessführung« betont.54 Über die Verantwortung der Parteien wird der Verhandlungsgrundsatz gestärkt, jedoch werden die Vorlageanordnung und andere Aufklärungsmechanismen an die Prozessleitung des Gerichts geknüpft.55 Das Gericht kann – abgesehen von dem Zeugenbeweis (vgl. §  373 und §  273 Abs.  2 Nr.  4 ZPO) – alle Beweise von Amts wegen erheben. Darüber hinaus er49   Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 341; sehr deutlich in diese Richtung Birk NJW 1985, 1489. Hingegen betrachtet Brinkmann NJW 1985, 2460 den »überaktiven« Richter eher als Gewähr für eine richtige Entscheidung. 50  Ähnlich Adloff, S.  60: »Wechselwirkung«. 51  Ebenfalls Bender JZ 1982, 709, 710 (allerdings aus einer weitgehenderen Grundposition [Aufklärungspflicht des Gerichts]). Insoweit hängt viel von der Vorgehensweise des Gerichts im Einzelfall ab; Hök MDR 1995, 773, 778. 52   Inwieweit die neu gefasste Hinweispflicht des §  139 Abs.  1 und 2 ZPO eine Änderung der materiellen Prozessleitung bewirkt, wird unterschiedlich bewertet. Während teilweise davon ausgegangen wird, dass die materielle Prozessleitungspflicht im Kern unverändert geblieben sei (Stadler, in: Musielak, §  139 Rn.  2 ; Prütting, in: FS Musielak, S.  397, 410; Schaefer NJW 2002, 849, 852), sehen andere eine Aufwertung der Prozessleitungspflicht (Greger, in: Zöller, §  139 Rn.  2). Schließlich werden Veränderungen an der Prozessstruktur konstatiert, die »zu einer Betonung der sozialen Funktion des Zivilprozesses [führten]« (Reischl ZZP 116 [2003], 81, 117). 53   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  139 Rn.  1: »Magna Charta des Zivilprozesses«. 54   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  77. 55   Katzenmeier JZ 2002, 533, 537. Auch die Novellierung des §  139 ZPO brachte inhaltlich keine substantielle Änderung: E. Schneider NJW 2001, 3756 f.; Schaefer NJW 2002, 849, 852.

§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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sucht das Gericht ohne Parteiantrag Behörden oder Träger eines öffentlichen Amtes um Mitteilung von Urkunden oder um Erteilung amtlicher Auskünfte.56 Besonders geregelt ist die Möglichkeit der Anordnung der Vorlegung der Handelsbücher (§§  258 Abs.  1, 260 HGB) oder des Tagebuchs des Handelsmaklers (§  102 HGB). Schließlich kann das Gericht die Aktenübermittlung (§  143 ZPO) oder die Urkundenvorlegung anordnen (§  142 ZPO). Nach §  448 ZPO kann die Parteivernehmung ebenso wie die Anordnung der Beeidigung von Amts wegen erfolgen. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Verhandlungsgrundsatz und gerichtliche Informationsbeschaffung qua Beweiserhebung von Amts wegen im Einzelnen stehen. Darf das Gericht einen Beweis anordnen, ohne dass eine Partei dies beantragt hat und entsprechender substantiierter Tatsachenvortrag zugrunde liegt? Kann mitunter eine Partei eine Pflicht treffen, zur Aufklärung des Sachverhalts zugunsten der anderen Partei beizutragen? Diese Fragestellungen treten auf, weil die ZPO die Informationsbeschaffung durch das Gericht nur rudimentär regelt.57 Die Parteien verfolgen entgegengesetzte Interessen und es besteht lediglich ein Anreiz zur Offenlegung der für sie günstigen Tatsachen. Die materielle Prozessleitung erfolgt in den Grenzen des von den Parteien vorgetragenen Prozessstoffs, hingegen ermittelt das Gericht keine neuen Tatsachen von Amts wegen.58 Eine Beweiserhebung von Amts wegen erfolgt nur, wenn insoweit streitiger Tatsachenvortrag der Parteien vorliegt.59 Insoweit bildet der Tatsachenvortrag und damit letztlich der Verhandlungsgrundsatz eine Grenze, die bei der Beweiserhebung von Amts wegen zu beachten ist. Der Verhandlungsgrundsatz in reiner Form würde eine Beweiserhebung von Amts wegen ausschließen, 60 weil danach die Feststellung des Tatsachenstoffs in der Verantwortung der Parteien liegt. 61 In der ZPO gilt der Verhandlungsgrundsatz jedoch nicht in Reinform. Erfolgt eine Beweiserhebung von Amts wegen jedoch lediglich in den Grenzen des von den Parteien vorgetragenen Tatsachenstoffs, liegt eine Durchbrechung vor, doch wird der Grundsatz damit nicht obsolet.

56   Nach §  358a S.  2 Nr.  2 ZPO handelt es sich dabei um ein Beweismittel, wobei jedoch die genaue Einordnung umstritten ist; siehe dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  122 Rn.  4. 57   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  2. 58   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  310; Prütting NJW 1980, 361, 363. 59   Die generelle Möglichkeit der Beweiserhebung von Amts wegen zeigt, dass der Verhandlungsgrundsatz nicht in reiner und ausschließlicher Form gilt; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  8. 60   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  8. 61   Davon zu trennen ist die Beweiswürdigung, für die der Verhandlungsgrundsatz nicht gilt; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  9.

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

IV. Mitwirkungsverantwortung der Parteien In diesem System wird freilich davon ausgegangen, dass die Parteien zu substantiiertem Vortrag in der Lage sind. Fraglich ist jedoch, ob die Situation anders zu beurteilen ist, wenn nicht eine Partei freiwillig davon absieht, sich auf eine Tatsache zu berufen, sondern bereits keine genaue Kenntnis von der Tatsache hat oder sie nicht wird beweisen können, weil sich entsprechende Unterlagen nicht in ihrer Hand befinden. Vor allem aus diesem Grund sind in der jüngeren Vergangenheit wieder die Forderungen aufgegriffen worden, die eine Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes befürworten und stattdessen eine Mitwirkungspflicht der Parteien – geleitet von dem Gericht – einführen wollen. 62 Dabei wird vor allem auf ausländische Rechtsordnungen Bezug genommen, in denen wechselseitige Offenlegungs- bzw. Mitwirkungspflichten der Parteien bestehen. Der Anerkennung prozessualer Aufklärungspflichten – verstanden als allgemeine Aufklärungspflicht oder im Rahmen der Auslegung des §  142 ZPO – wird als Hindernisgrund der Verhandlungsgrundsatz entgegengehalten. 63 Letztlich möchte eine Partei Tatsachen vortragen und Beweis anbieten, doch ist ihr dies nicht möglich. In diesem Fall besteht weiterhin die primäre Verantwortung der Parteien für den Tatsachenvortrag – allerdings ebenso der nicht beweisbelasteten Partei. Eine Mitverantwortung des Prozessgegners für den Tatsachenvortrag ändert nicht die Beweislast oder die abstrakte Beweisführungslast. 64 Mit anderen Worten wäre ein Verstoß gegen den Verhandlungsgrundsatz nur gegeben, wenn gerade aus diesem folgen würde, dass jede Partei selbst die ihr günstigen Tatsachen vortragen und der Prozessgegner ihm nicht das Material für den Prozessgewinn verschaffen müsste. Die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes beinhaltet jedoch keine Vorentscheidung für oder gegen prozessuale Aufklärungs- oder Mitwirkungspflichten. In dem von der Parteihoheit dominierten anglo-amerikanischen Zivilprozess bestehen im Vergleich zu dem richterdominierten deutschen Zivilprozess weitgehende Mit­ wirkungspflichten der Parteien. 65 Es zeigt sich, dass Parteihoheit und Mit­  Grundlegend Stürner, Aufklärungspflicht, S.  85 ff. Siehe auch OLG Düsseldorf MDR 1984, 1033, wonach ein behaupteter ärztlicher Kunstfehler nicht in allen Einzelheiten dargelegt werden müsse, sondern die Anführung von konkreten Verdachtsgründen genüge. Seien diese Anforderungen erfüllt, müsse das Gericht von Amts wegen die Krankenunterlagen beiziehen und das Gutachten eines Sachverständigen einholen. Im Arzthaftungsprozess werde somit die Verhandlungsmaxime weitgehend abgeschwächt. 63   Siehe nur BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205, wo der Verhandlungsgrundsatz und etwaige Aufklärungspflichten als Gegensätze angeführt werden. 64   Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 699; zustimmend Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1631. 65   Stürner, in: FG Vollkommer, S.  201, 204; siehe auch Cohn, in: FS von Hippel, S.  41, 61 mit dem Hinweis auf diejenigen Länder, die dem englischen System gefolgt seien und über ein wirksames System umfassender gegenseitiger Rechte und Pflichten der Parteien verfügten. 62

§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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wirkungspflichten sich nicht ausschließen müssen. 66 Die Aufklärung des Sachverhalts erfolgt dort weitgehend in der Verantwortung der Parteien; gleichzeitig bestehen weitreichende Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten. Unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes können die Parteien ebenso wie unter Geltung der Inquisitionsmaxime zur Mitwirkung verpflichtet sein. In das Grundmodell müssen jeweils geeignete Aufklärungs- und Mitwirkungsinstitute eingefügt werden. Unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes kann die Anordnung einer Mitwirkung von Amts wegen erfolgen. Das Grundmodell wird dadurch nicht in Frage gestellt. Die Grenze einer Mitwirkungspflicht richtet sich eher danach, wie weit man zur Erforschung der »materiellen Wahrheit« gehen und dazu in die Interessen anderer Beteiligter eingreifen möchte. 67 Daraus wird deutlich, dass zwei Fragenkreise zu trennen sind: einerseits die Frage der richtigen Ausprägung der Prozessleitung durch das Gericht, andererseits das Bestehen oder die Reichweite von Mitwirkungspflichten. 68 Aufklärungspflichten können gerade im Verhältnis der Parteien untereinander bestehen. Wird die Aufklärungspflicht durch eine prozessleitende Anordnung des Gerichts ausgelöst, liegt darin kein zwingender Verstoß gegen den Verhandlungsgrundsatz. 69 Die Prozessleitung durch das Gericht bedeutet nicht ein partielles Eingreifen der Inquisitionsmaxime.70 Dem wird jedoch entgegengehalten, dass eine Aufklärungspflicht in dem Sinne Stürners den Verhandlungsgrundsatz insoweit aufhebe, weil die Befugnisse des Gerichts wesentlich gestärkt würden, und zwar auf Kosten der Parteirechte. Die Unterschiede zwischen Verhandlungs- und Inquisitionsmaxime würden dadurch in zunehmendem Maße verschwinden.71 Nach Greger 72 widerspräche es dem Verhandlungsgrundsatz und der verfassungsrechtlich abgesicherten Verfahrensautonomie der Parteien, wenn das Gericht schrankenlos schriftliche Unterlagen einer Partei herausverlangen würde. Letztlich ist mit der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes noch keine Aussage über die Zulässigkeit von Aufklärungspflichten getroffen.73 Vielmehr sind – in dem Fall, dass Aufklärungspflichten im Grundsatz zu bejahen sind – die Voraussetzungen dafür im Einklang mit den Wertungen des Verhandlungsgrundsatzes zu bestimmen. Eine Aufklärungspflicht muss nämlich nicht zwangsläufig eine Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes bedeuten. Es erscheint als eine Einschränkung, wenn man in den Vordergrund stellt, dass die   Siehe §  3 I. 7. und II. 6.   Stürner, in: FG Vollkommer, S.  201, 204 und 206. 68   G. Wagner JZ 2007, 706, 710. 69   G. Wagner JZ 2007, 706, 710 f. 70   G. Wagner JZ 2007, 706, 711. 71   Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  26; Arens ZZP 96 (1983), 1, 18. 72   Greger DStR 2005, 479, 482. 73   Peters, in: FS Schwab, S.  399, 407 f.; Stürner ZZP 104 (1991), 208, 215; siehe auch Kapoor, S.  166. 66 67

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

Anordnung einer Vorlage vom Gericht von Amts wegen erfolgt; hingegen als Stärkung, wenn man Aufklärungsverantwortung der Parteien in den Fokus rückt. Eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht überträgt den Parteien ein Mehr an Verantwortung im Hinblick auf die Informationsbeschaffung.74 Je nach Betrachtung und Blickwinkel ist das Verhältnis von Aufklärungspflicht und Verhandlungsgrundsatz anders zu bewerten.75 Würde die Vorlageanordnung nicht von Amts wegen erlassen, sondern auf Parteiantrag, würde die Vereinbarkeit von Aufklärungspflicht und Verhandlungsgrundsatz wohl weniger in Frage gestellt. Schlosser weist sogar darauf hin, dass Aufklärungspflichten oder -obliegenheiten nicht eine Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes bedeuten würden, sondern ihr notwendiges Korrelat seien.76 Wenn im ursprünglichen Verständnis der Verhandlungsmaxime die sporting theory of justice angelegt sei, gebe es nur zwei Möglichkeiten, um Fairness im Zivilprozess zu erreichen: Richterliche Inquisition oder wechselseitige Parteiausforschung. Ein Widerspruch zwischen einer Mitwirkungsverantwortung der Parteien und dem Verhandlungsgrundsatz wird daher nicht hervorgerufen, wenn eine Partei mangels Kenntnis Tatsachen nicht vortragen oder aufgrund fehlenden Besitzes ein Beweismittel nicht beibringen und aufgrund eines fehlenden materiellrechtlichen Anspruchs die Vorlage nicht nach §  422 ZPO verlangen kann. Es verbleibt nämlich bei der Tatsachenbeibringung durch die Parteien, allerdings auch der nicht beweisbelasteten Partei. Die andere Partei kann unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes zur Mitwirkung an der Stoffsammlung herangezogen werden.77 Die Modifikation der Substantiierungslast zeigt, dass in der Rechtsprechung ein Aufklärungsinteresse einer Partei gegenüber dem Prozessgegner anerkannt wird.78 Der Grundsatz, keine Partei sei gehalten, dem Prozessgegner das Material für seinen Prozesssieg zu verschaffen, wird nicht durchgehalten, sondern in dem Gewand der sekundären Behauptungslast durchbrochen. Das ist folgerichtig vor dem Hintergrund, dass der Staat das Gewaltmonopol beansprucht und dementsprechend für die verfahrensmäßigen Instrumente zur Durchsetzung der subjektiven Rechte sorgen muss.

  Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 477.   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 62: »nachgerade eine Stärkung«; Schlosser JZ 1991, 599, 603: »notwendiges Korrelat«; so auch Katzenmeier JZ 2002, 533, 537 Fn.  74. Tendenziell sls Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes einordnend: BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 76   Schlosser JZ 1991, 599, 603. 77   Peters, in: FS Schwab, S.  399, 408; Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1630: der Verhandlungsgrundsatz stoße an seine Grenzen, stehe einer Mitverantwortung der nicht beweisbelasteten Partei aber nicht entgegen. 78   Ausführlich dazu §  7 II. 1. 74

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§  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes

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V. Fazit Nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes79 zum 1.1.2002 gilt weiterhin der Verhandlungsgrundsatz. 80 Das Gericht ist jedoch an der Stoffsammlung in maßgeblicher Weise beteiligt. Die materielle Prozessleitung ist das Gegenmodell zu dem »gemeinrechtlichen Urbild des Richters, der inaktiv über dem Zweikampf der Parteien thront« 81. In der CPO von 187782 war die passive Rolle des Richters noch verankert. 83 Der freie Kampf der Parteien wurde maßgeblich für die lange Prozessdauer verantwortlich gemacht, sodass Forderungen nach einer Stärkung der materiellen Prozessleitung vorgebracht wurden. 84 Der deutsche Gesetzgeber hat dem in verschiedenen Novellen Rechnung getragen, 85 allerdings lediglich in zurückhaltender Art und Weise und keineswegs als »Systemwechsel«. Schließlich ist zu konstatieren, dass die Abgrenzung der Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien nicht dadurch im Detail festgelegt wird, ob der Begriff Verhandlungsgrundsatz gewählt wird. Unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes findet eine Zusammenarbeit zwischen Gericht und Parteien statt, deren Verhältnis im Einzelnen auszutarieren ist. Es geht nicht um Parteiherrschaft oder Richtermacht, sondern um die Verteilung und Balance zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht. Die Parteien tragen entsprechend dem Verhandlungsgrundsatz vor. Eine davon zu trennende Frage ist, ob wechselseitige Mitwirkungspflichten der Parteien nicht bestehen sollten, wenn einer Partei die Fähigkeit zum substantiierten Vortrag versagt ist. Die Frage der Mitwirkungspflichten der Parteien lässt sich nicht aus dem Umfang der materiellen Prozessleitung durch das Gericht beantworten. Darüber hinaus ist das Beste  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I S.  1887.   BVerfG NJW 2008, 2170, 2171; BGHZ 161, 138, 143 = NJW 2005, 291, 293; Greger, in: Zöller, vor §  128 Rn.  10 ff.; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, Grdz. §  128 Rn.  20 f.; Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  146; Musielak, in: Musielak, Einl. Rn.  37 ff.; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  307 ff.; Saenger, in: Hk-ZPO, Einl. Rn.  66 ff. 81   Greger JZ 2000, 842, 845. 82   Civilprozeßordnung vom 30.1.1877, RGBl.  1877, S.  83 ff. 83   Hintergrund war der bürgerlich-liberale Geist der Zeit; Greger JZ 2000, 842, 845. Freilich gab es aber bereits Stimmen, die eine aktive Rolle des Richters befürworteten; zum Verhältnis des Richters zu den Parteien siehe Wach, Vorträge, S.  52 ff. 84   Neukamp, Gutachten für den 26. Deutschen Juristentag, S.  228 ff.; Wach, Gutachten für den 26. Deutschen Juristentag, S.  17 ff.; Wach, Vorträge, S.  52 ff. Vorbilder dafür gab es bereits in der österreichischen ZPO von 1898; dazu Klein, Zeit- und Geistesströmungen, S.  18 ff. 85  (Not-) Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13.2.1924 (sog. Emminger-Novelle), RGBl.  I 1924, S.  135 ff.; Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27.10.1933, RGBl.  I 1933, S.  780 ff.; Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 3.12.1976 (Vereinfachungsnovelle), BGBl.  I 1976, S.  3281 ff.; dazu Gottwald, in: 100 Jahre österreichische Zivilprozeßgesetze, S.  179, 181 ff.; Kapoor, S.  56 f., 58 f., 60; Baur, in: FS Kralik S.  75, 76 ff.; ausführlich zur Novelle von 1933 Rosenberg ZZP 58 (1934), 283 ff. 79

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

hen von Mitwirkungspflichten nicht von der Frage abhängig, ob eine Beweiserhebung von Amts wegen möglich ist.

§  6  Grenzen der Hoheit der Parteien Aus der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes ergibt sich somit, dass die Parteien die Tatsachen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt, vortragen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie weit die Freiheit der Parteien beim Tatsachenvortrag reicht. Das Gericht soll über den »wahren« Lebenssachverhalt entscheiden, nicht über einen fiktiven Sachverhalt. Damit nicht zu vereinbaren wäre es auf den ersten Blick, wenn die Parteien dem Gericht einen anderen als den »wahren« Sachverhalt unterbreiten könnten und dieser Entscheidungsgrundlage würde. 86 Der Verhandlungsgrundsatz scheint das den Parteien zu ermöglichen. Die Parteien können dem Gericht einen unwahren Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage präsentieren, indem sie entweder relevante Tatsachen überhaupt nicht oder Tatsachen nicht der Wahrheit entsprechend vortragen. Dass die Parteien, vor allem einvernehmlich, dazu in tatsächlicher Hinsicht in der Lage sind, kann nicht bezweifelt werden. Prozessrechtlich könnten sie allerdings verhindert sein, in dieser Weise vorzugehen. 87 Der Tatsachenvortrag unterliegt der Wahrheitspflicht (§  138 Abs.  1 ZPO), aus der sich ein Rahmen für den zulässigen Tatsachenvortrag ergibt. Das zivilprozessuale Verfahren ist auf die Ermittlung der Wahrheit gerichtet, um dem Rechtsschutzbegehren der Partei zu entsprechen. Eine Bindung an übereinstimmenden unwahren Vortrag scheint dem Zweck des Zivilprozesses, der Durchsetzung des materiellen Rechts, zu widersprechen. Angesprochen ist damit die Reichweite des Verhandlungsgrundsatzes. Im Einzelnen zu klären ist einerseits das Verhältnis von Verhandlungsgrundsatz und Wahrheitspflicht, andererseits die Grenze des unzulässigen Bestreitens. Aus der Erklärungs- und Wahrheitspflicht sowie aus der Unzulässigkeit der Erklärung mit Nichtwissen könnten sich letztlich Mitwirkungspflichten ergeben, weil sich eine Partei über Tatsachen aus ihrer Sphäre erklären muss.

86   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 37 (mit dem Hinweis, dass letztlich ein Widerspruch zum Wahrheitszweck nicht bestehe, weil die Parteien gleichzeitig die materielle Wahrheit änderten). 87   Siehe auch Hackenberg, S.  38 ff.; Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207 ff.; Gaul AcP 168 (1968), 27 ff.

§  6  Grenzen der Hoheit der Parteien

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I.  Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben (§  138 Abs.  1 ZPO). 88 Der Kläger muss zu sämtlichen klagebegründenden Voraussetzungen substantiiert vortragen. Der Beklagte muss sich zu dem Vorbringen des Klägers wiederum substantiiert äußern (§  138 Abs.  2 ZPO); ansonsten gilt das Vorbringen des Klägers als zu­ gestanden (§  138 Abs.  3 ZPO). Zu klären ist neben dem Inhalt der Erklärungsund Wahrheitspflicht, ob der Verhandlungsgrundsatz die Wahrheitspflicht teilweise überlagern kann und ob die Parteien und das Gericht an einen wahrheitswidrigen Vortrag gebunden sind. 1.  Pflicht zur Wahrhaftigkeit Wahrheit bedeutet die Übereinstimmung von Erklärung und Sachverhalt. Die Wahrheitspflicht des §  138 Abs.  1 ZPO kann keine absolute, objektive Wahrheit verlangen, weil den Parteien des Zivilprozesses, an die sich das Gebot richtet, im Hinblick auf die Erinnerungsfähigkeit natürliche Grenzen gesetzt sind. 89 Dementsprechend sind die Parteien zur subjektiven Wahrheit, bezeichnet als Wahrhaftigkeit, verpflichtet.90 Insbesondere verbietet sich eine Erklärung wider besseren Wissens.91 Die Wahrheitspflicht bezieht sich sogar auf Umstände, die die Partei für unbeachtlich hält.92 Es handelt sich nach zustimmungswürdiger Ansicht um eine echte Rechtspflicht, nicht lediglich um eine prozessuale Last.93 Eine prozessuale Pflicht steht nicht im Belieben der Parteien. Vielmehr verlangt das Gericht von den Parteien eine konkrete Handlung, missbilligt jedes andere Verhalten und den Parteien ist ein Ausweichen nicht möglich.94

88   Die Vorschrift ist erst durch die Novelle 1933 in die ZPO aufgenommen worden; RGBl.  I 1933, S.  780. Siehe zur Entwicklung ausführlich Olzen ZZP 98 (1985), 403 ff. 89   Hackenberg, S.  39. 90   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  138 Rn.  15; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  4 ; Lüderitz, S.  20; Arens ZZP 96 (1983), 1, 5; Olzen ZZP 98 (1985), 403, 415. 91   BGH NJW 2004, 2096, 2097; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  9. 92   BGH NJW 2011, 2794, 2795 (Rn.  15). 93   Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  1; Musielak, in: Musielak, Einl. Rn.  56; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, §  2 Rn.  14; Rosenberg ZZP 72 (1959), 333, 334. 94   Lent ZZP 67 (1954), 344, 351; Henckel, S.  14; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  2 Rn.  14. Die Einordnung als prozessuale Pflicht richtet sich nicht nach der Bezeichnung als Pflicht im Sprachgebrauch der ZPO. Auch Lasten sind in der ZPO teilweise als Pflichten bezeichnet. Entscheidend ist der Inhalt und damit vor allem die Folge der Nichterfüllung; siehe dazu Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  209 und 214.

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

2.  Legitimation eines unwahren Tatsachenvortrags Zwar wurde durch die Novelle von 1933 der Streit darüber beendet, ob die Parteien zur Aufstellung unwahrer Tatsachenbehauptungen befugt seien und es dem Gegner überlassen bleibe, diese zu »bekämpfen«; 95 die Wahrheitspflicht ist gesetzlich verankert und wird im Grundsatz nicht infrage gestellt. Nunmehr stellt sich aber die Frage, ob die Wahrheitspflicht durch die Verhandlungsmaxime eingeschränkt wird. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht kann (§  138 Abs.  1 ZPO) mit den Dispositionsmöglichkeiten der Parteien über die Tatsachengrundlage (§§  138 Abs.  3, 288 ZPO), die Ausdruck der Verhandlungsmaxime sind,96 in Konflikt treten.97 Ausweislich des Verhandlungsgrundsatzes »liefern« die Parteien dem Gericht den Prozessstoff, über den das Gericht zu entscheiden hat. Dabei entscheiden die Parteien darüber, welchen Prozessstoff sie dem Gericht unterbreiten. Nach §  138 Abs.  3 ZPO steht es einer Partei frei, die von der anderen Partei behaupteten Tatsachen nicht zu bestreiten, womit sie als zugestanden anzusehen sind. Werden Tatsachen nicht bestritten und dementsprechend nicht vorgebracht, wird von dem Verhandlungsgrundsatz in »passiver« Weise Gebrauch gemacht. Der Wortlaut der Norm sieht eine Einschränkung nicht vor, sodass die Möglichkeit auch besteht, wenn die Tatsachen nicht der (subjektiven) Wahrheit entsprechen. Entsprechendes gilt für das Geständnis nach §  288 ZPO. Ein Beweis wird nicht mehr über die Tatsachen erhoben, die im Laufe des Rechtsstreits von dem Gegner zugestanden sind (§  288 Abs.  1 ZPO). Das Zugeständnis kann sich auf Tatsachen beziehen, die nach Kenntnis der Partei unwahr sind. §  138 Abs.  3 ZPO bzw. §  288 Abs.  1 ZPO stellen eine Grenze der Beweisbedürftigkeit dar. Diese Grenze würde im Falle eines unwahren Vortrags allerdings dazu führen, dass das Gericht über einen Sachverhalt zu entscheiden hat, der der Wahrheit nicht entspricht. Die Diskrepanz zur Wahrheitspflicht kann über zwei Wege aufgelöst werden: Einerseits kann man die Wahrheitspflicht als Grenze der §§  138 Abs.  3, 288 ZPO ansehen,98 andererseits kann man die genannten Vorschriften als Grenzen der Wahrheitspflicht betrachten.99 Dementsprechend ist zu prüfen, ob in einem  Zum Zweikampf der Parteien unter anderem mit dem Mittel der Prozesslüge siehe Philipsborn, in: FS von Liszt, S.  189, 191. 96   C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  23; Prütting, in: MünchKommZPO, §  288 Rn.  1. 97   Prütting, in: MünchKommZPO, §  288 Rn.  3 (zu §  288 ZPO). 98   Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 202; Bernhardt JZ 1963, 245, 246; Olzen ZZP 98 (1985), 403, 420; ähnlich Bomsdorf, S.  279. Nach Prütting, in: MünchKommZPO, §  288 Rn.  3 verbietet die Wahrheitspflicht des §  138 Abs.  1 ZPO nur unwahre Behauptungen zugunsten des Behauptenden, hingegen nicht das Geständnis über ungünstige Tatsachen; daher könne eine Kollision zwischen Wahrheitspflicht und Geständnis nicht eintreten; a. A. C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  13. 99   Brehm, S.  3, 23 ff., 27 f.; Goldschmidt, S.  128; Grunsky, S.  4 ; Rödig, S.  153. Hintergrund 95

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solchen Fall der Verhandlungsgrundsatz die Wahrheitspflicht überlagert. Nimmt man alleine den Verhandlungsgrundsatz als Maßstab, könnte man daraus schließen, dass es nicht nur Sache der Parteien ist, den Sachverhalt generell vorzutragen, sondern auch welchen.100 Gerade dieser Aspekt ist aber fraglich: Ist der Verhandlungsgrundsatz nur das Recht der Parteien, den Prozessstoff vorzutragen, oder beinhaltet er gleichzeitig die Pflicht, den vollständigen und wahren Prozessstoff vorzutragen? Tragen die Parteien Gegensätzliches vor, weil sie jeweils anderer Überzeugung sind, kann als Legitimation durchaus der Verhandlungsgrundsatz angeführt werden, weil er darauf beruht, dass die Parteien ihre Interessen am besten wahrnehmen können und die ihnen günstigen Tatsachen vortragen werden. Diese Begründung kann nicht tragen, wenn ein Interessengegensatz insoweit nicht besteht und die Parteien übereinstimmend unwahr vortragen.101 a)  Neuregelung der Rechtsbeziehung durch die Parteien Als Begründung für die Hoheit der Parteien, dem Gericht übereinstimmend einen nicht wahren Tatsachenvortrag als Entscheidungsgrundlage zu unterbreiten, wird angeführt, dass sie durch den unwahren, jedoch übereinstimmenden Vortrag ihre Rechtsbeziehung neu regeln. Deswegen sei es nicht zu beanstanden, wenn das Gericht über diesen Sachverhalt entscheiden müsse.102 Letztlich liege darin die Vereinbarung über ein präjudizielles Rechtsverhältnis, an die das Gericht gebunden sei. Die Frage, ob ein übereinstimmender Tatsachenvortrag der Parteien das Gericht binde, sei strukturell mit der Frage vergleichbar, ob eine Bindung an übereinstimmende Rechtsauffassungen gegeben sei. Die Behauptung einer nicht gegebenen tatsächlichen Voraussetzung könne im Ergebnis wie die Bejahung einer Rechtsfolge wirken, obwohl deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht vorlägen.103 Im Ergebnis könne es keinen Unterschied machen, ob eine Partei nicht der Wahrheit entsprechende Tatsachen zugestehe oder sich die Parteien auf eine Rechtsauffassung »einigten«. Beispielsweise sei die nichtbestrittene (aber unzutreffende) Behauptung, ein Vertrag sei beurkundet worden, mit der übereinstimmenden Rechtsauffassung, der Vertrag sei gleichwohl als wirksam zu behandeln, vergleichbar.104 dieser Einordnung ist die Annahme, der Zivilprozess begnüge sich mit einer »formellen« Wahrheit; siehe Wach, Vorträge, S.  198 ff. 100   Heinze, in: FS Beys, S.  515, 529 ff.; Schönfeld, S.  57: »Es ist überzeugend nachgewiesen, daß die Wahrheitspflicht praktisch sanktionslos verletzt werden kann. Daraus folgt einmal ihre geringe praktische Bedeutung, zum anderen ist es vom Grundsatz der Privatautonomie unmöglich, den Verhandlungsgrundsatz mit der Wahrheitsplicht zu vereinbaren.« 101   Cahn AcP 198 (1998), 35, 40, siehe bereits Bernhardt, in: FG Rosenberg, S.  9, 48. 102   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  51. 103   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 209. 104   Zu diesem Beispiel Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 209.

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

aa)  Bindung des Gerichts an übereinstimmende Rechtsauffassungen Es erscheint jedoch fraglich, ob eine Bindung des Gerichts an übereinstimmende Rechtsauffassungen gegeben ist. Dem Schluss von der Bindung an übereinstimmende Rechtsauffassungen auf die Bindung an übereinstimmenden Tatsachenvortrag wird die Grundlage entzogen, wenn bereits einer Bindung an übereinstimmende Rechtsauffassungen nicht zugestimmt werden kann. In einem Urteil im Jahre 1968 entschied der BGH, dass die Parteien nicht dadurch, dass sie übereinstimmend einen formnichtigen Grundstückskaufvertrag als gültig behandelt wissen wollen, eine anderweitige rechtliche Beurteilung seitens des Gerichts ausschließen können.105 Es folgt damit dem Grundsatz, dass dem Richter die Tatsachen zur Kenntnis gebracht werden und der Richter das Recht anwendet (da mihi factum, dabo tibi ius). Das Gericht kenne das Gesetz (iura novit curia) und sei an übereinstimmende Rechtsauffassungen der Parteien nicht gebunden. Insbesondere könne es den Parteien nicht überlassen werden, sich durch eine einvernehmliche prozessuale Entscheidung über zwingende106 Formvorschriften hinwegzusetzen. Die Entscheidung wurde kritisiert, weil sie im Widerspruch zur Zulässigkeit von Geständnissen und Anerkenntnissen im Prozess stehe. Bestehe eine Bindung an die prozessualen Dispositionsakte der Parteien, seien Parteivereinbarungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse zulässig und vom Gericht der Entscheidung zugrunde zu legen.107 Im Rahmen des dispositiven materiellen Rechts gelte dies uneingeschränkt.108 Über zwingendes materielles Recht dürften sich die Parteien hinwegsetzen, wenn nicht gegen das öffentliche Interesse oder die Grundsätze des ordre public verstoßen werde.109 Der Grundsatz »iura novit curia« stehe dieser Sichtweise nicht entgegen,110 denn er besage lediglich, dass die Parteien die Geltung von Rechtssätzen nicht beweisen müssten.111 Schließlich könnten die Parteien den Weg eines außerprozessualen Zwischenvergleichs über die präjudizielle Frage beschreiten, der das Gericht aufgrund seiner materiellrechtlichen Wirkung binden würde. Es werde dann das erreicht, was mit der prozessualen »Einigkeit« in der Rechtsauffassung geschaffen werden solle, 105   BGH WM 1969, 165, 166; dazu Baur, in: FS Bötticher, S.  1 ff.; Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207 ff.; siehe auch BGH NJW 1958, 1968: Allein der Umstand, dass ein Vertrag von beiden Parteien mit verschiedener Begründung angefochten werde, berechtige das Gericht noch nicht, ohne Prüfung des Anfechtungstatbestands von der Nichtigkeit des Vertrags auszugehen. 106   Anknüpfungspunkt muss die Frage sein, ob es sich um zwingende Normen handelt. Es kommt nicht darauf an, ob das Recht, über das prozessual verfügt werden soll, zur Verfügung der Parteien steht; siehe dazu Cahn AcP 198 (1998), 35, 43 f. 107   Baur, in: FS Bötticher, S.  5 f. 108   Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß, S.  34; Wolf, S.  62 f. 109   Insoweit sehr weitgehend Henckel, S.  134 ff.; ähnlich Baur, in: FS Bötticher, S.  10. 110   Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß, S.  33 f. 111   Baur, in: FS Bötticher, S.  4.

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und zwar die Beschränkung des Streits auf die von den Parteien vorgetragenen Streitpunkte.112 Sowohl die Bindung an eine übereinstimmende Rechtsauffassung als auch an einen übereinstimmenden unwahren Tatsachenvortrag stößt jedoch auf Bedenken. Richtigerweise weist bereits Häsemeyer darauf hin, dass zunächst zu klären ist, ob die Grenzen der Parteidisposition rein innerprozessual oder außerprozessual zu bestimmen sind.113 Wären die Grenzen innerprozessual zu bestimmen, müsste man Vereinbarungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse zulassen. Eine solche innerprozessuale Betrachtung würde den Zivilprozess jedoch als Selbstzweck begreifen, d. h. das Urteil an sich wäre das Ziel des Prozesses. Das Verhältnis des materiellen Rechts zum Prozessrecht würde dabei miss­ achtet. Nach allgemeiner Ansicht liegt der Zweck des Zivilprozesses in der Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte, also der materiellen Rechte.114 Durch einvernehmliches Parteiverhalten darf zwingendes materielles Recht nicht übergangen werden. Im Prozess würde damit anderes Recht gelten als außerhalb des Prozesses.115 Wenn die Parteien etwa übereinstimmend erklären, einen formnichtigen Vertrag als wirksam behandeln zu wollen, sind damit die Anforderungen, die das materielle Recht stellt, nicht erfüllt. Die Formvorschriften entfalten teilweise eine Warn- und Beratungsfunktion.116 Diese Funktionen werden aber durch das zivilprozessuale Verfahren nicht erfüllt. Dementsprechend bedarf es der Erfüllung der materiellrechtlichen Anforderungen. Das prozessuale Verfahren kann die Funktionen des materiellen Rechts nicht erfüllen. Freilich könnte man insoweit wiederum vorbringen, dass die Parteien über dispositives Recht verfügen können, nicht aber über zwingendes Recht. Teilweise wird argumentiert, dass sogar zwingendes Recht nicht entgegenstehe, wenn das Verfahren die Funktionen des materiellen Rechts übernehmen könne.117 Dem ist jedoch entgegenzusetzen, dass das Gericht etwa eine Beratung der Partei im Hinblick auf Grundstücksgeschäfte gerade nicht vornehmen wird, wenn die Parteien die Prüfung der Formwirksamkeit dem Gericht entziehen. Aber selbst in dem Fall, dass von einem vergleichbaren Verfahren ausgegangen werden kann, ersetzt das prozessuale Verfahren die materiellrechtlichen Anforderungen nicht. Zu berücksichtigen sind nämlich die Folgewirkungen. Das Urteil würde in Rechtskraft erwachsen, womit eben viel weitreichendere Folgen verbunden sind als mit dem Abschluss eines materiellen Rechtsgeschäfts.118 Das   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 210.   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 210. 114   BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828; im Einzelnen siehe §  1. 115   Cahn AcP 198 (1998), 35, 37. 116   Ellenberger, in: Palandt, §  125 Rn.  2 ff. 117   Wolf, S.  63 Fn.  16; ähnlich Costede ZZP 82 (1969), 438, 444. 118   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 219. 112

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materielle Recht beinhaltet Lösungsmöglichkeiten, etwa die Anfechtung, während das Prozessrecht Anfechtungsmöglichkeiten – richtigerweise – nur sehr zurückhaltend gewährt. Das materielle Recht ist im Hinblick auf die rechtlichen Beziehungen der Parteien differenzierter ausgebildet als das Prozessrecht.119 Daher ist das materielle Recht der richtige Rahmen für die Gestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien. Nur dadurch können Widersprüche vermieden werden. Wird eine Partei verurteilt, den Kaufpreis für ein Grundstück zu bezahlen (§  433 Abs.  2 BGB), obwohl es sich um einen formnichtigen Vertrag handelt, hätte er materiellrechtlich keinen Anspruch auf Auflassung (§  925 Abs.  1 S.  1 i. V. mit §  873 Abs.  1 BGB), weil der Grundstückskaufvertrag mangels der Einhaltung der notariellen Beurkundung (§  311b Abs.  1 S.  1 BGB) nichtig ist (§  125 S.  1 BGB; die Heilung nach §  311b Abs.  1 S.  2 BGB greift mit Auflassung und Eintragung in das Grundbuch ein, hingegen nicht mit Zahlung des Kaufpreises). Das hätte somit zur Folge, dass der Vertrag lediglich einseitig ausgeführt werden muss, es sei denn, der Verkäufer leistet freiwillig. Die Probleme können vermieden werden, wenn nach den vorgesehenen materiellrechtlichen Mechanismen die notarielle Beurkundung erfolgt. Zwar kann ein gerichtlicher Vergleich die notarielle Beurkundung ersetzen (§  127a BGB), doch wäre darin aufgrund der Doppelnatur des Prozessvergleichs eben ein materiellrechtliches Rechtsgeschäft enthalten. Verfahrensdispositionen können die Rechtsgeschäfte des materiellen Rechts daher nicht ersetzen. Jedenfalls würden Friktionen entstehen, die über materiellrechtliche Gestaltungen vermieden werden können.120 Evident wird das vor allem, wenn die übereinstimmende Rechtsauffassung der Parteien zu einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Rechtsfolge führen würde oder ein Recht einer Entscheidung zugrunde gelegt werden soll, das von der Rechtsordnung nicht anerkannt ist.121 Über den Gesichtspunkt der Missachtung zwingender Normen hinaus muss das ebenfalls gelten, wenn nicht zwingendes materielles Recht betroffen ist. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, den hypothetischen Sachverhalt dahin gehend zu überprüfen, ob zwingende materiellrechtliche Vorschriften verletzt sind. bb) Prozessökonomische Vorteile Erwägungen der Prozessökonomie können zu keinem anderen Ergebnis führen. Für die Parteien mag der Weg über das materielle Recht beschwerlicher sein als einvernehmliches Parteiverhalten im Prozess.122 Diese Erschwerung ist   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 219.   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 215, 221. 121   Cahn AcP 198 (1998), 35, 46, der als Beispiele die Feststellung des Bestehens einer forderungslosen Hypothek oder Schadensersatz wegen der Verletzung eines solchen Rechts nennt. 122   Weil auf die Parteien abgestellt wird, setzt das voraus, dass die Prozessökonomie nicht lediglich in einem verfahrensimmanenten Sinne verstanden wird, sondern auch einen einfa119

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durch den Gesetzgeber aber gerade vorgegeben, weil er ihre Einhaltung als angemessen und notwendig ansieht.123 Daher kann die vorrangige materiellrechtliche Entscheidung des Gesetzgebers nicht außer Acht gelassen werden. Der Zivilprozess dient der Durchsetzung der subjektiven Rechte, sodass diese materiellrechtlich bestehen müssen. Hingegen kann eine Durchsetzung nicht erfolgen, wenn das materielle Recht die Entstehung des Rechts durch zwingende Vorschriften verhindert.124 Die Wahrheitspflicht im Zivilprozess übernimmt nicht lediglich eine Schutzfunktion zugunsten des Prozessgegners, sondern gewährleistet darüber hinausgehend die Einhaltung der Vorschriften des materiellen Rechts.125 Das Prozessrecht soll zur Auflösung der realen, materiellrechtlichen Streitigkeiten dienen, denn das materielle Recht ist auf reale, nicht auf hypothetische Sachverhalte ausgerichtet.126 Mithin kann der Verhandlungsgrundsatz nicht mit dem Argument die Wahrheitspflicht einschränken, dass in den nicht der Wahrheit entsprechenden Aussagen der Parteien eine Neuregelung der Rechtsbeziehung liege. cc) Ergebnis Dementsprechend besteht keine Bindung des Gerichts an übereinstimmende Rechtsauffassungen. Es fehlt an einer Grundlage für einen Schluss auf die Bindung an einen unwahren Tatsachenvortrag. b)  Zulässigkeit der Beendigung des Verfahrens durch Klagerücknahme, Erledigungserklärung und Prozessvergleich Möglicherweise kann aus der Zulässigkeit von Klagerücknahme, Erledigungserklärung und Prozessvergleich ein Rückschluss auf die Bindung an Rechtsauffassungen oder den Tatsachenvortrag gezogen werden. Die Klagerücknahme bewirkt, dass der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen ist. Die mit der Rechtshängigkeit verbundenen Wirkungen entfallen.127 Hingegen bleibt der materiellrechtliche Klageanspruch unberührt. An die Annahme eines stillschweigend geschlossenen Erlassvertrags sind strenge Anforderungen zu stellen.128 Daher wird die materiellrechtliche Beziehung der Parteien grundsätzlich nicht berührt. Die übereinstimmende Erledigungserklärung bewirkt den un-

chen und schnellen Weg allein für die Prozessparteien erfasst; siehe Cahn AcP 198 (1998), 35, 41. 123   Cahn AcP 198 (1998), 35, 41. 124   Cahn AcP 198 (1998), 35, 41. 125   Cahn AcP 198 (1998), 35, 45. 126   Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 202; Bernhard JZ 1963, 245, 247; Osterloh-Konrad, S.  118. 127   Saenger, in: Hk-ZPO, §  269 Rn.  31. 128   BGH NJW-RR 1990, 390, 391; NJW 1997, 3019, 3021.

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mittelbaren Wegfall der Rechtshängigkeit der Hauptsache.129 In der Hauptsache ergeht keine rechtskräftige Entscheidung, sodass die materiellrechtliche Beziehung unberührt bleibt. Klagerücknahme und Erledigungserklärung erfordern keine inhaltliche Entscheidung des Gerichts. Der Prozessvergleich ist nach allgemeiner Ansicht Prozesshandlung und materiellrechtliches Rechtsgeschäft zugleich (Doppelnatur des Prozessvergleichs). Er hat materiellrechtliche Wirkungen, die jedoch gerechtfertigt sind, weil er (auch) als materiellrechtliches Rechtsgeschäft zu qualifizieren ist und die materiellen Voraussetzungen erfüllen muss.130 Das Gericht soll demgegenüber nicht die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien materiell neu regeln, sondern darüber entscheiden. Das materielle Recht ist der »Standort«, um die Rechtsbeziehungen einvernehmlich zu regeln. Der Prozessvergleich bedeutet eine inhaltliche Entscheidung, weil die Parteien zugleich die materielle Rechtslage ändern. Diese ist dann richtigerweise Grundlage des Prozessvergleichs. Klagerücknahme, Erledigungserklärung und Prozessvergleich sind Ausdruck der Dispositionsmaxime, d. h. der Befugnis über den Prozess im Ganzen zu verfügen.131 Diesen Instituten kann nicht ein Argument für die Bindung an Rechtsauffassungen oder den Tatsachenvortrag entnommen werden. c)  Zulässigkeit von Anerkenntnis und Verzicht Es ist einzuräumen, dass die Gefahr der Diskrepanz zwischen Urteil und materiellem Recht bei dem Anerkenntnis oder dem Verzicht besteht.132 Aus der Zulässigkeit des Anerkenntnisses und des Verzichts könnte in einem Erst-rechtSchluss die Zulässigkeit der Vereinbarungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse folgen.133 Ein Anerkenntnis oder Verzicht führt dazu, dass eine tatsächliche und rechtliche Prüfung insoweit nicht mehr erfolgt. Entsprechend würde das für die übereinstimmend vorgetragene rechtliche Beurteilung gelten, sodass das Gericht insoweit keine Prüfung mehr vornehmen würde. Gleichwohl sind diese Institute von einer Entscheidung auf einem übereinstimmenden, aber unwahren Tatsachenvortrag oder einer übereinstimmenden Rechtsauffassung zu trennen. Anerkenntnis und Verzicht sind Ausdruck der Dispositionsmaxime.134 Danach bestimmen die Parteien den Streitgegenstand des Zivilprozesses und verfügen über ihn.135 Mit dem Anerkenntnis oder Verzicht entziehen sie dem Gericht den Streitgegenstand, sodass eine materiell-

  Gierl, in: Hk-ZPO, §  91a Rn.  34.   Kindl, in: Hk-ZPO, §  794 Rn.  2. 131   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  138. 132   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 215 f. 133   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 210. 134   Leipold, in: Stein/Jonas, §  306 Rn.  1 und §  307 Rn.  1. 135   Saenger, in: Hk-ZPO, Einf. Rn.  63; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  76 Rn.  1. 129

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rechtliche Prüfung nicht stattfindet.136 Das Anerkenntnis ist eine Prozesshandlung, nicht aber eine tatsächliche Erklärung.137 Es ist von einem privatrechtlichen Anerkenntnis nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen zu unterscheiden. Das prozessuale Anerkenntnis richtet sich an das Gericht, während das Anerkenntnis des §  781 BGB mit einer anderen Person zustande kommt.138 Aus der Tatsache, dass eine Rechtsordnung unter anderem das Anerkenntnis und den Verzicht anerkennt, kann daher nicht geschlossen werden, dass der Richter die wahre Rechtslage nur innerhalb des zwischen den Parteien streitig gebliebenen Tatsachenvortrags zu ermitteln habe.139 d)  Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis Dass die Parteien nicht völlig frei in ihrem Vortrag sein können, zeigt sich daran, dass reinen Scheinprozessen das Rechtsschutzbedürfnis abgesprochen wird. Wird dem Gericht ein Sachverhalt »vorgespielt«, um eine Rechtsfrage klären zu lassen, ist der Rechtsschutz zu versagen.140 Ein schutzwürdiges Interesse an der begehrten Entscheidung besteht nicht. Vielmehr liegt es im öffentlichen Interesse, einen solchen Rechtsmissbrauch zu verhindern. Dieser Konstellation ist – in abgemilderter Form – vergleichbar, dass die Parteien dem Gericht in Einzelheiten einen unwahren Tatsachenvortrag unterbreiten. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ist anzunehmen, weil die Gerichte nicht für die Entscheidung über hypothetische Sachverhalte, sei es nur in Teilen, beansprucht werden dürfen. e)  Wirkung der gerichtlichen Entscheidung Tatsachen, die der gerichtlichen Entscheidung als unstreitig oder erwiesen zugrunde gelegt werden, stellen keinen rechtskraftfähigen Inhalt der Entscheidung dar.141 Mithin kann als Argument gegen einen unwahren Tatsachenvortrag als Entscheidungsgrundlage nicht die Rechtskraftwirkung angeführt werden. Freilich kann ein Urteil Tatbestandsmerkmal einer materiellrechtlichen Rechtsfolge sein (sog. Tatbestandswirkung),142 wie etwa im Fall des §  775 Abs.  1 Nr.  5 BGB. Über den Streitgegenstand hinaus hat das Urteil damit weitere Wirkungen. Allerdings bezieht sich diese Wirkung nur auf das Verhältnis zwischen den Parteien. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Rechtskrafterstreckung, die auf   Leipold, in: Stein/Jonas, §  306 Rn.  10 und §  307 Rn.  32.   BGHZ 80, 389, 391 f. = NJW 1995, 318 f.; BGHZ 107, 142, 147 = NJW 1989, 1934, 1935. 138   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  132 Rn.  66. 139   So aber Baur, in: FS Bötticher, S.  5 f. 140   Roth, in: Stein/Jonas, vor §  253 Rn.  154. 141   BGHZ 123, 137, 140 = NJW 1993, 2684, 2685; Vollkommer, in: Zöller, vor §  322 Rn.  32. Davon zu unterscheiden ist die Tatsachenpräklusion: Vollkommer, in: Zöller, vor §  322 Rn.  70. 142   Ausführlich zur Tatbestandswirkung Gaul, in: FS Zeuner, S.  317 ff. 136 137

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materiellrechtlicher Abhängigkeit beruht.143 Ein Gesellschafter einer OHG (oder GbR) muss sich das gegen die OHG (oder GbR) ergangene Urteil entgegenhalten lassen (§§  128, 129 Abs.  1 HGB [analog]).144 Insoweit kann ein unwahrer Tatsachenvortrag durchaus zum Nachteil eines Dritten führen.145 Dabei ist es nicht als Ausweg zu sehen, dass er als Gesellschafter die Prozessführung der Gesellschaft theoretisch beeinflussen kann, denn von der Vertretung der Gesellschaft kann er ausgeschlossen sein (§  125 Abs.  1 HGB). Schließlich kann sich ein unwahrer Tatsachenvortrag zulasten einer Haftpflichtversicherung auswirken.146 Der zur Schädigung eines Dritten (Kollusion) vorgetragene Sachverhalt soll nach allgemeiner Ansicht unberücksichtigt bleiben.147 Es kann aber nicht Aufgabe des Gerichts sein, in jedem Einzelfall zu überprüfen, ob sich das Urteil und damit mittelbar der unwahre Tatsachenvortrag zulasten eines Dritten auswirkt. Vielmehr sollte generell der erkannt unwahre Tatsachenvortrag unberücksichtigt bleiben – zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nach einem entsprechenden richterlichen Hinweis. Die möglichen Wirkungen der gerichtlichen Entscheidung erfordern einen der Wahrheit entsprechenden Tatsachenvortrag. 3.  Bindung der Parteien und des Gerichts an wahrheitswidrigen Vortrag Zu überlegen bleibt, wie sich die Wahrhaftigkeitspflicht und die Erkenntnis, dass das Gericht an einen unwahren Tatsachenvortrag nicht gebunden ist, zu §§  138 Abs.  3, 290 ZPO verhält. Der Widerruf hat auf die Wirksamkeit des gerichtlichen Verständnisses nur Einfluss, wenn das Geständnis der Wahrheit nicht entspricht und durch einen Irrtum veranlasst ist (§  290 ZPO). Aus einem Umkehrschluss zu dieser Vorschrift müsste sich ergeben, dass die Wirksamkeit des Geständnisses nicht beeinflusst wird, wenn das Geständnis bewusst wahrheitswidrig war, also nicht auf einem Irrtum beruht. Das bewusst unwahre Geständnis kann daher nicht widerrufen werden.148 Diese Einschränkung soll die Parteien anhalten, ihre Wahrheitspflicht zu erfüllen.149 Gleichwohl folgt daraus,   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  156 Rn.  23 ff.   BGHZ 64, 155, 156 = NJW 1975, 1280, 1281. Der Einwendungsausschluss nach §  129 Abs.  1 BGB gilt allerdings nicht gegen den ausgeschiedenen Gesellschafter; BGHZ 44, 229, 233 f. = NJW 1966, 499, 500. Siehe auch Hopt, in: Baumbach/Hopt, §  128 Rn.  43, §  129 Rn.  7. 145   Weitere Beispiele für negative mittelbare Auswirkungen auf Dritte bei Cahn AcP 198 (1998), 35, 52 ff. 146   Brehm, S.  23 f. möchte diese Konstellation über das Verbot des Rechtsmissbrauchs erfassen, das Recht zur Disposition über den Tatsachenvortrag den Parteien deswegen aber nicht nehmen. 147   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einleitung Rn.   316; Saenger, in: Hk-ZPO, Einf. Rn.  66; OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 606; angesprochen auch in BGHZ 37, 154, 155 = NJW 1962, 1395, dort jedoch offen gelassen. 148   Greger, in: Zöller, §  288 Rn.  7. 149   BGHZ 37, 154, 155 = NJW 1962, 1395; NJW 2011, 2794, 2795 (Rn.  16). 143

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§  6  Grenzen der Hoheit der Parteien

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dass die Partei an der wahrheitswidrigen Behauptung festgehalten wird (von dem Fall der offenkundigen Unwahrheit abgesehen). Aus der Fiktionswirkung des §  138 Abs.  3 ZPO folgt nach dem Wortlaut eine Berücksichtigung eines unwahren Sachverhalts. Daraus würde sich ein Widerspruch zu der Wahrhaftigkeitspflicht und der Erkenntnis, dass das Gericht an einen unwahren Tatsachenvortrag nicht gebunden ist, ergeben. Das gilt freilich nur, wenn sich aus §§  138 Abs.  3, 288 ZPO tatsächlich eine zwangsläufige Bindung des Richters ergibt. Der Wortlaut ist insoweit offen formuliert und erfasst eine Auslegung, wonach der Richter die zugestandenen oder als zugestanden anzusehenden Tatsachen seiner Entscheidung lediglich zugrunde legen kann, aber nicht muss.150 Die herrschende Meinung lehnt eine Bindung nur ab, wenn das Geständnis oder die als zugestanden anzusehende Tatsache in Widerspruch zu offenkundigen Tatsachen steht.151 Nach Habscheid soll das Gericht, wenn es im Falle des Nichtbestreitens (§  138 Abs.  3 ZPO) von der Unwahrhaftigkeit überzeugt ist, das Nichtbestreiten ignorieren.152 Anders als im Rahmen der §§  288, 290 ZPO liege nämlich kein Geständnis vor, sondern es werde lediglich eine Geständnisfiktion angenommen. Die Fiktionswirkung des §  138 Abs.  3 ZPO sei schwächer als die Geständniswirkung der §§  288, 290 ZPO. Hingegen sieht er die Möglichkeit des Ignorierens eines Geständnisses nach §  288 ZPO wohl nicht. In dessen Anwendungsbereich ist dies allerdings möglich, weil der Wortlaut es gestattet, dass die zugestandene Tatsache der Entscheidung nicht zugrunde gelegt wird. Eine andere Lösung wäre es, die Geständnisfähigkeit nur für wahre Tatsachen anzunehmen.153 Das würde naheliegen, weil eben nur Tatsachen, die passiert sind, zugestanden werden können. Der herrschenden Meinung entspricht diese Interpretation jedoch nicht. Eine Änderung der Rechtsprechung aufgrund des offenen Wortlauts ist nicht zu erwarten. De lege lata hält §  290 ZPO die Parteien daher teilweise an wahrheitswidrigen Behauptungen fest, sodass das Gericht auf einer unwahren Tatsachengrundlage entscheiden muss. Weil dies dem Sinn des §  138 ZPO aber nicht entspricht und die ZPO insgesamt die Wahrhaftigkeit der Parteien voraussetzt,154 sollte die Vorschrift de lege ferenda geändert werden. Es kann nicht von einem Irrtum abhängen, ob ein Geständnis widerruflich ist.155 Das Gericht ist nicht verpflichtet, den Wahrheitsgehalt eines Geständnisses im Sinne des Untersu-

  Cahn AcP 198 (1998), 35, 38; E. Schmidt DuR 12 (1984), 24, 34; ders. DRiZ 1988, 59, 60.  BGH NJW 1979, 2089; Leipold, in: Stein/Jonas, §  288 Rn.  33; Prütting, in: MünchKommZPO, §  288 Rn.  36. 152   Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 63. 153   Olzen ZZP 98 (1985), 403, 421. 154   Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  1 und 18. Siehe auch BGHZ 37, 154, 155 = NJW 1962, 1395, ohne jedoch auf die grundsätzliche Problematik näher einzugehen; daher kritisch zu den Erwägungen des BGH Bernhardt JZ 1963, 245. 155   Bernhardt JZ 1963, 245, 247. 150 151

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

chungsgrundsatzes zu »erforschen«. Vielmehr ist es bei Zweifeln berechtigt, über die richterliche Fragepflicht der Wahrheitsfindung zu dienen. 4. Ergebnis Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeit des Zugeständnisses von Tatsachen als Ausprägung des Verhandlungsgrundsatzes gerade zum materiell richtigen Ergebnis führen soll. Weil sich die Parteien in dem Prozess mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen, ist davon auszugehen, dass durch den Tatsachenvortrag in der Verantwortung der Parteien der wahre Sachverhalt ermittelt werden kann. Der Verhandlungsgrundsatz wird als das Mittel angesehen – und unterscheidet sich in der Zielrichtung hier nicht von dem Untersuchungsgrundsatz –, um als Zwischenschritt den wahren Sachverhalt und darauf basierend die wahre Rechtslage festzustellen.156 Damit verbunden ist die Möglichkeit, dass unwahre Tatsachenbehauptungen durch die andere Partei nicht bestritten werden und somit als zugestanden anzusehen sind (§  138 Abs.  3 ZPO) bzw. unwahre Tatsachenbehauptungen durch die andere Partei ausdrücklich zugestanden werden (§  288 Abs.  1 ZPO). Diese Möglichkeiten sind nicht als Ausfluss der Dispositionsfreiheit der Parteien anzusehen, sondern als negative Begleiterscheinung des Verhandlungsgrundsatzes.157 Die Gefahren werden durch andere Instrumente eingedämmt, wobei dies nicht vollständig, aber doch teilweise gelingen kann. Solche Instrumente sind die Wahrheitspflicht der Parteien (§  138 Abs.  1 ZPO) und die richterliche Erörterungs- und Hinweispflicht (§  139 Abs.  1 ZPO).158 Tragen die Parteien unwahr vor, hat der Richter den wahren Sachverhalt durch die richterliche Fragepflicht und die Beweiserhebung von Amts wegen aufzuklären.159 Der Verhandlungsgrundsatz kann nicht als Legitimation für die Entscheidung des Gerichts auf unwahrer Tatsachengrundlage angeführt werden.160 Es konnte gezeigt werden, dass der Verhandlungsgrundsatz innerprozessualen Grenzen unterliegt und nicht als absoluter Grundsatz verstanden werden kann. Der Verhandlungsgrundsatz berechtigt weder zu einem einseitig unwahren Tatsachenvortrag noch zu übereinstimmendem unwahren Tatsachenvortrag. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht führt dazu, dass sich die Parteien zu dem Vorbringen der anderen Partei jeweils äußern müssen. Verbunden ist damit eine Mitwirkung, die jedoch nur verlangt werden kann, wenn ein substantiier  Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 223.   Häsemeyer ZZP 85 (1972), 207, 223: die unkontrollierbare Möglichkeit einer zweckwidrigen Ausnutzung dürfe nicht in ein Positivum verfälscht werden. 158  Zu den Sanktionen bei Verletzung der Wahrheitspflicht Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  7 f.; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  16; Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 65. 159   Cahn AcP 198 (1998), 35, 70. 160   Olzen ZZP 98 (1985), 403, 418; Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 202 f.; ähnlich Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 64. 156 157

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ter Vortrag der darlegungs- und beweisbelasteten Partei gegeben ist. Nach dem System der Risikozuweisung ist die nicht risikobelastete Partei nicht zur allgemeinen Aufklärung verpflichtet. Die Problematik, dass eine Partei nicht zu substantiiertem Vortrag in der Lage ist, kann über die Erklärungs- und Wahrheitspflicht nicht gelöst werden. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht ist aber gleichwohl ein nicht zu unterschätzendes, weil grundlegendes Mittel zur Sachverhaltsaufklärung. Hat nämlich eine Partei substantiierte Angaben zu einer Tatsachenbehauptung gemacht, muss sich die andere Partei dazu wiederum substantiiert äußern und trägt damit zur Aufklärung bei.

II.  Unzulässige Erklärung mit Nichtwissen Eine Erklärung mit Nichtwissen ist nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind (§  138 Abs.  4 ZPO).161 Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass eine Partei zu Tatsachen im eigenen Wahrnehmungsbereich konkret Stellung nehmen und damit substantiiert bestreiten kann.162 Fraglich ist jedoch, welche Bedeutung der Regelung des §  138 Abs.  4 ZPO im Einzelnen zukommt, denn aus der Erklärungs- und Wahrheitspflicht (§  138 Abs.  1 und 2 ZPO) ergibt sich bereits, dass sich eine Partei nicht mit Nichtwissen erklären darf, wenn sie positive oder negative Kenntnis von der behaupteten Tatsache besitzt. Dass der Gesetzgeber insoweit noch einmal negativ formuliert, was in der gleichen Norm bereits positiv angeordnet ist, ist nicht anzunehmen. Vor diesem Hintergrund wird §  138 Abs.  4 ZPO nicht lediglich eine Klarstellungsfunktion, sondern einen darüber hinausgehenden Anwendungsbereich haben. Dementsprechend muss §  138 Abs.  4 ZPO Fälle betreffen, in denen zwar Unkenntnis der Partei besteht, sie sich aber trotzdem nicht auf das Nichtwissen berufen darf. Freilich wird die Partei im Falle der Unkenntnis keine sofortige Auskunft geben können und die Zivilprozessordnung nicht von einer Partei Auskunft über Tatsachen verlangen, von denen sie keine Kenntnis hat. Daher ordnet §  138 Abs.  4 ZPO zunächst (lediglich) an, dass eine Erklärung mit Nichtwissen nicht (ohne Weiteres) zulässig ist. Insoweit handelt es sich um eine Konkretisierung des §  138 Abs.  2 ZPO.163 Wenn sich die Partei nicht auf das Nichtwissen zurückziehen darf, stellt sich die Frage, welche Pflichten die nicht risikobelastete Partei stattdessen treffen bzw. wo die Grenzen der Darlegungsanforderungen liegen.

  Zur Entstehungsgeschichte: Hackenberg, S.  17 ff.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  47. 163   Lange NJW 1990, 3233, 3234. 161

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1. Erkundigungspflicht Eine Partei kann sich nicht auf Unkenntnis berufen, wenn sie an die Tatsachen (lediglich) keine Erinnerung (mehr) hat. Die Partei muss sich über die Umstände erkundigen, die in ihrem Wahrnehmungsbereich stattgefunden haben. Nur über diese Sichtweise erhält §  138 Abs.  4 ZPO den über §  138 Abs.  1 und 2 ZPO hinausgehenden selbstständigen Anwendungsbereich. Die Partei muss die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um sich Kenntnis über die Tatsachen zu verschaffen.164 Dazu muss sie eigene Unterlagen sichten, sich bei Dritten erkundigen oder ihre Erinnerung an Ort und Stelle auffrischen.165 Wenn schon den Zeugen die Pflicht zur Sichtung von Unterlagen und Aufzeichnungen trifft (§  378 ZPO), sind diese Anforderungen erst recht an eine Partei zu stellen.166 Grenze ist die Zumutbarkeit der Auskunftseinholung. Die Partei muss sich nicht auf die »Suche« nach der Wahrheit begeben. Holt sie Auskünfte verschiedener Personen ein und erhält unterschiedliche Informationen, besteht nicht die Verpflichtung, die jeweiligen Personen mit den gegensätzlichen Aussagen zu konfrontieren.167 Vielmehr kann sie dem Gericht die Auskünfte schildern und darf sich demzufolge mit Nichtwissen erklären.168 Das ist der Fall, wenn sie nicht in zumutbarer Weise Informationen einholen und nach der Lebenserfahrung glaubhaft machen kann, sich selbst nicht mehr erinnern zu können.169 In diesem Fall muss eine Erklärung mit Nichtwissen zulässig sein, weil sonst ein Konflikt mit der Wahrheitspflicht des §  138 Abs.  1 ZPO eintreten würde.170 2.  Eigener Organisationsbereich Eigenen Handlungen und Wahrnehmungen sind Vorgänge im eigenen Lebens-, Geschäfts- oder Verantwortungsbereich gleichgestellt.171 Eine Partei darf sich nicht der Erkundigungspflicht entziehen, indem sie behauptet, bestimmte Tatsachen nicht wahrgenommen zu haben. Wer sich um bestimmte Angelegenheiten nicht selbst kümmert, obwohl sie seinem Lebensbereich zuzuordnen sind, sondern sie einem Dritten, etwa dem Ehepartner, dem Rechtsanwalt, dem Steuerberater oder seiner Bank, überlässt, muss sich dort erkundigen.172 Eine Partei kann nicht darauf verweisen, dass Tatsachen deswegen nicht in ihren Wahrneh  Morhard, S.  93 ff.   Lange NJW 1990, 3233, 3234. 166   Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  17. 167   BGHZ 109, 205, 209 f. = NJW 1990, 453, 454. 168   Siehe dazu Hackenberg, S.  88 ff. 169   BGH NJW 1995, 130, 131. 170   Olzen ZZP 98 (1985), 403, 423. 171   BGHZ 109, 205, 209 = NJW 1990, 453, 454. 172   Lange NJW 1990, 3233, 3234 f. 164 165

§  6  Grenzen der Hoheit der Parteien

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mungsbereich fielen, weil sie sich um ihn betreffende Sachen nicht kümmere oder etwa die finanziellen Angelegenheiten dem Ehepartner überlasse.173 Macht sich eine Partei die Vorteile der Arbeitsteilung zunutze, kann sie sich nicht dadurch ihren zivilprozessualen Erklärungspflichten entziehen.174 Sie muss die ihr zugänglichen Informationen in ihrem Unternehmen und von denjenigen Personen einholen, die unter ihrer Anleitung, Aufsicht oder Verantwortung tätig geworden sind.175 Ohne Belang ist insoweit, ob gesetzliche Aufbewahrungspflichten (etwa §  257 HGB) abgelaufen sind. Es kommt darauf an, ob die Informationen tatsächlich nicht mehr verfügbar sind. Allein der Fristablauf berechtigt eine Partei nicht, Wissen aus noch vorhandenem Aktenmaterial dem Gericht und dem Gegner vorzuenthalten.176 Dabei handelt es sich um eine konsequente Fortführung der Erkundigungspflicht der Partei, wobei jedoch die Zumutbarkeitsgrenze höher anzusetzen ist. Beauftragt jemand eine andere Person mit der Erledigung von Aufgaben, wird regelmäßig ein Auskunftsanspruch bestehen. Auch ohne einen konkreten Auskunftsanspruch ist der Partei die Erkundigung im eigenen Organisationsbereich in höherem Maße zuzumuten. Die Erkundigungspflicht besteht entgegen der Rechtsprechung des BGH177 zudem, wenn das handelnde Organ der juristischen Person gewechselt hat.178 Das Bestehen der Erkundigungspflicht würde ansonsten von der Zufälligkeit der Kontinuität der Organe der juristischen Person abhängen. Ein generelles Bestreiten mit Nichtwissen ist dem Neugläubiger verwehrt, wenn es dem Altgläubiger verwehrt gewesen wäre (arg. ex §  404 BGB). Der Neugläubiger muss bei dem Altgläubiger Informationen einholen (arg. ex §  402 BGB). Dies gilt in dem Falle der rechtsgeschäftlichen Abtretung179, dem gesetzlichen Forderungsübergang180 sowie für den Kfz-Haftpflichtversicherer bezüglich des Unfallgeschehens181. Es verbieten sich Pauschalierungen, weil entscheidend ist, ob der Neugläubiger im Einzelfall von den ihm zumutbaren Erkundigungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat.

  Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  16.   Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  16. 175   BGH NJW 1999, 53, 54; NJW-RR 2002, 612, 613. Jedoch keine Zurechnung der Kenntnis eines Geschäftspartners: BGH NJW 1986, 3199, 3201. 176   BGH NJW 1995, 130, 131. 177   BGH ZIP 1987, 1102, 1104. 178   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  65 Rn.  62; Lange NJW 1990, 3233, 3234. 179   OLG Köln VersR 1992, 78. 180   OLG Köln NJW-RR 1995, 1407, 1408; BGH NJW 1992, 1624, 1626 (im Anwendungsbereich des BSHG). 181   OLG Frankfurt NJW 1974, 1473; Lange NJW 1990, 3233, 3237. 173 174

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Teil 2:  Das Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht

3. Vertretung Fraglich ist, ob darüber hinaus Wahrnehmungen des rechtsgeschäftlichen Vertreters der Partei prozessual zuzurechnen sind. Teilweise wird nur eine Zurechnung bei gesetzlicher Vertretung angenommen, hingegen eine Zurechnung entsprechend §  166 BGB abgelehnt.182 Eine Zurechnung entsprechend §  166 BGB würde eine objektive Wissenszurechnung bedeuten (vergleiche den Wortlaut des §  166 BGB, wonach auf die Kenntnis des Vertreters abgestellt wird). Eine solche Zurechnung würde ganz allgemein zu weit gehen, denn die Partei selbst wäre in Unkenntnis. Darüber hinaus geht es in §  138 Abs.  4 ZPO nicht um die Zurechnung von Wissen aufgrund rechtsgeschäftlicher oder sonstiger Vertretung,183 sondern im Vordergrund steht die eigene Kenntnis oder Kenntnisverschaffung. Allerdings darf die rechtsgeschäftliche Vertretung nicht dazu führen, dass sich eine Partei der Mitwirkung im Prozess, entgegen dem Sinn und Zweck des §  138 ZPO, entziehen darf. Daher ist zu verlangen, dass die Partei gegenüber ihrem rechtsgeschäftlichen Vertreter im Rahmen der Zumutbarkeit Erkundigungen einholt. Gleichlaufend zur Erkundigungspflicht besteht in der Folge eine Erklärungspflicht. Hingegen kommt ein grundsätzliches Bestreiten nicht in Betracht.184 4.  Folge der unzulässigen Erklärung mit Nichtwissen Die unzulässige Erklärung mit Nichtwissen steht im Grundsatz dem Nichtbestreiten nach §  138 Abs.  3 ZPO gleich.185 Mithin hat das Gericht die materielle Wahrheit nicht weiter zu erforschen. Eine Beweisbedürftigkeit hinsichtlich der behaupteten Tatsache liegt nicht vor.186 Eine unzulässige Erklärung mit der Folge der Geständnisfiktion des §  138 Abs.  3 ZPO ist nicht gegeben, wenn eine Partei die Kenntnis vorwerfbar vereitelt hat, indem sie etwa Briefe ungelesen in den Briefkorb geworfen hat.187 Das Verhalten ist stattdessen wie eine Beweisvereitelung zu werten.188

182   Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  15; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  29; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  65 Rn.  62. 183  Ebenso Adloff, S.  175. 184   Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  17; Lange NJW 1990, 3233, 3235; a. A. Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  15; kritisch Morhard, S.  83 ff. 185   Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  49; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  28. 186   Lange NJW 1990, 3233, 3239. 187   Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  14; Lange NJW 1990, 3233, 3239. 188   Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  14; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  65 Rn.  62; Lange NJW 1990, 3233, 3239.

§  6  Grenzen der Hoheit der Parteien

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5. Fazit Eine Partei kann sich nicht sofort auf ihr Nichtwissen berufen, sondern muss gegebenenfalls Erkundigungen einholen. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht sowie die Unzulässigkeit des Bestreitens mit Nichtwissen bezüglich der Tatsachen im eigenen Wahrnehmungsbereich führen dazu, dass die darlegungs- und beweisbelastete Partei Informationen erhält. Letztendlich kann dies sogar zu einer weitgehenden Aufklärung führen. Allerdings gilt es nur für solche Tatsachen, zu denen die darlegungsbelastete Partei zunächst substantiiert vorgetragen hat. Einer Partei kann damit aber nicht in den Fällen geholfen werden, in denen bereits die Fähigkeit zum substantiierten Vortrag – mangels notwendiger Informationen – fehlt. Das wäre nur der Fall, wenn man eine Mitwirkungspflicht unabhängig von einem substantiierten Vortrag der anderen Partei anerkennen würde.

III.  Folgerungen für die Aufklärung und Mitwirkung Die Parteien sind zur wahrhaftigen Erklärung verpflichtet. Ihre Pflicht zur Erklärung ist uneingeschränkt bezüglich solcher Tatsachen, die in ihren Wahrnehmungsbereich fallen. Diese Mitwirkungspflichten können zur Aufklärung führen. Indes wird die Mitwirkung erst durch einen substantiierten Vortrag der Gegenpartei ausgelöst. Kann die beweisbelastete Partei nicht substantiiert vortragen, versagt der Mechanismus, weil eine Erklärungspflicht nicht besteht. Eine Partei darf ihre Behauptungen auf Vermutungen stützen, wenn diese nicht »ins Blaue hinein« erfolgen. Solche Vermutungen werden aber mangels einer konkreten Kenntnis von Tatsachen, die sich in der Sphäre der nicht beweisbelasteten Partei zugetragen haben, nicht möglich sein. Schließlich bleibt das Problem des Beweises, wenn die Partei nicht über die Beweismittel verfügt und die Gegenpartei die in ihren Händen befindlichen Beweismittel nicht vorlegen möchte. Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Der Verhandlungsgrundsatz wird eingeschränkt durch die Erklärungs- und Wahrheitspflicht sowie die Unzulässigkeit des Bestreitens mit Nichtwissen. Insoweit kann man von einer inneren Einschränkung sprechen. Demgegenüber ist die Einschränkung durch die richterliche Prozessleitung als äußere Einschränkung zu bezeichnen. Eingerahmt von diesen Grenzen trägt der Verhandlungsgrundsatz zur Tatsachenermittlung entscheidend bei. Gleichwohl verbleiben Lücken, die über andere Mechanismen zu schließen sind.

Teil  3

Information und Offenlegung §  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten Diese Lücken können über Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten geschlossen werden. Informationspflichten können entweder materiellrechtlich oder prozessrechtlich begründet werden. Das deutsche Recht folgt traditionell – so die Linie des BGH – dem ersten Ansatz. Ob Ansprüche auf Erteilung von Auskünften, Rechnungslegung, Herausgabe von Unterlagen usw. bestünden, sei eine Frage des materiellen Rechts.1 Nach dem hergebrachten Verständnis soll keine Prozesspartei gehalten sein, bei der Ermittlung des Sachverhalts ihrem Gegner das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt.2 Eine prozessuale Pflicht zur Aufklärung war jedenfalls bislang gesetzlich nicht vorgesehen und wurde von der Rechtsprechung nicht im Wege einer Rechtsfortbildung entwickelt. Das Verständnis könnte sich gewandelt haben, weil der Gesetzgeber im Hinblick auf die Aufklärung Modifikationen vorgenommen hat. Teilweise wird darin ein erster Schritt in Richtung einer Annäherung an das amerikanische discovery-Verfahren gesehen.3 In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die bereits im geltenden deutschen Zivilprozessrecht originäre Aufklärungspflichten erkennen. Es bestehen also nicht lediglich Bestrebungen nach Mitwirkungspflichten de lege ferenda, sondern mittlerweile stellt sich die Frage der Mitwirkungspflichten de lege lata. Inwieweit Aufklärungspflichten der nicht beweisbelasteten Partei bestehen, hängt insbesondere von der Auslegung des §  142 ZPO ab. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass die Auslegung des §  142 ZPO wiederum von der Frage beeinflusst wird, ob man Aufklärungspflichten im Grundsatz zulassen möchte. Dies hängt von dem Verständnis des Verhandlungsgrundsatzes ab. Eine Annäherung an §  142 ZPO erfordert, dass man die Stellungnahmen zu seiner Auslegung vor diesem Hintergrund einordnet. Weil der BGH die Grundlage von Informationsansprüchen traditionell im materiellen Recht sieht, sind zunächst die materiellrechtlichen Ansprüche zu   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205.   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205; grundlegend BGH NJW 1958, 1491, 1492; weite Auslegung befürwortend bereits RGZ 117, 332, 333. 3   Oberheim JA 2002, 408, 412. 1 2

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Teil 3:  Information und Offenlegung

betrachten.4 Erst auf dieser Basis kann beurteilt werden, ob es prozessualer Mitwirkungspflichten bedarf oder bestehende Informationslücken in anderer Weise zu schließen sind. Ein Primat des materiellen Rechts im Hinblick auf Informationspflichten ist nicht zu beanstanden, wenn dadurch den wechselseitigen Bedürfnissen ausreichend Rechnung getragen wird. Letztlich wird analysiert, ob die lex lata einer Auslegung zugänglich ist, die die berechtigten Interessen beider Parteien befriedigen kann. Erst wenn die lex lata das nicht gewährleisten kann, sind Änderungen zu diskutieren.

I.  Materiellrechtliche Ansprüche zur Überwindung von Informationsdefiziten Materiellrechtliche Informationsansprüche können sich zum einen als Hauptoder Nebenpflicht eines Vertrags ergeben oder ihre Grundlage in speziellen gesetzlichen Regelungen finden, die Ansprüche auf Information, Rechnungslegung sowie die Vorlage oder Herausgabe von Belegen bzw. sonstigen Unterlagen vorsehen.5 Zum anderen kann sich ein Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben ergeben. Die Ansprüche können die Durchsetzung des Hauptanspruchs vorbereiten. Der Kläger soll einerseits das Prozessrisiko abschätzen können, andererseits bedarf er bestimmter Informationen, um die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Klageerhebung (§  253 Abs.  2 ZPO) und einen substantiierten Vortrag erfüllen zu können. 6 1.  Besondere gesetzlich geregelte Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten Spezialgesetzlich geregelte Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten finden sich zum Beispiel im BGB in §§  259 Abs.  1, 260 Abs.  1, 371 S.  2, 402, 666, 667, 681 S.  2 (i. V. mit §§  666, 667), 687 (i. V. mit §§  681, 666, 667), 713 (i. V. mit §§  666, 667), 716 Abs.  1, 809, 810, 985 i. V. mit 952, 1144, 1605, 1361 Abs.  4 S.  4 (i. V. mit §  1605), 1580 S.  2 (i. V. mit §  1605), 1840, 2130, 2218 (i. V. mit §§  666, 667), 2314 Abs.  1 oder im HGB in §§  87c, 101, 102, 118 Abs.  1, 166, 233 Abs.  1. Die Auflistung zeigt, dass es nicht nur an einem einheitlichen Auskunftsanspruch fehlt, sondern dass die einzelnen Ansprüche auf Auskunft, Information, Vorlage usw. sehr verstreut sind. Der Standort der Regelungen scheint nicht aufgrund eines bestimmten Systems gewählt worden zu sein, sondern eher auf historischen Zufällen zu beruhen.7 Aus diesem Grunde ist eine Systematisierung der Anspruchsgrundlagen notwendig. Die Einteilung wird hier anhand der Fallkons4   Diese Ansprüche können freilich nicht nur vorprozessual, sondern auch während des Prozesses geltend gemacht werden; Beckhaus, S.  7 ff. 5   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  4. 6   J. Lang, S.  49. 7   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  287.

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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tellationen vorgenommen, die bestimmten Ansprüchen in gemeinsamer Weise zugrunde liegen. 8 a)  Die Wahrnehmung der Interessen einer anderen Partei Verpflichtet sich jemand zur Wahrung oder Achtung fremder Interessen, muss er dem Auftraggeber in weitem Umfang Informationen über seine Tätigkeit geben. Hintergrund dafür ist, dass der Auftragnehmer über einen Informationsvorsprung verfügt und der Auftraggeber ohne Informationen das Handeln des Auftragnehmers nicht bewerten (und in der Folge keine Ansprüche stellen) kann.9 Quasi die »Mustervorschrift«10 einer solchen Informationspflicht ist §  666 BGB, der den Beauftragten zur erforderlichen Nachricht, Auskunft und Rechenschaft verpflichtet. Darüber hinaus ist der Beauftragte nach §  667 BGB zur Herausgabe desjenigen verpflichtet, das er zur Ausführung des Auftrags erhält oder aus der Geschäftsbesorgung erlangt. Vergleichbare Anordnungen solcher Verpflichtungen finden sich in §  1698 BGB, der einen Informationsanspruch des Kindes gegen die Eltern bei Herausgabe des Kindesvermögens vorsieht, in §  1890 BGB, der die Pflicht des Vormunds zur Rechenschaft gegenüber dem Mündel nach Beendigung der Vormundschaft beinhaltet, in §  2130 Abs.  2 BGB, nach dem der Nacherbe einen Anspruch auf Rechenschaft gegen den Vorerben hat, in §§  2121, 2122 S.  2, 2127 BGB, wonach der Nacherbe bereits während der Vorerbschaft bestimmte Auskunftsansprüche geltend machen kann, in §  2218 BGB, der für die Informationsrechte des Erben gegenüber dem Testamentsvollstrecker auf die Vorschriften des Auftrags verweist, in §  1435 S.  2 BGB, der einen Auskunftsanspruch eines Ehegatten gegen den Verwalter des Gesamtguts vorsieht, sowie in §  86 Abs.  2 HGB, der den Handelsvertreter zur Auskunft gegenüber dem Unternehmer verpflichtet. Schließlich bestehen Informationspflichten für denjenigen, der im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag für einen anderen tätig wird und aus diesem Grund dessen Interessen wahrzunehmen hat (§§  677, 681 S.  2 BGB). Ähnlich einem Anspruch auf Information oder Auskunft sind die Kontrollrechte der Gesellschafter einer Personengesellschaft ausgestaltet. Die Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§  705 BGB), die Gesellschafter 8   So auch bereits Stürner, Aufklärungspflicht, S.  287 ff.; ebenfalls Kapoor, S.  72 ff.; J. Lang, S.  50 f.; Lorenz JuS 1995, 569. 9   Es handelt sich um eine Principal-Agent-Beziehung. Der Auftraggeber kann quantitativ mehr leisten, da er sich der Arbeitskraft anderer bedient. Die Arbeitsteilung stellt im modernen Wirtschaftleben einen unverzichtbaren Bestandteil dar, um sich das Know-how des Auftragnehmers zu sichern. Gleichzeitig bedeutet sie allerdings auch Risiken, die vor allem aufgrund der Informationsasymmetrie zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer entstehen; siehe dazu Richter/Furubotn, S.  173 ff.; Jensen/Meckling 3 Journal of Financial Economics (1976), 305 ff., die die Stellung und das Verhältnis von Managern und Eigentümern einer Kapitalgesellschaft konkretisieren. 10   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  287.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

einer Offenen Handelsgesellschaft (§  105 HGB) und die Komplementäre einer Kommanditgesellschaft (§  161 HGB) haben umfassende Kontrollrechte (§  716 BGB, §  118 HGB). Der Kommanditist und der stille Gesellschafter können die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses verlangen und dessen Richtigkeit unter Einsicht der Bücher und Papiere prüfen (§§  166, 233 HGB). b)  Eingriff in einen anderen Rechtskreis Aufgrund des Eingriffs in einen anderen Rechtskreis können Restitutions- und Herausgabeansprüche entstehen, deren effektive Verfolgung ohne Kenntnis der Umstände kaum möglich ist. Daher gewährt das Gesetz dem Betroffenen bestimmte Informationsansprüche, um seine Wissenslücken zu beseitigen. Eine wesentliche Anspruchsnorm im Falle der Anmaßung einer Position/Tätigkeit ist §  687 Abs.  2 BGB, der in Verbindung mit §§  681 S.  2, 666 BGB dem Geschäftsherrn gegen den Geschäftsführer einen Anspruch auf Information gewährt. Ähnliche Informationspflichten finden sich für den Erbschaftsbesitzer gegenüber dem Erben (§  2027 Abs.  1 BGB), für denjenigen, der eine Sache aus der Erbschaft in Besitz genommen hat, ohne Erbschaftsbesitzer zu sein (§  2027 Abs.  2 BGB), und für den Besitzer eines unrichtigen Erbscheins gegenüber dem wirklichen Erben (§  2362 Abs.  2 BGB). Darüber hinaus bestehen Informationsansprüche vor allem im Bereich des Immaterialgüterrechts. Insoweit sind zu nennen der Anspruch des Patentinhabers gegen den Benutzer einer patentierten Erfindung auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der benutzten Erzeugnisse (§  140b Abs.  1 PatG), des Urhebers gegen denjenigen, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Urheberrecht oder ein anderes nach dem Urhebergesetz geschütztes Recht widerrechtlich verletzt, auf Vorlage einer Urkunde oder Besichtigung einer Sache, die sich in seiner Verfügungsgewalt befindet, wenn dies zur Begründung von dessen Ansprüchen erforderlich ist (§  101a UrhG), des Inhabers des Gebrauchsmusters gegen den widerrechtlichen Benutzer des Gebrauchsmusters auf unverzügliche Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der benutzten Erzeugnisse (§  24b GebrMG), des Inhabers einer Marke oder einer geschäftlichen Bezeichnung gegen den Verletzer auf unverzügliche Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg von widerrechtlich gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen (§   19 MarkenG). In Umsetzung der Enforcement-Richtlinie hat der Gesetzgeber materiellrechtliche Vorlageansprüche in die Spezialgesetze des Immaterialgüterrechts eingefügt (§   140c PatG, §   24c GebrMG, §  19a MarkenG, §  9 HalblSchG, §  101a UrhG, §  46a GeschmMG, §  37c SortSchG).11   Eingefügt durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7.7.2008, BGBl.  I 2008, S.  1191 ff.; siehe dazu im Einzelnen §  4 IV. 11

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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Informationsansprüche sind mittlerweile ebenfalls in §  84a AMG, §§  8 ff. UmweltHG und §  35 GenTG enthalten. Allerdings können Geheimhaltungsinteressen den Auskunftsansprüchen entgegenstehen (§  84a Abs.  1 S.  4 AMG; §  8 Abs.  2, §  9 S.  2, §  10 Abs.  2 UmweltHG; §  35 Abs.  3 TG). c)  Klärung des Anspruchsinhalts oder bestehender Einwendungen Informationsansprüche stehen zur Verfügung, wenn zwar ein Anspruch feststeht, nicht aber sein genauer Inhalt oder das Bestehen von Einwendungen. Besteht die Pflicht zur Herausgabe eines Inbegriffs von Gegenständen, hat der Verpflichtete dem Berechtigten ein Verzeichnis des Bestands vorzulegen (§  260 Abs.  1 Var. 1 BGB). Der ausgleichsberechtigte Ehegatte hat einen Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Endvermögens gegen den anderen Ehegatten (§  1379 BGB), um seinen Ausgleichsanspruch berechnen zu können. Eine entsprechende Regelung enthält §  1605 BGB für den Unterhaltsberechtigten, dem ein Auskunftsanspruch gegen den Unterhaltspflichtigen zusteht. Der Pflichtteilsberechtigte besitzt gegen den Erben einen Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses (§  2314 Abs.  1 BGB). Der Handelsvertreter hat gegen den Unternehmer einen Anspruch auf Abrechnung, Erteilung eines Buchauszugs, Auskunft sowie unter gewissen Umständen Einsicht in die Bücher und Urkunden, um seinen Provisionsanspruch zu beziffern (§  87c HGB). Der Anspruchsteller kann nach §  809 Var. 1 BGB die Vorlage einer Sache zur Besichtigung oder die Gestattung der Besichtigung verlangen, wenn er gegen den Besitzer der Sache einen Anspruch in Ansehung der Sache hat und die Besichtigung der Sache aus diesem Grund für ihn von Interesse ist. Der Anspruch in Ansehung der Sache kann schuldrechtlicher oder dinglicher Natur sein und auf Schadensersatz oder Unterlassung gerichtet sein. Schließlich kann er aus der Ausübung eines Gestaltungsrechts folgen.12 Der Anspruch muss in einer rechtlichen Beziehung zur Sache stehen, wobei Anspruchsgegenstand nicht die Sache selbst sein, sondern lediglich in irgendeiner Weise von Bestand und Beschaffenheit der Sache abhängen muss.13 Es muss ein Interesse an der Besichtigung bestehen. Wie sich aus einem Umkehrschluss zu §  810 BGB ergibt, muss es sich nicht um ein rechtliches Interesse handeln. Ausreichend ist ein sonstiges besonderes und ernstliches Interesse.14 Aus der Verknüpfung des Interesses mit dem Hauptanspruch (»aus diesem Grunde«) folgt, dass es sich in der Regel um ein rechtliches Interesse handeln wird.15 Das Interesse fehlt, wenn der Anspruch nicht mehr durchsetzbar ist.16   Sprau, in: Palandt, §  809 Rn.  4.   BGHZ 93, 191, 198 = NJW-RR 1986, 480, 481 – Druckbalken; BGHZ 150, 377, 384 = NJW-RR 2002, 1617, 1619 – Faxkarte. 14   Marburger, in: Staudinger, §  809 Rn.  8 ; Sprau, in: Palandt, §  809 Rn.  4. 15   Habersack, in: MünchKommBGB, §  809 Rn.  7. 16   BGHZ 150, 377, 381 = NJW-RR 2002, 1617, 1618 – Faxkarte. 12 13

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Neben dem Anspruchsteller kann der Anspruchsverpflichtete Informationen benötigen, um seine Einwendungen geltend zu machen. Der zur Nutzung berechtigte Pfandgläubiger muss sich den Reinertrag der Nutzungen auf die geschuldete Leistung anrechnen lassen und aus diesem Grund gegenüber dem Eigentümer oder Schuldner Rechenschaft ablegen (§  1214 Abs.  1 BGB), damit dieser die Höhe der Tilgung berechnen kann. Der Erbe hat gegenüber seinen Miterben einen Anspruch auf Auskunft über die Zuwendungen, die er nach den §§  2050 bis 2053 BGB zur Ausgleichung zu bringen hat. Der Erbe erlangt damit die notwendigen Informationen, um eine Einwendung gegen den Auseinandersetzungsanspruch (§§  2042, 2047 Abs.  1 BGB) eines Miterben zu erheben. Der Handlungsgehilfe muss sich auf die von dem Prinzipal zu zahlende Entschädigung für ein Wettbewerbsverbot einen anderweitigen Erwerb anrechnen lassen (§  74c Abs.  1 HGB). Um dem Prinzipal die Berechnung der Anrechnungshöhe zu ermöglichen, muss der Handlungsgehilfe auf Erfordern über die Höhe seines Erwerbs Auskunft erteilen (§  74c Abs.  2 HGB). d)  Sicherung eines Rechts Bestimmte Auskunftsrechte dienen dazu, die unbeschränkte Nutzung eines Rechts gegenüber einem Dritten sicherzustellen. So kann etwa der Zessionar von dem Zedenten die zur Geltendmachung der Forderung nötige Auskunft und die Herausgabe der zum Beweis der Forderung dienenden Urkunden verlangen (§  402 BGB). Die Auskunft wird nicht in erster Linie benötigt, um einen Anspruch gegen den Auskunftspflichtigen durchzusetzen, sondern gegen den Schuldner. Ausnahmsweise kann sie Ansprüche gegen den Zedenten vorbereiten.17 Nach §  469 BGB kann der Vorkaufsberechtigte Mitteilung über den Inhalt des Vertrags zwischen dem Verpflichteten und dem Dritten verlangen. Die Information dient vor allem zur Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts (§  464 Abs.  1 BGB). Im Ausübungsfall bestimmt der Kaufvertrag die Rechte und Pflichten zwischen dem Berechtigten, der Mitteilung verlangt hatte, und dem Verpflichteten (§  464 Abs.  2 BGB). e)  Informationsrechte aus besonderem sozialen Kontakt Schließlich können Informationsrechte aus einem besonderen sozialen Kontakt entstehen, ohne dass zwischen den Beteiligten ein Rechtsverhältnis besteht. Besondere Bedeutung haben §  809 Var. 2 und §  810 BGB, die der Förderung, Erhaltung oder Verteidigung einer Rechtsposition dienen.18

  Stürner, Aufklärungspflicht, S.  291.   BGH NJW 1981, 1733.

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§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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aa)  §  809 Var. 2 BGB Nach §  809 Var. 2 BGB kann derjenige die Besichtigung einer Sache verlangen, der sich Gewissheit verschaffen möchte, ob ihm ein Anspruch in Ansehung der Sache gegen den Besitzer zusteht. Dabei muss es sich – wie bei §  809 Var. 1 BGB – nicht um einen Herausgabeanspruch handeln, sondern es kann sich um jeden Anspruch handeln, der von dem Bestand oder der Beschaffenheit der Sache abhängt.19 Relevant wird die Regelung vor allem im Zusammenhang mit behaupteten Schutzrechtsverletzungen.20 Die Besichtigung zur Verschaffung von Gewissheit über das Bestehen eines Anspruchs setzt die gewisse Wahrscheinlichkeit eines solchen Anspruchs voraus.21 Voraussetzung ist nicht das Bestehen eines Anspruchs, weil dessen Bestehen erst durch die Besichtigung geklärt werden soll. Der Anspruchsteller muss demgemäß substantiiert vortragen, aus welchen Tatsachen sich ein Hauptanspruch ergeben soll.22 Ausweislich des Wortlauts steht der Anspruch gerade demjenigen zu, der sich durch die Besichtigung erst Gewissheit über das Vorliegen eines Anspruchs verschaffen möchte. 23 Aus »Billigkeitsrücksichten geboten« ist die Besichtigung eben in Fällen einer ungewissen Rechtsverletzung.24 Für eine weite Auslegung des §  809 BGB spricht Art.  43 TRIPS-Übereinkommen. Danach kann das Gericht dem Gegner einer in Beweisnot befindlichen Partei die Beibringung von Beweismitteln auferlegen, die sich in seinem Besitz befinden. Die Vorschriften über die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (Art.  41 bis 61) sind zwar nicht unmittelbar anwendbar, aber der Gesetzgeber ging davon aus, dass Umsetzungsmaßnahmen nicht erforderlich seien, weil das deutsche Recht den Anforderungen bereits entspreche.25 Freilich ist die Bedeutung des §  809 Var. 2 BGB nunmehr gesunken, weil bei behaupteten Schutzrechtsverletzungen die in den Spezialgesetzen zum geistigen Eigentum verankerten Vorschriften vorrangig sind (§  140c PatG, §  24c GebrMG, §  19a MarkenG, §  9 HalblSchG, §  101a UrhG, §  46a GeschmMG, §  37c SortSchG). Es muss ein Interesse an der Besichtigung bestehen. Wie bereits zu §  809 Var. 1 BGB erläutert, muss es sich nicht um ein rechtliches Interesse handeln, sondern jedes besondere und ernstliche Interesse ist ausreichend.26 Gewissheit über das Bestehen eines Anspruchs muss nicht mehr hergestellt werden, wenn der Anspruch nicht mehr durchsetzbar ist.27   Habersack, in: MünchKommBGB, §  809 Rn.  5.   Habersack, in: MünchKommBGB, §  809 Rn.  11. 21   BGHZ 150, 377, 386 = NJW-RR 2002, 1617, 1619 – Faxkarte. 22   Kapoor, S.  75. 23  BGHZ 150, 377, 384 = NJW-RR 2002, 1617, 1619 – Faxkarte; RGZ 69, 401, 405 f. – Nietzsche-Briefe. 24   Motive II, S.  894 (zu dem Enwurf des §  774). 25  Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15.4.1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation, BT-Drucks. 12/7665 (neu), S.  347. 26   Marburger, in: Staudinger, §  809 Rn.  8 ; Sprau, in: Palandt, §  809 Rn.  5. 27   BGHZ 150, 377, 381 = NJW-RR 2002, 1617, 1618 – Faxkarte. 19

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Der Anspruch ist gerichtet auf die Besichtigung der Sache. Um diese durchzuführen, muss dem Anspruchsberechtigten die Sache zur Besichtigung vorgelegt oder ihm die Besichtigung gestattet werden. Der Anspruch aus §  809 BGB unterliegt bestimmten Grenzen, 28 die sich vor allem aus den schutzwürdigen Belangen des Berechtigten ergeben. Es liegt nahe, dass bei der Geltendmachung eines Anspruchs aus §  809 Var. 2 BGB die Schwierigkeit der Abgrenzung zu einem unzulässigen Ausforschungsbeweis auftritt. Allerdings handelt es sich dabei um ein zivilprozessuales Verbot, das materiellrechtlichen Ansprüchen auf Offenlegung nicht entgegengehalten werden kann.29 Gleichwohl soll die Vorschrift eine Ausspähung nicht ermöglichen. Der Gläubiger soll nicht über sein berechtigtes Interesse hinaus Zugang zu Kenntnissen erhalten, die ihm möglicherweise für andere Zwecke dienlich sein können. Die berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Verpflichteten sind zu berücksichtigen.30 Ein Geheimhaltungsinteresse kann vorliegen, weil die Anspruchserfüllung Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse offenbaren oder die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung für den Verpflichteten oder einen nahen Angehörigen bedeuten würde.31 §  809 BGB beruht auf der Abwägung der Interessen der Beteiligten. Die unterschiedlichen Interessen sowie sonstige zumutbare Möglichkeiten des Gläubigers zum Beweis der Rechtsverletzung sind zu berücksichtigen bei der Frage, ob ein Besichtigungsanspruch gewährt werden kann. Sind Geheimhaltungsinteressen des Schuldners betroffen, kann es angezeigt sein, ihnen über die Einschaltung eines zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten (Sachverständigen) Rechnung zu tragen. Ebenso kann die Einsicht auf Teile einer Urkunde oder Sache beschränkt werden.32 Geschützt ist darüber hinaus die Intimsphäre des Verpflichteten. Ein Eingriff in den Kernbereich der Intimsphäre des Gegners führt zur Einschränkung oder zum Ausschluss des Anspruchs.33 Zudem darf die Besichtigung nicht über das hinausgehen, was im Hinblick auf den Hauptanspruch erforderlich ist. Eine Grenze des Anspruchs bildet somit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.34

28   Habersack, in: MünchKommBGB, §  809 Rn.  1; Marburger, in: Staudinger, vor §  809 Rn.  5 f. 29   BGHZ 150, 377, 385 = NJW-RR 2002, 1617, 1619 – Faxkarte. 30   BGHZ 93, 191, 206 = NJW-RR 1986, 480, 483 – Druckbalken. 31   Marburger, in: Staudinger, vor §  809 Rn.  5 ; Stürner/Stadler JZ 1985, 1101, 1104. 32   OLG Düsseldorf DB 1982, 2030, 2031; Marburger, in: Staudinger, vor §  809 Rn.  5 ; Bork NJW 1997, 1665, 1669 f.; Stürner JZ 1985, 453, 458 ff.; ders./Stadler JZ 1985, 1101, 1104. 33   Habersack, in: MünchKommBGB, §  809 Rn.  7; zum Schutz der Intimsphäre siehe BVerfGE 35, 202, 219 ff. – Lebach; für den Privatrechtsverkehr BGHZ 24, 72, 76 = NJW 1957, 1146 f. 34   Marburger, in: Staudinger, vor §  809 Rn.  5.

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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bb)  §  810 BGB Nach §  810 BGB kann jemand von dem Besitzer die Gestattung der Einsicht in eine Urkunde verlangen, wenn er ein rechtliches Interesse an dieser Einsicht hat. Voraussetzung dafür ist darüber hinaus, dass die Urkunde in seinem Interesse errichtet oder in der Urkunde ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet ist oder wenn die Urkunde Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft enthält, die zwischen ihm und einem anderen oder einem von beiden und einem gemeinschaftlichen Vermittler gepflogen worden sind. Über §  810 BGB wird das Recht zur Einsicht in Urkunden gegenüber der Regelung des §  809 BGB erweitert. (1) Urkunde Im Gegensatz zu dem Anspruch aus §  809 BGB bezieht sich der Anspruch aus §  810 BGB nur auf Urkunden. Der Begriff der Urkunde ist in Übereinstimmung mit dem Verständnis in §§  422, 429 ZPO auszulegen.35 Urkunden sind durch eine Niederschrift verkörperte Gedankenerklärungen.36 Darunter fallen technische Aufzeichnungen (Bild- oder Tonaufnahmen) ebenso wenig wie Röntgen­ aufnahmen.37 Anspruchsgegenstand ist die Originalurkunde. Der Anspruchsgegner erfüllt den Anspruch nicht über die Vorlage einer (beglaubigten) Abschrift oder Fotokopie.38 Etwas anderes gilt, wenn das Original unleserlich oder verloren gegangen ist.39 (2)  Zweck oder Inhalt der Urkunde Die Einsichtnahme in die Urkunde setzt voraus, dass die Urkunde entweder im Interesse des Anspruchstellers errichtet ist, die Urkunde ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet oder die Urkunde Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft enthält. Die Urkunde ist im Interesse des Anspruchstellers errichtet, wenn sie ihm als Beweismittel zu dienen bestimmt ist oder zumindest seine rechtlichen Beziehungen fördern soll.40 Maßgebend ist der Zweck, der bei der Errichtung der Urkunde verfolgt wurde. Hingegen kommt es auf den Inhalt der Urkunde nicht an. Die Urkunde muss nicht ausschließlich im Interesse des Anspruchstellers   Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  3.   BGHZ 65, 300, 301 = NJW 1976, 294. 37   Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  8. 38   Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  3 ; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  5. 39   Siehe aber auch OLG Bremen NJW-RR 1991, 1181 zur Vorlagepflicht des Geschädigten gegenüber dem Versicherer: grundsätzlich Abschrift oder Fotokopie ausreichend; insoweit zustimmend Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  3. 40   RGZ 69, 401, 405 – Nietzsche-Briefe; BGH WM 1971, 565; 1987, 323, 324; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  5 ; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  13. 35

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Teil 3:  Information und Offenlegung

errichtet sein.41 Der Anspruchsteller muss in der Urkunde nicht (namentlich) erwähnt werden.42 Das Einsichtnahmerecht aufgrund der Beurkundung eines Rechtsverhältnisses zwischen dem Anspruchsteller und einem anderen knüpft hingegen an den Inhalt der Urkunde an. Voraussetzung dafür ist nicht, dass das Rechtsverhältnis selbst in der Urkunde geregelt ist. Ausreichend ist vielmehr, dass der beurkundete Vorgang für das Rechtsverhältnis zumindest von Bedeutung ist, weil er in unmittelbarer Beziehung dazu steht.43 Das Rechtsverhältnis muss nicht unbedingt zwischen dem Anspruchsteller und dem Besitzer der Urkunde bestehen. Erforderlich ist lediglich die unmittelbare Verbindung zwischen dem Urkunden­ inhalt und dem Rechtsverhältnis.44 Nach der dritten Variante des §  810 BGB ist ein Einsichtsrecht gegeben, wenn die Urkunde Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft enthält, die zwischen dem Anspruchsteller und einem anderen oder zwischen einem von beiden und einem gemeinschaftlichen Vermittler gepflogen worden sind. Dazu zählt vor allem die Korrespondenz, die vor oder nach einem Vertragsschluss geführt worden ist,45 hingegen nicht interne Aufzeichnungen eines der Beteiligten oder der interne Schriftverkehr zwischen einem Beteiligten und dessen Bevollmächtigten.46 (3)  Rechtliches Interesse Voraussetzung für die Einsichtnahme ist ein rechtliches Interesse. Es muss daher um die Förderung, Erhaltung oder Verteidigung einer Rechtsposition gehen.47 Dabei kann es sich um jede Rechtsposition handeln, sie muss nicht vermögensrechtlicher Art sein. Ausreichend sind familienrechtliche oder öffentlich-rechtliche Interessen. Ein rechtliches Interesse besteht etwa, wenn sich der Berechtigte wegen des Verlusts seiner Vertragsurkunde über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts Gewissheit verschaffen will. Dieses Recht kann auch existieren, wenn ihm sein Vertragsexemplar durch eigenes Verschulden abhanden gekommen ist.48 Ein rechtliches Interesse fehlt, wenn für den Informationsanspruch kein Bedürfnis mehr besteht, etwa weil der Hauptanspruch verjährt 41  BGH WM 1971, 565; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  5; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  13. 42   BGH LM §  810 Nr.  2 ; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  5 ; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  13. 43   Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  7; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  14. 44   RGZ 56, 109, 112; BGH BB 1966, 99; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  7; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  14. 45   OLG Celle BB 1973, 1192, 1193. 46   RGZ 152, 213, 217; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  9 ; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  15. 47   BGH NJW 1981, 1733; WM 1971, 565, 567; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  10; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  10. 48   BGH NJW-RR 1991, 1072, 1073.

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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ist.49 Darüber hinaus besteht ein Auskunftsanspruch nicht, wenn durch die Einsichtnahme erst Kenntnis von Tatsachen erlangt werden soll, um dadurch eine Rechtsverfolgung zu ermöglichen. Die Einsichtnahme dient nicht der Ausforschung des Gegners, indem sie die erstmalige Ermittlung eines Sachverhalts zur Prüfung und Durchsetzung möglicher Ansprüche ermöglicht.50 Davon abzugrenzen ist die Einsichtnahme, die notwendig ist, um sich etwa nach dem Verlust der Vertragsunterlagen wieder in den Kenntnisstand zu versetzen, in dem man sich vorher bereits befunden hatte.51 Das rechtliche Interesse an der Einsichtnahme ist abzuwägen gegen das Interesse des Besitzers an einer Geheimhaltung des Inhalts. Insoweit gelten die gleichen Erwägungen wie im Rahmen des §  809 BGB. (4) Anspruchsgegner Anspruchsgegner ist der Besitzer der Urkunde, der weder Eigentümer noch Verpflichteter des behaupteten Hauptanspruchs sein muss. Neben dem unmittelbaren Besitzer (§  854 BGB) kann die Herausgabe von dem mittelbaren Besitzer verlangt werden, wenn dieser gegen den unmittelbaren Besitzer einen Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch hat.52 (5) Würdigung §  810 ZPO stellt im hier untersuchten Zusammenhang eine zentrale materiellrechtliche Vorschrift dar. Unter Berufung auf diese Vorschrift kann der Beweisführer Einsicht in die Urkunden der anderen Partei erlangen. Im Zivilprozess begründet dieser materiellrechtliche Anspruch eine Vorlegungspflicht gemäß §  422 ZPO. In mittlerweile gefestigter Rechtsprechung wertet der BGH ärztliche Behandlungsunterlagen als Urkunden, die im Interesse des Patienten errichtet worden sind, weil sie ihm unter anderem als Beweismittel dienen sollten.53 Materiellrechtlich besteht somit ein Recht zur Einsicht nach §  810 Var. 1 BGB. Der Anspruch aus §  810 Var. 2 BGB entfaltet seine Wirkung vor allem, wenn es um das Recht zur Einsicht in Vertragsunterlagen geht.54 §  810 Var. 3 BGB ist relevant im Rahmen von Ansprüchen aus culpa in contrahendo (§§  280 Abs.  1, 241 Abs.  2 BGB, 311 Abs.  2 BGB).55 49   BGH NJW 1985, 384, 385 für den Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten aus §  2314 Abs.  1 S.  1 BGB; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  10. 50   RGZ 135, 188, 192; BGH NJW-RR 1992, 1072, 1073; Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  11; Marburger, in: Staudinger, §  810 Rn.  10. 51   BGH NJW-RR 1992, 1072, 1073. 52   Habersack, in: MünchKommBGB, §  810 Rn.  12. 53   BGHZ 72, 132, 137 f. = NJW 1978, 2337, 2338; BGHZ 85, 327, 330 ff. = NJW 1983, 328 f.; ausführlich zu den Dokumentationspflichten Katzenmeier, S.  470 ff. 54   BGH NJW-RR 1992, 1072, 1073; Kapoor, S.  76. 55   Kapoor, S.  76; siehe auch OLG Celle BB 1973, 1192, 1193.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

2.  Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben Die im Einzelnen normierten Informationsansprüche, die jeweils nur für ganz bestimmte Lebenssachverhalte gelten, werden von der Rechtsprechung trotz weiter Auslegung56 als nicht ausreichend erachtet. Daher erkennt die Rechtsprechung in ganz besonderen Ausnahmefällen einen Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben (§  242 BGB) an, wenn zwischen dem Berechtigten und Verpflichteten eine besondere rechtliche Beziehung besteht, der Berechtigte in entschuldbarer Weise über den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, er sich die zur Vorbereitung und Durchführung seines Anspruchs notwendigen Auskünfte nicht auf zumutbare Weise selbst zu beschaffen vermag und der Verpflichtete sie unschwer geben kann.57 Der Ausbau der materiellrechtlichen Pflichten beruht mithin vor allem auf der Zurückhaltung der Rechtsprechung gegenüber prozessualen Aufklärungspflichten. a)  Rechtliche Sonderverbindung Die rechtliche Sonderverbindung kann eine (vor-) vertragliche oder gesetzliche sein, sodass auch Rechtsbeziehungen des Sachenrechts sowie des Familien- oder Erbrechts in Betracht kommen.58 Liegt eine vertragliche Sonderverbindung zugrunde, soll der Auskunftsanspruch bereits dazu dienen, dem Berechtigten Informationen über das Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach zu verschaffen. Der Auskunftsanspruch bestehe dann zur Vorbereitung von (Schadensersatz-) Ansprüchen bei dem begründeten Verdacht einer Pflichtverletzung.59 In umgekehrter Richtung gilt dies, wenn ein Vertragspartner zur Geltendmachung von Einwendungen auf Informationen angewiesen ist. 60 Allerdings werden Bedenken gegen diese Funktion des Auskunftsanspruchs geltend gemacht. 61

  Siehe BGHZ 55, 201, 203 zu §  810 BGB: »nicht eng auszulegen«.   Grundlegend bereits RGZ 108, 1, 7; 158, 377, 379 f.; BGHZ 149, 165, 174 f.; 95, 274, 278 = NJW 1986, 1244, 1245; BGHZ 56, 256, 261 = NJW 1971, 2021, 2023; BGHZ 10, 385, 387 = NJW 54, 70, 71; NJW 2002, 3771; 2001, 821, 822; NJW-RR 1987, 1296; 1987, 173. Für die inhaltliche Ausgestaltung ist es nicht relevant, ob man diesen Auskunftsanspruch als »allgemein« bezeichnet. Bezeichnet man ihn als »allgemeinen« Auskunftsanspruch (so etwa BGH NJW-RR 1987, 173; ebenfalls Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 462), bedeutet dies freilich nicht einen Auskunftsanspruch ohne weitere Voraussetzungen, sondern gerade unter den genannten Voraussetzungen. Daher gibt es keine allgemeine, d. h. nicht aus besonderen Rechtsgründen abgeleitete Auskunftspflicht hinsichtlich solcher Umstände, die der eine kennt und die für einen anderen bedeutsam sind; BGH NJW 1981, 1733; 1980, 2463 f.; 1978, 1002; Krüger, in: MünchKommBGB, §  259 Rn.  6 . 58   BGHZ 61, 180, 184 = NJW 1973, 1876, 1877; BGHZ 82, 132, 137 = NJW 1982, 176, 177; BGHZ 95, 274, 279 = NJW 1986, 1244, 1245; BGHZ 95, 285, 293 f. = NJW 1986, 1247, 1249. 59   BGH NJW 2002, 3771; Lorenz JuS 1995, 569, 573. 60   BGH WM 1959, 206, 208. 61   Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  16. 56 57

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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Grundsätzlich sei es Sache des Anspruchstellers, die den Anspruch begründenden Tatsachen beizubringen. Es ist nach herkömmlichem Verständnis nicht die Aufgabe des Vertragspartners, dabei mitzuhelfen, das Tatsachenmaterial zum Nachweis einer von ihm begangenen Pflichtverletzung zusammenzustellen. Über das Institut des Auskunftsanspruchs nach Treu und Glauben werden die Darlegungslasten und -risiken somit verschoben. Daher ist auf diese Funktion des Auskunftsanspruchs nur zurückhaltend zurückzugreifen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob die vertraglichen Beziehungen so ausgestaltet sind, dass sie eine Auskunft zur Vorbereitung eines weitergehenden Anspruchs rechtfertigen. 62 In der Regel wird man das für reine Austauschverträge nicht annehmen können, bei Dauerschuldverhältnissen hingegen eher. 63 Geschäftsbesorgungsverträge sind ihrer Art nach durch ein engeres Verhältnis der Beteiligten gekennzeichnet, sodass sich erhöhte Auskunftspflichten ergeben können. 64 Verbindet die Parteien lediglich ein vorvertragliches Schuldverhältnis, wird man den Auskunftsanspruch nicht anwenden können, wenn lediglich Vermutungen über einen (Schadensersatz-) Anspruch bestehen, er dem Grunde nach jedoch noch nicht feststeht. Eine verbindliche Beziehung wie bei einem Vertrags­ abschluss ist nicht gegeben und ein Eingriff in den Rechtskreis der anderen Partei erscheint damit nicht geboten. Die Verletzung der Sorgfaltspflichten im vorvertraglichen Stadium, wozu Aufklärungspflichten gehören, kann zu einem Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo (§§  280 Abs.  1, 241 Abs.  2 BGB, 311 Abs.  2 BGB) führen. Die Sorgfaltspflichten sollen aber nicht weitergehende Auskunftspflichten begründen, die erst zur Feststellung führen können, ob ein Schadensersatzanspruch gegeben ist. 65 Dadurch würden vorvertragliche Beziehungen letztlich zu einer Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast führen, wofür es keine Grundlage gibt. Ein Auskunftsanspruch gestützt auf ein vorvertragliches Verhältnis kann nur in Betracht kommen, wenn die Rechtsverletzung dem Grunde nach feststeht und die Höhe des Anspruchs fraglich ist. Auch im Rahmen eines gesetzlichen Schuldverhältnisses besteht ein Auskunftsanspruch erst, wenn ein Leistungsanspruch dem Grunde nach feststeht. 66 Die anspruchsbegründenden Merkmale müssen vorliegen, wobei bei einem Schadensersatzanspruch für die Schadensentstehung Wahrscheinlichkeit ausreicht. 67 Auf die Entstehung des Schadens bzw. dessen Höhe ist der Auskunfts62   Lorenz JuS 1995, 569, 573 verlangt ein Rechtsverhältnis, das typischerweise eine Un­ sicherheit über das Bestehen eines Anspruchs mit sich bringt. 63   Beispiel für ein Dauerschuldverhältnis (»Distributionsvertrag«): BGH NJW 2002, 3771; Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  16. 64   Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  16. 65   Lorenz JuS 1995, 569, 573. 66   BGH NJW-RR 1989, 450; Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  15; Lorenz JuS 1995, 569, 573. 67   Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  15.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

anspruch ja gerade gerichtet. Zur Ermittlung des Anspruchsinhalts kann sodann auf den Auskunftsanspruch zurückgegriffen werden. b)  Entschuldbare Ungewissheit über den Umfang des Rechts Der Berechtigte muss über den Umfang des Rechts in Unkenntnis sein, also ein Informationsbedürfnis vorweisen können. Das setzt voraus, dass die begehrte Auskunft für den Hauptanspruch relevant ist. 68 Darüber hinaus muss der Berechtigte auf die Information angewiesen sein. Nicht angewiesen ist der Berechtigte auf Kenntnis von Umständen, für die die andere Partei die Darlegungsund Beweislast trägt. Die Ungewissheit des Berechtigten muss auf entschuldbare Weise entstanden sein. Ein Verschulden nimmt der BGH in der Regel erst an, wenn »der Anspruchsteller gegenüber der mit der Auskunft begehrten Kenntnis zuvor selbst die Augen verschlossen und von einer sich aufdrängenden Möglichkeit zur Information keinen Gebrauch gemacht hat«69. Wenn das Verlangen nicht aus besonderen Gründen mutwillig oder missbräuchlich erscheint, kommt es jedoch nicht entscheidend darauf an, wie und warum der Berechtigte in die Lage geraten ist, um Auskunft bitten zu müssen.70 Das Kriterium der Entschuldbarkeit wird in der Rechtsprechung daher kaum einmal verneint.71 c)  Keine Möglichkeit der Beschaffung auf zumutbare Weise Der Berechtigte muss sich die notwendigen Auskünfte nicht auf zumutbare Weise selbst beschaffen können. Er muss zunächst Anstrengungen unternehmen, um die Informationen auf andere Weise erlangen zu können.72 Vorrangig sind daher gesetzliche Informationsansprüche gegen andere Personen oder eine Behörde.73 Es handelt sich bei dem Auskunftsanspruch aus Treu und Glauben um ein gegenüber anderen Ansprüchen subsidiäres Institut. Dieser Aspekt zeigt sich in der Notwendigkeit der Erschöpfung anderer Erkenntnisquellen. d)  Möglichkeit und Zumutbarkeit der Auskunft Der Verpflichtete muss die Auskünfte unschwer geben können. Sie darf nicht zu einer unbilligen Belastung führen, wobei sowohl der tatsächliche Aufwand als auch Zumutbarkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind.74 Daher können Geheimhaltungsinteressen des Verpflichteten zur Versagung der Zumutbarkeit führen. Die Zumutbarkeit richtet sich des Weiteren danach, ob Grundlage für   BGH NJW 1982, 2771 (für §  1605 BGB).   BGH NJW 1990, 1358. 70   BGH NJW-RR 1988, 1072, 1073. 71   Osterloh-Konrad, S.  197. 72   Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  18. 73   Krüger, in: MünchKommBGB, §  260 Rn.  18; Lorenz JuS 1995, 569, 574. 74   Lorenz JuS 1995, 569, 574. 68 69

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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den Auskunftsanspruch eine bereits festgestellte Rechtsverletzung des Verpflichteten ist. e) Inhalt Der Umfang des zu betreibenden Aufwands bestimmt sich in erster Linie nach dem Ausmaß, in dem die Rechtsverletzung festgestellt oder mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten ist. Steht fest oder ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Rechtsverletzungen vorliegen, kann der zumutbare Aufwand nach Treu und Glauben größer sein und gegebenenfalls sogar eine vollständige Auskunft rechtfertigen.75 In der Regel setzt dies voraus, dass der Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht und nur der Anspruchsinhalt offen ist.76 Neben einer Pflicht der Partei zur Auskunft über Tatsachen 77 können sich unter diesen Voraussetzungen Pflichten zur Abgabe von Wissenserklärungen über ihr bekannte Tatsachen, Einsichtnahmeansprüche bzw. Vorlagepflichten bezüglich Augenscheinsgegenständen ergeben.78 Der Anspruch auf Einsichtnahme bzw. die Pflicht zur Vorlegung wird indes von der Rechtsprechung lediglich zurückhaltend gewährt.79 Der Umfang der Pflichten richtet sich nach der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit im Einzelfall. 80 Es findet eine Abwägung der beiderseitigen schutzwürdigen Belange statt, in der auf der einen Seite die schutzwürdigen Interessen des Gläubigers und auf der anderen Seite die notwendigen Anstrengungen des Schuldners sowie sein Zeit- und Arbeitsaufwand eingehen. 81 Grenze der Pflichten der nicht darlegungsbelasteten Partei sind deren Geheimhaltungsinteressen. 82 Allein der Umstand, dass im Rechtsstreit bei Vorlage des Vertrags rechtliche Nachteile drohen, kann im Rahmen der vorzunehmenden Billigkeitsabwägung kein schutzwürdiges Interesse begründen, die Vorlegung von Unterlagen zu verweigern. 83 Darüber hinaus dient der Auskunftsanspruch nicht der Ausforschung der anderen Partei, darf somit nicht zur Ermittlung der anspruchsbegründenden Tatsachen missbraucht werden. 84 Auskunft, Einsichtnahme oder Vorlage kann nicht verlangen, wer sich   BGHZ 95, 285, 293 f. = NJW 1986, 1247, 1249.   BGHZ 74, 379, 381; NJW-RR 1987, 1296. 77   Siehe dazu Köhler NJW 1992, 1477, 1481. 78   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 462. 79   BGH NJW-RR 2002, 1119, 1121 f.; GRUR 2001, 841, 845; NJW 1954, 1564, 1565; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 462. 80   J. Lang, S.  58 f.; Köhler NJW 1992, 1477, 1481. 81   BGHZ 70, 86, 91 = NJW 1978, 539; NJW-RR 1992, 1072, 1073; NJW 1982, 573, 574; Krüger, in: MünchKommBGB, §  259 Rn.  28. 82   Krüger, in: MünchKommBGB, §  259 Rn.  29 ff.; Köhler NJW 1992, 1477, 1481. 83   BGH NJW-RR 1992, 1072, 1073: Sittenwidrigkeit kein Grund, die Offenbarung zu verweigern. 84   BGH NJW-RR 1987, 1521. 75 76

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Teil 3:  Information und Offenlegung

durch die Urkundeneinsicht erst Unterlagen für seine Rechtsverfolgung beschaffen will. 85 3.  Durchsetzung der materiellrechtlichen Informationsansprüche Die materiellrechtlichen Informationsansprüche können entweder mit einer separaten Leistungsklage oder im Rahmen einer Stufenklage (§  254 ZPO) zugleich mit dem Hauptanspruch geltend gemacht werden. 86 Die Stufenklage bietet den Vorteil, dass der Hauptanspruch bereits mit Erhebung der Stufenklage in der später erfolgenden Präzisierung rechtshängig wird (§  261 Abs.  1 ZPO). 87 Die Stufenklage schützt somit vor der Verjährung des Hauptanspruchs (§  204 Abs.  1 Nr.  1 BGB). 88 Darüber hinaus können die Ansprüche im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durchgesetzt werden. Teilweise ergibt sich das explizit aus den Informationsansprüchen, etwa bei §  101a Abs.  7 UrhG, 140b Abs.  7 PatG, darüber hinaus wird diese Vorgehensweise von der Rechtsprechung ohne ausdrückliche Anordnung als zulässig angesehen. 89 Die Vollstreckung erfolgt nach §  888 ZPO, da die Auskunftserteilung eine unvertretbare Handlung ist.90 Die Notwendigkeit der separaten Durchsetzung der materiellrechtlichen Ansprüche führt zu einer als Trägheit empfundenen langsamen Anspruchsverwirklichung.91 Gerade dies wird mit als Grund dafür angeführt, darüber hinaus auf prozessuale Institute zurückzugreifen.92 Im Prozess ist der Gegner zur Vorlage der Urkunde verpflichtet, wenn der Beweisführer nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Herausgabe oder Vorlegung der Urkunde verlangen kann (§  422 ZPO). Die Vorlagepflicht umfasst damit nicht die sonstigen Sachen i. S. von §  809 BGB. Außerdem kann die Vorlage der Urkunde nach §  422 ZPO nicht erzwungen werden. Folge der Nichtvorlegung durch den Gegner ist die negative Beweiswürdigung (§  427 ZPO).

  BGH NJW-RR 1992, 1072, 1073.   Köhler NJW 1992, 1477, 1482; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 463. 87   BGH NJW-RR 1995, 513; Foerste, in: Musielak, §  254 Rn.  1; Greger, in: Zöller, §  254 Rn.  1. 88   BGH NJW-RR 1995, 770, 771; NJW 1992, 2563 f.; Foerste, in: Musielak, §  254 Rn.  1. 89   BGHZ 93, 191 ff. = NJW-RR 1986, 480 ff. 90   BGH NJW 2008, 917 (Rn.  13). 91   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 463. 92   Schlosser JZ 1991, 599, 608; Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 16; eher kritisch wegen des Substantiierungsrisikos aufgrund der seines Erachtens spärlichen materiellrechtlichen Informationspflichten Stürner, Aufklärungspflicht, S.  13; a. A. Arens ZZP 96 (1983), 1, 23. 85

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§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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4. Fazit Die Rechtsprechung verweist die Parteien auf materiellrechtliche Aufklärungsund Informationsansprüche, die in einigen Fällen speziell normiert sind, in anderen Fällen auf die Generalklausel des §  242 BGB gestützt werden. Sie können mit einer Urkundenvorlegung verknüpft sein. In vertraglichen und vertragsähnlichen Verhältnissen können dementsprechend bereits vorprozessual in manchen, gleichwohl nicht allen Konstellationen Informationen erlangt werden, die einen substantiierten Parteivortrag ermöglichen. Voraussetzung ist das Vorliegen einer bestehenden rechtlichen Beziehung. Es bleiben Lücken, die durch die wenigen speziellen Informationsansprüche nicht erfasst werden: Zum einen kann es an einem bestehenden Rechtsverhältnis fehlen, zum anderen werden dadurch nicht die Sachverhalte gelöst, in denen es bereits an notwendigen Informationen zu einem möglichen Anspruchsgrund fehlt.93 Für Ansprüche aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis hat der Gesetzgeber keine besonderen materiellrechtlichen Informationsansprüche eingeführt. Der Auskunftsanspruch aus Treu und Glauben kann zur Informationsermittlung nicht herangezogen werden, weil Voraussetzung eine besondere rechtliche Beziehung zwischen dem Berechtigten und Verpflichteten ist, mit anderen Worten jedenfalls ein gesetzlicher Anspruch dem Grunde nach bestehen muss. Fraglich ist ferner, ob der Auskunftsanspruch aus Treu und Glauben hinreichend konkretisierte Voraussetzungen beinhaltet. Die von der Rechtsprechung entwickelten Konturen werden von Lüke als unscharf bewertet,94 während Lorenz darin eine ausreichend klare Grundlage sieht.95 Lüke möchte das Informationsbedürfnis daher auf eine andere dogmatische Grundlage stellen, etwa eine Analogie zu den jeweils gesetzlich geregelten Auskunftsvorschriften. Als »Fingerzeig« nennt er die Vorschrift des §  2028 BGB, die an die Beziehung des Auskunftspflichtigen zu einem Rechtsgut des Auskunftsberechtigten anknüpfe. Gegen eine Orientierung an §  2028 BGB wendet sich Lorenz ausdrücklich, weil damit ein bedenklicher Schritt in Richtung Verdachtsausforschung unternommen werde.96 Letztlich zeigen sich in den Auffassungen die divergierenden Grundwertungen, inwieweit ein Auskunftsanspruch angenommen werden sollte. Schließlich stellt sich prozessual die Hürde, dass die Ansprüche nicht inzident im Prozess geltend gemacht werden können, sondern über den zeit- und kostenaufwendigen Weg der Stufenklage.97 Der Nachteil der Durchsetzung ei  Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 57.   Lüke JuS 1986, 2, 7. 95   Lorenz JuS 1995, 569, 575. 96   Lorenz JuS 1995, 569, 575 Fn.  106. 97   Aus diesem Grunde kritisch Schlosser JZ 1991, 599, 608; ebenso Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 16. 93

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Teil 3:  Information und Offenlegung

nes vorprozessualen materiellrechtlichen Informationsanspruchs liegt in der damit verbundenen Prozessverdoppelung, die über die Anerkennung innerprozessualer Mitwirkungspflichten oder vorprozessualer Pflichten vermieden werden könnte.98 Vorteilhaft könnte sein, dass die materiellrechtlichen Ansprüche durch einstweilige Anordnungen gesichert werden können (§  938 ZPO). Darüber hinaus kann ein selbstständiges Beweisverfahren durchgeführt werden (§  485 ZPO), sodass im Anschluss daran über die Erfolgsaussichten einer Klage entschieden werden kann und diese unter Umständen nicht mehr erhoben wird. Problematisch ist wiederum, dass als Beweismittel der Augenschein (§  371 ZPO), der Zeugenbeweis (§  373 ZPO) und das Sachverständigengutachten (§§  402, 411 ZPO) in Betracht kommen, nicht hingegen der Urkundenbeweis (§  415 ZPO) und die Parteivernehmung (§  445 ZPO). Darüber hinaus setzt die Durchführung des selbstständigen Beweisverfahrens voraus, dass der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird (§  485 Abs.  1 ZPO; Ausnahme in Abs.  2 für ein schriftliches Sachverständigengutachten). Ein selbstständiges Beweisverfahren lediglich zur Informationsgewinnung durchzuführen, scheidet dementsprechend aus. Die Rechtsprechung sieht die Unzulänglichkeiten, die sie insbesondere materiellrechtlich über eine Beweislastumkehr und prozessual über die sog. sekundäre Behauptungslast abzumildern versucht. Darüber hinaus hält sie an dem Erfordernis des Vorliegens einer bestehenden rechtlichen Beziehung fest, handhabt dieses Kriterium aber sehr großzügig, wodurch eine Sonderbeziehung relativ schnell angenommen werden kann.99 Im Ergebnis zeigt sich gleichwohl, dass die materiellrechtlichen Ansprüche nicht ausreichen, um eine effektive Rechtsdurchsetzung zu gewährleisten. Das leitet über zu der Frage, ob die verbleibenden Schutzlücken prozessrechtlich geschlossen werden können.

II.  Prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten Als erster prozessualer Mechanismus zur Sachverhaltsaufklärung ist die bereits untersuchte Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht (§  138 Abs.  1 ZPO) der Parteien zu nennen. Es handelt sich, ohne ausdrücklich so bezeichnet zu sein, um ein wesentliches Instrument zur Sachverhaltsaufklärung. Im Einzelnen kann das beinhalten, für die eigene Position ungünstige Tatsachen mitteilen zu müssen.100 Voraussetzung für die Last, sich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären (§  138 Abs.  2 ZPO), ist ein substantiierter Vortrag der darlegungs- und beweisbelasteten Partei. Dementsprechend ist eine wesentliche   Stürner, in: FG Vollkommer, S.  201, 212.   Beispiele dafür: BGHZ 95, 274 ff. = NJW 1986, 1244 ff. – GEMA-Vermutung I; BGH NJW 1989, 389 ff. – Kopierwerk. 100   Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  3 ; Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 62. 98

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§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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»Stellschraube« die Konkretisierung der Darlegungslast. Dabei kommt insbesondere der Modifikation der Darlegungslast (sekundäre Behauptungslast) Bedeutung zu, also der Frage, ob eine Partei die Erklärungspflicht der Gegenseite auslösen kann, obwohl – gemessen an den allgemeinen Maßstäben – ein substantiierter Vortrag ihrerseits nicht vorliegt. Neben dem von der Rechtsprechung entwickelten Institut der sekundären Behauptungslast sind die gesetzlich geregelten Lasten oder Pflichten zu untersuchen.101 Prozessuale Mitwirkungs- und Informationstatbestände finden sich in §§  142 ff., 423 und 445 ff. ZPO. Die Vorlagepflichten bzw. die Pflicht zur Duldung der Vernehmung sind – jedenfalls ausweislich des Wortlauts – unabhängig von materiellrechtlichen Pflichten sowie der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Die Vernehmung des Gegners (§  445 ZPO) ist ein subsidiäres Beweismittel. Zunächst sind alle anderen Beweismittel auszuschöpfen (vgl. §  450 Abs.  2 ZPO). Das Gericht darf nicht vom Gegenteil der Tatsachenbehauptung überzeugt sein (§  445 Abs.  2 ZPO). Schließlich gilt für die Parteivernehmung das Verbot der unzulässigen Ausforschung. Die Parteivernehmung kann nicht erfolgen, um erst durch die Äußerungen der Gegenpartei die Fähigkeit zum substantiierten Vortrag zu erlangen.102 Das Institut der Parteivernehmung kann als primäres Informationsmittel außer Betracht bleiben. 1.  Modifikation der Substantiierungslast Als Grundlage für das Institut der sekundären Behauptungslast wird von der Rechtsprechung zum Teil auf den Grundsatz von Treu und Glauben,103 teilweise auf die allgemeine Prozessförderungspflicht zurückgegriffen.104 In der Literatur wird als Grundlage darüber hinaus die Prozessförderungspflicht in Verbindung mit der Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht angeführt.105 a)  Voraussetzungen und Inhalt Weitgehend Einigkeit herrscht im Hinblick auf die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Modifikation der Substantiierungslast. Diese sei vorzunehmen, wenn die darlegungs- und beweisbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs stehe und keine nähere Kenntnis der maßge101   Zur historischen Entwicklung von Mitwirkungspflichten (im römischen Zivilprozess, im germanischen und fränkischen Prozess, im römisch-kanonischen Prozess, im Prozess des gemeinen Rechts und im Prozess des Ancien Regime sowie zur Entstehung des Nouveau Code de procédure civile) zusammenfassend Adloff, S.  7 ff. 102   Greger, in: Zöller, §  4 45 Rn.  3a. 103   BGH NJW 1961, 826, 828; 1962, 2149, 2150; zustimmend Reichold, in: Thomas/Putzo, vor §  284 Rn.  18 und 37. 104   BGH NJW 1990, 3151, 3152 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 105   C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  22; Peters, in: FS Schwab, S.  399, 401.

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benden Tatsachen besitze, während der Gegner sie habe und ihm nähere Angaben zumutbar seien.106 Im Rahmen des Zumutbaren könne vom Prozessgegner das substantiierte Bestreiten der Tatsachen unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden.107 Im Gegenzug werden die Anforderungen an den Tatsachenvortrag der primär behauptungsbelasteten Partei gesenkt – quasi spiegelbildlich zu den Anforderungen an die Mitwirkungspflicht des Gegners.108 Trotz der sekundären Behauptungslast der nicht risikobelasteten Partei muss die darlegungspflichtige Partei jedenfalls Tatsachen vortragen, die gewisse Anhaltspunkte für ihre Behauptung enthalten. Dafür können bereits allgemeine Behauptungen ausreichen, ein Vortrag »ins Blaue hinein«109 wäre jedoch nicht ausreichend. Schwierig ist regelmäßig die Festlegung der Grenzen der Zumutbarkeit. Fraglich ist etwa, ob dem Gegner nähere Angaben zumutbar sind, wenn es um Betriebsinterna geht, an deren Geheimhaltung er interessiert ist. Dabei wird eine Abwägung stattfinden müssen. Stellt sich das Geheimhaltungsinteresse danach als berechtigt dar, fehlt es an der Zumutbarkeit.110 Zur Anwendung kommt die sekundäre Behauptungslast insbesondere, wenn es sich um Tatsachen in der Sphäre des Anspruchsgegners handelt, über die der Anspruchsteller keine Kenntnis hat.111 Eine Modifikation der Substantiierungslast nimmt die Rechtsprechung im Hinblick auf Ausschlussgründe im Versicherungsrecht,112 innere Umstände113 oder Einkommenssteigerungen des Beklagten im Abänderungsverfahren nach §  323 ZPO114 vor. Ein Schwerpunkt des Anwendungsbereichs ist der Fall des Negativbeweises,115 wie der Beweis des Unterlassens einer Aufklärung116 oder der Nichtbestimmung einer Vergütung (§  633 Abs.  2 BGB) 117. Der Gegner darf sich nicht mit einem einfachen Bestreiten begnügen, sondern muss im Einzelnen darlegen, dass die von ihm bestrittene Behauptung un106   BGHZ 173, 23, 30 (Rn.  16) = NJW 2007, 2989, 2991 = ZZP (120) 2007, 512, 515; BGH NJW 1999, 2887, 2888; 1996, 315, 317. 107   BGH NJW 2008, 982, 984; 1999, 2887, 2888; 1996, 315, 317; NJW-RR 1994, 1068, 1069; Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  8b. 108   C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  21; siehe zur Reduktion der Substantiierungslast (freilich in dem Kontext einer über die sekundäre Behauptungslast hinausgehenden prozessualen Aufklärungspflicht) Stürner, Aufklärungspflicht, S.  119 ff. 109   Siehe dazu §  7 II. 3. c) aa). 110   BGHZ 116, 47, 56 = NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger. 111   BGHZ 109, 139, 149 = NJW 1990, 314, 316; BGHZ 108, 134, 145 = NJW 1989, 3277, 3279. 112  Dazu Hansen, S.  6 f. und 241. 113   BGH NJW 1968, 1825, 1826. 114   BGH NJW 1987, 1201. 115   BGHZ 171, 232, 239 (Rn.  21 f.) = NJW-RR 2007, 1448, 1449. 116   BGHZ 166, 56, 60 = NJW 2006, 1429, 1430; BGHZ 126, 217, 225 = NJW 1994, 2395, 3298; die (hohen) Anforderungen noch einmal klarstellend BGH WM 2008, 112, 114. 117   BGH NJW-RR 1992, 848.

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richtig ist (sog. sekundäre Behauptungslast).118 Erfüllt er seine Pflicht zum substantiierten Bestreiten nicht, ist die Tatsache nach §  138 Abs.  3 ZPO als zugestanden anzusehen.119 Ein konkretes Beispiel für die Anwendung der sekundären Behauptungslast ist der Fall »Pressedienst«, in dem der BGH in dem Prozess um die irreführende Werbung eines Pressediensts dem Beklagten die sekundäre Darlegungslast darüber auferlegte, die Zahl derjenigen zu nennen, die Beiträge für den Pressedienst lieferten.120 Der Beklagte warb mit einer hohen Anzahl von Mitarbeitern und nur er, nicht der Kläger, konnte über die genaue Zahl Auskunft geben. b) Abgrenzung Die Modifikation der Substantiierungslast ist zu unterscheiden von einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast. Die Darlegungslast bleibt bei der Modifikation der Substantiierungslast bei der behauptungsbelasteten Partei, sodass sie die Tatsache abstrakt behaupten muss (abstrakte Behauptungslast).121 Wenn der Gegner den Tatsachenvortrag substantiiert bestreitet, muss die beweisbelastete Partei für die Richtigkeit der Tatsachen Beweis antreten.122 Kann der Beweis nicht geführt werden, ergeht eine Beweislastentscheidung gegen die beweisbelastete Partei. Aus der modifizierten Substantiierungspflicht folgt für den Gegner keine allgemeine Vorlagepflicht. Eine solche kann sich (lediglich) aus den Spezialvorschriften der §§  422, 423 ZPO oder §  142 Abs.  1 ZPO ergeben.123 c) Würdigung Kritisiert wird an der Modifikation der Substantiierungslast, dass es sich um eine einzelfallbezogene Rechtsprechung handele, deren Handhabung durch die Instanzgerichte ganz verschieden sei.124 Die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze seien in kaum zu systematisierenden Fällen angewendet worden.125 Im Zweifel würden zu hohe Anforderungen an die Substantiierung gestellt. Darüber hinaus wird dem BGH vorgeworfen, dass er sich pauschal gegen prozessuale allgemeine Aufklärungspflichten stelle, die sekundäre Behauptungslast aber inhaltlich von einer solchen Pflicht nicht weit entfernt sei.126   BGH NJW 1996, 522, 523; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  93.   BGH NJW 1996, 315, 317. 120   BGH NJW 1961, 826, 828 – Pressedienst. 121   BGH NJW 1981, 577; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  38. 122   BGH NJW-RR 1993, 643. 123   BGHZ 173, 23, 30 (Rn.  16) = NJW 2007, 2989, 2991 = ZZP (120) 2007, 512, 515 mit zustimmender Anmerkung Völzmann-Stickelbrock. 124   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 151. 125   D. Magnus ZZP 120 (2007), 347, 353. 126   Stürner ZZP 104 (1991), 208; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 467. 118 119

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Problematisch an diesem Institut ist in der Tat die uneinheitliche Anwendung (bzw. Nichtanwendung) in der Praxis, die sich daran zeigt, dass der BGH häufig in Revisionsurteilen auf dieses Institut zurückgreift und auf die fehlende Heranziehung in den instanzgerichtlichen Urteilen hinweist.127 Die sekundäre Behauptungslast kann kein »Allheilmittel« für den Ausgleich eines unterschiedlichen Informationsniveaus der Prozessbeteiligten sein, denn die Erklärungspflicht über die vom Gegner vorgebrachten Tatsachen setzt voraus, dass die beweisbelastete Partei wenigstens ihrer eingeschränkten Substantiierungslast entsprochen hat. Fehlt es bereits an einem solchen Vortrag – und dies kann eben mangels Kenntnis der entsprechenden Tatsachen der Fall sein –, greift die sekundäre Behauptungslast nicht ein. Das ist gerade der Punkt, an dem Stürner mit einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht ansetzen will. Es reiche bereits aus, wenn die beweisbelastete Partei eine pauschale Behauptung aufstelle, um die sekundäre Behauptungslast auszulösen.128 Dieser kleine Schritt bedeutet die Überschreitung der maßgeblichen Grenze zwischen Modifikationen der Substantiierungslast und einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht.129 Schließlich begründet der BGH die Anwendung der sekundären Behauptungslast teilweise materiellrechtlich, etwa wenn er ausführt: »Diese Voraussetzungen hat das [Berufungsgericht] im vorliegenden Fall zu Recht bejaht, da die von der [Klägerin] behaupteten Tatsachen sämtlich im Wahrnehmungsbereich des [Beklagten] lagen und es diesem im Hinblick auf die ihm nach §  242 BGB obliegende unterhaltsrechtliche Auskunftspflicht [.  .  .] zuzumuten ist, sich zu der gegnerischen Behauptung näher zu erklären.«130 Besteht mithin zugleich ein materiellrechtlicher Auskunftsanspruch nach §  242 BGB, stellt sich das Institut der sekundären Behauptungslast eher als Institut dar, um ohne Umweg über eine Stufenklage Auskunft zu verlangen.131 Stürner bezeichnet die Fälle, in denen auf das Institut der sekundären Behauptungslast bei gleichzeitig bestehendem materiellrechtlichen Auskunftsanspruch rekurriert wird, als Einzelfälle.132 Letztlich ergeben sich Lücken und Unsicherheiten, die zu Forderungen führen, der Gesetzgeber solle sich dem Thema der Informationsbeschaffung im Zivilprozess stärker widmen.133 Als Beispiel für eine sinnvolle Einführung einer prozessualen Aufklärungspflicht wird auf §  235 FamFG (vormals §  643 ZPO)

  Greger JZ 2000, 842, 846.   Siehe dazu §  9 III. 1. 129   Arens ZZP 96 (1983), 1, 13: »Der Schritt mag klein sein, er führt aber über seine bisher als entscheidend angesehene Grenze.« 130   BGH NJW 1987, 1201 (insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 98, 353 ff.). 131   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 58. Beispiele: RGZ 98, 302 ff.; BGH NJW 1964, 1414 ff. 132   Stürner ZZP 98 (1985), 237, 240; a. A. Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 58. 133   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 151. 127

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verwiesen,134 der dem Richter im Unterhaltsprozess die Einholung von Auskünften von Amts wegen gestattet. 2.  Pflicht zur Vorlage nach §§  422 ff. ZPO §§  422, 423 ZPO regeln die Vorlegungspflicht des Gegners aufgrund materiellen Rechts und aufgrund der Tatsache, dass der Gegner auf eine in seinen Händen befindliche Urkunde Bezug genommen hat. Der Antrag auf Vorlegung ist an das Gericht zu richten (§  421 ZPO). Aufgrund der gerichtlichen Anordnung besteht die Vorlegungspflicht gegenüber dem Gericht, selbst wenn die Vorlegung außerhalb des Prozesses an einem bestimmten Ort erfolgen müsste (§  811 Abs.  1 BGB).135 Entsprechend §§  383 Abs.  1, 384 ZPO kann die Vorlage aus persönlichen oder sachlichen Gründen verweigert werden.136 a) Vorlegungspflicht des Gegners nach bürgerlichem Recht Es handelt sich bei der Pflicht zur Vorlage nach §  422 ZPO inhaltlich nicht um eine prozessuale, sondern um eine materiellrechtliche Vorlagepflicht. Die Vorlagepflicht besteht nämlich nach §  422 ZPO nur, wenn der Beweisführer nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Herausgabe oder die Vorlegung der Urkunde verlangen kann, also eine materiellrechtliche Verpflichtung des Gegners zur Urkundenvorlage besteht (§  424 Nr.  5 ZPO). Dementsprechend ist der Grund für die Vorlage ein materiellrechtlicher, der ohne den Umweg einer separaten Klage geltend gemacht werden kann. Wie bereits dargestellt, enthält das materielle Recht Regelungen, die unter bestimmten Voraussetzungen im Einzelfall Aufklärungspflichten festlegen.137 Darüber hinaus ist die Vorlage nach §  422 ZPO nicht erzwingbar, sondern Folge ist die negative Beweiswürdigung (§  427 ZPO). b) Vorlegungspflicht des Gegners bei Bezugnahme §  423 ZPO sieht eine Vorlagepflicht vor, wenn der Gegner selbst im Prozess zur Beweisführung auf die Urkunde, nicht lediglich auf deren Inhalt,138 Bezug genommen hat. Es handelt sich zwar um eine originär prozessrechtliche Pflicht, doch wird damit eine Aufklärung zugunsten der anderen Partei regelmäßig nicht verbunden sein, weil der Prozessgegner die Urkunde dann nicht als Beweismittel erwähnt hätte. Nimmt eine Partei auf eine Urkunde in ihren Händen Bezug, gebietet es bereits das rechtliche Gehör, dem Prozessgegner Einsicht zu   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 151.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  422 Rn.  7. 136   Schreiber, in: MünchKommZPO, §  422 Rn.  5. 137   Siehe §  7 I. 138   RGZ 69, 401, 405 – Nietzsche-Briefe; Geimer, in: Zöller, §  423 Rn.  1. 134 135

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gewähren.139 Eine Verweigerung der Vorlegung analog §§  383 Abs.  1, 384 ZPO scheidet aus, weil der Gegner durch die Bezugnahme das Geheimhaltungsinteresse selbst aufgegeben hat.140 c) Fazit Die Vorlegungspflicht des Gegners nach bürgerlichem Recht (§  422 ZPO) stellt inhaltlich kein Instrument zur weitergehenden Information der nicht darlegungs- und beweisbelasteten Partei dar. Voraussetzung ist ein materiellrechtlicher Vorlageanspruch, hingegen wird kein originärer prozessrechtlicher Anspruch begründet. Die Vorlegungspflicht nach §  423 ZPO beinhaltet zwar einen originär prozessrechtlichen Anspruch, jedoch nur, wenn der Prozessgegner selbst auf die Urkunde Bezug genommen hat. Das wird er nur bei ihm günstigem Inhalt tun. 3.  Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO Nach der Rechtslage vor dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreformgesetz141 war eine Anordnung nur möglich gegen die Partei, die sich auf die in ihren Händen befindliche Urkunde bezogen hatte.142 Somit hing der Einblick in Unterlagen vom Verhalten des Gegners ab. Aus Gründen des Geheimnisschutzes oder aufgrund prozesstaktischer Erwägungen stand es ihr frei, von einer Vorlage abzusehen. Die Vertraulichkeit schriftlicher Unterlagen war gesichert. Der Gesetzgeber hat mit dem Zivilprozessreformgesetz die Möglichkeit der Anordnung der Urkundenvorlage nach §  142 ZPO und der Vorlage von Augenscheinsgegenständen nach §  144 ZPO erweitert. Nach §  142 Abs.  1 ZPO143 kann das Gericht von Amts wegen144 anordnen, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt.145 Anders als nach früherem Recht (bis zum 31.12.2001) kann die Partei zur Urkundenvorlage nicht nur ver139  Ähnlich Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  423 Rn.  2 : »Folge der Prozeßförderungspflicht«. 140   Schreiber, in: MünchKommZPO, §  423 Rn.  2. 141   Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27.7.2001, BGBl.  I 2001, S.  1887. 142   §  142 Abs.  1 ZPO lautete bis zum 31.12.2001: »Das Gericht kann anordnen, daß eine Partei die in ihren Händen befindlichen Urkunden, auf die sie sich bezogen hat, sowie Stammbäume, Pläne, Risse und sonstige Zeichnungen vorlege.« 143   In der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung und Zustellung vom 30.10.2008, BGBl.  I 2008, S.  2122. 144   Ein Beweisantritt durch eine Partei ist nicht vorgesehen; möglich ist aber eine Anregung durch eine Partei auf Vorlageanordnung von Amts wegen; Kapoor, S.  219. Ausnahmen gelten für die Vorlage durch einen Dritten nach §  428 ZPO. 145   Im Zuge der Änderungen wurde auch §  273 Abs.  2 ZPO um eine Nr.  5 ergänzt. Nunmehr kann eine terminsvorbereitende Anordnung nach §  142 ZPO erfolgen, sodass bereits vorsorgend Urkunden in den Prozess eingeführt werden können.

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pflichtet werden, wenn sie sich selbst, sondern auch, wenn sich die Gegenpartei auf die Urkunde bezogen hat. Ausweislich des Wortlauts kann die Anordnung nunmehr – und darin liegt der entscheidende Unterschied – gegenüber dem Prozessgegner und sogar gegen Dritte146 unabhängig vom Bestehen eines materiellrechtlichen Herausgabeanspruchs oder der Verteilung der Beweislast ergehen.147 Nach dem Wortlaut ist lediglich das Bezugnahmeerfordernis als Grenze vorgesehen. Inwieweit es als wirksame oder sinnvolle Begrenzung fungiert, hängt maßgeblich von der Auslegung dieses Merkmals ab. In der Erweiterung der Vorlagepflicht auf die Partei, die sich selbst gar nicht auf die Urkunde bezogen hat, liegt die Brisanz der Neuregelung. Daraus folgt die Problematik der Abgrenzung zu den bislang beschriebenen speziellen Aufklärungspflichten. Warum sollte der Richter, dem als Instrument die Anordnungskompetenz nach §  142 ZPO zur Verfügung steht, die Voraussetzungen der materiellrechtlichen Vorlagepflichten prüfen, wenn jedenfalls eine Partei auf eine Urkunde Bezug genommen hat? a)  Diskussionen im Gesetzgebungsverfahren Bereits im Gesetzgebungsverfahren stellte sich die Frage, ob eine umfassende prozessuale Aufklärungspflicht durch die Neufassung des §  142 ZPO geschaffen werde. Es wurde befürchtet, dass die Änderungen eine von der Zivilprozess­ ordnung nicht vorgesehene unzulässige Ausforschung der von einer richterlichen Anordnung betroffenen Partei ermögliche. Der Richter könne aufgrund des ihm eingeräumten Ermessens in weitem Maße Ausforschungsanträgen nachgehen. Aufgrund des weiten Wortlauts wurde im Gesetzgebungsverfahren ein Änderungsantrag gestellt, der eine klare Distanzierung von jeglichen Bestrebungen, sich dem amerikanischen discovery-Verfahren anzunähern, bedeutete.148 Der Änderungsantrag erlangte im Bundestag jedoch keine Mehrheit. Stattdessen wurde im Bericht des Rechtsausschusses klargestellt, dass die Regelungen in den §§  142, 144 ZPO keine (unzulässige) Ausforschung der von einer richterlichen Anordnung betroffenen Partei oder des Dritten bezweckten.149 Es werde lediglich eine behutsame Erweiterung der Befugnisse des Richters vorgenommen. Die (geplante) Neuregelung lasse den (alten) Rechtszustand, dass eine Ausforschung unzulässig sei, unberührt, weil die Vorschrift die Partei, die sich 146   Im Folgenden wird auf die wechselseitigen Vorlagepflichten der Parteien eingegangen, nicht hingegen auf die Vorlagepflicht Dritter; siehe dazu ausführlich G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801 ff. 147   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  92; BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 515. 148   Begründung zum Änderungsantrag der Fraktion F. D. P., BT-Drucks. 14/6061, S.  2. 149   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120.

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auf eine Urkunde bezieht, nicht von ihrer Darlegungs- und Substantiierungslast befreie. Die Neufassung des §  142 ZPO gebe dem Gericht nicht die Befugnis, unabhängig von einem schlüssigen Vortrag zum Zwecke der Informationsgewinnung Urkunden anzufordern. Eine solche Ausforschung der Parteien oder des Dritten bleibe prozessordnungswidrig. Daher werde der für die Beurteilung von Rechtshilfeersuchen aufgrund eines US-amerikanischen discovery-Verfahrens maßgebliche ordre public nicht verändert.150 Zu dieser Vorgehensweise ist anzumerken, dass der Bericht des Rechtsausschusses an der Gesetzeskraft nicht teilnimmt.151 Allerdings sind die Äußerungen bei der Ermittlung des »Willens des Gesetzgebers« zu berücksichtigen. Als »Wille des Gesetzgebers« sind »die zutage liegende Grundabsicht des Gesetzgebers und diejenigen Vorstellungen, die in den Beratungen der gesetzlichen Körperschaft oder ihrer zuständigen Ausschüsse zum Ausdruck gebracht und ohne Widerspruch geblieben sind«, anzusehen.152 Fraglich ist, ob de lege lata eine Begrenzung der Vorschrift in dem Sinne vorzunehmen ist, die in dem Bericht des Rechtsausschusses als wünschenswert zugrunde gelegt wird.153 Einige Autoren halten die Neuregelung nämlich für nicht weitgehend genug und lehnen erst recht eine Begrenzung der Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus, also quasi das Hineinlesen weiterer Voraussetzungen, ab. Der hergebrachte Grundsatz, dass keine Partei dem Prozessgegner das Material für seinen Prozesssieg verschaffen müsse, sei überholt und daher »in die Mottenkiste zu verbannen«154. b)  Vorgeschlagene Einschränkungen Die Auslegung des §  142 ZPO ist im Einzelnen umstritten, wobei hinter den Ansichten in der Regel die grundsätzlich unterschiedlichen Wertungen im Hinblick auf eine Aufklärungspflicht der Parteien stehen. Die schon lange geführte Kontroverse über die Notwendigkeit einer generellen Aufklärungspflicht der Parteien setzt sich hier – in aktualisierter Form – fort.155 Aufgrund der Befürchtungen, über eine Anordnung nach §  142 Abs.  1 ZPO könnten discovery-Elemente in den deutschen Zivilprozess getragen und der Verhandlungsgrundsatz partiell obsolet werden, werden Einschränkungen der Reichweite der Vorschrift vorgeschlagen. Neben der Frage, ob §  142 ZPO überhaupt Beweiszwecken dienen kann oder lediglich ein Instrument der materiellen Prozessleitung darstellt, wird eine Einschränkung im Verhältnis zu §§  422, 423 ZPO diskutiert.

  Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  121.   G. Wagner JZ 2007, 706, 708. 152   Larenz, S.  329. 153   G. Wagner JZ 2007, 706, 708. 154   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4. 155   G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801, 814: §  142 ZPO sei »nur die Spitze des Eisbergs«. 150 151

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aa)  Beschränkung auf Funktion der materiellen Prozessleitung Bei der Anordnung nach §  142 Abs.  1 ZPO handelt es sich um eine Maßnahme der materiellen Prozessleitung.156 Die Vorschrift soll die Aufklärungsmöglichkeiten der Gerichte stärken, indem sie dem Richter einen frühzeitigen Überblick über den Prozessstoff und damit ein besseres Verständnis des Streits ermöglicht.157 Fraglich ist, ob das die alleinige Funktion der Vorlageanordnung bildet. Nach Gruber/Kießling handelt es sich bei §  142 ZPO um ein reines Instrument der materiellen Prozessleitung, nicht hingegen um eine Vorschrift mit beweisrechtlichem Bezug.158 Eine Urkundenvorlage nach §  142 ZPO komme nur zur Information des Gerichts bei unklarem oder lückenhaftem Tatsachenvortrag außerhalb des Beweisrechts, mithin bei unstreitigem Tatsachenvortrag der Parteien, in Betracht.159 Bei streitigem Vortrag sei auf die Vorschriften der §§  422 ff. ZPO abzustellen.160 Nur so könne eine sachgerechte Abgrenzung des §  142 ZPO zu §§  422 ff. ZPO erfolgen. Eine solche Auslegung hätte den Vorteil, dass sich die Frage nach den genauen Grenzen der Vorschrift und einer unzulässigen Ausforschung der Parteien nicht stellte. Eine Diskussion darüber, ob mit der Neufassung des §  142 ZPO systemwidrig Elemente einer discovery amerikanischer Lesart in das deutsche Prozessrecht eingeführt worden sind,161 würde sich erübrigen.162 Das hätte zur Folge, dass §  142 ZPO in der Praxis quasi funktionslos wäre. Gruber/Kießling nehmen das gerne in Kauf, weil sie an dem Grundsatz, dass keine Partei gehalten sei, dem Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt,163 festhalten wollen.164 Für ihre Sichtweise kann die systematische Stellung bei den Vorschriften über die Prozessleitung angeführt werden. Nach dem Sinn und Zweck sowie dem gesetzgeberischen Willen ist eine solche Begrenzung hingegen nicht anzunehmen. §  142 ZPO wurde vor der Reform nicht nur die Funktion zugemessen, unklares und lückenhaftes Vorbringen der 156   Greger, in: Zöller, §   142 Rn.   1; allgemein zur materiellen Prozessleitung Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  190 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  15 ff. und §  78 Rn.  24 ff. 157   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78. 158   Gruber/Kießling ZZP 116 (2003), 305, 314 ff.; a. A. Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  1; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  1; Smid, in: Wieczorek/Schütze, §  142 Rn.  1; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  1; Wöstmann, in: HkZPO, §  142 Rn.  1. 159   Gruber/Kießling ZZP 116 (2003), 305, 315. 160   Gruber/Kießling ZZP 116 (2003), 305, 315. 161   So die Interpretation von Oberheim JA 2002, 408, 412. 162   Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 520. 163   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205; grundlegend BGH NJW 1958, 1491, 1492. 164   Gruber/Kießling ZZP 116 (2003), 305, 312 ff.

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Parteien aufzuklären, sondern auch eine Beweiserhebung durch Urkunden vorzubereiten.165 Dass diese Doppelfunktion durch die Reform abgeschafft werden sollte, ist nicht ersichtlich. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll die Änderung der Vorschrift die Aufklärungsmöglichkeiten der Gerichte stärken, indem sie dem Richter einen frühzeitigen Überblick über den Prozessstoff ermöglicht. Die prozessualen Aufklärungs- und Vorlagepflichten sollten erweitert werden, insbesondere im Hinblick darauf, dass eine Überprüfung der festgestellten Tatsachen in der Berufungsinstanz nur noch bei konkreten Zweifeln an ihrer Richtigkeit oder Vollständigkeit erfolgt (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO).166 Gegen eine sehr enge Auslegung spricht ebenfalls die Verbindung von §  142 ZPO mit den Vorschriften über die Anordnung der Vorlegung nach §§  422 ff. ZPO. Nach §  428 ZPO wird bei Urkunden im Besitz eines Dritten der Beweis durch den Antrag angetreten, zur Herbeischaffung der Urkunde eine Frist zu bestimmen oder eine Anordnung nach §  142 ZPO zu erlassen. Die Möglichkeit des Beweisantritts durch den Antrag einer Anordnung nach §  142 ZPO ist durch das ZPO-Reformgesetz eingefügt worden. Daraus ergibt sich, dass §  142 ZPO eine beweisrechtliche Komponente beinhaltet, denn ansonsten wäre der Bezug auf §  142 ZPO nicht zu erklären.167 Eine gespaltene Auslegung dahin gehend, dass §  142 ZPO nur im Fall der Anordnung gegenüber Dritten als Beweisnorm anzusehen ist, dagegen nicht bei einer Anordnung an die Parteien, erscheint weder zweckmäßig noch findet eine solche Differenzierung eine Stütze im Wortlaut des §  142 ZPO.168 Die Ansicht von Gruber/Kießling ist geprägt von der Absicht, rechtspolitisch unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden.169 Die Auslegung der Vorschrift muss sich jedoch an die geltenden gesetzlichen Grundlagen halten. Aufgrund der angeführten Argumente ist eine Anordnung nach §  142 ZPO bei streitigem Tatsachenvortrag zulässig. Eine Anordnung der Urkundenvorlage kann daher in Grenzen, die noch zu konkretisieren sind, der Bereitstellung von Beweismitteln dienen. Folgerichtig ist der BGH einer Interpretation der Neufassung als ein rein prozessleitendes Instrument entgegengetreten.170

165  BGH NJW 2000, 3488, 3490; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  1; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  1; Kapoor, S.  36; ausführlich zur alten Fassung Peters, Richterliche Hinweispflichten, S.  15 f. und 33 ff. 166   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  61. 167   G. Wagner JZ 2007, 706, 710; ähnlich Binder ZZP 122 (2009), 187, 216. 168   Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 521. 169   G. Wagner JZ 2007, 706, 710. 170   BGH NJW 2007, 155; ebenso Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  1; ders., in: FS Gerhardt, S.  563, 567 ff.; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1; Binder ZZP 122 (2009), 187, 216; Greger DStR 2005, 479, 481.

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bb)  Übertragung der Voraussetzungen des Urkundenbeweises Beinhaltet §  142 ZPO eine beweisrechtliche Komponente, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu §§  422, 423 ZPO. Nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht kann eine Vorlageanordnung nach §  142 ZPO gegenüber dem Gegner, der nicht beweispflichtig für die aufzuklärende Tatsache ist, nur in den Grenzen der §§  422, 423 ZPO erfolgen.171 Allein die Bezugnahme der nicht besitzenden Partei könne die Vorlageanordnung nicht rechtfertigen. Es sei nämlich unter diesen Umständen eine Diskrepanz zu §§  422, 423 ZPO gegeben. Die Diskrepanz trete freilich nur bei der Vorlageanordnung gegenüber der nicht beweispflichtigen Partei auf.172 Bei der Vorlageanordnung gegenüber der beweispflichtigen Partei sei eine Diskrepanz zu §§  422, 423 ZPO nicht zu befürchten, weil diese Vorschriften nur bei einem Beweisantrag der beweisbelasteten Partei griffen. Trägt die Partei selbst die Beweislast, wird sie die Urkunden ferner bereits in ihrem eigenen Interesse vorlegen. Letztlich erfolgt eine Bezugnahme wohl nur, wenn der Inhalt der Urkunde der beweisbelasteten Partei zum Vorteil gereichen würde. Ansonsten dürfte eine Bezugnahme durch die beweisbelastete Partei auf eine in ihren Händen befindliche Urkunde nicht praktisch relevant werden.173 Das Konkurrenzverhältnis des §  142 ZPO zu §§  422, 423 ZPO, welches bestehe, wenn sich die Vorlageanordnung an die nicht beweispflichtige Partei richte, sei aufzulösen, indem die Voraussetzungen der §§  422, 423 ZPO in §  142 ZPO hineinzulesen seien. §§  422, 423 ZPO seien im Zuge der ZPO-Reform nicht geändert worden, weil man weiterhin auf einen materiellrechtlichen Anspruch auf Vorlage oder die Bezugnahme des Gegners selbst auf die Urkunde nicht habe verzichten wollen. Erst recht sei es nicht einzusehen, bei einer amtswegigen Vorlageanordnung die Bezugnahme allein ausreichen zu lassen.174 Daher soll der Richter eine Anordnung nach §  142 ZPO nur erlassen können, wenn entweder ein materiellrechtlicher Herausgabe- oder Vorlageanspruch des Beweisführers bestehe oder der Gegner selbst auf die Urkunde Bezug genommen habe. Diesem Ansatz ist entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des §  142 ZPO eine Erweiterung der Anordnungskompetenz des Richters anstrebte.175 Der Wortlaut beinhaltet keine Einschränkung. Voraussetzungen sind ein substantiierter Parteivortrag und die Bezugnahme durch eine Partei. 171   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §   142 Rn.   6; Leipold, in: Stein/Jonas, §   142 Rn.  20 f.; Smid, in: Wieczorek/Schütze, §  142 Rn.  13; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  10; ebenfalls OLG Frankfurt OLGR 2007, 466 ff. (mit Zulassung der Revision aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Auslegung des §  142 Abs.  1 S.  1 ZPO). 172   Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 582. 173   Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 580 ff. 174   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  20. 175   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78 und 92.

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Die Anordnungskompetenz besteht gegen die nicht beweisbelastete Partei und unabhängig von einem materiellrechtlichen Herausgabeanspruch.176 Für diese Sichtweise spricht zudem die Vorschrift des §  429 ZPO. Nach dessen S.  1 ist ein Dritter aus denselben Gründen wie der Gegner des Beweisführers zur Vorlegung einer Urkunde verpflichtet, d. h. bei Bestehen eines materiellrechtlichen Vorlageanspruchs nach §  422 ZPO. Ausdrücklich wird in §  429 S.  2 betont, dass §  142 ZPO unberührt bleibt. Daraus ergibt sich, dass eine richterliche Anordnung nach §  142 ZPO ohne materiellrechtliche Vorlagepflicht des Dritten ergehen kann. Die Anordnungskompetenz nach §  142 ZPO gegenüber einem Dritten unabhängig von einem materiellrechtlichen Vorlageanspruch wird auch von denjenigen Vertretern anerkannt, die §  142 ZPO für die Anordnung gegenüber einer Partei beschränken wollen.177 Eine gespaltene Anwendung erscheint jedoch nicht sachgerecht.178 Vielmehr ist im Wege eines Erst-recht-Schlusses davon auszugehen, dass von einer Partei die Vorlage unabhängig von einem materiellrechtlichen Anspruch verlangt werden kann.179 Für eine Einschränkung des Wortlauts des §  142 ZPO gibt es keine Grundlage. Dies bedeutet entgegen der kritischen Stimmen nicht, dass ein Wertungswiderspruch zu §§  422, 423 ZPO hervorgerufen würde. Über jene Vorschriften wird eine Vorlegungspflicht begründet, wenn die weitergehenden Voraussetzungen der Normen erfüllt sind. Anders als im Rahmen des §  142 ZPO erfolgt keine Ermessensentscheidung des Gerichts. Die Anordnungskompetenz unabhängig von einem materiellrechtlichen Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch führt nicht zu einer Verletzung des Geheimnis- und Persönlichkeitsschutzes der von der Anordnung betroffenen Partei. Ihre berechtigten Belange können im Rahmen der Ermessensentscheidung des Gerichts berücksichtigt werden; gegebenenfalls sind dort Erweiterungen zum Schutz der Geheimhaltungsinteressen notwendig.180 cc) Ergebnis Die Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO ist nicht lediglich ein Instrument der materiellen Prozessleitung. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs kann nicht über eine Übertragung der Voraussetzungen des Ur176   BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2991 f. = ZZP 120 (2007), 512, 515 f. mit zustimmender Anmerkung Völzmann-Stickelbrock; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  2 ; Reichold, in: Thomas/Putzo, §  142 Rn.  1; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1; Drenckhahn, S.  91 f., 103 ff.; Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572 f.; G. Wagner JZ 2007, 706, 710; Zekoll/Bolt NJW 2002, 3129, 3130. 177   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §   142 Rn.   6; Leipold, in: Stein/Jonas, §   142 Rn.  20 f.; ders., in: FS Gerhardt, S.  563, 576, 583; Smid, in: Wieczorek/Schütze, §  142 Rn.  13; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  12. 178   G. Wagner JZ 2007, 706, 710. 179   Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1640. 180   Siehe §  7 II. 3. d) und §  8 II.

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kundenbeweises erreicht werden. Ansatzpunkt für eine sachgerechte Auslegung des §  142 ZPO können damit nicht über den Wortlaut hinausgehende Beschränkungen sein, sondern die Konkretisierung der Voraussetzungen. c)  Voraussetzungen der Vorlageanordnung Auch bei denjenigen Autoren, die eine Eingrenzung des §  142 ZPO über den Wortlaut hinaus nicht für erforderlich halten, ruft der weite Wortlaut des §  142 ZPO die Befürchtung hervor, dass das gesetzliche Instrumentarium mit dem herkömmlichen deutschen Prozessrechtsverständnis nicht zu vereinbarende Ergebnisse ermögliche.181 Die Anordnungsbefugnis müsse durch das Ausforschungsverbot begrenzt werden.182 Der Verhandlungsgrundsatz gebiete die Einführung bestimmter Tatsachen in den Prozess, über die im Bestreitensfalle Beweis zu erheben sei. Eine Tatsachenermittlung könne nicht erst über die Beweiserhebung stattfinden.183 Hingegen soll etwa nach Schlosser die Vorlagepflicht einer (vernünftig begrenzten) Ausforschungsmöglichkeit dienen.184 Verlangt wird von der Rechtsprechung ein schlüssiger, auf konkrete Tatsachen bezogener Vortrag einer Partei.185 Ausreichend ist neben einer ausdrücklichen Bezugnahme ein konkludenter Hinweis auf eine Urkunde.186 Doch welche Anforderungen werden an eine Bezugnahme genau gestellt? Reicht es aus, dass die Partei das Vorhandensein einer Urkunde (nur) vermutet? Oder muss sie Kenntnis von der Existenz haben und dementsprechend genaue (inhaltliche) Ausführungen zu der Urkunde machen? Der Wortlaut des §  142 ZPO lässt es jedenfalls zu, dass Urkunden von einer Anordnung erfasst werden, deren Existenz nicht sicher ist, aber sich doch vermuten lässt, weil sie regelmäßig existieren.187 aa)  Das Ausforschungsverbot Nach allgemeinem Verständnis liegt ein Ausforschungsbeweis188 vor, wenn über die Beweisaufnahme Tatsachen in Erfahrung gebracht werden sollen, die ein 181   Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 585; Greger DStR 2005, 479, 484; Prütting AnwBl 2008, 153, 158; Saenger ZZP 121 (2008), 139, 151. 182   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1; Drenckhahn, S.  111 ff.; Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 569, 576; G. Wagner JZ 2007, 706, 712; Zekoll/Bolt NJW 2002, 3129, 3130. 183   BGH NJW 1958, 1491, 1492 = JZ 1958, 541, 542; NJW 1964, 1179; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, §  116 Rn.  18. 184   Schlosser JZ 2003, 427, 428; de lege ferenda dafür plädierend Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4. 185   BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 515. 186   Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  6 ; Kapoor, S.  175; Saenger ZZP 121 (2008), 139, 147. 187   Saenger ZZP 121 (2008), 139, 148. 188  Anstelle des Begriffs des Ausforschungsbeweises werden auch die Begriffe Ausforschungsantrag oder Beweisermittlungsantrag verwendet; Leipold, in: Stein/Jonas, §   284 Rn.  42; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  116 Rn.  14, die freilich für einen Unterfall den Begriff

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genaueres Vorbringen oder die Benennung weiterer Beweismittel erst ermöglichen.189 Über den konkreten Inhalt des Ausforschungsverbots herrscht keine Klarheit. Unter der Thematik des Ausforschungsbeweises werden drei Konstellationen gefasst,190 denen aufgrund der Unkenntnis einer Partei ein Ausforschungselement immanent ist.191 Ein darauf gerichteter Antrag ist nicht per se unzulässig,192 sondern insoweit ist zu differenzieren. (1)  Bestimmtheit der Tatsachenbehauptung und des Beweismittels Die Behauptung der Tatsache sowie die Bezeichnung des Beweismittels müssen hinreichend bestimmt erfolgen.193 Insoweit greift das allgemeine Substantiierungserfordernis ein. Es handelt sich nicht um ein besonderes Problem des §  142 ZPO, sondern um eine allgemeine Anforderung an einen Beweisantrag der Parteien.194 Das Erfordernis der bestimmten Bezeichnung des Beweisthemas ergibt sich bereits daraus, dass ansonsten eine sinnvolle Beweiserhebung nicht möglich wäre.195 Darüber hinaus kann das Gericht ohne bestimmten Parteivortrag nicht beurteilen, ob es sich um erheblichen Vortrag handelt.196 Schließlich ist eine Erwiderung des Prozessgegners nur auf bestimmte Tatsachenbehauptungen zumutbar. Gegenüber pauschalen Behauptungen ist für ihn nicht absehbar, welche Tatsachen als zugestanden anzusehen sind, wenn er nicht bestreitet (§  138 Abs.  3 ZPO).197 Die fehlende Substantiierung wird ihre Ursache häufig in mangelnder Kenntnis haben und deswegen auf die Ermittlung unbekannter Tatsachen hinauslaufen.198 Durch das Bestimmtheitsgebot werden Ausforschungsbeweise quasi als Reflex verhindert.199 Die entsprechenden Anträge sind nicht aufgrund eines

Beweisermittlungsantrag verwenden; Lüderitz, S.  4 4; Kapoor, S.  91 f.; siehe auch Chudoba, S.  19. 189   Foerste, in: Musielak, §  284 ZPO Rn.  17. 190   So ebenfalls die Einordnung etwa bei Peters, Ausforschungsbeweis, S.  14 ff.; Chudoba, S.  60 f.; Osterloh-Konrad, S.  95 ff.; ähnlich Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  116 Rn.  14 ff. 191   Osterloh-Konrad, S.  94. 192   BGH NJW 2001, 2327, 2328; siehe auch Brehm, S.  100 ff.; Chudoba, S.  194; offen lassend Arens ZZP 96 (1983), 1, 4 ff. 193   BGH NJW 1972, 249, 250; 1974, 1710, 1711. 194   BGH NJW 1972, 249, 250; Peters, Ausforschungsbeweis, S.  63 ff. 195   Chudoba, S.  82. 196   BGH NJW 1991, 2707, 2709; 1992, 1967, 1968. 197   Chudoba, S.  103. Das Argument von Osterloh-Konrad, S.  95, dass der Gegner anderenfalls kaum in der Lage wäre, einen Gegenbeweis zu führen, ohne seinerseits gegebenenfalls ungünstige Tatsachen zu offenbaren, verfängt so nicht. Es handelt sich nämlich dabei gerade um die Konsequenz, dass eine Ausforschung verhindert wird, nicht um die Begründung; das wäre ein Zirkelschluss. 198   Osterloh-Konrad, S.  95. 199   Osterloh-Konrad, S.  96.

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prozessualen Ausforschungsverbots unzulässig, sondern aufgrund der fehlenden Substantiierung.200 (2)  Behauptungen »ins Blaue hinein« Die zweite Gruppe erfasst Behauptungen »ins Blaue hinein«, die eine Partei ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich »aufs Geratewohl« aufstellt.201 Das Verbot des Ausforschungsbeweises wird als Argument für die Unzulässigkeit eines darauf gestützten Beweisantrags angeführt, vorrangig wird aber auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs rekurriert.202 Aus diesem Grund ist Zurückhaltung bei der Zurückweisung eines Beweisantrags geboten. Willkür und damit ein Rechtsmissbrauch ist nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen.203 Das Vorbringen einer Partei kann nicht deshalb zurückgewiesen werden, weil sie über die Tatsachen selbst keine Detailkenntnis besitzt, sondern sie deren Vorliegen lediglich für wahrscheinlich oder möglich hält. Die Wahrheitspflicht der Parteien (§  138 Abs.  1 ZPO) verbietet es, Behauptungen entgegen positivem Wissen oder persönlicher Überzeugung aufzustellen. Hingegen wird eine Partei mangels genauer Kenntnis oftmals Tatsachen behaupten müssen, die sie nach Lage der Dinge lediglich für wahrscheinlich hält oder vermutet.204 In diesem Fall muss die genaue Klärung des Sachverhalts einer Beweis­ erhebung zugänglich sein.205 Es ist das legitime Interesse einer Partei, die vollständige Aufklärung des Sachverhalts anzustreben.206 Eine Beweiserhebung über eine lediglich vermutete Tatsache führt nicht – jedenfalls nicht zwangsläufig – zur Ermittlung weiterer Tatsachen. Behauptungen »ins Blaue hinein« liegen nur vor, wenn sie zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet sind (insoweit also substantiiert erscheinen) 207, diese aber in Wirklichkeit aus der Luft gegriffen sind.208 Beruht die Behauptung hingegen auf greifbaren Anhaltspunkten und ist nicht abwegig, ist   Peters, Ausforschungsbeweis, S.  63 ff.; Osterloh-Konrad, S.  96.   BGH NJW-RR 2003, 69, 70; NJW 1995, 2111, 2112; NJW-RR 1991, 888, 891; Kiethe JZ 2005, 1034, 1035 f. 202   BVerfG NJW 2003, 2976, 2977; BGH NJW 1992, 1967, 1968; NJW-RR 2003, 491. 203   BGH NJW 1992, 1967, 1968. 204   BGH NJW 1995, 2111, 2112; NJW-RR 2003, 491; Foerste, in: Musielak, §  284 Rn.  15, 18. 205   Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  50. 206   BGH NJW 1989, 2947, 2948. 207   Die Fallgruppe der Behauptungen »ins Blaue hinein« steht in einem engen Zusammenhang mit der Fallgruppe der unbestimmten Tatsachenbehauptungen, weil Aussagen »ins Blaue hinein« häufig auch unbestimmt sein werden. Sie sind dann noch nicht einmal in das Gewand einer bestimmten Behauptung gekleidet; Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  50; Baumgärtel MDR 1995, 987. 208   BVerfG NJW 2003, 2976, 2977. A. A. Peters, Ausforschungsbeweis, S.  90 ff., denn es sei gerade Zweck der Beweisaufnahme, den Sachverhalt zu klären; daher müsse das Gericht an der Aufklärung mitwirken und abwarten, ob sich die Behauptungen im Beweisverfahren bestätigen. 200 201

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dem Beweisantrag zu entsprechen. Dabei würdigt das Gericht die Tatsachenbehauptung an dem Vortrag selbst und führt keine Beweisaufnahme darüber durch, ob die Anhaltspunkte tatsächlich vorliegen.209 Es soll nur ein offensichtlich willkürlicher und damit missbräuchlicher Vortrag ausgeschieden werden. (3)  Offene Ausforschung Schließlich bleiben die Beweisanträge, denen keine bestimmte Behauptung zugrunde liegt, sondern die darauf abzielen, durch die Beweisaufnahme erst Tatsachen zu erfahren, die sodann als Parteivortrag eingebracht werden.210 Vergleichbar sind die Beweisanträge, die auf die Ermittlung weiterer Beweismittel gerichtet sind, um daraus Erkenntnisse für den Tatsachenvortrag zu gewinnen. Diese Beweisanträge zielen auf eine Ausforschung und sind unzulässig, weil nur bestimmte Behauptungen dem Beweise zugänglich sind.211 Wie in der ersten Fallgruppe fehlt es an einem hinreichend bestimmten Tatsachenvortrag. Der Unterschied liegt in der Offenheit und Direktheit der Ausforschung. Eine Beweisaufnahme in der Hoffnung, es werde sich dabei schon etwas Verwertbares ergeben, würde dem System der Behauptungslast widersprechen.212 Darüber hinaus könnte der Zweck des Beweises, der in der Überprüfung einer relevanten Tatsachenbehauptung liegt, 213 nicht erreicht werden. (4) Fazit Die Ablehnung eines Beweisantrags mit dem Verweis auf das Vorliegen eines Ausforschungsbeweises darf nur zurückhaltend angenommen werden, weil grundsätzlich die Pflicht besteht, die angebotenen Beweise zu erheben.214 Der BGH hat in der Vergangenheit oftmals instanzgerichtliche Entscheidungen aufgehoben, weil Beweisantritte in unzulässiger Weise mit dem Hinweis auf ein Verbot des Ausforschungsbeweises abgelehnt wurden.215 Erst wenn die Beweisaufnahme dazu dient, beweiserhebliche Tatsachen zu erfahren, um sie sodann zur Grundlage eines neuen Prozessvortrags zu machen, liegt ein Ausforschungsbeweis vor.216 Vor diesem Hintergrund ist der Bericht des Rechtsaus  Osterloh-Konrad, S.  101.   BGH NJW 1958, 1491, 1492; bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  116 Rn.  14 als »Beweis­ ermittlungsantrag« bezeichnet; siehe auch Baumgärtel MDR 1995, 987: Beweismittelantrag. 211   A. A. Chudoba, S.  159; Peters, S.  123 ff.; Gamp DRiZ 1982, 165, 171: »Scheinproblem«. 212   Brehm, S.   82; zustimmend Rosenberg/Schwab/Gottwald, §   116 Rn.   18. Beispielhaft BVerfG NJW-RR 1996, 183, 184: an den Sachverständigen zu richtende Fragen nicht genau genannt oder nur beweisunerhebliche Fragen angekündigt. 213   Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  3, 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  111 Rn.  2, 7. 214   Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  42; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  116 Rn.  21. 215   BGH NJW 1980, 633, 634; 1991, 2707, 2709; 1992, 1967, 1968; NJW-RR 2004, 337, 338; dazu Kiethe MDR 2003, 1325 ff. 216   BGH JZ 1985, 183, 184. 209 210

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schusses zu verstehen, in dem hervorgehoben wird, dass über §§  142, 144 ZPO keine (unzulässige) Ausforschung der von einer richterlichen Anordnung betroffenen Partei oder des Dritten bezweckt wird.217 Es geht damit um die allgemeinen Voraussetzungen des Beweisantrags, wo­ raus sich die Bedeutung über die Urkundenvorlage gem. §  142 ZPO hinaus ergibt. Das Bezugnahmeerfordernis verhindert eine Sachverhaltserforschung von Amts wegen.218 Eine Vorlageanordnung setzt dementsprechend einen substantiierten Tatsachenvortrag und die konkrete Bezeichnung der vorzulegenden Urkunde voraus.219 Diese zwei Anforderungen bilden die »Stellschrauben«, über die entschieden wird, ob die Urkundenvorlage erfolgen kann. Damit ist bereits hervorzuheben, dass die Bestimmtheit der Tatsachenbehauptung und die bestimmte Bezeichnung des Beweismittels zu trennen sind. 220 In der Diskussion wird das häufig nicht beachtet.221 bb)  Substantiierter Tatsachenvortrag Voraussetzung für eine Anordnung nach §  142 ZPO ist daher zunächst ein substantiierter Tatsachenvortrag.222 Im Grundsatz ist bereits aufgrund fehlenden substantiierten Parteivortrags gegen eine Partei zu entscheiden, ohne dass eine Anordnung nach §  142 ZPO ergeht. Das System der Lastenverteilung wird durch §  142 ZPO nicht geändert.223 Dabei kann die Partei indessen – wie soeben erläutert – von ihr vermutete Tatsachen behaupten, solange es für die Vermutung greifbare Anhaltspunkte gibt.224 Damit ist allerdings noch nicht geklärt, wie hoch die Anforderungen an den Parteivortrag im Einzelnen sind. (1)  Entwicklung der Rechtsprechung In einem Rechtsstreit über technische Schutzrechte hat der X. Zivilsenat des BGH im Jahre 2006 entschieden, dass es als Anlass für eine Vorlageanordnung ausreichen kann, dass eine Benutzung des Gegenstands des Schutzrechts wahrscheinlich ist.225 Begründet hat der X. Zivilsenat das ausdrücklich mit einer Übertragung der Rechtsprechung des I. Zivilsenats zu §  809 BGB. In dem in   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120.   Ausführlich dazu Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563 ff. (mit ausführlicher Erörterung der diesbezüglichen Diskussion während des Gesetzgebungsverfahrens). 219   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  9 ff.; Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1628. 220  Ausführlich Chudoba, S.  70 ff. einerseits (Beweisantritt), S.  99 ff. andererseits (Substantiierungsgrundsatz). 221   So auch der Befund von G. Wagner JZ 2007, 706, 712. 222   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  9 ; so auch ausdrücklich Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120. 223   Smid, in: Wieczorek/Schütze, §  142 Rn.  5. 224   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  10. 225   BGHZ 169, 30, 37 ff. = NJW-RR 2007, 106, 107 f. = GRUR 2006, 962, 966 f. mit zustimmender Anmerkung Tilmann/Schreibauer. 217 218

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einer Urheberrechtssache ergangenen Faxkarte-Urteil 226 ließ der I. Zivilsenat eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Bestehens des Anspruchs für einen Besichtigungsanspruch aus §  809 BGB ausreichen. Der materiellrechtliche Vorlageanspruch aus §  809 BGB bestehe bereits, wenn ungewiss sei, ob eine Rechtsverletzung vorliege. Das Ausforschungsverbot stehe dem nicht entgegen.227 Diese Grundsätze seien auf die Auslegung des §  142 ZPO in entsprechender Weise zu übertragen. Diese Sichtweise übernahm der X. Zivilsenat nach zwischenzeitlichen Bedenken. Während er in der Druckbalken-Entscheidung228 noch die Wertung des zivilprozessualen Ausforschungsverbots auf §  809 BGB übertragen und daher für den Anspruch auf Vorlegung einer Sache einen erheblichen Grad an Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des zugrunde liegenden Anspruchs verlangt hatte, 229 stimmte er in der Entscheidung aus dem Jahre 2006 den in der Faxkarte-Entscheidung gemachten Ausführungen des I. Zivilsenats zu und übertrug diese Auslegung auf die Anwendung des §  142 ZPO.230 Die aufklärungsfreundliche Sichtweise stützte der X. Zivilsenat nunmehr ebenfalls auf die Vorgaben des Art.  43 TRIPS-Übereinkommen und Art.  6 Enforcement-RL.231 Nach Art.  6 Abs.  1 S.  1 Enforcement-RL stellen die Mitgliedstaaten sicher, »dass die zuständigen Gerichte auf Antrag einer Partei, die alle vernünftigerweise verfügbaren Beweismittel zur Begründung ihrer Ansprüche vorgelegt und die in der Verfügungsgewalt der gegnerischen Partei befindlichen Beweismittel zur Begründung ihrer Ansprüche bezeichnet hat, die Vorlage dieser Beweismittel durch die gegnerische Partei anordnen können, sofern der Schutz vertraulicher Informationen gewährleistet ist.« Voraussetzung für eine solche Anordnung ist lediglich die hinreichende Substantiierung des Anspruchs. Von dem klagenden Patentinhaber könne nicht verlangt werden, dass er als Voraussetzung einer Vorlageanordnung den genauen beweiserheblichen Inhalt der vorzulegenden Urkunde vortrage und nachweise. In Umsetzung der Vorgaben der Enforcement-Richtlinie fügte der deutsche Gesetzgeber für den Bereich des geistigen Eigentums materiellrechtliche Vorlageansprüche nach dem Vorbild des §  809 BGB ein (§  140c PatG, §  24c GebrMG, §  19a MarkenG, §  9 HalblSchG, §  101a UrhG, §  46a GeschmMG, §  37c SortSchG), 232 wobei die Vorlagepflicht von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit abhängt. Der IX. Zivilsenat des BGH betonte in einer Entscheidung im Jahre 2008, dass die Entscheidung des X. Zivilsenats aus dem Jahre 2006 ausdrücklich nur   BGHZ 150, 377 ff. = NJW-RR 2002, 1617 ff.   Tilmann/Schreibauer GRUR 2002, 1015, 1017. 228   BGHZ 93, 191 ff. = NJW-RR 1986, 480 ff. 229   BGHZ 93, 191, 207 = NJW-RR 1986, 480, 483. 230   BGHZ 169, 30 ff. = NJW-RR 2007, 106 ff. 231   BGHZ 169, 30, 39 (Rn.  41) = NJW-RR 2007, 106, 107; siehe bereits zuvor für §  809 BGB BGHZ 150, 377, 385 = NJW-RR 2002, 1617, 1619. 232   Siehe §  4 IV. 226 227

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Rechtsstreitigkeiten über technische Schutzrechte betreffe. 233 Im allgemeinen Zivilrecht sei es hingegen nicht die Aufgabe der Gerichte, den entscheidungserheblichen Sachverhalt durch Beiziehung von Unterlagen Dritter selbst zu ermitteln. Vielmehr setze die Vorlageanordnung ausreichenden Parteivortrag voraus und dürfe nicht in die Ausforschung eines weitergehenden, bis dahin nicht vorgetragenen Sachverhalts ausufern. Auch in der Literatur wird dafür plädiert, die Anforderungen an die hinreichenden Anhaltspunkte für den Tatsachenvortrag nicht zu niedrig anzusetzen, um eine Ausforschung zu vermeiden.234 (2) Würdigung Im Rahmen des §  809 BGB liegt ein substantiierter Tatsachenvortrag vor, wenn die gewisse Wahrscheinlichkeit vorgetragen wurde. Bereits dem Wortlaut des Gesetzes nach greift der Anspruch ein, wenn die Besichtigung erst Gewissheit über das Vorliegen eines Anspruchs verschaffen soll. Der Besichtigungsanspruch besteht in Fällen, in denen ungewiss ist, ob überhaupt eine Rechtsverletzung vorliegt.235 Daher muss als substantiierter Tatsachenvortrag grundsätzlich ausreichen, dass die gewisse Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung vorgetragen wird. Andererseits kann eine Vorlage nicht in Betracht kommen, wenn der Rechtsinhaber erst »in Erfahrung bringen möchte, ob ihm gegen andere Ansprüche ›in Ansehung der Sache‹ zustehen, der sich also durch die Besichtigung der Sache erst die Unterlagen für seine Rechtsverfolgung verschaffen will«.236 Das prozessuale Ausforschungsverbot findet so Eingang in die Anwendung des §  809 BGB. Eingang findet es aber eben erst, wenn die materiellrechtlichen Voraussetzungen des §  809 BGB eigentlich bereits vorliegen. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des BGH einzuordnen, der in einer Schutzrechtssache eine Vorlageanordnung nach §  142 ZPO für zulässig erachtet, wenn die Benutzung des Gegenstands des Schutzrechts »lediglich« wahrscheinlich ist.237 Grund dafür sind allerdings die Besonderheiten der Rechtsstreitigkeiten über technische Schutzrechte. Weil schon der Anspruch nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit voraussetzt, muss dies auch für die Möglichkeit der Vorlageanordnung nach §  142 ZPO gelten. Verlangt der materiellrechtliche Anspruch jedoch nicht nur eine Wahrscheinlichkeit, sondern das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale, so kommt eine Vorlageanordnung erst in Betracht, wenn insoweit ein substantiierter Tatsachenvortrag gegeben ist. Im Ansatz sind daher die Ausführungen des IX. Zivilsenats des BGH folgerichtig, wenn er betont, dass es im allgemeinen Zivilrecht nicht   BGH NZI 2008, 302, 304.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  10; Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572, 574. 235   BGHZ 150, 377, 384 = NJW-RR 2002, 1617, 1619 – Faxkarte. 236  So die im Ausgangspunkt richtigen Erwägungen in der Druckbalken-Entscheidung BGHZ 93, 191, 204 f. = NJW-RR 1986, 480, 482. 237   BGHZ 169, 30, 40 f. = NJW-RR 2007, 106, 107 f. = GRUR 2006, 962, 966 f. 233

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die Aufgabe der Gerichte sei, den entscheidungserheblichen Sachverhalt durch Beiziehung von Unterlagen Dritter selbst zu ermitteln.238 Die weitergehenden Konsequenzen sind allerdings nicht zu unterstützen, denn die mangelnde Fähigkeit zum substantiierten Vortrag und damit einhergehend die Modifikation der Darlegungslast werden nicht beachtet. Als Parteivortrag muss das ausreichen, was die Partei zu leisten imstande ist.239 Wagner möchte die großzügigen Maßstäbe der Rechtsprechung zu §  142 ZPO im Rahmen von Schutzrechtsverletzungen daher auf sämtliche Zivilprozesse erweitern.240 Zwar sieht auch er es als verständlich an, dass die für das Immaterialgüterrecht zuständigen Senate des BGH ihre Rechtsprechung auf diesen Bereich beschränkten, weil ihre Argumentation gerade auf den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik aus Art.  43 TRIPS-Übereinkommen 241 und auf Art.  6 Enforcement-RL beruhe. In anderen Zivilprozessen habe eine erweiternde Auslegung aber ihre Berechtigung. (3) Ergebnis Freilich ist zu konstatieren, dass ein solcher Ansatz de lege lata von der Rechtsprechung nicht verfolgt wird. Außerhalb besonderer Fälle, etwa in Schutzrechtsstreitigkeiten wird es als nicht ausreichend erachtet, dass ein Anspruch wahrscheinlich besteht. Fehlt insoweit die Fähigkeit zum substantiierten Vortrag oder möchte eine Partei nicht detaillierter vortragen, ergeht eine Anordnung nach §  142 ZPO nicht – jedenfalls außerhalb der Rechtsstreitigkeiten über technische Schutzrechte ist das die Rechtslage. Diese Rechtslage de lege lata führt zu Schutzlücken. Ein befriedigendes Regime stellt die aktuelle Rechtslage in der von der Rechtsprechung vorgenommenen Handhabung nicht dar. cc)  Bestimmte Bezeichnung der Urkunde Der Wortlaut des §  142 ZPO ermöglicht die Vorlageanordnung in Bezug auf Urkunden und sonstige Unterlagen. Nähere Vorgaben bezüglich der Konkretisierung finden sich im Wortlaut der Vorschrift nicht. Einerseits muss es der besitzenden Partei möglich sein, die Urkunde zu identifizieren. Andererseits wird man nicht verlangen können, dass die Urkunde bis in das letzte Detail beschrieben wird. Handelt es sich um eine Urkunde, die die beweisführende Partei nicht in den Händen gehalten hat, kann sie genaue Angaben zu den Details nicht

  BGH NZI 2008, 302, 304.   G. Wagner JZ 2007, 706, 714. 240   G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801, 806; ders. JZ 2007, 706, 715. 241   Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, BGBl.  II 1994, S.  1730 ff. 238 239

§  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten

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machen. Es müssen daher allgemeine Beschreibungen und inhaltliche Angaben genügen.242 Die Schwierigkeit der Konkretisierung der Anforderungen an die Bezeichnung der Urkunde zeigt eine Entscheidung des LG Ingolstadt 243. Der Beklagte behauptete werterhöhende Leistungen des Vormieters, die auf ihn »im Wege der Einzelrechtsnachfolge i. S. von §  25 Abs.  1 S.  2 HGB« übergegangen seien. Seitens des Klägers wurde bestritten, dass die Leistungen von der Vormieterin erbracht worden waren. Der Kläger stützte seine Behauptung auf die handelsrechtlichen Abschlüsse der Vormieterin, in denen eine entsprechende Forderung gegen den Vermieter nicht bilanziert wurde. Der Beklagte machte zum Nachweis der erbrachten Leistung dieser Aufwendungen geltend, dass entsprechende Unterlagen in einem Leitz-Ordner der Vormieterin mit der Rückenaufschrift »Bürogebäude« enthalten seien. Dieser Ordner befand sich seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Vormieterin bei deren Insolvenzverwalter. Das Landgericht ordnete die Vorlage des Ordners durch den Insolvenzverwalter an. Nach Weigerung des Insolvenzverwalters bestätigte das Gericht dessen Verpflichtung in einem Zwischenurteil.244 Es stellte darauf ab, dass die beweisbelastete Beklagte durch einen substantiierten Vortrag dargelegt habe, dass zum Nachweis ihrer Behauptung zum Beweis geeignete Unterlagen in dem benannten Ordner vorhanden seien. Uhlenbruck wirft die Frage auf, ob die Vorlageanordnung die Grenze zum Ausforschungsbeweis überschritten habe. 245 §  142 ZPO verlange zwar nur noch die Kenntnis vom Inhalt der Urkunde und die Bezeichnung, es sei aber zweifelhaft, ob Urkunden in die Anordnung einbezogen werden könnten, von denen (lediglich) zu vermuten sei, dass sie existieren. Nach seiner Ansicht ist im konkreten Fall kein unzulässiger Ausforschungsbeweis gegeben, weil man davon ausgehen könne, dass der Ordner verfahrensrelevante Unterlagen enthalte. Nach Leipold hätte hingegen keine Anordnung nach §  142 ZPO ergehen dürfen, weil zwar der vorzulegende Aktenordner bestimmt bezeichnet sei, nicht hingegen die einzelnen Unterlagen nach Art und Inhalt.246 Darüber hinaus habe es an konkreten Tatsachenbehauptungen gefehlt. Prütting lehnt die Entscheidung des LG Ingolstadt ab, weil es sich um eine Heranziehung des §  142 ZPO zur Überwindung lückenhaften Tatsachenvortrags handele. Zwei Fragen sind – wie bereits betont – zu trennen: Zum einen geht es um die hinreichende Substantiierung des Parteivortrags, zum anderen um die hinreichend bestimmte Bezeichnung der Urkunde. Eine Vorlageanordnung darf nur erfolgen, wenn ein hinreichend substantiierter Parteivortrag vorliegt. In dem   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4 ; zustimmend Adloff, S.  210.   LG Ingolstadt NZI 2002, 390. 244   LG Ingolstadt ZInsO 2002, 990 ff. 245   Uhlenbruck NZI 2002, 589, 590. 246   Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 572 f. 242 243

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Fall des LG Ingolstadt hatte die Beklagte die der Gegenforderung zugrunde liegenden Tatsachen substantiiert vorgetragen. Es sollten nicht Tatsachen überhaupt erst ermittelt werden. Es geht hier um die Konkretisierung der Bezugnahme auf die Urkunde. Richtigerweise weist Uhlenbruck darauf hin, dass Behältnisse oder Ordner weder unter den Begriff der Urkunde noch unter den Begriff der »sonstigen Unterlagen« subsumiert werden können.247 Eine Anordnung nach §  142 ZPO kann sich nur auf konkrete Unterlagen beziehen, weil ansonsten die Grenze zur Vorlage ganzer Dokumentensammlungen nicht mehr zu ziehen wäre. Dabei können sich Unterlagen durchaus in einem Aktenordner befinden und zur Beschreibung kann auf den Aktenordner Bezug genommen werden. Die Unterlagen müssen aber gleichwohl konkret bezeichnet werden. Die Vorlage von Dokumenten, die sich in einem bestimmten Ordner befinden, bedeutet damit keinen Ausforschungsbeweis. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass tatsächlich eine konkrete Bezugnahme erfolgt. In dem Fall des LG Ingolstadt hätte daher auf die sich in dem Ordner befindlichen Unterlagen abgestellt werden müssen. Die konkrete Bezugnahme soll die Ausforschung verhindern, weshalb konkret bezeichnet werden muss, welche Unterlagen vorgelegt werden sollen. Nicht ausreichend kann dementsprechend die Behauptung sein, in einem Ordner würden sich relevante Unterlagen befinden. Die Bezugnahme auf Unterlagen muss zumindest auf greifbaren Anhaltspunkten beruhen. §  142 ZPO dient (jedenfalls de lege lata) nicht dazu, über die Lektüre des Inhalts erst von verfahrensrelevanten Unterlagen Kenntnis zu erlangen. Im Ergebnis war die Vorlageanordnung in dem Fall des LG Ingolstadt rechtmäßig, wobei in der Anordnung auf die Unterlagen an sich, nicht auf den Leitz-Ordner hätte abgestellt werden müssen. Weil sich die Urkunde im Machtbereich des Gegners befindet, dürfen die Anforderungen nämlich nicht überhöht werden.248 Konkrete Anhaltspunkte für die Existenz der Urkunde sowie eine Beschreibung, die die Urkunde identifizierbar werden lässt, genügen. Es ging nicht darum, aus einer Dokumentensammlung erst relevante Urkunden herauszufiltern, sondern die Urkunde war ausreichend beschrieben.249 Daran ändert sich nichts dadurch, dass in Bezug auf ihren »Standort« lediglich angegeben werden konnte, sie befinde sich in einem näher bezeichneten Aktenordner. Die besitzende Partei 250 muss nur diese Urkunde vorlegen und es steht ihr frei, andere Dokumente zu schützen. Wagner sieht keinen unzulässigen Ausforschungsbeweis, wenn der Vortrag hinreichend substantiiert sei und lediglich die individuelle Beschreibung der

  Uhlenbruck NZI 2002, 589, 590.   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4. 249   G. Wagner JZ 2007, 706, 713. 250   In dem konkreten Fall befanden sich die Unterlagen bei einem Dritten, nämlich dem Insolvenzverwalter; LG Ingolstadt ZInsO 2002, 990 ff. 247

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vorzulegenden Urkunde nach Art und Inhalt fehle.251 Freilich kann der Verzicht auf die Notwendigkeit der individualisierenden Beschreibung zur Folge haben, dass eine relativ weitgehende Bezugnahme auf Dokumente erfolgt. Wagner weist zu Recht darauf hin, dass etwa in einem Produkthaftungsprozess gegen einen Autobauer die Vorlage sämtlicher Dokumente betreffend die Konstruktion eines bestimmten Modells gestützt auf §  142 ZPO unzulässig sein wird, allerdings nicht aufgrund fehlender Bestimmtheit, sondern unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit.252 Zusammenfassend möchte Wagner die Anforderungen an die Konkretisierung der Urkunde gering halten und als begrenzendes Element die Zumutbarkeit heranziehen.253 Letztlich dürfte die Lösung in einem Kompromiss liegen: Die generelle Beschreibung der vorzulegenden Urkunde nach Art und Inhalt reicht aus, vor­ gelegt werden müssen aber nur die konkreten Urkunden, nicht ganze Dokumentensammlungen. Die pauschale Anordnung zur Vorlage von Dokumen­ tensammlungen, etwa eines ganzen Ordners mit diversen Urkunden oder Unterlagen, ist unzulässig, 254 wenn die Anordnung ohne Bezug auf den Inhalt erfolgt. Wird jedoch der Inhalt beschrieben und zur Konkretiserung auf den Standort »Ordner« Bezug genommen, steht der Anordnung nach §  142 Abs.  1 ZPO jedenfalls nicht eine fehlende Konkretisierung entgegen. In dem Sachverhalt, der der Entscheidung des BGH vom 26.6.2007 zugrunde liegt, 255 verlangte der Kläger Schadensersatz und Rückabwicklung eines von der Beklagten finanzierten Immobilienkaufs. Der Kläger machte geltend, dass die Beklagte ihm wegen eines vorvertraglichen Aufklärungsverschuldens zum Schadensersatz verpflichtet sei. Die Verkäuferin habe ihm bewusst wahrheitswidrig vollkommen überhöhte Wohnungswerte und erzielbare Mieten vorgespiegelt. Außerdem sei der Kaufpreis für die beiden Eigentumswohnungen mehr als doppelt so hoch wie ihr wirklicher Wert gewesen. Das Berufungsgericht sah den Nachweis, dass der Beklagten eine sittenwidrige Überteuerung des Kaufpreises bekannt war, als nicht geführt an. Die Kenntnis konnte sich aus einem Bewertungsgutachten ergeben, welches die Beklagte über das Objekt besaß. Der Kläger war zum Nachweis der Kenntnis auf die Vorlage des Gutachtens angewiesen. Das Berufungsgericht entschied, dass eine Vorlage nicht erfolgen müsse, wobei es eine Anordnung nach §  142 Abs.  1 ZPO ausweislich der Entscheidungsgründe nicht geprüft hatte.256 Der BGH hingegen urteilte richtigerweise, dass das Berufungsgericht eine Vorlageanordnung nach §  142 ZPO   G. Wagner JZ 2007, 706, 713.   G. Wagner JZ 2007, 706, 713. 253   G. Wagner JZ 2007, 706, 713; dagegen Binder ZZP 122 (2009), 187, 221. 254   Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  2 ; einschränkend Uhlenbruck NZI 2002, 589, 590; a. A. LG Ingolstadt ZInsO 2002, 990. 255   Siehe BGHZ 173, 23 ff. = NJW 2007, 2989 ff. = ZZP 120 (2007), 512 ff. mit zustimmender Anmerkung Völzmann-Stickelbrock. 256   BGHZ 173, 23, 30 (Rn.  18) = NJW 2007, 2989, 2991 = ZZP 120 (2007), 512, 515. 251

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Teil 3:  Information und Offenlegung

hätte prüfen müssen. Die Voraussetzungen des §  142 Abs.  1 ZPO waren gegeben.257 Es lag ein schlüssiger Vortrag des Klägers zu einer sittenwidrigen Überteuerung des Kaufpreises vor. Darüber hinaus hatte sich der Kläger ausdrücklich auf die vorzulegenden Urkunden, nämlich die Einwertungsunterlagen bezogen.258 Insoweit ist zu betonen, dass der Kläger Kenntnis von dem genauen Inhalt der Einwertungsunterlagen nicht hatte, dies aber als Voraussetzung für eine Anordnung nicht notwendig ist. Die bestimmte Bezeichnung der Urkunden erfordert zwar die Angabe des Inhalts.259 Insoweit können aber lediglich allgemeine Angaben erwartet werden, wenn die beweisführende Partei keinen Zugang zu der Urkunde hatte.260 Ausreichend ist, dass das Gericht die mögliche Beweisgeeignetheit der Urkunde beurteilen kann. 261 Aus dem Vortrag der Partei muss sich ergeben, dass die Urkunde relevante Informationen zur Sachverhaltsaufklärung enthält.262 dd) Fazit Eine Partei darf Tatsachen, von denen sie keine Kenntnis hat, sondern die sie lediglich vermutet, behaupten und unter Beweis stellen, wenn für die Richtigkeit ihres Vorbringens hinreichende Anhaltspunkte bestehen.263 Die Anforderungen an den Vortrag dürfen nicht überspannt werden. Es kann durchaus vorkommen, dass eine Partei einen Beweisantrag hinsichtlich solcher Tatsachen stellt, über die sie kein zuverlässiges Wissen besitzt und nicht erlangen kann.264 Es ist damit vorgegeben, dass es sich bei den behaupteten Tatsachen teilweise um Vermutungen handelt, denn die Partei ist aus ihrer Unkenntnis heraus gezwungen, vermutete Tatsachen zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Allein dieser Umstand darf die Unzulässigkeit des Beweisantrags jedoch nicht begründen.265 Dementsprechend darf auch eine Vorlageanordnung von Amts wegen nach §  142 ZPO, die auf vermuteten Tatsachenbehauptungen beruht, nicht aus diesem Grund unterbleiben. Die Voraussetzungen des substantiierten Tatsachenvortrags und der bestimmten Bezeichnung der Urkunde dürfen nicht überhöht werden. Eine Anordnung ist aber nicht möglich, wenn eine Partei zu einem substantiierten Vortrag nicht in der Lage ist, weil ihr dazu die Informationen aus der Urkunde fehlen. Ebenfalls muss eine Anordnung unterbleiben, 257   Das Berufungsgericht hätte sodann von seinem Ermessen Gebrauch machen müssen; die Ermessenserwägungen konnte der BGH nicht anstellen. 258   BGHZ 173, 23, 32 (Rn.  22) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 516. 259   Kapoor, S.  222; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4. 260   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4 ; G. Wagner JZ 2007, 706, 712 f. 261   Kapoor, S.  222. 262   BGH NJW-RR 2008, 865; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  7. 263   BGH NJW 2001, 2327, 2328. 264  BGH NJW-RR 1988, 1529; Prütting, in: MünchKommZPO, §  284 Rn.  79; entgegen Adloff, S.  245 besteht dann auch keine Widersprüchlickeit des Systems. 265   G. Wagner JZ 2007, 706, 712.

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wenn konkrete Anhaltspunkte für die Existenz von Urkunden nicht vorhanden sind oder eine wenigstens allgemeine Beschreibung der Urkunden nicht möglich ist. Insoweit wäre auf andere – gegebenenfalls noch zu entwickelnde – Institute zurückzugreifen. d)  Grenzen der Anordnungsbefugnis Grenzen der Anordnungsbefugnis können aus den dargelegten Gründen nicht gezogen werden, indem in den Wortlaut weitere Voraussetzungen aus §§  422, 423 ZPO hineingelesen werden. Grenzen der Anordnung der Urkundenvorlage sind ausdrücklich nur gegenüber Dritten geregelt (§  142 Abs.  2 ZPO). Dritte sind zur Vorlegung nicht verpflichtet, soweit ihnen diese nicht zumutbar ist oder sie zur Zeugnisverweigerung nach §§  383 bis 385 ZPO berechtigt sind. Mangels ausdrücklicher Weigerungsrechte oder Unzumutbarkeitsgründe muss »Einfallstor« für die Berücksichtigung der Geheimhaltungsinteressen der Parteien de lege lata das Ermessen sein.266 Nach mittlerweile ganz herrschender Meinung beinhaltet die Vorschrift des §  142 ZPO nicht lediglich eine Zuständigkeitsregelung, 267 sondern stellt die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts.268 Über die Bestimmung der Grenzen besteht bislang keine Einigkeit, doch ist insoweit gerade Klarheit notwendig, weil die Folgen einer Anordnung oder einer unterlassenen Anordnung sehr weitgehend erscheinen.269 aa)  Richterliche Ermessensausübung Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des §  142 ZPO vor, hat das Gericht eine Vorlageanordnung in Betracht zu ziehen. Ansonsten liegt bereits ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vor.270 Für die Ermes­ sensausübung stellt das Gesetz keine Kriterien zur Verfügung. Die Ermessensausübung muss sich an dem Normzweck und der Bedeutung der Norm im Gefüge der ZPO orientieren.271 Innerhalb des Ermessens soll den gegenläufigen Interessen der Parteien durch eine Abwägung Rechnung getragen werden.272   Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; G. Wagner JZ 2007, 706, 715.   So noch Stimmen im früheren Schrifttum; Nachweise bei Peters, Richterliche Hinweis­ pflichten, S.  145 i. V. mit S.  13 ff. 268  BGHZ 66, 62, 68 = NJW 1976, 715, 716 (zu §  144 Abs.  1 ZPO); BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 515; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  142 Rn.  5 ; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  6 ; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1; Wöstmann, in: Hk-ZPO, §  142 Rn.  1; Habscheid ZZP 96 (1983), 306, 309. In der Revision ist die Ermessensausübung nur beschränkt überprüfbar; so bereits RGZ 109, 66, 68; BGHZ 23, 175, 183; NJW 1982, 1765; Heßler, in: Zöller, §  546 Rn.  14. 269   G. Wagner JZ 2007, 706, 719. 270   BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  21 f.) = NJW 2007, 2989, 2992 f. = ZZP 120 (2007), 512, 515 f.; Kapoor, S.  227; Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 524 f. 271   Dazu generell Stickelbrock, S.  589 ff. 272   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120. 266 267

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Der Richter wird einerseits das Interesse an der Ermittlung der materiellen Wahrheit, andererseits das Interesse der nicht risikobelasteten Partei an dem Schutz ihrer Dokumente in die Abwägung einzustellen haben. Die Effizienz des Verfahrens kann ein leitender Gesichtspunkt sein, wobei die Urkundenvorlage zur Effizienz beitragen, allerdings ebenso das Gegenteil bewirken kann.273 Eine frühzeitige Vorlage kann einen umfassenden Überblick des Gerichts über den Sachverhalt ermöglichen, sie kann hingegen auch zu einer Verzögerung des Verfahrens führen, weil eine zeitaufwendige Beweisaufnahme folgt. Die Abkürzung des Verfahrens, etwa durch Vermeidung eines weiteren Verhandlungstermins, durch eine von Amts wegen erfolgende Anordnung der Urkundenvorlegung kann ein in die Überlegungen des Richters einfließender Gesichtspunkt sein.274 Als weitere Gesichtspunkte, die im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden müssen, sind zu nennen: 275 Erwarteter Erkenntniswert und Verhältnismäßigkeit, das Geheimhaltungsinteresse und der Persönlichkeitsschutz der Partei, der Schutz der Vertrauenssphäre zwischen Anwalt und Mandant 276 . Ein erwarteter Erkenntnisgewinn für das Gericht kann bei unbestrittenem Parteivortrag Anlass für die Anordnung der Urkundenvorlegung sein, denn die Vorlage soll dem Richter ein besseres Verständnis des Streits ermöglichen.277 Verspricht sich das Gericht somit einen deutlichen Erkenntnisgewinn, ist das als ein für die Anordnung sprechender Gesichtspunkt in die Abwägung einzubeziehen. bb)  Ermessensreduzierung auf Null Eine Ermessensreduzierung auf Null ist anzunehmen, wenn die Urkundenvorlage die einzige Möglichkeit der Beweisführung für die Partei darstellt. 278 Darüber hinausgehend möchten einige Autoren bereits eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zur Anordnung annehmen, wenn die Urkunde genau bezeichnet ist und nicht bestimmte Ausnahmefälle vorliegen.279 Dafür spricht, dass das Gericht ansonsten bewusst auf eine Erkenntnismöglichkeit verzichtet, obwohl der Gesetzgeber gerade eine bessere Sachverhaltsaufklärung   Saenger ZZP 121 (2008), 139, 148.   Kapoor, S.  231. 275   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120; BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 516; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; Kapoor, S.  228 ff. 276   Siehe dazu Konrad NJW 2004, 710 ff. 277   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78. 278   Adloff, S.  219. 279   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7; dies., in: FS Beys, S.  1625, 1644; Gruber/Kießling ZZP 118 (2003), 305, 318 (freilich von ihrem Standpunkt, dass die Vorlageanordnung nur der Klärung unstreitigen Tatsachenvortrags dient). 273 274

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intendiert.280 Liegen die Voraussetzungen der §§  422, 423 ZPO nicht vor, besteht für die beweisbelastete Partei keine andere Möglichkeit, den Inhalt der Urkunde zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordere in einer solchen Konstellation die Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten. Dagegen spricht jedoch, dass Tatbestands- und Rechtsfolgenseite miteinander vermischt werden. Die Bezeichnung der Urkunde ist Tatbestandsvoraussetzung. Ihr Vorliegen kann daher nicht schon eine Ermessensreduzierung auf Null bedingen, denn dann wäre die Rechtsfolge des Ermessens obsolet. Es würde sich um eine Anordnungspflicht handeln, nicht um ein Anordnungsermessen.281 Allein der Umstand, dass noch Aufklärungsmöglichkeiten bestehen, kann nicht zu einer Pflicht des Gerichts zu einer amtswegigen Vorlageanordnung führen. Vielmehr kann durchaus eine Beweislastentscheidung getroffen werden, denn sonst würde die Risikoverteilung im Zivilprozess in grundlegender Weise verändert. Ein Automatismus der amtswegigen Beweisaufnahme ist nicht intendiert. cc) Ausnahmecharakter Nach Völzmann-Stickelbrock muss eine Anordnung nach §  142 ZPO die Ausnahme bleiben, um nicht entgegen dem Gebot der Gleichbehandlung (Art.  3 Abs.  3 GG) eine Partei von ihrer Beweispflicht zu entlasten.282 Eine Vorlageanordnung solle in Betracht kommen, wenn es das Gebot der prozessualen Waffengleichheit erfordere, weil der beweisbelasteten Partei die Bezugnahme auf die beim Gegner befindliche Urkunde als einzige Möglichkeit der Beweisführung zur Verfügung stehe. Insoweit könne eine Parallele zu §  448 ZPO gezogen werden. Nach dem Verhandlungsgrundsatz ist es Aufgabe der Parteien, die Beweismittel beizubringen. Besondere Aufmerksamkeit ist daher der Überlegung zu widmen, ob es Gründe gibt, die die Anordnung ohne Beweisantrag gebieten. Die grundsätzliche Rollenverteilung ist bei den Überlegungen zur Vorlageanordnung zu beachten. Erteilt das Gericht einen richterlichen Hinweis nach §  139 Abs.  1 S.  2 ZPO in Bezug auf die Sachdienlichkeit eines Beweisantrags, etwa wenn die Voraussetzungen des §  422 ZPO vorliegen, und unterlässt die Partei die Stellung des Beweisantrags, wird eine Anordnung von Amts wegen regelmäßig ausscheiden.283 Insoweit wird das Gericht nicht zum Sachwalter einer Partei, denn dadurch würde das Gebot der Neutralität verletzt. Grundsätz  Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1644; Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 1512.   Siehe dazu Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 524. 282   Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 524. 283   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  7; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  4 ; Drenckhahn, S.  131; siehe bereits Brüggemann, S.  448 f.; ebenfalls Peters, Richterliche Hinweispflichten, S.  146. 280 281

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lich obliegt es den Parteien, die Initiative zu übernehmen und einen Beweisantrag zu stellen.284 Von den Durchbrechungen dieses Grundsatzes soll das Gericht durchaus Gebrauch machen, sich allerdings der grundsätzlichen Geltung des Verhandlungsgrundsatzes bewusst sein.285 Vor einer Vorlageanordnung kann es angemessen sein, Sachverhaltsaufklärung zunächst über die richterliche Fragepflicht zu betreiben (§  139 Abs.  1 S.  1 ZPO). Die Ausübung des Ermessens muss vor dem Hintergrund erfolgen, dass ausweislich des Willens des Gesetzgebers keine Inquisition durchgeführt werden soll. Eine Vorlageanordnung von Amts wegen nach §  142 ZPO wird erst in Betracht kommen, wenn das Gericht den Beweisanträgen der Parteien nachgegangen ist, das Beweisergebnis zur Überzeugungsbildung des Gerichts jedoch nicht ausgereicht hat. Darüber hinaus muss für das Vorliegen der streitigen Tatsache eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen.286 Ein Ausnahmecharakter des §  142 ZPO ergibt sich entgegen Völzmann-Stickelbrock daraus nicht. e)  Rechtsfolgen bei Nichterfüllung Wesentliche Bedeutung kommt der Sanktionsebene zu. Einerseits kann man an die Nichtbefolgung einer Aufklärungspflicht den Eintritt innerprozessualer Nachteile knüpfen, andererseits aber die Parteien zwingen, ihre Aufklärungspflichten zu erfüllen.287 Der deutsche Gesetzgeber entschied sich für den ersten Weg, nämlich die Verhängung innerprozessualer Nachteile. Die Pflichten zur Vorlage oder Duldung der Vernehmung können nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Allerdings kann die Weigerung der Mitwirkung nach §  286 Abs.  1 ZPO gewürdigt werden. Der behauptete Inhalt der Urkunde kann als bewiesen angesehen werden (§  427 ZPO [analog]).288 Fraglich ist, ob im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist, dass die Partei selbst nicht auf die Urkunde Bezug genommen hat und kein materiellrechtlicher Herausgabeanspruch bestand (vgl. §§  422, 423 ZPO). Dies wird teilweise angenommen, weil §  427 S.  2 ZPO in seinem originären Anwendungsbereich die Bezugnahme der Partei selbst oder einen Herausgabeanspruch voraussetze.289 Dagegen wird eingewendet, dass die beweisrechtlichen Folgen   Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  6; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  4 f.; Drenckhahn, S.  122 f.; Kuhn/Löhr JR 2011, 369. Freilich ist ein Antrag gerade nicht Voraussetzung der Vorlageanordnung nach §  142 ZPO. 285   Stadler, in: Musielak, §  144 Rn.  1; Prütting NJW 1980, 362, 363; tendenziell gegen einen Vorrang der Parteiinitiative und für eine weitgehende eigene Initiative des Gerichts Kapoor, S.  232. 286   Stackmann NJW 2007, 3521, 3526. 287   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 500. 288   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78; BGHZ 173, 23, 31 (Rn.  20) = NJW 2007, 2989, 2992 = ZZP 120 (2007), 512, 515 f.; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7; Greger DStR 2005, 479, 481. 289   Leipold, in: FS Gerhardt, S.  563, 584; Greger DStR 2005, 479, 482. 284

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einer Nichtvorlage nach §  427 ZPO anlässlich der Erweiterung des §  142 ZPO nicht geändert worden sind und trotz der unterschiedlichen Vorlagevoraussetzungen somit §  427 ZPO entsprechend gelte.290 Dem ist zuzustimmen, weil die Vorlageanordnung im Falle der Nichtbefolgung effektiv sanktioniert werden muss. Darüber hinaus beinhaltet §  427 S.  2 ZPO eine Kann-Vorschrift, sodass das Gericht insoweit sein Ermessen ausüben muss. Daher werden die Behauptungen des Klägers nicht unbedingt als bewiesen angenommen. Über die Ermessensausübung ist ein ausreichendes Korrektiv vorhanden. f)  Rechtsmittel gegen Vorlageanordnung oder unterlassene Anordnung Die von der Vorlageanordnung betroffene Partei kann diese nicht mit der Beschwerde angreifen (§  567 Abs.  1 ZPO), weil die Anordnung von Amts wegen erfolgt. Hat die Partei einen Antrag gestellt, der vom Gericht als Anregung zur Vorlageanordnung eingeordnet werden kann, ändert das an der Nichtzulässigkeit der Beschwerde nichts, denn entscheidend ist, ob die Entscheidung von einem Antrag abhängig ist.291 Allerdings kann die von der Vorlageanordnung betroffene Partei sich weigern und muss keinen unmittelbaren Zwang fürchten. Konsequenz kann die nachteilige Würdigung durch das Gericht sein. Erst mit dem Urteil kann die Vorlageanordnung überprüft werden (§  512 ZPO). Der unterbliebene Erlass einer Vorlageanordnung kann erst mit dem Rechtsmittel gegen das Urteil angefochten werden (Verfahrensrüge nach §§  513, 529 Abs.  2 oder §§  546, 557 Abs.  3 ZPO).292 Über einen – freilich nicht erforderlichen – Antrag293 auf Urkundenvorlage kann eine Partei das Gericht dazu bringen, in den Urteilsgründen die gegen die Vorlage sprechenden Gesichtspunkte zu bezeichnen.294 Ob eine Begründung der Nichtdurchführung erforderlich ist, hängt nicht von dem »Antrag« ab, sondern davon, ob die Beweiserhebung naheliegt, sodass eine Begründung erwartet werden kann.295 Der Dritte, gegen den eine Vorlageanordnung erlassen wird, hat ebenfalls kein Beschwerderecht. Verweigert er die Vorlage, obwohl ihm kein Zeugnisverweigerungsrecht zur Verfügung steht, 296 kann gegen ihn ein Ordnungsmittelbeschluss (Ordnungsgeld/Ordnungshaft, §  390 Abs.  1 und 2 ZPO) erlassen wer  Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7, mit Verweis auf die Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78. 291   Lipp, in: MünchKommZPO, §  567 Rn.  10; Ball, in: Musielak, §  567 Rn.  14; a. A. Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  43. 292   Greger DStR 2005, 479, 484. 293   Siehe zur Antragsformulierung Greger DStR 2005, 479, 484. 294   Das Gericht muss die Ablehnung der Vorlageanordnung bereits deswegen begründen, weil ansonsten nicht ersichtlich ist, dass es das ihm eingeräumte Ermessen ausgeübt hat; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  7. 295   Völzmann-Stickelbrock ZZP 120 (2007), 518, 525. 296   Über die Rechtmäßigkeit der Zeugnisverweigerung wird gegebenenfalls in einem Zwischenurteil entschieden, gegen das die sofortige Beschwerde stattfindet; §  387 Abs.  3 ZPO. 290

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den. Gegen den Ordnungsmittelbeschluss kann der Dritte sofortige Beschwerde einlegen (§§  142 Abs.  2, 390 Abs.  3 ZPO). g) Fazit Zwar bedeutet die Neufassung des §  142 ZPO keine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht, doch gilt der Grundsatz, dass keine Partei gehalten sei, dem Gegner das Material für seinen Prozesssieg zu verschaffen, so nicht mehr. Im Zusammenspiel mit einem vorhergehenden Hinweis und Fragen nach §  139 Abs.  1 S.  2 ZPO hat der Richter eine aktive Rolle, die sich nicht darauf beschränkt, Tatsachenvortrag und Beweisbeschaffung der Parteien lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Die Vorschrift erweist sich nicht als »zahnloser Tiger«, sondern schafft Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts und leistet damit einen Beitrag zur Ermittlung der materiellen Wahrheit als Grundlage der Entscheidung. Die Neufassung des §  142 ZPO ist ein erster Schritt in Richtung einer Mitwirkung der Parteien an der Sachverhaltsfeststellung. Entgegenzutreten ist den Bemühungen, den Anwendungsbereich des §  142 ZPO über den Wortlaut hinaus einzuschränken. Der Gesetzgeber beabsichtigte eine Stärkung der richterlichen Aufklärungsmöglichkeiten, hingegen soll die Vorschrift keineswegs eine pretrial discovery of documents US-amerikanischer Lesart in den deutschen Zivilprozess einführen. Nicht zu befürchten ist, dass damit eine Klagewelle »auf gut Glück« losgetreten wird. Für den Kläger besteht ein Kostenrisiko bei Anstrengung mutwilliger Klagen, welches als mittelbarer Hindernisgrund wirkt.297 Möchte der Kläger Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen – und damit die Kosten verallgemeinern –, muss die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bieten und nicht mutwillig erscheinen (§  114 S.  1 ZPO). Dadurch ist ebenfalls ein Schutz gegen missbräuchliche Klagen zur Ausforschung der anderen Partei gegeben.298 Weiterhin gilt der Verhandlungsgrundsatz, denn Voraussetzung für eine amtswegige Anordnung ist der Tatsachenvortrag der Parteien – seien die Anforderungen auch gemindert.299 Durch die Änderungen der §§  142, 144 ZPO ist es im Hinblick auf die Beibringung der Beweismittel zu einer partiellen Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes gekommen.300 Die Neufassung der §§  142 ff. ZPO zeigt die Tendenz des deutschen Zivilprozesses zur Beschaffung des relevanten Prozessstoffs auf rein prozessualer Ebene.301 Obgleich der BGH es nicht explizit ausspricht und im Schrifttum teilweise zurückhaltende Formu297   Mes GRUR 2000, 934, 942 (für die Führung von Prozessen des gewerblichen Rechtsschutzes). 298   G. Wagner JZ 2007, 706, 713. 299   Stackmann NJW 2007, 3521, 3526. 300   Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1646; Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 152. 301   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 471.

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lierungen verwendet werden, ist deutlich geworden, dass §  142 Abs.  1 ZPO jedenfalls in der Sache den Beibringungsgrundsatz modifiziert, um gewisse prozessuale Ungleichgewichtslagen auszugleichen.302 Dem Gesetz ist das nicht fremd, weil bereits vorher Beweiserhebungen von Amts wegen angeordnet werden konnten. 4.  Ergebnis zu den prozessualen Aufklärungspflichten Über die bestehenden prozessualen Aufklärungspflichten kann einer Partei in vielen Konstellationen Zugang zu Informationen gewährt werden. Gleichwohl verbleiben Rechtsunsicherheit und Rechtsschutzlücken. Die sekundäre Behauptungslast greift erst ein, wenn die beweisbelastete Partei wenigstens ihrer eingeschränkten Substantiierungslast entsprochen hat, wozu sie teilweise nicht in der Lage ist. Die Pflicht zur Vorlage einer Urkunde nach §§  422, 423 ZPO greift lediglich ein, wenn ein materiellrechtlicher Anspruch auf Vorlage besteht oder die andere Partei selbst auf die Urkunde Bezug genommen hat. Die Wirkungen dieser Pflichten sind für den Ausgleich von Informationsdefiziten sehr beschränkt. §  142 ZPO kann in seiner aktuellen Fassung nicht in allen Konstellationen die Informationsasymmetrien ausgleichen.

III.  Würdigung: Der Fortentwicklungsbedarf Die Problematik des deutschen Rechts ist nicht darin zu sehen, dass es keine Institute zur Sachverhaltsaufklärung gäbe. Vielmehr sind sowohl materiellrechtliche Ansprüche zur Überwindung von Informationsdefiziten als auch prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten vorgesehen, die eine Tatsachenermittlung ermöglichen. Auch im Zusammenspiel können sie jedoch nicht immer umfassende Tatsachenfeststellung sicherstellen. Die Unzulänglichkeiten liegen in der Lückenhaftigkeit und der fehlenden Abstimmung. Es ist zu konstatieren, dass immer wieder Konstellationen auftreten, in denen die darlegungs- und beweispflichtige Partei sich in typischer Unkenntnis der ihrer Substantiierungslast unterliegenden Tatsachen befindet. 1.  Verbleibende Unzulänglichkeiten und Fortentwicklungsoptionen Ein gesetzgeberisches Gesamtsystem ist nicht zu erkennen und die Aussagen des BGH zu den Aufklärungspflichten der Parteien sind widersprüchlich. Im Grunde erkennt der BGH Aufklärungspflichten an. Diese bestehen freilich erst, wenn ein substantiierter Tatsachenvortrag gegeben ist. Die Beweisanordnung oder der Beweisbeschluss (§  358 ZPO) ergehen nur, wenn in dem Beweis  Roth JZ 2009, 194, 205.

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antrag die zu beweisenden Tatsachen bezeichnet sind (siehe §  359 Nr.  1 ZPO für den förmlichen Beweisbeschluss). Erforderlich ist die spezifizierte Angabe der Tatsachen.303 Das Erfordernis eines substantiierten Vortrags besteht auch für die Beweisanordnung von Amts wegen. Von einem substantiierten Vortrag abzugrenzen sind willkürliche Behauptungen, die »ins Blaue hinein« und ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt aufgestellt werden. Letztlich bleiben Rechtsschutzlücken, weil der BGH Mitwirkungspflichten nur zurückhaltend anerkennt. §  142 ZPO setzt einen hinreichend substantiierten Parteivortrag voraus. Außerhalb der Rechtsstreitigkeiten über technische Schutzrechte reicht die Wahrscheinlicheit eines Anspruchs nicht aus, um das Gericht zu einer Vorlageanordnung zu veranlassen. Es reiche nicht aus, wenn die Beweiserheblichkeit nur wahrscheinlich ist, aber nicht substantiiert dargelegt sei. Daher können nicht die Fälle gelöst werden, in denen eine Partei nicht über das Wissen verfügt, um entsprechend vorzutragen. Die Rechtsprechung hilft sich in diesen Situationen mit der Modifizierung der Substantiierungslast (sekundäre Behauptungslast), woraus allerdings keine Vorlagepflicht folgt. Vertreter der Wissenschaft bevorzugen teilweise eine Lösung über eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht. Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass das gesetzliche Instrumentarium zurzeit nicht ausreichend ist. Der Stand des deutschen Rechts verlangt somit nach einer Fortentwicklung. Zur Lösung der aufgezeigten Probleme kommen im Wesentlichen drei Wege in Betracht: (1) Eine Lösung im materiellen Recht, (2) die Neujustierung der beweisrechtlichen Institute oder (3) eine umfassende Aufklärungspflicht der Parteien. Bevor auf Einzelheiten einer Fortentwicklung eingegangen werden kann, ist zunächst zu überlegen, ob eine materiellrechtliche oder prozessuale Lösung vorzugswürdig ist. 2. Materiellrechtliche und prozessuale Lösung im Vergleich Das materielle Recht sieht Ansprüche auf Informationen und Herausgabe vor. Jedenfalls auf den ersten Blick erscheint es nicht die Aufgabe des Prozessrechts zu sein, eine darüber hinausgehende Aufklärungspflicht einzuführen.304 Bereits in der Einleitung wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, das materielle Recht und das Prozessrecht einheitlich zu betrachten. Das Prozessrecht hat eine dienende Funktion. Ein Gleichlauf von materiellem Recht und prozessrechtlicher Durchsetzung ist anzustreben. Aus dieser Betrachtung folgt eine Begrenzung des Prozessrechts. Das Prozessrecht soll nicht materiellrechtliche Pflichten begründen. Ebenfalls soll es nicht zu einer (faktischen) Korrektur des materiellen Rechts führen, wozu es allerdings durch beweisrechtliche Instrumente   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  4.   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205.

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kommen kann.305 Die Verbindungen und Schnittstellen führen jeweils zu den Vor- und Nachteilen einer materiellen oder prozessualen Lösung. a)  Primat des materiellen Rechts Für einen materiellrechtlichen Anspruch kann ein Primat des materiellen Rechts angeführt werden, welches dem deutschen Recht zugrunde liege. Das hätte den Vorteil, dass außerhalb des Prozesses bereits Informationsansprüche bestünden, mithilfe derer außerhalb des Prozesses Klarheit hergestellt werden könnte.306 Der materiellrechtliche Anspruch könnte zwangsweise durchgesetzt werden, während demgegenüber prozessuale »Pflichten« regelmäßig nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Über eine Stufenklage könnte eine Prozessverdoppelung vermieden werden. Für eine Lösung im materiellen Recht spricht ferner, dass die beweisrecht­ lichen Institute in ihrer derzeitigen Anwendung häufig eine Korrektur des materiellen Rechts »durch die Hintertür« bedeuten. Sachgerechter wäre es jedoch, dann direkt im materiellen Recht anzusetzen und eine Lösung dort vorzusehen. Existierende Lösungsvorschläge betreffen neben der Einführung eines allgemeinen Informationsanspruchs unter anderem die Veränderung materiellrechtlicher Anspruchsvoraussetzungen, wie die Forderung, für den Kausalzusammenhang generell nur die nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit zu verlangen, zeigt.307 Das würde freilich eine Änderung der materiellrechtlichen Tatbestände erfordern. b)  Gleichlauf der inner- und außerprozessualen Rechtslage Die Anordnung von Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten ist das Ergebnis einer Interessenabwägung von Wahrheitsfindung und Schutzinteressen Einzelner. Ein materiellrechtlich begründeter Anspruch auf Information, Vorlage und Herausgabe würde sich in das System des geltenden Rechts einfügen. Grundlage für solche Ansprüche ist nämlich nach dem hergebrachten Verständnis das materielle Recht, nicht das Prozessrecht. Diese Lösung hätte den Vorteil, dass ein Gleichlauf zwischen den Ansprüchen, die vor und während des Prozesses bestehen, erzielt werden könnte. Ein Gleichlauf könnte zudem den Vorteil haben, zu einer Entlastung der Gerichte beizutragen. Würden bereits außergerichtlich Informations- bzw. Einsichtnahmerechte bestehen, könnte das Bestehen des Hauptanspruchs besser eingeschätzt werden. Dies kann dazu führen, dass erkannt wird, dass ein Anspruch nicht besteht, sodass Prozesse vermieden werden können. Freilich wird   Siehe §  1 II. 1. a).   Schlosser JZ 1991, 599, 607. 307   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  35. 305

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man als Gegenargument vorbringen, dass gerade um das Bestehen der materiellrechtlichen Ansprüche Prozesse geführt würden. Eine umständliche Durchsetzung der materiellen Ansprüche über eine separate Leistungsklage könnte die Folge sein. Ein Prozess allein über die Verpflichtung zur Aufklärung würde insgesamt einen Zeitverlust bedeuten, weil die Rechtskraft des Urteils in den tatsächlich umstrittenen Fällen abgewartet werden müsste. Aufgewogen werden könnte das wiederum durch die Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Verfügung.308 Die Stufenklage kann eine gewisse Hilfe sein, doch kann eine Trägheit nicht vollständig vermieden werden.309 Darüber hinaus geht es in den hier problematisierten Fällen um eine Mitwirkung als Mittel zum Zweck, und zwar der Durchsetzung des Hauptanspruchs. Schließlich ist es notwendig, die Kostenstrukturen in den Blick zu nehmen. Maßgeblich werden die Anreizstrukturen über das Kostenrecht bestimmt.310 Aus kostenrechtlicher Sicht wäre die Vermeidung eines separaten Prozesses zu begrüßen. c)  Grenzen materiellrechtlicher Ansprüche Es bleibt bei materiellrechtlichen Überlegungen darüber hinaus ein Hindernis, und zwar die Notwendigkeit einer rechtlichen Sonderverbindung. Regelmäßig setzen materiellrechtliche Ansprüche das Bestehen oder die Wahrscheinlichkeit des näher definierten Hauptanspruchs voraus. Die Rechtsprechung gewährt darüber hinaus einen Anspruch auf Einsichtnahme bzw. die Pflicht zur Vorlegung von Urkunden im Rahmen des Auskunftsanspruchs nach Treu und Glauben lediglich zurückhaltend.311 Die Gewährung von Informations- und Mitwirkungsansprüchen außerhalb des Prozesses ohne eine Sonderverbindung erscheint auch de lege ferenda nicht sachgerecht. Die Inanspruchnahme einer Partei oder eines Dritten ohne Sonderverbindung ist typisch für die Prozesskon­ stellation. Das unüberwindbare Erfordernis der rechtlichen Sonderverbindung steht der materiellrechtlichen Lösung entgegen.312 d)  Prozessuale Lasten- und Pflichtenbegründung Prozessual können Pflichten begründet werden, die außerhalb des Prozesses nicht bestehen. Die grundlegenden Unterschiede zwischen materiellem Recht und Prozessrecht sind zu berücksichtigen. Dabei zeigt sich, dass in einem gerichtlichen Verfahren mehr verlangt werden kann als nach materiellem Recht.   Schlosser JZ 1991, 599, 607.   Siehe §  7 I. 3. 310   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 454; Zuckerman 59 Modern Law Review (1996), 773, 795. 311   BGH NJW-RR 2002, 1119, 1121 f.; GRUR 2001, 841, 845; NJW 1954, 1564, 1565; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 462. 312   Katzenmeier JZ 2002, 533, 534 f.; Schlosser JZ 1991, 599, 607 (mit dem Hinweis auch auf Vorteile einer materiellrechtlichen Anknüpfung); Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 478. 308 309

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Ein Zeuge kann zur Aussage vor Gericht verpflichtet sein, auch wenn gegen ihn materiellrechtlich kein Anspruch zur Auskunft besteht. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Zeugnispflicht, die grundsätzlich zum Erscheinen und zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet und mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann (siehe §§  380, 390 ZPO),313 soweit nicht Zeugnisverweigerungsrechte eingreifen (§§  383 ff. ZPO). Daher können in anderen Fällen ebenfalls keine grundlegenden Einwände geltend gemacht werden, wenn im Prozess eine stärkere Mitwirkung verlangt wird als nach materiellem Recht angeordnet ist. Materiellrechtliche Verfügungsbefugnisse und damit verbunden das Recht zur Verweigerung schützen nicht vor einer Verwendung im Prozess.314 Weil jedoch vielfach berechtigte Geheimhaltungsinteressen bestehen, ist ihnen über verfahrenstechnische Maßnahmen gerecht zu werden. e)  Flexibilität und Einheitlichkeit der prozessrechtlichen Lösung Materiellrechtliche Ansätze können dem Interessenkonflikt kaum für jeden Einzelfall angemessen Rechnung tragen. Die Interessenabwägung ist nur begrenzt unabhängig vom Einzelfall lösbar.315 Daher können materiellrechtliche Ansätze zwar eine Grundlage, nicht aber der alleinige Ansatz sein.316 Vielmehr bedarf es einer prozessrechtlichen Ergänzung, wodurch der Einzelfall durch die Ermessensausübung des Richters sachgerecht behandelt werden kann. Vertrauen in die Richterschaft sollte insoweit aufgebracht werden – wie Schlosser pointiert formuliert: »Wie die USA, England und Frankreich können jedoch auch wir getrost die Nerven haben, dem Einzelfall-Judiz der Richter zu vertrauen, ja sogar unterschiedlichen Richtertemperamenten ihren Raum zu lassen. Daß wir es nicht täten, ist ohnehin nur eine Illusion, die durch das Jonglieren mit unbestimmten Rechtsbegriffen gepflegt wird.«317 Eine prozessuale Lösung bietet die Möglichkeit einer umfassenden, über einzelne Rechtsbereiche hinausgehenden Lösung. Die prozessuale Mitwirkungsverantwortung würde nicht lediglich in Sonderbereichen gelten, sondern allgemein. Der Richter könnte dort darauf zurückgreifen, wo es notwendig erscheint. Daher ist die Umsetzung der Enforcement-Richtlinie, die durch die Normierung spezialgesetzlicher Auskunfts- und Urkundenvorlageansprüche im Recht des geistigen Eigentums erfolgte, auch nicht gelungen. Es handelt sich um eine Umsetzung in Spezialgesetzen, die Sondermaterien festigt. Es zeigt sich das Erfordernis solcher Ansprüche nicht lediglich bei möglichen Schutzrechtsverletzungen, sondern auch in anderen Bereichen. Stattdessen hätte der Gesetz  Greger, in: Zöller, §  373 Rn.  2.   Stürner JZ 1985, 453, 457. 315   Hay, in: Schlosser, S.  1, 60. 316   Hay, in: Schlosser, S.  1, 61. 317   Schlosser JZ 1991, 599, 608. 313 314

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geber über den Bereich des geistigen Eigentums hinausgehen und eine umfassende Lösung präsentieren sollen. Sachgerechter Standort dafür wäre das Prozessrecht gewesen, weil dann eine umfassende Anwendbarkeit sichergestellt gewesen wäre. Materiellrechtliche Ansprüche können differenzierte Lösungsmöglichkeiten vorsehen – doch sollte das auf die Aspekte beschränkt sein, die eine solche differenzierte Betrachtung erfordern. Für die Mitwirkungspflichten ist das nicht ersichtlich. Freilich muss die prozessuale Lösung nicht eine Alleinstellung beanspruchen, sondern können in Spezialbereichen – wie bereits vorhanden – besondere materiellrechtliche Informationsansprüche, vor allem wenn sie eine eigenständige Bedeutung haben, bestehen.318 Daraus ergibt sich keine Subsidiarität der prozessualen Aufklärungspflichten, sondern die materiellrechtlichen Ansprüche können im Prozess Grundlage der Urkundenvorlage sein, wie es §  422 ZPO vorsieht. Dass nicht eine Subsidiarität der Aufklärungspflicht angenommen werden kann, zeigt sich bereits in dem Fall, in dem der Beklagte nicht über ausreichende Tatsachenkenntnis verfügt und auf die Mitwirkung des Klägers angewiesen ist. Der Beklagte kann keine Stufenklage nach §  254 ZPO erheben, es sei denn, er entscheidet sich für eine Widerklage. Der Beklagte sollte jedoch nicht auf eine Auskunftswiderklage verwiesen werden.319 Dementsprechend kann aus §  422 ZPO der verallgemeinerungsfähige Gedanke entnommen werden, dass materiellrechtliche Mitwirkungspflichten prozessuale Folgen haben können, und zwar ohne den Weg über die Stufenklage einzuschlagen.320 f)  Möglichkeit zur innerprozessualen Sanktionierung Verbindet man prozessuale Pflichten nicht mit einer zwangsweisen Durchsetzung, verbleibt die Möglichkeit der nachteiligen innerprozessualen Würdigung – eine in der Regel wirksame Sanktion. Für Fälle, in denen eine Partei auf bestimmte Unterlagen angewiesen ist, könnte aber auch die zwangsweise Durchsetzung angeordnet werden, sodass verschiedene Sanktionsmechanismen zur Verfügung stünden. Die Sanktionierung innerhalb des Hauptprozesses wäre zeit- und kostensparend.

318   Beckhaus, S.  357 ff. möchte eine materiellrechtliche und eine prozessuale Informationsleitungspflicht verbinden. Dabei wird jedoch übersehen, dass letztlich systemfremd Elemente des Prozessrechts in das materielle Recht »verlagert« würden; siehe seinen Regelungsvorschlag auf S.  401. 319   Schlosser JZ 1991, 599, 608. 320   Schlosser JZ 1991, 599, 608.

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3.  Lehren aus der rechtsvergleichenden Umschau und den Harmonisierungsbestrebungen Eine prozessuale Lösung wird auch aus Gründen der Anpassung an andere europäische Zivilprozessordnungen gefordert.321 In den übrigen europäischen Rechtsordnungen seien die Aufklärungspflichten prozessual geregelt und somit anders als im deutschen Recht nicht materiellrechtlich geprägt. Da ein Ziel der ZPO-Reform im Jahre 2001 die Rechtsvereinheitlichung gewesen sei,322 solle dieser Weg konsequent beschritten werden, indem im Hinblick auf Informationspflichten eine Annäherung erfolge. Die deutsche Rechtsentwicklung hat den Anschluss an europäische Rechtsentwicklungen gleichwohl nicht gefunden. Nun muss es nicht grundsätzlich negativ zu bewerten sein, wenn bestimmten in europäischen Rechtsordnungen zu beobachtenden Tendenzen nicht gefolgt wird. Allein ein Überwiegen von bestimmten Regelungen ist keine Auszeichnung der Qualität. Entscheidend ist der Inhalt, der jedoch für ein Überdenken des traditionellen deutschen Standpunkts spricht. Die Rechtsentwicklungen in anderen europäischen Ländern lassen erkennen, dass eine Weigerung der Mitwirkung ohne nachvollziehbare Gründe nicht als sachgerecht eingestuft wird. Der Standpunkt des BGH, dass es keine prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien gibt, findet in den Rechtsordnungen, die im Rahmen der rechtsvergleichenden Betrachtung gesichtet wurden, keine Entsprechung. Vielmehr werden sowohl im anglo-amerikanischen Recht als auch in anderen europäischen Prozessordnungen prozessuale Aufklärungspflichten der Parteien anerkannt.323 In einem Prozess der Rechtsvereinheitlichung dürfte sich der »deutsche Solitär« so nicht durchsetzen können.324 Die Anerkennung prozessualer Aufklärungspflichten wird häufig als Trend »moderner« Prozessrechte bezeichnet, wobei jedoch die Modernität kaum etwas über die Sachdienlichkeit aussagt. Insoweit sind vielmehr die dahinter stehenden Ziele entscheidend: Individualrechtsschutz und Wahrheitsfindung.325 Vor allem ist zu betonen, dass die Wahrheitsfindung nicht als Selbstzweck anerkannt wird oder im öffentlichen Interesse erfolgt, sondern zur Durchsetzung der subjektiven Rechte.326 Weil der Einzelne seine Rechte nicht im Wege der Selbsthilfe durchsetzen kann, bedarf es als Ausgleich der Möglichkeit der effektiven Durchsetzung der Rechte in dem staatlich vorgesehenen Verfahren.327   Katzenmeier JZ 2002, 533, 537; Schlosser JZ 1991, 599, 603 ff.   Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  70 f. 323   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 469. 324   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 467 f. 325   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 469. 326   Lord Woolf, Interim Report, Ch. 21 para. 18; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 470. 327   Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  5 und 9. 321

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Die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt allerdings, dass weitgehende Aufklärungspflichten kein »Allheilmittel« sind. Die Erfahrungen in England belegen, dass eine umfassende Dokumentenvorlage hohen Zeitaufwand mit der Konsequenz langer Verfahrensdauer und steigenden Kosten bedeutet. Darüber hinaus besteht die Gefahr der Verletzung von Berufs- und Geschäftsgeheimnissen. In England selbst wurde das traditionelle englische System als reformbedürftig angesehen. Als Vorbild für das deutsche Recht kann das traditionelle englische System daher nicht dienen.328 Die Ansätze zur Harmonisierung prozessrechtlicher Regelungen zeigen ebenfalls die Tendenz zu prozessualen Mitwirkungspflichten. Die Lösungsvorschläge beinhalten regelmäßig Instrumente, um beide Parteien auf einen identischen Kenntnisstand »zu heben«, und zwar über prozessual begründete Informations- oder Vorlagepflichten. Eine Steuerung der Offenlegungspflichten erfolgt über eine aktive materielle Prozessleitung. Einschränkungen ergeben sich aus Privilegien und Weigerungsrechten, wobei die Anordnung bestimmter Maßnahmen zum Beispiel zur Sicherung des Geheimnisschutzes in der Regel im Ermessen des Gerichts steht. Die rechtsvergleichende Umschau bestärkt insgesamt die Einschätzung, dass eine Fortentwicklung des deutschen Rechts zur Beseitigung von Informationsdefiziten auf prozessrechtlicher Ebene zu suchen ist. 4.  Ergebnis: Fortentwicklung prozessualer Instrumente De lege ferenda dürfte eine prozessuale Lösung Vorteile bieten. Zwar ist das materielle Recht der Standort, um differenzierte Rechtsbeziehungen zu regeln, doch zeigt sich, dass es dadurch zu einer Zerstückelung der Vorschriften, letztlich zu Insellösungen kommt. Vorrangig sollte daher die Fortentwicklung prozessualer Instrumente betrieben werden. Dabei müssen einerseits wirksame Informationsinstrumente zur Verfügung gestellt werden, andererseits die In­ teressen, vor allem die Geheimhaltungsinteressen der gegnerischen Partei, berücksichtigt werden. Zu entwickeln ist eine prozessuale Mitwirkungsverantwortung der Parteien unter Beachtung der Geheimhaltungsinteressen der Gegenpartei (§§  8 und 9). Im Anschluss daran bleibt zu überlegen, ob Beweiserleichterungen fortzuentwickeln (Teil  4) und/oder Ansätze im materiellen Recht zu verfeinern oder zu erweitern sind (Teil  5).

 Freilich verbietet sich auch der Umkehrschluss, dass das deutsche Recht vorbildlich wäre; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465. 328

§  8  Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz

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§  8  Entwicklung einer prozessualen Verwirklichung der Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz Lösungsansätze müssen sich in die Grundwertungen des Zivilprozessrechts einfügen, wenn man nicht eine ganz neue Art der Sachverhaltsermittlung und -feststellung einführen möchte. Solche Grundwertungen sind der Verhandlungsgrundsatz und das Verbot des Ausforschungsbeweises. Wie es richtig ist, diese Grundwertungen zu beachten, so dürfen sie nicht verabsolutiert werden.329 Vor allem die Urkundenvorlage kann für eine Partei wesentlich über Prozesserfolg oder -niederlage entscheiden. Typische Beispiele für eine Beweisführung mit Urkunden, die sich im Besitz des Gegners befinden, 330 sind etwa Krankenunterlagen (einschließlich Röntgenaufnahmen) oder nicht als Krankenunterlagen zu qualifizierende Aufzeichnungen über den Behandlungsverlauf im Besitz des behandelnden (und nunmehr verklagten) Arztes, im Patentrechtsstreit Pläne, aus denen sich die Patentverletzung des Beklagten ergeben soll,331 Unterlagen des beklagten Bauunternehmers oder -ingenieurs im Bauprozess sowie im Allgemeinen Verträge und Korrespondenz.332

I.  Erweiterung der Mitwirkungsverantwortung: Einführung einer sekundären Mitwirkungsverantwortung Die Beachtung des Ausforschungsverbots als immanente Grenze der Vorlagepflicht folgt der traditionellen Herangehensweise. Liegt bei einer Partei allerdings unverschuldete Tatsachenunkenntnis vor, erscheint die Zurückweisung ihres Vorbringens mit dem Hinweis auf eine unzulässige Ausforschung als »harte« Konsequenz. Gleichwohl sollte keine Verpflichtung zu einer umfassenden Dokumentenvorlage ohne Relevanz für eine bestimmte Tatsachenbehauptung bestehen. Das würde dem System des Beweisrechts widersprechen, welches einen konkreten Sachverhaltsvortrag verlangt und nicht der »Zusammenstellung« eines Sachverhalts dient. Die Risikozuweisung erfolgt über die Beweis- und Behauptungslasten, die obsolet wären, wenn eine vollständige Sachverhaltserforschung ohne vorhergehende Tatsachenbehauptungen im Beweisverfahren stattfinden würde. Vielmehr sollte eine Mitwirkung der Parteien eingeführt werden, für die übergeordnet der Begriff der »sekundären Mitwirkungsverantwortung« verwendet werden könnte.

 Grundlegend von Hippel, S.  185.   Beispiele bei Siegmann AnwBl 2008, 160. 331   Siehe BGHZ 169, 30 ff. = NJW-RR 2007, 106 ff. 332   OLG Saarbrücken MDR 2003, 1250 (zur Anordnung gegenüber einem Dritten); OLG Oldenburg NJW-RR 1997, 535; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  1. 329 330

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Teil 3:  Information und Offenlegung

1.  Erweiterung der sekundären Behauptungslast Die Urkundenvorlage muss aufgrund eines substantiierten Tatsachenvortrags und einer bestimmten Bezeichnung der Urkunde erfolgen. Ein willkürliches Behaupten der Existenz von Unterlagen reicht nicht aus. Es stellt sich natürlich ein Folgeproblem: Anhand welcher Kriterien soll das Gericht beurteilen, ob es sich lediglich um eine willkürliche Behauptung handelt oder um eine Behauptung, die auf Wissen der Partei beruht? 333 Insoweit wird das Gericht seine Fragepflicht ausüben und die Partei zur Grundlage der Behauptung befragen. a)  Einführung einer sekundären Vorlegungslast Der beweisbelasteten Partei können die Informationen für einen ihrer Substantiierungslast entsprechenden Vortrag fehlen, auch wenn die andere Partei ihrer sekundären Behauptungslast nachgekommen ist. Nach der Rechtsprechung des BGH bleibt es im »allgemeinen« Zivilrecht dabei, dass die Vorlageanordnung »nicht in die Ausforschung eines weitergehenden, bis dahin nicht vorgetragenen Sachverhalts ausufern darf«.334 Andere Maßstäbe sollen lediglich für Rechtsstreitigkeiten über technische Schutzrechte gelten. Es müssen jedoch ebenfalls andere Wertungen in die Frage einfließen, wann eine Vorlageanordnung in Betracht kommen kann. Möchte eine Partei über die Verpflichtung der Gegenpartei zur Urkundenvorlage an die Informationen kommen, die für die weitere Substantiierung notwendig sind, muss das in Fortsetzung der Grundsätze der sekundären Behauptungslast ausreichen.335 Dass das Konkretisierungserfordernis nicht eine Ausforschung verhindern soll, sondern anderen Zwecken dient, entspricht dem österreichischen Prozessrecht.336 Die Rechtslage dort zeigt, dass die Problematik der Ausforschung nicht als Selbstzweck gesehen werden darf. Auch aufgrund vermuteter Tatsachen, die nicht aus der Luft gegriffen sind, kann eine Vorlageanordnung gem. §  142 ZPO ergehen. Im Hinblick auf die bestimmte Bezeichnung der Urkunde ist das Zusammenspiel mit der sog. sekundären Behauptungslast zu berücksichtigen. Tatsachenbehauptungen, die Ereignisse außerhalb der eigenen Sphäre betreffen, sind nicht so konkret vorzutragen wie in dem eigenen Wahrnehmungsbereich liegende Umstände.337 Sind die Anforderungen an die Substantiierungslast gemindert, muss dies auch für den Vortrag im Hinblick auf die Bezeichnung der Urkunde gelten.338 Auch außerhalb der Streitigkeiten über Rechte des geistigen Eigentums kann es sein, dass eine  Nach Konrad NJW 2004, 710 wird die Abgrenzung in der Praxis schwer fallen und somit ein »Fischen im Trüben« (fishing expeditions) ermöglicht. 334   BGH NZI 2008, 302, 304. 335   Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572, 574; G. Wagner JZ 2007, 706, 714. 336   Siehe §  3 III. 2. 337   Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  47. 338   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4. 333

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Partei nur die mögliche Relevanz einer Urkunde für einen Anspruch darlegen kann. Insoweit kann von einer »sekundären Vorlegungslast« gesprochen werden. §  142 ZPO kann nur über die sekundäre Vorlegungslast seine Wirkung dort entfalten, wo es gerade notwendig ist. Strukturell sind die Konstellationen vergleichbar, sodass die Lösungsansätze zu übertragen sind: 339 Einerseits kann die Partei nicht substantiiert vortragen, andererseits kann sie die Urkunden von sich aus nicht vorlegen. Kann die darlegungspflichtige Partei daher nach dem qualifizierten Bestreiten der Gegenpartei ihren Vortrag nicht substantiieren, muss eine Vorlageanordnung in Betracht kommen, weil §  142 ZPO ansonsten in den Fällen, in denen eine Partei tatsächlich auf Informationen angewiesen ist, leerliefe. Eine Zurückweisung des Vorbringens mit dem Argument des Ausforschungsverbots kann nicht überzeugen, wenn die Partei außerhalb des Geschehensablaufs steht. Ausreichend muss es sein, wenn der materiellrechtliche Anspruch lediglich wahrscheinlich besteht – die Substantiierungserfordernisse sind gemindert. Gleiches muss gelten für die Beschreibung der Urkunde – auch insoweit sind die Substantiierungsanforderungen gemindert. In dem letztgenannten Fall wird die sekundäre Informationslast ausgelöst, auf die sogleich einzugehen ist.340 Es ergibt sich somit ein abgestuftes System: Die darlegungs- und beweispflichtige Partei muss die verminderten Substantiierungspflichten erfüllen, sodann ist es Aufgabe der anderen Prozesspartei, im Einzelnen darzulegen, wa­ rum die von ihr bestrittene Behauptung unrichtig ist. Kommt eine Partei ihrer sekundären Behauptungslast nicht nach, ist das Vorbringen der anderen Partei als zugestanden anzusehen (§  138 Abs.  3 ZPO). Eine Pflicht zur Vorlage von Urkunden folgt aus den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast nicht. Eine Vorlageanordnung kommt nach §  142 ZPO in Betracht, und zwar über die sekundäre Vorlegungslast. b)  Grenzen einer sekundären Vorlegungslast Dabei geht es nicht um eine umfassende Ausforschung der Parteien. Die Partei muss zumindest vortragen, warum die Urkundenvorlage für ihr Prozessbegehren relevant ist. Aus dem Vortrag muss sich zumindest die Existenz der Urkunde ergeben, die sich in den Händen des Prozessgegners befinden muss. Nicht ausreichen kann die Anordnung, Urkundensammlungen vorzulegen mit dem Hinweis, unter ihnen würden sich sicherlich relevante Unterlagen befinden.341   G. Wagner JZ 2007, 706, 714.   Siehe §  8 I. 2. a). 341   BGH NJW-RR 2007, 1393, 1394 (insoweit fehlte bereits ein schlüssiger Vortrag); Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  6 ; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4 (de lege ferenda aber mit der Forderung nach prozessualen Auskunftspflichten der Parteien über die in ihrem Besitz befindlichen relevanten Urkunden). 339

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Einer solchen Vorgehensweise steht die Unzumutbarkeit entgegen. Faktisch würde es sich dabei um eine Umkehr des Beweisrisikos handeln, wozu §  142 ZPO nicht legitimiert.342 Kraayvanger/Hilgard343 berichten von einem Verfahren, in dem »der Kläger anregte, das Gericht möge – gestützt auf §  142 ZPO – der Beklagten aufgeben, bestimmte, näher bezeichnete Geschäftsunterlagen offenzulegen, da der Kläger ›zuversichtlich‹ sei, den Unterlagen ›weitere relevante Fakten‹ zur Unterstützung seines Vortrags entnehmen zu können«. Die Bezugnahme auf die Urkunden war hinreichend bestimmt, die Urkunden konnten individualisiert werden.344 Das konnte von dem Tatsachenvortrag allerdings nicht behauptet werden, denn dieser war nicht substantiiert.345 Es handelte sich um eine Anregung zur offenen, direkten Ausforschung, mit anderen Worten um eine discovery US-amerikanischer Prägung. Eine solche Ausforschung ist über §  142 Abs.  1 ZPO nicht zulässig. Der Kläger hätte zumindest Anhaltspunkte zum Inhalt und zur Relevanz vortragen müssen, um dem Gericht eine Vorlageanordnung zu ermöglichen. Freilich könnte der Fall leicht abgewandelt werden. Handelt es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, wenn die der Gegenforderung zugrunde liegenden Tatsachen nicht substantiiert vorgetragen, sondern nur vermutet werden können? Wäre eine Vorlageanordnung dann abzulehnen, weil es sich nicht um einen substantiierten Vortrag handelt? Insoweit muss – wie bereits dar­ gestellt – darauf abgestellt werden, ob es sich um eine Behauptung »ins Blaue hinein« handelt oder doch wenigstens greifbare Anhaltspunkte für die Behauptung vorhanden sind. Steht die beweispflichtige Partei außerhalb des Geschehensablaufs, müssen allgemeine Beschreibungen der Relevanz ausreichen. Ausgeschieden werden kann die Vorlageanordnung jedoch dann, wenn noch nicht einmal eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den geltend gemachten Anspruch besteht.346 Die materiellrechtlichen Wertungen aus den Rechtsstreitigkeiten über Schutzrechtsverletzungen, die auch anhand von §  809 BGB entwickelt worden sind, sind insoweit auf §  142 ZPO zu übertragen. c)  Gesetzgeberischer Handlungsbedarf Der Gesetzgeber sollte das Institut der sekundären Behauptungslast kodifizieren, und zwar sowohl für den Vortrag an sich als auch für die Urkundenvorlage. Liegt eine Fallgruppe vor, in der die Substantiierungslast zu modifizieren ist,   Kapoor, S.  223.   Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572. 344   Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572, 573. 345   Kraayvanger/Hilgard NJ 2003, 572, 573 sprechen von der Notwendigkeit eines schlüssigen Vortrags; es kommt jedoch insoweit nicht auf die Schlüssigkeit, sondern auf die Substantiierung an. 346   G. Wagner JZ 2007, 706, 714. 342 343

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darf die Urkundenvorlegung nicht vorschnell verweigert werden. Mit anderen Worten ist eine sekundäre Vorlegungslast in das Gesetz einzufügen. Weil der Geheimnisbereich weiterhin geschützt bleiben soll, sind schließlich Schutzmechanismen zu entwickeln.347 2.  Auskunft über Existenz von Urkunden Allerdings muss es zusätzliche vorgeschaltete Instrumente geben, um die Anordnung zur Urkundenvorlage zu ermöglichen, wenn deren Existenz nicht sicher ist. Es ist nämlich möglich, dass eine Partei substantiierte Tatsachenbehauptungen aufstellen kann, eine bestimmte Bezeichnung einer Urkunde, die den geminderten Substantiierungsanforderungen genügt, allerdings nicht leisten kann. Die sekundäre Vorlegungslast wird nicht ausgelöst, weil es zwar nicht an der Substantiierung des Tatsachenvortrags mangelt, allerdings an der sub­ stantiierten Bezeichnung der Urkunde. Um eine Ausforschung zu verhindern, kann es nämlich nicht genügen, dass entsprechende Unterlagen üblicherweise erstellt werden, sondern im Einzelfall muss es konkrete Anhaltspunkte für die Existenz der Urkunde geben.348 Nur darüber kann gewährleistet werden, dass der Prozessgegner nicht in seinen Verteidigungsmaßnahmen unzumutbar beeinträchtigt ist.349 In diesem Fall muss zunächst ein anderer Mechanismus gewählt werden, und zwar eine sog. »sekundäre Informationslast«. a)  Einführung einer sekundären Informationslast Es sollte möglich sein, die nicht beweisbelastete Partei zur Existenz von Urkunden zu befragen. Aufgrund der Würdigung der Stellungnahme der anderen Partei kann das Gericht über eine Vorlageanordnung entscheiden. Relevant wird das vor allem, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Existenz von Urkunden nicht bestehen, aber Urkunden über entsprechende Vorgänge durchaus angefertigt werden. Die nicht beweisbelastete Partei hat sich zum Vorhandensein von Urkunden zu erklären, wenn ihre Existenz naheliegt. Es geht nicht um eine Auflistung aller vorhandenen Urkunden ohne konkreten Bezug zu einer Tatsachenbehauptung, sondern um die Existenz von Urkunden, die für eine spezifische Behauptung relevant sein könnten. Diese Überlegungen de lege ferenda sind notwendig, weil die Rechtsprechung auf der Basis des geltenden Rechts nicht entsprechend verfährt und eine Änderung der Rechtsprechung nicht zu erwarten ist.   Siehe §  8 II.   Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  6 ; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  11; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4 ; Kapoor, S.  223; geringere Anforderungen stellt Schlosser, in: FS Sonnenberger, S.  135, 150; nicht ganz deutlich insoweit Lüpke/Müller NZI 2002, 588, 589. 349   Kapoor, S.  223. 347

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Die Rechtsprechung beharrt auf einem restriktiven Standpunkt. Aus diesem Grund sollten die gesetzlichen Grundlagen um eine sekundäre Informationslast erweitert werden. Das sollte nicht in eine allgemeine Erklärungspflicht über Urkunden münden, die ohne Bezug zu einer Tatsachenbehauptung abgegeben werden.350 Dadurch würden die Aspekte in den deutschen Prozess eingeführt, die sich in den anglo-amerikanischen Verfahrensordnungen als nachteilig erwiesen haben. Voraussetzung ist eine konkrete Tatsachenbehauptung, zu der sich auch im Hinblick auf die Existenz von Urkunden erklärt werden muss. b)  Grenzen einer sekundären Informationslast Dabei besteht nicht die Gefahr, dass der Ausforschung »Tür und Tor« geöffnet wird. Eine Abänderung der hergebrachten Prinzipien kommt nämlich weiterhin nicht in Betracht, wenn es sich um Tatsachen handelt, die sich in der Sphäre der Partei selbst abgespielt haben. Ein Beispiel für die fehlende Substantiierung des Vortrags und die darauf beruhende Ablehnung einer Anordnung zur Urkundenvorlegung liefert eine Entscheidung des LAG Berlin.351 Eine Arbeitnehmerin verlangte Schadensersatz wegen Mobbings durch die Personalleiterin der Beklagten. Die Arbeitnehmerin hatte für die Verhaltensweisen der Personalleiterin keine konkreten, dem Beweis zugänglichen Tatsachen vorgetragen. Sie beantragte jedoch, der Beklagten aufzugeben, das Protokoll der Vertrauensfrau der Schwerbehinderten im Betrieb der Beklagten vorzulegen. Sie habe mit der Vertrauensfrau ein Gespräch geführt, die Zeitpunkt, Umfang und Intensität des Mobbings protokolliert habe. Das ArbG Berlin lehnte eine Beweisaufnahme über ein etwaiges Mobbing ab, weil der Antrag der Arbeitnehmerin insoweit unsubstantiiert geblieben sei und damit auf die Ausforschung der Beklagten hinauslaufe. Das LAG Berlin folgte dieser Einordnung richtigerweise. Es handelt sich um die Konstellation, die der Rechtsausschuss adressierte, indem er zur Neuregelung des §  142 ZPO betonte, dass damit keine Ausforschung ermöglicht und eine Partei nicht von ihrer Darlegungs- und Substantiierungslast befreit werde.352 3.  Abstimmung der Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO mit dem Urkundenbeweis nach §§  422, 423 ZPO Änderungsbedarf besteht nicht nur bei der Urkundenvorlage an sich, sondern auch bei der Abstimmung mit den Vorschriften über den Urkundenbeweis. Es ergibt sich zurzeit ein Nebeneinander einer nahezu voraussetzungslosen Anordnungskompetenz nach §  142 ZPO und der restriktiven Vorlagepflichten   So aber tendenziell Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  4.   LAG Berlin, Urteil vom 13.12.2002 – Az. 6 Sa 1628/02, abrufbar unter juris. 352   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120 f. 350 351

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nach §§  422, 423 ZPO. Eine Harmonisierung der Regelungsbereiche erfolgte bisher nicht.353 Es ist fraglich, ob sich der Gesetzgeber der weitreichenden Konsequenzen bewusst war, die die Änderung des §  142 ZPO mit sich brachte. §§  422, 423 ZPO sehen immanente Editionsschranken vor, was bei §  142 Abs.  1 ZPO nicht der Fall ist. Anders als bei §  142 Abs.  2 ZPO ist keine Zumutbarkeitsgrenze oder ein Verweis auf Zeugnisverweigerungsrechte enthalten. Da die Offenheit des Wortlauts des §  142 Abs.  1 ZPO zu Abstimmungsproblemen führt, sollte insoweit eine Änderung erfolgen. Die schutzwürdigen Interessen sollten in das Gesetz aufgenommen werden, um jedenfalls im gewissen Maße eine Vorhersehbarkeit der Entscheidungen zu ermöglichen. Darüber hinaus sollte ein Vorrang der §§  422, 423 ZPO eingeführt werden. Liegen nämlich die Voraussetzungen der §§  422, 423 ZPO vor, kann die Partei einen entsprechenden Antrag stellen, sodass es einer amtswegigen Anordnung nicht bedarf. Bislang wurde davon ausgegangen, dass die Urkundenanforderung nach §  142 ZPO weiterhin von Amts wegen erfolgen sollte. Als Alternative ist zu überlegen, die Vorlageanordnung von einem Beweisantrag abhängig zu machen, sodass die Mitverantwortung der beweisbelasteten Partei hervorgehoben würde. Die Mitverantwortung der nicht beweisbelasteten Partei ist mit dem Verhandlungsgrundsatz vereinbar,354 doch würde der Parteiverantwortung besser gerecht, wenn als Voraussetzung ein Antrag der anderen Partei normiert würde. Die Vorlage von einem Antrag abhängig zu machen, bedeutet dabei nicht zwangsläufig, dass dem Antrag bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen stattgegeben werden muss. Vielmehr kann die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt werden, welches im Rahmen seiner Entscheidung vor allem Geheimhaltungsinteressen zu berücksichtigen hat. Eine Erweiterung des Antragsrechts wäre im Sinne einer Arbeitsteilung zwischen Richtern und Anwälten sinnvoll.355 Die Erweiterung der Mitwirkungsverantwortung der Parteien sollte durch eine Abstimmung mit den Vorschriften über den Urkundenbeweis abgerundet werden. 4. Parteivortrag als Grenze Die Urkundenvorlage dient dazu, das Geschehen innerhalb des von den Parteien vorgetragenen Sachverhalts aufzuklären. Daher findet die Urkundenvorlage nicht statt, wenn der Sachverhalt zwischen den Parteien unstreitig ist und der Richter keinen Anlass hat, an der Darstellung der Parteien zu zweifeln. In dem von Saenger gebildeten Szenario,356 in dem ein Gläubiger seine Forderungen 353   Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7; G. Wagner JZ 2007, 706, 709, 719; Binder ZZP 122 (2009), 187, 223. 354   So auch Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1630. 355   Zur Arbeitsteilung siehe (kritisch) Birk NJW 1985, 1489 ff. 356   Saenger ZZP 121 (2008), 139, 151.

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regelmäßig zu Finanzierungszwecken abtritt und nunmehr aufgrund einer Rückabtretung, die vom Beklagten nicht bestritten wird, den Anspruch einklagt, kann der Richter die Urkundenvorlage zwecks Überprüfung der Rückabtretung nicht anordnen.357 Es bedarf in diesem Fall keiner weiteren Substantiierung durch den Kläger, weil der Grundsatz, dass sich der Umfang der Substantiierungslast nach der Einlassung des Gegners richtet,358 weiterhin gilt. 5. Fazit Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Partei zur Mitwirkung zum Vorteil der Gegenpartei herangezogen werden kann. Einerseits sollten weitgehende Mitwirkungsbefugnisse der Parteien bestehen, andererseits einer Gefahr der offenen, zu weitgehenden Ausforschung über geminderte Substantiierungsund Bestimmtheitserfordernisse entgegengewirkt werden, wie es beispielhaft in den Principles of Transnational Civil Procedure erfolgt (Principles 11.3 Satz 1 und 16.2).359 Ausnahmsweise kann danach eine Aufklärung ohne ausreichend substantiierten Tatsachenvortrag oder ohne genügend bestimmte Beschreibung der Beweismittel erfolgen, wenn die Partei gute Gründe für ihr Unvermögen vorbringt und die Möglichkeit besteht, dass sich die notwendigen Tatsachen und Beweismittel später im Verlauf des Verfahrens ergeben oder herausstellen können (Principle 11.3 Satz 2).360 Ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst bei offensichtlicher Willkür oder Rechtsmissbrauch vor.361 Die Ablehnung eines Beweisantrags ist zulässig, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen aufs Geratewohl gemacht, »ins Blaue« aufgestellt und somit aus der Luft gegriffen sind.362 Wenn eine Partei die zur Konkretisierung ihres Prozessvortrags benötigten Tatsachen erst durch die Beweisaufnahme erfahren möchte, ist das Beweisbegehren aufgrund des Ausforschungsverbots zurückzuweisen,363 es sei denn, die hier geforderte sekundäre Vorlegungslast greift ein. Insbesondere ist zu beachten, dass terminsvorbereitend (§  273 Abs.  2 Nr.  5 ZPO) keine Amtsaufklärung stattfinden soll, sondern die Grenzen des §  142 ZPO zu berücksichtigen sind. Daher muss die termins-

357   Bei übereinstimmendem Parteivortrag kann die Urkundenvorlage allerdings zur Information des Gerichts in Betracht kommen, wenn der Sachverhalt ohne die Einsicht in die Urkunde unklar bliebe; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  6 . 358   BGH NJW-RR 1996, 1211 f. 359   Stürner RabelsZ 69 (2005), 201, 236; ders., in: FG Vollkommer, S.  201, 210. 360   Siehe §  4 II. 2. 361   BGH NJW 1996, 3147, 3150; NJW 1999, 2887, 2888. 362   BGH NJW-RR 2004, 337, 338; NJW-RR 2002, 1433, 1435. 363   BGH NZI 2008, 302, 304; NJW-RR 1997, 415; NJW 1984, 2888, 2889; G. Wagner, in: FS Leipold, S.  801, 804.

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vorbereitende Anordnung im schriftsätzlichen Vortrag einer Partei ihre Grundlage finden.364 Das Regime des §  142 ZPO, wie es aktuell durch die Rechtsprechung gehandhabt wird, ist zu eng. Die Grundsätze der sekundären Behauptungslast sind auf die Frage der Urkundenvorlage zu übertragen. Das betrifft einerseits die Sub­ stantiierung des Tatsachenvortrags, andererseits die bestimmte Bezeichnung der Urkunde. Eine Änderung der Handhabung durch die Rechtsprechung auf Grundlage des geltenden Regimes ist nicht abzusehen. Daher sollten de lege ferenda sowohl die Grundätze der sekundären Behauptungslast kodifiziert werden als auch auf die Urkundenvorlage erweitert werden. Entgegen Greger 365 besteht zur Auflösung struktureller Informationsdefizite nicht eine Konkurrenz zwischen dem Institut der sekundären Behauptungslast und Vorlageanordnungen, sondern ist eine Verknüpfung der Instrumente erforderlich. Die sekundäre Behauptungslast ist um eine sekundäre Vorlegungslast zu ergänzen, darüber hinaus eine sekundäre Informationslast in Bezug auf die Existenz von Urkunden einzufügen. Dadurch würde eine sekundäre Mitwirkungsverantwortung der Parteien geschaffen. Schließlich sollte, um eine Abstimmung mit §§  422, 423 ZPO zu erreichen, die Vorlageanordnung nach §  142 ZPO von einem Parteiantrag abhängig gemacht werden. Der Verhandlungsgrundsatz wird durch die hier vorgeschlagenen Änderungen nicht obsolet. Bei genauerer Betrachtung ist zu konstatieren, dass zwei Fragenkreise zu trennen sind. Der Verhandlungsgrundsatz betrifft die Frage, welche Tatsachen das Gericht seiner Entscheidung zugrundezulegen hat und wann es eine Beweiserhebung durchführt. Das Gericht darf nur den von den Parteien eingeführten tatsächlichen Prozessstoff bei seiner Entscheidung berücksichtigen,366 eine Beweiserhebung darf es nur anordnen, wenn zumindest eine Partei dies beantragt.367 Die Anerkennung einer prozessualen Mitwirkungsverantwortung ist die andere Frage, die jedoch nicht eine Aufgabe des Verhandlungsgrundsatzes bedeutet. Wagner 368 weist zutreffend darauf hin, dass prozessuale Aufklärungspflichten nicht dem Verhandlungsgrundsatz widersprechen, sondern es um die Frage geht, ob die strafprozessuale Maxime »nemo tenetur se ipsum accusare« entsprechend für den Zivilprozess gilt, sodass eine Partei nicht verpflichtet ist, Urkunden vorzulegen, deren Inhalt zwar für die Entscheidung des Rechtsstreits relevant, ihrer eigenen Position jedoch abträglich sei. Die traditionelle Auffassung, die prozessuale Aufklärungspflichten ablehnt, wendet diesen Grundsatz auf den Zivilprozess an, ohne jedoch diesen Standpunkt selbst

  Greger, in: Zöller, §  273 Rn.  3 ; Prütting, in: MünchKommZPO, §  273 Rn.  2 und 26.   Greger DStR 2005, 479, 482. 366   BVerfG NJW 1995, 40; BGH NJW 1998, 156, 159. 367   BVerfG NJW 1994, 1210, 1211. 368   G. Wagner JZ 2007, 706, 711. 364 365

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zu untermauern.369 Die Analyse hat gezeigt, dass an diesem Standpunkt nicht festgehalten werden sollte.

II. Weigerungsrechte und Privilegien im Prozess Es konnte dargelegt werden, dass eine Partei berechtigterweise über §  142 ZPO zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung – auch zulasten der eigenen Position – herangezogen werden kann. Darüber hinaus konnte herausgearbeitet werden, dass die Heranziehung einer Partei zur Aufklärung und Mitwirkung nicht grenzenlos erfolgen kann, sondern ihre berechtigten Interessen berücksichtigen muss. Erweiterte Auskunfts- und Vorlagepflichten erfordern ausdifferenzierte Mechanismen zur Vereinbarung der gegenseitigen Interessen. Dabei erscheint der Persönlichkeits- und Geheimnisschutz als ein wesentliches Element eines sachgerechten Interessenausgleichs. In der rechtsvergleichenden Umschau sticht die Verbindung umfassender Mitwirkungs- und Vorlagepflichten mit der Wahrung der Geheimhaltungsinteressen hervor.370 Darüber hinaus sind weitere Privilegien vorgesehen, die gegenüber einer Vorlageanordnung als Weigerungsrecht geltend gemacht werden können. Weil das deutsche Prozessrecht traditionell Vorlage- und Mitwirkungspflichten der nicht risikobelasteten Partei nicht vorgesehen hat, haben sich weder gesetzlich noch richterrechtlich Weigerungsrechte oder Privilegien entwickelt. In der Zivilprozessordnung werden Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht generell geschützt, es fehlt an einer Vorschrift, die diesen Aspekt behandelt. Eine Auseinandersetzung mit Geheimhaltungsinteressen gegenüber der anderen Prozesspartei erschien gesetzgebungstechnisch als nicht notwendig.371 Die Rechtsprechung erkennt bereits prozessrechtliche Offenlegungspflichten der Parteien an, etwa über die sekundäre Darlegungs- und Beweislast sowie §§  142 ff. ZPO, hat eine stringente Linie zum Geheimnisschutz jedoch nicht entwickeln können.372 Grob umrissen ist Standpunkt der Rechtsprechung, dass die beweisbelastete Partei auf den Geheimnisschutz verzichten muss, wenn sie einen Prozessnachteil/-verlust vermeiden möchte,373 der Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei wird uneinheitlich gehandhabt – eine in jedem Fall unbefriedigende Lösung.374 Dementsprechend soll nunmehr eine Untersuchung erfolgen, wie Mitwirkungspflichten und Geheimhaltungsinteressen miteinander verbunden werden können.

  G. Wagner JZ 2007, 706, 711.   Dolge, in: Spühler, S.  33, 37; im Einzelnen siehe §  3. 371   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 473 ff. 372   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 266. 373   Kürschner NJW 1992, 1804, 1805. 374   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 266; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 474 f. 369

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1.  Prozessualer Geheimnisschutz de lege lata Überlegungen zum Geheimnisschutz müssen zunächst die geltende Rechtslage betrachten. Darauf aufbauend können Überlegungen zur Veränderung angestellt werden. a)  Geheimnisschutz durch den Ausschluss der Öffentlichkeit Das Gericht kann für die Verhandlung oder für einen Teil davon die Öffentlichkeit ausschließen, wenn ein wichtiges Geschäfts-, Betriebs-, Erfindungs- oder Steuergeheimnis zur Sprache kommt, durch dessen öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen verletzt würden (§  172 Nr.  2 GVG), oder wenn ein privates Geheimnis erörtert wird, dessen unbefugte Offenbarung durch den Zeugen oder Sachverständigen mit Strafe bedroht ist (§  172 Nr.  3 GVG). Durch diese Vorschriften wird nicht vor einer Offenbarung des Geheimnisses generell geschützt, sondern lediglich vor einer Offenbarung in der (Prozess-) Öffentlichkeit. Die Verhandlung über den Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt in nicht öffentlicher Sitzung, wenn ein Beteiligter das beantragt oder das Gericht es für angemessen erachtet (§  174 Abs.  1 S.  1 GVG). Um zu verhindern, dass die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen aus dem Gerichtssaal herausdringen, kann der Ausschluss der Öffentlichkeit mit der Geheimhaltungspflicht der anwesenden Personen über Tatsachen verbunden werden, die durch die Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zu ihrer Kenntnis gelangen (§  174 Abs.  3 GVG). Die entgegen der auferlegten Schweigepflicht unbefugte Offenbarung der Tatsachen ist einerseits mit Strafe bewehrt (§  353d Nr.  2 StGB), die jedoch nur bei vorsätzlicher Offenbarung greift, andererseits kann sie zu Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüchen führen (§  823 Abs.  2, §  826 BGB; §  1004 BGB). Ein Schutz besteht dadurch aber nur in relativer Form, und zwar gegenüber nicht an dem Prozess beteiligten Dritten. Der Schutz ist in inhaltlicher Hinsicht eingeschränkt, weil die Offenbarung gegenüber den am Prozess Beteiligten erfolgen muss und die Weitergabe der Informationen zwar sanktioniert ist, aber die Nichtweitergabe dadurch keineswegs gesichert ist. Die Wirksamkeit der Maßnahmen ist aufgrund des nicht geklärten tatsächlichen Abschreckungspotentials der Sanktionen ungewiss. Auch wenn die Verletzung der Geheimhaltungsverpflichtung strikt sanktioniert würde,375 indem etwa an die Verbreitung oder Verwendung ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch geknüpft wird, kann die Abschreckungswirkung darunter leiden, dass zu einem Schadensersatzanspruch weitere Hürden zu nehmen sind, etwa der Nachweis der Verletzungshandlung, der haftungsbegründenden Kausalität, des Schadens   De lege ferenda sollten die Sanktionen über die derzeitige Rechtslage hinausgehen; Stadler ZZP 123 (2010), 261, 267 mit dem Hinweis auf die englischen undertakings. 375

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und der haftungsausfüllenden Kausalität. Problematisch sind insbesondere der Nachweis der unbefugten Offenbarung und die Darlegung eines Schadens.376 Wird ein Geheimnis entgegen der Geheimhaltungspflicht offenbart und kann das nachgewiesen werden, ist darüber hinaus fraglich, ob die Sanktionsmechanismen einen angemessenen Ausgleich für den Geschädigten bieten. Aus diesem Grund ist der Ausschluss der Öffentlichkeit verbunden mit einer Verschwiegenheitsverpflichtung selbst in der Konstellation, dass ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Parteien nicht besteht, nicht unbedingt ausreichend.377 Ein wirksamer Schutz der Geheimhaltungsinteressen könnte darüber kaum gewährleistet werden. Generell ist von den genannten Geheimhaltungsregeln nicht die Geheimhaltung gegenüber der anderen Prozesspartei erfasst. Das ist relevant, wenn sich das Geheimhaltungsinteresse gegen den Prozessgegner richtet, weil es sich um einen Konkurrenten handelt. Im Rahmen der Beweisaufnahme gilt der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit (§  357 Abs.  1 ZPO). Die Klage eines Konkurrenten kann darauf angelegt oder es kann als Nebeneffekt erwünscht sein, dass der Prozessgegner Informationen aus der geheimhaltungsbedürftigen Sphäre zur Verteidigung offenbaren muss. Wird eine Aufklärungspflicht aus materiellem Recht oder über die sekundäre Behauptungslast angenommen, stellt sich das Problem der Geheimhaltung in voller Schärfe. Da ein Schutz der Geheimhaltungsinteressen der Prozesspartei gegenüber der anderen Partei durch den Ausschluss der Öffentlichkeit nicht gewährleistet werden kann, bleibt die Wahl zwischen Offenbarung und Verlust des Prozesses. Handelt es sich um ein Geheimnis, welches gegenüber dem Prozessgegner zu schützen ist, sollte ein anderer Mechanismus, der einen höheren Schutzstandard erreicht, gewählt werden. b)  Geheimnisschutz für die Parteien und Dritte Der prozessuale Geheimnisschutz ist für Parteien und Dritte unterschiedlich ausgestaltet.378 Parteien sind diejenigen Personen, welche die staatliche Rechtsschutzhandlung begehren und gegen die sie begehrt wird.379 Dritte sind diejenigen Personen, die nicht als Partei am Rechtsstreit beteiligt sind. Dem Geheimnisschutz Dritter wird gesetzgeberisch hohe Bedeutung zugemessen, während der Geheimnisschutz der Prozessparteien – wie bereits angedeutet – nur rudimentär geregelt ist und insoweit die Leitlinien durch die Rechtsprechung vorgegeben werden. Untersucht werden soll im Folgenden der Geheimnisschutz der am Prozess beteiligten Parteien. Gleichwohl ist zunächst der Geheimnisschutz   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 267.   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 476; so aber Stürner JZ 1985, 453, 458. 378  Grundlegend zur Unterscheidung zwischen Parteien und Zeugen G. Wagner ZEuP 2001, 441, 473 ff. 379   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  40 Rn.  1. 376

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Dritter darzustellen, weil dessen gesetzliche Ausgestaltung Aufschlüsse für den Geheimnisschutz der Prozessparteien geben kann. aa)  Geheimnisschutz Dritter Dritte können sich als Zeuge auf die Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen (§  383 ZPO) oder sachlichen Gründen (§  384 ZPO) berufen. Persönliche Zeugnisverweigerungsrechte bestehen aus familiären oder verwandtschaftlichen Gründen (§  383 Abs.  1 Nr.  1–3 ZPO), darüber hinaus gilt das Beichtgeheimnis (§  383 Abs.  1 Nr.  4 ZPO), das Redaktionsgeheimnis (§  383 Abs.  1 Nr.  5 ZPO) und das Geheimnis der Personen mit besonderer Vertrauensstellung (§  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO) 380 . Die Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen Gründen schützen dabei freilich nicht ein bestimmtes Geheimnis, sondern es geht um den generellen Schutz einer Vertrauensbeziehung oder die Vermeidung eines persönlichen Interessenkonflikts. Sachliche Zeugnisverweigerungsrechte bestehen über Fragen, deren Beantwortung dem Zeugen oder nahestehenden Personen einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden verursachen würde (§  384 Nr.  1 ZPO), über Fragen, deren Beantwortung dem Zeugen oder nahestehenden Personen zur Unehre gereichen oder die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden (§  384 Nr.  2 ZPO), schließlich über Fragen, deren Beantwortung ein Kunst- oder Gewerbegeheimnis offenbaren würde (§  384 Nr.  3 ZPO). Anders als ein persönliches gibt ein sachliches Zeugnisverweigerungsrecht nicht das Recht, das Zeugnis insgesamt zu verweigern, sondern nur bezüglich solcher Fragen, die den Zeugen in eine beschriebene Konfliktlage bringen können.381 Die Zeugnisverweigerungsrechte finden auf die Urkundenvorlagepflicht Dritter sowie die Pflicht zur Vorlage von Augenscheins­ objekten bzw. zur Duldung der Besichtigung entsprechende Anwendung (§§  142 Abs.  2, 144 Abs.  2 ZPO). Für die hier interessierende Fragestellung sind zwei Zeugnisverweigerungsrechte von besonderer Relevanz: zum einen das sachliche Zeugnisverwei­ gerungsrecht über Fragen, deren Beantwortung ein Kunst- oder Gewerbegeheimnis offenbaren würde (§  384 Nr.  3 ZPO), zum anderen das persönliche Zeugnisverweigerungsrecht der Personen, denen aufgrund ihrer besonderen Vertrauensstellung geheime Tatsachen anvertraut sind (§   383 Abs.   1 Nr.   6 382 ZPO).   Ausführlich zur anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht Mann, S.  13 ff.   BGH NJW 1994, 197 f.; Greger, in: Zöller, §  384 Rn.  1. 382   Auf die Zeugnisverweigerung aus persönlichen Gründen hat der Beweisführer keinen Einfluss, weshalb sich eine negative Beweiswürdigung zu seinen Lasten grundsätzlich verbietet; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  120 Rn.  28; Berger, in: Stein/Jonas, §  383 Rn.  16; Greger, in: Zöller, §  383 Rn.  7. Lediglich im Einzelfall kann die Zeugnisverweigerung aus sachlichen 380 381

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(1)  Sachliches Zeugnisverweigerungsrecht nach §  384 Nr.  3 ZPO Das sachliche Zeugnisverweigerungsrecht erfasst die eigenen Kunst- und Gewerbegeheimnisse des Zeugen. Das Geschäfts- und Betriebsgeheimnis eines Dritten ist damit im Zivilprozess umfassend geschützt. Fraglich ist, ob fremde Geheimnisse erfasst sind. Sind Geheimnisse einer Prozesspartei betroffen, greift §  384 Nr.  3 ZPO nicht ein, weil dann das Regime für den Geheimnisschutz der Parteien gilt.383 Das Geheimnis eines prozessunbeteiligten Dritten ist geschützt, soweit der Zeuge ihm gegenüber vertraglich oder gesetzlich zur Geheimhaltung verpflichtet ist.384 Wenn behauptet wird, dass eine Entbindung von der Schweigeverpflichtung das Zeugnisverweigerungsrecht nicht entfallen lasse, weil §  385 Abs.  2 ZPO nicht anwendbar sei,385 kann dieser Aussage in ihrer Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Ein Verlust des Zeugnisverweigerungsrechts kommt nicht in Betracht, soweit das fremde mit einem eigenen Geheimnis verbunden ist.386 Der Zeuge kann sich nämlich weiterhin auf das eigene Geheimnis zur Zeugnisverweigerung berufen. Besteht aber nicht gleichzeitig ein eigenes Geheimnis des Zeugen, dann bedeutet die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht den Verlust des sachlichen Zeugnisverweigerungsrechts.387 Das beruht nicht auf einer analogen Anwendung des §  385 Abs.  2 ZPO,388 sondern auf der Aufhebung der aus Vertrag oder Gesetz fließenden Geheimhaltungsverpflichtung. Einschränkungen ergeben sich wiederum da­ raus, dass von einer auf Gesetz beruhenden Verschwiegenheitspflicht nur entbunden werden kann, soweit der Dritte dispositionsbefugt ist. (2)  Persönliches Zeugnisverweigerungsrecht nach §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO Das Zeugnisverweigerungsrecht aus §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO für Personen, denen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist, erfasst Beamte, andere Personen des öffentlichen Rechts, die in der Rechtspflege tätigen Personen sowie die Angehörigen der Heilberufe.389 Dem Rechtsanwalt anvertraut sind die Tatsachen, die der Mandant ihm zur Interessenvertretung Gründen als ein Indiz bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden; BGHZ 26, 391, 400 = NJW 1958, 826, 827; Berger, in: Stein/Jonas, §  384 Rn.  19; Greger, in: Zöller, §  383 Rn.  7. 383   Damrau, in: MünchKommZPO, §  384 Rn.  13; Stürner JZ 1985, 453, 454. 384   OLG Düsseldorf MDR 1978, 147 f.; Schlosser ZZP 95 (1982), 364, 365; Greger, in: Zöller, §  384 Rn.  7; a. A. Berger, in: Stein/Jonas, §  384 Rn.  15: Schutz über §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO, dessen Anwendungsbereich weit zu ziehen sei. 385   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §   384 Rn.   8; Berger, in: Stein/Jonas, §   384 Rn.  14 f. 386   Reichold, in: Thomas/Putzo, §  385 Rn.  5 ; Stürner JZ 1985, 453, 454. 387   Damrau, in: MünchKommZPO, §  384 Rn.  13. 388   So wohl Stürner JZ 1985, 453, 454. 389  Im Einzelnen zu dem geschützten Personenkreis: Berger, in: Stein/Jonas, §   383 Rn.  48 ff.; Damrau, in: MünchKommZPO, §  383 Rn.  37 ff.; Greger, in: Zöller, §  383 Rn.  16 ff.

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mitgeteilt hat; geschützt sind die Tatsache der Mitteilung und der Inhalt.390 Fraglich ist, ob auch eigene Handlungen des Rechtsanwalts erfasst sind, wie die Erteilung eines bestimmten Rats oder eines Rechtsgutachtens.391 Der Mandant vertraut das Gutachten nicht dem Anwalt an, sondern der Anwalt erstellt das Gutachten für den Mandanten. Das spricht gegen eine Einbeziehung in den Anwendungsbereich des §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO. Allerdings kann für eine Einbeziehung angeführt werden, dass das Gutachten auf der Basis der zur Verfügung gestellten, d. h. anvertrauten Tatsachen erstellt wird. Eine Offenlegung des Gutachtens hätte eine zumindest mittelbare Offenlegung der Tatsachen zur Folge. Der Rechtsrat ist von den zugrunde liegenden Tatsachen nicht zu trennen, sodass in Bezug auf den Inhalt des Gutachtens ein Zeugnisverweigerungsrecht angenommen werden muss.392 Um einen wirksamen Geheimnisschutz zu gewährleisten, ist der Anwendungsbereich weit auszulegen, sodass er diejenigen Berufe erfasst, die typischerweise einen Einblick in fremde Geheimnisse bedeuten.393 Das Zeugnisverweigerungsrecht steht den Bediensteten und Gehilfen der erfassten Personen zu, ferner den Organwaltern der juristischen Personen. Für sie wäre der Vertrauensschutz wertlos, wenn die Person, die das Amt bekleidet oder den Beruf selbstständig ausübt, von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, ihre Gehilfen jedoch das Geheimnis offenbaren. Im Fall der Entbindung von der Verschwiegenheit dürfen die in §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO genannten Personen das Zeugnis nicht verweigern (§  385 Abs.  2 ZPO). (3) Ergebnis Das Zeugnisverweigerungsrecht Dritter ist somit umfassend geregelt. Eigene Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse müssen im Prozess nicht zur Verfügung gestellt werden, sodass insoweit eine prozessfreie Sphäre besteht.394 Es findet im Einzelfall keine Abwägung zwischen den Geheimhaltungsinteressen des Dritten und dem Interesse einer Partei an einem effektiven Rechtsschutz statt, sondern der Gesetzgeber hat generell eine Entscheidung zugunsten der Geheimhaltung getroffen. Dahinter steht die Erwägung, dass es für den Zeugen unzumutbar ist, eigene berufliche oder gewerbliche Nachteile durch die Aussage zu riskieren.395 Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht nach herrschender Meinung unabhängig davon, ob über den Ausschluss der Öffentlichkeit (§  172 Nr.  2   Berger, in: Stein/Jonas, §  383 Rn.  6 4.   Konrad NJW 2004, 710, 711 Fn.  10. 392   Verneint man insoweit den Anwendungsbereich des §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO, greift freilich der allgemeine Schutz der Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt ein; siehe §  8 II. 2. c). 393   Berger, in: Stein/Jonas, §  383 Rn.  58 f.; Stürner JZ 1985, 453, 454. 394   Stürner JZ 1985, 453, 454. 395   Greger, in: Zöller, §  384 Rn.  7. 390 391

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Teil 3:  Information und Offenlegung

GVG) und eine strafbewehrte Verschwiegenheitsverpflichtung der anwesenden Verfahrensbeteiligten (§  174 Abs.  3 GVG, §  353d Nr.  2 StGB) ein Geheimnisschutz erreicht werden könnte, etwa in dem Fall, dass zwischen dem Zeugen und den Verfahrensbeteiligten kein Konkurrenzverhältnis besteht.396 bb)  Geheimnisschutz der Prozessparteien Weigerungsrechte sind für die Parteien nicht ausdrücklich vorgesehen, sodass sich die Frage nach einer Übertragung anderer Weigerungsrechte bzw. die Frage nach Ausnahmen von der Vorlagepflicht stellt. (1)  Hintergrund des Fehlens eines expliziten Geheimnisschutzes Hintergrund für das Fehlen besonderer Weigerungsrechte ist der Umstand, dass die Parteien nur subsidiär als Beweismittel herangezogen werden (§§  445 ff. ZPO).397 Weil die Parteien regelmäßig nicht beweisrechtlich relevant werden, hat der Gesetzgeber dementsprechend keine Notwendigkeit zur Aufnahme besonderer Weigerungsrechte gesehen.398 Für die Parteivernehmung verweist §  451 ZPO zwar auf bestimmte Vorschriften über den Zeugenbeweis, allerdings nicht auf die Zeugnisverweigerungsrechte. Die Pflichten der Parteien zur Urkundenvorlage und zur Vorlage von Augenscheinsobjekten bzw. zur Duldung ihrer Besichtigung werden ebenfalls nicht durch einen Verweis auf Zeugnisverweigerungsrechte eingeschränkt (siehe §§  142, 144 ZPO). Die Zeugnisverweigerungsrechte gelten für die Prozessparteien daher nicht unmittelbar. (2)  Keine entsprechende Anwendung der Zeugnisverweigerungsrechte Die Zeugnisverweigerungsrechte können keine entsprechende Anwendung finden, denn die Interessen von Parteien und Zeugen sind gänzlich unterschiedlich. Die Zeugnisverweigerungsrechte sind auf die Interessenkollisionen der Zeugen zugeschnitten.399 Für eine Analogie fehlt es mithin bereits an einer vergleichbaren Interessenlage.400 Exemplarisch wird das an den Weigerungsrechten in §  383 Abs.  1 ZPO deutlich, die an eine besondere persönliche Nähebeziehung des Zeugen zu einer Partei anknüpfen (Nr.  1–3).401 Die für Zeugen geltende Vor396   Aus diesem Grund wird das Regime zur Zeugnisverweigerung teilweise als zu weitgehend angesehen, weil auch über die genannten Instrumente eine Geheimhaltung gewährleistet werden könnte; Stürner JZ 1985, 453, 455 (nicht jedoch in Rechtshilfefällen, weil die Geheimhaltung im Ausland nicht zu überwachen sei). 397   Greger, in: Zöller, §  4 45 Rn.  3. 398   G. Wagner JZ 2007, 706, 715. 399   BGHZ 153, 165, 171 f. = NJW 2003, 1123, 1125; G. Wagner JZ 2007, 706, 715; Zekoll/ Bolt NJW 2002, 3129, 3130; a. A. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  138 Rn.  21 für §  384 Nr.  2 ZPO. 400   Zu den Voraussetzungen der Analogie im Einzelnen Canaris, S.  31 ff. 401   G. Wagner JZ 2007, 706, 715.

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schrift des §  384 Nr.  3 ZPO ist nicht (analog) anzuwenden, weil die Zumutbarkeitsschwelle für eine Partei höher anzusetzen ist.402 Der Zeuge ist unbeteiligter Dritter, in dessen Rechtskreis zwecks Aufklärung eines zwischen anderen geführten Rechtsstreits nur im Rahmen der Zumutbarkeit eingegriffen werden darf. Die Zumutbarkeitsschwelle ist bei Kunst- und Gewerbegeheimnissen überschritten, weshalb der Zeuge ein Zeugnisverweigerungsrecht besitzt. Die Prozesspartei befindet sich hingegen in einem Prozessrechtsverhältnis, welches Pflichten und Lasten mit sich bringt. (3)  Ausnahmsweise zu gewährender Geheimnisschutz Eine Verweigerung der Mitwirkung kann nicht mit der ansonsten drohenden Offenlegung eigener Straftaten403 oder unehrenhaften Verhaltens404 gerechtfertigt werden. Die Parteien müssen Ärzte, Anwälte oder Bankangestellte von ihrer Schweigepflicht entbinden, um Prozessnachteile zu vermeiden.405 Als schutzwürdig wird man hingegen Umstände aus der Intimsphäre ansehen müssen, sodass etwa Psychotherapeuten nicht von der Schweigepflicht zu entbinden sind.406 Ebenfalls wird man einer Partei nicht zumuten können, Geheimnisse Dritter zu offenbaren, zu deren Geheimhaltung sie sich vertraglich (in strafbewehrter Weise) verpflichtet hat.407 Dies ergibt sich aus der Wertung des §  384 Nr.  3 ZPO, weil danach Dritte nicht Informationen offenlegen müssen, die ein Gewerbegeheimnis betreffen.408 Weil Geheimnisse Dritter betroffen sind, muss das für Dritte geltende Regime eingreifen. Vergegenwärtigt man sich, dass der Dritte als Zeuge das unmittelbare Beweismittel wäre und sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht nach §  384 Nr.  3 ZPO berufen könnte, würde man diese Wertung unterlaufen, wenn die Partei über die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen Auskunft gibt.409 Darüber hinaus muss eine Partei keine Geheimnisse offenbaren, bezüglich derer sie sich in einem anderen Prozess als Zeuge auf den Geheimnisschutz nach §  383 Abs.  1 Nr.  6 ZPO berufen könnte. Erfährt eine Person Tatsachen kraft   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  228.   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  180 ff.; ders. NJW 1981, 1757 ff.; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; G. Wagner JZ 2007, 706, 716; kritisch Henckel ZZP 92 (1979), 100, 106; a. A. Huber, in: Musielak, §  446 Rn.  1. 404   BGH JZ 2003, 630, 631 f. (mit Hinweis auf die Wahrheitsfindung im Zivilprozess); str., siehe auch BVerfGE 56, 37, 44 ff. = NJW 1981, 1431 ff. 405   BGH NJW 1967, 2012 f.; Stadler ZZP 123 (2010), 261, 264; Mann, S.  21. 406   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 264. 407   Stadler, S.  124 (es sei denn, der Dritte ist an der Verletzungshandlung beteiligt); dies. ZZP 123 (2010), 261, 264; Gottwald BB 1979, 1780, 1783. 408   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 264 Fn.  25. 409   A. A. Stürner JZ 1985, 453, 460, der die Mitwirkung unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Verschwiegenheitsverpflichtung bzw. in einem Geheimverfahren als sachgerecht erachtet. 402 403

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Amtes, Standes oder Gewerbes, die eine Geheimhaltung gebieten, muss die Geheimhaltung unabhängig von der Prozesskonstellation bestehen. Geschützt sind nämlich der Vertrauensgeber sowie die Vertrauenswürdigkeit der genannten Berufsgruppen.410 Gegenüber dem Dritten als Vertrauensgeber kann die Offenbarung nicht gerechtfertigt werden, auch nicht in einem Geheimverfahren nur gegenüber dem Gericht und den Anwälten. Vielmehr besteht insoweit ein umfassender Geheimnisschutz. (4)  Auswirkungen für die Parteien Abgesehen von den genannten Ausnahmen besteht für die Parteien kein Geheimnisschutz. Die Prozessparteien stehen damit vor der Wahl, entweder geheimhaltungswürdige Tatsachen zu offenbaren oder einen Prozessnachteil zu erleiden, weil die unterlassene Mitwirkung negativ gewürdigt wird.411 Exemplarisch sei die Konstellation genannt, in der der klagende Verband in einem Wettbewerbsprozess gegenüber dem beklagten Unternehmen nicht die Identität der Unternehmen preisgeben wollte, die als Informanten über die notwendigen Informationen verfügten. Der Verband berief sich auf ein Geheimhaltungsbedürfnis, weil die Offenlegung der hinter ihm stehenden Unternehmen wegen der Gefahr wirtschaftlicher Repressalien nicht zumutbar sei. Das Berufungsgericht hatte die Namensnennung hingegen für zumutbar gehalten und aufgrund der fehlenden Namensnennung die Klägerin als beweisfällig behandelt. Diese Rechtsauffassung ist vom BGH bestätigt worden.412 Die von der Klägerin gewählte Geheimhaltung war somit mit dem Prozessverlust gleichbedeutend. Hinter der Ablehnung des Geheimnisschutzes für die Parteien steht die Überlegung, dass es den Parteien eher zugemutet werden kann, Interessenkonflikte   Greger, in: Zöller, §  383 Rn.  17; Stürner JZ 1985, 453, 460.   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 264. Daraus ergibt sich dann auch, dass eine Partei die Mitwirkung immer verweigern kann, solange sie bereit ist, prozessuale Nachteile in Kauf zu nehmen. Diese Möglichkeit besteht für den Zeugen nicht, weshalb insoweit ein Bedarf für die Anordnung von Zeugnisverweigerungsrechten gegeben ist; Stadler, S.  116. 412   BGH NJW 1983, 171, 172 – Unentgeltliche Übernahme der Preisauszeichnung. In dem konkreten Fall kam noch hinzu, dass die Klägerin in der Berufungsinstanz in einem Schriftsatz die Firmen namentlich aufgeführt hatte, die sie über das als wettbewerbswidrig beanstandete Verhalten der Beklagten unterrichtet hatten. Damit waren die Firmen bereits »enttarnt«, sodass die Gefahr von Repressalien bereits bestand und nicht mehr abgewendet werden konnte. Die Klägerin hätte zusätzlich im Rahmen konkreter Beweisanträge »lediglich« noch die Namen der Mitarbeiter nennen müssen, die für die Firmen die Vertragsverhandlungen führten. Das sei auch deswegen zumutbar gewesen, weil sich etwaige Repressalien nicht gegen die Mitarbeiter, sondern gegen die Unternehmen selbst gerichtet hätten. Darüber hi­ naus führte der BGH aber aus, dass sich die Frage der Zumutbarkeit jedenfalls dann nicht stelle, wenn führende Unternehmen einer Branche lediglich Schwierigkeiten von Seiten eines nur regional bedeutenden Unternehmens zu besorgen hätten. Gefährdungen dieses Umfangs gehörten in der Regel zu den Risiken, die marktstarken Unternehmen im Rahmen eines wettbewerbsrechtlichen Musterprozesses zugemutet werden müssten. 410 411

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auszuhalten. Dies gilt jedenfalls, wenn es um die Geheimnisse der beweisbelasteten Partei geht. In dieser Eindeutigkeit besteht die Rechtslage nicht für Geheimnisse der nicht beweisbelasteten Partei. In der Bärenfang-Entscheidung413 hielt der BGH die Beklagte zur Aufklärung verpflichtet, weil aufgrund der Umstände des Einzelfalls eine Darlegungs- und Beweispflicht der Beklagten anzunehmen sei. Danach hätte die Beklagte darlegen müssen, ob ihr Likör »nach einem alten ostpreußischen Familienrezept« hergestellt wird. Allerdings konnte sich die Beklagte für den Inhalt des Rezepts auf ein Geschäftsgeheimnis berufen, soweit an dessen Wahrung ein berechtigtes Interesse bestand.414 In weiteren Entscheidungen, in denen es um kaufmännische Geschäftsgeheimnisse ging, hat der BGH allerdings eine Mitwirkungspflicht angenommen und einen Geheimnisschutz abgelehnt. In dem Prozess um die irreführende Werbung eines Pressediensts traf den Beklagten im Rahmen der Frage, ob seine Behauptung der hohen Anzahl von Mitarbeitern unrichtig war, die sekundäre Darlegungslast. Dem Kläger fehle die genaue Kenntnis der Tatsachen, der Beklagte habe sie und könne leicht die erforderliche Aufklärung beibringen. Voraussetzung sei jedoch die Zumutbarkeit der Aufklärung. Daher treffe den Beklagten nicht die Pflicht, die Namen derjenigen zu nennen, die laufend Beiträge für den Pressedienst leisten. Es sei ihm jedoch zuzumuten, die Zahl der Beiträge Leistenden zu nennen,415 für die er sich auf einen Geheimnisschutz nicht berufen konnte. Weil der Beklagte mit einer hohen Anzahl von Mitarbeitern warb, war freilich das Geheimhaltungsinteresse bezüglich der Zahl der Beiträge Leistenden als gering einzustufen. In einem anderen Wettbewerbsprozess billigte der BGH die Vorgehensweise des Berufungsgerichts, die Weigerung der Beklagten, ihre Umsätze anzugeben, im Wege der Beweiswürdigung dahin zu verwerten, dass die Beklagte den Anforderungen an Größe und Bedeutung eines unter Verwendung des Bestandteils »Euro« firmierenden Unternehmens nicht gerecht werde.416 Die Beklagte habe sich ohne zureichenden Grund geweigert, ihre Umsätze mitzuteilen.417   BGH NJW 1962, 2149, 2150 – Bärenfang.   Die Entscheidung passt auf den ersten Blick nicht zu der Frage, ob sich die nicht beweisbelastete Partei auf den Geheimnisschutz berufen kann, weil der BGH eine Beweislastumkehr bezüglich der Frage der Herkunft des Rezepts vornimmt und somit die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast trägt. Allerdings zeigen die weiteren Ausführungen, dass berücksichtigt wird, dass die Beklagte nach der Gesetzeslage nicht die Beweislast trägt; eine Aufklärung der Beklagten wird nur im Rahmen des Zumutbaren verlangt. 415   BGH NJW 1961, 826, 828 – Pressedienst. 416   BGH GRUR 1970, 461, 463 – Euro-Spirituosen. 417   Als Beispiel für den fehlenden Geheimnisschutz wird teilweise auf eine Entscheidung des BGH in einem Wettbewerbsprozess verwiesen (so Stürner JZ 1985, 453, 457), in dem er dem nicht beweisbelasteten Beklagten die aus §  242 BGB abgeleitete prozessuale Pflicht auferlegte, seine Preislisten vorzulegen, um einen Preisvergleich zu ermöglichen (BGH GRUR 1971, 164, 167 – Discount-Geschäft). Allerdings handelte es sich um die Preise, die der Beklag413 414

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(5) Ergebnis Die Rechtsprechung in Bezug auf die Geheimhaltungsinteressen der nicht beweisbelasteten Partei ist damit weniger übersichtlich, doch gibt es jedenfalls keinen absoluten Geheimnisschutz. Eine verweigerte Mitwirkung der Partei muss sich aber keineswegs nachteilig auswirken, woraus letztlich die Unsicherheit in der praktischen Anwendung abzuleiten ist. Die Weigerung zur Parteivernehmung kann zum Nachteil der sich weigernden Partei gewürdigt werden, muss es aber nicht unbedingt. Das Gericht kann die Motive zur Weigerung als achtenswert einstufen und von einer negativen Beweiswürdigung absehen.418 Der Hinweis der nicht beweisbelasteten Partei auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse verhindert nicht zwangsläufig eine negative Beweiswürdigung. Es ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, ob die Weigerung den Schluss auf die behauptete Tatsache zulässt. Anders als bei einer verweigerten Zeugenaussage wird dieser Schluss jedoch generell eher als zulässig erachtet. Gebe eine Partei ihren Geheimhaltungsinteressen den Vorrang, sei eine negative Beweiswürdigung nicht unbillig, erst recht nicht, wenn eine Mitwirkungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei bestehe.419 cc) Fazit Die Parteien können sich somit grundsätzlich nicht auf Weigerungsrechte be­ rufen. Im Vergleich zum Geheimnisschutz Dritter zeigt sich ein vollkommen entgegengesetztes Bild. Während sich Dritte in umfassender Weise auf den Geheimnisschutz berufen können, gilt das für die Prozessparteien nicht. Die Begründung dafür kann richtigerweise darin gesehen werden, dass die Zumutbarkeitsschwelle für Dritte deutlich höher ist als für die Parteien. Die Prozess­ partei möchte hingegen ihr Recht durchsetzen. Das kann durchaus mit weitergehenden Pflichten und Lasten verbunden sein. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht die Parteien berechtigte Geheimhaltungsinteressen haben können, denen Rechnung zu tragen ist. Mit der vorgeschlagenen Erweiterung der Mitwirkungsverantwortung420 muss auch der Schutz der Geheimnisinteressen der Parteien intensiviert werden. 2.  Schützenswerte Sphären Damit bleibt die Frage zu klären, welche Sphären im Einzelnen als schützenswert anzuerkennen sind. Im Vordergrund der Diskussion stehen Geheimhalte in seinem Geschäft forderte, sodass es sich um der Allgemeinheit zugängliche Tatsachen handelte und Geheimhaltungsinteressen nicht betroffen waren. 418   Greger, in: Zöller, §  4 46 Rn.  1. 419   BGH NJW-RR 1991, 888, 891; Leipold, in: Stein/Jonas, §  446 Rn.  8. 420   Siehe §  8 I.

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tungsinteressen der Parteien, die aus Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen421 sowie aus höchstpersönlichen Daten folgen. Einzugehen ist außerdem auf die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung sowie öffentliche Interessen.422 a)  Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind nicht allgemein bekannte Tatsachen, die mit dem Geschäftsbetrieb zusammenhängen und an deren Nichtoffenbarung ein erhebliches wirtschaftliches Interesse besteht.423 Entscheidend für die Einstufung als Geheimnis ist neben der Nichtoffenkundigkeit sowohl der Geheimhaltungswille als auch ein Geheimhaltungsinteresse.424 Erfasst sind technische Arbeitsmittel, Fertigkeiten und Methoden, wie etwa Herstellungsverfahren und Konstruktionspläne, sowie kaufmännische Daten und Kenntnisse, wie etwa Kundenlisten, Bezugsquellen, Einkaufspreise, Preiskalkulationen und Kreditverhältnisse.425 Die grundsätzliche Schutzwürdigkeit der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ist mittlerweile anerkannt. Verfassungsrechtlich wird sie aus Art.  12 Abs.  1 und 14 GG abgeleitet; 426 sie kann auch über Generalklauseln im Verhältnis zwischen Privaten Wirkung entfalten (mittelbare Drittwirkung).427 Einfachgesetzlich zeigt sich die gesetzgeberische Wertung der Schutzwürdigkeit von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen ebenfalls. Der unbefugte Verrat anvertrauter Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse sowie deren unbefugtes Verschaffen oder Sichern ist mit Strafe bedroht (§  17 Abs.  1 und 2 UWG). Die unbefugte –   Zur Bedeutung des Schutzes des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses: Stadler, S.  1 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  216 f. Zu den Geschäftsgeheimnissen, die im Rahmen der Auskunftsansprüche im Recht des Geistigen Eigentums relevant werden, siehe Siebert, S.  239 ff. 422   Freilich gibt es weitere Geheimnisse, an deren Geheimhaltung der Berechtigte ein Interesse hat, etwa das Bankgeheimnis, Steuergeheimnis oder das Redaktionsgeheimnis. Jedoch kann hier nicht auf alle Geheimnissphären eingegangen werden. Die grundlegenden Überlegungen sind allerdings auf diese Geheimnisbereiche zu übertragen. 423   Definition des Geschäftsgeheimnisses i. S. des §  17 UWG bei BGH GRUR 1955, 424: »Unter einem Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis ist jede im Zusammenhang mit einem Betrieb stehende Tatsache zu verstehen, die nicht offenkundig, sondern nur einem eng begrenzten Personenkreis bekannt ist und nach dem bekundeten Willen des Betriebsinhabers, der auf einem ausreichenden wirtschaftlichen Interesse beruht, geheimgehalten werden soll.«; siehe auch bereits RGZ 54, 323, 325; 149, 329, 334. Im Einzelnen zu den Anforderungen an ein Geschäftsgeheimnis Stadler, S.  6 ff.; kürzer Lückemann, in: Zöller, §  172 GVG Rn.  6. 424   Ploch-Kumpf, S.  8 ; Stadler, S.  9 ff.; Stürner JZ 1985, 453. 425   Berger, in: Stein/Jonas, §  384 Rn.  10; Damrau, in: MünchKommZPO, §  384 Rn.  14; Greger, in: Zöller, §  384 Rn.  7. Der Begriff der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse reicht somit über das Know-how eines Unternehmens hinaus; Stürner JZ 1985, 453. Zur Unterscheidung zwischen Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen Stürner, Aufklärungspflicht, S.  208. 426   BVerfGE 115, 205, 229 f. = NVwZ 2006, 1041, 1042 – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis; gegen die Heranziehung des Art.  14 Abs.  1 GG: Wolff NJW 1997, 98, 99. 427   BVerfGE 7, 198, 205 – Lüth. 421

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zu Zwecken des Wettbewerbs oder aus Eigennutz – Verwertung oder Mitteilung im geschäftlichen Verkehr anvertrauter Vorlagen oder Vorschriften technischer Art ist nach §  18 Abs.  1 UWG strafbar. Nach §  203 StGB wird bestraft, wer unbefugt ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis offenbart, wenn es ihm in einer bestimmten Eigenschaft als Angehöriger der vom Gesetz ausdrücklich genannten Berufsgruppen (§  203 Abs.  1 StGB) oder als Amtsträger bzw. amtsnahe Person (§  203 Abs.  2 StGB) anvertraut worden oder sonst bekannt geworden ist.428 Unter Strafe gestellt ist darüber hinaus die unbefugte Verwertung eines solchen Geheimnisses (§  204 Abs.  1 StGB). Nach §  404 Abs.  1 AktG wird bestraft, wer ein Geheimnis der Gesellschaft, namentlich ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats oder Abwickler, Prüfer oder Gehilfe eines Prüfers bekannt geworden ist, unbefugt offenbart. Die unbefugte Verwertung dieses Geheimnisses ist nach §  404 Abs.  2 S.  2 AktG unter Strafe gestellt. Nach §  333 HGB wird bestraft, wer ein Geheimnis der Kapitalgesellschaft, eines Tochterunternehmens, eines gemeinsam geführten Unternehmens oder eines assoziierten Unternehmens, namentlich ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm in seiner Eigenschaft als Abschlussprüfer oder Gehilfe bei Prüfung des Jahresabschlusses, eines Einzelabschlusses nach §  325 Abs.  2a HGB oder des Konzernabschlusses bekannt geworden ist, oder wer ein Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis oder eine Erkenntnis über das Unternehmen, das ihm als Beschäftigter bei einer Prüfstelle i. S. von §  342b Abs.  1 HGB bei der Prüftätigkeit bekannt geworden ist, unbefugt offenbart. Die unbefugte Offenbarung oder Verwertung ist nicht nur strafrechtlich relevant, sondern kann zu zivilrechtlichen Ansprüchen führen. Ansprüche aus dem Lauterkeitsrecht auf Schadensersatz können sich ergeben, wenn der Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zugleich einen Verstoß gegen §  3 UWG darstellt.429 Dafür muss es sich um eine geschäftliche Handlung i. S. von §  2 Abs.  1 Nr.  1 UWG handeln. In Betracht kommt vor allem, dass die Zuwiderhandlung gegen §§  17 ff. UWG den Tatbestand des §  3 i. V. mit §  4 Nr.  11 UWG (Rechtsbruch) erfüllt und somit einen Schadensersatzanspruch des Mitbewerbers begründet (§  9 UWG).430 Das UWG trifft keine abschließende Regelung der zivilrechtlichen Folgen.431 Ein deliktsrechtlicher Anspruch aus §  823 Abs.  2 BGB kann ebenfalls bestehen, denn §§  17 und 18 UWG sind Schutzgesetze im Sinne dieser Vorschrift.432 Bei sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung kann   Zur Erweiterung des Täterkreises siehe noch §  203 Abs.  2a und 3 StGB.   Siehe dazu Kiethe/Groeschke WRP 2005, 1358, 1361. 430   Köhler, in: Köhler/Bornkamm, §  17 Rn.  52. 431   Köhler, in: Köhler/Bornkamm, §  17 Rn.  53. 432  BGH GRUR 1966, 152, 153 f. – Nitrolingual; Köhler, in: Köhler/Bornkamm, §  17 Rn.  53. 428 429

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§  826 BGB eingreifen. Liegt in dem Verrat des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, kann der Schadensersatzanspruch auf §  823 Abs.  1 BGB gestützt werden.433 Schließlich wird zum Teil das Geheimnis als »sonstiges Recht« eingeordnet, weil es selbstständig übertragbar sei.434 Den deliktsrechtlichen Tatbeständen ist gemein, dass die Rechtswidrigkeit des Eingriffs im Wege einer Interessenabwägung positiv festzustellen ist.435 Das gilt für den Eingriff in den Gewerbebetrieb bereits deshalb, weil es sich um einen sog. offenen Tatbestand handelt.436 Ferner kann eine vertragsrechtliche Haftung (§  280 BGB) bestehen. Voraussetzung ist eine vertragliche (auch vor- oder nachvertragliche) Geheimhaltungspflicht, die aus einer entsprechenden Vereinbarung, dem Gesetz (siehe etwa §  90 HGB) 437 oder einer aus den Umständen zu ermittelnden Nebenpflicht folgen kann. Schließlich kann die Verwertung fremder Geheimnisse zu einer Eingriffskondiktion führen (§  812 Abs.  1 S.  1 Var. 2 BGB), ein durch verbotene Verwertung eines Geheimnisses erzielter Gewinn ist unter Umständen nach §  687 Abs.  2 BGB herauszugeben.438 Die materiellrechtlichen Ansprüche zeigen, dass die Rechtsordnung Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse als schutzwürdig einstuft, gleichwohl aber keinen absoluten Schutz gewährt. Im Rahmen einer Interessenabwägung ist festzustellen, ob es sich um eine unbefugte Mitteilung oder Verwendung handelt. Überträgt man diese gesetzgeberische Entscheidung auf den Prozess, ergibt sich, dass ein absoluter Schutz im Sinne einer vollständigen Geheimhaltung bei jedem Geheimnis nicht in Betracht kommen kann. Der Geheimnisschutz ist nicht absolut, sondern erfolgt unter Abwägung der konkurrierenden Interessen.439 Ein vollständig fehlender Geheimnisschutz, der dazu führt, dass die Parteien entweder das Geheimnis preisgeben oder einen Prozessnachteil erleiden, kann vor dem Hintergrund der materiellrechtlichen gesetzgeberischen Wertungen gleichfalls nicht überzeugen. b) Privatsphäre Verfassungsrechtlich geschützt ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art.  1 Abs.  1 i. V. mit Art.  2 Abs.  1 GG), das die Abwehr von Beeinträchtigungen der   BGHZ 107, 117, 122 = NJW 1990, 52, 53 – Forschungskosten.   Mes GRUR 1979, 584, 590 ff.; offen gelassen von BGHZ 38, 391, 395 = NJW 1963, 856, 857 – Industrieböden. 435   Köhler, in: Köhler/Bornkamm, §  17 Rn.  53. 436   BGHZ 45, 296, 307 = NJW 1966, 1617, 1618 f. – Höllenfeuer; BGHZ 122, 1, 6 = NJW 1993, 1580, 1581; BGHZ 166, 84, 109 (Rn.  97) = NJW 2006, 830, 840; Sprau, in: Palandt, §  823 Rn.  25; G. Wagner, in: MünchKommBGB, §  823 Rn.  195. 437   Siehe dazu Hopt, in: Baumbach/Hopt, §  9 0 Rn.  8. 438   Köhler, in: Köhler/Bornkamm, §  17 Rn.  55 f. 439   Stürner JZ 1985, 453; Kiethe/Groeschke WRP 2005, 1358, 1361 f. 433

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engeren persönlichen Lebenssphäre erfasst.440 Als Fallgruppe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist der Schutz der Privat- und Intimsphäre anerkannt.441 Dieser Bereich ist grundsätzlich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zu halten, sodass eine öffentliche Erörterung nicht in Betracht kommt.442 In den persönlichen Bereich des Einzelnen sollen weder Dritte noch der Staat ohne oder gegen den Willen des Berechtigten Einblick erhalten. Das gilt damit insbesondere für behördliche oder gerichtliche Verfahren, in denen die Sachverhaltsermittlung auf Informationen aus der Privatsphäre gerichtet ist.443 Es zeigt sich der Konflikt zwischen Aufklärungsinteresse (des Staats bzw. der anderen Partei) und dem Schutz der Privatsphäre der Partei.444 Als Eingriff in den von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützten Bereich stellen sich damit die Vorlage von Dokumenten dar, die Informationen aus der geschützten Geheimsphäre beinhalten, sowie ein Sachverständigengutachten über entsprechende Inhalte.445 aa) Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts Zur Rechtfertigung der Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelte das BVerfG die sog. Sphärentheorie.446 Danach ist der »Kernbereich privater Lebensgestaltung«, also die Intimsphäre, absolut geschützt, sodass eine Rechtfertigung eines Eingriffs nicht möglich ist.447 Zur Intimsphäre gehört die innere Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren Erscheinungen nach außen. Auf der nächsten Stufe ist die sog. Privat- oder Geheimsphäre einzustufen, in die ein Eingriff unter Wahrung strenger Verhältnismäßigkeit zulässig ist.448 Zur Rechtfertigung werden in der Regel überwiegende Belange des Gemeinwohls verlangt.449 Zur Privat- und Geheimsphäre zählt das außerhalb der Öffentlich  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  147 ff.   BVerfGE 96, 171, 181 = NJW 1997, 2307, 2308 – Stasi-Fragen; BVerfGE 101, 361, 380 ff. = NJW 2000, 1021, 1022 – Caroline von Monaco II; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  149 ff. 442   BVerfGE 27, 1, 6 = NJW 1969, 1707 – Mikrozensus; BVerfGE 101, 361, 382 = NJW 2000, 1021, 1022 f. – Caroline von Monaco II. 443   BVerfGE 27, 1, 6 = NJW 1969, 1707 – Mikrozensus; BVerfGE 27, 344, 351 = NJW 1970, 555 – Ehescheidungsakten; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  151: »Klassische Eingriffssituationen«. 444   Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  151: neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht sei auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Bild und Wort betroffen. 445   BVerfGE 89, 69, 82 ff. = NJW 1993, 2365 f. – Haschischkonsum. 446   BVerfGE 27, 344, 350 = NJW 1970, 555 – Ehescheidungsakten; BVerfGE 89, 69, 82 f. = NJW 1993, 2365 f. – Haschischkonsum. 447   BVerfGE 6, 32, 41 – Elfes; BVerfGE 89, 69, 82 f. = NJW 1993, 2365 f. – Haschischkonsum. 448   BVerfGE 27, 344, 351 = NJW 1970, 555 f. – Ehescheidungsakten; BVerfGE 80, 367, 375 = NJW 1990, 563, 564. – Tagebuch. 449   BVerfGE 32, 373, 379 = NJW 1972, 1123 – Ärztliche Schweigepflicht; BVerfGE 80, 367, 375 = NJW 1990, 563, 564. 440 441

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keit stattfindende Privatleben, etwa die Kommunikation innerhalb der engeren Privatsphäre.450 Die Unterscheidung zwischen einem unantastbaren Kernbereich und der nachgeordneten Privat- und Geheimnissphäre wird vom BVerfG in jüngeren Entscheidungen relativiert; jedenfalls hat es sich von einer rein formellen Betrachtung distanziert.451 Es komme nicht auf den subjektiven Verwendungszweck an, maßgeblich für die Schutzintensität seien vielmehr der Inhalt und der Bezug zur Sozialsphäre.452 Dementsprechend besteht ein Schutz gegenüber der Verpflichtung zur Vorlage von Tagebüchern oder anderen persönlichen Aufzeichnungen, wenn sie Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt des Einzelnen geben, jedoch nicht wenn sie Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten enthalten.453 Endlich folgt auf der dritten Stufe der sog. Öffentlichkeitsbereich, der lediglich Berührungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht aufweist.454 Aus diesem Grund bestehen keine übermäßigen Rechtfertigungsanforderungen für einen Eingriff, sondern reichen sachgerechte Erwägungen aus.455 bb)  Wirkung im Zivilrecht Im Zivilrecht ist nicht nur bei materiellrechtlichen Auskunfts- oder Vorlageansprüchen der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu beachten,456 sondern auch im Rahmen von prozessualen Mitwirkungsanordnungen. Für die betroffene Partei kommt es im Hinblick auf den Schutz ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht darauf an, ob die Grundlage dafür materiellrechtlicher oder prozessualer Natur ist. Urkunden, die den unantastbaren Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, mithin die Intimsphäre, betreffen, müssen daher nicht vorgelegt werden; negative beweisrechtliche Sanktionen dürfen an die Nichtvorlage nicht geknüpft werden.457 Gegenüber einer Vorlageanordnung besteht ein Weigerungsrecht, auf das sich die Partei wegen Unzumutbarkeit be  BVerfGE 33, 367, 377 ff. = NJW 1972, 2214, 2215 – Zeugnisverweigerungsrecht für So­ zialarbeiter; BVerfGE 90, 255, 259 ff. = NJW 1995, 1015 – Briefüberwachung. 451   BVerfGE 80, 367, 373 ff. = NJW 1990, 563, 564 – Tagebuch; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  161. 452   Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  161. 453   Differenzierend, etwa danach, ob die Aufzeichnung Angaben über geplante oder begangene Straftaten enthält: BVerfGE 80, 367, 373 ff. = NJW 1990, 563, 564 – Tagebuch (Entscheidung mit Stimmengleichheit). 454   Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  160. 455   Teilweise wird angenommen, dass in Einzelfällen bereits der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht berührt sei; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  160. 456   BVerfGE 96, 56, 64 ff. – Vaterschaftsauskunft; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art.  2 Abs.  1 Rn.  164. 457   Stürner, S.  202; Osterloh-Konrad, S.  258. Es kann allerdings die Folge sein, dass der Kläger der Behauptungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht genügt, sodass freilich die Klage abzuweisen ist. 450

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rufen kann. Für Urkunden, die Informationen aus der Privat- und Geheimsphäre enthalten, ist die Wahrung der Verhältnismäßigkeit sicherzustellen. Die Nichtvorlage würde das Geheimhaltungsinteresse zwar am besten schützen, doch würde das Interesse der anderen Partei an einer Ermittlung der Wahrheit vernachlässigt. Die Vorlagepflicht wäre in vielen Fällen obsolet.458 Es muss eine Abwägung der gegenseitigen Interessen erfolgen. Informationen, die dem sog. Öffentlichkeitsbereich zuzurechnen sind, können ein Weigerungsrecht nicht begründen, wenn die Kenntnis der Informationen zur Ermittlung der materiellen Wahrheit erforderlich ist. Die Belastung für die vorlegende Partei ist gering, weil es sich um Informationen handelt, die zwar dem eigenen Bereich zuzuordnen sind, deren Kenntnis im sozialen Umfeld aber keine negativen Wirkungen hat. Die Zuordnung zu dem einen oder anderen Bereich ist fließend und kann abstrakt, anhand allgemeiner Kriterien, kaum beurteilt werden. Daher sind die Abwägung und die Wahl einer angemessenen Maßnahme in das gerichtliche Ermessen im Einzelfall zu stellen. c)  Beziehung zwischen Anwalt und Mandant Dem rechtsvergleichenden Überblick kann entnommen werden, dass in angloamerikanischen Ländern die Unterlagen, die der Vertrauensbeziehung zwischen Mandant und Anwalt entstammen, über Privilegien geschützt sind (attorney-client privilege459 im US-amerikanischen Zivilprozessrecht; legal professional privilege460 im englischen Zivilprozessrecht). Im US-amerikanischen Zivilprozessrecht ist darüber hinaus vom Supreme Court in Hickman v. Taylor461 die work product rule etabliert, die mittlerweile in Rule 26 (b) (3) F. R. C. P. kodifiziert ist.462 Danach sind Unterlagen privilegiert, die konkret für den Prozess vorbereitet worden sind. Eine Ausnahme dazu gilt jedoch, wenn die andere Partei auf die Unterlagen angewiesen ist (Rule 26 (b) (3) (A) F. R. C. P.). Für den deutschen Zivilprozess ist der Schutz der der Beziehung von Anwalt und Mandant zugehörigen Unterlagen bislang kaum erörtert worden. Unter Geltung der früheren Fassung des §  142 Abs.  1 ZPO463 war das nicht erforderlich, weil die Partei sich auf die Urkunde bezogen haben musste, die sie in Händen hielt. Eine Vorlage aufgrund der Regelungen zum Urkundenbeweis setzte einen materiellrechtlichen Anspruch voraus (§  422 ZPO). Daher konnte gegen den Willen der Partei eine Vorlage einer Urkunde aus dem Vertrauensbereich zwischen Anwalt und Mandant regelmäßig nicht erfolgen.464 Mit der Neufas  Stürner, S.  200; Osterloh-Konrad, S.  258.   Siehe §  3 I. 5. a). 460   Siehe §  3 II. 3. 461   Hickman v. Taylor, 329 U. S.  495 ff. (1947). 462   Siehe §  3 I. 5. a). 463   Fassung vom 1.1.1964, gültig bis 31.12.2001. 464   G. Wagner JZ 2007, 706, 716. 458 459

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sung des §  142 Abs.  1 ZPO ist der Schutz der eigenen Bezugnahme jedoch entfallen; erst recht würde das bei den vorgeschlagenen Erweiterungen gelten. aa)  Strafprozessualer Schutz Anerkannt ist das Schutzbedürfnis für den Strafprozess. Dort muss der Verteidiger des Beschuldigten nicht als Zeuge über das aussagen, was ihm in dieser Eigenschaft anvertraut oder bekanntgeworden ist (§  53 Abs.  1 Nr.  2 StPO). Ferner können die schriftlichen Mitteilungen zwischen ihm und dem Beschuldigten sowie die Aufzeichnungen über die ihm vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder anderen Umstände, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt, nicht herausverlangt werden, wenn sie sich in seinem Gewahrsam befinden (§  97 Abs.  1, 2 StPO; §  148 StPO). Ausdrücklich hat der BGH den Schutz der Eigenverteidigungsunterlagen des Mandanten hervorgehoben.465 Über eine Beschlagnahme und Verwertung der Eigenverteidigungsunterlagen würde das Verteidigungsrecht des Beschuldigten in erheblichem Maße beeinträchtigt. Gerade in komplexen Sachverhalten sei die Anfertigung schriftlicher Aufzeichnungen für die Vorbereitung und Durchführung der Verteidigung erforderlich. Die Gefahr einer Verwertung durch die Ermittlungsbehörden mache die schriftliche Niederlegung eines zweckmäßigen Prozessverhaltens unmöglich. bb)  Schutz im Insolvenzverfahren Andererseits ist der Schutz der Kommunikation zwischen dem Schuldner, der Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, welches zur Insolvenzmasse gehörende Vermögensgegenstände betrifft, und seinem Verteidiger im Rahmen der Postsperre nach §  99 InsO vom BVerfG abgelehnt worden.466 Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, die Postsperre auf die Verteidigerpost zu erstrecken. Es werde zwar das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger schwer belastet, doch sei die Maßnahme aufgrund der Gläubigerinteressen gerechtfertigt. Das Grundgesetz erlaube den Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter, sogar der Verteidigerrechte, zum Schutz anderer verfassungsrechtlich geschützter Güter.467 Die Gläubigerinteressen rechtfertigten hier Offenbarungspflichten des Schuldners. Die Sichtung der Verteidigerpost ermögliche die Ermittlung verborgener Vermögenswerte und verringere die Gefahr, dass Vermögenswerte dem Gläubigerzugriff entzogen würden. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten gelte die Offenbarungspflicht aber nur zu Zwecken des Insolvenzverfahrens, nicht zu Zwecken der   BGH NJW 1998, 1963.   BVerfG NJW 2001, 745 f. 467   BVerfGE 49, 24, 55 ff. = NJW 1978, 2235, 2236 f. – Kontaktsperre-Gesetz; BVerfGE 56, 37, 50 f. = NJW 1981, 1431, 1432 f. 465

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Strafverfolgung, weshalb für das Strafverfahren dann auch §  97 Abs.  1 S.  3 InsO anwendbar sein müsse. cc)  Zivilprozessuale Wertungen Die strafrechtlichen und insolvenzrechtlichen Vorschriften zeigen, dass der Gesetzgeber die Interessen der Beteiligten jeweils spezifisch bewertet. Wie sind die entsprechenden Wertungen im Zivilprozess? Aus dem Rechtsstaatsprinzip i. V. mit Art.  2 Abs.  1 GG folgt das Recht auf effektive Rechtsverteidigung.468 Effektive Rechtsverteidigung setzt die Möglichkeit der Vertretung durch einen Rechtsanwalt und der offenen Kommunikation mit ihm voraus.469 Vor diesem Hintergrund sind die strafprozessualen Vorschriften zu verstehen (§  53 Abs.  1 Nr.  2, §  97 Abs.  1, 2, §  148 StPO). Stellt man auf diesen Gesichtspunkt ab, scheinen die strafprozessualen Wertungen auf die Vorlagepflichten im Zivilprozess übertragbar zu sein. Im Zivilprozess kann die Problematik nämlich virulent werden für die Fälle, in denen die Partei im Besitz der Unterlagen ist, die sie von ihrem Anwalt erhalten hat oder die sie für die eigene Prozessvorbereitung angefertigt hat (im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Verfahren als [Eigen-] Verteidigungsunterlagen470 bezeichnet).471 Eine Übertragung der Wertungen wird teilweise verlangt; im Zivilprozess soll sogar ein im Vergleich zum Strafprozess erhöhter Schutz bestehen.472 Im Strafverfahrensrecht sei nämlich nur die Kommunikation geschützt, die mit dem Verteidiger erfolge. Hingegen sei die Kommunikation mit weiteren Anwälten, die aus anderen Verfahren stamme, nicht vor einem Zugriff gesichert. Jedenfalls im Zivilprozess sei eine solche Beschränkung nicht adäquat, weil ein Missbrauch über die Einleitung unterschiedlicher Verfahren oder die Kooperation verschiedener Kläger erfolgen könne. Darüber hinaus erfordere der Schutz der Rechtsverteidigung in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art.  6 EMRK: Recht auf ein faires Verfahren, welches ausdrücklich für zivilrechtliche Streitigkeiten gilt; Art.  8 EMRK: Recht auf Achtung des Privat- und Familien468   BVerfG NJW 1984, 2403; BGH NJW 1998, 1963, 1964; Konrad NJW 2004, 710, 711 f. Teilweise wird auch Art.  103 GG als Rechtsgrundlage herangezogen; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art.  103 Rn.  103. 469   Für das strafrechtliche Verfahren: BVerfGE 66, 313, 318 ff. = NJW 1984, 2403. Für das zivilrechtliche Verfahren lehnt die Rechtsprechung die verfassungsrechtliche Gebotenheit, jedenfalls aus Art.  103 Abs.  1 GG, ab; BVerfGE 9, 124, 132 = NJW 1959, 715 ff. – Armenrecht (für die Sozialgerichtsbarkeit); BVerfGE 39, 156, 168 = NJW 1975, 1013, 1015; zustimmend Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  82 Rn.  10. Weil die Beurteilung der Lebenssachverhalte jedoch immer stärker rechtliche Kenntnis verlangt, muss das Recht auf effektiven Rechtsschutz auch die Vertretung durch einen Anwalt umfassen; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art.  103 Rn.  103. 470   BGH NJW 1998, 1963. 471   Konrad NJW 2004, 710, 712. 472   Konrad NJW 2004, 710, 712.

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lebens) die Ausweitung des Schutzes auf jegliche Unterlagen, die der Rechtsdurchsetzung dienten. Eingriffe in die Vertrauenssphäre zwischen Anwalt und Mandant sowie in den Schutzbereich der Eigenverteidigung seien nur in exceptional circumstances gestattet.473 Ein außergewöhnlicher Umstand könne etwa ein Missbrauch des Rechts sein.474 Anders als im Insolvenzverfahren seien solche Umstände nur schwer vorstellbar. Eine Offenlegungspflicht scheide im Zivilprozess daher im Grundsatz aus. Das gelte für alle Unterlagen, die dem Vertrauensbereich zwischen Mandant und Anwalt zuzuordnen seien, wobei es nicht auf die Besitzverhältnisse ankomme. Auch die zur eigenen Rechtsverteidigung angefertigten Unterlagen seien von der Vorlagepflicht ausgenommen.475 Gegen die Übertragung oder sogar Ausweitung der Grundsätze wird vorgebracht, dass im Zivilprozess das Interesse des Prozessgegners an einem effektiven Rechtsschutz zu berücksichtigen sei.476 Während es im strafgerichtlichen Verfahren um den Vorrang einer effektiven Verteidigung gegenüber dem Strafanspruch des Staats gehe, betreffe die zivilrechtliche Streitigkeit den Rechtsdurchsetzungsanspruch der Gegenpartei.477 Es kollidieren im Zivilprozess die Interessen von zwei Privatpersonen, jeweils gerichtet auf die Rechtsdurchsetzung. Darüber hinaus kann im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine Beschlagnahme von Urkundensammlungen erfolgen, um in der Folge zu prüfen, ob sich darunter belastendes Material befindet. Hingegen setzt eine Anordnung der Urkundenvorlage einen substantiierten Tatsachenvortrag und eine bestimmte Bezeichnung der Urkunde voraus. Die Gefahr einer Ausforschung zur Ermittlung belastenden Materials scheidet dadurch aus. Eine vollständige Übertragung der Wertungen des Strafprozessrechts auf den Zivilprozess erscheint damit nicht sachgerecht. Brisanz wird der Problematik dadurch genommen, dass der Prozessgegner die Unterlagen regelmäßig nicht hinreichend bestimmt bezeichnen kann, weil er von der Korrespondenz keine Kenntnis hat. Eine pauschale Anordnung der Vorlage des gesamten Schriftverkehrs oder der vollständigen zur Prozessvorbereitung angefertigten Unterlagen scheidet aus. Eine Bezugnahme des Prozessgegners wird daher kaum möglich sein. Nimmt hingegen eine Partei selbst auf die vertraulichen Unterlagen zur Untermauerung ihres Vortrags Bezug und macht sie dadurch zum Gegenstand des Verfahrens, erscheint eine Vorlage nicht als unzumutbarer Eingriff.478 Für die Eigenverteidigungsunterlagen kommt eigentlich nur eine Bezugnahme durch die besitzende Partei selbst in Betracht, weil diese Unterlagen den eigenen Bereich der Partei nicht verlassen haben.   EGMR, Urteil vom 20.6.2000, Application no. 33274/96, Nr.  44 – Foxley/UK.   Konrad NJW 2004, 710, 713. 475   Konrad NJW 2004, 710, 713. 476   S.  L ang, S.  231 f. (de lege ferenda); Kapoor, S.  253. 477   S.  L ang, S.  231. 478   Kapoor, S.  253. 473 474

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Anders kann das für die Beratung durch einen Anwalt sein. Die Gegenpartei kann durchaus Kenntnis davon haben, dass der Anwalt Unterlagen für seinen Mandanten erstellt hat. Über die geforderte Mitwirkungsverantwortung kann über die Existenz Auskunft gegeben werden müssen. Der Schriftverkehr mit dem Anwalt und die erstellten Unterlagen sind jedoch zu schützen. Der Mandant ist regelmäßig, in landgerichtlichen Verfahren sogar notwendigerweise (§  78 Abs.  1 S.  1 ZPO), auf die Prozessvertretung durch einen Rechtsanwalt angewiesen. Eine effektive Rechtsdurchsetzung setzt die freie Kommunikation mit dem Anwalt voraus, und zwar ohne die Befürchtung einer Herausgabe der Unterlagen.479 Müsste er eine Vorlage der Kommunikation an das Gericht fürchten, würde er die ihm nachteiligen Tatsachen dem Anwalt nicht mehr mitteilen. Ohne vollständige Information durch den Mandanten könnte der Anwalt eine effektive Interessenvertretung nicht gewährleisten. Daher sind sowohl die eigens zur Prozessvorbereitung angefertigten Unterlagen als auch die Kommunikation mit dem Anwalt vor einer Vorlageanordnung geschützt. Etwas anderes gilt für die Dokumente, auf die sich eine Partei selbst bezieht. Der grundsätzliche Schutz sollte sich auch auf solche Unterlagen erstrecken, die in einem anderen Verfahren zwischen Anwalt und Mandant ausgetauscht wurden.480 Nur dadurch kann die Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant geschützt werden. d)  Gefahr strafrechtlicher Verfolgung Für den Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung können der rechtsvergleichenden Umschau Vorbilder entnommen werden. Im US-amerikanischen und im englischen Zivilprozessrecht ist ein privilege against self-incrimination anerkannt.481 Für das US-amerikanische Zivilprozessrecht ergibt sich das sogar aus dem V. Amendment zur US-Verfassung. Im englischen Zivilprozessrecht wird im Rahmen einer Interessenabwägung regelmäßig dem Aufklärungsinteresse ein höheres Gewicht zugemessen als dem Geheimhaltungsinteresse. Das gilt allerdings nicht für das privilege against self-incrimination, wodurch dessen Wert deutlich wird. Der traditionell hohe Stellenwert des Privilegs wird für den englischen Zivilprozess mittlerweile kritisiert.482 Der englische Gesetzgeber hat für Sonderbereiche Ausnahmen von dem privilege against self-incrimination zugelassen, etwa im Recht des geistigen Eigentums oder im gewerblichen Rechts  Kapoor, S.  253.   So die Forderung von Konrad NJW 2004, 712. 481   Für das US-amerikanische Recht siehe §  3 I. 5. a); für das englische Recht siehe §  3 II. 3. 482   A. T. & T. Istel Ltd. v. Tully (1993) A. C. 45, 53 (HL, per Lord Templeman): »I regard the privilege against self-incrimination exercisable in civil proceedings as an archaic and unjustifiable survival from the past when the court directs the production of relevant documents and requires the defendant to specify his dealings with the plaintiff’s property or money.«; dazu Andrews, English Civil Procedure, Rn.  29.09 ff. 479

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schutz, wobei gleichzeitig ein strafprozessuales Verwertungsverbot gilt (secondary privilege).483 Auch im österreichischen Zivilprozess ist ein Weigerungsrecht für Urkunden anerkannt. Die Vorlage bestimmter Urkunde484 kann unter anderem verweigert werden, wenn das Bekanntwerden der Partei oder dritten Personen die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde (§  305 Nr.  3 öZPO). aa)  Strafprozessualer Schutz Schwerwiegende Auswirkungen hätte eine Offenbarungspflicht, wenn bei einer Verwertung der Aussage eine Strafe drohte. Das deutsche Recht erkennt den ausdrücklichen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung im Strafprozessrecht an. Für das strafrechtliche Verfahren ist das Schweigerecht des Beschuldigten normiert (§§  136 Abs.  1 S.  2, 163a Abs.  3 S.  2 und Abs.  4 S.  2, 243 Abs.  5 S.  1 StPO); es gilt dort der Grundsatz der Aussagefreiheit. Die Vorschriften sind Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und des Schutzes der Menschenwürde.485 bb)  Zivilprozessuale Wertungen Fraglich ist, ob diese Wertung auf den Zivilprozess und damit insbesondere auf die Urkundenvorlage nach §  142 Abs.  1 ZPO zu übertragen ist, wenn sich die Prozesspartei durch die Vorlage der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen würde. Begründen ließe sich das mit einer Vorwirkung des strafprozessualen Grundsatzes.486 Dem strafprozessualen Verbot würde seine Wirksamkeit genommen, wenn im Zivilprozess selbstbezichtigende Aussagen getätigt werden müssten, die im Strafprozess verwertet werden könnten. Ein Weigerungsrecht wird der Partei teilweise zugesprochen, wobei es dadurch in seiner Wirksamkeit durchbrochen wird, dass dem Gericht eine negative Würdigung des Schweigens möglich sein soll. Die schweigende Partei trägt die prozessualen Konsequenzen.487 Dadurch wird die Geltendmachung des Weigerungsrechts, das Schweigen mithin, sanktioniert, sodass nicht von einem wirksamen Weigerungsrecht gesprochen werden kann.488 Im Schrifttum wird eine Übertragung des strafrechtlichen nemo tenetur-Grundsatzes überwiegend abgelehnt.489   Siehe §  3 II. 3.   Zu diesen Urkunden siehe §  3 III. 2. 485   BVerfGE 38, 105, 113 = NJW 1975, 103 – Rechtsbeistand; BGHSt 14, 358, 364 = NJW 1960, 1580, 1582. 486   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  174 (im Ergebnis anderer Auffassung). 487   BGH NJW-RR 2010, 1146, 1148; Greger, in: Zöller, §  138 Rn.  3. 488   J. Lang, S.  76; Stürner NJW 1981, 1757, 1759. 489   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  180 ff.; ders. NJW 1981, 1757 ff.; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7; Schlosser, in: FS Sonnenberger, S.  135, 141; G. Wagner JZ 2007, 706, 716; kritisch Henckel ZZP 92 (1979), 100, 106; a. A. Huber, in: Musielak, §  446 Rn.  1; wohl auch Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  13. 483

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Könnte sich eine Partei im Zivilprozess zur Verweigerung der Mitwirkung auf die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung berufen, würde das kriminelle Verhalten belohnt.490 Hinter dem strafprozessualen Weigerungsrecht und Verwertungsverbot steht die Erkenntnis, dass die menschliche Persönlichkeit vom Selbsterhaltungstrieb geprägt ist.491 Der Selbsterhaltungstrieb verhindert die aktive Teilnahme an der Aufklärung des Tathergangs zu eigenen Lasten. Im Verhältnis zu dem staatlichen Aufklärungs- und Strafinteresse gebührt ihm der Vorrang. Es besteht mithin auch die gesetzgeberische Wertung, dass der Einzelnen nicht gezwungen wird, gegen seinen Selbsterhaltungstrieb zu handeln. Im Zivilprozess kommt indes ein weiteres Interesse hinzu: das Interesse der Gegenpartei an der Rechtsdurchsetzung. Im strafprozessualen Ermittlungsverfahren stehen außerdem hoheitliche Ermittlungsbefugnisse, etwa Beschlagnahme oder Durchsuchung, zur Verfügung, die eine Aufklärung ermöglichen (inquisitorische Ausprägung). Die staatlichen Ermittlungsbefugnisse ersetzen teilweise die Aufklärung durch den Beschuldigten. Einen solchen Ersatz vermag das Zivilprozessrecht nicht zur Verfügung zu stellen, sodass die Mitwirkung der Partei wesentlich bleibt.492 Eine Regelung zur Offenbarung von Tatsachen, auch wenn sie geeignet sind, eine Verfolgung wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit herbeizuführen, enthält die Insolvenzordnung. Nach §  97 Abs.  1 S.  1 InsO hat der Schuldner über alle das Verfahren betreffenden Tatsachen Auskunft zu geben. Das erfasst nach §  97 Abs.  1 S.  2 InsO selbstbezichtigende Tatsachen. Um gleichwohl nicht gegen das strafrechtliche Verbot einer Verpflichtung zur Selbstbezichtigung zu verstoßen, kann die Tatsache in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen nahen Angehörigen (§  52 Abs.  1 StPO) nur mit Zustimmung des Schuldners verwendet werden (§  97 Abs.  1 S.  3 InsO). Das Insolvenzgericht kann die Auskunftspflichten mit Zwangs- und Beugemitteln durchsetzen (§  98 InsO). cc)  Verfassungsrechtliche Wertung Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit der uneingeschränkten Aussagepflicht des Gemeinschuldners bestätigt.493 Das Gericht erkennt die Konfliktsituation des Gemeinschuldners an, weil er entweder sich einer strafbaren Handlung bezichtigen, durch eine Falschaussage ein neues Delikt begehen oder sich wegen des Schweigens Zwangsmitteln aussetzen müsse. Die erzwingbare Aus  G. Wagner JZ 2007, 706, 716.   Zur Zwangslage des Angeklagten siehe BGHSt 14, 358, 364 = NJW 1960, 1580, 1582; siehe auch BGHSt 31, 304, 308 = NJW 1983, 1570, 1571. 492   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  184 f.; J. Lang, S.  77. 493   BVerfGE 56, 37 ff. = NJW 1981, 1431 ff. – Bremer Modell. 490 491

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kunftspflicht sei daher als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zu werten. Der Zwang zur Selbstbezichtigung berühre die Würde des Menschen. Die Reichweite des Schutzes vor einer Selbstbezichtigung hänge allerdings unter anderem davon ab, inwieweit andere Personen auf die Auskunft angewiesen seien und ob die Auskunft Teil eines freiwillig übernommenen Pflichtenkreises sei. Der Gemeinschuldner stehe zu den von ihm geschädigten Gläubigern in einem besonderen Pflichtenverhältnis. Anders als in einem Zweiparteienverfahren gehe die unterlassene Mitwirkung nicht zu seinen Lasten, sondern zulasten der Gläubiger. Die Gläubiger und weiteren Verfahrensbeteiligten sind auf seine Informationen angewiesen. Das Grundrecht des Art.  2 Abs.  1 GG biete keinen absoluten Schutz, sondern sei gegen die schutzwürdigen Interessen der anderen Beteiligten abzuwägen, worin sich die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Grundgesetzes zeige.494 Daher müsse der Schuldner die Informationen im insolvenzrechtlichen Verfahren zur Verfügung stellen. Ansonsten könne der Gemeinschuldner Teile der Insolvenzmasse dem berechtigten Zugriff der Gläubiger entziehen. Unzumutbar sei dagegen die Verwertung in einem strafgerichtlichen Verfahren, weshalb insoweit Schutzvorkehrungen in Form eines strafrechtlichen Verwertungsverbots zu treffen seien.495 Anders als im insolvenzrechtlichen Verfahren sei die Beurteilung im Zivilprozess. Dort werde die Wahrheitspflicht durch den Schutz vor strafrechtlicher Selbstbezichtigung begrenzt.496 Nach Ansicht des BVerfG ist mithin die Wahrheitspflicht im Zivilprozess durch den Schutz vor strafrechtlicher Selbstbezichtigung begrenzt, hingegen kann im insolvenzrechtlichen Verfahren eine Offenbarung verlangt werden. Es erscheint jedoch fraglich, ob die Bewertung für den Zivilprozess anders ausfallen sollte als für das insolvenzrechtliche Verfahren. Richtigerweise stellt das BVerfG für das insolvenzrechtliche Verfahren darauf ab, dass das Schutzinteresse des Gemeinschuldners mit dem Informationsinteresse der anderen Verfahrensbeteiligten kollidiert. Diese Situation ist im Zivilprozess in vergleichbarer Weise vorhanden. Das Schutzinteresse der einen Partei kollidiert mit dem Informationsinteresse der anderen Partei. Die Partei, die sich auf die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat berufen könnte, stünde gegenüber anderen Parteien besser. Aus der Strafbarkeit würde sich ein zivilprozessualer Vorteil entwickeln, der jedoch in Abwägung mit den Interessen der anderen Partei und im   BVerfGE 27, 344, 351 = NJW 1970, 555 – Ehescheidungsakten.   Die Entscheidung des BVerfG erging noch unter Geltung der Konkursordnung, in der eine entsprechende Regelung fehlte. Über eine ergänzende Auslegung war die konkursrechtliche Regelung daher um ein strafrechtliches Verwertungsverbot zu ergänzen; BVerfGE 56, 37, 51 f. = NJW 1981, 1431, 1433; siehe nunmehr §  97 Abs.  1 S.  3 InsO. In seinem Sondervotum spricht sich Richter Heußner dafür aus, das strafrechtliche Verwertungsverbot durch ein Offenbarungsverbot zu ergänzen. 496   BVerfGE 56, 37, 44 = NJW 1981, 1431. 494 495

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Vergleich zu dem sich ordnungsgemäß verhaltenden Bürger nicht gerechtfertigt erscheint. Es widerspricht nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen, eine Offenbarung der Tatsachen trotz der Gefahr der Selbstbezichtigung zu verlangen, sondern im Gegenteil würde es rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen, wenn der redliche Bürger schlechter stünde als derjenige, der sich strafbar gemacht hat.497 Der Schutz vor Selbstbezichtigung für die eine Partei würde die Rechtsdurchsetzung der anderen Partei verhindern.498 Der Individualrechtsschutz der einen Partei würde aufgrund der Strafbarkeit der anderen Partei aufgegeben. Nicht nur der staatliche Strafanspruch würde zurücktreten, sondern die materiellrechtliche Position eines anderen Individuums. Gegenüber der anderen Prozesspartei wäre eine Weigerung, die mit eigenem strafrechtlich relevantem Fehlverhalten begründet wird, nicht nachvollziehbar. dd)  Zusammenfassende Würdigung Nach den strafprozessualen, zivilprozessualen und verfassungsrechtlichen Wertungen tritt die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung im Grundsatz gegenüber den Interessen eines anderen Individuums, aus denen eine geschützte materiellrechtliche Position folgt, zurück. Dass den berechtigten Interessen eines anderen wertungsmäßig der Vorrang zu geben ist, zeigt auch §  142 StGB, der das Interesse der Unfallbeteiligten an der Klärung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit schützt.499 Den Unfallbeteiligten trifft die Pflicht, die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung zu ermöglichen (sog. Feststellungsduldungspflicht).500 Wenn eine solche Pflicht – auch wenn es sich insoweit nur um eine Duldungspflicht handelt, also nicht ein aktives Tun – strafrechtlich sanktioniert ist, müssen erst recht im zivilprozessualen Verfahren entsprechende Interessen weiterer Beteiligter vorgehen.501 Die Abwägung zwischen den kollidierenden Interessen muss daher zugunsten des Individualrechtsschutzes ausfallen.502 Zieht sich eine Partei darauf zurück, dass eine Offenbarung die Gefahr strafrechtlicher Sanktion bedeute, kann sie nicht gleichzeitig die Durchsetzung ihrer privaten Rechte verlangen, sondern muss eine negative Würdigung in Kauf nehmen. Liegt das Beweisrisiko auf Seiten des potentiellen Straftäters, ist das eine adäquate Sanktion, weil er sich zwischen Prozessverlust und der Selbstbezichtigungsgefahr entscheiden kann.503 Die Sanktion der negativen Beweiswürdigung ist allerdings nicht immer möglich, wenn die Gegenseite des potentiellen Straftäters das Beweisrisiko   G. Wagner JZ 2007, 706, 716.   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  185. 499   BGHSt 12, 253, 255 = NJW 1959, 394. 500   BGHSt 9, 267, 268 f.; 16, 139, 144. 501   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  59. 502   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  185. 503   Stürner NJW 1981, 1757, 1759. 497

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trägt. Eine negative Beweiswürdigung kommt nur in Betracht, wenn ein Schluss auf die Wahrheit möglich ist.504 Ansonsten wird man mit einer prozessualen Sanktion arbeiten können, dass der Tatsachenvortrag als zugestanden gilt. Vollkommen einleuchtend ist diese Folge, wenn die behauptete Tatsache wahr ist, mithin eine Offenbarung oder Vorlage des potentiellen Straftäters die Tatsachenbehauptung bestätigen würde.505 Offenbarung und prozessuale Sanktion führen hier zum gleichen Ergebnis. Anders ist dies, wenn der Aufklärungsbeitrag des potentiellen Straftäters die Tatsachenbehauptung des Gegners entkräften könnte, allerdings eben nur unter Inkaufnahme der Selbstbezichtigung. In diesem Fall ist dem Individualrechtsschutz der Vorrang zu geben, sodass sich die nicht risikobelastete Partei zwischen dem Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung und der Abwehr zivilrechtlicher Ansprüche entscheiden muss. Daher ist nicht die Wahrheitspflicht der Partei zu begrenzen, sondern aus der Wahrheitspflicht (§  138 Abs.  1 ZPO) folgt die Pflicht zur Offenbarung bei der Gefahr der Selbstbezichtigung.506 Zu verhindern bleibt gleichwohl ein Verstoß gegen das strafprozessuale Verwertungsverbot bzw. seine Vorwirkung. Im strafprozessualen Verfahren besteht für eine Aussage oder die Vorlage einer Urkunde, die eine Selbstbezichtigung enthält, ein Beweisverwertungsverbot.507 Als Vorbild kann insoweit die Regelung des §  97 Abs.  1 S.  3 InsO dienen, wonach die selbstbezichtigende Tatsache in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen nahen Angehörigen (§  52 Abs.  1 StPO) nur mit Zustimmung des Schuldners verwendet werden darf. Als Rechtsfolge bietet sich das bei erzwingbaren Pflichten an (§§  807, 883 Abs.  2 ZPO), weil ohne die Aufklärung des Verdächtigen der Rechtsschutz der Gegenseite unmöglich wäre.508 Es darf allerdings nicht gelten, wenn keine entsprechende Pflicht besteht, sondern die Partei die Selbstbezichtigung »freiwillig« auf sich nimmt. Insoweit muss das privatrechtliche Rechtsschutzinteresse dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse nachstehen.509 In dieser Situation kann sich der Tatverdächtige zwischen der Nichtaufklärung und der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung »entscheiden« – vor dem Hintergrund seines eigenen Fehlverhaltens eine angemessene »Reaktion« der Rechtsordnung.

  Stürner NJW 1981, 1757, 1759.   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  181. 506   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  180 ff.; ders. NJW 1981, 1757 ff.; Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  8 ; Stadler, in: Musielak, §  142 Rn.  7; Schlosser, in: FS Sonnenberger, S.  135, 141; G. Wagner JZ 2007, 706, 716 f. 507   BGHSt 38, 214, 224 f. = NJW 1992, 1463, 1464. 508   Zur Frage, ob das Verwertungsverbot auch bei der Erfüllung vorbereitender Informationsansprüche gelte, wenn der Tatverdächtige dem Informationsbegehren durch die Erfüllung des Hauptanspruchs ausweichen kann, siehe Stürner NJW 1981, 1757, 1760. 509   Stürner NJW 1981, 1757, 1760. 504 505

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Schließlich ist fraglich, ob die Reichweite eines Verwertungsverbots weit genug geht. Anstelle eines Verwertungsverbots könnte ein Verwendungsverbot einen umfassenderen Schutz bieten. Ein Verwendungsverbot würde bedeuten, dass auf die Angaben im zivilprozessualen Verfahren kein Anfangsverdacht gestützt werden kann.510 Für ein umfassendes Verwendungsverbot spricht, dass der Gesetzgeber in §  97 Abs.  1 S.  3 InsO ausweislich des Wortlauts – nach einem entsprechenden Änderungsvorschlag des Rechtsausschusses511 – ein Verwendungsverbot normiert hat.512 Der Rechtsausschuss betont in seinem Bericht, dass die Auskunft des Schuldners ohne dessen Zustimmung nicht Grundlage für (weitere) Ermittlungen sein darf.513 Nur über ein solch weitreichendes Verwendungsverbot kann den Interessen des Tatverdächtigen Rechnung getragen werden. Könnten die Aussagen zum Anlass eines Ermittlungsverfahrens genommen werden, würde das strafrechtliche Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung unterlaufen. Entsprechendes gilt für die aufgrund der Mitwirkung im zivilprozessualen Verfahren aufgefundenen Beweismittel, die ebenfalls nicht verwendet werden dürfen.514 Daher ist ein umfassendes Verwendungsverbot anzunehmen.515 e)  Öffentliche Interessen Im englischen Zivilprozessrecht ist die public interest immunity als Weigerungsrecht anerkannt, um öffentliche Interessen zu schützen.516 Nicht ausreichend ist dabei, dass sich eine Partei lediglich auf öffentliche Geheimhaltungsinteressen beruft. Vielmehr hat das Gericht unter vertraulicher Vorlage, d. h. unter Ausschluss der anderen Partei, über die Geheimhaltungsbedürftigkeit zu entscheiden.517 Für ein vergleichbares Verfahren hat sich der deutsche Gesetzgeber im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens entschieden. Eine Behörde kann die Vorlage von Urkunden und die Erteilung von Auskünften verweigern, wenn das Bekanntwerden des Inhalts der Urkunde oder die Auskünfte dem Wohl des   Hefendehl wistra 2003, 1, 6.   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 19.4.1994 zu dem Entwurf einer Insolvenzordnung (InsO), BT-Drucks. 12/7302, S.  39 (§  109 Abs.  1 S.  3 InsO-E). 512   Anders noch Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.4.1992, BT-Drucks. 12/2443, S.  25 (§  109 Abs.  1 S.  3 InsO-E). 513  Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 19.4.1994 zu dem Entwurf einer Insolvenzordnung (InsO), BT-Drucks. 12/7302, S.  166 (zu §  109 Abs.  1 S.  3 InsO-E). 514   Richter wistra 2000, 1, 3; insoweit zustimmend Hefendehl wistra 2003, 1, 6. 515   S.  L ang, S.  217. 516   Burmah Oil Co. Ltd. v. Governor and Co. of the Bank of England, [1980] A. C. 1090, 1121 (H. L. (E.) 1979 per Lord Salmon); dazu Andrews, English Civil Procedure, Rn.  30.01. 517   Burmah Oil Co. Ltd. v. Governor and Co. of the Bank of England, [1980] A. C. 1090, 1121, 1130, 1136, 1147 (H. L. (E.) 1979, per Lord Salmon); kritisch zur Möglichkeit, in einem Geheimverfahren über die Vertraulichkeit zu befinden: Zuckerman, para. 14.58. 510 511

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Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder die Vorgänge aus anderen Gründen geheim gehalten werden müssen (§  99 Abs.  1 S.  2 VwGO). Insoweit reicht es nicht aus, dass sich die Behörde auf das Geheimhaltungsinteresse beruft. Vielmehr entscheidet das Oberverwaltungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht auf Antrag eines Beteiligten in einem in camera-Verfahren über die Geheimhaltungsbedürftigkeit (§  99 Abs.  2 VwGO). Die Geheimhaltungsbedürftigkeit von Tatsachen im öffentlichen Interesse kann nicht davon abhängen, ob die Tatsachen in einem verwaltungsgerichtlichen oder in einem zivilprozessualen Verfahren relevant werden. Im Zivilprozessrecht ist der Schutz öffentlicher Interessen daher anzuerkennen. 3. Ergebnis In der ZPO sind Weigerungsrechte für die Parteien nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass eine Pflicht zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung im Grundsatz nicht besteht. Aus diesem Grund sah er von der Aufnahme von Vorschriften zum Geheimnisschutz ab. Nur ausnahmsweise können sich Parteien aus übergeordneten Gesichtspunkten auf einen Geheimnisschutz berufen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es im Zivilprozess eines Geheimnisschutzes für die Parteien bedarf. Als schützenswerte Geheimnissphären konnten – ohne eine abschließende Untersuchung vorgenommen zu haben – Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die Privatsphäre, die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung sowie öffentliche Interessen herausgearbeitet werden. Insoweit sollte ein Verfahren in die ZPO integriert werden, welches den Geheimnisschutz unter Wahrung der sonstigen Ziele des Prozessrechts sicherstellen kann.

III.  Umsetzung des Geheimnisschutzes Die Diskussion um einen Geheimnisschutz im (Zivil-) Prozess ist häufig negativ belegt, weil ein solcher Schutz mit einem gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoßenden Geheimverfahren verbunden wird.518 Dabei ist der Geheimnisschutz – wie herausgearbeitet werden konnte – ein anerkennenswertes Interesse. Dieses Interesse muss unter möglichst weitgehender Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit sowie anderer der ZPO zugrunde liegender Prinzipien verwirklicht werden. Die Lösung zugunsten einer Extremposition (Alles-oder-Nichts-Lösung), vollständige Offenlegung oder vollständige Geheimhaltung, kann nicht überzeugen. Einerseits erscheint es unbefriedigend, 518   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  61; Baumgärtel, in: FS Habscheid, S.  1 ff.; Lachmann NJW 1987, 2206, 2210; Prütting/Weth DB 1989, 2273 ff.; demgegenüber für ein Geheimverfahren etwa Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1003 ff., der die Bezeichnung »Geheimverfahren« als suggestive Begriffsbildung einstuft.

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dass die beweisbelastete Partei den Prozess verliert, wenn sie sich gegen eine Offenbarung der Tatsachen in dem Prozess entscheidet. Andererseits kann das Verlangen an die nicht beweisbelastete Partei, an der Aufklärung mitzuwirken, ohne ihr einen Geheimnisschutz zu gewähren, nicht überzeugen. Eine Offenbarung der Tatsachen »auf dem Silbertablett« kann nicht verlangt werden, ohne zugleich auf die Geheimhaltungsinteressen Rücksicht zu nehmen. Der Geheimnisschutz stellt, soweit er berechtigt ist, ein notwendiges Korrelat zu den Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten dar. Daher ist ein prozessuales Verfahren zu entwickeln, welches Rechtsdurchsetzung (Offenbarungsinteressen) und Geheimnisschutz verbindet.519 1.  Mögliche Regelungsmechanismen Es bestehen bereits Regelungsmechanismen, die eine Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimhaltung ermöglichen. Vorbilder, bei denen gegebenenfalls Anleihe zur Entwicklung einer Lösung genommen werden kann, sind sowohl im materiellen Recht als auch im Prozessrecht, teilweise in ausländischen Rechtsordnungen, zu finden. a)  Materielles Recht als Vorbild Im materiellen Recht werden der Geheimnisschutz auf der einen Seite und das Aufklärungsinteresse auf der anderen Seite verbunden. Informationsansprüche bestehen nach materiellem Recht etwa für den Handelsvertreter gegenüber dem Unternehmer nach §  87c Abs.  2 und 3 HGB. Danach kann der Handelsvertreter einen Buchauszug sowie Mitteilung über die für den Provisionsanspruch, seine Fälligkeit und seine Berechnung wesentlichen Umstände verlangen. Bei Verweigerung des Buchauszugs oder begründeten Zweifeln an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Abrechnung oder des Buchauszugs steht dem Handelsvertreter ein Recht auf Einsicht in die Bücher und Urkunden zu (§  87c Abs.  4 HGB). Um die Geheimhaltungsinteressen der anderen Partei zu wahren, ist die Einsicht nach Wahl des Unternehmers dem Handelsvertreter oder einem von dem Handelsvertreter zu bestimmenden Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchsachverständigen zu gewähren, der zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.520 Die Wahlfreiheit des Unternehmers bewirkt einen Geheimnisschutz,521 ohne dass die berechtigten Interessen des Handelsvertreters auf Nachprüfung obstruiert

519   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 267: »vernünftiger Weg«, der bislang nicht gefunden ist; kritisch zur prozessualen Verwirklichung des Geheimnisschutzes Osterloh-Konrad, S.  103, allerdings zum Geheimnisschutz im Rahmen ausforschender Beweisverfahren. 520   Hopt, in: Baumbach/Hopt, §  87c Rn.  27. 521   Hopt, in: Baumbach/Hopt, §  87c Rn.  27.

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werden. Ausdruck der Verbindung von Geheimhaltung und Aufklärung ist die Einschaltung eines neutralen und zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten. Ein neutraler Dritter wird auch in anderen Konstellationen eingeschaltet. Dies ist allgemein unter dem Stichwort des sog. Wirtschaftsprüfervorbehalts bekannt. Aufmerksamkeit erlangte der Wirtschaftsprüfervorbehalt durch die Entscheidung des BGH in der Rechtssache Monumenta Germaniae Historica.522 Die Beklagte hatte bestimmte Werke aus der Sammlung Monumenta Germaniae Historica nachgedruckt. Die Klägerin verlangte Auskunft und Rechnungslegung über die als Urheberrechtsverletzung bewerteten Handlungen der Beklagten. Der Anspruch war mangels spezialgesetzlicher Grundlage (§  101 UrhG war noch nicht in Kraft) 523 auf §  242 BGB gestützt. Der BGH erkannte das Interesse des Klägers an einer Auskunft an. Zur Überprüfung der Angaben sollte der Beklagte die Namen der Abnehmer nennen. Allerdings konnte der BGH kein Interesse des Klägers erkennen, die Namen der Abnehmer selbst zu erfahren. Die Beklagte habe ein schützenswertes Interesse an der Geheimhaltung ihres Kundenstamms, weil sie ihre Werke auf den Markt bringen wolle. Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch auf Rechnungslegung diene dazu, die zur Bezifferung des Schadensersatzanspruchs erforderlichen Grundlagen zu gewinnen. Eine darüber hinausgehende Ausforschung der Kundenbeziehungen müsse verhindert werden. Das sei zu erreichen, indem der zum Schadensersatz Verpflichtete verlangen könne, die für die Berechnung der Schadenshöhe und die Nachprüfbarkeit seiner Angaben maßgebenden Umstände statt dem Verletzten einer Vertrauensperson mitzuteilen.524 Von der Klägerin seien nämlich keine Umstände dargetan, aus denen ein besonderes Interesse an der eigenen Kenntnis der Namen der Abnehmer der Beklagten zu entnehmen wäre. Dementsprechend sei der Beklagten die Möglichkeit zu gewähren, die Namen ihrer Kunden einem der Klägerin gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten Wirtschaftsprüfer zu übermitteln, dessen Auswahl in sinngemäßer Anwendung des §  87c Abs.  4 HGB der Klägerin zustehe. Durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) wurden die Auskunftsansprüche spezialgesetzlich verankert,525 freilich ohne einen Wirtschaftsprüfervorbehalt aufzunehmen. Daraus wird gefolgert, dass die Einschaltung eines Wirtschafts  BGH GRUR 1980, 227 ff.   Der Anspruch auf Auskunft (§  101a UrhG; dieser entspricht dem aktuellen §  101 UrhG, allerdings nunmehr mit geändertem Inhalt), wurde eingefügt durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7.3.1990, BGBl.  I 1990, S.  422 ff. 524   In prozessualer Hinsicht führt der BGH noch aus, dass ein entsprechender Vorbehalt in der Urteilsformel auch dann aufzunehmen sei, wenn kein derartiger Hilfsantrag gestellt worden sei; BGH GRUR 1980, 227, 233. 525   Auskunftsansprüche wurden in §  24b GebrMG, §  46 GeschmMG, §  9 Abs.  2 HalbleiterschutzG i. V. mit §  24b GebrMG, §  140b PatG, §  37b SortSchG, §  101 UrhG und §  19 MarkenG 522 523

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Teil 3:  Information und Offenlegung

prüfers in den geregelten Fällen nunmehr ausgeschlossen sei.526 Es handele sich um gesetzlich geregelte, erweiterte Auskunftsansprüche, deren Hauptzweck die Identifizierung der Beteiligten sei. Daher scheide die Informationserteilung lediglich gegenüber einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Wirtschaftsprüfer aus. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt könne nur bei der akzessorischen Auskunft sachgerecht sein, da deren Primärziel die Bekanntgabe der Fakten sei, die für die Berechnung eines Vergütungsanspruchs erforderlich sind. Insoweit solle die Bekanntgabe der Abnehmer lediglich die Überprüfung dieser Fakten ermöglichen, einem Wettbewerber jedoch nicht die Geschäftsbeziehungen des Auskunftspflichtigen offenlegen. Die Zumutbarkeitsschwelle für die Auskunft in den spezialgesetzlich geregelten Fällen sei daher höher anzulegen als in den Fällen, in denen ein Wirtschaftsprüfer zwischengeschaltet werden könne.527 Daran ist richtig, dass die Zumutbarkeitsschwelle der Offenlegung mit der Einschaltung eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers sinkt. Allerdings wird man die Einschaltung eines Wirtschaftsprüfers in den spezialgesetzlich geregelten Fällen nicht durchweg ablehnen können. Der Inhalt des Auskunftsanspruchs, auch wenn er nunmehr auf spezialgesetzliche Anspruchsgrundlagen gestützt ist, wird maßgeblich über Treu und Glauben konkretisiert.528 Wenn nur über den Wirtschaftsprüfervorbehalt eine Offenlegung erreicht werden kann, ist das gegenüber einer nicht erfolgenden Auskunft für die Auskunft begehrende Person günstiger. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt kommt in Betracht, wenn die Identität der Beteiligten für den Auskunft Begehrenden nicht maßgeblich ist.529 Somit zeigt das materielle Recht die Verbindung eines effektiven Rechtsschutzes (des Auskunftsanspruchs) mit den Geheimhaltungsinteressen – realisiert über einen Wirtschaftsprüfervorbehalt. Auf den ersten Blick nicht versöhnliche Interessen können gleichzeitig berücksichtigt werden. Geheimhaltungsinteressen sind aber nicht nur bei materiellrechtlichen Ansprüchen gegeben, sondern auch im Prozess, ohne dass eine materiellrechtliche Anspruchsgrundlage gegeben ist. b)  Prozessuale Vorbilder Im Prozessrecht werden die Geheimhaltungsinteressen teilweise ebenfalls über »Geheimverfahren« berücksichtigt. Nicht nur in ausländischen Rechtsordnungen, sondern auch in der Rechtsprechung des BAG und der ober- und landgerichtlichen Rechtsprechung finden sich dafür Beispiele. aufgenommen (teilweise handelt es sich hier um Vorschriften, die andere abgelöst haben); siehe dazu Eichmann GRUR 1990, 575 ff. 526   Eichmann GRUR 1990, 575, 577. 527   Ploch-Kumpf, S.  166 ff. 528   BGH GRUR 1958, 346, 348 – Spitzenmuster; siehe auch BGH GRUR 1957, 336 – Rechnungslegung. 529   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1002.

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aa)  Erkenntnisse aus der rechtsvergleichenden Umschau Die Rechtslage in den USA, in England und in der Schweiz kann Anhaltspunkte für die Konzeption eines Geheimverfahrens bieten. (1) USA In den USA können Anordnungen zum Schutz der Vertraulichkeit der Geschäftsgeheimnisse erlassen werden. Die Entscheidung über die Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse erfolgt in einem in camera-Verfahren.530 Dabei können die gegnerische Partei und deren Anwalt ausgeschlossen werden. Anstelle des Richters kann die Überprüfung der Geheimhaltungsbedürftigkeit durch einen special master 531 erfolgen oder bei fehlender Sachkunde durch einen Sachverständigen. Ein in den USA gängiges Instrument zur Wahrung der Vertraulichkeitsinteressen ist die Einschaltung von Mittelspersonen. Die Mittelsperson, die zur Vertraulichkeit verpflichtet ist, berichtet gegenüber der gegnerischen Partei unter Ausschluss oder Unkenntlichmachung der Geschäftsgeheimnisse.532 (2) England Auch in England werden die Unternehmensgeheimnisse über ein Geheimverfahren geschützt. Ein unabhängiger und zur Verschwiegenheit verpflichteter Gutachter oder Anwalt leitet die Erkenntnisse lediglich an das Gericht, nicht jedoch die gegnerische Partei weiter. Möglich ist die Einschaltung eines Vertreters, der über die durch den Gutachter oder Anwalt gewonnen Erkenntnisse informiert wird und gegenüber der Partei zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Schließlich kann ein zur Verschwiegenheit verpflichteter Vertreter der gegnerischen Partei eingesetzt werden, der die Untersuchungen in der geschützten Sphäre selbst durchführt.533 (3)  Zürcherische und Schweizerische Zivilprozessordnung als Vorbild Der bisher gültigen zürcherischen Zivilprozessordnung wurde häufig eine gelungene Verbindung der Interessen der Prozessbeteiligten attestiert. Danach wurde es sogar zugelassen, dass der Richter Beweise im Geheimverfahren erhebt und diese ohne Unterrichtung der Parteien dem Urteil zugrunde legt. Alternativ konnte die Einsicht auf den Parteivertreter beschränkt oder ein unbeteiligter Dritter eingeschaltet werden, der die Parteien unter Wahrung der erforderlichen Geheimhaltung unterrichtete. Die Auswahl der Mittel stand im   Stadler, S.  197 ff.   Siehe §  3 I. 5. c). 532   Siehe §  3 I. 5. c). 533   Siehe §  3 II. 4. 530 531

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Ermessen des Gerichts. Darüber hinaus konnten schutzwürdige Stellen in Urkunden mit Bewilligung des Gerichts unzugänglich gemacht werden (§  186 Abs.  3 ZPO ZH).534 Diese Maßnahmen wird man grundsätzlich auch unter Geltung der Schweizerischen Zivilprozessordnung zulassen können. Die erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung der schutzwürdigen Interessen einer Partei oder eines Dritten trifft das Gericht unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art.  156 sZPO).535 Geschäftsgeheimnisse werden als schutzwürdig eingestuft.536 Der Ausschluss einer Partei kann angeordnet werden.537 Soweit möglich muss zur Wahrung des rechtlichen Gehörs eine Information der ausgeschlossenen Partei stattfinden. Somit zeigen sowohl die zürcherische als auch die Schweizerische Zivilprozessordnung, dass den Geheimhaltungsinteressen Rechnung getragen werden sollte, erforderlichenfalls durch ein Geheimverfahren.

  Siehe §  3 IV. 6.   Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28.6.2006, BBl.  2006, 7221, 7314; Gasser/Rickli, Art.  156 Rn.  2 ; Staehelin/Staehelin/Grolimund, §  18 Rn.  25; Dolge, in: Spühler, S.  33, 38. 536   Der Schweizer Bundesgesetzgeber hatte sich bereits in dem Bundesgesetz über den Zivilprozess vom 4.12.1947 (das Bundesgesetz regelt das Verfahren in den vom Bundesgericht als einziger Instanz auf Klage zu beurteilenden Streitsachen, die in Artikel 120 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17.6.2005 [BGG] angeführt sind; zu den Streitigkeiten gehören insbesondere Kompetenzkonflikte zwischen Bundesbehörden und kantonalen Behörden sowie zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen) für die Möglichkeit eines Geheimverfahrens entschieden. Nach Art.  38 S.  1 des Bundesgesetzes über den Zivilprozess vom 4.12.1947 sind die Parteien zwar grundsätzlich berechtigt, der Beweiserhebung beizuwohnen und in die vorgelegten Urkunden Einsicht zu nehmen. Wo es zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen einer Partei oder eines Dritten nötig ist, hat der Richter jedoch von einem Beweismittel unter Ausschluss der Gegenpartei oder der Parteien Kenntnis zu nehmen (Art.  38 S.  2). Der Zivilprozess wurde damit in Ausnahmefällen ausdrücklich zum Geheimverfahren erhoben; positiv bewertend G. Wagner ZZP 108 (1995), S.  193, 211; kritisch Habscheid, Rn.  659. Das Geheimverfahren war auch in Zivilprozessordnungen einiger Kantone vorgesehen, siehe etwa die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern vom 7.7.1918; für den Urkundenbeweis: »Wenn durch die Herausgabe von Urkunden an das Gericht berechtigte Interessen verletzt würden, so kann verfügt werden, dass der Instruktionsrichter oder eine Abordnung des Gerichtes beim Inhaber von der Urkunde Einsicht nehmen.« (Art.  229 Abs.  2 ZPO BE); inhaltsgleich für den Beweis durch Augenschein: »Soweit es sich um Geschäftsgeheimnisse handelt, kann das Gericht den Ausschluss derjenigen Partei verfügen, welche nicht berechtigt ist, von dem Geheimnis Kenntnis zu nehmen.« (Art.  261 Abs.  2 ZPO BE); für das Parteiverhör: »Handelt es sich um ein Geschäftsgeheimnis, so kann die nicht einvernommene Partei zum Austritt verpflichtet werden.« (Art.  276 Abs.  2 ZPO BE). 537   Schmid, in: Oberhammer, Art.  156 Rn.  4. 534 535

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bb)  Anerkennung von Geheimhaltungsinteressen in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts In der Rechtsprechung des BAG werden Geheimhaltungsinteressen anerkannt, wenn auch nicht unbedingt von einem Geheimverfahren gesprochen werden kann. (1)  Mittelbare Beweisführung Das BAG gestand einer Gewerkschaft zu, den Nachweis ihres Vertretenseins im Betrieb durch mittelbare Beweismittel zu führen, und zwar ohne den Namen ihres im Betrieb des Arbeitsgebers beschäftigten Mitglieds zu nennen.538 Ausreichend war eine notarielle Erklärung, dass ein Mitglied der Gewerkschaft im Betrieb tätig war. Der Antrag der Gewerkschaft wurde als schlüssig eingestuft, weil das Vorbringen sämtliche zur Begründung ihrer Zutrittsrechte erforderlichen Tatsachen enthalte. Voraussetzung für den Antrag war nach §  2 Abs.  2 BetrVG, dass die Gewerkschaft mit einem Mitglied im Betrieb vertreten ist. Der Name des Mitglieds habe dabei, so das BAG, keine rechtliche Bedeutung, sodass der Sachvortrag ausreichend substantiiert und einer Beweisaufnahme zugänglich sei, wenn er sich auf eine bestimmte Person beziehe und die Person nach den dargelegten Tatsachen sowohl Mitglied der antragstellenden Gewerkschaft sei als auch im Betrieb der Arbeitgeberin als Arbeitnehmer i. S. des §  5 Abs.  1 BetrVG beschäftigt werde.539 Die Gewerkschaft konnte – so das BAG weiter (wie zuvor bereits das LAG Nürnberg) – den erforderlichen Beweis ohne die Nennung des Namens ihres Mitglieds führen. Dadurch würden die Grundsätze der Unmittelbarkeit, der Öffentlichkeit oder der Parteiöffentlichkeit nicht verletzt.540 Die Beweiswürdigung werde nicht dem Notar überlassen, sondern die notarielle Urkunde im Wege des Urkundenbeweises über Hilfstatsachen verwertet. Das LAG habe das in einer öffentlichen mündlichen Anhörung getan und den Beweiswert der mittelbaren Beweismittel sowie der festgestellten Indizien selbstständig und eigenverantwortlich beurteilt. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art.  103 Abs.  1 GG) werde nicht verletzt. Das rechtliche Gehör gebiete nicht die Offenlegung des Namens des Gewerkschaftsmitglieds. Einer gerichtlichen Entscheidung dürften nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (Art.  103 Abs.  1 GG).541 Das sei der Fall gewesen, weil sich die Parteien 538   BAGE 70, 85 = NJW 1993, 612; bestätigt durch BVerfG NJW 1994, 2347 (Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen). 539   BAGE 70, 85, 89 ff. = NJW 1993, 612, 613. 540   A. A. Prütting/Weth DB 1989, 2273, 2276. 541   BVerfGE 64, 135, 144 = NJW 1983, 2762, 2763; BVerfGE 57, 250, 274 = NJW 1981, 1719, 1721.

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zu der notariellen Urkunde als Beweismittel äußern konnten. Die Instanzgerichte hätten nicht die Rechtsauffassung Dritter ungeprüft übernommen, sondern den festgestellten Sachverhalt unter die Tatbestandsmerkmale subsumiert. Die Beschränkung auf die mittelbaren Beweismittel habe richtigerweise die Auswirkungen der von der Arbeitgeberin angeregten Beweisermittlung auf die betriebsverfassungsrechtlich und grundgesetzlich geschützte Rechtsstellung der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder berücksichtigt, ohne die Wahrheitsfindung zu vernachlässigen.542 Zwar habe die Arbeitgeberin, weil die Gewerkschaft den Namen des vor dem Notar erschienenen Gewerkschaftsmitglieds nicht preisgab, die Person nicht als Zeugen benennen können, doch hätten ihr andere Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden. Ein Verstoß gegen das Gebot der prozessualen Waffengleichheit liege nicht vor. Das LAG habe der Gewerkschaft keine Privilegien eingeräumt, die gesetzlich nicht vorgesehen sind, sondern die mittelbare Beweisführung zur Wahrheitsfindung für ausreichend halten dürfen. Die sodann folgende Beschränkung der Beweisführung gründete darin, dass sich die Arbeitgeberin nicht auf die mittelbare Beweisführung eingelassen habe.543 (2)  Kritik an der Entscheidung In der arbeitsrechtlichen Literatur wird das Verfahren von der herrschenden Meinung als zulässig erachtet.544 Prütting/Weth und Walker äußern sich hingegen kritisch zu seiner Zulässigkeit.545 Es fehle bereits an einer Rechtsgrundlage – sowohl im Arbeitsgerichtsgesetz als auch in der ZPO –, auf welche ein Geheimverfahren gestützt werden könnte. Dass ein solches Verfahren gleichwohl durchgeführt wird, könne nicht mit einer Richtigkeitsgewähr für das Verfahren begründet werden, weil sie einen Verstoß gegen die Verfahrensgesetze nicht legitimiere. Ansonsten müsste desgleichen ein Verstoß gegen Art.  101 Abs.  1 S.  2 GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, folgenlos bleiben, wenn die Entscheidung durch einen anderen Senat ebenfalls eine Richtigkeitsgewähr biete. Darüber hinaus bringe ein Geheimverfahren nicht die gleiche Richtigkeitsgewähr mit sich wie ein Verfahren, in dem der Name des Gewerkschaftsmitglieds genannt wird. Es bestünden Manipulationsmöglichkeiten, die bei Nennung des Namens ausschieden. Ferner werde ein Teil der Beweisaufnahme auf den Notar übertragen, worin ein Verstoß gegen den   BAGE 70, 85, 97 = NJW 1993, 612, 614.   BAGE 70, 85, 98 f. = NJW 1993, 612, 615. 544   Siehe nur Grunsky ArbuR 1990, 105, 108 m. w. N.; ders. ArbuR 1991, 223 f.; Überblick über den Meinungsstand bei Walker, in: FS Schneider, S.  147, 152. 545   Prütting/Weth DB 1989, 2273, 2276 ff.; dies. NJW 1993, 576 ff.; dies. ArbuR 1990, 269, 275: »Das Geheimverfahren ist auf prozessuale Benachteiligung des Antragsgegners angelegt: Es ist ein Irrweg!«; Walker, in: FS Schneider, S.  147, 155 ff., der jedoch nicht grundsätzlich gegen ein Geheimverfahren in anderen Bereichen ist (S.  178). 542 543

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Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§  355 ZPO) und gegen den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) liege. Schließlich werde der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG) verletzt. Danach dürften der Entscheidung nämlich nur Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die Parteien haben Stellung nehmen können. (3) Würdigung Anknüpfungspunkt der Argumentation von Prütting/Weth ist zunächst, dass eine Rechtsgrundlage für ein Geheimverfahren fehle. Für ein Geheimverfahren fehlt in der Tat eine spezialgesetzliche Grundlage in den Prozessordnungen, doch ist fraglich, ob eine solche in der beschriebenen Situation erforderlich ist. Das Gericht hat Beweis über die vorgelegte notarielle Urkunde erhoben und der Urkundenbeweis ist in der ZPO vorgesehen (§§  415 ff. ZPO). Von dieser Be­ weisaufnahme ist keine Partei ausgeschlossen worden, sodass es sich insoweit nicht um ein Geheimverfahren handelte.546 Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) ist gewahrt, denn der Arbeitgeber konnte an der Beweisaufnahme teilnehmen. Nicht verstoßen wird gegen die Unmittelbarkeit der Beweis­ aufnahme nach §  355 ZPO. §  355 ZPO betrifft die formelle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, d. h. die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht.547 Gegen diesen Grundsatz wird nicht verstoßen, weil der Beweis durch die Urkunde vor dem Prozessgericht erfolgt. Betroffen ist die materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, die bedeutet, dass nur diejenigen Beweismittel zulässig sind, die der erheblichen Tatsache inhaltlich am nächsten stehen.548 Von den verfügbaren Beweismitteln ist dasjenige zu wählen, welches die Erkenntnis der erheblichen Tatsache am unmittelbarsten ermöglicht.549 Nach dem Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit hätte der betroffene Arbeitnehmer selbst gehört werden müssen, weil die Tatsache dadurch unmittelbarer bewiesen werden kann als über die notarielle Urkunde. In der ZPO gilt jedoch das Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit nicht.550 Nach dem Verhandlungsgrundsatz können die Parteien wählen, welches Beweismittel sie vorbringen.551 Wenn es sich dabei nicht um das unmittelbare Be  Walker, in: FS Schneider, S.  147, 157.   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  116 Rn.  22; Walker, in: FS Schneider, S.  147, 157. 548   Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  4. 549   Heinrich, in: MünchKommZPO, §  355 Rn.  1. 550   Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  29; Musielak/Stadler, Rn.  43; Prütting/Weth DB 1989, 2273, 2276; Stadler ZZP 110 (1997), 137, 145; a. A. Bachmann ZZP 118 (2005), 133, 140 ff. 551   Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  29. Für das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren ergibt sich trotz des Untersuchungsgrundsatzes (§  83 Abs.  1 S.  1 ArbGG) nichts anderes. Die Parteien haben an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken (§  83 Abs.  1 S.  2 ArbGG), weil es um ihre Interessen geht. Aus diesem Grund ist auch nicht gerechtfertigt, dass das Gericht das Verfahren komplett »an sich zieht«. Ein Allgemeininteresse an dem unmittelbaren Beweismittel besteht hier nicht; Grunsky ArbuR 1990, 105, 112. 546 547

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weismittel handelt, kann der Beweiswert geringer sein.552 Das Gericht hat den geringeren Beweiswert im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Die darlegungs- und beweisbelastete Partei muss das Risiko, auf das unmittelbare Beweismittel zu verzichten, abwägen.553 Bleiben Unklarheiten, gehen sie zulasten der Partei, die auf das unmittelbare Beweismittel verzichtet.554 In dem konkreten Fall des BAG handelt es sich daher nicht um ein »klassisches« Geheimverfahren, denn Gericht und Parteien haben denselben Sachverhalt als Grundlage. Diejenigen Tatsachen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legt, also maßgeblich die von dem Notar errichtete Urkunde, sind den Parteien bekannt. Der Geheimnisschutz spielt eine Rolle, weil der unmittelbare Beweis nicht erhoben wird, um den Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber zu schützen. Den Nachteil aus der mittelbaren Beweisführung müsste die beweisführende Partei tragen. Entgegen Prütting/Weth555 litt der Antrag nicht an fehlender Substantiierung. Die Gewerkschaft musste lediglich nachweisen, dass sie in dem Betrieb mit mindestens einem – irgendeinem – Arbeitnehmer vertreten ist. Dabei kommt es nicht auf den Namen des Arbeitnehmers an, weshalb aus der fehlenden Nennung des Namens nicht eine fehlende Substantiierung folgt.556 (4) Ergebnis Die Entscheidung des BAG ist kein klassisches Beispiel für ein Geheimverfahren. Allerdings zeigt sich, dass Geheimhaltungsinteressen im Prozess berücksichtigt werden. cc) Geheimverfahren in der obergerichtlichen Rechtsprechung Das OLG Nürnberg führte in einem urheberrechtlichen Streit ein Geheimverfahren durch.557 Die Klägerin machte einen Unterlassungsanspruch nach §  97 Abs.  1 UrhG geltend, wofür die Urheberrechtsschutzfähigkeit ihres Computerprogramms Voraussetzung war. Über die Urheberrechtsschutzfähigkeit des Programms erhob das Gericht Beweis durch Sachverständigengutachten. Der Sachverständige bejahte die Schutzfähigkeit des Programms, nachdem er »die gesamten Ausdrucke [geprüft hatte], die eine Beurteilung der jeweiligen De552   BGH NJW 1995, 2856, 2857: regelmäßig geringerer Beweiswert; Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  29; Musielak/Stadler, Rn.  43; Grunsky ArbuR 1990, 105, 111. 553   Grunsky ArbuR 1990, 105, 111. 554   Grunsky ArbuR 1990, 105, 111. 555   Prütting/Weth DB 1989, 2273, 2276 f. 556   Grunsky ArbuR 1990, 105, 111; Prütting/Weth DB 1989, 2273 f.; zur Problematik der rechtlichen Prüfung durch das Gericht, dass es sich bei dem Arbeitnehmer nicht um einen leitenden Angestellten handelt, siehe Walker, in: FS Schneider, S.  147, 155 f. 557   OLG Nürnberg BB 1984, 1252 f. = GRUR 1984, 736 f. = CR 1986, 197 f. mit Anmerkung Ullmann – Glasverschnitt-Programm.

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taillösung sowie der Eigentümlichkeit des Programms ermöglichen«. Das Sachverständigengutachten wurde dem Beklagten jedoch teilweise vorenthalten. Eine mündliche Erörterung des Beweisergebnisses erfolgte nicht. Das Gericht nahm von dem Gutachten Kenntnis, nicht hingegen von den vom Sachverständigen zugrunde gelegten Tatsachen.558 Zur Begründung der Geheimhaltung gegenüber dem Beklagten führte das Gericht aus: »Ebenso wie bei Wettbewerbsverstößen und Schutzrechtsverletzungen Auskunftsansprüche nach den durch Treu und Glauben gebotenen Maßstäben unter Abwägung der Interessen beider Parteien einzugrenzen sind und die Erteilung der Auskunft im Einzelfall nur an eine zur Verschwiegenheit verpflichtete Vertrauensperson in Betracht kommen kann [.  .  .], muß auch die Substantiierung eines urheberrechtlich geschützten Programms, bei dem die (Weiter-) Übertragung vom Urheber wirksam ausgeschlossen ist, dort ihre Grenze finden, wo durch die gänzliche Offenlegung eine Beeinträchtigung dieses Rechts inmitten steht und die Rechtsverteidigung einer Partei nicht zu dieser Offenlegung zwingt. [.  .  .] [Den] Interessen [der Beklagten] ist weitgehend gedient, wenn anhand der gemachten Angaben das streitgegenständliche Programm von einem öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen umfassend auf eine geistige und schöpferische Leistung hin untersucht und gewürdigt wird, zumal sie gemäß §  411 ZPO den Anspruch auf mündliche Erläuterung des Gutachtens besitzt. Damit ist ihre Rechtsverteidigung keineswegs in einer unzumutbaren Weise eingeschränkt.«

Die Ausführungen des OLG Nürnberg sind zu begrüßen, soweit sie die Geheimhaltungsbedürftigkeit des Computerprogramms der Klägerin betreffen. In dem Prozess ging es um eine Verletzungshandlung des Beklagten, sodass er als geheim einzustufende Tatsachen aus der Sphäre der Klägerin nicht erlangen darf. Der Ausschluss der Beklagten hätte allerdings unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit wiederum begrenzt werden müssen. Das hätte erfolgen können, indem man dem Anwalt oder einer eingeschalteten Vertrauensperson Gelegenheit zur Kenntnis und Stellungnahme gibt.559 Darüber hinaus hätte sich das Gericht von den dem Gutachten zugrunde gelegten Tatsachen Kenntnis verschaffen müssen.560 Ein Geheimverfahren seitens des Sachverständigen gegenüber dem Gericht ist nicht angezeigt. Das OLG Nürnberg begründet die geringere Substantiierungslast mit dem Grundsatz von Treu und Glauben. Lachmann kritisiert das, weil §  242 BGB nicht den im Zivilprozess herrschenden Beibringungsgrundsatz antasten könne.561 Insoweit ist die Entscheidung des OLG Nürnberg in der Tat zu kritisieren. Der erforderliche Geheimnisschutz ist keine Frage von Treu und Glauben, sondern stellt ein selbstständiges Interesse dar, welches im Zivilprozess zu be558   Auch die Darlegungslast wurde somit bereits herabgesetzt; G. Wagner ZZP 108 (1995), S.  193, 210. 559   Stadler NJW 1989, 1202, 1206. 560   Ullmann CR 1986, 198, 199; zustimmend Stadler NJW 1989, 1202, 1206; generell zur Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts Greiner, in: FS Krämer, S.  461 ff. 561   Lachmann NJW 1987, 2206, 2209.

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rücksichtigen ist, und zwar bei der Darlegungs- und Beweislast. Die Rechtsprechung erkennt die sekundäre Behauptungslast an, wenn eine Partei mangels Kenntnis nicht detailliert vortragen kann. Im Falle des Geheimnisschutzes liegt eine vergleichbare Situation vor, mit dem Unterschied, dass die Partei vortragen könnte, es ihr aber aus Gründen des Geheimnisschutzes nicht zugemutet werden kann. Die Entscheidung des OLG Nürnberg zeigt jedenfalls das Bemühen, Geheimhaltungsinteressen der Parteien zu berücksichtigen. Der Rechtsschutz soll nicht an der Geheimhaltungsbedürftigkeit scheitern. dd)  Das Düsseldorfer Verfahren in Patentrechtsstreitigkeiten als Vorbild Vorbild für ein in camera-Verfahren im Zivilprozess kann schließlich das sog. »Düsseldorfer Verfahren«562 in Patentrechtsstreitigkeiten sein, welches das selbstständige Beweisverfahren zur Einholung eines Sachverständigengutachtens mit einer einstweiligen Verfügung zur Sicherung des Anspruchs aus §  809 BGB kombiniert.563 In der einstweiligen Verfügung wird dem Antragsgegner aufgegeben, die Besichtigung zu dulden.564 Verfügungsgrund ist die Dringlichkeit, die besteht, um eine Veränderung oder Beseitigung des Besichtigungsgegenstands zu verhindern.565 Daraus folgt die für §  485 Abs.  1 ZPO566 erforderliche Beweisgefährdung.567 Dem Sachverständigen, dem Antragsgegner und Vertretern des Antragstellers, nicht jedoch dem Antragsteller selbst, wird gestattet, bei der Besichtigung anwesend zu sein. Die anwesenden Personen sind zur Ver562   Das »Düsseldorfer Verfahren« hat sich vor dem Düsseldorfer Landgericht entwickelt, woraus die Bezeichnung resultiert. 563   Siehe dazu Kühnen GRUR 2005, 185, 187 ff. mit Musteranordnung; ders. Mitt. 2009, 211 ff. Siehe beispielhaft für einen Fall außerhalb einer Schutzrechtsverletzung OLG Karlsruhe NJW-RR 2002, 951 f.: Besichtigungsanspruch zur Klärung der Frage, ob das Grundstück des Antragstellers aufgrund von Abgrabungen des Nachbargrundstücks abzurutschen droht. 564   Die Duldungsverfügung ist notwendig, wenn der Besichtigungsgegenstand – wie häufig – nicht frei zugänglich ist; siehe Kühnen GRUR 2005, 185, 187. 565   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 270. 566   Kritisch zur Einschlägigkeit des §  485 Abs.  1 ZPO Ahrens GRUR 2005, 837, 838. 567   Die Schlüssigkeit des Hauptanspruchs ist grundsätzlich nicht zu prüfen. Ausnahmen bestehen lediglich, wenn ein Rechtsverhältnis, ein Prozessgegner oder ein Anspruch nicht erkennbar sind; BGH NJW 2004, 3488, 3489. Das Substantiierungserfordernis des §  487 Nr.  2 ZPO darf nicht zu streng gehandhabt werden, weil dem Schutzrechtsinhaber gerade Informationen zur (weiteren) Substantiierung fehlen; Herget, in: Zöller, §  487 Rn.  2 ; kritisch Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 212. Die Bezeichnung der Tatsachen muss (lediglich) die Überprüfung des Anordnungsgrunds ermöglichen; Leipold, in: Stein/Jonas, §  487 Rn.  3. Begrenzend wirkt freilich, dass das Verfahren nicht auf Ausforschung gerichtet sein darf; Leipold, in: Stein/Jonas, §  485 Rn.  21. Kühnen GRUR 2005, 185, 189 f. weist darauf hin, dass ein Verstoß gegen das Ausforschungsverbot bereits deshalb nicht in Betracht komme, weil §  809 BGB dem Schutzrechtsinhaber einen materiellrechtlichen Besichtigungsanspruch bei Ungewissheit über das Bestehen eines Anspruchs gewähre. Diese Wertung müsse auch für das selbstständige Beweisverfahren berücksichtigt werden.

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schwiegenheit verpflichtet, insbesondere die Vertreter des Antragstellers gegenüber dem Antragsteller.568 Der in der Duldungsverfügung angelegte Schutz der Geheimhaltung erfolgt vorsorglich. Der Antragsgegner erhält rechtliches Gehör nämlich nicht vor Erlass der einstweiligen Verfügung, sondern erst nachträglich.569 Erst dann kann er seine Geheimhaltungsinteressen geltend machen.570 Es wird sodann von dem Gericht entschieden, ob und in welchem Umfang der von dem Sachverständigen erstellte Bericht dem Antragsteller zugänglich gemacht wird. In der (teilweisen) Zuleitung des Berichts an den Antragsteller liegt keine Vorwegnahme der Hauptsache.571 Das eigentliche Hauptsacheverfahren bezieht sich auf die Verletzungshandlung an sich, demgegenüber ist der Besichtigungsanspruch nur ein das Hauptsacheverfahren vorbereitender Hilfsanspruch.572 Die Entscheidung des Gerichts erfolgt ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung des Antragstellers durch Beschluss.573 Maßgeblich für die Entscheidung sind vor allem die glaubhaft gemachten Geheimhaltungsinteressen und die Wahrscheinlichkeit einer Schutzrechtsverletzung.574 Nach Einsicht in den freigegebenen Bericht kann der Antragsteller entscheiden, ob er ein Verletzungsverfahren einleitet. Freilich bleibt die Frage der Notwendigkeit des Wegs über das selbstständige Beweisverfahren. Auf den ersten Blick erscheint eine einstweilige Verfügung zur Duldung der Besichtigung – daraus resultierend die Möglichkeit der Erstellung eines privaten Sachverständigengutachtens – ausreichend. Der Weg über das selbstständige Beweisverfahren hat den Vorteil, dass das Sachverständigengutachten aus dem selbstständigen Beweisverfahren im Hauptprozess verwertbar ist (§  493 ZPO). Die in die Duldungsverfügung aufgenommenen Einschränkungen zulasten des Antragstellers werden auf einen Verzicht seinerseits ge568   Siehe etwa die Anordnung in dem Sachverhalt zu BGHZ 183, 153, 155 (Rn.  2) = GRUR 2010, 318 – Lichtbogenschnürung. 569   Zur Zulässigkeit generell Schreiber, in: MünchKommZPO, §  485 Rn.  17. 570   Siehe BGHZ 183, 153, 155 (Rn.  4) = GRUR 2010, 318 – Lichtbogenschnürung; Kühnen GRUR 2005, 185, 190. 571   Tilmann/Schreibauer, in: FS Erdmann, S.  9 01, 916; Hartz ZUM 2005, 376, 381; Spindler/Weber MMR 2006, 711, 713; Schlosser JZ 1991, 599, 607; a. A. (Zuleitung erst nach Hauptsacheentscheidung über den Besichtigungsanspruch zulässig) Leppin GRUR 1984, 552, 561; Spindler/Weber MMR 2006, 711, 712; Stadler ZZP 123 (2010), 261, 269 Fn.  39; siehe auch die Anordnung in OLG Düsseldorf GRUR 1983, 745. 572   Hartz ZUM 2005, 376, 381. 573   Tilmann/Schreibauer, in: FS Erdmann, S.  9 01, 916; Hartz ZUM 2005, 376, 381; Spindler/Weber MMR 2006, 711, 713; siehe auch Schlosser JZ 1991, 599, 607. Der Beschluss ist mit der sofortigen Beschwerde (§  567 Abs.  1 Nr.  2 ZPO) anfechtbar; OLG Düsseldorf InstGE 8, 186 ff. – Klinkerriemchen II; InstGE 9, 41 ff. – Schaumstoffherstellung; Kühnen Mitt. 2009, 211, 217; anders noch OLG Düsseldorf InstGE 7, 256 f. – Klinkerriemchen I. Zur Anfechtbarkeit der gesamten Verfügung siehe Kühnen GRUR 2005, 185, 187; Eck/Dombrowski GRUR 2008, 387 ff.; kurz Stadler ZZP 123 (2010), 261, 271. 574   Ahrens GRUR 2005, 837, 839.

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stützt, der ausdrücklich oder konkludent in dem Antrag enthalten ist.575 Die Notwendigkeit des Verzichts ergibt sich daraus, dass bereits die Gewährung des Besichtigungsanspruchs aus §  809 BGB die Wahrung der Geheimhaltungsinteressen des Verpflichteten verlangt.576 Der Besichtigungsanspruch besteht nur unter Wahrung dieser Geheimhaltungsinteressen. Würde der Antragsteller in die Einschränkung seines Besichtigungsanspruchs nicht einwilligen, müsste das Gericht den Antrag ablehnen, wenn es Geheimhaltungsinteressen des Antragsgegners als gefährdet ansieht. Das »Düsseldorfer Verfahren« stößt an seine Grenzen, wenn der Antragsteller die vollständigen Informationen benötigt, um über die Anstrengung des Hauptsacheverfahrens zu entscheiden. Eine vollständige Freigabe an den Antragsteller würde das Geheimhaltungsinteresse des Antragsgegners beeinträchtigen, ohne dass bereits über die Schutzrechtsverletzung entschieden worden wäre. Würde sich in dem Hauptsacheverfahren herausstellen, dass eine Schutzrechtsverletzung nicht gegeben ist, hätte der Antragsteller geheimhaltungsbedürftige Informationen aus der Sphäre der Gegenpartei (gegebenenfalls seines Wettbewerbers) erhalten. In den Fällen, in denen aufgrund des Berichts des Sachverständigen keine eindeutige Aussage über die Schutzrechtsverletzung an sich getroffen werden kann oder nicht zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit einer Schutzrechtsverletzung besteht, ist das »Düsseldorfer Verfahren« alleine nicht ausreichend. Vielmehr bedarf es insoweit einer Fortsetzung des Geheimnisschutzes – und damit des in camera-Verfahrens – im Hauptsachverfahren.577 c) Ergebnis Ohne Geheimhaltungsmechanismen ergibt sich im Prozess eine Alles-oderNichts-Lösung. Überwiegt das Geheimhaltungsinteresse, erfolgt keine Aufklärung; im umgekehrten Fall erfolgt eine Aufklärung, ohne dass die Geheimhaltungsinteressen berücksichtigt werden (es verbleibt dann nur, eine Aufklärung zu verweigern und eine negative Beweiswürdigung in Kauf zu nehmen).578 Gegenüber einer solchen rigorosen Regelung erscheint es sinnvoller, im Prozess die Zumutbarkeitsschwelle für die Offenbarung geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen abzusenken, indem Vertraulichkeitsinstrumente genutzt werden.579 Besteht eine Mitwirkungsverantwortung, müssen die Geheimhaltungsinteressen berücksichtigt werden, wozu sich das Institut des Wirtschaftsprüfervor  Stürner JZ 1985, 453, 458 f.; Stadler NJW 1989, 1202, 1204.   BGHZ 93, 191, 206 = NJW-RR 1986, 480, 483 – Druckbalken; BGHZ 150, 377, 386 f. = NJW-RR 2002, 1617, 1620 – Faxkarte; siehe auch Bornkamm, in: FS Ullmann, S.  893, 898. 577   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 272. 578   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1005 konstatiert, dass dieses Prinzip den BGH »zu einer frappant sinnwidrigen Überstrapazierung des Prinzips des rechtlichen Gehörs geführt [habe]«. 579   Stadler, S.  196 ff. 575 576

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behalts anbietet. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt kann verhindern, dass über einen absoluten Geheimnisschutz Erkenntnisse ganz im Verborgenen bleiben,580 gleichzeitig kann er Geheimhaltungsinteressen Geltung verschaffen. Dadurch können die unterschiedlichen Wertungen berücksichtigt werden. Die gesetzgeberische Wertung der Einschaltung einer Vertrauensperson kann auf den Zivilprozess im Allgemeinen zur Verbindung von Geheimhaltung und effektivem Rechtsschutz übertragen werden. Als neutrale Vertrauensperson fungiert der Richter oder ein sachverständiger Dritter.581 Um das Interesse an Geheimhaltung zu wahren, wäre die Auswahl des Wirtschaftsprüfers vorrangig in die Hände der zu schützenden Partei zu legen.582 Freilich bedarf ein Geheimverfahren aber weiterer Konkretisierungen. Die Mitteilung der Tatsachen oder die Vorlage der Urkunde bzw. des Augenscheins­ objekts kann gegenüber dem Gericht und den Anwälten der Prozessparteien erfolgen, die zur Geheimhaltung verpflichtet sind bzw. werden, nicht hingegen gegenüber der anderen Prozesspartei. Der Anwalt der Gegenpartei wäre dann zur Geheimhaltung gegenüber seinem Mandanten verpflichtet. Möglich wären der Ausschluss des Anwalts und die Einschaltung eines neutralen Dritten stattdessen. Zu überlegen ist schließlich, ob nicht sogar eine Offenbarung nur gegenüber dem Gericht in Betracht kommt.583 Bevor die Konkretisierungen vorgenommen werden können, ist jedoch zu fragen, ob die Ausgangsüberlegungen, die die Notwendigkeit eines Geheimverfahrens zeigen, sich mit sonstigen prozessualen Grundsätzen in Einklang bringen lassen. Insbesondere ist zu untersuchen, ob die Einschränkung des rechtlichen Gehörs mit der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes zu rechtfertigen ist.584 2. Geheimhaltung und der Anspruch auf rechtliches Gehör Gegen die Verwertung von Tatsachen, die nur einer Partei bekannt sind, und die sie lediglich dem Gericht, einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten und unter Umständen dem Anwalt des Prozessgegners unter Ausschluss des Prozessgegners offenbart, bestehen Bedenken, weil der Anspruch der Gegen580   Gegen einen absoluten Geheimnisschutz für die Prozessparteien auch Stürner JZ 1985, 453, 457. 581   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  228; Schlosser JZ 2003, 427, 428. 582   Siehe BGH GRUR 1980, 227, 233 mit Verweis auf den in §  87c Abs.  4 HGB zum Ausdruck kommenden Gedanken; OLG Koblenz VersR 1991, 1191, 1192; Leppin GRUR 1984, 552, 560. In anderen Fällen hatte der BGH dem Berufungsgericht überlassen, ob es selbst oder das Registergericht einen Sachverständigen als unparteiischen Dritten auswählt, falls sich die Parteien insoweit nicht einigen können; BGHZ 10, 385, 388 f. = NJW 1954, 70, 71. In OLG Koblenz VersR 1991, 1191 f. hat das OLG die Auswahl der Steuerberaterkammer übertragen, weil es um ein vertragliches Wettbewerbsverbot unter Steuerberatern ging. 583   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 267. 584  So Stürner, Aufklärungspflicht, S.  223 ff.; ders. JZ 1985, 453, 458; Stadler NJW 1989, 1202, 1204; G. Wagner ZZP 108 (1995), 193, 214 ff.; Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1005.

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partei auf rechtliches Gehör beschränkt wird.585 Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit erfordert eine Teilnahmemöglichkeit der Partei (§  357 Abs.  1 ZPO). Im Falle der Geheimhaltung kann die ausgeschlossene Partei nicht selbst zur Verhandlung über das Ergebnis der Beweisaufnahme beitragen (§  285 ZPO). Über den Geheimnisschutz wird effektiver Rechtsschutz für die Partei ermöglicht, die die Informationen benötigt (insoweit geht es um den Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei) oder dem Gericht Tatsachen darlegen muss (insoweit geht es um den Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei), allerdings zulasten des Anspruchs auf rechtliches Gehör der anderen Partei.586 Doch darf man diese Rechte gegeneinander abwägen, die Geltung des einen unter Nichtgeltung des anderen? Als problematisch erscheint das insbesondere, wenn es um den Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei geht, weil ihr effektiver Rechtsschutz zulasten des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei gewährt wird, sie also »alle Vorteile« auf sich vereinigen kann. Bevor auf die jeweilige dogmatische Begründung für den Geheimnisschutz der beweisbelasteten bzw. der nicht beweisbelasteten Partei eingegangen wird,587 ist zunächst zu untersuchen, ob eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs überhaupt in Betracht kommen kann. a)  Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sind die Belange der Geheimhaltung bestimmter Vorgänge und die Rechtsschutzansprüche des Betroffenen weitgehend in Einklang zu bringen. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren könne die Frage, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Auskunftsverweigerung im konkreten Fall erfüllt seien, nachgeprüft werden, indem dem Gericht die Akten – unter Verpflichtung zur Geheimhaltung – vorgelegt werden.588 Den Geheimhaltungsbedürfnissen werde Rechnung getragen, weil die Kenntnisnahme auf das Gericht beschränkt bleibe (in camera-Verfahren). Zwar gebe Art.  103 Abs.  1 GG dem Einzelnen ein Recht darauf, über eine Äußerung zum Sachverhalt, auch über von Amts wegen in den Prozess eingeführte Tatsachen und Beweismittel, auf das Verfahren Einfluss zu nehmen, 589 doch sei dieses Recht nicht als Gegenstück zur Rechtsschutzgarantie aus Art.  19 Abs.  4 GG zu verstehen.590 Vielmehr würden beide Institute dem gleichen Ziel dienen, und

  Greger, in: Zöller, §  357 Rn.  4 ; Kürschner NJW 1992, 1804 ff.   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 267. 587  Zur Notwendigkeit der Differenzierung hinsichtlich der dogmatischen Begründung siehe §  8 III. 3. 588   BVerfGE 101, 106, 128 = NJW 2000, 1175, 1178 – Akteneinsichtsrecht. 589   BVerfGE 70, 180, 188 f. = NJW 1986, 371, 372; BVerfGE 89, 28, 35 = NJW 1993, 2229; BVerfGE 89, 381, 392 = NJW 1994, 1053, 1054. 590   BVerfGE 101, 106, 129 = NJW 2000, 1175, 1179 – Akteneinsichtsrecht. 585

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zwar der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes.591 Dieses Ziel könne es erfordern, Art.  103 Abs.  1 GG einzuschränken.592 Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren würde ein Absehen von einem in camera-Verfahren zu einer Einschränkung des Individualrechtsschutzes führen, die erheblich schwerer wiege als eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs. Weil über die Geheimhaltung erst effektiver Rechtsschutz ermöglicht werde, liege ein sachlicher Grund für die Beschränkung des rechtlichen Gehörs vor.593 Das BVerfG forderte den Ausgleich von Geheimhaltungsschutz und effektivem Rechtsschutz in einem multipolaren Verwaltungsrechtsstreit (Behörde und zwei Wettbewerber). Im Wege der praktischen Konkordanz seien die Interessen der Beteiligten auszugleichen. Dabei hat das BVerfG das in §  99 Abs.  2 VwGO enthaltene in camera-Verfahren im sog. Telekom-Verfahren für verfassungsrechtlich zulässig erklärt, allerdings mit ausdrücklichem Bezug auf die Eigenschaft als Zwischenverfahren.594 Für das Hauptsacheverfahren fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für ein in camera-Verfahren. Verfassungsrechtlich sei es zur Bewältigung des Geheimnisschutzes im Hauptsachverfahren nicht geboten.595 Im Grundsatz stehe einem Geheimverfahren der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG) entgegen.596 Daraus folgt, dass Wissen, welches in dem Zwischenverfahren als geheimhaltungsbedürftig eingestuft worden ist, in dem Hauptsacheverfahren nicht verwendet werden darf. Es erfolgt dementsprechend eine Beweislastentscheidung, obwohl Beweismittel zur Tatsachenfeststellung vorhanden sind.597 Angelegt ist somit eine Alternative zwischen dem vollständigen Ausschluss des Tatsachenstoffs bei Geheimhaltung und Verwendung bei fehlendem Geheimhaltungsbedarf. Eine Entscheidung ergeht zulasten des effektiven Rechtsschutzes oder zulasten des Geheimhaltungsinteresses. Ein Ausgleich der Interessen im Wege praktischer Konkordanz ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Nach Ansicht Gaiers in seinem Sondervotum wird der Rechtsschutzanspruch der Bürger, die einen Leistungsanspruch gegenüber der Behörde geltend machen oder den Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts erstreben, beeinträchtigt.598 Praktische Konkordanz zwischen Geheimhaltung und effektivem

  BVerfGE 81, 123, 129 = NJW 1990, 1104, 1105.   Anders im Strafverfahren bei Geheimhaltung gegenüber dem Angeklagten; BVerfGE 57, 250, 288 = NJW 1981, 1719, 1724 – V-Mann. 593   BVerfGE 101, 106, 130 = NJW 2000, 1175, 1179 – Akteneinsichtsrecht. 594   BVerfGE 115, 205, 240 = NVwZ 2006, 1041, 1044 – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. 595   BVerfGE 115, 205, 239 f. = NVwZ 2006, 1041, 1044 – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. 596   Gegen die Erwägungen des BVerfG G. Wagner JZ 2007, 706, 717. 597   Siehe das Sondervotum Gaier, in: BVerfGE 115, 205, 250 ff. = NVwZ 2006, 1041, 1047 ff. – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. 598   Gaier, in: BVerfGE 115, 205, 250, 252 = NVwZ 2006, 1041, 1047 – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. 591

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Grundrechtsschutz könne nur hergestellt werden, wenn das in camera-Verfahren nicht auf das Zwischenverfahren beschränkt, sondern auf das Hauptsacheverfahren erstreckt werde. b)  Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs In der Folge entschied der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Mobistar, dass die Stelle, die nach Artikel 4 der Rahmenrichtlinie599 über Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörde befinden soll, über sämtliche Informationen verfügen müsse, die erforderlich seien, um über die Begründetheit dieser Rechtsbehelfe in voller Kenntnis der Umstände entscheiden zu können. Davon erfasst seien vertrauliche Informationen. 600 Dabei müsse der Schutz dieser Informationen und von Geschäftsgeheimnissen jedoch sichergestellt und so ausgestaltet sein, dass er mit den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte der am Rechtsstreit Beteiligten im Einklang stehe. Unter Anerkennung des Geheimnisschutzes wird auf europäischer Ebene die Sicherstellung des effektiven Rechtsschutzes betont. c)  Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts Das Bundesverwaltungsgericht sieht durch diese Rechtsprechung den Weg für ein in camera-Verfahren im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geebnet. Anders als vom BVerfG gefordert, sei eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für ein in camera-Verfahren nicht erforderlich. Vielmehr sei §  138 TKG, der inzwischen den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in telekommunikationsrechtlichen Streitigkeiten regelt, gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass sich das in camera-Verfahren auf den Rechtsstreit in der Hauptsache erstrecke – so die Ausführungen im Rahmen des sog. Telekom-Verfahrens. 601 d)  Sichtweise des Bundesgerichtshofs Der BGH entschied 1991, dass ein gerichtliches Sachverständigengutachten grundsätzlich als Beweismittel unverwertbar sei, wenn es auf Geschäftsunterlagen beruhe, die eine der Parteien nur dem Sachverständigen, nicht hingegen dem Gericht und der Gegenpartei zur Verfügung gestellt habe und die im Ver  Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7.3.2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste; ABl.  EG Nr. L 108 vom 24.4.2002, S.  33 ff. 600   EuGH, Urteil vom 13.7.2006, Rs. C-438/04, Slg. I-2005, 6675, 6717 (Rn.  40) = MMR 2006, 803, 805 – Mobistar/IBPT. 601   BVerwGE 127, 282, 291 f. (Rn.  14 f.) = NWVBl.  2007, 428, 430; zustimmend im Ergebnis Gaier, in: FS Scharf, S.  201, 207 f. 599

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fahren nicht offengelegt wurden. 602 Es fehle an der Gewährung des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei (Art.  103 Abs.  1 GG) und das Gericht könne keine sorgfältige und kritische Beweiswürdigung vornehmen (§  286 ZPO). Einen Geheimnisschutz erkannte der BGH in einem Prozess um Schadensersatzansprüche einzelner geschädigter Personen bei Verletzung des Kriegsvölkerrechts an. 603 In dem Amtshaftungsprozess konnte nach Auffassung des Gerichts der beklagten Bundesrepublik Deutschland »nicht zugemutet werden, über die militärischen Vorgänge betreffend den Angriff auf Varvarin und ihren Beitrag hierzu noch mehr vorzutragen [.  .  .]. Der Tatrichter war [.  .  .] auch unter Berücksichtigung der Informations- und Beweisschwierigkeiten der Kläger604 als ungewollt vom Kampfgeschehen betroffener Zivilisten [.  .  .] gehalten, die für die Darlegungs- und Beweislast im deutschen Amtshaftungsprozess allgemein geltenden Grundsätze anzuwenden, nach denen es Sache des Anspruchstellers ist, den Sachverhalt darzulegen, der die Tatbestandselemente der behaupteten Anspruchsgrundlage erfüllen soll.«605

Diese Argumentation ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Nach Baufeld müssen jedenfalls diejenigen Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich der Geheimhaltungsbedarf ergibt. 606 Nur dadurch könne eine Flucht in die Geheimhaltung vermieden werden. Der BGH stellte hier die Geheimhaltung über die Gewährung effektiven Rechtsschutzes, indem die Informationen gar nicht preisgegeben werden mussten. e) Bewertung Die Gewährung des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei ist ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut. Obwohl Art.  103 Abs.  1 GG keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt enthält, sind Einschränkungen aufgrund verfassungsimmanenter Schranken möglich. Verfassungsimmanente Schranken sind sowohl kollidierende Grundrechte Dritter als auch andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter. 607 Dementsprechend kann die Frage nach der Zulässigkeit eines Geheimverfahrens nicht allein mit Blick auf das rechtliche Gehör einer Partei gelöst werden, sondern das rechtliche Gehör ist gegen die verfassungsrechtlich geschützten Interessen der anderen Partei abzuwägen. 608 Als kollidierendes Recht kommt hier die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes in Betracht. Im Ergebnis ist dem jeweiligen Interesse unter Berücksichtigung   BGHZ 116, 47, 58 = NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger.   BGHZ 169, 348 ff. = JZ 2007, 532 ff. – Varvarin. 604   Es handelte sich dabei um Staatsangehörige des früheren Jugoslawiens. 605   BGHZ 169, 348, 362 = JZ 2007, 532, 536. 606   Baufeld JZ 2007, 502, 509. 607   BVerfGE 30, 173, 193 = NJW 1971, 1645, 1646 – Mephisto; BVerfGE 83, 130, 139 = NJW 1991, 1471 – Josefine Mutzenbacher. 608   G. Wagner ZZP 108 (1995), 193, 212. 602 603

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der Gegeninteressen zu einer optimalen Wirksamkeit zu verhelfen (praktische Konkordanz). 609 Dabei hat das Interesse an der Durchsetzung materieller subjektiver Rechte als Ausprägung des Justizgrundrechts hohe Bedeutung. Das Geheimverfahren stellt die Möglichkeit dar, Entscheidungen auf Basis größtmöglicher materieller Wahrheit zu erlassen und somit das subjektive Recht durchzusetzen. Die Situation im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterscheidet sich – bezogen auf die Notwendigkeit eines in camera-Verfahrens – nicht grundlegend von der im Zivilprozess. In dem Telekom-Verfahren handelte es sich zwar um ein multipolares Rechtsverhältnis. In dem Streit um die Festsetzung der Nutzungsentgelte war die Telekom Beigeladene, doch war sie gleichwohl der eigentliche Gegner in dem Streitverfahren. 610 §  99 VwGO unterscheidet nicht zwischen Geheimnissen Prozessbeteiligter und Dritter. Daher lassen sich die Erwägungen zum Geheimnisschutz und der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes auf den Zivilprozess übertragen, 611 wobei es gleichwohl einer einfachgesetzlichen Grundlage bedürfte. 612 3.  Dogmatische Begründung Ein in camera-Verfahren kann nur in Betracht kommen, wenn es sich dogmatisch in das Zivilverfahrensrecht einfügt. Betrachtet man den Geheimnisschutz, sind zwei Konstellationen zu unterscheiden, und zwar einerseits der Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei, andererseits der Schutz von Geheimnissen der beweisbelasteten Partei. 613 a)  Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei Macht die nicht beweisbelastete Partei Geheimhaltungsinteressen geltend, stehen sich der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz der beweisbelasteten Partei und die Wahrung des Geheimnisses der nicht beweisbelasteten Partei gegenüber. Löst man den Interessenkonflikt dadurch auf, dass die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen nur dem Gericht, nicht aber der gegnerischen Partei offenbart werden – vorausgesetzt, es handelt sich um ein Geheimnis, das lediglich relativ, aber nicht absolut geschützt ist –, stellt sich die Frage, ob der gegnerischen Partei zulässigerweise das rechtliche Gehör genommen werden kann. In609   Zum Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz im Zivilprozess BVerfGE 89, 214, 232 ff. = NJW 1994, 36, 38 f. – Bürgschaftsbeschluss; generell zur Berücksichtigung der Grundrechtswertungen im bürgerlichen Recht BVerfGE 7, 198, 205 ff. = NJW 1958, 257 f. – Lüth. 610   Stadler ZZP 123 (2010), 261, 275. 611   Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 216; dies. ZZP 123 (2010), 261, 276. 612   So wohl auch BGHZ 169, 30, 40 (Rn.  42) = NJW-RR 2007, 106, 107; ebenfalls für eine gesetzliche Grundlage Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 219. 613   Stadler NJW 1989, 1202.

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soweit ist zunächst zu betonen, dass der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegenüber dem Anspruch auf rechtliches Gehör das umfassendere Recht ist. 614 Nur über die Beschränkung des rechtlichen Gehörs kann effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden, wenn man den Schutz des Geheimnisses der nicht beweisbelasteten Partei anerkennt. Wenn der Verzicht auf rechtliches Gehör zur Verbesserung des Rechtsschutzes führt, weil erst über die Geheimhaltung effektiver Rechtsschutz ermöglicht wird, wird man das dogmatisch mit einer Prozessvereinbarung oder einem Verzicht des Beweisführers begründen können, wenn die nicht beweisbelastete Partei Geheimnisse zugunsten der beweisbelasteten Partei offenbaren soll. 615 Das Gericht muss in diesem Fall zu erkennen geben, dass eine Offenlegung gegenüber der primär beweisbelasteten Partei der nicht primär beweisbelasteten Partei nicht zumutbar wäre, einem Antrag auf Mitwirkung unter Wahrung der Geheimhaltung gegenüber der anderen Prozesspartei jedoch stattzugeben wäre. 616 Die beweisbelastete Partei kann entscheiden, ob sie auf den Beweis aufgrund der Geheimhaltungsinteressen der nicht beweisbelasteten Partei verzichten möchte – mit der Folge eines Prozessverlusts/-nachteils –, oder auf ihr rechtliches Gehör teilweise verzichtet, um die Möglichkeit der Tatsachenfeststellung zu ihren Gunsten zu wahren. Gegen diese dogmatische Begründung wird vorgebracht, dass eine Partei auf das rechtliche Gehör nicht verzichten könne. Der verfassungsrechtliche Schutz des rechtlichen Gehörs in Art.  103 Abs.  1 GG sei Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, welches Vorrang vor dem Interesse an einer Offenlegung des Geschäftsgeheimnisses habe und über welches eine Prozesspartei nicht verfügen könne. 617 Das rechtliche Gehör habe elementare Bedeutung für ein rechtsstaatliches Verfahren und sei unverzichtbar. 618 Gegen diese Ansicht spricht, dass ein zwingender Schutz des rechtlichen Gehörs für die »geschützte« Partei nur nachteilige Folgen hätte. 619 Aufgrund der Geheimhaltungsbedürftigkeit könnten die Beweise nicht erhoben werden, sodass eine Beweislastentscheidung zu ihren Lasten ergehen würde. Der dogmatische Weg über die Parteivereinbarung bzw. Verzichtserklärung ist zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes erforderlich und verhältnismäßig.

  Stadler NJW 1989, 1202, 1204.   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1015; Stürner JZ 1985, 453, 459; Spindler/Weber MMR 2006, 711, 713; Stadler NJW 1989, 1202, 1204. 616   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1015. 617   Greger, in: Zöller, vor §  128 Rn.  7a; Baumgärtel, in: FS Habscheid, S.  1, 7 ff. 618   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  86; siehe auch Henckel ZZP 77 (1964), 321, 339 ff. 619   Spindler/Weber MMR 2006, 711, 713. 614

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b)  Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei Diese Lösung scheidet allerdings aus, wenn es um die Beschränkung des rechtlichen Gehörs der nicht beweisbelasteten Partei geht. Vielmehr wird das rechtliche Gehör der nicht beweisbelasteten Partei beschränkt, um effektiven Rechtsschutz der Gegenpartei zu gewährleisten. Ein Interesse der nicht beweisbelasteten Partei an dieser Vorgehensweise besteht nicht. Die beweisbelastete Partei hätte alle (prozessualen) Vorteile auf ihrer Seite: die Möglichkeit des Beweises unter Wahrung ihrer Geheimhaltungsinteressen kombiniert mit der Beschränkung des rechtlichen Gehörs des Prozessgegners. 620 Für die nicht beweisbelastete Partei besteht kein (prozessualer) Anreiz zu einem Verzicht oder einer entsprechenden Vereinbarung. Ihr ist daran gelegen, dass die beweisbelastete Partei die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen ihr gegenüber offenbaren muss, wenn sie den Prozess gewinnen möchte. Daher muss eine andere Konstruktion gewählt werden, die letztlich nur in einer gerichtlichen Anordnung bestehen kann. Eine nicht auf Freiwilligkeit beruhende Lösung bedeutet jedoch erst recht einen zu rechtfertigenden Eingriff in die Rechte der Prozesspartei. Die Beschränkung des rechtlichen Gehörs ist zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Im Wege der praktischen Konkordanz muss der Anspruch auf rechtliches Gehör – wie soeben herausgearbeitet wurde – zurücktreten. 621 Die grundsätzliche Anerkennung des Geheimnisschutzes ist wertlos, wenn er für die beweisbelastete Partei mit der fehlenden Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung verbunden ist. Verfassungsrechtlich ist es geboten, die Durchsetzung des materiellen Rechts nicht an unzumutbar hohen verfahrensrechtlichen Hürden scheitern zu lassen. 622 Daher muss die beweisbelastete Partei ihr Recht unter Wahrung ihrer berechtigten Geheimhaltungsinteressen durchsetzen können, sodass die nicht beweisbelastete Partei eine Beschränkung ihres rechtlichen Gehörs in Kauf nehmen muss. Der Gesetzgeber hat zum Ausdruck gebracht, dass der Geheimnisschutz unabhängig von der Beweislast gewährleistetet sein soll. §  139 Abs.  3 S.  1 PatG ordnet an, dass in einem Patentverletzungsverfahren über ein Verfahren zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses das gleiche Erzeugnis, das von einem anderen hergestellt worden ist, als nach dem patentierten Verfahren hergestellt gilt. Allerdings steht dem Beklagten der Beweis des Gegenteils offen. Bei der Erhebung des Beweises des Gegenteils sind die berechtigten Interessen des Beklagten an der Wahrung seiner Herstellungs- und Betriebsgeheimnisse kraft ausdrücklicher gesetzgeberischer Anordnung zu berücksichtigen (§  139 Abs.  3 S.  2 PatG). Es werden dadurch die Geheimhaltungsinteressen der beweisbelasteten Partei 620   Kritisch zu der Einschränkung des rechtlichen Gehörs der nicht primär beweisbelasteten Partei: Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1011. 621   Stadler, S.  242 ff. 622   BVerfGE 27, 132, 148 = NJW 1974, 1499, 1501 f.

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geschützt. 623 Dies ist nur folgerichtig, weil ohne den entsprechenden Geheimnisschutz ein Patentinhaber durch die Behauptung der Patentverletzung eine andere Person zur Offenlegung ihres Herstellungsverfahrens »zwingen« könnte, jedenfalls wenn die andere Person den Prozessverlust vermeiden möchte. 624 Die Geheimhaltung von Tatsachen gegenüber der gegnerischen Prozesspartei ist schließlich explizit in §  259 S.  2 HGB vorgesehen, wonach der Inhalt der Handelsbücher, soweit er nicht den Streitpunkt betrifft, lediglich dem Gericht ohne Zuziehung der Parteien offenzulegen ist, um die Prüfung der ordnungsgemäßen Führung zu ermöglichen. 625 Im Schrifttum werden dagegen Bedenken erhoben, weil der Ausschluss der Gegenpartei von Informationen die Gefahr von Fehlurteilen erhöhe. 626 In der juristischen Praxis zeige sich, dass ein Sachverständigengutachten durchaus zu Fall gebracht werden könne, insbesondere wenn eine sachkundige Partei ihre Fachkenntnisse in das Verfahren einbringe. Einem Anwalt fehle es an der erforderlichen Sachkunde, um die entsprechenden Einwände gegen das Gutachten vorzubringen. Richter könnten technische Gutachten nicht auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. Daher sei der Sachverstand der Gegenpartei in vielen Fällen erforderlich, um der Gefahr von Fehlurteilen vorzubeugen. Richtig ist, dass Sachverständigengutachten an Fehlern leiden können, mitunter an Fehlern, die nur mit entsprechender Expertise aufgedeckt werden können. Dieser Befund erfordert allerdings nicht, ein Geheimverfahren per se abzulehnen. Vielmehr sind Vorkehrungen zu treffen, die die Wahrnehmung des Sachverstands in Vertretung der Partei ermöglichen. Dazu sollte der Partei neben der Benennung eines anwaltlichen Vertreters die Benennung eines Sachverständigen erlaubt sein, der die Interessen der Partei wahrzunehmen und das Sachverständigengutachten kritisch zu hinterfragen hat, gegenüber der Partei gleichwohl zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Auch bei dieser Lösung können Probleme verbleiben, die in dem Ausschluss der unmittelbaren Beteiligung der Partei begründet sind. Auftreten kann die Principal-Agent-Problematik, weil der Mandant die Wahrung seiner Interessen durch den Sachverständigen aufgrund dessen Verschwiegenheitspflicht nicht überprüfen kann. Immerhin kann der Mandant aber »seinen« Sachverständigen selbst auswählen und vorher Informationen über den Sachverständigen einholen, sodass das Risiko als gering einzustufen ist.

623   Auch in der Schweiz werden die Geheimhaltungsinteressen unabhängig von der Beweislast geschützt; Art.  156 sZPO. 624   Stürner JZ 1985, 453, 459. 625   Eine Ausforschung durch den Gegner soll verhindert werden; Merkt, in: Baumbach/ Hopt, §  259 Rn.  1. 626   Lachmann NJW 1987, 2206, 2209.

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c) Ergebnis Die dogmatische Begründung des Geheimnisschutzes muss differenziert ausfallen. Geht es um den Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei, liegt darin eine Prozessvereinbarung bzw. ein Verzicht des Beweisführers auf rechtliches Gehör, weil nur dann eine Offenbarung der Geheimnisse zumindest gegenüber dem Gericht und Sachverständigen erreicht werden kann. Aufgrund der Interessenlage scheidet bei dem Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei ein freiwilliger Verzicht auf rechtliches Gehör oder eine entsprechende Parteivereinbarung aus. Dogmatisch kann daher nur der Weg über eine gerichtliche Anordnung gewählt werden. 4.  Umsetzung der Geheimhaltung Die Umsetzung des Geheimnisschutzes hat sich in das geltende Prozessrecht einzufügen, wobei Änderungen de lege ferenda überlegenswert sind. Es ist ein Verfahren zu wählen, welches die beiderseitigen Interessen möglichst weitgehend berücksichtigen kann. a)  Verfahrensmäßige Behandlung Die grundsätzliche Anerkennung von Weigerungsrechten führt zu der Frage, ob sie von dem Gericht im Rahmen des Ermessens – quasi von Amts wegen – zu beachten oder von der Partei geltend zu machen sind. Für eine Berücksichtigung im Rahmen des Ermessens spricht, dass dies in die gesetzlichen Vorgaben des §  142 Abs.  1 ZPO passen würde, der eine Ermessensausübung des Gerichts verlangt, hingegen Weigerungsrechte nicht vorsieht. 627 Einer solchen Vorgehensweise steht allerdings entgegen, dass das Gericht nicht unbedingt von dem Geheimhaltungsinteresse einer Partei Kenntnis besitzt. Erginge eine Vorlageanordnung, obwohl berechtigte Geheimhaltungsinteressen – ohne Kenntnis des Gerichts – bestünden, hätte die betroffene Partei nicht mehr die Gelegenheit der Geltendmachung ihrer Geheimhaltungsinteressen. Darüber hinaus mag das Gericht zwar ein Geheimhaltungsinteresse der Partei annehmen, aber nicht mit Sicherheit beurteilen können, ob sich die Partei auf das Geheimhaltungsinteresse berufen möchte. Die Problematik kann aufgelöst werden, wenn die Weigerungsrechte, insbesondere das Geheimhaltungsinteresse, zwar bei der Ausübung des richterlichen Ermessens berücksichtigt werden, jedoch vorher eine Anhörung der Partei erfolgt, in deren Rahmen sie Weigerungsrechte geltend machen kann. Einerseits hat das Gericht dann keine Vermutungen über das Geheimhaltungsinteresse der Partei anzustellen, andererseits besteht für die be  Für eine Berücksichtigung im Rahmen des Ermessens Kapoor, S.  234, 249; G. Wagner JZ 2007, 706, 715. 627

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troffene Partei die Möglichkeit der ausführlichen Geltendmachung des Weigerungsrechts. Die ausführliche Geltendmachung des Weigerungsrechts eröffnet für das Gericht wiederum die Möglichkeit der detaillierten Prüfung des Vorbringens. In das bestehende System des §  142 Abs.  1 ZPO würde sich diese Lösung einfügen. Freilich wäre aber zu überlegen, ob die Weigerungsrechte gegebenenfalls systematisch von den Ermessenerwägungen zu trennen sind, sodass die Weigerungsrechte erst nach der Ermessensausübung und der Entscheidung des Gerichts geltend zu machen wären. Eine solche Herangehensweise zeigt §  142 Abs.  2 ZPO. Danach sind Dritte zur Vorlegung nicht verpflichtet, soweit ihnen diese nicht zumutbar ist oder sie zur Zeugnisverweigerung berechtigt sind. Für die Geltendmachung und Überprüfung der Rechtmäßigkeit wird auf §§  386 bis 390 ZPO verwiesen. Die Weigerungsgründe sind bei der Frage der Anordnung der Urkundenvorlage zunächst außer Betracht zu lassen. Sie fließen in die Ermessenerwägungen nicht ein. Einer analogen Anwendung steht nach bestehender Gesetzeslage jedoch entgegen, dass der Gesetzgeber für die Vorlagepflicht Dritter auf §§  386 bis 390 ZPO verweist (§  142 Abs.  2 S.  2 ZPO), hingegen ein Verweis für die Vorlagepflicht der Parteien nicht aufgenommen wurde. Der Gesetzgeber unterließ die Aufnahme von Weigerungsrechten oder eines entsprechenden Verweises keineswegs planwidrig. In dem Bericht des Rechtsausschusses wird betont, dass den Geheimhaltungsinteressen der Parteien im Rahmen des Ermessens Rechnung getragen werden kann, wodurch eine flexible und gegenläufige Interessen ausgleichende Lösung ermöglicht werde. 628 Der Gesetzgeber entschied sich mithin für eine Berücksichtigung in den Ermessenserwägungen. Durchweg überzeugend erscheint das nicht, weil sich der Gesetzgeber mit den Weigerungsrechten nicht tatsächlich beschäftigte, sondern deren Bedeutung – als Korrektiv für den weiten Anwendungsbereich des §  142 Abs.  1 ZPO – unterschätzte. Gleichwohl gibt es eben die Möglichkeit der Berücksichtigung im Ermessen, mithin eine de lege lata passende Lösung. 629 De lege ferenda ist zu überlegen, entweder Weigerungsrechte gesetzlich zu verankern, die im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen wären, oder selbstständige Weigerungsrechte zu normieren. b)  Zweistufiges Verfahren Umsetzen lässt sich der Ausgleich der Geheimhaltung und des effektiven Rechtsschutzes über ein zweistufiges Verfahren. 630 In einem ersten Schritt ist in   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120.   G. Wagner JZ 2007, 706, 715. 630   Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren: Sondervotum Gaier, in: BVerfGE 115, 205, 250, 254 ff. = NVwZ 2006, 1041, 1047 f. – Betriebs- und Geschäftsgeheimnis; für das zivilprozessuale Verfahren: G. Wagner JZ 2007, 706, 717. 628 629

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einem in camera-Verfahren die Geheimhaltungsbedürftigkeit zu überprüfen. Ergibt sich dabei, dass die geltend gemachten Geheimhaltungsinteressen hinter dem Rechtsschutzinteresse der anderen Partei zurückstehen müssen, erfolgt die Verwertung im Hauptsacheverfahren. Dabei kann es etwa bei der Urkundenvorlage notwendig sein, einzelne Stellen, die für die Streitentscheidung nicht relevant sind, unkenntlich zu machen. Ergibt die Überprüfung, dass das Geheimhaltungsinteresse überwiegt, ist das in camera-Verfahren im Hauptsachverfahren fortzusetzen (zweiter Schritt). Die Kenntnisse werden somit zur Grundlage der Entscheidung, ohne dass sie öffentlich gemacht werden. Auch gegenüber der anderen Partei würde eine Geheimhaltung seitens des Gerichts erfolgen. Verbunden ist damit die Einschränkung des rechtlichen Gehörs, doch kann nur dadurch effektiver Rechtsschutz erreicht werden. Fehlt dem Gericht die erforderliche Sachkenntnis zur Feststellung oder Beurteilung der Tatsachen, können sie einem Sachverständigen zur Feststellung zugänglich gemacht werden. 631 Voraussetzung ist, dass der Gutachter dem Gericht die Grundlagen seines Gutachtens darlegt; ansonsten ist es unverwertbar. 632 Das gerade aufgezeigte Regime sollte ebenfalls Anwendung finden, wenn Zeugen zu Geschäftsgeheimnissen der Parteien befragt werden. 633 Inhaltlich ist nämlich insoweit nicht ein Interesse des Zeugen selbst betroffen, sondern der Partei. Wenn eine Partei das Geheimnis nur im Rahmen eines in camera-Verfahrens offenlegen muss, darf das nicht dadurch konterkariert werden, dass die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen über den Umweg des Zeugenbeweises öffentlich werden. Das Gericht hat genau zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Einstufung als Geheimnis, vor allem die Nichtoffenkundigkeit, tatsächlich gegeben sind. c)  Beteiligung und Einsichtnahmerecht des Anwalts Noch offen ist, ob der Anwalt als Prozessbevollmächtigter Einsicht in die geheimen Unterlagen bzw. eine Teilnahme an der Beweisaufnahme verlangen kann. In dem in camera-Verfahren wäre eine Vertretung der ausgeschlossenen Partei gewährleistet, die die Interessenwahrnehmung verwirklicht. Zwar würde es sich dann nicht mehr um ein »reines« in camera-Verfahren handeln, weil neben dem Gericht eine weitere Person Kenntnis erhielte, doch könnte gerade diese Modifizierung geboten sein. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten   BGHZ 150, 377, 387 = NJW-RR 2002, 1617, 1620 – Faxkarte (allerdings für einen vorprozessualen Anspruch); dagegen BVerwG NVwZ 2004, 105, 106 (die Ausführungen erfolgen zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren, doch dürften sie auf den Zivilprozess zu übertragen sein, weil sie allgemein vor dem Hintergrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör erfolgen). 632   BGHZ 116, 47, 56 = NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger. 633   Stürner JZ 1985, 453, 459. 631

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könnte die Vertretung der Partei durch den Anwalt nämlich erforderlich sein. 634 Die Geheimhaltung darf aber nicht dadurch wieder aufgehoben werden, dass der Anwalt dem Mandanten die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen mitteilt. Um die Geheimhaltung zu wahren, müsste dem anwaltlichen Vertreter eine Verschwiegenheit gegenüber dem Mandanten auferlegt werden. 635 Geregelt werden könnte das durch eine Erweiterung des §  174 Abs.  3 GVG, der die Verschwiegenheit des Anwalts gegenüber dem Mandanten anordnen müsste. 636 Eine Eingliederung der Verschwiegenheitspflicht in §  174 GVG hätte den Vorteil, dass damit zugleich eine Sanktion ihrer Verletzung über §  353d Nr.  2 StGB sichergestellt wäre. Dabei stellt sich das Problem, dass die Strafbarkeit nach §  353d Nr.  2 StGB nur die vorsätzliche unbefugte Offenbarung erfasst. Vor allem bei Prozessvertretern, die den Mandanten in sonstigen Angelegenheiten beraten, besteht die Gefahr der fahrlässigen Weitergabe der Tatsachen. 637 Die Zulassung des Anwalts zum Geheimverfahren könnte daran scheitern, dass der Rechtsanwalt nicht nur Organ der Rechtspflege, sondern Interessenvertreter des Mandanten ist. Dementsprechend besteht ein Anspruch des Mandanten gegenüber dem Anwalt auf Auskunft über den Prozessverlauf samt der Beweisergebnisse. 638 Das würde jedoch ein Geheimverfahren unter Zulassung des Anwalts ausschließen, weil der Mandant letztlich die Informationen erhält. 639 Das könnte man verhindern, indem man dem Anwalt eine strafrechtlich bewehrte Verschiegenheitsverpflichtung gegenüber dem Mandanten auferlegt. Freilich würde aber ein »ungutes Gefühl« verbleiben. Notwendig sind daher andere wirksame Mechanismen, über die eine Weitergabe an die Prozesspartei verhindert werden kann. Um diese Gefahr zu bannen, jedoch gleichzeitig eine Vertretung der Partei zu ermöglichen, sollte eine Vertretung durch einen vom Gericht zu bestellenden Rechtsanwalt erfolgen, der ansonsten nicht in die Beratung der Prozesspartei eingebunden ist. 640 Der Vertreter kann das nicht geheimhaltungsbedürftige Ergebnis der Beweisaufnahme dem Mandanten mitteilen, nicht aber geheimhaltungsbedürftige Details.

634   Stadler NJW 1989, 1202, 1204; Bornkamm, in: FS Ullmann, S.  893, 903; Ahrens GRUR 2005, 837, 839: Vertretung nicht durch den gewählten Rechtsbeistand, sondern einen dafür bestimmten Vertreter. 635   Leppin GRUR 1984, 695, 697; Stadler NJW 1989, 1202, 1204; Ahrens GRUR 2005, 837, 839 (Geheimhaltungsverpflichtung des bestimmten Vertreters auch gegenüber dem gewählten Rechtsbeistand). Praktische Bedenken gegen die Integrität und Zuverlässigkeit eines Prozessbevollmächtigten sowie gegen die Zumutbarkeit der Offenbarungspflicht einer Partei gegenüber dem gegnerischen Anwalt haben Spindler/Weber MMR 2006, 711, 712. 636   Stadler NJW 1989, 1202, 1204; Spindler/Weber MMR 2006, 711, 714. 637   Leppin GRUR 1984, 695, 697; Stadler NJW 1989, 1202, 1204. 638   BVerfG DB 2002, 2588, 2589 (Rn.  20); anders jedoch BVerfG NJW 2002, 2307, 2308. 639   Mayen NVwZ 2003, 537, 543; Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1010. 640   Stadler NJW 1989, 1202, 1204.

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d)  Geheimhaltung im Urteil und vollstreckungsfähiger Tenor Um zu gewährleisten, dass im Nachgang zum Prozess keine Unternehmensgeheimnisse in die Hände der anderen Prozesspartei gelangen, sind die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen nicht in den Tenor, Tatbestand oder die Entscheidungsgründe des Urteils aufzunehmen. 641 Rückschlüsse auf die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen dürfen sich nicht ziehen lassen. Das gilt auch für den Fall, dass die Entscheidung einen Rechtsverstoß der nicht beweisbelasteten Partei feststellt; es ließe sich zwar vertreten, dass die nicht beweisbelastete Partei im Hinblick auf eine Geheimniswahrung keinen Schutz verdient, jedoch könnte die Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz aufgehoben werden, mit der Folge, dass ein Rechtsbruch als Legitimation für die Offenlegung nicht mehr besteht. 642 Um eine Überprüfung des Urteils zu ermöglichen, sind die geheimhaltungswürdigen Ausführungen in einem gesonderten Dokument aufzunehmen, welches den Anwesenheitsberechtigten und gegebenenfalls dem Rechtsmittelgericht zur Verfügung gestellt wird. 643 Zur Verhinderung des »unbeabsichtigten Durchsickerns«644 von Informationen im Gerichtsbetrieb sind Vorkehrungen zu treffen. Eine Möglichkeit ist die Anlegung von Beiakten, die gegenüber der anderen Partei vertraulich zu behandeln sind. 645 Problematisch ist die Geheimhaltung in den Fällen, in denen der genaue Tenor nur abgefasst werden kann, wenn die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen enthalten sind. Erforderlich kann das sein, um einen vollstreckungsfähigen Titel zu schaffen. Die Urteilsformel ist öffentlich zu verkünden (§  173 Abs.  1 GVG); eine Ausnahme ist lediglich für die Verkündung der Urteilsgründe oder eines Teils davon zulässig (§  173 Abs.  2 GVG). Eine Bezugnahme auf die Urteilsformel als Ersatz für deren Vorlesung ist gestattet, wenn bei der Verkündung keine Partei erscheint (§  311 Abs.  2 S.  2 ZPO). Eine Lösung wäre es, wenn die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen in den zu verkündenden Tenor nicht aufgenommen werden und stattdessen in einer Anlage aufgenommen würden, die den Vollstreckungsorganen zur Verfügung gestellt wird. 646 In der Rechtsprechung ist die Aufnahme bestimmter Inhalte in Anlagen zum Tenor anerkannt. 647 Allerdings müssen die ausgefertigten Anlagen dann ebenfalls verkündet werden, entweder durch Vorlesung oder Bezugnahme (§  311 Abs.  2 S.  2 ZPO). Dogmatisch kann der Verschluss der Anlage vor der Öffentlichkeit auf

  Stadler NJW 1989, 1202, 1204.   Stürner JZ 1985, 453, 458. 643   Siehe dazu bereits Kohler, S.  78 ff., 84. 644   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1008. 645   Werner, in: FS Pfeiffer, S.  821, 827 f. 646  Ebenso Stadler, S.  163. 647   BGHZ 94, 276, 291 f. = NJW 1986, 192, 197; zustimmend Musielak, in: MünchKommZPO, §  313 Rn.  9. 641

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eine Analogie zu §  172 Nr.  2 GVG zurückgeführt werden. 648 Eine Regelungslücke in Gestalt einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes liegt vor. 649 Die Planwidrigkeit der Regelungslücke ergibt sich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Geheimnisschutz über den Ausschluss der Öffentlichkeit in der Verhandlung als ausreichend gewahrt angesehen hat. Nicht gesehen wurde, dass in besonderen Fällen in dem Urteilstenor schützenswerte Geheimnisse enthalten sein können. Es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei hinreichendem Kenntnisstand diese Lücke nicht gelassen hätte. Der zur Beurteilung stehende Sachverhalt (Geheimnisschutz bei der Verkündung des Tenors) ist mit dem vergleichbar, den der Gesetzgeber geregelt hat (Geheimnisschutz in der Verhandlung). Das berechtigte Geheimhaltungsinteresse dient als Legitimation des Verschlusses. e)  Selbstständige Anfechtung der Vorlageanordnung Eine Verweigerung der Vorlage der »geheimen« Unterlagen kann erfolgen, weil man die Einschätzung des Gerichts bezüglich der Schutzbedürftigkeit des Geheimnisses nicht teilt und auf eine andere Entscheidung des Rechtsmittelgerichts hofft. Verweigert die erste Instanz die Geheimhaltung und offenbart eine Partei die Tatsachen dann nicht, besteht die Gefahr, in der Rechtsmittelinstanz mit dem Vorbringen präkludiert zu sein. Umgekehrt kann die Offenbarung nicht mehr rückgängig gemacht werden, wenn das Rechtsmittelgericht anders als das Gericht in der ersten Instanz eine Geheimhaltung bejaht, die Tatsachen in der ersten Instanz allerdings bereits offengelegt wurden. Um das zu verhindern, müsste eine Entscheidung der höheren Instanz über die Frage herbeigeführt werden können. Als Rechtsmittel würde sich die sofortige Beschwerde anbieten (§  567 ZPO), über die grundsätzlich Landgericht oder Oberlandesgericht als höhere Instanz zu entscheiden hätten (§§  72 Abs.  1, 119 Abs.  1 GVG). Allerdings handelt es sich bei der Anordnung der Urkundenvorlage nach §  142 ZPO um einen Gerichtsbeschluss, der nicht der sofortigen Beschwerde unterliegt. 650 Die Anfechtung einer Anordnung nach §  142 Abs.  1 ZPO aufgrund der Nichtberücksichtigung eines Weigerungsrechts ist de lege lata nicht vorgesehen, weil die ZPO parteibezogene Weigerungsrechte nicht kennt. Die Überprüfung der Anordnung ist erst mit dem Rechtsmittel gegen das Urteil möglich. 651  Ebenso Stadler, S.  164.   Zu den Voraussetzungen einer Analogie BGHZ 105, 140, 143; BGH NJW 2003, 2473, 2474 f.; Canaris, S.  31 ff. 650   C. Wagner, in: MünchKommZPO, §§  142–144 Rn.  7; Leipold, in: Stein/Jonas, §  142 Rn.  43 lässt die sofortige Beschwerde nach §  567 Abs.  1 Nr.  2 ZPO zu, wenn eine Partei einen Antrag auf Anordnung stellt und dieser abgelehnt wird. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, weil es um die (Nicht-) Anfechtbarkeit der erfolgten Anordnung geht. 651   Heinrich, in: MünchKommZPO, §  359 Rn.  9. 648 649

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Ein faires Verfahren verlangt jedoch, dass eine Prozesspartei die Folgen ihres Handelns – hier einer verweigerten Mitwirkung – kalkulieren kann. Um die Vertraulichkeitsinteressen der Partei zu wahren, gegenüber der die Anordnung erfolgt, und gleichzeitig Rechtssicherheit bezüglich der Folgen ihres Handelns herzustellen, müsste eine selbstständige Anfechtung ermöglicht werden. Über die Rechtmäßigkeit des im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigenden Weigerungsrechts, welches die Partei analog §  386 ZPO geltend zu machen hätte, wäre dann in analoger Anwendung des §  387 ZPO zu entscheiden. 652 Nach Anhörung der Parteien entscheidet das Gericht durch Zwischenurteil, gegen das die Parteien sofortige Beschwerde einlegen können (in entsprechender Anwendung des §  387 Abs.  3 ZPO i. V. mit §  567 Abs.  1 Nr.  1 ZPO). Durch das Zwischenurteil und das Beschwerdeverfahren ist gewährleistet, dass eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung ergeht. Der förmliche Beschluss würde Rechtssicherheit herstellen und ein faires Verfahren gewährleisten. 653 Dadurch wird eine Entscheidung vermieden, die unter Verkennung des Bestehens eines Weigerungsrechts erfolgt und deswegen in der nächsten Instanz aufgehoben werden muss. 654 Richtigerweise wäre das Gericht zu einem förmlichen Beschluss nicht verpflichtet, wenn der Antrag nicht ernsthaft gestellt und lediglich einer Verfahrensverzögerung dient. 655 Hinsichtlich der selbstständigen Anfechtung der Vorlageanordnung bietet es sich ebenfalls an, im Sinne der Rechtssicherheit eine Normierung vorzunehmen. f)  Vorgelagerte Zeitpunkte des Geheimnisschutzes Der Geheimnisschutz kann bereits vor einer Vorlageanordnung relevant werden. Im Rahmen der Klageerhebung kann sich das Problem stellen, dass der Kläger Tatsachen nicht angeben möchte, weil sie geheimhaltungsbedürftig sind. Für den Beklagten kann sich die Frage stellen, ob er in der Klageerwiderung die geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen angeben muss. Um das Unternehmensgeheimnis schützen und gleichzeitig eine schlüssige Klage erheben oder umfassend erwidern zu können, müssen die Anforderungen an die Konkretisierung in den Schriftsätzen entsprechend gemindert werden. Die geheimhaltungsbedürftigen Details sind nicht zu nennen. 656

  G. Wagner JZ 2007, 706, 718.   Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1012 ff. 654   G. Wagner JZ 2007, 706, 718. 655  So Schlosser, in: FS Großfeld, S.  997, 1014. 656   Stadler NJW 1989, 1202, 1203; G. Wagner ZZP 108 (1995), 193, 210. 652 653

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5.  In camera-Verfahren als ultima ratio Wegen des Eingriffs in die Rechte der Gegenpartei des Geheimnisträgers kann das modifizierte657 in camera-Verfahren nur ultima ratio sein. Daher ist vor der Durchführung eines in camera-Verfahrens zunächst für den konkreten Einzelfall zu prüfen, ob eine Geheimhaltungsbedürftigkeit – unterstellt man die Angaben der Partei zu dem Geheimhaltungsinteresse – gegeben ist, die es rechtfertigt, das rechtliche Gehör der anderen Partei zu beschränken. Betriebs- und Geschäftsdaten werden vor allem dann geheimhaltungsbedürftig sein, wenn sie in den Händen der Mitbewerber zur Schädigung des Geheimnisinhabers genutzt werden können. 658 Das trifft etwa zu für Kundenlisten, Preiskalkulationen und Herstellungsverfahren. 659 Hingegen ist die Schädigungseignung im Regelfall für Umsatzzahlen oder deren Entwicklung nicht anzunehmen. Die Kenntnis des Umsatzes des Konkurrenzunternehmens mag interessant sein, für den Mitbewerber ergibt sich aber regelmäßig aus der Kenntnis nicht die Möglichkeit der Schädigung des Geheimnisinhabers. Ist etwa die Kenntnis der Umsatzzahlen notwendig, um einen Schaden bestimmen oder besser schätzen zu können (§  287 ZPO), wird man die Angabe erwarten können. Erst recht muss das gelten, wenn nicht die aktuellen Umsatzzahlen relevant sind, sondern vergangene Umsatzzahlen. 660 Hingegen wird man die aktuelle Preiskalkulation als geheimhaltungswürdig einstufen können, während es für frühere Preiskalkulationen darauf ankommt, ob sich daraus Rückschlüsse auf die aktuelle Preiskalkulation ziehen lassen. 661 Ferner wird man die Offenbarung geheimer Tatsachen verlangen können, wenn ein Rechtsbruch der sich auf die Geheimhaltung berufenden Partei vorliegt. Wird der Prozess nämlich durch den Rechtsbruch ausgelöst, verdient die Partei in Folge keinen Schutz, sondern trägt die Last der Aufklärung und Mitwirkung samt der Offenbarung der geheimen Tatsachen. 662 Nur über ein solches Regime kann die redliche Partei vor Rechtsbruch geschützt werden. Spiegelbildlich vermindern sich auf der anderen Seite die Anreize zum Rechtsbruch. Voraussetzung dafür ist, dass der Rechtsbruch feststeht. Dafür ausreichend ist nicht die Überzeugung des Instanzgerichts, weil in der Rechtsmittelinstanz eine andere Auffassung bestehen kann. Zu verlangen ist daher, wenn der Rechtsbruch streitig ist, eine rechtskräftige Entscheidung, die – soweit möglich – etwa über ein Grundurteil (§  304 ZPO) herbeigeführt werden kann. 663   Modifiziert wegen der Beteiligung eines Interessenvertreters.   Stürner JZ 1985, 453, 458. 659   Stürner JZ 1985, 453, 458. 660   Stürner JZ 1985, 453, 458. 661  Tendenziell für geringeren Schutz auch bezüglich vergangener Preiskalkulationen: Stürner JZ 1985, 453, 458. 662   Stürner JZ 1985, 453, 458. 663   Stürner JZ 1985, 453, 458. 657

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Fraglich ist, wie mit Urkunden umzugehen ist, die lediglich Bestandteile enthalten, denen Geheimnisschutz zuzuerkennen ist. Es ist zu überlegen, ob andere Schutzmaßnahmen das Geheimhaltungsinteresse befriedigen können. Im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sind zunächst mildere Maßnahmen zu prüfen. 664 Vor der Anordnung eines in camera-Verfahrens ist etwa zu prüfen, ob die Geheimhaltung durch Schwärzung der geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen erreicht werden kann. Vorbilder bestehen in anderen Rechtsordnungen, in denen mit dieser Praxis gute Erfahrungen gemacht wurden (etwa unter Geltung der zürcherischen Zivilprozessordnung, §  186 Abs.  3 ZPO ZH). 665 Naheliegend ist es, dass die vorlegende Partei entsprechende Passagen unkenntlich macht. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass sie eine Auswahl trifft und die verbleibenden Inhalte eine andere Bedeutung erlangen, weil der vollständige Kontext fehlt. 666 Daher ist ein Verfahren zu bevorzugen, welches einem unabhängigen Dritten oder dem Gericht die Entscheidung über die »Schwärzung« überlässt. Ein Geheimverfahren kann nur in Betracht kommen, wenn nicht die Feststellung des Geschäftsgeheimnisses auf anderem Wege möglich ist. Besteht ein materiellrechtlicher Anspruch auf Auskunft, Vorlage einer Urkunde oder Einsichtnahme, kann dieser im Wege der Stufenklage durchgesetzt werden. 6. Ergebnis Ein Geheimverfahren im Zivilprozess ist keineswegs erstrebenswert und daher nur einzusetzen, wenn effektiver Rechtsschutz ansonsten nicht gewährleistet werden kann; es kann lediglich ultima ratio sein. Wenn nur damit effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden kann, ist es zu befürworten. In die ZPO sollten de lege ferenda ein Weigerungsrecht der Parteien aufgenommen werden, das die Geheimhaltungsinteressen der Parteien schützt. 667 Für die Anerkennung eines Weigerungsrechts besteht unter verfassungsrechtlichen Aspekten ein Bedürfnis. Dessen Geltendmachung sollte verfahrensmäßig abgesichert sein. 668 Dabei bietet es sich an, zugleich ein in camera-Verfahren einzuführen, welches in einem zweistufigen Verfahren die Geheimhaltung und Rechtsdurchsetzung verbindet. Dadurch könnte sichergestellt werden, dass die Anerkennung von Geheimhaltungsinteressen nicht zu einer »Alles-oder-Nichts-Lösung« führen muss, sondern den konfligierenden Interessen durch eine vermittelnde Lösung   Insbesondere das US-amerikanische Recht sieht Abstufungen vor; siehe §  3 I. 5. c).   Das Verfahren wird man auch im Anwendungsbereich der Schweizerischen Zivilprozessordnung zulassen können; siehe §  3 IV. 6. 666   Osterloh-Konrad, S.  259. 667   Freilich kommen auch andere Weigerungsrechte in Betracht, die hier nicht untersucht wurden. 668   G. Wagner JZ 2007, 706, 715, der insgesamt eine Gleichstellung von Parteien und Zeugen befürwortet. 664 665

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Rechnung getragen wird. Gegebenenfalls ist das in camera-Verfahren über die Einschaltung von Mittelspersonen (sog. Wirtschaftsprüfervorbehalt) abzumildern. Eine Verbindung von Rechts- und Geheimnisschutz wäre bereits bei der bestehenden Rechtslage sinnvoll, erst recht jedoch bei Einführung der hier vorgeschlagenen sekundären Mitwirkungsverantwortung.

IV. Sanktionsmechanismen Bei Nichtvorlage von Unterlagen kann die negative Beweiswürdigung analog §  427 ZPO und in der Folge der Prozessverlust eine wirksame Sanktion sein. Der drohende Prozessnachteil im Sinne einer negativen Beweiswürdigung wird häufig einen größeren – negativen – Anreiz zur Mitwirkung setzen als die Drohung einer zwangsweisen Durchsetzung der Mitwirkung. 669 Die Rechtsfolge der negativen Beweiswürdigung kann der risikobelasteten Partei sicherlich in bestimmten Situationen helfen. Freilich stellen sich zwei Folgeprobleme. Zum einen handelt es sich bei §  427 ZPO um eine Kann-Vorschrift, d. h. das Gericht muss den Vortrag der risikobelasteten Partei nicht als bewiesen ansehen, wenn es die Angaben als nicht glaubhaft einstuft. 670 Zum anderen stellt sich für eine Partei das Problem, wie sie glaubhafte Behauptungen aufstellen soll, wenn ihr Einblick in die dazu notwendigen Unterlagen verwehrt und die notwendige Information nicht gegeben wird. Es gibt mithin Anwendungsfälle, in denen die Partei in einer prozessual ungünstigen Lage verbleiben würde. Exemplarisch sei dies an einem Sachverhalt verdeutlicht, der einer Entscheidung des BGH im Jahre 1977 zugrunde lag. 671 Der Kläger war Gesellschafter der beklagten GmbH, jedoch durch Gesellschafterbeschluss aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden. Die Parteien stritten über den Wert des Geschäftsanteils, den die Beklagte dem Kläger zu erstatten hatte. Das Landgericht beauftragte einen Sachverständigen mit der Ermittlung des Verkehrswerts des Geschäftsanteils zum Zeitpunkt des Ausscheidens. Der Sachverständige sah sich an der Erstattung des Gutachtens jedoch gehindert, weil die Beklagte sich weigerte, ihm die Abschlüsse für den Zeitraum nach dem Ausscheiden vorzulegen. Der Kläger beantragte sodann hilfsweise die Vorlage der entsprechenden Unterlagen. Das Landgericht gab dem Beklagten die Vorlage der Jahresabschlüsse auf. 672 Legt der Beklagte die Urkunden nicht vor, kann das Gericht eine Beweiswürdigung entsprechend §  427 S.  2 ZPO vornehmen. Allerdings besteht dazu gerade keine Verpflichtung. Wenn das Gericht den Vortrag des Klägers als 669   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  82; zustimmend Stadler, in: FS Leipold, S.  201, 209 Fn.  41. 670   Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn.  427. 671   BGH ZZP 92 (1979), 362 ff. 672   Kritisch dazu Gottwald ZZP 92 (1979), 364, 368.

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nicht glaubhaft einschätzt, steht er vor einem prozessualen Dilemma. Seinen Vortrag kann er nicht weiter substantiieren, weil ihm die Informationen fehlen. Die Vorlage von Urkunden kann dafür relevant sein. 673 Letztlich liegt es also an dem Gericht, den Vortrag zu würdigen. Dabei darf es berücksichtigen, aus welchen Gründen die nicht beweisbelastete Partei die Unterlagen zurückhält. Diese Möglichkeiten des Gerichts sollten eine Gewähr dafür bieten, die »Zwickmühle« der beweisbelasteten Partei aufzulösen und die Weigerung der nicht beweisbelasteten Partei ausreichend zu sanktionieren. Im Gegensatz zum deutschen Zivilprozessrecht kann die Erfüllung der Mitwirkungspflichten in den anglo-amerikanischen Ländern erzwungen werden. Ein solcher Sanktionsmechanismus könnte für das deutsche Recht zu empfehlen sein. Die Gefahr der innerprozessualen Nachteile, d. h. eine negative Beweiswürdigung, erscheint als Sanktion zwar grundsätzlich ausreichend. Die Erforschung der objektiven Wahrheit stellt keinen Selbstzweck dar. Prozessuale Nachteile hat hier die Partei zu befürchten, die eine vollständige Aufklärung verhindert. Der Prozessverlust reicht als Sanktion, weil er dem Prozessgegner zu seinem primären Ziel verhilft, nämlich der Durchsetzung seines Rechts. Gerechtigkeit im Einzelfall kann somit ohne die Verhängung von Strafmaßnahmen erreicht werden. 674 Verdeutlicht man sich den Zweck des Zivilprozesses, der in der Durchsetzung des materiellen Rechts liegt, muss es ausreichen, prozessuale Nachteile an die Nichtaufklärung zu knüpfen. 675 Ist dies aber nicht der Fall, hilft nur die selbstständige Klage auf Vorlage – das ist dann in der Tat eine Frage des materiellen Rechts. Wie gezeigt wurde, kann ein berechtigtes Interesse jedoch auch bestehen, wenn kein materiellrechtlicher Anspruch gegeben ist. Kommt es für die Höhe eines Schadensersatzanspruchs auf Tatsachen an, über die lediglich die andere Partei Kenntnis besitzt, ist die rein prozessuale Sanktion der negativen Beweiswürdigung nicht ausreichend. Klagt eine Partei einen zu geringen Anspruch ein, besteht die Gefahr, dass der Beklagte anerkennt und sich dadurch auch der darüber hinausgehende Anspruch rechtskräftig erledigt. 676 Wird ein zu hoher Anspruch eingeklagt, besteht hingegen die Gefahr der teilweisen Klageabweisung verbunden mit der teilweisen Auferlegung von Kosten (§  92 Abs.  1 ZPO). Interessengerecht könnte in diesem Fall die zwangsweise Durchsetzung der Vorlagepflicht sein. Dass die zwangsweise Durchsetzung der Vorlagepflicht durchaus eine Option ist, zeigt die Urkundenvorlagepflicht Dritter. Insoweit wird nämlich auf die Folgen der Zeugnisverweigerung verwiesen (§  142 Abs.  2 S.  2 ZPO), sodass die Vorlage mit Ordnungsmittel (Ordnungsgeld und -haft) durchgesetzt werden kann (§  390 Abs.  1 S.  2 ZPO). Grund für die zwangsweise   Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn.  427; Gottwald ZZP 92 (1979), 364, 366.   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 501. 675   G. Wagner ZEuP 2001, 441, 501. 676   McGuire GRUR Int. 2005, 15, 16. 673 674

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 255

Durchsetzungsmöglichkeit gegenüber Dritten ist allerdings, dass innerprozessuale Sanktionen, die in einem Prozessverlust bestehen können, nicht zur Verfügung stehen. Diese bestehen gegenüber einer Prozesspartei. Die Problematik, dass eine Partei Informationen zur Bezifferung eines Klagebegehrens benötigt, ist damit nicht behoben. Allerdings besteht die Möglichkeit der Fiktion. 677 Die Behauptung der beweisbelasteten Partei wird als zutreffend unterstellt. Funktioniert der Weg über eine Fiktion nicht, weil es an hinreichenden bekannten Tatsachen für eine entsprechende Behauptung fehlt, bleibt als Folge die Betragsschätzung im Ermessen des Gerichts. Liegen die notwendigen Tatsachenbehauptungen mangels Kenntnis nicht vor und scheidet deshalb eine negative Beweiswürdigung, eine Fiktion oder eine Betragsschätzung als Sanktion aus, sollte als letztes Mittel die zwangsweise Durchsetzung der Vorlagepflicht möglich sein. Dabei sollte es in das Ermessen des Gerichts gestellt werden, ob zu dieser Möglichkeit gegriffen wird. Es hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, ob die zwangsweise Durchsetzung zur Gewährleistung des Rechtsschutzes notwendig ist. Die stufenweise anzuwendenden Sanktionsmechanismen sollte de lege ferenda gesetzgeberisch eingeführt werden.

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien Nach Auffassung der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur besteht – de lege lata – keine Rechtsgrundlage für eine allgemeine prozessuale Pflicht einer Partei, die andere Partei mit den Unterlagen zu versorgen, die diese nicht in ihrem Besitz hat, die sie aber für ihren Prozesserfolg benötigt. 678 Dieser Standpunkt wird zunehmend kritisiert. Sehr weitgehend ist die Ansicht, die für das deutsche Recht (jedenfalls in Anlehnung an das amerikanische Recht) eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der Parteien fordert. 679 Zwischen den genannten Extrempositionen steht die Forderung nach

677   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  242 ff. (als Folge der Verletzung der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht). 678   Grundlegend BGH NJW 1958, 1491, 1492; BGHZ 116, 47, 56 = NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger; NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205 mit ablehnender Anmerkung Stürner = JZ 1991, 630 mit ablehnender Besprechung Schlosser JZ 1991, 599; BGH NJW 1997, 128, 129; NJW 2000, 1108, 1109; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  8 ; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  26 ff. 679   Stürner, Aufklärungspflicht, passim; ders. NJW 1979, 1225 ff.; ders. ZZP 104 (1991), 208 ff.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

einer maßvollen Aufklärungspflicht, der Vorrang vor einer grundlosen Aufklärungsvereitelung zu geben sei. 680

I.  Standpunkt der Rechtsprechung Nach der Rechtsprechung besteht keine allgemeine prozessuale Pflicht, die Gegenseite mit allen relevanten Informationen oder Unterlagen zu versorgen, die diese selbst nicht in ihrem Besitz hat. 681 Begründet wird dies vor allem mit dem Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht. Nach materiellem Recht gebe es keine allgemeine Auskunftspflicht und es sei nicht Aufgabe des Prozess­ rechts, sie einzuführen. 682 Aufgrund dieser Erwägungen hob der BGH eine Entscheidung des OLG Hamburg683 auf, in der das OLG auf Stürners Lehre von der prozessualen Aufklärungspflicht zurückgegriffen hatte. Die Kläger hatten keine konkreten Sachverhalte vorgetragen, die im Einzelnen die erhobenen Vorwürfe belegen konnten. Sie hatten jedoch Anhaltspunkte dargetan, welche die Möglichkeit des Bestehens eines konkreten, erheblichen Verlagerungssachverhalts (auf den es für den Anspruch der Kläger entscheidend ankam) wahrscheinlich und plausibel machten. Das OLG Hamburg behandelte diesen Vortrag als »Substantiierungsersatz«, da in Fallkonstellationen wie der vorliegenden die Anspruchsteller typischerweise keine Kenntnis von den erheblichen Tatsachen hätten und damit außerstande seien, in umfassendem Maße substantiierte Tatsachen vorzutragen. Es sei daher die Substantiierungspflicht der anspruchserhebenden Partei durch eine »Forcierung« der Aufklärungspflicht des Antragsgegners zu mildern, wenn dieser eine solche erweiterte Aufklärungspflicht zumutbar sei. Der BGH hat diese Sichtweise in der Revisionsentscheidung abgelehnt. Eine allgemeine Auskunftspflicht kenne das materielle Recht nicht, und es sei nicht Aufgabe des Prozessrechts, sie einzuführen. 684

II.  Standpunkt der herrschenden Literatur Die (noch) herrschende Literatur wendet sich gegen die Anerkennung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht. 685 Angeführt wird insbesondere die Geltung des Beibringungsgrundsatzes, mit dem eine allgemeine prozessuale   G. Wagner JZ 2007, 706, 719.   BGHZ 116, 47, 56 = NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger; BGH NJW 2000, 1108, 1109; 1997, 128, 129; 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 682   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 683   Wiedergabe der Ausführungen in der Revisionsentscheidung: BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 204. 684   BGH NJW 1990, 3151 = ZZP 104 (1991), 203, 205. 685   Prütting, S.  137 ff.; Konzen, S.  234 ff.; Winkler von Mohrenfels, S.  211 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  25 f.; Arens ZZP 96 (1983), 1 ff.; Vorwerk MDR 1996, 870; Schreiber JR 1991, 415 f.; Lüke JuS 1986, 2, 3; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  8. 680 681

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 257

Aufklärungspflicht nicht vereinbar sei. 686 Darüber hinaus verdeutlichten einzelne Vorschriften der ZPO, dass gerade keine allgemeine Aufklärungspflicht anzuerkennen sei. Die Stufenklage gemäß §  254 ZPO wäre überflüssig, wenn eine allgemeine Aufklärungspflicht existieren würde. §  422 ZPO zeige, dass eine Vorlagepflicht nur bestehe, wenn es einen entsprechenden materiellrechtlichen Anspruch gibt. Die Anerkennung einer prozessualen Aufklärungspflicht scheitere, weil dadurch außerhalb des Prozesses wirkende Pflichten verfahrensrechtlich geschaffen würden. Dies widerspreche der Aufgabenverteilung von materiellem Recht und Prozessrecht, wonach das Prozessrecht eine dienende Funktion habe. Zwar würden einzelne Vorschriften der ZPO prozessuale Aufklärungspflichten enthalten, wie etwa §  372a ZPO die Duldungspflicht körperlicher Untersuchungen oder ehemals §  643 ZPO (nunmehr §  235 FamFG) die Auskunftspflicht der Beteiligten in Verfahren in Unterhaltssachen, doch bestätige dies nur das Regel-Ausnahme-Prinzip.

III.  Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien In der Literatur ist eine prozessuale Aufklärungspflicht in verschiedenen Ausprägungen gefordert worden. Bereits im Jahre 1939 legte von Hippel eine Untersuchung zur prozessualen Aufklärungspflicht vor, es folgten die Schriften von Peters (1966) und Lüderitz (1966) sowie im Jahre 1976 die grundlegende Arbeit von Stürner. 687 Grundlage der Forderung nach einer Aufklärungspflicht ist jeweils das Bestreben nach einer Entscheidung auf Basis der materiellen Wahrheit. Als Argument für eine umfassende Aufklärungspflicht werden vor allem der Justizgewährungsanspruch und das Ziel der Wahrheitsfindung genannt. Weil die herrschende Meinung eine Aufklärungspflicht ablehnt, unterbreitete Gottwald auf dem 61. Deutschen Juristentag den Vorschlag, de lege ferenda eine allgemeine Aufklärungspflicht in §  138 ZPO zu integrieren. 688 Der Deutsche Juristentag lehnte den Vorschlag jedoch ab. 689

686   Arens ZZP 96 (1983), 1, 18 ff.; Vorwerk MDR 1996, 870; Schreiber JR 1991, 415 f.; Lüke JuS 1986, 2, 3. 687  Siehe: von Hippel, Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht der Parteien im Zivilprozeß; Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß; Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei Verfolgung privater Rechte; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses. 688   Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 19. 689  Beschlüsse des 61. Deutschen Juristentages, abgedruckt in: Verhandlungen des ein­ undsechzigsten Deutschen Juristentages – Karlsruhe 1996, Band  II/1, S.  I 67 (abgelehnt mit 44 : 94 : 2 Stimmen).

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Teil 3:  Information und Offenlegung

1.  Der Ansatz Stürners im Einzelnen Stürner begründet die Aufklärungspflicht der nicht risikobelasteten Partei mit dem durch Art.  2 GG und das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutz, der primär der Wahrheitsfindung dienen müsse. 690 Eine solche prozessuale Pflicht ergebe sich de lege lata aus einer Analogie zu §§  138 Abs.  1 und 2, 423, 445 ff., 372a, 654 ff. a. F. 691 ZPO. 692 Im Hinblick auf die Informationsbeschaffung bestehe im Zivilprozess eine Regelungslücke, welche sich schon anhand der vielfältigen prozessualen Hilfsmittel zeige, auf die die Rechtsprechung mangels entsprechender gesetzlich normierter Rechtsgrundlagen zurückgreife. Die Regelungslücke sei auch planwidrig. Der Zivilprozess diene der (Wieder-) Herstellung des Rechtsfriedens. Rechtsfrieden sei zu erreichen über eine Streitschlichtung, die zügig erfolge und bei den Parteien auf Akzeptanz stoße. Zügigkeit und Akzeptanz wiederum setzten eine frühe und erschöpfende Sachverhaltsaufklärung voraus. Über die derzeit vorgesehenen gesetzlichen Regelungen sei eine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung jedoch nicht möglich. Deswegen sei die Rechtsanalogie gerechtfertigt. Es handele sich bei den Vorschriften, die als Basis der Analogie dienten, nicht um Einzelfallregelungen mit Ausnahmecharakter. 693 Nach Stürner soll bei typischer Tatsachenunkenntnis einer Partei die Substantiierungspflicht herabgesetzt werden, sodass ein ausreichender Vortrag bereits vorliege, wenn eine plausible Vermutungsbasis für die Rechtsbehauptung genannt werde. 694 Die Behauptung erdichteter Einzelheiten ohne nachvollziehbaren plausiblen Grund reiche hingegen nicht aus. 695 Typische Unkenntnis sei gegeben bei Vorgängen, die sich im Geschäftsbereich des anderen Teils abspielen, sowie bei Vorgängen des fremden Persönlichkeitsbereichs. 696 Über das Erfordernis der plausiblen Anhaltspunkte für den Tatsachenvortrag möchte Stürner eine Begrenzung des Instituts vornehmen. Die vortragende Partei müsse als Ausgangspunkt ihres Vortrags einen nachvollziehbaren Grund angeben. 697 Da  Stürner, Aufklärungspflicht, S.  31 ff. und S.  48 ff.   §§  654 ff. ZPO sahen in der Fassung bis zum 31.12.1991 unter anderem vor, dass der zu Entmündigende persönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständiger zu vernehmen ist. 692   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  92 ff. 693   So jedoch tendenziell Arens ZZP 96 (1983), 1, 13; Schreiber JR 1991, 415 f.; Leipold, in: Stein/Jonas, §  138 Rn.  25 ff. 694   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  112 ff.; noch einmal ausdrücklich Stürner ZZP 104 (1991), 208, 212; ebenfalls betonend, dass es sich nicht um eine voraussetzungslose Pflicht handele Katzenmeier JZ 2002, 533, 540. Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen der prozessualen Aufklärungspflicht sollen dabei unabhängig von der richterlichen Aufklärungsaktivität festgelegt werden; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  70. 695   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  119 ff. 696   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  120 ff. 697   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  122. 690 691

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 259

durch soll verhindert werden, dass es zu einer Ausforschung der Gegenpartei kommt, die auch Stürner trotz der Einführung einer prozessualen Aufklärungspflicht weiterhin verhindern möchte. 698 Es sei dann Sache der nicht risikobelasteten Partei, zur Aufklärung beizutragen. Die Aufklärungspflicht umfasse alle denkbaren und zumutbaren Aufklärungsbeiträge, und zwar Erklärungen und Auskunft über die rechtserheblichen Sachverhaltskomplexe und die Existenz von Beweismitteln, die Duldung des Augenscheins und die Vorlage von Augenscheinsgegenständen und Urkunden, in Grenzen der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit auch notwendige Untersuchungen ihres Körpers und Geistes. 699 Von dem Grundsatz der prozessualen Aufklärungspflicht werden einige (eng gezogene) Ausnahmen zugelassen. Die Aufklärung könne verweigert werden, wenn ein unantastbarer innerer Lebensbereich betroffen sei700 oder ein Unternehmensgeheimnis gegenüber einem Wettbewerber offengelegt werden müsste.701 Erfülle die Gegenseite ihre Mitwirkungspflicht nicht, greife eine widerlegbare Fiktion der behaupteten Tatsache ein. Der alte Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, der anderen Partei das Material für ihren Prozess zu verschaffen, soll damit hinfällig werden, weil die Mitwirkung an der Aufklärung zur Regel erhoben und die Weigerung an der Aufklärung zur Ausnahme gemacht werden soll.702 2.  Zustimmende Stellungnahmen Stürners Ansicht haben sich – mit unterschiedlichen Nuancen – weitere Stimmen in der Literatur angeschlossen.703 Insbesondere Schlosser 704 unterstreicht die Erwägungen Stürners: »Daß der Zivilprozeß einem sportlichen Wettkampf gleiche, in dem kein Spieler dem Gegner ›für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen‹ bräuchte, ist ein geistesgeschichtlich überholtes Postulat. Dem wird auch die Weiterentwicklung des deutschen Zivilprozessrechts [.  .  .] nicht entkommen können.«705

698   Stadler, in: FS Beys, S.  1625, 1627 f.: Ausforschungsbeweis und allgemeine Aufklärungspflicht würden zu häufig in undifferenzierter Weise gleichgesetzt. 699   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  134 ff. 700   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  193 ff. 701   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  208 ff. 702   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  57 ff.; ders., in: FS Stoll, S.  691, 700 f. 703   Schlosser JZ 1991, 599 ff.; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 43 ff.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465 ff.; Peters, in: FS Schwab, 1990, S.  399 ff.; Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  11; differenzierend Henckel ZZP 92 (1979), 100 ff.; de lege ferenda eine Aufklärungspflicht fordernd Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 15 ff.; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  34d; ders. JZ 1997, 1077, 1080; ders. JZ 2000, 842, 847; J. Lang, S.  264 ff. 704   Schlosser NJW 1992, 3275 ff. 705   Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn.  431.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

Er weist auf die Rechtsprechung des BVerfG hin, nach der eine »Ausforschung« verfassungsrechtlich zulässig und sogar geboten sei.706 Grundlage der Urteile waren jeweils Tatsachenbehauptungen, die zwar substantiiert vorgetragen worden waren, deren Beweis aber nur über vorenthaltene Beweismittel erbracht werden konnte. Obgleich die Entscheidungen des BVerfG »in den Denkkategorien des materiellen [Verfassungs-] Rechts abgefaßt« seien, ergebe sich aus ihnen eine prozessrechtliche Bedeutung.707 Es werde nämlich deutlich, dass das Zivilrecht nicht ausreichend Möglichkeiten zur Verfügung stelle, um zivilrechtliche Ansprüche effektiv durchzusetzen. Aus diesem Grunde habe das Verfassungsgericht die Möglichkeit einer »Ausforschung« verfassungsrechtlich erzwungen.708 Eine prozessuale Aufklärungspflicht sei daher unter verfassungsrechtlichen Maßstäben geboten.709 Schlosser weist ferner auf Widersprüchlichkeiten hin. Es solle nicht anstößig sein, die Auslieferung der Waffen (d. h. des Materials, das der anderen Partei nachteilig ist) verlangen zu können, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Gegner sie besitze, aber doch anstößig, wenn es an solchen Anhaltspunkten fehle.710 Im Arzthaftpflichtrecht müsse der Arzt die Waffen eigens zu diesem Zweck erstellt haben, um sie gegebenenfalls ohne irgendwelche Anhaltspunkte eines Fehlverhaltens an seinen Prozessgegner ausliefern zu können.711 Im Unterhaltsrecht bedürfe es solcher Anhaltspunkte nicht, um die Parteien zu Auskunft und Vorlage von Belegen (zum Beispiel Verdienstbescheinigungen von Arbeitgebern und Ablichtungen von Steuererklärungen) zu verpflichten (§§  1605, 1580 BGB). Im Scheidungs- und Unterhaltsprozess müsse die eine Partei sogar den »Material«-kauf der anderen finanzieren (§  1360a Abs.  4 BGB, §  246 FamFG). Im Zwangsvollstreckungsverfahren werde der Schuldner ohne weitere Anhaltspunkte zu Offenbarungen gezwungen. Teilweise habe der Gesetzgeber ganz erhebliche prozessuale Mitwirkungspflichten eingeführt, wie etwa die Duldung von Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung (§  372a ZPO). Henckel712 würdigt die Schrift Stürners mit den Worten: »So weicht die anfängliche Skepsis zunehmender Faszination. Das vermeintlich umstürzende Prozeßkonzept des Verf. ist in Wahrheit ein Versuch, den Prozeß der Gegenwart systematisch zu erfassen, dogmatische Traditionen aufzubrechen und die Wirklichkeit des Prozesses auch insoweit in das System zu integrieren, als es überkommenen dogmatischen Prämissen widerspricht. Deshalb wird man in Zukunft über die Grundprinzipi  BVerfGE 37, 132, 148 = NJW 1974, 1499, 1501 – Vergleichsmiete; BVerfG NJW 1992,

706

678.

  Schlosser NJW 1992, 3275.   Schlosser NJW 1992, 3275, 3276. 709   Schlosser NJW 1992, 3275, 3276 f. 710   Schlosser JZ 1991, 599. 711   BGHZ 72, 132, 136 ff. = NJW 1978, 2337, 2338 f.; BGHZ 85, 327, 331 ff. = NJW 1983, 328 ff. 712   Henckel ZZP 92 (1979), 100, 104. 707

708

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 261

en dieser Arbeit kaum mehr streiten können, sondern allenfalls darüber, ob der Verf. in der Freude an seiner Entdeckung nicht hier und da doch zu weit gegangen ist.«

In jüngerer Zeit werden die Forderungen nach einer prozessualen Aufklärungspflicht mit unterschiedlicher Akzentuierung und Begründung gestützt.713 Als Argumente für die Einführung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht werden die Wahrheitsfindung, Rechtsdurchsetzung sowie Verfahrenskonzentration bzw. -beschleunigung angeführt.714 Weiter wird für die Einführung einer prozessualen Aufklärungspflicht der Wegfall der Berufung als volle zweite Tatsacheninstanz angeführt.715 Daraus ergebe sich die Notwendigkeit der Ermittlung der vollständigen Tatsachengrundlage in der ersten Instanz. Erreicht werden könne dies nur über eine prozessuale Aufklärungspflicht. Ferner sei die Akzeptanz einer Entscheidung höher, wenn sie auf einem vollständig ermittelten Sachverhalt beruhe.716 Es wird schließlich darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber die Analogiebasis in der jüngeren Vergangenheit erweitert habe, vor allem durch die Modifikation der §§  142 ff. ZPO oder die Neufassung des §  235 FamFG (vormals §  643 ZPO).717 Gegen eine Analogie könne nicht eingewendet werden, dass der Gesetzgeber über eine (lediglich) beschränkte Erweiterung zu erkennen gegeben habe, eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht gerade nicht einzuführen.718 Der Reformgesetzgeber habe sich zwar nur zu einer »halbherzigen« Lösung durchringen können, die Etablierung einer umfassenden prozessualen Aufklärungspflicht damit aber nicht verhindern wollen.719 Zurückhaltung habe er nur deswegen an den Tag gelegt, weil er Befürchtungen um die Möglichkeit einer Ausforschung des Prozessgegners nach dem Vorbild der US-amerikanischen pretrial-discovery entgegentreten wollte.720 Eine prozessuale Aufklärungspflicht bedeute aber nicht die Ausforschung der Gegenpartei. Aus diesem Grunde sei die Entscheidung des Gesetzgebers keine generelle Absage an eine prozessuale Aufklärungspflicht. §  142 713   Stadler, in: Musielak, §  138 Rn.  11; dies., S.  80 ff.; Peters, Ausforschungsbeweis, S.  103 ff.; ders., in: FS Schwab, S.  399 ff.; Greger JZ 1997, 1077, 1080; ders. JZ 2000, 842, 847; Katzenmeier JZ 2002, 533 ff.; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 43 ff.; Schlosser JZ 1991, 599 ff.; ders. NJW 1992, 3275 ff.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465 ff.; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 474 ff. 714   Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 15 ff.; Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 43 ff.; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 475. 715   Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 15 ff.; Stadler ZZP 110 (1997), 137, 163; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 476; siehe auch Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  62. 716   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 478. 717   Katzenmeier JZ 2002, 533, 538; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 480 f.; siehe auch Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  34d. 718  So jedoch Greger, in: Zöller, §  142 Rn.  2; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  109 Rn.  8 ; Gruber/Kießling ZZP 116 (2003), 305, 310. 719   Insoweit wird vor allem auf die Motive verwiesen, die in der Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S.  78 f. zum Ausdruck kommen. 720   Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S.  120.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

ZPO zeige die Stärkung der prozessualen Informationspflichten im deutschen Zivilprozess. Vorteilhaft sei insbesondere, dass ein Verstoß gegen prozessuale Aufklärungspflichten umgehend mit der widerlegbaren Wahrheitsfiktion sanktioniert werden könne. Es bedürfe keines separaten Prozesses oder der Erhebung einer Stufenklage. Insoweit unterscheide sich die prozessuale Aufklärungspflicht wesentlich von einem materiellrechtlichen Auskunftsanspruch, der auf Erfüllung angelegt sei.721 Als Gegenargument könne nicht angeführt werden, dass die Missachtung materiellrechtlicher Ansprüche ebenfalls im Wege der Beweisvereitelung berücksichtigt werden könnte. Eine solche Lösung sei der Transparenz und Berechenbarkeit des Prozesses nicht zuträglich; es finde eine diffuse Anwendung unterschiedlicher prozessualer Hilfsmittel statt.722 Die Einführung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht könne hingegen die Unsicherheiten vermeiden und zur Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Verfahrens beitragen.723 Neben der von Stürner angeführten Rechtsanalogie wird teilweise das Prozessrechtsverhältnis, welches mit Klageerhebung entstehe und die Parteien untereinander im Sinne einer Sonderverbindung und darüber hinaus mit dem Gericht verknüpfe, als Rechtsgrundlage diskutiert.724 In dem Prozessrechtsverhältnis entfalte sich der Anspruch der Parteien auf Rechtsschutz.725 Katzenmeier betont, dass eine allgemeine Aufklärungspflicht der Wahrheitsfindung aber keinen Selbstwert beimesse oder sie verabsolutiere. Ziel sei nicht die Aufdeckung von Tatsachen im Allgemeininteresse in einem inquisitorischen Verfahren, sondern die Wahrheitsfindung im Interesse des Individualrechtsschutzes. Wechselseitige Pflichten in der Sachverhaltsaufklärung bedeuteten gerade ein von den Parteien bestimmtes Verfahren.726 Schließlich habe das Verfahrensrecht einen Funktions- und Legitimationszuwachs erfahren. Zwar seien materielles Recht und Prozessrecht zwei grundlegend unterschiedliche Materien (grundlegend Windscheid: Trennung von Anspruch und Klage, der Anspruch ist das Erzeugende und die Klage das Erzeugte727).728 Allerdings müssen die Materien mit Bezug aufeinander gesehen werden. Legitimationsdefizite der materiellen Rechtsordnung bedürften einer Kompensation durch prozessinterne Optimierung eines rechts- und sozialstaatlichen Gerichtsschutzes. Das Verfahrensrecht

  Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 475.   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 475. 723   Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 19 f.; Katzenmeier JZ 2002, 533, 539 f.; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 475 f.; a. A. Arens ZZP 96 (1983), 1, 23. 724   Katzenmeier JZ 2002, 533, 539 mit Verweis auf Bülow, passim. 725   Katzenmeier JZ 2002, 533, 538 ff. 726   Katzenmeier JZ 2002, 533, 539. 727   Windscheid, passim. 728   Katzenmeier JZ 2002, 533, 539. 721

722

§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 263

habe sich gewandelt vom reinen »Rechtsdurchsetzungsrecht« zu einem »[materialem] Rechtsgewinnungsrecht«.729

IV.  Lehren aus den Harmonisierungsbestrebungen und den vereinheitlichten Regelwerken Der Storme-Bericht plädiert für weitgehende Offenbarungspflichten, die sich an die Prozessparteien und Dritte richten. Es handelt sich um eine generelle Vorlagepflicht,730 die strukturell der von Stürner geforderten allgemeinen Aufklärungspflicht der nicht behauptungs- und beweisbelasteten Partei entspricht. Fraglich ist, welche Schlüsse aus dem Storme-Entwurf für das deutsche Recht und insbesondere die Forderungen nach einer allgemeinen Aufklärungspflicht der Parteien gezogen werden können. Zum einen ist die klare Tendenz zu erkennen, weitgehende Aufklärungspflichten der Parteien zu verankern. Zum anderen ist zu berücksichtigen – wie bereits in dem Fazit zur Rechtsvergleichung betont –, dass der Prozessverlauf in anderen Ländern teilweise anders ausgestaltet ist und sich deswegen eine Übertragbarkeit in unveränderter Form nicht anbietet. In England etwa findet ein pretrial-Verfahren statt, in dem die disclosure erfolgt. Aus diesem Grund kann eine »einfache« Übertragung eines anderen Modells nicht erfolgen, wenn dem insoweit Divergenzen in den Systemen entgegenstehen. Eine Übertragung würde somit voraussetzen, dass im deutschen Zivilprozess eine Institution eingeführt würde, die eine instruktionsrichterliche Tätigkeit übernimmt.731 Der Storme-Bericht legt die Einführung verschiedener Verfahrensabschnitte nahe (Art.  3.3), wozu ein instruktionsrichterlich geprägter Verfahrensabschnitt gehören könnte.732 Nach den Principles of Transnational Civil Procedure soll das Gericht aktive materielle Verfahrensleitung (active case management) betreiben. Der Zugang zu allen Beweismitteln sowohl für das Gericht als auch die Parteien ist ein wesentlicher Aspekt der Prinzipien. Zugleich werden als Ausgleichsmechanismen Weigerungsrechte anerkannt und ist ein Schutz gegen unbillige Offenlegung vorgesehen. Eine Ausforschung soll über strenge Relevanz-, Substantiierungsund Bestimmtheitserfordernisse verhindert werden. Letztlich wird versucht, eine Balance zwischen Vorlagepflichten und Beschränkungen zu erreichen. Die IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit (IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration) sehen eine grundsätzliche Mitwirkungs- und insbesondere Dokumentenvorlagepflichten vor, die jedoch durch hohe Anforderungen an die konkrete Bezeichnung der Beweismittel sowie Einwendungstatbestände, etwa die Gel  Katzenmeier JZ 2002, 533, 539; mit Verweis auf Gilles JuS 1981, 402, 408.   Roth ZZP 109 (1996), 271, 291. 731   Roth ZZP 109 (1996), 271, 293. 732   Roth ZZP 109 (1996), 271, 293. 729

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Teil 3:  Information und Offenlegung

tendmachung von Geheimhaltungsinteressen, abgemildert werden. Das Vorliegen von Geheimhaltungsinteressen muss aber nicht zum Ausschluss des Beweismittels führen, sondern kann zu Schutzmaßnahmen führen, die unter Wahrung der Vertraulichkeit eine Verwendung im Prozess ermöglichen. Die Regeln zeigen, dass es auf die Abstimmung der Mitwirkungspflichten mit Privilegien und Geheimhaltungsrechten ankommt. Um ungewünschte Auswüchse zu vermeiden, wird auf das Instrument der materiellen richterlichen Prozessleitung zurückgegriffen.

V.  Würdigung im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse Greger kritisiert den BGH für seinen »auf Nichtoffenbaren gerichteten Standpunkt«,733 Stürner rügt die »prozessdarwinistischen« Äußerungen des BGH.734 Es müsse ein Verfahren geschaffen werden, in dem die »wahre Rechtslage« der Entscheidung zugrundeliege. Dies setze die Wahrheitsfindung voraus, die über eine allgemeine Aufklärungspflicht erreicht werden könne. Es wird ein Eingreifen des Gesetzgebers gefordert, der die Pflicht der Parteien einführen müsse, auf den Austausch aller prozessrelevanten Informationen zur Förderung der einvernehmlichen Streitbeilegung hinzuwirken.735 Der Befund ist im Wesentlichen richtig. Dem Anliegen kann allerdings mit den hier vorgeschlagenen Änderungen entsprochen werden. Einer darüber hinausgehenden allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht bedarf es nicht. §  142 ZPO ist der richtige Ansatzpunkt, muss jedoch in dem hier erörterten Sinne ausgebaut werden. Die Problematik, die der Forderung nach einer Aufklärungspflicht der Parteien zugrunde liegt, zeigt sich exemplarisch an der Bärenfang-Entscheidung des BGH736 . Klägerin und Beklagte stellen Spirituosen her und vertreiben diese, unter anderem jeweils einen Likör unter der Bezeichnung »Bärenfang«. Die Klägerin war ehemals in Königsberg (Ostpreußen) ansässig und nunmehr in der Bundesrepublik. Sie bezieht sich in der Werbung auf ihre alte ostpreußische Tradition und verwendet für ihren »Bärenfang« unter anderem die eingetragenen Warenzeichen »Bärenfang aus der alten Königsberger Likörfabrik« und »Original [.  .  .] ostpreußischer Bärenfang«. Die Beklagte war seit jeher in der Bundesrepublik tätig und verwendet für ihren »Bärenfang« die Werbeaussage »nach einem alten ostpreußischen Familienrezept«. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Unterlassung nach §  3 UWG in Anspruch, weil es sich bei der Werbeaussage um eine Irreführung handele. Die Werbeaussage erwecke den Eindruck,   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 155; ders. JZ 1997, 1077, 1080.   Stürner ZZP 104 (1991), 208, 217. 735   Gottwald, Gutachten für den 61. Deutschen Juristentag, S. A 15 ff.; Schlosser JZ 1991, 599 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  104 f., der aber bereits de lege lata eine Aufklärungspflicht annimt. 736   BGH NJW 1962, 2149 ff. – Bärenfang; dazu bereits §  8 II. 1. b) bb) (4). 733

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§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 265

die Beklagte sei früher in Ostpreußen tätig gewesen und verfüge in ihrer Familie über ein altes ostpreußisches Rezept. Voraussetzung für den Erfolg der Klage war, dass die Beklagte eine irreführende Angabe machte, die Aussage »nach einem alten ostpreußischen Familienrezept« mithin falsch war.737 Die Klägerin konnte dies allerdings nur vermuten, denn Einblick in das verwendete Rezept hatte sie nicht. Die Beweisnot der Klägerin veranlasste den BGH zu einer Beweislastumkehr: »Es ist [.  .  .] hinsichtlich derjenigen tatsächlichen Umstände, deren Aufklärung nach Lage der Sache vom Kläger billigerweise nicht erwartet werden kann, eine Darlegungs- und Beweislast des Beklagten anzunehmen.« Die Einordnung als Beweislastumkehr stößt jedoch bereits auf Kritik. Es handelt sich nicht um einen Beweis, der von der Beklagten verlangt wird, sondern um einen Aufklärungsbeitrag.738 Die Beklagte soll das Rezept offenbaren. Dies kann freilich deswegen problematisch sein, weil es sich um ein Geschäftsgeheimnis handelt, welches gerade dem Kläger nicht mitgeteilt werden soll. Mit der hier geforderten Auslegung des §  142 Abs.  1 ZPO lässt sich der Sachverhalt der Bärenfang-Entscheidung sachgerecht lösen. Die Klägerin kann behaupten, dass die Beklagte ihren Likör nicht nach einem alten ostpreußischen Familienrezept herstellt. Diese Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruht auf der Tatsache, dass die Beklagte seit jeher in der Bundesrepublik tätig gewesen ist. Es handelt sich also nicht um eine lediglich aus der Luft gegriffene Vermutung. Dementsprechend kann das Gericht auf der Grundlage von §  142 Abs.  1 ZPO die Vorlage des Familienrezepts anordnen. Einer Beweislast­ umkehr oder einer allgemeinen Aufklärungspflicht, die von §  142 ZPO gelöst ist, bedarf es nicht. Relevant wird freilich der Geheimnisschutz, für den ein Verfahren gefunden werden muss. Der BGH erkennt mittlerweile Mitwirkungsverantwortungen der Parteien an: »Denn jede Partei hat in zumutbarer Weise dazu beizutragen, dass der Prozessgegner in die Lage versetzt wird, sich zur Sache zu erklären und den gegebenenfalls erforderlichen Beweis anzutreten.«739 Formell verbleibt die Rechtsprechung zwar auf ihrem restriktiven Standpunkt, in der Praxis werden freilich vielfältige Ausnahmen zugelassen. Die Rechtsprechung nähert sich, auch wenn sie bei ihrer ablehnenden Haltung bleibt, den Forderungen einer Aufklärungspflicht an, weil sie über richterrechtliche entwickelte Institute Aufklärungsbeiträge fordert.740 Die Rechtsprechung ist jedoch widersprüchlich, weil 737   Freilich stellte sich auch noch die Frage, wie die Werbeaussage von den angesprochenen Verkehrskreisen verstanden wurde; dies war nach Zurückweisung der Sache durch das Berufungsgericht zu klären. 738   Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn.  426. 739   BGHZ 169, 377, 380 Rn.  9 = NJW-RR 2007, 488, 489. 740  Nach Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 472 baut der Standpunkt der Rechtsprechung auf falschen Prämissen auf. Der Zivilprozess sei aufgrund der immer größer gewordenen Anzahl von materiellrechtlichen und prozessualen Informationsansprüchen nicht weit von einer allgemeinen Aufklärungspflicht entfernt.

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Teil 3:  Information und Offenlegung

sie auf der einen Seite an dem überkommenen prozessualen Grundsatz festhält, dass keine Partei gehalten sei, »dem Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht von sich aus schon verfügt«, diesen zugleich durch richterrechtliche Modifizierungen von Beweis- und Darlegungslasten unterläuft.741 Insbesondere der regelmäßige Rückgriff auf das Institut der sekundären Behauptungslast widerspricht dem propagierten Primat materiellrechtlicher Informationsansprüche.742 Gleichwohl steht die von Stürner geforderte Aufklärungspflicht der Parteien dogmatisch auf dünnem Fundament. Er befürwortet eine auf bestimmte wenige Vorschriften gestützte Rechtsanalogie. Voraussetzung für eine Rechtsanalogie ist eine allgemeine Regel, die aus verschiedenen Rechtssätzen abgeleitet werden kann. Diese Regel ist auf einen Sachverhalt zu übertragen, der den in den anderen Vorschriften geregelten Fällen ähnelt.743 Eine Analogie setzt voraus, dass eine planwidrige Regelungslücke vorliegt und der zur Beurteilung stehende Sachverhalt mit dem vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat.744 Aus den von Stürner genannten Vorschriften kann jedoch eine solche Basis für eine Rechtsanalogie nicht entnommen werden. Die Rechtslage de lege lata und de lege ferenda sind zu trennen.745 Der Gesetzgeber kann den Parteien Pflichten auferlegen, auch Aufklärungspflichten, solange Geheimhaltungsschranken, Zeugnisverweigerungsrechte und Zumutbarkeitsgrenzen gewahrt werden.746 Die Mitwirkungsverantwortung der Parteien, die von der Rechtsprechung gefordert wird, kann über das hier vorgestellte System erreicht werden, und zwar ohne Friktionen. Die Erkenntnis Stürners, dass die Substantiierungslast herabgesetzt und eine Urkundenvorlage der anderen Partei die Folge sein könne, ist zustimmungswürdig. Ansatzpunkt kann aber das dogmatisch bestehende Gerüst sein. Schließlich erscheint es zu weitgehend, dass sich die nicht beweisbelastete Partei generell zur Existenz von Beweismitteln äußern muss. Die Verhinderung einer Ausforschung ist über eine hinreichende Konkretisierung des streitigen Sachverhalts und die Einführung der Beweismittel durch die Parteien sicherzustellen. Beklagt wird das »Flickwerk«747 deutscher Regelungen. Um ein solches zu vermeiden, bietet sich die hier propagierte behutsame Fortentwicklung der prozessrechtlichen Instrumente an. Einer weitergehenden allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht bedarf es nicht. Zuzugeben ist, dass die hier vorgeschlagenen Änderungen teilweise nicht weit von den Lösungen Stürners entfernt sind. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine allgemeine   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 153 f.   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 477. 743   Engisch, S.  255; Larenz, S.  384 (dort bezeichnet als Gesamtanalogie); Sprau, in: Palandt, Einl. Rn.  48. 744   BGHZ 105, 140, 143; BGH, NJW 2003, 2473, 2474 f.; Canaris, S.  31 ff. 745   Prütting, in: Studia in honorem Németh János, S.  701, 708. 746   Prütting, in: Studia in honorem Németh János, S.  701, 708. 747   Maassen, S.  126 (zur Beweislastverteilung). 741

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§  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 267

Aufklärungspflicht, sondern eine Mitwirkungsverantwortung, die an die Verteilung der Beweis- und Behauptungslast, die sekundäre Behauptungslast und das bestehende System der Möglichkeiten zur Urkundenvorlage anknüpft.

Teil  4

Beweiserleichterungen §  10  Gesetzliche Beweiserleichterungen Beweiserleichterungen werden gewährt, um eine Beweislastentscheidung zu vermeiden, die Folge einer nicht erfolgreichen Beweisführung wäre, aber als ungerecht empfunden wird. Der Grund für eine nicht erfolgreiche Beweisführung kann im Einzelfall angelegt sein, etwa weil die beweisführende Partei nicht über notwendige Informationen verfügt, oder strukturell bedingt sein, weil bestimmte Tatbestandsmerkmale typischerweise zu Nachweisproblemen führen, etwa das Tatbestandsmerkmal der Kausalität. Im Folgenden werden zunächst die gesetzlichen Beweiserleichterungen betrachtet. Die Erkenntnisse, die aus der Betrachtung der gesetzlichen Beweiserleichterungen gewonnen werden, sollen verwendet werden, um die von der Rechtsprechung ohne eine ausdrückliche Grundlage vorgenommenen Beweiserleichterungen zu untersuchen und deren Zulässigkeit zu bewerten. Gesetzliche Beweiserleichterungen sind sowohl im materiellen Recht als auch im Prozessrecht vorgesehen. Sie finden sich für die Ermittlung des hypothetischen Willens in §  119 Abs.  1 BGB (»wenn anzunehmen ist«) und §  2078 Abs.  1 BGB (»anzunehmen ist«), für die Ermittlung des entgangenen Gewinns in §  252 S.  2 BGB (»mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte«) 1 sowie im Produkthaftungsrecht für den Ausschluss der Ersatzpflicht des Herstellers in §  1 Abs.  2 Nr.  2 ProdHaftG (»nach den Umständen davon auszugehen ist«). Im Prozessrecht ist eine Beweismaßsenkung für die Ermittlung des Schadens oder des zu ersetzenden Interesses in §  287 ZPO (»nach freier Überzeugung«) angeordnet. Darüber hinaus regelt §  294 ZPO die Glaubhaftmachung als besondere Art der Beweisführung, die das Beweismaß senkt.2 Im Folgenden werden die prozessualen Beweiserleichterungen behandelt. Auf die Frage der Ausweitung materiellrechtlicher Beweismaßsenkungen wird in einem gesonderten Abschnitt eingegangen (§  12).

1   Zur Einstufung als Beweiserleichterung: BGHZ 29, 393, 398 f. = NJW 1959, 1079; BGHZ 74, 221, 224 = NJW 1979, 1403, 1404. 2   Huber, in: Musielak, §  294 Rn.  1.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

I. Glaubhaftmachung Die Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) stellt eine Senkung des Beweismaßes dar, sodass das Gericht bereits bei einer im Vergleich zum Vollbeweis geringeren Überzeugung die behauptete Tatsache als festgestellt behandelt. 1. Beweismaßreduktion Während im Regelfall eine Tatsache zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden muss, ist für die Glaubhaftmachung ausreichend, dass das Gericht die Wahrheit der behaupteten Tatsache für überwiegend wahrscheinlich hält.3 Überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn nach einer umfassenden Beweiswürdigung mehr für als gegen das Vorliegen der Tatsache spricht.4 Damit soll eine Überspannung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung vermieden werden.5 Grundlage für die überwiegende Wahrscheinlichkeit müssen objektive Gründe sein, nicht lediglich subjektive Ermessenserwägungen. 6 Als Ausgleich für die Beweismaßsenkung ist für die Widerlegung durch die Gegenseite auch eine Glaubhaftmachung ausreichend (sog. Gegenglaubhaftmachung),7 wobei – wie bei der Glaubhaftmachung selbst – eine Beschränkung auf die präsenten Beweismittel stattfindet (§  294 Abs.  2 ZPO). 8 Die Gegenglaubhaftmachung reicht nicht, wenn die beweisbelastete Partei Vollbeweis erbracht hat, obwohl eine Glaubhaftmachung ausreichen würde. Der Vollbeweis muss ebenfalls mit den präsenten Beweismitteln geführt werden (§  294 Abs.  2 ZPO). In diesem Fall bedarf der Gegenbeweis der vollen Überzeugung des Gerichts.9 »Genügt« die Glaubhaftmachung (Beispiel: §  104 Abs.  2 S.  1 ZPO), ist sie also gesetzlich nicht gefordert, kann auch der Vollbeweis im förmlichen Beweisverfahren mit den nicht sofort verfügbaren Beweismitteln erbracht werden.10

  BGHZ 156, 139, 142 = NJW 2003, 3558; Leipold, in: Stein/Jonas, §  294 Rn.  7; a. A. Gottwald, S.  217, der die volle Überzeugungsbildung verlangt und die Besonderheit der Glaubhaftmachung in der Beschränkung auf präsente Beweismittel und der Erweiterung auf die eidesstattliche Versicherung sieht; differenzierend Scherer, S.  75 ff., die bei endgültigen Entscheidungen in der Sache die volle Überzeugung verlangt (S.  85 ff.); dagegen explizit Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  25. Greger, in: Zöller, §  294 Rn.  6 verlangt eine an den Folgen der zu treffenden Entscheidung orientierte Wahrscheinlichkeit. 4   BGHZ 156, 139, 142 = NJW 2003, 3558. Entsprechend gilt das auch beim Indizienbeweis, wo die auf Hilfstatsachen gestützte Schlussfolgerung überwiegend wahrscheinlich sein muss, ohne alle anderen Möglichkeiten auszuschließen; BGH NJW 1998, 1870; Leipold, in: Stein/ Jonas, §  294 Rn.  8. 5   Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, §  294 Rn.  1. 6   Leipold, in: Stein/Jonas, §  294 Rn.  7. 7   Leipold, in: Stein/Jonas, §  294 Rn.  22; Greger, in: Zöller, §  294 Rn.  2. 8   Zu den Verfahrensbesonderheiten sogleich unter §  10 I. 3. 9   Saenger, in: Hk-ZPO, §  294 Rn.  3. 10   Huber, in: Musielak, §  294 Rn.  5 ; Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  5. 3

§  10  Gesetzliche Beweiserleichterungen

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2. Anwendungsfälle Eine Glaubhaftmachung ist zur Beweisführung ausreichend, wenn eine entsprechende gesetzliche Anordnung gegeben ist. Die Glaubhaftmachung wird vor allem bei Verfahrensfragen relevant, wie etwa bei dem Wiedereinsetzungsantrag (§  236 Abs.  2 ZPO), der Zulassung verspäteten Vorbringens (§  296 Abs.  4 ZPO) oder der Ablehnung eines Sachverständigen (§  406 Abs.  2 ZPO). Zumindest mittelbar kann sie in Zusammenhang mit dem materiellen Recht stehen. So müssen bei Arrest und einstweiliger Verfügung der Arrestanspruch und -grund bzw. der Verfügungsanspruch und -grund (§§  920 Abs.  2 und 936 ZPO) 11 oder bei dem Antrag eines Gläubigers auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine Forderung und der Eröffnungsgrund (§  14 Abs.  1 InsO) glaubhaft gemacht werden.12 Im BGB findet sich die Glaubhaftmachung darüber hinaus bei den Voraussetzungen der Eintragung der Vormerkung und der Eintragung eines Widerspruchs gegen die Richtigkeit des Grundbuchs (§  899 BGB), denn die Eintragungen können jeweils unter anderem aufgrund einer einstweiligen Verfügung erfolgen (§§  885 Abs.  1 S.  1, 899 Abs.  2 S.  1 BGB), im Familienrecht bei der Ablehnung der Übernahme einer Vaterschaft (§  1786 Abs.  1 Nr.  1 BGB) und im Erbrecht bei dem Einsichtsrecht in das Inventar (§  2010 BGB). 3. Verfahrensbesonderheiten Neben dem richterlichen Überzeugungsgrad unterscheidet sich das Verfahren der Glaubhaftmachung von dem regelmäßigen Beweisverfahren durch folgende Aspekte: 13 (1) Die Beibringung der Beweismittel obliegt allein der Partei, es findet keine amtswegige Beweiserhebung statt; die Beweismittel müssen in der mündlichen Verhandlung präsent sein (§  294 Abs.  2 ZPO). (2) Es sind alle Beweismittel zugelassen, inklusive der eidesstattlichen Versicherung (§  294 Abs.  1 ZPO). Zur Glaubhaftmachung kann sich eine Partei folglich aller Beweismittel bedienen. Es findet keine Beschränkung auf die förmlichen Beweismittel (§§  355 ff. ZPO) statt, sondern es gilt der Freibeweis. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit kann über die Vernehmung der Gegenpartei ohne Vorliegen der Voraussetzungen der §§  445 ff. ZPO begründet werden. Die Beweismaßsenkung ermöglicht insbesondere die Führung eines Beweises anhand von Indizien, obwohl andere Möglichkeiten des Geschehensablaufs nicht (zur vollen Überzeugung

11   Ausnahmsweise kann die Glaubhaftmachung des Verfügungsgrunds nicht erforderlich sein; siehe nur §  885 Abs.  1 S.  2 oder §  899 Abs.  2 S.  2 BGB. 12   Die Glaubhaftmachung betrifft in diesen Fällen konkret die dem Anspruch oder der Forderung zugrunde liegenden Tatsachen; Saenger, in: Hk-ZPO, §  294 Rn.  5. 13   Auflistung in BGHZ 156, 139, 141 f. = NJW 2003, 3558.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

des Gerichts) ausgeschlossen sind.14 Ausdrücklich zugelassen ist die Beweisführung durch eine Versicherung an Eides statt (§  294 Abs.  1 ZPO), die als das klassische Instrument für eine Glaubhaftmachung bezeichnet werden kann.15 Während das Gericht den Beweiswert grundsätzlich frei würdigt, gilt dies nicht in den Fällen, in denen gesetzlich angeordnet ist, dass ein bestimmter Nachweis genügt. 4.  Ausweitung auf andere Fälle Zusammen mit dem geringeren Überzeugungsgrad zeigen die Erweiterung der Beweismittelarten und die Beschränkung auf präsente Beweismittel die Anlässe für eine Glaubhaftmachung. Es sind die Fälle, in denen die Schnelligkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes im Vordergrund steht, das Verfahren einseitig ausgestaltet ist oder (lediglich) prozessuale Fragen zu entscheiden sind.16 Unabhängig davon, ob man eine Systematisierung der Anwendungsfälle vornimmt,17 ist Voraussetzung der Anwendung des §  294 ZPO eine gesetzliche Anordnung der Glaubhaftmachung. Es handelt sich um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift zu dem Regelbeweismaß des §  286 ZPO. Eine analoge Anwendung auf andere Fälle scheidet aus.18 Eine gesetzgeberische Ausweitung der Glaubhaftmachung auf Konstellationen, in denen Beweisschwierigkeiten bestehen können, erscheint nicht angemessen. Abgesehen von den Verfahren mit besonderer Eilbedürftigkeit ist im Prozess der wahre Sachverhalt vollständig zu ermitteln, welcher also vorliegen und nicht nur glaubhaft gemacht werden muss. Insoweit zeigt sich der Unterschied zwischen dem Eilverfahren und den anderen Verfahren. In dem Eilverfahren ist die volle richterliche Überzeugung regelmäßig nicht zu erreichen. Somit ist die Glaubhaftmachung der realistischerweise zu erreichende Überzeugungsgrad. In dem Eilverfahren, in dem nur eine vorläufige Entscheidung getroffen wird, kann sich damit begnügt werden; in anderen Verfahren jedoch nicht, weil es sich um eine – vorbehaltlich der Ausschöpfung des Instanzenzugs – endgültige Entscheidung handelt. Möchte man eine geringere Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen, kann das über andere Beweiserleichterungen oder die   BGH NJW 1998, 1870.   Insoweit können jedoch wieder Ausnahmen normiert sein. So ist der Wert der Berufungssumme glaubhaft zu machen, allerdings ist eine Versicherung an Eides statt nicht zuzulassen (§  511 Abs.  3 ZPO). 16   Leipold, in: Stein/Jonas, §  294 Rn.  4. Nach Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  4 ist eine Gruppenbildung nach gesetzgeberischer Intention oder inhaltlichen Vorgaben nicht möglich; es handele sich lediglich um eine besondere Art der Beweisführung. 17  So Leipold, in: Stein/Jonas, §  294 Rn.  4 ; dagegen Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  4. 18   BGH VersR 1973, 186, 187; Huber, in: Musielak, §  294 Rn.  2 ; Prütting, in: MünchKommZPO, §  294 Rn.  4. 14

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Veränderung des materiellen Rechts erfolgen. Jedoch bietet sich die Glaubhaftmachung nicht an, denn zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts ist die Beibringung der Beweismittel allein in den Händen der Parteien (keine amtswegige Beweiserhebung) und die Beschränkung der Beweismittel auf präsente Beweismittel nicht geeignet.

II.  Beweiserleichterungen nach §  287 ZPO Weitere ausdrücklich normierte Beweiserleichterungen finden sich in §  287 Abs.  1 ZPO. Nach dessen S.  1 kann das Gericht nach freier Überzeugung unter Würdigung aller Umstände entscheiden, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich dieser oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, wenn unter den Parteien insoweit Streit besteht.19 S.  2 legt ein weites Ermessen des Gerichts bezüglich der Beweisaufnahme fest. Ferner ist nach S.  3 die Parteivernehmung unter erleichterten Voraussetzungen gestattet. Der auf den ersten Blick eindeutige Wortlaut wirft vor allem die Frage auf, welche Umstände unter §  287 ZPO fallen, weil sie die Entstehung und Höhe des Schadens betreffen. Für die Umstände, die zur materiellrechtlichen Grundlage des Anspruchs gehören, gelten nämlich weiter die Voraussetzungen des §  286 ZPO. Im Folgenden ist der genaue Anwendungsbereich des §  287 ZPO herauszuarbeiten, um ihn sodann einer kritischen Würdigung zu unterziehen, vor allem im Hinblick auf seine Abgrenzung zu §  286 ZPO. Schließlich ist zu diskutieren, ob Erweiterungen oder Einschränkungen der Vorschrift sinnvoll sein können. Zunächst ist aber die ratio der Schadensschätzung zu betrachten, denn nur auf ihrer Grundlage können Anwendungsbereich und Rechtsfolgen sowie Erweiterungs- oder Einschränkungsbestrebungen sachgerecht beurteilt werden. 1.  Ratio der Beweiserleichterungen Die Aufnahme einer Vorschrift zur Schadensschätzung in die ZPO von 1877 beruht darauf, dass der Schadensersatzanspruch des gemeinen Rechts von dem Geschädigten einen lückenlosen Nachweis nach formellen Beweisregeln verlangte.20 Diesem als unbefriedigend empfundenen Zustand sollte abgeholfen werden. Die Ersatzpflicht an sich sollte zwar nicht in das Belieben des Gerichts gestellt werden, sodass die die Ersatzpflicht begründenden Tatsachen weiterhin zu beweisen waren. Weil die Schadenshöhe vielfach von hypothetischen Kausalverläufen abhängen und insoweit eine strenge Nachweisführung nicht möglich sein wird, sind dem Geschädigten auf dieser Ebene Erleichterungen zu gewäh  Ausführlich dazu Prölss, S.  47 ff.   Siehe dazu Lehmann, S.  1 ff.; siehe auch Gottwald, S.  1, 38 f.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

ren.21 Ansonsten würde der Geschädigte das Risiko tragen, dass nicht mehr alle Umstände aufgeklärt werden können. Bereits das Reichsgericht stellte fest, dass die Notwendigkeit des Vollbeweises den widerrechtlich Handelnden begünstige und deswegen eine richterliche Schadensschätzung vorzunehmen sei.22 An den prozessualen Anforderungen soll der materiellrechtliche Schadensersatz­ anspruch nicht scheitern.23 2. Anwendungsbereich Die Beweiserleichterung des §  287 Abs.  1 ZPO kommt erst zum Zug, wenn eine materiellrechtliche Ersatzpflicht des Schädigers feststeht, d. h. das Vorliegen einer den Ersatzbegehrenden treffenden Handlung (konkreter Haftungsgrund) nach §  286 ZPO bewiesen ist.24 Ebenfalls müssen die Rechtswidrigkeit oder das Verschulden feststehen. Obwohl §  287 Abs.  1 ZPO nach seinem Wortlaut auch die Frage betrifft, »ob ein Schaden entstanden sei«, ist die haftungsbegründende Kausalität nicht erfasst.25 Entsprechend der ratio der Vorschrift müssen die die Ersatzpflicht begründenden Tatsachen feststehen. Beispiele für die Anwendung des §  287 ZPO sind unter anderem folgende: Der Insolvenzverwalter trägt die Darlegungs- und Beweislast für den Ausnahmetatbestand nach §  169 S.  3 InsO, wonach dem Gläubiger Zinsen wegen verzögerter Verwertung (§  169 S.  1 i. V. mit §  166 InsO) nicht zustehen, wenn aus näher bezeichneten Gründen mit einer Befriedigung des Gläubigers aus dem Verwertungserlös nicht zu rechnen war. Allerdings greift zugunsten des Insolvenzverwalters die Beweiserleichterung des §  287 ZPO ein.26 Einer Bank, der aus einer vorzeitigen Ablösung eines Annuitätendarlehens ein Schaden entstanden ist, kommt für die Berechnung §  287 ZPO zugute.27 Über diese »eindeutigen« Fälle hinaus stellen sich allerdings Abgrenzungsfragen. a) Abgrenzung Die Erleichterungen des §  287 ZPO gelten für die haftungsausfüllende Kausalität, d. h. für die Kausalität zwischen Rechtsgutverletzung und Schaden.28 Damit ist das entscheidende Problem der Vorschrift angesprochen: Wie erfolgt die Abgrenzung zum Haftungsgrund, für dessen Nachweis §  286 ZPO gilt? Die 21   BGHZ 29, 207, 215 f.; Greger, in: Zöller, §  287 Rn.  1 f.; Saenger, in: Hk-ZPO, §  287 Rn.  1; Klauser JZ 1968, 167. 22   Grundlegend: RGZ 6, 356, 357 ff. (zu §  260 CPO); Erleichterungen fordernd auch Lehmann, S.  23 ff. 23   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  1. 24   BGHZ 4, 192, 196 = NJW 1952, 301, 302; BGHZ 54, 45, 55; Arens ZZP 88 (1975), 1, 2. 25   BGHZ 162, 259, 263 = NJW 2005, 1653, 1654; NJW-RR 1987, 1019, 1020. 26   BGHZ 166, 215, 221 (Rn.  18) = NJW 2006, 1873, 1874. 27   BGHZ 161, 196, 201 ff. = NJW 2005, 751, 752. 28   BGHZ 159, 254, 257 = NJW 2004, 2828, 2829; dagegen Prölss, S.  51 ff.

§  10  Gesetzliche Beweiserleichterungen

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Rechtsprechung des BGH dazu ist nicht einheitlich. Ausgangspunkt der Rechtsprechung ist folgende Formel: »Die Verpflichtung zum Schadensersatz beruht in tatsächlicher Hinsicht darauf, daß ein bestimmtes Ereignis, durch das der Ersatzbegehrende betroffen worden ist, das schadenstiftende Ereignis, zu einem Schaden geführt hat. Ob ein solches Ereignis den Ersatzbegehrenden betroffen hat, ist nach §  286 ZPO zu beweisen. Daß dieses Ereignis einen Schaden verursacht hat, der Kausalzusammenhang zwischen schadenstiftendem Ereignis und Schaden, ist nach der st. Rspr. der Gerichte nach §  287 ZPO festzustellen.«29

Aufbauend auf dieser Formel ist die Rechtsprechung gleichwohl widersprüchlich.30 In einer Entscheidung aus dem Jahre 1964 hatte der BGH über folgenden Sachverhalt zu entscheiden: 31 Ein Häftling litt an Tuberkulose. Der Gefängnis­ arzt verletzte seine Amtspflicht, weil er den Häftling nicht von einem Mithäftling, der dieselbe Zelle bewohnte, isolierte. Der Mithäftling erkrankte später ebenfalls an Tuberkulose. Nunmehr ließ sich nicht mehr aufklären, ob der Mithäftling aufgrund der Zellengemeinschaft mit dem tuberkulosekranken Häftling erkrankt war. Diese Frage unterstellte der BGH dem Regime des §  286 ZPO, denn es gehe um den konkreten Haftungsgrund. Hingegen hatte der BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1952 entschieden, dass die Frage, ob die schuldhaft verspätete Einweisung eines Patienten in ein Krankenhaus dessen Tod verursacht hatte, zur haftungsausfüllenden Kausalität gehört.32 Ein Unterschied in den Konstellationen, der die Differenzierung rechtfertigt, ist nicht ersichtlich.33 In den Urteilen versteht der BGH das Betroffensein jeweils anders. Stellt man allein darauf ab, dass die Geschädigten mit dem möglicherweise schadensverursachenden Tun oder Unterlassen in Berührung gekommen sind, liegt ein Betroffensein vor. Die Kläger waren jeweils betroffen, und zwar durch die verspätete Isolierung einerseits und die verspätete Einlieferung in das Krankenhaus andererseits.34 Die weiteren Fragen hätten zur haftungsausfüllenden Kausalität gehört. Fordert man hingegen, dass der »Verstoß den Ersatzbegehrenden tatsächlich betroffen hat«35 , müsste als Haftungsgrund noch die Ansteckung mit der Krankheit bzw. der Eintritt des Tods mittels eines Vollbeweises (§  286 ZPO) nachgewiesen werden. 29   BGHZ 4, 192, 196 = NJW 1952, 301, 302. Gegen das Kriterium des Betroffenseins Arens ZZP 88 (1975), 1, 7 ff. 30   Vor allem in früheren Entscheidungen hat der BGH als Haftungsgrund ausreichen lassen, dass der Ersatzbegehrende im Sinne einer konkreten Verletzungsgefahr betroffen war (BGH NJW 1983, 998) oder er in Mitleidenschaft gezogen worden ist (BGHZ 58, 48, 55 = NJW 1972, 1126, 1127). 31   BGH VersR 1965, 91 ff. 32   BGHZ 7, 198 ff. = NJW 1953, 700 f. 33   Klauser JZ 1968, 167. 34   Klauser JZ 1968, 167. 35   BGH VersR 1965, 91, 92; siehe auch BGH VersR 1957, 529, 530 f.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

Die letztgenannte Auslegung verdient den Vorzug, denn §  287 ZPO soll erst eingreifen, wenn eine Rechtsgutverletzung, ein Eingriff in ein absolutes Recht oder – soweit ausreichend – die Vermögensbeeinträchtigung beruhend auf einer Handlung des Schädigers feststeht.36 Die Ersatzpflicht an sich steht nicht im Schätzungsermessen des Gerichts. Bei Vertragsverletzungen muss daher der Zusammenhang zwischen der Vertragsverletzung und der Rechtsgutbeeinträchtigung nach §  286 ZPO nachgewiesen sein, bei Deliktsansprüchen der Zusammenhang zwischen der Handlung und der Rechtsgutverletzung.37 b) Erweiterungen Der BGH wendet §  287 ZPO auf den Zusammenhang zwischen Erstverletzung und deren Folgen an.38 So muss ein Versicherungsnehmer in der Unfallversicherung den Nachweis des Unfallereignisses und der Gesundheitsbeschädigung nach §  286 ZPO führen, hingegen gelten für den Zusammenhang zwischen dem Tod oder der Invalidität und der Erstverletzung die Erleichterungen des §  287 ZPO.39 Ebenfalls ist der Zusammenhang zwischen einer ärztlichen Fehlbehandlung und dem Morbus Sudeck lediglich nach §  287 ZPO zu führen, wenn feststeht (nach §  286 ZPO bewiesen ist), dass die Fehlbehandlung eine Gesundheitsbeeinträchtigung hervorgerufen hat.40 Fraglich ist darüber hinaus, ob die nach §  287 ZPO vorgesehene Schätzung nur den Schaden an sich erfasst oder überdies die Umstände, auf denen der Schaden beruht. Nach der Rechtsprechung des BGH findet §  287 ZPO auf die Umstände Anwendung, die allein für die Höhe eines Schadens oder zu ersetzendes Interesse von Belang sind.41 Das ist konsequent, weil sich die Tatsachen unter diesen Voraussetzungen eben nur bei der Frage der Haftungsausfüllung auswirken, der Haftungsgrund hingegen ohne ihr (Nicht-) Vorliegen festgestellt werden kann. c)  Anwendungsbereich des §  287 Abs.  2 ZPO §  287 Abs.  2 ZPO erweitert den Anwendungsbereich des Abs.  1 S.  1 und 2 auf die Höhe einer Forderung bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten, soweit die vollständige Aufklärung des Sachverhalts mit Schwierigkeiten verbunden ist,

  Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  114 Rn.  14.   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  10. 38  Dagegen Stoll AcP 176 (1976), 145, 193 ff.; Großerichter, S.  66. 39   BGH NJW 1993, 201. 40   BGH NJW 2008, 1381; insoweit wird auf den Unterschied zu BGH NJW 2004, 777 hingewiesen, wo der Morbus Sudeck als Primärschaden geltend gemacht wurde (es fehlte an einer vorausgegangenen Körperverletzung). 41   BGH NJW 2005, 3348, 3349; Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  16; siehe auch Klauser JZ 1968, 167, 168. 36 37

§  10  Gesetzliche Beweiserleichterungen

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die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen. 3. Rechtsfolge §  287 ZPO sieht einerseits eine Beweismaßsenkung vor, andererseits Erleichterungen des Beweisverfahrens. a) Beweismaßsenkung Im Anwendungsbereich des §  287 Abs.  1 S.  1 ZPO ist der Vollbeweis der Tatsachen nicht notwendig, sondern an dessen Stelle tritt das Ermessen des Gerichts. Für die haftungsausfüllende Kausalität genügt es, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gegeben ist.42 Die Abweichungen unter dem Regime des §  287 ZPO im Vergleich zu §  286 ZPO ergeben sich daraus, dass in §  287 ZPO die in §  286 ZPO verwendete Formulierung »ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten sei« fehlt.43 Im Hinblick auf die Schadenshöhe kann das Gericht eine Schätzung vornehmen, ist also von einer exakten Schadensberechnung befreit. Es wird dabei in Kauf genommen, dass die geschätzte Schadenshöhe eine Abweichung von einem tatsächlichen Schaden darstellt.44 Bestehende Unsicherheiten können dazu führen, dass das Gericht die Schätzung eines Mindestschadens vornimmt.45 §  287 Abs.  1 S.  1 ZPO erleichtert der risikobelasteten Prozesspartei dabei nicht nur die Beweisführung, sondern mindert außerdem die Darlegungslast.46 Der BGH führt dazu aus: 47 »Über die Frage, ob und in welcher Höhe dem Kl. durch die mangelhafte Vertragserfüllung seitens des Bekl. ein Schaden entstanden ist, hat der Tatrichter nach §  287 ZPO zu befinden. Diese Gesetzesvorschrift erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegungslast. Eine Substantiierung der klagebegründenden Tatsachen kann von ihm im Rahmen des §  287 ZPO nicht in gleicher Weise gefordert werden wie hinsichtlich anderer tatsächlicher Fragen. Die Klage darf daher nicht wegen lückenhaften Vortrags zur Schadensentstehung und Schadenshöhe abgewiesen werden, solange greifbare Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung vorhanden sind [.  .  .]. Mit der Einräumung der Befugnis, die Höhe des Schadens zu schätzen, nimmt das Gesetz in Kauf, daß das Ergebnis der Abschätzung mit der Wirklichkeit vielfach nicht übereinstimmt; die Schätzung soll allerdings möglichst nahe an diese heranführen. [.  .  .] das Ge-

  Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  17; siehe auch Arens ZZP 88 (1975), 1, 2 mit dem Hinweis, dass insoweit nicht von einer Schätzung gesprochen werden kann. 43   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  17. 44   BGH NJW 1964, 589. 45   BGH NJW 2005, 3348, 3349; NJW-RR 2000, 1340, 1341. 46   BGH NJW 2000, 1572, 1573; Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 465. 47   BGH NJW-RR 1988, 410; siehe auch BGH NJW 1993, 734. 42

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

richt muß allerdings von einer Schätzung absehen, wenn diese mangels greifbarer Anhaltspunkte völlig in der Luft hängen würde.«

Im Anwendungsbereich des §  287 ZPO besteht somit eine verringerte Substantiierungslast für die weiterhin darlegungsbelastete Partei. Die Anforderungen an die Behauptungen bezüglich der haftungsausfüllenden Kausalität und der Schadenshöhe sind gemindert. Eine Umkehr der Beweislast folgt aus §  287 ZPO allerdings nicht.48 Im Gleichlauf mit der verringerten Substantiierungslast findet eine Absenkung des Beweismaßes statt. Diese beiden Abweichungen zu §  286 ZPO stellen die wesentlichen Erleichterungen im Anwendungsbereich des §  287 ZPO dar. b) Verfahrenserleichterungen Nach §  287 Abs.  1 S.  2 ZPO steht es im Ermessen des Gerichts, ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen ist. Das richterliche Ermessen über die Anordnung einer beantragten Beweisaufnahme stellt eine Einschränkung des Gebots der Erschöpfung der Beweisanträge dar.49 Stehen dem Richter nach seiner Überzeugung hinreichende Grundlagen für ein Wahrscheinlichkeitsurteil zur Verfügung, kann er von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen. Ausnahmsweise darf der Richter eine vorweggenommene Beweiswürdigung vornehmen, um über die Erforderlichkeit der Beweisaufnahme zu entscheiden.50 §  287 Abs.  1 S.  2 ZPO setzt voraus, dass das Gericht zur Erhebung des Sachverständigenbeweises von Amts wegen befugt ist. Gesetzlich ist das bereits in §  144 Abs.  1 S.  1 ZPO vorgesehen, so dass fraglich ist, worin die darüber hinausgehende Erleichterung bestehen soll. Sie besteht darin, dass der Richter bei der Ausübung seines Ermessens noch freier gestellt ist. Er kann auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten, wenn hinreichende Grundlagen für eine Schadensschätzung vorhanden sind.51 Im Anwendungsbereich des §  287 ZPO kann auch auf die Einholung eines Gegengutachtens verzichtet werden, wenn nach Auffassung des Richters das erste Gutachten eine tragfähige Entscheidungsgrundlage bietet.52 Schließlich sieht §  287 Abs.  1 S.  3 ZPO die Vernehmung des Beweisführers über den Schaden oder das Interesse vor. Die Besonderheit der Parteivernehmung liegt hier darin, dass eine Subsidiarität gegenüber den anderen Beweismitteln – wie es ansonsten bei der Parteivernehmung der Fall ist -53 nicht besteht.   BGH NJW 1986, 246, 247; Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  31.   BGH NJW 1991, 1412; Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  23. 50   BGH NJW 1996, 2501, 2502. 51   Leipold, in: Stein/Jonas, §  287 Rn.  41. 52   BGH VersR 1971, 442, 443. 53   Pukall, in: Hk-ZPO, vor §  4 45 Rn.  1. 48 49

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Ein Anfangsbeweis braucht nicht gegeben zu sein.54 Die Parteivernehmung kann sich lediglich auf die Schadenshöhe beziehen, also gerichtet auf die Merkmale, aus denen sich die Schadenshöhe ergibt, oder auf eine Schadensschätzung durch die Partei. Letzteres wird eine besonders gründliche Würdigung durch das Gericht zur Folge haben, wobei es vor allem darauf ankommt, auf welche Tatsachen die Partei ihre Schätzung stützt.55 4.  Vorgebrachte Änderungsforderungen Die Vorschrift des §  287 ZPO wird einerseits als zu unbestimmt, andererseits als zu eng in ihrem Anwendungsbereich eingestuft. a)  Neufassung der Vorschrift aus Bestimmtheitsgründen Auch wenn der Anwendungsbereich des §  287 ZPO auf die Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität und die Bemessung der Höhe des Schadens begrenzt ist, besteht die Möglichkeit, eine Haftung für wahrscheinlich verursachte Schäden einzuführen.56 Letztlich hängt dies von der Abgrenzung des haftungsbegründenden Tatbestands zur haftungsausfüllenden Kausalität ab. Stellt man geringe Anforderungen an den Haftungsgrund, ist das Tor zur Schätzung nach §  287 ZPO geöffnet. Für die haftungsbegründende Kausalität bleibt nur noch wenig übrig, hingegen desto mehr für die haftungsausfüllende Kausalität.57 Der Anwendungsbereich des §  287 ZPO wird dadurch weiter, sodass man darüber zu einer Haftungsverschärfung gelangen kann, die materiellrechtlich vorwirkt. Die erörterten Abgrenzungsschwierigkeiten führen zu der Forderung Prüttings an den Gesetzgeber, eine Neufassung der Vorschrift vorzunehmen.58 Prütting kritisiert die unklare Formulierung der Vorschrift und hält eine sprachlich und inhaltlich klarere Norm für notwendig.59 Hintergrund der Kritik an dem Wortlaut ist, dass es immer wieder zu Streit über den Anwendungsbereich der Vorschrift kommt. Über eine sprachliche Neufassung könnten diese Streitpunkte aber kaum entschärft werden, weil die Schwierigkeit in der Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien liegt. Ansatzpunkt muss vielmehr eine klare Definition der Kriterien und eine darauf beruhende stringente Linie der Rechtsprechung sein.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  287 Rn.  52.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  287 Rn.  52. 56   Stoll AcP 176 (1976), 145, 147. 57   Stoll AcP 176 (1976), 145, 147. 58   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  36. 59   Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 14 spricht sich aber gegen eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des §  287 ZPO auf die haftungsbegründende Kausalität aus; eine Überdehnung der Vorschrift bewirke eine verdeckte Beweismaßreduzierung. 54 55

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b) Ausdehnung des Anwendungsbereichs Prütting fordert die Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Nebenforderungen sowie das Recht des Richters zur Betragsschätzung im Bereich von Forderungen unter 1.000 A. 60 Dies sei aus prozessökonomischen Gründen gerechtfertigt. Eine strikte Beweisführung und richterliche Überzeugungsbildung nach §  286 ZPO sei nicht angemessen, wenn bei einer Klage von 10.000 A oder mehr lediglich ein Posten in Höhe von 100 A bestritten sei und die Beweisführung ein Sachverständigengutachten erfordere, welches ein Mehrfaches der verlangten Summe koste. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz des Zivilprozesses sei zu beklagen, dass geringe Streitwerte erhebliche Kosten verursachten. 61 Die Suche nach der Wahrheit wäre verkürzt, wenn bei einer geringen Forderung ein großer Aufwand abgelehnt würde. Steht einer solchen Vorgehensweise nicht das Recht des Beklagten entgegen, einen kleinen Betrag zu bestreiten und vom Kläger zu verlangen, dass er die Entstehung des Schadens vollumfänglich nachweist? So wie es das Recht des Klägers ist, kleine Beträge einzuklagen? Geht man dieser Frage nach, so zeigt sich, dass das keinesfalls unumstritten ist. Im Hinblick auf die Klage auf Minimalbeträge wird zum Teil auf den Grundsatz »De minimis non curat praetor« verwiesen und somit die Erheblichkeit zur Zulässigkeitsschranke erhoben. 62 Möchte man es zuspitzen, kann man die Frage stellen: Gibt es das Recht, Klage auf einen Cent zu erheben (oder wegen eines solchen Betrags zu vollstrecken)? Oder umgekehrt: Gibt es das Recht, einen Klageposten, der einen Cent beträgt, zu bestreiten? Muss man diese Fragen verneinen mit dem Argument: »Das ist zwar sein Recht, aber nicht sein gutes Recht.«? 63 Wenn es bereits kein Recht gibt, Forderungen über Minimalbeträge einzuklagen, würde sich die Frage nach Verfahrenserleichterungen erübrigen. aa)  De minimis non curat praetor In einem Verfahren vor dem Finanzgericht Hamburg64 stritten die Beteiligten über die Verpflichtung des Beklagten zum Erlass eines Abrechnungsbescheids wegen der Verbuchung von 0,66 EUR, die sich aus verschiedenen kleineren Beträgen zusammensetzen. Das Gericht wies die Klage mit folgender Begründung   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  36.   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  36. 62   Siehe dazu Schmieder, ZZP 120 (2007), 199 ff. 63   Davon zu unterscheiden sind die Verfahrensvereinfachungen bei geringen Streitwerten. Nach §  495a ZPO kann das Gericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt; siehe zur Verfahrensgestaltung Pukall, in: Hk-ZPO, §  495a Rn.  4 ff. Die verfahrensrechtlichen Vereinfachungen führen aber nicht zu einer Änderung in der Anwendung des materiellen Rechts oder einer Änderung des Beweisziels; Pukall, in: Hk-ZPO, §  495a Rn.  14. 64   Urt. v. 6.5.2004 – Az. VII 22/04. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde als unbegründet zurückgewiesen; BFH, Beschl. v. 25.10.2004 – VII B 139/04. 60 61

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ab: »Der Kläger ist als Hamburger Rechtsanwalt Organ der Rechtspflege. Der Beklagte ist als Hamburger Behörde dem Grundsatz der sparsamen und effektiven Haushaltsführung verpflichtet. Das Gericht bestimmt gemäß §  94a FGO sein Verfahren nach billigem Ermessen. Es wendet daher ohne mündliche Verhandlung den römischrechtlichen Grundsatz minima non curat praetor (um Kleinigkeiten kümmert das Gericht sich nicht) und die altdeutsche Regel Ein jeder kehre vor seiner Tür an. Danach war zu entscheiden wie geschehen (die Klage wird abgewiesen).« (1)  Definition der Kleinigkeit Gegen die Anwendung des Grundsatzes spricht die Schwierigkeit der Definition von »Kleinigkeiten«. Zunächst einmal wäre zu klären, ob eine absolute oder relative Betrachtung vorzunehmen ist. Eine absolute Betrachtung würde bedeuten, dass der Klagebetrag autonom gewertet wird, eine relative Betrachtung würde es erfordern, eine Nebenforderung in das Verhältnis zur Hauptforderung zu setzen. Sodann wären die Werte festzulegen, bis zu denen von einem Minimalbetrag gesprochen werden kann. Alternativ hätte über die absolute oder relative Geringwertigkeit im Einzelfall das Gericht zu entscheiden, woraus aber eine Rechtsunsicherheit aufgrund mangelnder Vorhersehbarkeit entstünde. 65 (2) Missbrauchsmöglichkeit Würde man Kleinstbeträge absolut ausscheiden, könnte diese Wirkung gezielt eingesetzt werden, indem solche Beträge nicht gezahlt werden. 66 So könnte ein Schuldner von der Forderungssumme einen Minimalbetrag nicht bezahlen, also gerade den Betrag abziehen, den die Gerichte als geringwertig und damit nicht schützenswert betrachten. 67 Die Forderung könnte er sodann bestreiten und sich bei einer Klage mit dem Argument wehren, um eine solche Kleinigkeit habe sich das Gericht nicht zu kümmern. Der sich nicht korrekt verhaltende Schuldner würde bevorzugt. Eine solche Bevorzugung erscheint wertungsmäßig nicht angemessen. 68 Um diese Folge zu verhindern, könnte das Gebot von Treu und Glauben eingesetzt werden, das es verbietet, eine Forderung mit dieser Absicht nicht vollständig zu begleichen (Rechtsmissbrauch). Das Gericht müsste dann aber die wahren Gründe für die Nichtzahlung erforschen und eine Lösung im

  LG Wuppertal NJW 1980, 297.   Schneider MDR 1990, 983, 895 schätzt die Gefahr bewusster Abzüge wohl als gering ein; jedenfalls bleibe eine Realisierung der Befürchtungen abzuwarten. 67  Siehe Buß NJW 1998, 337, 338: »Schaffung eines ›50-Pfennig-rechtsfreien Raumes‹«. 68   LG Wuppertal NJW 1980, 297; Olzen/Kerfack JR 1991, 133, 134. 65

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Sinne der Verfahrenseffizienz wäre dadurch nicht erreicht. Das Gegenteil wäre zu befürchten. 69 (3)  Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis Teilweise wird an das Rechtsschutzbedürfnis angeknüpft, um Klagen wegen Minimalforderungen auszuschließen. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn kein berechtigtes Interesse des Klägers an der Inanspruchnahme der Gerichte besteht.70 Zweckwidrige Prozesse, deren Klagebegehren einer Begründetheitsprüfung nicht bedürfen, sollen verhindert werden.71 Das Rechtsschutzbedürfnis ist regelmäßig gegeben. Bei Leistungsklagen ergibt es sich aus der Nichterfüllung des materiellrechtlichen Anspruchs.72 Das gilt auch bei Minimalbeträgen. Nur wenn in die Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses einbezogen wird, dass der Zivilprozess zusätzlich der Bewährung und Fortbildung des objektiven Rechts sowie der Herstellung des Rechtsfriedens dient,73 könnte die Geringfügigkeit zu einer Ablehnung des Rechtsschutzbedürfnisses führen. In diese Richtung argumentierte das AG Stuttgart, das eine Klage wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abwies, in der der Kläger einen Betrag von 0,41 DM geltend machte, nachdem der Schuldner auf die Gesamtforderung von 294,41 DM einen Betrag von 294 DM gezahlt hatte.74 Der Zivilprozess – so die Begründung – gewähre Schutz nur im Rahmen der Gemeinschaft, sodass die Gerichte nicht unnütz oder unlauter bemüht werden dürften. Der Betrag von 0,41 DM sei ein wirtschaftlich so geringer Wert, dass eine Anrufung der Gerichte nicht gerechtfertigt erscheine.75 Letztlich setzt das AG Stuttgart den Klagebetrag in das Verhältnis mit den Kosten eines Zivilprozesses für den Steuerzahler.76 Der Verzicht einer Partei auf 0,41 DM erscheine eher gerechtfertigt als eine Inanspruchnahme der Gerichte für einen solchen Betrag. Es gehe dem Kläger nicht um wirtschaftliche Interessen, sondern um das Prinzip des Rechthabens. Schließlich nennt es den Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit, der in der ZPO in den Kostenregelungen nach beiderseitig erklärter Erledigung   Olzen/Kerfack JR 1991, 133, 134.   Saenger, in: Hk-ZPO, vor §  253 Rn.  27. 71   BGH NJW 2005, 1788, 1789; Roth, in: Stein/Jonas, vor §  253 Rn.  133. 72   BGH NJW 2010, 1135, 1136. 73   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  1 Rn.  9 f. 74   AG Stuttgart NJW 1990, 1054; dem Ergebnis zustimmend Schneider MDR 1990, 893 ff. 75   Insoweit verweist das Gericht auf die Ausführungen von Schönke, passim. Der Verweis auf Schönke ist jedoch problematisch, weil er den Zweck des Zivilprozesses in der Wahrung des objektiven Rechts und des Rechtsfriedens sieht, nicht hingegen in der Durchsetzung der Rechte des Einzelnen; Schönke, S.  13 f.; widersprechend Pohle, in: FS Lent, S.  195, 197. 76   Insoweit beruft es sich auf die betriebswirtschaftlichen Untersuchungen von Franzen/ Apel NJW 1988, 1059 ff., wonach im Jahre 1987 ein streitiger Prozess beim Amtsgericht den Steuerzahler 1.050 DM kostete, ein solcher Prozess beim Landgericht 2.780 DM und beim Oberlandesgericht 4.780 DM. 69

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der Hauptsache sowie in der Schadensschätzung Ausdruck gefunden habe. Nicht unerwähnt lässt das AG Stuttgart, dass die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses anders zu beantworten sein könnte, wenn der Schuldner grundsätzlich minimale Kürzungen der Rechnungen vornehme. Gegen die Argumentation des Amtsgerichts spricht, dass materiellrechtlich begründete Ansprüche beschränkt werden, also die Durchsetzung der subjektiven Rechte nicht mehr erfolgt. Zwischen dem subjektiven Recht und der Möglichkeit seiner verfahrensrechtlichen Durchsetzung besteht ein Widerspruch. Im Sinne der Einheit der Rechtsordnung ist das nicht hinzunehmen. Vielmehr hat das Verfahrensrecht die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Es gilt das staatliche Gewaltmonopol,77 sodass der Gläubiger neben dem gerichtlichen Rechtsschutz und einer folgenden Vollstreckung keine Möglichkeit hat, seinen Minimalanspruch zwangsweise durchzusetzen.78 Sollte es einer Einschränkung der Berechtigung der Geltendmachung von Minimalansprüchen bedürfen, müsste eine Lösung beim materiellen Recht ansetzen.79 Wenn die Forderung als nicht durchsetzenswert betrachtet wird, müsste konsequenterweise bereits der materiellrechtliche Anspruch ausgeschlossen werden. Das Anliegen wäre dann in der gesamten Rechtsordnung aufgrund seiner Geringfügigkeit als nicht schützenswert einzuordnen. Einem Rechtssubjekt jedoch prozessrechtlich zu nehmen, was ihm materiellrechtlich gegeben wurde, erscheint widersprüchlich – und hier auch nicht durch besondere Gründe gerechtfertigt. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die Durchsetzung eines Minimalbetrags aus anderen Gründen schikanös und damit rechtsmissbräuchlich sein kann. 80 Allerdings kann nicht aus der geringen Summe allein auf ein fehlendes Rechtsschutzinteresse geschlossen werden. 81 Das Einfordern von 0,41 DM ist nicht an sich rechthaberisch, sondern entspricht dem Gleichklang von Prozessrecht und materiellem Recht. Möchte man die Justiz entlasten, kann das wohl eher dadurch erreicht werden, dass ein

  Brehm, in: Stein/Jonas, vor §  1 Rn.  5 und 9.   Brox/Walker, Rn.  28. 79   Buß NJW 1998, 337, 338. 80   Buß NJW 1998, 337, 339. 81   In ähnlicher Weise stellt sich das Problem der Zwangsvollstreckung von Minimalforderungen, auf das hier nicht näher einzugehen ist; siehe dazu LG Aachen 1987, 924 f.; LG Bochum RPfleger 1994, 117; Brox/Walker, Rn.  28; Buß NJW 1998, 337, 339 ff.; Schiffhauer ZIP 1981, 832 ff.; Sibben DGVZ 1988, 180 ff. Nur kurz sei erwähnt, dass es im Rahmen der Zwangsvollstreckung um die Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gegen den Schuldner, nicht hingegen im engeren Sinne um ein de minimis-Prinzip geht. Die Besonderheiten ergeben sich aus dem tripolaren Verhältnis, in dem in einem staatlichen Verfahren gegen den Schuldner vollstreckt wird; BGH NJW 2001, 434; Olzen/Kerfack JR 1991, 133. Neben dem Gesichtspunkt der Unverhältnismäßigkeit werden allerdings stattdessen teilweise der Gedanke des Rechtsmissbrauchs und ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis angeführt; Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 205 ff. 77 78

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Schuldner weiß, dass Minimalforderungen eingeklagt werden können. 82 Weil dadurch bereits ein (materiellrechtlicher) Anreiz zur Begleichung auch von Minimalforderungen besteht, wäre nicht mit einer Zunahme, sondern einer Abnahme der Klage auf Minimalbeträge zu rechnen – mithin mit einer Entlastung. Schließlich wäre die Einführung einer Bagatellgrenze nach der Wesentlichkeitstheorie 83 Sache des Gesetzgebers. 84 Durch §  15a EGZPO hat der Bundesgesetzgeber dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, die Zulässigkeit einer Klageerhebung daran zu knüpfen, dass zunächst eine einvernehmliche Streitbeilegung vor einer Gütestelle versucht worden ist. Damit hat der Gesetzgeber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass er eine Bagatellgrenze als Zulässigkeitsvoraussetzung an sich ablehnt. Ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis kann damit ebenfalls nicht als dogmatische Grundlage für die Abweisung von Klagen auf Minimalbeträge herangezogen werden. 85 Zwar kann bei der Klage auf einen Minimalbetrag das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, doch muss das nicht der Fall sein. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt nämlich nicht wegen des Minimalbetrags, sondern höchstens aus anderen Gründen, etwa schikanösen Motiven, durch die nicht billigenswerte prozessfremde Zwecke verfolgt werden. Der Minimalbetrag kann auf ein nicht billigenswertes Ziel hindeuten, doch kann er nicht das entscheidende Merkmal sein. (4) Unverhältnismäßigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann in dem Erkenntnisverfahren nicht als tragende Begründung angeführt werden, denn es geht nicht – wie in der Zwangsvollstreckung – um hoheitliche Maßnahmen gegen den Schuldner, sondern um ein Verfahren auf »Augenhöhe«. (5)  De minimis-Prinzip im materiellen Recht Dem materiellen Recht ist das de minimis-Prinzip nicht fremd. Schadensersatz statt der ganzen Leistung und das Rücktrittsrecht werden nicht gewährt, 86 wenn der Schuldner die Leistung nicht wie geschuldet bewirkt hat, die Pflichtverletzung aber unerheblich ist (§  281 Abs.  1 S.  3 und §  323 Abs.  5 S.  2 BGB). 87 Damit ist aber keine völlige Einschränkung der Rechtsposition verbunden, sondern die Beschränkung auf andere Rechte, etwa das Recht auf Nacherfüllung,   Olzen/Kerfack JR 1991, 133, 134.   BVerfGE 33, 125, 158 ff. – Facharzt; 47, 46, 78 ff. – Sexualkundeunterricht. 84   Olzen/Kerfack JR 1991, 133, 136. 85   Siehe bereits Pohle, in: FS Lent, S.  195, 219; so aber Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 211. 86   In den Motiven wird das ausdrücklich mit dem Rechtssatz »minima non curat praetor« begründet; Motive II, S.  225. 87   Zur Unerheblichkeit siehe kurz Grüneberg, in: Palandt, §  323 Rn.  32. 82 83

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den kleinen Schadensersatz oder Minderung. Es werden somit die »großen« Rechte, die faktisch eine Vertragsaufhebung bedeuten, nicht gewährt. Bei einer unerheblichen Pflichtverletzung stuft der Gesetzgeber das Interesse des Schuldners an dem Fortbestand des Vertrags höher ein als das Interesse des Gläubigers an der Vertragsbeendigung. In einer Abwägung mit dem Schuldnerinteresse erscheint das Gläubigerinteresse als untergeordnet. 88 Der Vertragspartner soll aus einer relativ kleinen Pflichtverletzung keinen relativ großen Vorteil ziehen können. 89 Die Beschränkung der Rechte des Gläubigers stellt letztlich eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben dar.90 Darüber hinaus erkennt die Rechtsprechung ein Übermaßverbot an, wonach es nach Treu und Glauben ausgeschlossen sei, bestimmte schwerwiegende Rechtsfolgen in Fällen nur geringfügiger Vertragsverletzung nicht eintreten zu lassen.91 Dabei knüpft das materielle Recht insoweit nicht an bestimmte quantitative Werte, sondern an qualitative Merkmale an.92 Es wird regelmäßig nicht die Rechtsstellung vollständig entzogen, sondern es findet eine Verlagerung auf andere Rechte statt. Weil das materielle Recht bereits nicht schützenswerte Rechte ausscheidet und eine Anspruchsberechtigung ablehnt, bedarf es auf der prozessualen Seite keines weiteren de minimis-Prinzips mehr. Insoweit ist das Prozessrecht neutral.93 (6) Ergebnis Eine rechtfertigende Begründung für die Abweisung von Klagen auf Minimalbeträge besteht nicht. Vielmehr stellen sich bereits das Problem der Definition der »Kleinigkeit« und die Frage der absoluten oder relativen Betrachtung. Darüber hinaus besteht ein nicht unerhebliches Missbrauchspotential, welches nur über einen Prüfungsaufwand der Rechtsprechung unterbunden werden könnte. Schließlich fehlt im Grundsatz nicht das Rechtsschutzbedürfnis für Klagen auf Minimalbeträge, weil das Prozessrecht der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, welches Ansprüche auf Kleinstbeträge gewährt. Ausnahmsweise sieht das materielle Recht einen Anspruchsausschluss aufgrund der Geringwertigkeit des Interesses vor. Das materielle Recht selbst fungiert insoweit bereits als Korrektiv, sodass es eines weiteren prozessualen Korrektivs, welches zu einem Rechtsausschluss in Gänze führt, nicht bedarf. Eine Schätzung nach §  287 ZPO beinhaltet zwar naturgemäß, dass eine Partei voraussichtlich Rechte verliert, weil die Schätzung zu hoch oder zu niedrig aus  Ernst, in: MünchKommBGB, §  281 Rn.  147.   Buß NJW 1998, 337, 343. 90   Buß NJW 1998, 337, 343. 91   BGH NJW 1983, 2437; ausführlich zum Rechtsmissbrauchsverbot Roth/Schubert, in: MünchKommBGB, §  242 Rn.  197 ff. 92   Buß NJW 1998, 337, 343. 93   Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 203. Damit ist nicht gesagt, dass bestimmte Normen der ZPO nicht einen eigenen Gerechtigkeitsgehalt beinhalten; Olzen/Kerfack JR 1991, 133, 134. 88 89

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fällt. Damit findet eine Abweichung vom materiellen Recht statt und diese Abweichung kann über einen Minimalbetrag hinausgehen.94 Allerdings ist das lediglich die Folge der richterlichen Schadensschätzung und nicht deren Zweck. Die Abweichung wird in Kauf genommen, weil die Schätzung der Wahrheit am nächsten kommt. Es wird also gerade versucht, das materielle Recht durchzusetzen, während eine Abweisung von Klagen auf Minimalbeträge genau das Gegenteil bewirken würde – die Durchsetzung des bestehenden Rechts würde verneint. bb)  Anerkennung prozesswirtschaftlicher Erwägungen Allerdings kann es nicht im Interesse einer geordneten Rechtspflege sein, sich mit Minimalforderungen zu befassen, wenn deren Klärung hohen zeitlichen und kostenmäßigen Aufwand erfordert. Es hat sich gezeigt, dass die Verfahrensvereinfachung durch eine Beschränkung der Sachverhaltsermittlung (oder der Rechtsprüfung) ein Anliegen des Gesetzgebers als Beitrag zur Effizienz des Zivilprozesses ist. Verfahrenswirtschaftliche Gründe sind in der ZPO anerkannt. Deutlich wird das eben an §  287 Abs.  2 ZPO, der die entsprechende Anwendung von §  287 Abs.  1 S.  1 und 2 ZPO anordnet, soweit unter den Parteien die Höhe einer Forderung streitig ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen. Die Bedeutung der Forderung und der Aufklärungsaufwand werden somit in ein Verhältnis gestellt. Letztlich entscheiden demzufolge verfahrenswirtschaftliche Gesichtspunkte, weil auch die Einsparung von Kosten intendiert ist.95 §  287 Abs.  2 ZPO kann jedoch gerade nicht als Argument für eine Abweisung solcher Klagen angeführt werden. Es wird nämlich nicht intendiert, dem Kläger eine Rechtsposition zu nehmen, sondern sie unter Berücksichtigung verfahrenswirtschaftlicher Aspekte durchzusetzen. §  287 ZPO ist mithin ein Beispiel dafür, dass der Gesetzgeber in bestimmten Fällen eine Schadensschätzung, mithin lediglich eine Annäherung an die Wahrheit, als zulässig, ja sogar sinnvoll, erachtet.96 Weitere Beispiele für eine nur eingeschränkte Untersuchung beinhalten die Kostenregelungen in §  91a und §  92 ZPO. §  91a ZPO regelt die Verteilung der Kosten bei Erledigung der Hauptsache. Das Gericht entscheidet darüber unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen. Damit enthält die Vorschrift eine Regelung zur Verfahrensvereinfachung,

  So zu Recht Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 209.   BGH NJW 2005, 2074, 2075. 96   Schiemann, in: Staudinger, vor §  249 Rn.  101. 94 95

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weil das Gericht eine weitere Sachaufklärung in der Regel97 nicht mehr oder lediglich beschränkt vornimmt.98 Aus Gründen verfahrenswirtschaftlicher Verhältnismäßigkeit wird demnach eine Beschränkung der Wahrheitsermittlung vorgenommen,99 weil die Rechtssache in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, die Rechtshängigkeit der Hauptsache mithin wegfällt. Die Verteilung der Kosten ist in §  92 ZPO ebenfalls teilweise in das Ermessen des Gerichts gestellt. Nach §  92 Abs.  1 S.  1 ZPO sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Die gegenseitige Kostenaufhebung kommt aber nicht nur in Betracht, wenn die Quote des Obsiegens und Unterliegens identisch ist, sondern auch bei nur ungefährer Gleichheit, um eine Vereinfachung der Kostenentscheidung herbeizuführen. Schließlich kann das Gericht einer Partei die Kosten vollumfänglich auferlegen, wenn diese teilweise erfolgreich war (§  92 Abs.  2 ZPO). Die Anwendung dieser Vorschrift steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts; sie dient nicht lediglich der Kostengerechtigkeit, sondern ebenfalls Vereinfachungsgründen.100 Die Einräumung des billigen Ermessens in den Kostenregelungen ist damit ein wirksames gesetzgeberisches Instrument zur Verfahrensvereinfachung. Instrumente zur Verfahrensvereinfachung sollten auf andere Konstellationen übertragen werden. Aktuelle gesetzgeberische Aktivitäten zeigen die Anerkennung verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen als Regelungsintention. Durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz101 erfolgte eine Änderung des §  284 ZPO. Das Gericht kann mit Einverständnis der Parteien bei der Beweisaufnahme von den Strengbeweisregeln absehen, um Beweise in der ihm geeignet erscheinenden Art aufzunehmen (§  284 S.  2 ZPO). Ausweislich der Gesetzesbegründung dient das der Vereinfachung der Verfahrensabläufe und der Beschleunigung des Prozesses.102 Schließlich ordnete der Gesetzgeber Klagebegehren nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung ein,103 und zwar einerseits durch die Verteilung der Streitsachen auf die Eingangsinstanzen Amts- und Landgericht, andererseits durch die Verfahrenserleichterungen im Verfahren nach billigem Ermessen (§  495a ZPO), schließlich durch die Anknüpfung der Statthaftigkeit der Berufung unter anderem an einen bestimmten Beschwerdewert (§  511 Abs.  2 Nr.  1 ZPO). Dabei geht es jedoch nicht um eine vollständige Beschränkung der Durchsetzung von 97   Zu den Ausnahmen siehe Gierl, in: Hk-ZPO, §  91a Rn.  43; Bergerfurth NJW 1992, 1655, 1657; im Einzelnen umstritten. 98   Lindacher, in: MünchKommZPO, §  91a Rn.  52; Lackmann, in: Musielak, §  91a Rn.  1; Bergerfurth NJW 1992, 1655, 1657. 99   Lindacher, in: MünchKommZPO, §  91a Rn.  52. 100   Lackmann, in: Musielak, §  92 Rn.  1; Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 209. 101   Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 24.8.2004, BGBl.  I 2004, S.  2198 ff. 102   Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz, BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 103   Insoweit richtig Schmieder ZZP 120 (2007), 199, 215.

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Rechten. In der Beschränkung oder dem Ausschluss eines Rechtsmittels liegt nämlich keine Rechtsverweigerung, weil ja bereits eine erstinstanzliche Rechtsgewährung stattgefunden hat. Rechtsvergleichend konnte ebenfalls die Anerkennung prozesswirtschaftlicher Erwägungen herausgearbeitet werden. Im englischen Prozess ist für die Ausübung der Kontrolle über das Beweisverfahren (active case management) das Verhältnis von Aufklärungsaufwand und Streitwert relevant. Der Aufklärungsaufwand darf zum Streitwert nicht außer Verhältnis stehen (vgl. Practice Direction 31A para. 2).104 cc)  Materiellrechtliche Lösung als Alternative Prozesswirtschaftliche Erwägungen sind daher anerkannt – es stellt sich die Frage nach der Methode der Berücksichtigung. Die Anerkennung prozesswirtschaftlicher Erwägungen bedarf als Lösungsmechanismus prozessualer Erleichterungen nur, wenn nicht bereits auf materieller Ebene eine Erleichterung in Betracht kommt. §  252 S.  2 BGB zeigt, dass Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkte für die Begründung eines materiellrechtlichen Anspruchs ausreichend sein können. Nach §  252 S.  2 BGB gilt der Gewinn als entgangen, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Das Verhältnis des §  287 Abs.  1 S.  1 ZPO zu §  252 S.  2 BGB erscheint pro­ blematisch, weil es sich um eine materiellrechtliche und prozessrechtliche Be­ weis­erleichterungen handelt, die jeweils eine Wahrscheinlichkeit als Voraus­ setzung haben. Die »freie Überzeugung« in §  287 Abs.  1 S.  1 ZPO entspricht nämlich in ihren Anforderungen der Wahrscheinlichkeit in §  252 S.  2 BGB.105 Für das Verhältnis der Vorschriften, deren »Doppelung« aus dem entstehungsgeschichtlichen Kontext zu erklären ist,106 gilt Folgendes: Auf der Grundlage von Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen (insbesondere der »besonderen Umstände«), die nach §  287 ZPO festzustellen sind,107 ist eine Wahrscheinlichkeitsprognose i. S. des §  252 S.  2 BGB vorzunehmen.108 Insoweit ist §  252 S.  2 ZPO vorrangig.109 Der Geschädigte kann freilich einen Schaden geltend ma-

  Siehe §  3 II. 6.   BGHZ 29, 393, 398 f. = NJW 1959, 1079; Schiemann, in: Staudinger, §  252 Rn.  18. 106   Oetker, in: MünchKommBGB, §  252 Rn.  30. 107   BGH NZG 2002, 529, 530; Oetker, in: MünchKommBGB, §  252 Rn.  30. 108   Teilweise wird insoweit auf §  252 S.  2 BGB und §  287 Abs.  1 ZPO kumulativ abgestellt; BGH NJW 2005, 3348, 3349. 109   Großerichter, S.  71; ähnlich Oetker, in: MünchKommBGB, §  252 Rn.  30; Schiemann, in: Staudinger, §  252 Rn.  18. 104 105

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chen, der über den nach §  252 S.  2 BGB anzunehmenden Schaden hinausgeht. Für dessen Nachweis gilt §  287 ZPO.110 Fraglich ist, ob die Vorschrift des §  287 ZPO aber nicht entbehrlich wäre, wenn eine Stärkung der materiellrechtlichen Grundlagen erfolgen würde. Insoweit könne eine Regelung in §  249 ff. BGB eingefügt werden, die folgenden Inhalt haben könnte: »Die Ermittlung des Schadens erfolgt unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nach billigem Ermessen.« Das Merkmal der Billigkeit würde sicherstellen, dass ein Schaden ersetzt werden kann, wenn über seine Höhe Unsicherheit besteht. Die Ausübung des billigen Ermessens würde im Streitfalle dem Richter zustehen. Insoweit wäre die Ausübung gerichtlicher Kontrolle oder richterliche Schadensfestsetzung gewährleistet. Gegenüber einer prozessualen Lösung hätte diese Lösung den Vorteil, dass die gesetzliche Anordnung bereits ausdrücklich einer außergerichtlichen Streitbeilegung zugrunde gelegt werden könnte.111 Nachteilig an einer solchen Lösung ist jedoch, dass die Ermittlung des Schadens nach billigem Ermessen lediglich erfolgen soll, wenn insoweit Streit unter den Parteien besteht. In diesem Fall kann die materiellrechtliche Lösung allein nicht helfen, weil eine Einigung der Parteien nicht möglich erscheint. Es müsste auf einen Dritten zur Festlegung zurückgegriffen werden. Im Zweifel würde es dann doch zu einem gerichtlichen Streitverfahren kommen. In den Fällen, in denen die Parteien sich ohne gerichtliches Verfahren einigen können, bedarf es keiner geänderten Regelung, weil die Parteien sich unter dem geltenden Regime einvernehmlich einigen können. Hier geht es aber gerade um eine Regelung, die verfahrenswirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigen kann. Das kann nicht im materiellen Recht angelegt sein, sondern es geht um eine originäre prozessuale Lösung als Erleichterung für das Gericht. dd) Fazit Eine Verweigerung der Rechtsgewährung allein aufgrund der Geringwertigkeit des Klageinteresses ist abzulehnen. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass in der ZPO verfahrenswirtschaftliche Gesichtspunkte anerkannt sind. Als Ergebnis können drei Punkte festgehalten werden. (1) Die Abweisung einer Klage kann nicht mit der Begründung erfolgen, es handele sich lediglich um einen Minimalbetrag, um den sich das Gericht nicht zu kümmern habe. (2) Die Nichtanerkennung von Ansprüchen aufgrund ihrer Geringwertigkeit muss im materiellen Recht erfolgen. (3) Aus verfahrenswirtschaftlichen Gründen können Beweisoder Verfahrenserleichterungen auszuweiten sein. Diese sind im Prozessrecht, nicht im materiellen Recht anzusiedeln. Hintergrund der verfahrenswirtschaft  Oetker, in: MünchKommBGB, §  252 Rn.  31.   Freilich können sich auch unter dem aktuellen Regime die Parteien an §  287 ZPO orientieren; allerdings würde eine Regelung im materiellen Recht die Bedeutung betonen. 110 111

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lichen Erwägungen ist, dass die zivilprozessualen Verfahren von der öffentlichen Hand subventioniert werden, weil die Gerichtsgebühren die tatsächlich entstehenden Kosten der Gerichte vor allem bei geringen Streitwerten nicht unbedingt decken.112 Zwar ist das Ziel des Prozesses die Durchsetzung des subjektiven Rechts, doch dürfen dabei die Kosten des Gerichtssystems insgesamt nicht vollkommen außen vor bleiben.113 5.  Lösungsvorschlag: Prozessuale Änderungen zur Berücksichtigung verfahrenswirtschaftlicher Gründe Fraglich ist, wie die verfahrenswirtschaftlichen Erwägungen konkret berücksichtigt werden können. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz des Zivilprozesses erscheint es bedenklich, dass geringe Streitwerte erhebliche Kosten verursachen. Dementsprechend muss Ansatzpunkt der Streitwert des Verfahrens sein. Nun soll daraus nicht folgen, dass geringe Streitsummen keinen Schutz verdienten.114 Vielmehr ist ein Ausgleich zwischen Effizienzgesichtspunkten und der Durchsetzung des subjektiven Rechts zu finden. Ansatzpunkt kann eine Schätzung bei Bagatellbeträgen sein.115 Angelehnt werden kann eine solche Regelung an §  495a ZPO, der die Möglichkeit des Verfahrens nach billigem Ermessen vorsieht, wenn der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt. Es könnte in das Ermessen des Gerichts gestellt werden, über die Höhe einer Forderung (zum Beispiel eines Schadens) nach billigem Ermessen zu entscheiden, wenn die geltend gemachte Forderung 600 Euro nicht übersteigt und ein Beweisaufnahmeverfahren im Hinblick auf die dadurch verursachten Kosten außer Verhältnis stünde. Ob das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, sollte in sein billiges Ermessen gestellt werde, sodass die Kalkulation einer Partei, dass ein Beweisaufnahmeverfahren nicht durchgeführt werde, unterbunden ist. Eine prozessuale Differenzierung der Klagebegehren nach ihrem Streitwert ist auch nicht nur dem deutschen Recht bekannt, sondern zeigt sich etwa auch in den englischen Civil Procedure Rules, die eine Einteilung der Verfahren auf drei tracks vorsehen. Im small claims track findet zum Beispiel Part 31 der Civil Procedure Rules, der disclosure and inspection of documents beinhaltet, keine Anwendung.116

112   Neben dem Prinzip der Kostendeckung ist nämlich auch die Verhältnismäßigkeit eine Grenze für die Höhe der Gebühren; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  83 Rn.  1; siehe auch Gottwald, in: FS Fasching, S.  181, 186. 113   Gottwald, in: FS Fasching, S.  181, 186. 114   Generell zur Erheblichkeit als Zulassungsschranke siehe Schmieder ZZP 120 (2007), 199 ff. 115   Prütting, in: MünchKommZPO, §  287 Rn.  36. 116   Siehe §  3 II. 2.

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§  11  Richterrechtliche Beweiserleichterungen Trotz der gesetzlich angeordneten Beweiserleichterungen können Lücken in der Tatsachenfeststellung verbleiben. Regelmäßig werden die richterrechtlich gewährten Beweismaßsenkungen dort verwendet, wo der Nachweis einer Rechtsgutsverletzung oder der Kausalität anderenfalls Schwierigkeiten bereiten würde. In diesen Fällen versuchen die Gerichte, durch Beweiserleichterungen im Einzelfall ein »gerechtes« Ergebnis sicherzustellen. Beweiserleichterungen durch Richterrecht werden mittlerweile in großem Maße vorgenommen.117 Als Stichworte, die insoweit genannt werden, deren Bedeutungen sich jedoch teilweise überschneiden, sind zu nennen: Anscheinsbeweis, tatsächliche Vermutungen, Beweisvereitelung. Die Terminologie ist nicht einheitlich, weil sie keinen vorgegebenen gesetzlichen Begrifflichkeiten folgt. Nicht zu den Beweiserleichterungen in dem hier verstandenen Sinne gehört der Indizienbeweis. Unter einem Indizienbeweis versteht man den Nachweis tatbestandsfremder Behauptungen, die den richterlichen Schluss auf das Vorliegen oder das Nichtvorliegen des bestrittenen Tatbestandsmerkmals rechtfertigen.118 Es wird aus den tatbestandsfremden Tatsachen eine Schlussfolgerung für ein Tatbestandsmerkmal gezogen. Zwar wird ein Indizienbeweis häufig im Falle einer ansonsten bestehenden Beweisnot herangezogen.119 Allerdings bezieht sich die Beweisnot dann (lediglich) auf die Führung des unmittelbaren Beweises.120 Über den Indizienbeweis als mittelbaren Beweis wird die Beweisnot überwunden. Voraussetzung für die Führung des Beweises ist die Überzeugung des Gerichts von der zu beweisenden Tatsache, weshalb der Indizienbeweis einen logischen Rückschluss auf den unmittelbaren Beweistatbestand zulassen muss.121

I. Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr In der Rechtsprechung findet sich, vor allem – aber nicht ausschließlich – als Folge der Beweisvereitelung, die Formulierung »Beweiserleichterungen bis hin 117   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  21a: Beweismaßsenkung geschehe in einem Umfang, der das Prinzip in Frage stelle. 118   Prütting, in: MünchKommZPO, §  284 Rn.  24; ähnlich Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  8 , 19, 74. 119   Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  9a. 120   Der Indizienbeweis ist gegenüber dem unmittelbaren Beweis allerdings nicht subsidiär. In der ZPO besteht nach allgemeiner Ansicht kein Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit; Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  29; Musielak/Stadler, Rn.  43; Prütting/Weth DB 1989, 2273, 2276; Stadler ZZP 110 (1997), 137, 145; a. A. Bachmann ZZP 118 (2005), 133, 140 ff. Allerdings kann der Beweiswert des Indizienbeweises geringer sein; BGH NJW 1995, 2856, 2857: regelmäßig geringerer Beweiswert; Berger, in: Stein/Jonas, §  355 Rn.  29; Musielak/Stadler, Rn.  43; Grunsky ArbuR 1990, 105, 111. 121   Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  9a.

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zur Beweislastumkehr«. Die Rechtsprechung erweckte dadurch den Eindruck, es handele sich um verschiedene Stufen eines Instruments, die auf der gleichen Rechtsgrundlage beruhten.122 In seinem Urteil vom 16.5.1972123 , in dem es um einen Schadensersatzanspruch wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers ging, führte der BGH aus, dass es zwar keinen Einfluss auf die Beweislast habe, wenn das Krankenblatt nur in nebensächlichen und für die Entscheidung unerheblichen Punkten nachlässig geführt worden sei. Eine Beweiserleichterung bis hin zur Umkehr der Beweislast sei aber gerechtfertigt, wenn die gewählte Behandlungsart wegen der damit verbundenen Gefahren für den Patienten eine genaue und gewissenhafte Diagnose erfordere, das Krankenblatt weder diese genaue Diagnose noch die für deren Beurteilung erforderlichen Angaben enthalte, sie aber nach ärztlichen Gepflogenheiten enthalten müsste. In einem Urteil vom 27.6.1978124 führte der BGH aus, dass sich für den Fall einer offensichtlich unzulänglichen ärztlichen Dokumentation besondere beweisrechtliche Konsequenzen ergäben, die sich nicht auf den Bereich einer gezielten Beweisvereitelung beschränken ließen. Diese beweisrechtlichen Konsequenzen folgten eigenen Grundsätzen. Es seien Beweiserleichterungen, die bis zur Umkehr gehen könnten, immer dann und soweit geboten, als nach tatrichterlichem Ermessen dem Patienten die (volle) Beweislast für einen Arztfehler angesichts der vom Arzt verschuldeten Aufklärungshindernisse billigerweise nicht mehr zugemutet werden könnte. In der Folgezeit verwendete der BGH diese Formulierung mehrfach.125 Die Literatur äußerte sich hingegen von Anfang an kritisch zu dieser Konstruktion, denn durch die Formulierung »Beweiserleichterung bis hin zur Beweislastumkehr« werde nicht deutlich, an welcher Stelle der BGH ansetzen möchte: bei der Beweiswürdigung oder der Beweislast? Aus diesem Grund wird die Rechtsprechung als »etwas rätselhafte Formulierung«126 , »unscharf und irreführend«127 oder »wenig hilfreich«128 bezeichnet.129 Beweiserleichterungen gehören dem Prozessrecht an, während die objektive Beweislast jeweils dem Recht der Materie zuzuordnen ist, dessen Grundlage unklar geblieben ist, in der Regel also dem materiellen Recht.130 Über eine Vermischung mit der Beweiswürdigung   Nunmehr von dieser Formulierung Abstand nehmend BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012 f. 123   BGH NJW 1972, 1520. 124   BGHZ 72, 132, 139 = NJW 1978, 2337, 2339. 125   BGHZ 85, 212, 215 = NJW 1983, 333, 334; BGHZ 99, 391, 395 = NJW 1987, 1482, 1484; BGHZ 104, 323, 333 = NJW 1988, 2611; NJW 1997, 796, 797; NJW 1998, 79, 81. 126   Weber, S.  212. 127   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  22. 128   Musielak, in: FG BGH, S.  193, 211. 129   Zur Kritik siehe auch Stürner NJW 1979, 1225, 1229 f. 130   BGH NJW-RR 1988, 831; grundlegend Rosenberg, Beweislast, S.  77 ff., insbesondere S.  81. 122

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darf die Beweislastverteilung nicht durch das Prozessrecht bestimmt werden. Freilich bestehen zwischen beiden Ebenen Wechselwirkungen, doch sind sie methodisch zu unterscheiden. Je geringer die Anforderungen an die Beweisführung bzw. das Beweismaß, desto seltener werden Beweislastentscheidungen.131 Schließlich handelt es sich bei der Beweiswürdigung um eine Tatfrage, hingegen muss die Verteilung der Beweislast abstrakt-generell erfolgen. Die Beweislastverteilung ergibt sich aus dem materiellen Recht und steht vor Beginn des Prozesses fest.132 Insbesondere erscheint es im Sinne eines fairen und für die Parteien vorhersehbaren Prozesses nicht angemessen, dem Richter die Verteilung der objektiven Beweislast ad hoc im Prozess zu überlassen. Die Lösung der Rechtsprechung bedeutet maximale Richtermacht, die bedenklich wirkt, weil den Parteien kaum eine Möglichkeit gegeben ist, die Ausübung der Richtermacht vorherzusehen. Mittlerweile hat der BGH jedenfalls Einschränkungen vorgenommen. In seinem Urteil vom 27.4.2004133 stellt er klar, dass es nicht in der Verantwortung des Tatrichters liege, im Einzelfall über die Zubilligung von Beweiserleichterungen sowie über Umfang und Qualität der eintretenden Beweiserleichterungen zu entscheiden. In der Sache gehe es um die Umkehr der Beweislast. Würden die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr vorliegen, dürfe sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, dem Patienten statt der vollen Beweislastumkehr lediglich abgestufte Beweiserleichterungen zu gewähren. Ein »Ermessen« des Tat­richters bei der Anwendung von Beweislastregeln würde dem Gebot der Rechtssicherheit zuwiderlaufen, die Gleichheit der Rechtsanwendung infolge richterlicher Willkür wäre gefährdet.134 Gleichwohl verwendete er in einem anderen Urteil wiederum die Formulierung der »Beweiserleichterungen [.  .  .], die unter Umständen bis zur Umkehr der Beweislast gehen können«.135 Aus den bereits dargelegten Gründen ist diese Einordnung jedoch abzulehnen.

II. Anscheinsbeweis Eine richterrechtlich entwickelte Senkung des Beweismaßes stellt der Anscheinsbeweis (prima facie-Beweis) dar. In dem Anscheinsbeweis sind vor allem die tatsächlichen Vermutungen des gemeinen Rechts (sog. Präsumtionen) wieder aufgegangen.136 Trotz der allgemeinen Verwendung des Anscheinsbe-

  Prütting, S.  66.   Thole JR 2011, 327, 332. 133   BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011, 2012 f. 134   Laumen NJW 2002, 3739, 3741; Leipold, Beweismaß und Beweislast, S.  21 f. 135   BGH NJW 2006, 434, 436 Rn.  23. 136   Dänzer, S.  96 ff.; Katzenmeier, S.  429. Zur Verwendung sog. tatsächlicher Vermutungen über den Anscheinsbeweis hinaus siehe §  11 III. 131

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weises in der Gerichtspraxis137 und seiner Akzeptanz im Schrifttum sind Einzelheiten ungeklärt. Leipold bezeichnet den Anscheinsbeweis als »Unruhestifter im Bereich des Beweisrechts«138 , Lepa sieht in der Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises eine »recht kühne Tat des Richters«139. Nach Walter kann auf den Anscheinsbeweis als Beweiserleichterung bzw. als Begründung für eine Beweismaßreduzierung verzichtet werden,140 nach Voit handelt es sich um einen Notbehelf, der weitgehend entbehrlich ist.141 Eine gesetzliche Anordnung des Anscheinsbeweises findet sich ausweislich der Gesetzesbegründung142 in §  371a Abs.  1 S.  2 ZPO, wonach eine Vermutung für die Echtheit einer in elektronischer Form vorliegenden Erklärung gegeben ist, wenn sich der Anschein der Echtheit aufgrund der Prüfung nach dem Signaturgesetz ergibt. Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung ist somit, dass ein elektronisches Dokument mit dem Schlüssel des Inhabers einer Signaturkarte signiert ist. Der Gegenbeweis kann lediglich dadurch geführt werden, dass Tatsachen vorgetragen werden, die ernstliche Zweifel an der Urheberschaft des Inhabers des Signaturschlüssels begründen. Die Erleichterung, die §  371a Abs.  1 S.  2 ZPO erbringt, besteht darin, dass der Beweisführer anders als im Rahmen von §  416 ZPO nicht den Vollbeweis über die Urheberschaft des Inhabers der Signaturkarte führen muss. Fraglich ist, ob es sich bei der Anordnung wirklich um einen Anscheinsbeweis handelt, denn an einem typischen Geschehensablauf fehlt es.143 Aus diesem Grund ist entgegen dem Wortlaut eine Einordnung als gesetzliche Beweisregel zu befürworten.144 Für die Frage nach dem Wesen des Anscheinsbeweises ist die Regelung des §  371a Abs.  1 S.  2 ZPO damit nicht weiterführend. Im Folgenden werden zunächst Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Anscheinsbeweises analysiert, um sodann eine dogmatische Einordnung vorzunehmen. Nur mit einer dogmatischen Verankerung ist die Anwendung des Anscheinsbeweises gerechtfertigt. Auf Grundlage der dogmatischen Einordnung kann schließlich gewürdigt werden, ob der Anscheinsbeweis zur Lösung von Beweisproblematiken geeignet ist. 137   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29; ausführlich dazu Musielak, in: FG BGH, S.  193, 198 ff. 138   Leipold, Beweismaß und Beweislast, S.  11. 139   Lepa DRiZ 1966, 112, 114. 140   Walter, S.  259. 141   Voit Sonderheft VersR 1990, 16, 17. 142   Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG), BTDrucks. 15/4067, S.  34. 143  So bereits die Kritik des Bundesrats zu dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr, BT-Drucks. 14/4987, S.  37. 144   Berger, in: Stein/Jonas, §  371a Rn.  15; Huber, in: Musielak, §  371a Rn.  7.

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1.  Voraussetzungen und Rechtsfolgen Der Anscheinsbeweis (prima-facie-Beweis) bedeutet, dass bei typischen Geschehensabläufen derjenige Verlauf, der bei der gegebenen Sachlage der Regel des Lebens, dem Üblichen, Gewöhnlichen entspricht, kraft freier Würdigung als erwiesen anzusehen ist.145 Dabei bedeutet Typizität nicht, dass die Ursächlichkeit einer bestimmten Tatsache für einen bestimmten Erfolg bei allen Sachverhalten dieser Fallgruppe immer vorhanden ist; sie muss aber so häufig gegeben sein, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist.146 Die Typizität des Erfahrungssatzes muss den Schluss auf die zu beweisende Tatsache rechtfertigen. Kommen zwei Möglichkeiten des Geschehensablaufs in Betracht, von denen eine wahrscheinlicher ist als die andere, ist das nicht ausreichend.147 Bloße Wahrscheinlichkeiten im Einzelfall reichen ebenfalls nicht aus. Daher greift der Anscheinsbeweis bei individuellen Willens­ entscheidungen nicht ein,148 soweit nicht wiederum Ausnahmen bestehen.149 Voraussetzung für den Anscheinsbeweis sind Erfahrungssätze von hinreichender Tragweite, wobei das nicht bedeutet, dass nicht die rein abstrakte Möglichkeit eines anderen Verlaufs besteht. Der Anscheinsbeweis führt häufig dazu, dass ein konkreter Verlauf im Einzelnen nicht aufgezeigt werden muss. Somit werden Informationslücken mithilfe der allgemeinen Lebenserfahrung überbrückt.150 Es werden Zweifel, die trotz einer überwiegenden oder hohen Wahrscheinlichkeit verblieben sind, durch den Anscheinsbeweis ausgeräumt.151 Seinen vorrangigen Anwendungsbereich hat der Anscheinsbeweis in der Feststellung eines Ursachenzusammenhangs und des entsprechenden Verschuldens.152 Nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises kann Kausalität angenommen werden, wenn der Schädiger eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat, die der Verhütung einer voraussehbaren (typischen) Gefährdung dient und sich diese Gefahr verwirklicht.153 145   Grundlegend bereits RGZ 21, 104, 110; BGHZ 2, 1, 5 = NJW 1951, 653, 654; 2006, 2262, 2263; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  129. 146   BGHZ 160, 308, 313 = NJW 2004, 3623; siehe zum Erfordernis der Typizität darüber hinaus BGH NJW 2001, 1140, 1141; 1996, 1828; keine Typizität, wenn eine Sachverhaltskonstellation durch die besonderen Umstände des Einzelfalls geprägt ist; BGH NJW 1993, 3259, 3260; zur Typizität Lepa NZV 1992, 129, 130. 147   BGH NJW-RR 1988, 789, 790; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  129. 148   BGH NJW 2002, 1643, 1645: vorsätzliche Verwirklichung einer Straftat; BGH NJW 1987, 1944: Freitod. 149   BGH NJW 1992, 560, 562: Beachtung eines fehlenden deutlichen Gefahrenhinweises auf einem Produkt; zu den Ausnahmen siehe Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  30. 150   Waterstraat ZZP 118 (2005), 459, 464. 151   Stadler/Bensching JZ 2000, 790. 152   Stadler/Bensching JZ 2000, 790, 791. 153   Siehe bereits RGZ 21, 104, 110; BGH NJW 1994, 945, 946; 1984, 432, 433; 1983, 1380; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  132.

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Liegen die genannten Voraussetzungen vor, wird von bestimmten Tatsachen (sog. Ausgangstatsachen oder Anscheinsbasis) auf das Vorliegen anderer Tatsachen geschlossen, das Gericht wird den (vorläufigen) Beweis als erbracht ansehen.154 Es wird von bestimmten Tatsachen auf das Vorliegen anderer Tatsachen oder Umstände geschlossen, wenn zwischen diesen aller Erfahrung nach eine so enge Verbindung besteht, die es rechtfertigt, ihr Vorliegen ohne weiteren Nachweis zu unterstellen.155 Die Ausgangstatsachen müssen feststehen, d. h. unstreitig oder bewiesen sein.156 Die Beweislast für die Ausgangstatsachen trifft diejenige Partei, die den Anscheinsbeweis daraus herleiten will.157 Die beweisbelastete Partei muss somit zunächst einen typischen Geschehensablauf darlegen und beweisen. Über den Anscheinsbeweis kann nach der Rechtsprechung nicht nur auf den Ursachenzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg geschlossen werden, sondern auch von dem eingetretenen Erfolg auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache.158 An dieser Folgerung erscheint jedoch problematisch, dass sie einer Haftung für typisches Verhalten nahekommt.159 Bereits der Nachweis einer Rechtsgutverletzung würde bei einem typischen Geschehensablauf den Prozessgegner zwingen, die Möglichkeit einer abweichenden Ursache darzulegen und zu beweisen. In einem solchen Fall würde der Anscheinsbeweis tendenziell – jedenfalls in seiner Stärke, nicht rechtsdogmatisch – einer Beweislastumkehr ähneln. Daher ist es erforderlich, die Anforderungen an einen typischen Geschehensablauf sehr hoch anzusetzen, sodass der Schluss von einem Erfolg auf ein bestimmtes ursächliches Verhalten sehr zurückhaltend anzunehmen sein wird. Es gibt nämlich nur wenige Fälle, in denen eine Rechtsgutverletzung typischerweise auf nur eine Ursache zurückgeführt werden kann. Jedenfalls in Situationen, in denen der eingetretene Erfolg nicht von weiteren Anhaltspunkten, die für einen typischen Kausalverlauf sprechen, unterstützt wird, führt das Institut des Anscheinsbeweises nicht weiter.160 2. Erfahrungssätze als Grundlage des Anscheinsbeweises: Notwendige Differenzierungen Der Anscheinsbeweis baut auf Erfahrungssätzen161 auf. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es Erfahrungssätze von ganz unterschiedlicher Wirkung   BGH NJW 2006, 2262, 2263; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  38 ff.   BGHZ 2, 1, 5. 156   Insoweit ist die Sachverhaltsaufklärung vollständig vorzunehmen; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29. 157   BGHZ 7, 198, 201. 158   So bereits BGH NJW 1956, 1638; siehe auch BGH NJW 1995, 528, 529; 1991, 230, 231. 159   Stadler/Bensching JZ 2000, 790, 791. 160   So ebenfalls Stadler/Bensching JZ 2000, 790, 791. 161   Gemeint sind hier die Erfahrungssätze, die der Feststellung der Tatsachen des Unter­ 154 155

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und Tragfähigkeit gibt, die sich in ihrem Beweiswert unterscheiden.162 Der Beweiswert reicht von dem vollen Beweis über den Beweis des ersten Anscheins bis hin zur Wertung lediglich eines Indizes innerhalb der Gesamtwürdigung.163 Weil nicht alle Erfahrungssätze einen Anscheinsbeweis begründen können, ist zu differenzieren.164 a)  Zwingende Erfahrungssätze Erfahrungssätze sind zwingend, wenn sie nach menschlichem Ermessen den Schluss auf nur eine Tatsache zulassen. Sie ähneln den sog. Natur- und Denkgesetzen und können mit ihnen in ihrer Wirkung auf eine Stufe gestellt werden, weil sie ausnahmslos gelten. Ein Beispiel dafür bildet der Satz, dass niemand an zwei Orten gleichzeitig sein kann.165 Die zwingenden Erfahrungssätze dienen nicht als Grundlage für einen Anscheinsbeweis, weil sie zur Führung des Vollbeweises ohne die Besonderheit führen, auf einen ersten Anschein zu rekurrieren.166 b) Erfahrungsgrundsätze Erfahrungsgrundsätze lassen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von einer Tatsache auf einen anderen Umstand schließen.167 Dies bedeutet, dass sie nicht ausnahmslos gelten. Ihnen liegt keine wissenschaftliche Verifizierung zugrunde.168 Es handelt sich (lediglich) um einen typischen Geschehensablauf, der mit hoher Wahrscheinlichkeit den Schluss von der einen auf die andere Tatsache zulässt. Der Geschehensablauf muss sich durch seine Regelmäßigkeit, Üblich-

satzes dienen; Diederichsen ZZP 81 (1968), 45, 47. Nicht behandelt werden an dieser Stelle die Erfahrungssätze, die ähnlich den Rechtsnormen als Obersätze eines Syllogismus für die Beurteilung der Tatsachen Verwendung finden, wie die allgemeinen Regeln, Grundsätze und Erkenntnisse in Verkehrsleben (Verkehrssitte, §§  157, 242 BGB), Handel (Handelsbräuche, s. §  346 HGB, §  114 GVG), Gewerbe, Kunst, Wissenschaft und Technik; siehe dazu Leipold, in: Stein/Jonas, §  284 Rn.  16 f.; Prütting, in: MünchKommZPO, §  284 Rn.  44. 162   Grundlegend dazu die Untersuchung von Hainmüller, S.  26 ff.; siehe auch Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  12; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  56 ff. 163   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  12. 164  Hinsichtlich der Systematisierung der Erfahrungssätze wird Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  56 ff. gefolgt; siehe auch schon Hainmüller, S.  26 ff. 165   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  57. 166   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  57. 167   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  24 bezeichnet die Erfahrungssätze, die eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Geschehensablauf begründen, als einfache Erfahrungssätze; mithin verwendet er die Terminologie anders, ohne dass dies zu einem inhaltlichen Unterschied führt. 168   Siehe aber Walter ZZP 90 (1977), 270, 280: Es gibt auch Erfahrungssätze, die wissenschaftlich begründet sind und dementsprechend eine nahezu nicht widerlegbare Sicherheit vermitteln.

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keit, Gewöhnlichkeit und Häufigkeit auszeichnen.169 Diese Erfahrungsgrundsätze werden zur Führung des Anscheinsbeweises herangezogen, weil sie eine hinreichende Tragfähigkeit über den Einzelfall hinaus besitzen.170 Der erste Anschein spricht zum Beispiel für Fahrlässigkeit des Kraftfahrers, wenn er ohne erkennbaren Grund auf die Gegenfahrbahn gerät und dort kollidiert.171 c)  Einfache Erfahrungssätze Die einfachen Erfahrungssätze weisen demgegenüber nur eine geringe Wahrscheinlichkeit auf.172 Daher können sie einen Anscheinsbeweis grundsätzlich nicht begründen, weil die richterliche Überzeugung damit nicht hergestellt werden kann. Sind auf einem Sparkonto Jahrzehnte keine Eintragungen mehr vorgenommen, kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, das Sparkonto sei aufgelöst oder weise kein Guthaben mehr auf.173 In diesen Fällen fehlt es an der erforderlichen Typizität. Es würde eine Haftung für wahrscheinliches Verhalten eingeführt, für die es jedoch keine Grundlage gibt.174 Eine solche Haftung würde voraussetzen, dass der Anscheinsbeweis bereits bei wahrscheinlichen Geschehensabläufen eingreift. Dies ist jedoch nicht der Fall, sondern erforderlich ist ein typischer Geschehensablauf, der bei einfacher Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist. Davon zu trennen ist der Gesichtspunkt, dass mehrere einfache Erfahrungssätze zusammen den vollen Beweis begründen können. Sie beinhalten dann zwar nicht allein einen Beweiswert, der die volle richterliche Überzeugung begründet, sondern sind ein wesentlicher zu berücksichtigender Umstand innerhalb der Beweiswürdigung.175 Die sich ergänzenden Erfahrungssätze führen mitunter zu einem sog. Indizienbeweis.176 Dabei handelt es sich aber nicht um einen Anscheinsbeweis, weil die Indizien nicht für einen typischen (Gesamt-) Geschehensablauf stehen.177

  BGH NJW 1987, 1944; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  42.   Leipold, in: Stein/Jonas, Rn.  131; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  58 f. 171   BGH NJW-RR 1986, 383, 384. 172   Gegen eine Abgrenzung von Erfahrungsgrundsätzen und »einfachen« Erfahrungssätzen Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  18: Abgrenzung sei rein deskriptiver Natur und funktioniere daher auch nicht. 173   BGH NJW 2002, 2707, 2708. 174   Kritisch zum Anscheinsbeweis, weil ein der Gefährdungshaftung angenäherter Haftungstatbestand geschaffen werde: Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  30a. 175   BGHZ 2, 82, 85 = NJW 1951, 839, 840; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  12. 176   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  25. 177   Daher unzutreffend BGHZ 100, 31, 34 f. = NJW 1987, 2876, 2877 f., wo aus mehreren Umständen zusammen auf einen typischen Geschehensablauf abgestellt wurde (Verwendung der illegal hergestellten Schallplattenhüllen entsprechend ihrer Zweckbestimmung); ebenfalls die Entscheidung als unzutreffend einordnend Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29. 169

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3. Gegenbeweis Der Gegner kann den Anschein durch einen Gegenbeweis erschüttern, wozu es ausreichend ist, dass die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs dargelegt und bewiesen wird.178 Die Tatsachen, die die Möglichkeit des anderweitigen Geschehensablaufs begründen, müssen zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen,179 sodass insoweit eine gesonderte Beweiswürdigung erforderlich sein kann. Der Gegenbeweis kann nicht durch eine Parteivernehmung erbracht werden (§  445 Abs.  2 ZPO). 4.  Dogmatische Einordnung Die dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises ist umstritten.180 Während die herrschende Meinung seine Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigung sieht,181 sehen andere sein Wesen in einer Senkung des Beweismaßes182 . Ferner wird der Anscheinsbeweis zum Teil dem materiellen Recht zugeordnet.183 Nach Rabel gehört der Anscheinsbeweis zu den »zwischen Beweiswürdigung und Beweislastnorm schillernde[n] Erscheinungen«.184 Schließlich wertet Kollhosser den Anscheinsbeweis als gewohnheitsrechtliche, contra legem entstandene Beweisregel.185 Die Frage der Einordnung des Anscheinsbeweises in das Prozessrecht bzw. in das materielle Recht hat durchaus praktische Konsequenzen. Gehört der Anscheinsbeweis zum Prozessrecht, unterliegt er der lex fori, sodass ein deutsches Gericht ihn bei der Anwendung ausländischen Rechts anzuwenden hat.186

  BGHZ 6, 169, 170 f. = NJW 1952, 1137; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  23.   BGHZ 6, 169, 170 f. = NJW 1952, 1137; NJW 1991, 230, 231. 180   Überblick bei Prütting, S.  97 ff.; zur fehlenden dogmatischen Fundierung siehe auch Katzenmeier, S.  430 ff. 181  BGHZ 100, 31, 34 = NJW 1987, 2876, 2877; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  50, 55; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  16, 32; Hainmüller, S.  38 f.; Jungmann ZZP 120 (2007), 459, 468. 182   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  24; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  133 (der allerdings auch von der Beweiswürdigung spricht: Rn.  141); Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  39; Rommé, S.  139. 183   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29; Diederichsen VersR 1966, 211, 215 ff.; teilweise auch Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  24 (für die Kausalität deliktischen Verhaltens). 184   Rabel Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht 12 (1923), 428, 442; sich anschließend Musielak, S.  55. 185   Kollhosser, S.  93 f., 107 ff.; ders. AcP 165 (1965), 46, 57, 80. 186   BGH NJW 1985, 554 (für die Anwendung in Haftpflichtprozessen nach der CMR); Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29; ausführlich Thole IPRax 2010, 285 ff., der den Anscheinsbeweis der lex fori zuordnet. 178

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a)  Keine Beweislastumkehr Nicht mehr vertreten wird eine Umkehr der Beweislast. Gegen eine Einordnung als Umkehr der Beweislast spricht vor allem, dass über die Grundsätze des Anscheinsbeweises eine richterliche Feststellung im Hinblick auf den in Frage stehenden Sachverhalt getroffen wird. Nach Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis liegt somit eine tatsächliche Unsicherheit nicht mehr vor, sondern sie wird gerade dadurch vermieden. Die Frage der Beweislast stellt sich erst, wenn eine Tatsache unklar geblieben ist. Beweislastentscheidungen und Entscheidungen aufgrund richterlicher Überzeugungsbildung, die auch über den Anscheinsbeweis herbeigeführt werden kann, schließen sich gegenseitig aus.187 Schließlich ist gegen eine Veränderung der Beweislast durch den Anscheinsbeweis einzuwenden, dass dieser durch einen Gegenbeweis erschüttert werden kann, hingegen der Beweis des Gegenteils nicht erforderlich ist. b) Rechtsprechung Die Aussagen des BGH zur Rechtsnatur des Anscheinsbeweises sind nicht eindeutig. Einerseits gehen sie in Richtung einer Beweismaßsenkung, andererseits wird eine Beweismaßsenkung explizit abgelehnt, indem in den Fällen des Anscheinsbeweises die volle richterliche Überzeugung verlangt wird.188 Allerdings wird vom BGH in dem gleichen Satz festgestellt, dass es sich bei dem Anscheinsbeweis um einen typischen Geschehensablauf handelt, der unter Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze die Bejahung der Beweisfrage nahelege. Der BGH betont, dass bei Unfällen durch Auffahren der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden spreche.189 Dieser erste Anschein werde nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, für den die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheine, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen werde. In einer anderen Konstellation nimmt der BGH einen typischen Geschehensablauf an, wenn der Kläger in unmittelbarer Nähe der Gefahrenstelle, wie sie sich aus dem Loch in der Pflasterung des Gehwegs und den lose darum herumliegenden Pflastersteinen ergab, stürzt. Ein solcher Geschehensablauf lege nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises den Schluss nahe, dass die verkehrswidrige Gefahrenquelle Ursache des Sturzes war.190 Das verkürze zugleich die Darlegungslast des Klägers. Er müsse somit weder vortragen noch beim Bestreiten der Beklagten zur Überzeugung des Gerichts beweisen, wie es im Einzelnen zu dem Unfall gekommen sei. Den für ihn streitenden Beweis des ersten Anscheins für eine Unfallursächlichkeit der Ge187   Prütting, in: MünchKommZPO, §   286 Rn.   51; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  33. 188   So etwa ausdrücklich BGH NJW 1982, 2668. 189   So schon vorher BGH NJW 1982, 1595; NJW-RR 1989, 670, 671; VersR 1964, 263. 190   BGH NJW 2005, 2454; mit Verweis auf BGH VersR 1962, 449, 450.

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fahrenstelle zu erschüttern, sei vielmehr Sache der Beklagten. Sie habe daher zumindest die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs, das heißt eines nicht auf die Gefahrenstelle zurückgehenden Unfallhergangs, darzutun und gegebenenfalls nachzuweisen. Inhaltlich zeigen die Entscheidungen, dass der BGH bei dem Anscheinsbeweis nicht die volle Überzeugung des Gerichts verlangt, sondern weniger als beim gewöhnlichen Beweis (Vollbeweis). Liegt ein Umstand lediglich nahe, kann er nicht zugleich zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen.191 Systematisch stellt der BGH dem Anscheinsbeweis den Vollbeweis gegenüber, woraus die Tendenz entnommen werden kann, es handele sich um eine geringere Überzeugung als beim gewöhnlichen Beweis. Dagegen sprechen die expliziten Aussagen, eine Beweismaßsenkung sei mit der Anwendung des Anscheinsbeweises nicht verbunden. c)  Meinungsstand im Schrifttum Die Zuordnung zur Beweiswürdigung wird damit begründet, dass es sich bei dem Anscheinsbeweis lediglich um die Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung durch den Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung handele.192 Die Verwertung von Erfahrungssätzen sei ein selbstverständlicher Bestandteil der richterlichen Überzeugungsbildung. Ein hinreichendes Urteil über die Tatsachen könne sich der Richter nur bilden, wenn er seine Lebenserfahrung und das Erfahrungswissen seiner Zeit verwerte. Ihre Verwertung sei konsequent praktizierte Beweiswürdigung. Weil die Erfahrungssätze die volle Überzeugung des Gerichts begründen müssten, läge kein Verstoß gegen §  286 Abs.  1 ZPO vor.193 Aus diesem Grund sei besonderer Wert darauf zu legen, dass lediglich die Sätze der Lebenserfahrung einem Anscheinsbeweis dienten, deren Beweisstärke zur Vermittlung der vollen Überzeugung ausreiche.194 Über die Prinzipien des Anscheinsbeweises werde in den Fällen objektiv bestehender Informationsdefizite zwar eine Beweiserleichterung gewährt, aber im Rahmen der Grundsätze der freien Beweiswürdigung. Letztlich sei es eine besondere Form der mittelbaren Beweiswürdigung.195 Ein Verstoß gegen die Grundsätze der freien Beweiswürdigung wird hingegen von Greger 196 angenommen, weil die Regeln des Anscheinsbeweises für den

  Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  134.   Prütting, in: MünchKommZPO, §   286 Rn.   48; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  16, 32. 193   Prütting, in: MünchKommZPO, §   286 Rn.   50; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  16, 32 ff. 194   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  53. 195   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  48. 196   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29. 191

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Richter bindend seien.197 Der Richter sei nach §  286 Abs.  1 ZPO in der Beweiswürdigung frei, sodass der Anscheinsbeweis nicht Bestandteil der freien Beweiswürdigung sein könne. Greger folgert, dass der Anscheinsbeweis nicht der freien Beweiswürdigung, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen sei.198 Inhaltlich soll es sich dabei um eine materiellrechtliche Anscheinshaftung handeln, d. h. um einen eigenen richterlich gebildeten Tatbestand.199 Das Beweisergebnis unterscheide sich dann nicht von dem gewöhnlichen Beweis, denn der Anscheinsbeweis führe zur vollen richterlichen Überzeugung i. S. des §  286 ZPO. Nach anderer Ansicht wird das Beweismaß gesenkt, weil Zweifel an dem Anschein erst beachtlich seien, wenn sie ernstlich sind.200 Darin liege der Un­ terschied zum eigentlichen Vollbeweis. Eine Beweisstärke, die dem Zweifel Schweigen gebiete, werde nicht erreicht. Der Schluss auf die zu beweisende Tatsache schließe andere Möglichkeiten des Geschehensablaufs gerade nicht aus, sondern kalkuliere sie mit ein.201 Die Zulässigkeit der Beweismaßsenkung ergebe sich aus Gewohnheitsrecht und zeige den Unterschied zum Indizienbeweis, der am regulären Beweismaß orientiert sei.202 Die Rechtfertigung für den Anscheinsbeweis liege daher nicht in §  286 ZPO, sondern beruhe auf richterrechtlicher Rechtsfortbildung, mittlerweile gewohnheitsrechtlicher Anerkennung.203 §  286 ZPO sei Grundlage lediglich insoweit, als dass die freie Beweiswürdigung dem Richter Schlussfolgerungen aufgrund von Indizien und Erfahrungssätzen gestatte.204 Die gewohnheitsrechtliche Senkung des Beweismaßes sei lediglich angezeigt, wenn es nach den materiellrechtlichen Tatbestandsmerkmalen zulässig sei, sich mit einer Feststellung zu begnügen, die nicht alle Einzelheiten eines Geschehens aufklärt, sondern eine generelle Feststellung ausreichen lässt (»Irgendwie-Feststellung«).205 Ein solches Vorgehen sei bei dem Nachweis von 197   Aufhebung durch das Revisionsgericht wegen der Nichtanwendung der Regeln des Anscheinsbeweises trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen: BGHZ 100, 31, 34 f.; kritisch dazu (Verstoß gegen §  286 Abs.  2 und §  559 ZPO) Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  23. 198   Greger, S.  179 ff.; ders. VersR 1980, 1091, 1102 f.; ähnlich Diederichsen ZZP 81 (1968), 45, 64 ff. Die Wertung als rein materiellrechtliches Institut wurde vor allem in den 70er und 80er Jahren vertreten. 199   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29 verweist auf andere Beweiserleichterungen, deren Grundlage die Rechtsprechung mittlerweile im materiellen Recht sehe. Gegen die materiellrechtliche Einordnung Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  35: Es könne zwar zu einer Haftungsverlagerung kommen, die aber nicht dem materiellen Recht entspringe. 200   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  24; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  133; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  39; Rommé, S.  139. 201   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  133. 202  Obwohl Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  133 eine Beweismaßsenkung annimmt, sieht er den Anscheinsbeweis als eine besondere Art des Indizienbeweises (Rn.  129). 203   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  135, 141; siehe bereits RGZ 69, 432, 434; tendenziell ebenfalls RGZ 130, 357, 359. 204   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  140. 205   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  136.

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Kausalität und Verschulden möglich, weil die materiellen Anspruchsgrundlagen entwertet würden, wenn eine detaillierte Aufklärung verlangt würde. d) Würdigung Die Rechtsprechung ordnet den Anscheinsbeweis in die Beweiswürdigung ein und betont, dass die volle richterliche Überzeugung erlangt werden müsse. Die Analyse der Entscheidungen zeigt dessen ungeachtet, dass inhaltlich ein Unterschied zum Vollbeweis konstatiert wird. Aus diesem inhaltlichen Unterschied zum Vollbeweis kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, es müsse sich um eine Beweismaßsenkung handeln. Zutreffend ist, dass ein Unterschied zum Vollbeweis besteht, der sich aus den dargestellten Besonderheiten ergibt. Fraglich ist jedoch, ob der Unterschied in der Beweisstärke liegt. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Anscheinsbeweis sind zwei Gesichtspunkte, die sich auf den ersten Blick widersprechen, auf den zweiten Blick jedoch die Rechtsnatur verdeutlichen. Einerseits ist die Verwendung von Erfahrungssätzen ein immanenter Bestandteil der richterlichen Beweiswürdigung, andererseits ergeben sich bei dem Anscheinsbeweis Besonderheiten, weil sich der Richter mit einer Sachverhaltsaufklärung zufrieden gibt, die nicht alle Details beinhaltet. Der entscheidende Unterschied zum gewöhnlichen Beweis liegt darin, dass nicht alle Einzelheiten eines Geschehens aufgeklärt werden müssen, sondern eine generelle Feststellung ausreichend ist.206 Der Anscheinsbeweis ist ein vorläufiger Beweis, der sich dadurch von einem Vollbeweis oder strikten Beweis unterscheidet.207 Der erste Anschein spricht für eine Tatsache und diese kann zunächst als gegeben angesehen werden, weil aufgrund der Typizität andere Möglichkeiten des Geschehensablaufs außer Betracht gelassen werden können. Somit ist die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises konsequent praktizierte Beweiswürdigung. Dass der Anscheinsbeweis Besonderheiten aufweist – und dabei wird die ambivalente Struktur deutlich –, zeigt sich an der Führung des Gegenbeweises, der die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs voraussetzt. Die Besonderheit des Anscheinsbeweises liegt mithin in der Überwindung der Beweisnot durch eine »Irgendwie-Feststellung«, innerhalb derer Details von dem Geschehensablauf nicht dargelegt und bewiesen werden müssen. Über die »Irgendwie-Feststellung« wird aber die gewöhnliche Beweisstärke erreicht, solange nicht die Erschütterung des Anscheinsbeweises durch den Gegenbeweis erfolgt. Rechtfertigung für die »Irgendwie-Feststellung« sind wiederum die Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung, die den typischen Geschehensablauf begründen. Durch den Satz der allgemeinen Lebenserfahrung wird der An206  BGH NJW 1998, 79, 81; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  132, 136; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  17. 207   BGH VersR 1954, 288; 1964, 263, 264.

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scheinsbeweis zunächst begründet, erst wenn der Gegenbeweis nicht geführt werden kann, ist der Beweis endgültig.208 Der anderen Partei obliegt der Gegenbeweis, weil sie nunmehr die konkrete Beweisführungslast trifft. 209 Wird der Gegenbeweis nicht geführt, ist die Tatsache zur vollen Überzeugung des Gerichts geführt. Aus dem vorläufigen Beweis wird der Vollbeweis. Ohne die Berücksichtigung der Typizität ließe sich in unterschiedlichen Konstellationen ein erforderlicher Beweis nicht führen. Das klassische Beispiel für den Anscheinsbeweis zeigt die Notwendigkeit: Für einen Ersatzanspruch aus §  823 Abs.  1 BGB nach einem Auffahrunfall ist das Verschulden des Auffahrenden zu beweisen. Einen unmittelbaren Beweis für ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten des Auffahrenden wird dem Geschädigten regelmäßig nicht gelingen. Ihm hilft der Anscheinsbeweis, weil mangels besonderer Umstände davon auszugehen ist, dass der Auffahrende den notwendigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten oder die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Der Beweis des ersten Anscheins ist eine richterrechtliche Rechtsfortbildung, die mittlerweile gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Letztlich handelt es sich bei dem Anscheinsbeweis mithin um die Verwendung der Sätze der Lebenserfahrung mit Besonderheiten.210 Die Grundlage oder Rechtfertigung des Anscheinsbeweises kann daher in §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO gesehen werden.211 Die Besonderheiten des Anscheinsbeweises sollten dadurch aber nicht kaschiert werden, denn sie liegen in der »Irgendwie-Feststellung«. Insoweit entspringt der Anscheinsbeweis in der Tat richterrechtlicher Rechtsfortbildung. Es zeigt sich der Unterschied zum Indizienbeweis. Während beim Indizienbeweis das Beweisthema verschoben wird, um aus einem Schluss im Einzelfall von den bewiesenen mittelbaren Tatsachen (= Indiztatsachen) auf den unmittelbaren Beweistatbestand zu schließen, 212 wird beim Anscheinsbeweis die konkrete Feststellung eines Geschehensablauf durch eine »Irgendwie-Feststellung« ersetzt. 5. Fazit Die Rechtsfortbildung durch die Gerichte ist zu unterstützen, weil die Notwendigkeit besteht und die Typizität als Voraussetzung für einen Anscheinsbeweis zugleich die Grenzen setzt. Daher sind an die Typizität hohe Anforderungen zu stellen. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass eine Beweismaßsenkung im Einzelfall nicht zu rechtfertigen ist. In dem Anscheinsbeweis liegt eine Verkür  Jungmann ZZP 120 (2007), 459, 468.   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  39, 56; Laumen NJW 2002, 3739, 3742. 210   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  16. 211   A. A. Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  135. 212  Freilich beruht auch dieser Schluss im Einzelfall auf Erfahrungssätzen, aber gerade nicht auf einem typischen Geschehensablauf; BGH NJW 1993, 935, 938; Foerste, in: Musielak, §  284 Rn.  7, §  286 Rn.  25. 208 209

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zung des Beweises. Dementsprechend ist er nur zurückhaltend anzuwenden. Das Instrumentarium zur Entscheidungsfindung muss vorhersehbar sein, sodass ein Anscheinsbeweis nur dann Anwendung finden sollte, wenn es sich um einen Erfahrungsgrundsatz handelt, der die Typizität in sich trägt. Daraus folgt der Schluss, dass es dann keine Frage eines Prozessverlaufs oder einer Prozesssituation sein kann, wann ein Anscheinsbeweis in Betracht kommt. Über die engen Grenzen des Anscheinsbeweises kann der generellen Kritik an diesem Rechtsinstitut und denjenigen Stimmen begegnet werden, die in dem Anscheinsbeweis eine Beweismaßsenkung sehen. Es geht mithin nicht darum, den Anscheinsbeweis aus der Praxis zu »verbannen«, sondern seine Grundlage und Voraussetzungen eindeutig zu definieren. Mit dieser Einordnung lässt sich die Überprüfung in der Berufungs- und Revisionsinstanz begründen. Der Richter ist im Rahmen der freien Beweiswürdigung an das allgemeine Erfahrungswissen gebunden. Es liegt daher ein Verstoß gegen §  286 ZPO vor, wenn Erfahrungsgrundsätze nicht beachtet oder zu Unrecht behauptet werden.213

III.  Tatsächliche Vermutungen Tatsächliche Vermutungen (praesumtiones facti) sind im Gegensatz zu den gesetzlichen Vermutungen nicht vom Gesetzgeber erlassen worden, sondern werden vom Richter selbstständig zur Lösung unterschiedlicher Probleme herangezogen.214 Einen Anwendungsbereich finden die tatsächlichen Vermutungen bei dem Anscheinsbeweis, der bereits behandelt wurde. 215 Doch auch darüber hinaus arbeitet die Rechtsprechung mit Vermutungen. Die Problematik des Rückgriffs auf Vermutungen besteht freilich darin, dass sie gerade nicht im Gesetz enthalten sind und ihre Verwendung kaum vorhersehbar ist. Vor allem der Maßstab, wann eine Vermutung welche Funktion übernimmt, erscheint nicht klar. Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Verankerung sind Voraussetzungen und Rechtsfolgen sowie die dogmatische Begründung im Einzelnen umstritten. Einigkeit herrscht aber zumindest darüber, dass Grundlage einer tatsächlichen Vermutung Sätze der Lebenserfahrung sind. Darüber hinaus ist nahezu unbestritten, dass §  292 ZPO lediglich auf gesetzliche Vermutungen Anwendung findet, auf tatsächliche Vermutungen hingegen nicht.216 Greift eine tatsächliche Vermutung ein, befreit das nicht von der Behauptungslast für die vermutete 213   BGHZ 100, 31, 34 = NJW 1987, 2876, 2877; 1997, 2757, 2759; 1984, 432, 433; VersR 1957, 529, 531; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  66; Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  51; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  37; a. A. Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  29: Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. 214   Die Verwendung des Begriffs »tatsächliche Vermutung« ist insgesamt sehr uneinheitlich; Prütting, S.  58. 215   Siehe §  11 II. 216  BGH NJW 2010, 363, 364 Rn.  15; Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  33; Prütting, in:

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Tatsache.217 Anders als bei einer gesetzlichen Vermutung muss nicht nur die sie begründende Tatsache, sondern auch die vermutete Tatsache selbst vorgetragen werden. Die Anforderungen an den Parteivortrag sind freilich nicht zu hoch anzusetzen.218 Der Begriff »tatsächliche Vermutungen« – unterstellt man an dieser Stelle einmal, dass es sie gibt – legt bereits nahe, dass sich die Vermutungen auf die Feststellung von Tatsachen beziehen müssen, nicht hingegen auf die rechtliche Bewertung der Tatsachen.219 Diese Abgrenzung scheint allerdings nicht immer eingehalten zu werden. Das Arbeitsgericht Kiel hat für das »unvermeidbare betriebliche Erfordernis« einer Kündigung eine tatsächliche Vermutung an­ genommen.220 Bei dem Merkmal unvermeidbares betriebliches Erfordernis handelt es sich jedoch um eine rechtliche Wertung, für die eine tatsächliche Ver­ mutung nicht eingreifen kann. Allenfalls kann eine Vermutung für die Voraussetzungen gegeben sein, die das unvermeidbare betriebliche Erfordernis begründen.221 Die Differenzierung zwischen tatsächlichen und gesetzlichen Vermutungen schließt nicht aus, dass sie zusammenspielen. So kann für das Vorliegen der Voraussetzungen der Vermutungsbasis einer gesetzlichen Tatsachenvermutung eine tatsächliche Vermutung bestehen. Beispielsweise wird für die ausschließlich zum persönlichen Gebrauch eines Ehegatten bestimmten Sachen im Verhältnis der Ehegatten zueinander und zu den Gläubigern vermutet, dass sie dem Ehegatten gehören, für dessen Gebrauch sie bestimmt sind (§  1362 Abs.  2 BGB). Für die Basis dieser Eigentumsvermutung, d. h. für die Frage, ob es sich um eine zum persönlichen Gebrauch eines Ehegatten bestimmte Sache handelt, kann eine tatsächliche Vermutung eingreifen.222 1.  Die Verwendung tatsächlicher Vermutungen durch die Rechtsprechung Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Regelung ist bei den tatsächlichen Vermutungen ihr »Standort« umstritten. Die Rechtsprechung verwendet tatsächliche Vermutungen zur Umkehr der Beweislast, im Rahmen der Beweiswürdigung sowie beim Anscheins- oder Indizienbeweis. 223 Hingegen ordnet die Literatur MünchKommZPO, §  292 Rn.  7; Saenger, in: Hk-ZPO, §  292 Rn.  4 ; a. A. Hirtz MDR 1988, 182, 185. 217   BGH NJW 2010, 363, 364; Saenger, in: Hk-ZPO, §  292 Rn.  4. 218   BGH NJW 2010, 363, 365 Rn.  19. 219   Baumgärtel, Rn.  353. 220   ArbG Kiel AP Nr.  23 zu §  1 KSchG – Betriebsbedingte Kündigung. 221   So richtigerweise Herschel Anmerkung zu AP Nr.  23 zu §  1 KSchG – Betriebsbedingte Kündigung. 222   Laumen, in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, §  1362 BGB Rn.  24; Baumgärtel, in: FS für Schwab, 1990, S.  43, 44. 223   Saenger, in: Hk-ZPO, §  292 Rn.  4.

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tatsächliche Vermutungen allein im Rahmen der Beweiswürdigung ein.224 Um die Rechtsnatur und die Einordnung der tatsächlichen Vermutungen vornehmen zu können, soll die Verwendung in der Rechtsprechung analysiert werden. a)  Umkehr der Beweislast Die Rechtsprechung greift auf tatsächliche Vermutungen unter anderem zur Umkehr der Beweislast zurück. aa)  Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit Die Klägerin (Verkäuferin) hatte behauptet, der Restkaufpreis sei durch Hingabe eines Wechsels, d. h. durch eine Ratenzahlung, zu begleichen gewesen.225 Der Beklagte (Käufer) hatte behauptet, der Restbetrag sei in mehreren Raten zu zahlen gewesen.226 Im Rahmen der Beweiswürdigung war es zu einem non liquet gekommen, sodass es darauf ankam, wen die Beweislast für die vereinbarte Zahlungsweise traf. Das Berufungsgericht sah die Beweislast bei der Klägerin, weil das »Wie« der Zahlung zu den klagebegründenden Tatsachen gehöre. Der VIII. Zivilsenat hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und sah den Beklagten als beweispflichtig an. Der Senat führte zunächst aus, dass für den Fall, dass zwischen den Parteien des Kaufvertrags darüber gestritten wird, ob ein Barzahlungs- oder Abzahlungsgeschäft im Sinne des Abzahlungsgesetzes zustande gekommen ist, und dass dem Inhalt des Kaufvertrags keine Anhaltspunkte für die eine oder andere Auslegung entnommen werden können, der Senat die Meinung vertreten hat, der Barzahlung verlangende Verkäufer habe zu beweisen, dass Einigung über den Barkauf erzielt worden sei.227 Hier sei der Fall jedoch anders gelagert. Die Vertragsurkunde ergebe, dass ein Abzahlungsgeschäft gerade nicht vereinbart worden sei. Es sei dann Sache desjenigen, der eine vom Vertrag abweichende Regelung behauptet, diese zu beweisen.228 Beweisbelastet sei daher der Beklagte. Die Auslegung des schriftlichen Kaufvertrags ergebe für die Restzahlung einen einheitlichen Fälligkeitszeitpunkt. Unter der Rubrik »Zahlungsbedingungen« enthielt der Vertrag nämlich folgenden handschriftlichen Vermerk: »bar abzüglich 3%; 25.000 DM bar, Rest Wechsel.« Hinsichtlich der über die Zahlungsweise getroffenen Vereinbarung habe der Vertrag die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit für sich. Für die Behauptung, ihm sei in Wider224   Prütting, S.  58; Baumgärtel, Rn.  356; kritisch Gruber WRP 1991, 368, 375 f.; a. A. Hirtz, MDR 1988, 182, 185. 225   BGH NJW 1980, 1680. 226   In dem Fall war die Frage, ob mehrere Raten vereinbart wurden, deswegen entscheidend, weil dann ein Geschäft im Sinne des Abzahlungsgesetzes vorgelegen hätte und sich der Beklagte von dem Vertrag hätte lösen können. 227   Mit Verweis auf BGH NJW 1975, 206, 207 = WM 1975, 27, 28. 228   BGH NJW 1980, 1680, 1681.

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spruch zu dem Inhalt des Vertrags, der nur eine einzige Ratenzahlung vorsieht, die Befugnis eingeräumt worden, den Kaufpreisrest in mehreren Raten zu zahlen, wobei Anzahl und Fälligkeit von ihm bestimmt werden sollen, sei der Beklagte zum vollen Beweis gezwungen. Die Vollständigkeit der Urkunde wird mithin vermutet, woraus sich die Beweislast des Vermutungsgegners für das Gegenteil ergibt. Eine normative Grundlage für eine solche Beweislastumkehr wird allerdings nicht genannt. bb)  Vermutung der Ursächlichkeit Die Rechtsprechung wendet für Dienst-, Werk-, Gastaufnahme- und Mietverträge die tatsächliche Vermutung an, dass die Ursache für den Schaden in dem pflichtwidrigen und schuldhaften Verhalten des Schuldners gründe, wenn die Schadensursache im Einzelnen nicht zu ermitteln, sie jedoch innerhalb eines Gefahrenbereichs gelegen sei, für den der Schuldner die Verantwortung trage, insbesondere wenn dem Schuldner objektiv eine Pflichtverletzung zur Last falle. Der Schuldner habe dann den Beweis zu führen, dass die maßgebliche Ursache eine andere sei oder dass ihn kein Verschulden treffe. 229 Dementsprechend verfährt der BGH etwa, wenn der Schuldner entgegen der vertraglichen Verpflichtung, alles zu unterlassen, was den Vertragszweck, die störungsfreie Fortführung seines an den Gläubiger veräußerten Betriebs, gefährden könnte, Konkurrenzgeschäfte abschließt und Angestellte des Konkurrenzunternehmens bei sich einstellt. Es spreche eine tatsächliche Vermutung dafür, dass aus diesen im Gefahrenbereich des Schuldners liegenden Gründen die Kunden und die Kraftfahrer die Firma des Gläubigers verlassen hätten.230 In mehreren Entscheidungen nahm der BGH an, dass sich der Schluss auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Nachweistätigkeit des Maklers und dem Vertragsschluss von selbst ergebe, wenn der Makler die Gelegenheit zum Abschluss eines Vertrages nachgewiesen hatte und danach der Vertrag abgeschlossen worden war. Ein Ausschluss des Kausalzusammenhangs könne nur aufgrund besonderer Umstände anzunehmen sein, die der Auftraggeber darzulegen und zu beweisen habe.231 Der Auftraggeber könne beweisen, dass ihm das Objekt bereits bekannt gewesen sei.232 Zwar spricht der BGH nicht ausdrücklich von einer »tatsächlichen Vermutung«, wendet aber die Terminologie an, die sich ansonsten bei der Herleitung einer tatsächlichen Vermutung findet. Vor allem wird von dem Auftraggeber aufgrund dieser Vermutung der volle Beweis des Gegenteils verlangt; es handelt sich mithin um eine Beweislastumkehr.

  BGHZ 23, 288, 290 = NJW 1957, 746, 747.   BGH NJW 1968, 2240, 2241. 231   BGH WM 1969, 885, 886; NJW 1979, 869. 232   BGH NJW 1971, 1133, 1134 f. 229

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cc)  Vermutung für Wiederholungsgefahr Nach einem Wettbewerbsverstoß nimmt die Rechtsprechung eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr an, die lediglich unter strengen Anforderungen zu beseitigen ist.233 Die Beweislast für das Nichtvorliegen der Wiederholungsgefahr trägt mithin der Verletzer, der ihr regelmäßig durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung genügen kann. dd)  Widerlegbare Vermutung bei Nichteinhaltung von DIN-Normen Bei der Nichteinhaltung von DIN-Normen (bei Aushebung und Sicherung einer Baugrube) hat der BGH 234 eine widerlegbare Vermutung dafür angenommen, dass eingetretene Schäden auf dem Nachbargrundstück hierauf zurückzuführen sind. Beweisbelastet aufgrund dieser widerlegbaren Vermutung sei daher derjenige, auf dessen Grundstück die Bauarbeiten entgegen dem Stand anerkannter Regeln der Technik ausgeführt worden seien. Verbleibende Zweifel würden zu dessen Lasten gehen. b) Beweiswürdigung Die Rechtsprechung nahm eine tatsächliche Vermutung allerdings nicht immer als Anlass für eine Beweislastumkehr, sondern bezog sie im Rahmen der Beweiswürdigung ein. Der V. Zivilsenat führte aus, dass der Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten zulässig sei, wenn bei einem auf entgeltlichen Erwerb eines Grundstücks gerichteten Rechtsgeschäft das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besonders grob sei, selbst wenn der Begünstigte keine Kenntnis von dem Wertverhältnis habe. 235 Die Schlussfolgerung leite sich aus dem Erfahrungssatz her, dass in der Regel außergewöhnliche Leistungen nicht ohne Not – oder nicht ohne einen anderen den Benachteiligten hemmenden Umstand – zugestanden würden und der Begünstigte diese Erfahrung teile.236 Ob diese Schlussfolgerung im Wege des Anscheinsbeweises vollen Beweis für die verwerfliche Gesinnung des Begünstigten erbringen könnte, oder ob ihr Bedeutung lediglich als Indizienbeweis zukomme, bedürfe keiner Entscheidung.237 Jedenfalls handele es sich um eine beweiserleichternde tatsächliche Vermutung, die der Richter im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen habe.238 Sie könne nur dann nicht zur Anwendung kommen, wenn sie im Einzelfall durch besondere Umstände erschüttert sei. Der BGH nimmt hier   BGH NJW 1959, 2213; 1980, 1793, 1794; GRUR 1972, 550 f. – Spezialsalz II.; siehe dazu Gruber WRP 1991, 368 ff. 234   BGH NJW 1991, 2021, 2022. 235   BGH NJW 2001, 1127, 1128; erneut bestätigt in BGH NJW 2010, 363, 364 Rn.  12. 236   BGH NJW 2001, 1127, 1128. 237   BGH NJW 2001, 1127, 1128. 238   BGH NJW 2001, 1127, 1129. 233

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aufgrund der tatsächlichen Vermutung keine Beweislastumkehr vor, sondern möchte sie in der Beweiswürdigung heranziehen. Diese Entscheidung verwundert deshalb, weil der BGH andererseits eine tatsächliche Vermutung dafür annimmt, dass die kreditgebende Bank subjektiv sittenwidrig handelt, wenn der Kreditnehmer sich Bedingungen unterwirft, die aufgrund des auffälligen Missverhältnisses die objektiven Voraussetzungen des §  138 Abs.  1 BGB erfüllt.239 Aufgrund der tatsächlichen Vermutung treffe der Nachteil fehlenden Parteivortrags die Kreditbank, die darlegen und beweisen müsse, dass besondere Umstände des Einzelfalls es rechtfertigen, die subjektiven Voraussetzungen des §  138 Abs.  1 BGB zu verneinen und den Kreditvertrag trotz des auffälligen Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung nicht als sittenwidrig zu bewerten. Hier wird also eine Beweislastumkehr propagiert. 2. Würdigung Ohne Kriterien für die Entscheidung zwischen einer Beweislastumkehr und einer Beweiswürdigung zu nennen, variiert die Rechtsprechung in den Rechtsfolgen. Eine Begründung dafür, sie in der Beweiswürdigung fruchtbar zu machen oder als Grundlage einer Beweislastumkehr zu verwenden, findet sich in den Entscheidungen nicht. Teilweise trennt die Rechtsprechung nicht zwischen Beweislastverteilung und Beweiswürdigung, sondern nutzt die tatsächliche Vermutung zur »Beweiserleichterung bis hin zur Beweislastumkehr«. Dogmatische Einordnung und Begründung werden offen gelassen. Die Konsequenz der Beweislastumkehr erscheint als sehr weitgehend. Warum mit einer tatsächlichen Vermutung die Beweislast verändert werden soll, leuchtet nicht ein. Die Beweislastumkehr bedeutet eine Veränderung des materiellen Rechts. Eine solche Verschiebung mit den Mitteln des Prozessrechts darf lediglich sehr zurückhaltend angenommen werden. Gegen die Beweislastumkehr spricht weiterhin, dass sie nicht als notwendig erscheint. Die Beweislast­ umkehr führt dazu, dass die Gegenpartei den vollen Beweis gegen die Vermutung führen muss. Im Fall der Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Urkunde führt das dazu, dass derjenige, der sich auf Abweichungen von dem Inhalt der Urkunde beruft, dafür die Beweislast trägt. Hier ist bereits fraglich, warum die Rechtsprechung überhaupt mit einer Vermutung arbeitet. Lässt man die Vermutung einmal außen vor, gilt Folgendes: Der Verkäufer ist beweis­ pflichtig dafür, dass ein Bargeschäft abgeschlossen wurde. Ergibt sich aus der Vertragsurkunde, dass kein Abzahlungsgeschäft vereinbart worden ist, sondern ein Bargeschäft, ist der Beweis, also der Hauptbeweis, für das Bargeschäft gelungen. Es sei dann Sache desjenigen, der eine vom Vertrag abweichende Regelung behauptet, den Gegenbeweis anzutreten. Der Gegenbeweis vereitelt den   BGHZ 98, 174, 178 f. = NJW 1986, 2564, 2565; ebenfalls BGH NJW 1984, 2292, 2294.

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Hauptbeweis, indem er die Behauptung des Beweisführers nicht widerlegt, sondern die Wahrheit der Behauptung so sehr in Zweifel zieht, dass eine richterliche Überzeugung i. S. von §  286 ZPO nicht mehr angenommen werden kann.240 Wendet man diese Grundsätze des Beweisrechts an, kommt man zu einem überzeugenden Ergebnis, ohne auf eine Beweislastumkehr im Gewande einer tatsächlichen Vermutung zurückgreifen zu müssen. Wenn man eine tatsächliche Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit in diesem Fall verorten möchte, dann bei der Frage des Hauptbeweises. Der Hauptbeweis ist erbracht, wenn zur richterlichen Überzeugung feststeht, dass ein Bargeschäft, mithin kein Abzahlungsgeschäft vereinbart worden ist. In der Tat besteht die Vermutung, wenn die Parteien schon eine schriftliche Vereinbarung treffen, dass diese Vereinbarung abschließend ist und keine widersprechenden Vereinbarungen getroffen wurden. Diese Vermutung berücksichtigt der Richter im Rahmen der Beweiswürdigung, 241 denn an Denk- und Erfahrungssätze ist er gebunden.242 Es handelt sich daher um eine konsequente Beweiswürdigung i. S. des §  286 Abs.  1 ZPO. Die Annahme der Vermutung der Ursächlichkeit der Maklertätigkeit zeigt, dass der BGH inhaltlich eher einen bestimmten Schluss (diesen Begriff verwendet der BGH ausdrücklich) vornimmt, also quasi eine Berücksichtigung innerhalb der Beweiswürdigung erfolgt, in der Folge aber gleichwohl eine Beweislast­ umkehr als Rechtsfolge konstatiert. Es handelt sich um eine Schlussfolgerung beruhend auf Erfahrungssätzen, die dogmatisch so eingeordnet werden sollte.243 3. Fazit Weil die Rechtsprechung den Begriff der tatsächlichen Vermutung in unterschiedlicher Art und Weise anwendet, vor allem nicht eine einheitliche Rechtsfolge vorsieht, ist der Begriff der tatsächlichen Vermutungen nicht nur überflüssig, sondern irritierend.244 Zur Vermeidung unklarer Aussagen sollte er deshalb als terminus technicus vermieden werden. Erst recht gilt das, wenn im Zusammenhang von Anscheinsbeweis und Indizienbeweis ebenfalls von tatsächlichen Vermutungen gesprochen wird. Insoweit besteht jedoch ein Unterschied. Wenn   BGH NJW 1983, 1740; Foerste, in: Musielak, §  284 Rn.  6.   Prütting, S.  55; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  36; ähnlich Gruber WRP 1991, 368, 375. 242   BGH NJW 1993, 935, 937; NJW-RR 2004, 425, 426. Aus diesem Grund stellt sich der Rückgriff auf tatsächliche Vermutungen nicht als Aufrechterhaltung der legalen Beweistheorie dar; so jedoch Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 5. 243   BGH NJW 1979, 869 (Anscheinsbeweis); ebenso Baumgärtel, in: FS Schwab, S.  43, 47. 244   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  33; Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  7; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  28. Zum »variablen« Sprachgebrauch siehe bereits Dänzer, S.  13 ff. 240 241

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ein schriftlicher Vertrag die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit in sich trägt, wird dadurch kein Anscheinsbeweis begründet. Die Besonderheit des Anscheinsbeweises liegt in der »Irgendwie-Feststellung«, auf die hier nicht zurückgegriffen werden muss. Es liegt ein schriftlicher Vertrag vor, der im Rahmen der Beweiswürdigung als vollständig angesehen wird. Eine Überbrückung einer Beweisnot zur Führung des Beweises wird nicht notwendig. Der Hauptbeweis ist nämlich ohne Besonderheiten geführt. Deshalb kann insoweit nicht von einem Anscheinsbeweis gesprochen werden. Tatsächliche Vermutungen können einen Anscheinsbeweis begründen, müssen es aber nicht. Ebenfalls können sie zur Führung des Indizienbeweises herangezogen werden.245 Schließlich werden sie im Rahmen der Beweiswürdigung angewendet, ohne dass es sich dabei um eine besondere Art der Beweisführung handeln würde.

IV. Beweisvereitelung Die fehlende Möglichkeit, einen Beweis zu erbringen, kann darauf beruhen, dass die andere Partei die Beweisführung verhindert, indem sie eine Mitwirkung verweigert. Gesetzliche Regelungen zur Beweisvereitelung finden sich in der ZPO nur spärlich. Die Folgen der Beweisvereitelung regeln §  427 ZPO einerseits und §  444 ZPO andererseits. Im Falle der Nichtvorlegung einer Urkunde trotz gerichtlicher Anordnung kann die von dem Beweisführer beigebrachte Abschrift der Urkunde als richtig angesehen werden. Liegt eine Abschrift der Urkunde nicht vor, können die Behauptungen des Beweisführers über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angenommen werden (§  427 ZPO). Wird eine Urkunde in der Absicht beseitigt, ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, können die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen angesehen werden (§  444 ZPO). In diesen Vorschriften kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass die schuldhafte Vernichtung eines Beweisgegenstands durch die nicht beweisbelastete Partei Beweiserleichterungen für die beweisbelastete Partei zur Folge haben kann. Die Partei, die die Beweisnot der anderen Partei herbeigeführt hat, soll aus diesem Verhalten keinen Profit schlagen dürfen.246 Neben den §§  427, 444 ZPO gibt es vergleichbare Vorschriften, die für ähnliche Sachverhalte vergleichbare Rechtsfolgen anordnen. Als Beweis für die Echtheit einer Urkunde ist unter anderem die Schriftvergleichung vorgesehen (§  441 Abs.  1 ZPO). Vereitelt der Gegner des Beweisführers die Vorlage der in seinen Händen befindlichen Schriften, kann die Urkunde als echt angesehen werden (§  441 Abs.  3 ZPO). Im Falle der Vereitelung des Augenscheinsbeweises kann das Gericht die Behauptungen des Gegners über die Beschaffenheit des Gegen  BGH NJW 2010, 363, 364 Rn.  15.   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  95.

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stands als bewiesen ansehen (§  371 Abs.  3 ZPO). Schließlich hat der Gesetzgeber die Folgen der Beweisvereitelung im Rahmen der Parteivernehmung geregelt. Die Verweigerung des Gegners des Beweisführers zur Parteivernehmung 446 kann im Rahmen der Beweiswürdigung negativ gewürdigt werden (§   ZPO). Die negative Beweiswürdigung kommt auch in Betracht, wenn die Partei sich zunächst zur Vernehmung bereit erklärt hat, später jedoch ihre Aussage oder die Eidesleistung verweigert (§  453 Abs.  2 ZPO).247 Die Regelungen stellen nur Fragmente der Beweisvereitelung dar, denn eine allgemeine Bestimmung über die Beweisvereitelung wurde zwar diskutiert, 248 aber nicht eingeführt. Daraus folgen die Unsicherheiten, die einerseits im Hinblick auf die dogmatische Einordnung, andererseits im Hinblick auf die genauen Rechtsfolgen bestehen. Es herrscht Einigkeit, dass der Gegenpartei der für die Beweisvereitelung verantwortlichen Partei Erleichterungen zugutekommen. Über den Weg und die genaue Art ist hingegen ein weites Meinungsspektrum vorhanden. Kaum hilfreich ist die höchstrichterliche Rechtsprechung, die von »Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast« spricht.249 Aus den unklaren Voraussetzungen auf der einen und den unklaren Rechtsfolgen auf der anderen Seite ergibt sich eine weitgehende Konturlosigkeit.250 Während die Rechtsprechung das Institut der Beweisvereitelung auf Tatbestandsebene konkretisierte, erfolgte das nicht im Hinblick auf Rechtsfolge und Dogmatik. Da die dogmatische Einordnung der Beweisvereitelung nicht erfolgen kann, wenn nicht die Rechtsfolge geklärt ist, hat die Untersuchung auf der Ebene der Rechtsfolge zu beginnen. Darauf aufbauend sind dogmatische Erwägungen anzustellen.251 Erster Schritt muss aber selbstverständlich die klare und allgemeine Definition der Voraussetzungen der Beweisvereitelung sein. 1. Voraussetzungen Allgemein spricht man von einer Beweisvereitelung bei einem Tun oder Unterlassen, welches die Sachverhaltsaufklärung verhindert.252 Die Beweisvereitelung setzt ein eigenständiges Unrecht voraus, sodass es nicht ausreicht, wenn unklar bleibt, ob eine Partei durch ein pflichtwidriges Verhalten die andere Partei ver247   Zu den Möglichkeiten des »Widerstands« gegen die Parteivernehmung Schreiber, in: MünchKommZPO, §  4 46 Rn.  2. 248   Vorschlag der Kommission für das Zivilprozeßrecht von 1977; siehe Bericht der Kommission für das Zivilprozeßrecht, S.  122 ff., 332 (Vorschlag einer Regelung zur Beweisvereitelung in §  286 Abs.  3 ZPO). 249   Siehe §  11 I. 250   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 59. 251   Diese Vorgehensweise findet sich ebenfalls bei Thole JR 2011, 327 ff. 252   BGH NJW 1986, 59, 60; 1997, 3311, 3312; 2004, 222; 2006, 434, 436 Rn.  23; Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63; Laumen MDR 2009, 177; siehe auch Paulus AcP 197 (1997), 136, 137: Im Vergleich zur Nichtwahrheit setze die Beweisvereitelung erst im »Gröberen« ein.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

letzt hatte.253 Neben einer vorsätzlichen Beweisvereitelung kommt eine fahrlässige Beweisvereitelung in Betracht, wobei sich das Verschulden sowohl auf die Vernichtung bzw. Vorenthaltung des Beweismittels als auch auf die Beseitigung der Beweisfunktion beziehen muss.254 Die Beweisführung kann verhindert werden, indem die Partei ihre Vernehmung verweigert, eine Urkunde vernichtet oder vorenthält oder die Adresse eines Zeugen nicht mitteilt.255 Eine Beweisvereitelung – Fahrlässigkeit vorausgesetzt – kann desgleichen angenommen werden, wenn ein angeblich mangelhaftes Teil einer gekauften Sache ausgetauscht und sodann entsorgt wird, sodass es im Prozess nicht mehr als Beweismittel zur Verfügung steht.256 Anschaulich verdeutlicht der Tupfer-Fall des BGH die Beweisvereitelung: 257 Der beklagte Arzt operierte den Kläger, wobei der Arzt Wattetupfer verwendete. Die Tupfer wurden vor Gebrauch und bei Beendigung der Operation gezählt. Ihre Zahl stimmte überein. Gleichwohl stellte sich später, als der Arzt die Operationswunde des Beklagten wegen anhaltender Beschwerden erneut öffnete, heraus, dass ein Tupferstück bei der ersten Operation zurückgeblieben war. Der Arzt entfernte das Tupferstück, die Wunde heilte danach schnell ab. In dem folgenden Schadensersatzprozess kam es vor allem darauf an, ob den Beklagten an dem Zurücklassen des Tupferstücks ein Verschulden traf. Dazu konnte es auf die Art und die Größe des Tupfers ankommen, insbesondere, ob es sich um das größere Stück eines mittleren Wattetupfers gehandelt hatte. Der Arzt hatte das Tupferstück nicht aufbewahrt und keine Aufzeichnungen über Art, Größe und Beschaffenheit des Tupfers gemacht. Nach Ansicht des BGH führte der Arzt die Unaufklärbarkeit damit schuldhaft herbei, sodass er die daraus folgenden Nachteile zu tragen habe. 2. Rechtsfolgen Eine Betrachtung der Meinung zu den Rechtsfolgen der Beweisvereitelung ergibt ein breites Spektrum, welches letztlich das Beweisrecht in voller Breite ausnutzt. Über den flexiblen Maßstab der Rechtsprechung hinaus werden eine Beweislastumkehr, eine Beweismaßsenkung, eine Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung sowie eine Wahrunterstellung befürwortet. Die Breite des Meinungsspektrums beruht nicht zuletzt auf der Breite der dogmatischen Begründungen.258   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  6 4.   BGH NJW 2004, 222; 2006, 434, 436 Rn.  23; Thole JR 2011, 327; Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  65. 255  Zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Beweisvereitelung siehe Laumen MDR 2009, 177, 178; Peters ZZP 82 (1969), 200 ff. 256   Beispiel nach BGH NJW 2006, 434, 436 Rn.  24. 257   BGH VersR 1955, 344 f. 258   Thole JR 2011, 327, 328. 253

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a)  Die flexible Lösung der Rechtsprechung: Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr In der Rechtsprechung des BGH wird eine Festlegung auf eine bestimmte Folge der Beweisvereitelung teilweise vermieden. Vielmehr wird als Grundsatz festgehalten, die Beweisvereitelung führe zu »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr«259. Die angemessene Folge im Einzelfall ergebe sich aus einer im tatrichterlichen Ermessen liegenden Überzeugungsbildung.260 Genaue Kriterien für die Zuordnung einer bestimmten Folge zu einem bestimmten beweisvereitelnden Verhalten werden nicht gegeben. Aus den bereits dargelegten Gründen sind »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr« abzulehnen.261 b) Beweislastumkehr Die Unsicherheiten der flexiblen Lösung werden vermieden, wenn man sich generell für eine Beweislastumkehr ausspricht. Diese Lösung wird aktuell kaum befürwortet, sondern entspricht früherer Rechtsprechung262 und wurde in der Vergangenheit von einigen Stimmen in der Literatur befürwortet.263 c)  Umkehr der konkreten Beweisführungslast Befürwortet wird allerdings eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast.264 Die objektive Beweislast würde unangetastet bleiben. Es gilt die Behauptung der Gegenpartei der für die Beweisvereitelung verantwortlichen Partei, allerdings ohne dass eine Beweiserhebung durchzuführen ist. Allerdings wäre der Gegenbeweis durch die für die Beweisvereitelung verantwortliche Partei geführt, wenn die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der beweisbedürftigen Tatsache erschüttert ist.265 d) Beweiswürdigung Die herrschende Meinung im Schrifttum nimmt eine Zuordnung zur Beweiswürdigung vor, sodass der Richter im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung

259   Siehe bereits BGHZ 72, 132, 139 = NJW 1978, 2337, 2339; 1972, 1520; BGHZ 104, 323, 335 = NJW 1988, 2611, 2613; aus jüngerer Zeit: BGH NJW 2006, 434, 436 Rn.  23; NJW-RR 2005, 1051, 1052; zustimmend Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63, 73 f. 260   BGH NJW-RR 2005, 1051, 1052. 261   Siehe §  11 I. 262   BGHZ 6, 224, 226. 263   Blomeyer AcP 158 (1959/1960), 97, 99 ff.; für eine Beweislastumkehr bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Beweisvereitelung Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  188. 264   Laumen NJW 2002, 3739, 3741; sich anschließend Thole JR 2011, 327, 331 f. 265   Laumen NJW 2002, 3739, 3741.

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die Beweisvereitelung frei würdigen kann.266 Auch die Rechtsprechung hatte diesen Weg bereits gewählt.267 Die Beweisvereitelung kann damit zulasten der vereitelnden Partei gewürdigt werden. Der Richter kann dementsprechend die behauptete Tatsache als bewiesen ansehen, wenn die Beweisführung seines Erachtens aufgrund der Beweisvereitelung scheitert. e) Beweismaßsenkung Kaum noch vertreten wird die Beweismaßsenkung. Entsprechend der Schwere der Beweisvereitelung soll danach das Beweismaß sinken.268 Entsprechend dem Verschulden der vereitelnden Partei reduziere sich das Beweismaß.269 f) Wahrunterstellung Schließlich wird die Wahrunterstellung als Sanktion vertreten. Scheitere die Beweisführung aufgrund einer Beweisvereitelung, solle das Bestehen der behaupteten Tatsache fingiert werden.270 Die Fiktion kommt zum Zuge, wenn die Beweiswürdigung nicht zu einem klaren Ergebnis führt.271 g) Würdigung Als Konsequenz einer Beweisvereitelung ist die Beweislastumkehr sehr weitgehend, jedenfalls wenn damit die Umkehr der objektiven Beweislast gemeint ist. Weil die beweisvereitelnde Partei dann die subjektive Beweislast (abstrakte Beweisführungslast) trägt, muss sie den (umgekehrten) Hauptbeweis führen. Diese Beweislastumkehr stellt eine Abweichung vom materiellen Recht dar. Einer Veränderung des materiellen Rechts durch prozessrechtliche Instrumente ist kritisch zu begegnen, weil die objektive Beweislast abstrakt und vor Prozessbeginn feststehen muss.272 Das Prozessrecht soll dem materiellen Recht zur Durchsetzung verhelfen, nicht aber materielle Rechte schaffen oder beschneiden. Die Veränderung des materiellen Rechts erscheint erst recht als zu weitgehend, wenn Grund dafür bereits ein fahrlässiges Verhalten, welches für die Annahme einer Beweisvereitelung grundsätzlich ausreicht, sein kann. 273 Eine Be  Greger, in: Zöller, §  286 Rn.  14a; Musielak, S.  139; Musielak/Stadler, Rn.  188 f.; Gerhardt AcP 169 (1969), 289, 307; Peters ZZP 82 (1969), 200, 218 ff. 267   BGH NJW 1960, 821. 268   Bender, in: FS Baur, S.  247, 267. 269   Tendenziell aber auch BGH NJW 1987, 1482, 1484: Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs ausreichend; für eine Abstufung des Beweismaßes ebenfalls Baumgärtel, Rn.  129; ders., in: FS Kralik, S.  63, 73. 270   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  242 ff.; ders. ZZP 98 (1985), 237, 253; Prütting, S.  187 ff.; ders., in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  1 f. 271   Thole JR 2011, 327, 328. 272   Laumen NJW 2002, 3741. 273   Thole JR 2011, 327, 331. 266

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weislastumkehr als Folge einer Beweisvereitelung erscheint damit zu weitgehend. Es wäre eine »Überkompensation«, weil die ansonsten beweisbelastete Partei besser stünde als ohne die Beweisvereitelung.274 Ohne die Beweisvereitelung hätte die beweisbelastete Partei den Hauptbeweis führen können, sodass die andere Partei sodann die konkrete Beweisführungslast getragen hätte. Mehr sollte ihr als Ausgleich nicht gewährt werden, wenn die andere Partei das Beweismittel vorenthält oder vernichtet. Als im Vergleich dazu mildere Variante verbleibt eben die Umkehr der konkreten Beweisführungslast.275 Es würde ausreichen, dass die für die Beweisvereitelung verantwortliche Partei einen Gegenbeweis führt, also die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit einer beweisbedürftigen Tatsache erschüttert.276 Die Reichweite einer Umkehr der objektiven Beweislast würde dadurch vermieden, gleichwohl hätte es weiterhin einen Sanktionscharakter. Der Unterschied zwischen einer Umkehr der objektiven Feststellungslast und der Umkehr der konkreten Beweisführungslast erscheint auf den ersten Blick gering, doch zeigt er sich daran, dass im letzteren Fall die Führung des Gegenbeweises bereits ausreichend ist. Das kann in der Praxis den entscheidenden Unterschied bedeuten. Methodisch ist der Unterschied bedeutsam, denn die Frage der Verteilung der objektiven Feststellungslast ist eine Rechtsfrage, während die Verteilung der konkreten Beweisführungslast eine Tatfrage ist, die von der Beweiswürdigung des Gerichts abhängt.277 Für die Berücksichtigung der Beweisvereitelung im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung spricht die Flexibilität. Aus der Flexibilität folgen jedoch Ungewissheit und mangelnde Vorhersehbarkeit. Der Nachteil dieser Lösung kann darin liegen, dass bereits ein fahrlässiges Verhalten den Prozessverlust bedeutet, weil der Richter den Beweis als geführt ansieht.278 Demgegenüber erscheint die Beweismaßsenkung auf den ersten Blick als angemessener Mittelweg.279 Die dann regelmäßig geforderte überwiegende Wahrscheinlichkeit vermag der Beweisvereitelung Rechnung zu tragen, ohne die Partei, die den Beweis vereitelt hat, von ihren Rechten vollständig abzuschneiden. Auf den zweiten Blick wird die Problematik der Beweismaßsenkung in der vorliegenden Konstellation jedoch deutlich. Sie versagt als Mittel in den Fällen, in denen die beweisbelastete Partei »Hilfe« benötigt. War das vernichtete Beweisstück das einzig verfügbare, wird ohne dieses Beweisstück die überwiegende

  Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63, 71; Laumen NJW 2002, 3739, 3746.  Dafür: Laumen NJW 2002, 3739, 3741; sich anschließend Thole JR 2011, 327, 331 f. 276   Laumen NJW 2002, 3739, 3741. 277   Laumen NJW 2002, 3739, 3742. 278   Thole JR 2011, 327, 331. 279   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  96 f.: vorrangig Beweismaßsenkung, unter Umständen Umkehr der konkreten Beweisführungslast. 274

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Wahrscheinlichkeit nicht begründet werden können. Die Beweismaßsenkung vermag der Partei, der sie zugutekommen soll, nicht zu helfen. Wie die Beweislastumkehr würde die Wahrunterstellung materielle Rechte ändern. Als Konsequenz aus einem fahrlässigen Verhalten wäre das jedoch zu weitgehend. Darüber hinaus widerspricht eine solche Beweisregel der freien Beweiswürdigung nach §  286 Abs.  1 ZPO.280 Allein eine Beweislastumkehr in Gestalt einer Umkehr der konkreten Beweisführungslast kann eine angemessene Reaktion auf die Beweisvereitelung sein. Insoweit ist es in Kauf zu nehmen, dass ein fahrlässiges Verhalten zum Prozessverlust führen kann. Weil Fahrlässigkeit ein schuldhaftes Verhalten begründet, erscheint das nicht unzumutbar. Letztlich kann diese Lösung aber nur überzeugen, wenn sie sich dogmatisch begründen lässt. 3.  Dogmatische Einordnung Die dogmatische Begründung ist dementsprechend unter zwei Gesichtspunkten von entscheidender Bedeutung. Einerseits bedarf es einer dogmatischen Begründung, um das Institut der Beweisvereitelung überhaupt zu rechtfertigen, andererseits ist die dogmatische Einordnung maßgeblich für die konkrete Rechtsfolge. Die dogmatische Begründung wird zum Teil im materiellen Recht verortet, überwiegend hingegen im Prozessrecht.281 Grundlage jeglicher Überlegungen, aus der Beweisvereitelung nachteilige Schlüsse zu ziehen oder andere nachteilige Folgen daran zu knüpfen, ist eine Pflicht der Partei, das Beweismittel zu bewahren.282 Ohne eine solche Pflicht kann eine Sanktionierung nicht in Betracht kommen. Auf der Basis der dogmatischen Einordnung kann sodann die Frage der angemessenen Rechtsfolge herausgearbeitet werden. a)  Materiellrechtliche Einordnung Eine materiellrechtliche Einordnung gründet auf der These, dass sich die Nebenpflicht aus vertraglichen Beziehungen darauf erstreckt, dem Gegner einen Beweis nicht unmöglich zu machen. Freilich muss diese Begründung versagen, wenn es an einer vertraglichen Beziehung fehlt. Daher hatte bereits Blomeyer vorgeschlagen, die Pflicht nicht exklusiv aus der vertraglichen Beziehung zu entnehmen, sondern darüber aus den materiellrechtlichen Vorlagepflichten, aus   Musielak, S.  138; Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63, 72.   Die Frage der Einordnung der Beweisvereitelung in das Prozessrecht bzw. in das materielle Recht hat – wie beim Anscheinsbeweis – praktische Konsequenzen. Eine Zuordnung zum Prozessrecht hat die Folge, dass er der lex fori unterliegt, sodass ein deutsches Gericht ihn auch bei der Anwendung ausländischen Rechts anwenden muss; ausführlich Thole IPRax 2010, 285 ff. 282   Peters ZZP 82 (1969), 200, 206; Thole JR 2011, 327, 329; Assmann, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  183, 187. 280 281

§  11  Richterrechtliche Beweiserleichterungen

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Treu und Glauben oder aus einer unerlaubten Handlung.283 Ohne ausdrücklich von seiner bisherigen Linie der eher prozessrechtlich orientierten Einordnung abzuweichen, hat der BGH in einer jüngeren Entscheidung eine materiellrechtliche Grundlage für die Gewährung von »Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr« als Folge einer Beweisvereitelung gewählt.284 Insoweit führt der BGH aus: »In einer fehlenden oder unzureichenden Dokumentation der durch Ersatzvornahme beseitigten angeblichen Mängel kann eine Beweisvereitelung liegen, wenn das Vorliegen von Mängeln erst im Laufe der Mängelbeseitigungsarbeiten überprüft werden kann und der Auftraggeber dem Auftragnehmer keine dahingehenden Feststellungen ermöglicht. Beruht die Beweisvereitelung auf einer Verletzung der Kooperationspflicht des Auftraggebers, kann hieraus eine Umkehr der Beweislast für das Vorliegen der Mängel zu seinen Lasten folgen.« Die notwendige Kooperationspflicht entnimmt der BGH den bauvertraglichen Vereinbarungen. Die Beklagte hatte es unterlassen, der Schuldnerin die Beteiligung an der Schadensfeststellung zu ermöglichen wie es unter Berücksichtigung der bauvertraglichen Kooperationspflichten geboten gewesen wäre.285 Freilich ist diese Kooperationspflicht eine Besonderheit des Bauvertrags, 286 sodass eine Verallgemeinerung der Rechtsprechung des BGH in dem Sinne, dass die Beweisvereitelung auf materiellrechtlicher Grundlage bestehe, wohl nicht angenommen werden kann. Allerdings hat der BGH in anderen Entscheidungen die Verletzung materiellrechtlicher Dokumentationspflichten als Basis einer Beweisvereitelung angeführt, allerdings die Wirkungen eher auf die prozessrechtliche Ebene beschränkt.287 b)  Prozessrechtlicher Grundsatz von Treu und Glauben Teilweise wird der Grundsatz von Treu und Glauben als prozessrechtlicher Grundsatz angewendet und dementsprechend eine unmittelbare prozessuale Grundlage gewählt.288 Aus diesem Grundsatz wird das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (»venire contra factum proprium«) herausgefiltert, welches eine Partei daran hindert, sich im Prozess auf den fehlenden Beweis der Gegenpartei zu berufen. Bei dieser Einordnung handelt es sich letztlich um eine prozessrechtliche Begründung, die freilich in einem originär materiellrechtlichen Grundsatz ihren Ausgang hat. 283   Blomeyer AcP 158 (1959/1960), 97, 99 ff., der insgesamt stark auf den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit abstellt; auch die Rechtsprechung hatte früher einen materiellrechtlichen Schadensersatzanspruch als Rechtsrundlage herangezogen; BGHZ 3, 162, 176. 284   BGH NJW 2009, 360 ff.; ausführlich dazu Laumen MDR 2009, 177 ff. 285   BGH NJW 2009, 360, 362 Rn.  21. 286   Zur Kooperationspflicht, die der BGH bei Bauverträgen annimmt: BGHZ 133, 44, 47 = NJW 1996, 2158; BGHZ 143, 89, 93 = NJW 2000, 807, 808; NJW 2003, 2678. 287   BGHZ 72, 132, 138 f. = NJW 1978, 2337, 2338; Thole JR 2011, 327, 328. 288   BGH NJW 1960, 821; Gerhardt AcP 169 (1969), S.  289, 302 ff.

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c)  Prozessrechtliche Begründung Schließlich werden prozessrechtliche Mitwirkungspflichten als Grundlage nachteiliger Folgen einer Beweisvereitelung angeführt. Ansatzpunkt ist die Pflicht der Prozessparteien, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, auch zulasten der eigenen Position.289 Das ergibt sich aus der Erklärungs- und Wahrheitspflicht des §  138 ZPO. Gemeinsam mit den einzelnen Vorschriften über die Beweisvereitelung entfalten sie eine Vorwirkung in dem Sinne, die Mitwirkung nicht durch vorhergehende Vereitelung unmöglich zu machen. d) Würdigung Die materiellrechtliche Einordnung kann für sich in Anspruch nehmen, dass das materielle Recht grundsätzlich der Ort ist, um Rechte und Pflichten einer Person zu begründen. Problematisch an der materiellrechtlichen Einordnung ist jedoch, dass sie nur dann überzeugen kann, wenn eine vertragliche Beziehung zwischen den Parteien besteht, aus der eine Nebenpflicht (unter Umständen in Verbindung mit Treu und Glauben) zur Bewahrung von Beweismitteln entnommen werden kann. Fehlt es jedoch an einer vertraglichen Beziehung, verbleibt als Grundlage einer solchen Pflicht lediglich eine unerlaubte Handlung, mithin als Rechtsgrundlage §  826 BGB. §  826 BGB setzt eine sittenwidrige und vorsätzliche Schädigung voraus, sodass die Folgen der Beweisvereitelung außerhalb vertraglicher Beziehungen nicht bei Fahrlässigkeit eingreifen könnten. Eine solche Divergenz zwischen den Folgen der Beweisvereitelung innerhalb und außerhalb vertraglicher Beziehungen kann nicht argumentativ begründet werden.290 Vergegenwärtigt man sich, dass ein gesetzliches Schuldverhältnis über eine unerlaubte Handlung entstehen kann und bleibt eine Beweisvereitelung durch den Schädiger ohne Folgen, weil sie lediglich in fahrlässiger Art und Weise erfolgte, überzeugt das erst recht nicht. Der Schädiger würde privilegiert, weil er sich außerhalb vertraglicher Beziehungen befindet. Darüber hinaus ist die Rechtsfolge einer unerlaubten Handlung der Schadensersatz, der grundsätzlich auf Naturalrestitution ausgelegt ist.291 Unabhängig davon, welche Rechtsfolge die Beweisvereitelung auslösen soll – Beweislastumkehr, Beweiswürdigung, Beweismaßsenkung oder Wahrunterstellung –, handelt es sich um Folgen, die nicht als Surrogat für einen Schadensersatz deklariert werden können.292 289   Stürner, Aufklärungspflicht, S.  134 ff.; Peters ZZP 82 (1969), 200, 208 ff.; Katzenmeier JZ 2002, 533 ff. 290   Thole JR 2011, 327, 332. 291   Thole JR 2011, 327, 333. 292   Thole JR 2011, 327, 333. Paulus AcP 197 (1997), 136, 158 weist darauf hin, dass in einem Beweiserhebungsverfahren unter der Ägide des Richters keine deliktsrechtliche Sanktion in Betracht komme. Das könne bei einem Beweiserhebungsverfahren in den Händen der Parteien der Fall sein.

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Der Begründung über das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens kann sicherlich nicht entgegengehalten werden, dass ein materiellrechtlicher Grundsatz prozessrechtlich verwendet wird. Die strikte Trennung zwischen Anspruch und Klage, materiellem Recht und Prozessrecht ist überwunden. Indes verfängt ein anderer Einwand. Die dogmatische Begründung muss in der Lage sein, eine Pflicht zur Aufbewahrung des Beweismittels zu konstatieren, denn ohne eine entsprechende Pflicht fehlt die Basis für die Sanktionierung. Es müsste also zunächst eine Pflicht zur Beweismittelaufbewahrung geschaffen werden. Das kann das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens jedoch nicht leisten. Solange diese Pflicht fehlt, kann der Partei kein widersprüchliches Verhalten zur Last gelegt werden. Mithin verbleibt die prozessrechtliche Begründung, die an die Mitwirkungspflichten der Parteien anknüpft. Bereits an anderer Stelle ist das Bestehen der Mitwirkungspflichten herausgearbeitet worden. Aus der Mitwirkungspflicht in Verbindung mit der Erklärungs- und Wahrheitspflicht der Parteien (§  138 Abs.  1 ZPO) folgt, dass die Parteien Beweismittel – jedenfalls nach entsprechender Anordnung – bereitstellen müssen und damit nicht unterdrücken oder vernichten dürfen. Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz erfährt in den erwähnten Vorschriften, die einen Ausschnitt des Gesamtbereichs der Beweisvereitelung regeln (vor allem §§  427, 444 ZPO, darüber hinaus §§  371 Abs.  3, 441, 446, 453 ZPO), seinen Ausdruck. Zwar sieht unter anderem §  444 ZPO eine fahrlässige Beweisvereitelung nicht vor, doch spricht das nicht gegen die sonstige Anerkennung der fahrlässigen Beweisvereitelung. In §  371 Abs.  3 ZPO ist allgemein eine Beweisvereitelung Voraussetzung, gemäß §  427 und §  441 ZPO reicht es aus, dass nach der Urkunde bzw. Schrift nicht sorgfältig geforscht wurde. Die fahrlässige Beweisvereitelung ist damit anerkannt. In den Folgen wird man danach differenzieren müssen, ob eine fahrlässige oder vorsätzliche Beweisvereitelung gegeben ist. Nach dem gesetzlichen Regime wird die Beweisvereitelung jeweils im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt. Die Beweisvereitelung kann negative Folgen auch dann haben, wenn diese vor dem Prozess stattfand. Insoweit ist von einer Vorwirkung der Mitwirkungspflicht auszugehen. Dass diese Vorwirkung dem Gesetz nicht fremd ist, zeigt bereits §  444 ZPO. In dessen Anwendungsbereich kann die Beseitigung während oder vor dem Prozess erfolgen.293 An diesem Ansatz ist zunächst zu begrüßen, dass die freie richterliche Beweiswürdigung das entscheidende Moment ist. Erst wenn eine Behauptung nach freier richterlicher Beweiswürdigung als erwiesen oder nicht erwiesen anzusehen ist, kommt die Umkehr der konkreten Beweisführungslast zum Zuge. 294 Es 293   Leipold, in: Stein/Jonas, §  4 44 Rn.  1; Peters ZZP 82 (1969), 200, 206 (mit Beispielen für eine Beweisvereitelung vor dem Prozess auf S.  202 ff.); ausführlich zur Vorwirkung Stürner, Aufklärungspflicht, S.  155 ff. 294   Laumen NJW 2002, 3739, 3742.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

gilt die Behauptung der Gegenpartei der für die Beweisvereitelung verantwortlichen Partei – freilich ohne entsprechende Beweiserhebung. Letztere kann jedoch den Gegenbeweis führen, also Zweifel an dem Hauptbeweis aufzeigen, die ihn letztlich entfallen lassen. Dabei steht es im Ermessen des Richters, ob der Beweis als geführt angesehen werden kann. Fraglich ist, ob das mit der geforderten Rechtsklarheit und Vorhersehbarkeit zu vereinbaren ist. Die genannten Vorschriften beinhalten »Kann«-Regelungen, sodass die Berücksichtigung der Beweisvereitelung im Ermessen des Richters steht. Das Ermessen des Richters ist aber notwendig und der Tatsache geschuldet, dass die Beweisvereitelung ein sehr weites Feld abdeckt. Flexibilität ist daher erforderlich, allerdings in fest umrissenen Grenzen. Um die Grenzen abzustecken, bietet sich eine Unterscheidung der Beweisvereitelung nach dem Grad des Verschuldens an.295 Bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Beweisverei­ telung wird der Richter den Hauptbeweis als zulasten der für die Beweisvereitelung verantwortlichen Partei geführt anzusehen haben, bei fahrlässiger Beweisvereitelung wird Zurückhaltung anzunehmen sein. Insoweit erscheint die Berücksichtigung lediglich im Rahmen der freien Beweiswürdigung als sachgerecht.296 Hingegen wird die objektive Feststellungslast nicht berührt, weil es sich dabei um eine Rechtsfrage handelt, die vor Beginn des Prozesses feststeht. Die Verteilung der konkreten Beweisführungslast ist hingegen eine Tatfrage, die eine gewisse Flexibilität beinhaltet. Die Beweisvereitelung ist so vielschichtig, dass ihr ohne eine gewisse Flexibilität nicht gerecht zu werden ist.297 4. Ergebnis Eine Beweisvereitelung ist gegeben bei jedem Tun oder Unterlassen, welches die Sachverhaltsaufklärung verhindert.298 Bei der Beweisvereitelung handelt es sich um ein prozessrechtliches Instrument, freilich mit deutlichen Verbindungen zum materiellen Recht. Dogmatisch knüpft das Institut der Beweisvereitelung an die Mitwirkungspflichten der Parteien an, aus deren Verletzung sich als Rechtsfolge die Umkehr der konkreten Beweisführungslast ergibt. Der Hauptbeweis des Beweispflichtigen gilt als geführt, die beweisvereitelnde Partei kann den Gegenbeweis führen. Der Beweis des Gegenteils ist hingegen nicht erforderlich. Ob der Beweis als geführt anzusehen ist, steht im Ermessen des Richters. Als ermessensleitender Gesichtspunkt ist der Grad des Verschuldens anzu295   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  63; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  92; Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63, 70 ff.; Laumen NJW 2002, 3739, 3746; ähnlich Thole JR 2011, 327, 333. 296   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  188. 297   Laumen MDR 2009, 177, 180. 298   BGH NJW 2004, 222; 2006, 434, 436 Rn.  23; Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63.

§  11  Richterrechtliche Beweiserleichterungen

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sehen.299 Dementsprechend ist bei fahrlässiger Beweisvereitelung Zurückhaltung geboten.

V.  Beweismaßsenkung im Einzelfall Der Gesetzgeber hat an einzelnen Stellen eine Reduzierung des Beweismaßes vorgesehen. Fraglich ist, ob darüber hinausgehende Beweismaßreduzierungen im Einzelfall zulässig sein können. Dem Ziel der Durchsetzung des materiellen Rechts folgend müsste eine Beweismaßreduzierung im Einzelfall erlaubt sein, wenn sie der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, wenn also eine Realisierung der materiellrechtlichen Ansprüche nur darüber erreicht werden kann.300 Weiter ist jedoch zu konstatieren, dass es sich bei dem erforderlichen Beweismaß um eine Rechtsfrage handelt, hingegen nicht um eine Tatfrage. Die rechtlichen Anforderungen an den Beweis müssen jedoch im Interesse der Rechtssicherheit vor Prozessbeginn definiert, d. h. abstrakt bestimmt sein.301 Dem würde es widersprechen, wenn der Richter im Einzelfall – unter Umständen abhängig vom Prozessverlauf – das Beweismaß definieren könnte. Eine solche Freiheit wäre nicht von §  286 Abs.  1 ZPO gedeckt, der die freie Beweiswürdigung verlangt und erlaubt, allerdings nicht die Befugnis zur Festlegung des Beweismaßes gibt. Aufgrund des klaren Wortlauts von §  286 Abs.  1 ZPO (»für wahr erachten«) kann es eine Abwandlung des Beweiskriteriums im Einzelfall dahingehend, dass die richterliche Wahrheitsüberzeugung durch ein Wahrscheinlichkeitsurteil ersetzt wird, nicht geben.302 Eine Beweismaßsenkung durch Rechtsfortbildung sei nicht möglich.303 Das Zusammenspiel von Beweismaß und Beweiswürdigung bedeutet: Das Beweismaß ist eine Rechtsfrage, die abstrakt feststehen muss.304 Hingegen ist es eine Tatfrage, ob das erforderliche Beweismaß erreicht wird. Dies stellt der Richter über die Beweiswürdigung fest. Aus dieser Trennung wird deutlich, dass die abstrakte Festlegung des Beweismaßes keinen Eingriff in die freie Beweiswürdigung bedeuten kann. Als Ergebnis ist damit festzuhalten, dass das Beweismaß abstrakt festgelegt sein muss. Eine Korrektur im Einzelfall ist abzulehnen. Führt dies dazu, dass manche materiellrechtlichen Anspruchsnormen leerlaufen würden,305 ist dieses Problem auf der Ebene des materiellen Rechts, gegebenenfalls über Beweiserleich-

299   Foerste, in: Musielak, §  286 Rn.  63; Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  92; Baumgärtel, in: FS Kralik, S.  63, 70 ff.; Laumen NJW 2002, 3739, 3746; ähnlich Thole JR 2011, 327, 333. 300   Baumgärtel, in: Habscheid/Beys, S.  543, 557. 301   Greger, S.  15; Prütting, S.  62. 302   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  28. 303   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  28. 304   Greger, S.  15; Prütting, S.  59; Stickelbrock, S.  363. 305  Siehe Walter, S.  259.

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Teil 4:  Beweiserleichterungen

terungen, jedenfalls nicht auf der Ebene des Beweismaßes im Einzelfall zu lösen. Entgegen diesen Ausführungen wird zum Teil vertreten, dass es bereits ein Regelbeweismaß nicht geben könne. Das Beweismaß sei vielmehr in jedem Einzelfall festzulegen. Eine einzelfallbezogene Betrachtung sei notwendig, weil die Festlegung eines einheitlichen Beweismaßes unüberwindlichen Schwierigkeiten begegne.306 Eine solche Sichtweise würde jedoch empfindliche Einbußen bei der Rechtssicherheit mit sich bringen. Das von dem Richter angelegte Beweismaß stünde vor dem Prozess nicht fest, sodass die Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen leiden würde.307 Die Steuerungswirkung des materiellen Rechts ginge verloren, wenn prozessuale Entscheidungen aufgrund eines erst im Einzelfall bestimmten Beweismaßes vollkommen unkalkulierbar wären.

VI. Fazit Die Rechtsprechung greift auf Beweiserleichterungen zurück, die im Gesetz keine ausdrückliche normative Verankerung erfahren haben. Eine dogmatische Ableitung wird von der Rechtsprechung nicht vorgenommen. Aufgrund der fehlenden gesetzlichen oder rechtsdogmatischen Ableitung werden sie kritisiert.308 Die Rechtsprechung konkretisiert die dogmatische Grundlage ihres Vorgehens nicht und verwendet Begriffe wie Beweiserleichterung, tatsächliche Vermutung oder Anscheinsbeweis ohne nähere Erläuterung.309 Daraus folgt jedoch die Gefahr, dass sich ein richterliches Billigkeitsrecht ohne Normbezug entwickelt.310 Voraussetzung für einen Rückgriff auf den Anscheinsbeweis, auf tatsächliche Vermutungen und die Beweisvereitelung ist eine konkrete Definition ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Die Konkretisierung kann nur gelingen, wenn eine dogmatische Einbettung erfolgt, die in der Rechtsprechung häufig fehlt. Mit der herausgearbeiteten Rechtsfolge ähnelt die Beweisvereitelung dem Institut des Anscheinsbeweises, bei dem ebenfalls von einer Umkehr der konkreten Beweisführungslast auszugehen ist.311 Der Grund für die Umkehr ist jedoch ganz unterschiedlich. Bei dem Anscheinsbeweis ist es ein Erfahrungssatz, der ansonsten bestehende Beweisschwierigkeiten überbrückt. Bei der Beweisvereitelung ist es das Verhalten einer Partei, welches die Umkehr der konkreten Be306   Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S.  198 ff.; ders., in: FS Henrich, S.  165, 173 ff.; ders. Sonderheft VersR 1987, S.  3, 13 mit dem Hinweis, dass auch die Rechtsprechung in der Sache nicht anders verfahre, sondern lediglich dogmatisch anders begründe; Rommé, S.  69 ff.; Nell, S.  210 ff.; Musielak, in: FS Kegel, S.  451, 471. 307   Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 8. 308   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  25. 309   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  10. 310   Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  10. 311   Saenger, in: Hk-ZPO, §  286 Rn.  39, 56; Laumen NJW 2002, 3739, 3742.

§  11  Richterrechtliche Beweiserleichterungen

325

weisführungslast auslöst. Allerdings führt dieses Verhalten zu Beweisschwierigkeiten, sodass sich Anscheinsbeweis und Beweisvereitelung in diesem Punkt treffen. Die Mitwirkungspflicht der Parteien kann dabei als dogmatische Grundlage herangezogen werden, die im Wege einer Lückenfüllung hilft, Beweisschwierigkeiten zu mildern oder zu überwinden.312 Unter den genannten Voraussetzungen sind sowohl der Anscheinsbeweis als auch die Beweisvereitelung erforderliche Mittel zur Überwindung von Beweisschwierigkeiten. In das Konzept der Mitwirkungspflichten passt das hier herausgearbeitete System des Anscheinsbeweises und der Beweisvereitelung hinein, sodass sich ein schlüssiges Gesamtkonzept ergibt.

312   Thole JR 2011, 327, 334; C. Wagner, in: MünchKommZPO, §  138 Rn.  22 stellt als »positive Begründung« auf die Prozessförderungspflicht in Verbindung mit der Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht ab.

Teil  5

Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts als Anreizsystem und als Mechanismus des Interessenausgleichs §  12  Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung In den materiellrechtlichen Vorschriften sind die Anforderungen an die Anspruchsbegründung zu regeln. Freilich ergibt sich das Problem, dass in bestimmten Konstellationen immer wieder Beweisprobleme auftreten.1 Die Untersuchungen haben gezeigt, dass erhebliche Bedenken gegen Beweismaß­ senkungen im Einzelfall oder andere nicht vorhersehbare richterrechtliche Beweiserleichterungen bestehen. Eine Lösung über das Beweisrecht würde letztlich dazu führen, dass ein materielles Sonderrecht über den Umweg des Prozessrechts entsteht. Beweisprobleme können teilweise bereits auf der Ebene des materiellen Rechts vermieden werden, indem Rechtsfolgen an die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines Tatbestands anknüpfen.

I.  Anforderungen an die Kausalität: Nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit Prütting weist darauf hin, dass einfache Erfahrungssätze von der Rechtsprechung teilweise als Grundlage des Anscheinsbeweises verwendet würden.2 Der wahre Grund für diese Erleichterung der Beweisführung liege jedoch nicht in der Führung des Anscheinsbeweises, sondern ergebe sich aus den materiellrechtlichen Vorgaben.3 Es handle sich um Nachweise der Kausalität, für die eine materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung vorliege, die unabhängig von der Führung des Anscheinsbeweises geboten sei. Das materielle Recht sehe in einigen Fällen für den Nachweis der Kausalität geringere Beweisanforderungen vor. Als Beispiel wird §  119 Abs.  1 BGB genannt, der für die Kausalität des Irrtums für die Erklärung verlangt, dass »anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde«. Ähnlich sieht §  1 Abs.  2 Nr.  2 ProdHaftG einen Ausschluss der Ersatz1  Siehe Baumgärtel, in: FS Fasching, S.  67, der auf die zunehmende Rolle der Beweislast aufgrund der Kompliziertheit der technischen und wirtschaftlichen Vorgänge hinweist. 2   Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  61; siehe auch Greger VersR 1980, 1091 ff. 3  Ebenfalls Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  35.

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Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

pflicht vor, wenn »nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte«. Darüber hinaus werde nach §  252 S.  2 BGB der entgangene Gewinn ersetzt, der »mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte«.4 Schließlich seien in Spezialgesetzen Beweismaßsenkungen für den Kausalitätsnachweis vorgesehen (zum Beispiel §  61 S.  1 InfektionsSchG: »Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung i. S. des §  60 Abs.  1 S.  1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.«). Analog diesen Vorschriften sei für den Kausalitätsnachweis generell nur die nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit bzw. die überwiegende Wahrscheinlichkeit zu verlangen.5 Erwähne das Gesetz den Begriff der Kausalität, werde stets an eine wahrscheinliche Kausalität angeknüpft. Überall dort, wo das Gesetz einen Kausalzusammenhang verlange, sei analog §§  119 Abs.  1, 2087 Abs.  1 BGB die nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit ausreichend. Es zeige sich, dass der Gesetzgeber von einem solchen Verständnis des Kausalitätsnachweises ausgehe. 6

II.  Voraussetzungen einer Analogie Zu unterscheiden sind die Einzelanalogie (Gesetzesanalogie) und die Gesamtanalogie (Rechtsanalogie). Unter einer Einzelanalogie versteht man die Übertragung der für einen Tatbestand im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm rechtsähnlichen Tatbestand.7 Bei der Gesamtanalogie wird aus verschiedenen Rechtssätzen eine allgemeine Regel abgeleitet, die dann auf einen Sachverhalt übertragen wird, der den in den anderen Vorschriften geregelten Fällen ähnelt. 8 Eine Analogie setzt voraus, dass eine planwidrige Regelungslücke vorliegt und der zur Beurteilung stehende Sachverhalt mit dem vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat.9 Voraussetzung für eine Analogie ist somit zunächst eine Gesetzeslücke in Gestalt einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes.10 Das Vorliegen einer Regelungslücke allein reicht für eine Analogie nicht aus. Die Regelungslücke muss darüber hinaus planwidrig sein. Dies setzt voraus, dass eine nach dem Regelungsplan, also nach dem Zweck und dem Gesamtzusammenhang des Ge-

4   Siehe auch Medicus, in: FS Picker, S.  619, 622, der auf §  844 Abs.  2 S.  1 BGB verweist: »während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens«. 5   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  35, Prütting, in: MünchKommZPO, §  286 Rn.  47; tendenziell auch Diederichsen VersR 1966, 211, 216 ff. 6   Greger, in: Zöller, vor §  284 Rn.  35; ders. VersR 1980, 1091, 1103. 7   Sprau, in: Palandt, Einl. Rn.  48; Larenz, S.  381. 8   Sprau, in: Palandt, Einl. Rn.  48. 9   BGHZ 105, 140, 143; BGH, NJW 2003, 2473, 2474 f.; Canaris, S.  31 ff. 10   Canaris, S.  31 ff.; Larenz, S.  373.

§  12  Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung

329

setzes zu erwartende Regel fehlt.11 Das Gesetz muss an dieser Stelle Vollständigkeit anstreben, sie aber tatsächlich nicht aufweisen.12 Entscheidend ist dafür, dass der Gesetzgeber bei hinreichendem Kenntnisstand diese Lücke so nicht gelassen hätte. Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen, die Engisch13 treffend formuliert: »Wir dürfen eine Regelung nicht bloß vermuten, wir müssen sie vermissen, falls ihr Nichtvorhandensein sich als ›Lücke‹ darstellen soll.«

III. Würdigung Eine Gesamtanalogie zu §§  119 Abs.  1, 2087 Abs.  1 BGB würde somit voraussetzen, dass in Bezug auf die Anforderungen der Feststellung des Kausalzusammenhangs eine Regelung fehlt. Allerdings ist insoweit eine Regelung gegeben: Es muss ein Kausalzusammenhang bestehen, d. h. feststehen. Eine nach dem Zweck und Gesamtzusammenhang des Gesetzes zu erwartende Regel fehlt nicht. Der Gesetzgeber hat eine Regelung getroffen. In §  286 Abs.  1 ZPO ist festgelegt, dass der Richter nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, ob eine Tatsache gegeben ist oder nicht. Für die Frage der Anforderungen an die Feststellung von Tatsachen und damit für die Feststellung des Kausalzusammenhangs gibt es somit eine gesetzgeberische Entscheidung. Eine darüber hinausgehende besondere Regel für den Kausalitätsnachweis ist nicht zu erwarten. Die Probleme ergeben sich allein daraus, dass sich der Zusammenhang in einigen Konstellationen typischerweise nur schwierig nachweisen lässt. Eine Gesetzeslücke in Gestalt einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes liegt damit nicht vor.

IV. Fazit Die insbesondere von Greger und Prütting befürwortete Analogie ist abzulehnen.14 Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass nicht der Ansatzpunkt im materiellen Recht zu suchen ist. Abzulehnen ist de lege lata eine analoge Anwendung der genannten Vorschriften. Auch de lege ferenda erscheint eine materiellrechtliche Veränderung der Anforderungen des Kausalitätsnachweises nicht sachgerecht. Dadurch würde nämlich allgemein eine Haftung für bereits wahrscheinliches Verhalten angeführt. Dem Grundkonzept des deutschen Zivil- und insbesondere des Deliktsrechts widerspricht das. Vielmehr erscheint die Lösung des Gesetzgebers, lediglich an einzelnen Stellen – wie vorhanden – eine nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit ausreichen zu lassen, vorzugs  Engisch, S.  180.   BVerfGE 65, 182, 191 f. – Sozialplan. 13   Engisch, S.  241. 14   Ablehnend nunmehr auch ausführlich Weber, S.  182 ff. 11

12

330

Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

würdig. Damit können problematische Konstellationen gezielt identifiziert und »behandelt« werden.

§  13  Gesetzgeberische Risikozuweisung über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln Im materiellen Recht können Risikozuweisungen erfolgen, die letztlich zu einer Aufklärung führen, weil als Sanktion ansonsten der Prozessverlust droht. In der materiellrechtlichen Anordnung liegt eine Entscheidung des Gesetzgebers über die Risikoverteilung. Weil aus der Behauptungs- und Beweislast für die Prozessbeteiligten Anreize zur Tatsachenbeibringung und -feststellung folgen, werden die Parteien zur Sachverhaltsaufklärung beitragen. Die Risikozuweisung erfolgt mithin über die Festlegung der materiellrechtlichen Voraussetzungen. Eine gesetzgeberische Risikozuweisung liegt zum Beispiel in der Anordnung der Gefährdungshaftung (zum Beispiel §  833 S.  1 BGB) oder der Haftung für vermutetes Verschulden (zum Beispiel §  833 S.  2 BGB), die in Abweichung zur Verschuldenshaftung (§  823 Abs.  1 BGB) unter erleichterten Voraussetzungen eingreifen.15 Gesetzgeberisch kann auch eine Haftung für einen Sachverhalt angeordnet werden, der eine Unsicherheit beinhaltet, etwa §  830 Abs.  1 S.  2 BGB.16 Die jeweilige gesetzgeberische Anordnung stellt eine gezielte Risikoverteilung dar. Zur Abwendung eines nachteiligen Prozessergebnisses muss die risikobelastete Partei zur Aufklärung beitragen. Darüber hinaus kann die Risikoverteilung zur Steuerung des menschlichen Verhaltens eingesetzt werden. Eine wirksame Steuerung des menschlichen Verhaltens erfolgt nicht allein über den Normcharakter an sich, sondern aufgrund von Anreizstrukturen, die in positiver oder negativer Weise ausgestaltet sein können. Positive Anreizsysteme belohnen normkonformes Verhalten, während negative Anreizsysteme über Sanktionen funktionieren. Der Einzelne wird versuchen, die für ihn sprechenden Tatsachen vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen. Aus diesem Grunde eignen sich sanktionsbewehrte Rechtsnormen zur Erreichung bestimmter Ziele.17 Schließlich würde eine solche Lösung zur Einheit von materiellem Recht und Prozessrecht beitragen. Es würde nicht versteckt über das Prozessrecht eine Veränderung des materiellen Rechts erfolgen. Dadurch hätte man zwei Lösungen verbunden, und zwar erstens die materielle oder prozessuale Mitwirkungsverpflichtung und zweitens die materiellrechtliche Risikozuweisung.   Zu den Prinzipien des außervertraglichen Haftungsrechts Kreuzer, in: FS Lorenz, S.  123,

15

125.

  Prütting Sonderheft VersR 1990, 3, 12.   Schmidtchen/Bier, in: Bork/Eger/Schäfer, S.  51.

16

17

§  13  Gesetzgeberische Risikozuweisung

331

Ferner können materiellrechtlich Interessenabwägungen vorgenommen werden. Der Gesetzgeber kann dabei schutzwürdige Belange festlegen oder Tatbestände so festsetzen, dass ein Geheimhaltungsinteresse nicht tangiert wird. Als Beispiel für eine solche Anordnung nennen Prütting/Weth18 das Merkmal des Vertretenseins im Betrieb. Sie sprechen sich gegen ein prozessuales Geheimverfahren aus und schlagen demgegenüber vor, falls der gesetzgeberische Wille dazu bestehe, die Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz bereits einer für den Betrieb zuständigen Gewerkschaft zuzugestehen. Der Interessenausgleich könne dadurch auf die materielle Ebene vorverlagert werden. Diese materiellrechtliche Regelung hätte den Vorteil der Einheit von materiellem Recht und Prozessrecht. Freilich sind Prütting/Weth insgesamt gegen ein Geheimverfahren, während hier ein zusätzlicher, d. h. ergänzender Lösungsansatz vorgeschlagen wird. Risikozuordnungen können im materiellen Recht gezielt über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln erfolgen, weshalb insbesondere ihre Anreizwirkungen zu untersuchen sind. Aus den Anreizwirkungen könnte folgen, dass die genannten Institute häufiger zu verwenden sind.

I.  Überblick und Abgrenzungen Unwiderlegbare gesetzliche Vermutungen (praesumptio iuris et de iure) sind von widerlegbaren gesetzlichen Vermutungen (praesumptio iuris) zu unterscheiden. Die unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutungen beinhalten keine beweisrechtliche Relevanz im engeren Sinne, weil sie Tatbestände »ändern« und ihr Vorliegen eben nicht nur vermuten.19 Unwiderlegbare Vermutungen finden sich in §  1566 Abs.  1 und Abs.  2 BGB, darüber hinaus in §§  267, 547, 739 Abs.  120 ZPO; nunmehr ebenfalls in §  39a Abs.  3 S.  3 WpÜG21, obwohl dort im Gesetzeswortlaut der Terminus Vermutung nicht verwendet wird. Ist die Unwiderlegbarkeit nicht gesondert angeordnet, handelt es sich um widerlegbare gesetzliche Vermutungen, weil sie den Beweis des Gegenteils zulassen (§  292 ZPO). Die Vermutung stellt dann eine Regelung der Beweislast dar, und zwar in Gestalt einer Beweislastumkehr.22 Für die vermutete Tatsache ent-

  Prütting/Weth ArbuR 1990, 269, 275.   Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 694. 20   Trotz der Formulierung »gilt« wird §  739 Abs.  1 ZPO allgemein als unwiderlegbare Vermutung eingeordnet; Heßler, in: MünchKommZPO, §  739 Rn.  1; Münzberg, in: Stein/Jonas, §  739 Rn.  10; Stöber, in: Zöller, §  739 Rn.  7. 21  LG Frankfurt/M. ZIP 2008, 1769 sieht die Vermutung als widerlegbar an, trotz des Wortlauts »ist als angemessene Abfindung anzusehen«; in der Entscheidung über die sofortige Beschwerde hat das OLG Frankfurt/M. DB 2009, 54 die Einordnung als Fiktion, widerlegbare oder unwiderlegbare Vermutung offen gelassen. 22   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  32. 18 19

332

Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

fällt die Beweisbedürftigkeit.23 Widerlegbare Vermutungen sind sowohl im BGB als auch in Spezialgesetzen zu finden. Beispiele für widerlegbare Vermutungen aus dem BGB sind: §§  336 Abs.  124 , 443 Abs.  2, 476, 558d Abs.  3, 891, 921, 938, 1006 Abs.  1 S.  1, Abs.  2 und 3, 1117 Abs.  3, 1253 Abs.  2 S.  1, 1362, 1377 Abs.  1 und 3. Außerhalb des BGB finden sich Vermutungen etwa in §  5 Abs.  4 UWG sowie §§  19 Abs.  3 S.  1, 20 Abs.  2 S.  2 GWB. Im Prozessrecht enthalten Ver­ mutungen §§  437 Abs.  1, 440 Abs.  2 ZPO; im Insolvenzrecht §§  81 Abs.  3 S.  1, 82 S.  2, 125 Abs.  1 S.  1 Nr.  1, 128 Abs.  2 InsO, neuerdings Art.  3 Abs.  1 S.  2 EuInsVO. Insbesondere von den unwiderlegbaren Vermutungen sind die Fiktionen zu unterscheiden. Gemeinsam ist den unwiderlegbaren Vermutungen und den Fiktionen, dass kein Beweis des Gegenteils möglich ist.25 Eine Fiktion fingiert jedoch einen Tatbestand, setzt also bereits begrifflich voraus, dass der Gesetzgeber den Tatbestand als tatsächlich nicht gegeben ansieht.26 Fiktionen finden sich in §§  108 Abs.  2 S.  2, 119 Abs.  2, 177 Abs.  2 S.  2, 812 Abs.  2, 1923 Abs.  2 BGB. Wie bei den unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutungen handelt es sich bei den Fiktionen um materielle Rechtssätze, die die Erforderlichkeit eines Beweises in Bezug auf die fingierte Tatsache entfallen lassen. Schließlich sind von den Vermutungen und den Fiktionen die Auslegungsregeln abzugrenzen, die sich nicht auf eine Tatsachenbehauptung beziehen, sondern eine Regelung enthalten, wie der Parteiwille im Zweifel auszulegen ist.27 Auslegungsregeln sind somit Rechtsregeln, 28 die das BGB etwa in §§  154, 329 ff., 364 Abs.  2 enthält.

II.  Gesetzliche Vermutungen Vermutungen können in unterschiedlicher Weise, jeweils durch die Bildung von Begriffspaaren, systematisiert werden: Gesetzliche und vertragliche Vermutungen, widerlegbare und unwiderlegbare Vermutungen, Tatsachen- und Rechts(zustands)vermutungen. An dieser Stelle werden die gesetzlichen Vermutungen behandelt.29 Dementsprechend ist auf die Unterscheidung von widerlegbaren und unwiderlegbaren Vermutungen einerseits und die Unterscheidung von Tatsachen- und Rechts(zustands)vermutungen andererseits einzugehen.

  Huber, in: Musielak, §  292 Rn.  4 ; Saenger, in: Hk-ZPO, §  293 Rn.  8.   Trotz der Formulierung »gilt« handelt es sich um eine widerlegbare Vermutung; Gottwald, in: MünchKommBGB, §  336 Rn.  8. 25   BGH NJW 1965, 584. 26   Habscheid ZZP 96 (1983), 306, 311. 27   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  3. 28   Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  10. 29   Zu den vertraglichen Vermutungen G. Wagner, S.  6 49 ff.; siehe auch Baumgärtel, in: FS Fasching, S.  67 ff. 23 24

§  13  Gesetzgeberische Risikozuweisung

333

1. Widerlegbarkeit Bereits in §  292 S.  1 ZPO ist die Unterscheidung zwischen widerlegbaren und unwiderlegbaren Vermutungen angelegt. Stellt das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung auf, so ist der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Daraus ergibt sich, dass gesetzliche Vermutungen widerlegbar sind, wenn nicht die Unwiderlegbarkeit im Gesetz besonders angeordnet ist. a)  Unwiderlegbare Vermutungen Eine unwiderlegbare Vermutung (sog. praesumtio iuris et de iure) wird beispielsweise in §  1566 Abs.  1 BGB angeordnet. Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist (nach §  1565 Abs.  1 S.  1 BGB Voraussetzung für die Scheidung), wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. Es wird aus bestimmten Tatsachen (Getrenntleben seit einem Jahr sowie beiderseitiger Antrag oder Zustimmung) darauf geschlossen, dass eine andere Tatsache gegeben ist (Scheitern der Ehe). Das Beweisthema wird durch die Vermutung auf die Vermutungsbasis verschoben. Insoweit ergibt sich kein Unterschied zu den widerlegbaren Vermutungen. Allerdings können die unwiderlegbaren Vermutungen – wie schon der Wortlaut sagt – nicht widerlegt werden. Es handelt sich daher eigentlich um mehr als eine Vermutung, und zwar um die Aufstellung eines zweiten Tatbestands (die Vermutungsbasis/Ausgangstatsache) für eine bestimmte Rechtsfolge (Vermutung),30 d. h. um Rechtssätze, die materielle Rechtsfolgen bestimmen.31 Aus diesem Grunde scheint auf den ersten Blick fraglich, ob es unwiderlegbarer Vermutungen überhaupt bedarf. Es würde doch naheliegen, anstelle der Vermutung einen Rechtssatz aufzustellen, der nicht als Vermutung »getarnt« ist. So könnte es in §  1566 Abs.  1 BGB heißen: Die Ehe ist gescheitert, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. Der Gesetzgeber arbeitet aber stattdessen mit der Rechtsfigur einer unwiderlegbaren Vermutung, weil unter den genannten Voraussetzungen die tatsächlich nicht gescheiterte Ehe als gescheitert gilt.32 Hingegen wollte der Gesetzgeber gerade nicht ausdrücken, dass die Ehe auf jeden Fall gescheitert ist.

  Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  6 .   Musielak, S.  82; Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 694. 32   Ey, in: MünchKommBGB, §  1566 Rn.  31. 30 31

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Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

b)  Widerlegbare Vermutungen Stellt das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung auf, ist nach §  292 S.  1 ZPO der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt (sog. praesumtio iuris). §  292 S.  2 ZPO bestimmt, dass der Beweis des Gegenteils durch den Antrag auf Parteivernehmung nach §  445 ZPO geführt werden kann. Steht die Vermutungsbasis fest, tritt eine Umkehr der objektiven Beweislast zum Nachteil des Vermutungsgegners ein.33 Die widerlegbare gesetzliche Vermutung ist ein Instrument zur Beweisrisikoverteilung.34 Die Vermutung kann auf zweifache Weise widerlegt werden. Es kann zum einen die Vermutungsbasis widerlegt werden, sog. Gegenbeweis. Dieser ist nicht erst geführt, wenn das Gericht von der Unwahrheit der Vermutungsbasis überzeugt ist, sondern wenn die Überzeugung des Gerichts von der Vermutungsbasis erschüttert ist.35 Darüber hinaus ist der Beweis des Gegenteils der Vermutung an sich möglich. Dabei handelt es sich um einen Hauptbeweis zur vollen Überzeugung des Gerichts.36 Die Vermutung muss daher entkräftet sein, eine potentielle Unrichtigkeit genügt nicht. Nicht ausgeschlossen ist gleichwohl, dass Beweiserleichterungen zur Führung des Gegenteilsbeweises eingreifen.37 Rechts(zustands)vermutungen unterliegen im Grundsatz ebenfalls der Regelung des §  292 ZPO,38 obwohl sie vom Wortlaut nicht unmittelbar erfasst sind. Für die Entkräftung und Widerlegung gelten jedoch Besonderheiten, um nicht eine Widerlegung nahezu unmöglich zu machen. Es müssen die Tatsachen bewiesen werden, aus denen sich das Nichtbestehen des Rechts ergibt. Das wird allerdings nicht immer möglich sein. In diesem Fall ist für die Widerlegung ausreichend, wenn diejenigen Tatsachen entkräftet werden, aus denen sich nach dem Vortrag des Vermutungsbegünstigten der Erwerb des Rechts ergibt.39 Es müssen also die Möglichkeiten ausgeschlossen werden, die nach dem Parteivortrag in Betracht kommen.40 Dass das Gericht einen Sachverhalt, der von den

33   Die Einstufung als Beweislastumkehr bezieht sich darauf, dass gesetzgeberisch von der Grundregel der Beweislast abgewichen wird. 34  Siehe Stürner, in: FS Stoll, S.  691, 694 f. 35   BGH NJW 1983, 1740; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  20; a. A. Huber, in: Musielak, §  292 Rn.  5, der sich unrichtigerweise auf BGH MDR 1959, 114 beruft. 36   BGH NJW 2002, 3027, 3028. 37   Greger, in: Zöller, §  292 Rn.  2. 38   BGH NJW 2002, 2101, 2102. 39   Zu den Anforderungen, die sich für den Vortrag des Vermutungsbegünstigten im Rahmen des §  1006 Abs.  1 S.  1 BGB ergeben: Medicus, in: FS Baur, S.  63, 71 ff.; siehe auch Baldus, in: MünchKommBGB, §  1006 Rn.  28; Gursky, in: Staudinger, §  1006 Rn.  49. 40   BGH JR 1978, 18, 20 = MDR 1977, 661; Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  18; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  35.

§  13  Gesetzgeberische Risikozuweisung

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Parteien nicht vorgetragen wurde, als Erwerbsgrund für möglich hält, steht der Widerlegung dann nicht mehr entgegen.41 2. Vermutungsgegenstand a) Tatsachenvermutungen Tatsachenvermutungen sind Rechtssätze, die aus einem tatbestandsfremden Umstand auf das Vorliegen eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals schließen.42 Ein Beispiel für eine gesetzliche Tatsachenvermutung ist §  1253 Abs.  2 S.  1 BGB: Aus dem Besitz des Verpfänders oder Eigentümers wird auf die Rückgabe des Pfandes durch den Pfandgläubiger geschlossen. Es handelt sich um eine sog. Tatsachenvermutung, weil sich die Vermutung auf eine Tatsache bezieht, eben die Rückgabe des Pfands. Dadurch wird trotz Unklarheit über die Rückgabe des Pfands ein positives Beweisergebnis erzielt, denn aufgrund der Vermutung wird die Rückgabe des Pfands angenommen. Die vermutete Tatsache bedarf keines Beweises, sondern es ist ausreichend, dass die Vermutungsbasis feststeht.43 Die Vermutungsbasis, d. h. diejenige Tatsache, auf die das Gesetz die Vermutung gründet,44 muss dazu behauptet werden und bei Bestreiten des Gegners bewiesen werden, und zwar von demjenigen, zu dessen Gunsten die Vermutung wirken soll.45 Steht die Vermutungsbasis zur Überzeugung des Gerichts fest, muss die vermutete Tatsache nach herrschender Ansicht weder behauptet noch bewiesen werden.46 Durch die Vermutung wird eine Verschiebung des Beweisthemas bewirkt.47 Steht die Vermutungsbasis fest, führt die Vermutung – von der Grundregel der Beweislast betrachtet – zu einer Beweislastumkehr. Als Beispiel diene eine Entscheidung des BGH48 zur Vermutungswirkung des §  476 BGB: Die Beklagte züchtete Katzen. Am 11.8.2002 verkaufte sie der Klägerin einen am 22.7.2002 geborenen Kater als Zuchttier zu einem Kaufpreis von 660 Euro. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses besaß die Klägerin einen kast41   BGH JR 1978, 18, 20 = MDR 1977, 661; Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  18; Saenger, in: Hk-ZPO, §  292 Rn.  10; ohne die Einschränkung auf den Parteivortrag Prütting, in: Münch­ KommZPO, §  292 Rn.  25; insoweit keine ausdrückliche Stellungnahme bei BGH NJW 2002, 2101, 2102; 2004, 217, 219. 42   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  33. 43   Dies schließt nicht aus, dass einmal die vermutete Tatsache bewiesen werden muss, und zwar dann, wenn gerade die Vermutungsbasis nicht feststeht, zum Beispiel, wenn die Vermutungsbasis durch einen Gegenbeweis widerlegt worden ist; siehe §  13 II. 1. b). 44   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  9. 45   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  9. 46   Rosenberg, Beweislast, S.  218; Leipold, Beweislastregeln, S.  89; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  21; Musielak, S.  55; zur Frage, ob eine Behauptungslast für die vermutete Tatsache besteht, siehe §  13 II. 3. b). 47   Rosenberg, Beweislast, S.  217. 48   BGH NJW 2007, 2619.

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Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

rierten Kater und zwei weibliche Katzen. Die Beklagte übergab der Klägerin den Kater am 6.10.2002. Am 26.10.2002 stellte der behandelnde Tierarzt bei ihm die Hautpilzerkrankung Microsporum canis fest. In dem Rechtsstreit begehrte die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz wegen der Tierarztkosten für die Behandlung des gekauften Katers in Höhe von 187,04 Euro und ihrer anderen drei Katzen in Höhe von zuletzt noch 999,66 Euro, insgesamt 1186,70 Euro nebst Zinsen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts schieden die Schadensersatzansprüche aus, weil die Klägerin nicht bewiesen habe, dass der Kater bereits bei Übergabe an sie mit dem als solchem unstreitigen Mangel der Infektion mit den Erregern der Mikroskopie behaftet gewesen sei. Auf die Revision führte der BGH aus, dass das Berufungsgericht eine Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin nach §  476 BGB rechtsfehlerhaft verneint habe. Der Rechtsstreit war nicht zur Endentscheidung reif und wurde an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. In der neuen Verhandlung musste die Klägerin – unterstellt die weiteren Voraussetzungen des §  476 BGB waren gegeben – nicht beweisen, dass der Sachmangel bereits bei Gefahrübergang vorlag; insoweit bestand eine Vermutung gem. §  476 BGB. Die Beklagte musste daher – entgegen der Regel des §  363 BGB – den Beweis führen, dass der Sachmangel bei Gefahrübergang nicht vorlag. b) Rechts(zustands)vermutungen Bei Rechtsvermutungen bzw. Rechtszustandsvermutungen wird aus einem tatbestandsfremden Umstand auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts geschlossen, d. h. auf einen Rechtszustand (nicht auf eine Rechtsfolge),49 wie zum Beispiel in §  1006 Abs.  1 S.  1 BGB. Zugunsten des Besitzers einer Sache wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei. Da die Vermutung auf Zusammentreffen von Besitz- und Eigentumserwerb aufbaut (arg. ex Abs.  1 S.  2), wird nicht Eigentum des Besitzers vermutet, sondern dass der Besitzer bei Erwerb des Besitzes Eigenbesitz begründete, dabei unbedingtes Eigentum erwarb und während der Besitzzeit behielt.50 Derjenige, der bestreitet, dass dem Besitzer einer Sache das Recht zusteht, muss beweisen, dass dies nicht der Fall ist.51 Rechtsvermutungen sind gerichtet auf das Bestehen oder Nichtbestehen, hingegen nicht auf den Tatbestand der Entstehung (des Erwerbes) oder des Untergangs des Rechts (Rechtsverhältnisses).52 Da ein Rechtszustand und nicht eine Rechtsfolge vermutet wird, muss die von der Vermutung begünstigte Partei weder den Entstehungstatbestand (Erwerbstatbestand) noch den Untergangstatbestand, d. h. diejenigen Tatsachen, aus denen er sein Recht herleitet, behaup  Saenger, in: Hk-ZPO, §  292 Rn.  3 ; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  35.   BGH NJW 1994, 939, 940. 51   Zu den Besonderheiten der Widerlegung siehe §  13 II. 1. b). 52   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  35. 49

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ten.53 Es müssen lediglich die Ausgangstatsachen dargelegt und gegebenenfalls bewiesen werden, nicht jedoch die rechtsfolgebegründenden Tatsachen oder die vermutete Tatsache. In der Wirkungsweise gleichen die Rechtsvermutungen den Tatsachenvermutungen.54 Eine Besonderheit folgt freilich daraus, dass dem Vermutungsgegner die Widerlegung ermöglicht werden muss. Er wird kaum alle denkbaren Erwerbstatbestände widerlegen können. Vielmehr muss er etwa bei §  1006 Abs.  1 S.  1 BGB einen Anhaltspunkt haben, welche Tatsachen, die zu einem Eigentumserwerb geführt haben sollen, er widerlegen muss. Im Falle des Bestreitens des Vermutungsgegners trifft den Vermutungsbegünstigten eine prozessuale Aufklärungspflicht, weil die entsprechenden Tatsachen seine Sphäre betreffen.55 Er muss sich zu den Behauptungen des Vermutungsgegners im Rahmen des Zumutbaren äußern, wenn dieser den Rechtserwerb bestreitet.56 Der Vermutungsbegünstigte muss dementsprechend den Erwerbsgrund nennen (allerdings nicht beweisen). Der Vermutungsgegner hat sodann den vom Vermutungsbegünstigten behaupteten Erwerbsgrund zu widerlegen, nicht hingegen jede nur denkbare, vom Besitzer nicht behauptete Art des Eigentumserwerbs auszuschließen. Einem Urteil des BGH57 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien waren Eigentümer benachbarter Grundstücke. Im Jahre 1865 wurden die heute im Eigentum der Parteien stehenden Parzellen dadurch voneinander abgegrenzt, dass zwei Grenzpunkte festgelegt wurden, deren gerade Verbindungslinie Eingang in das Liegenschaftskataster als Grenzlinie der Flurstücke 77/1 und 209/67 fand. Diese verlief nördlich der Hauswand und der sich daran anschließenden Mauer- und Zaunbegrenzung. Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Beklagten unter anderem auf Herausgabe und Unterlassung der weiteren Nutzung derjenigen Fläche in Anspruch genommen, die sich zwischen dieser Grenze und der die tatsächlichen Besitzverhältnisse markierenden Mauer- und Zaungrenze befand. Der BGH ließ in seiner Entscheidung offen, ob die Klägerin das Eigentum – wie das Berufungsgericht meinte – gutgläubig nach §  892 BGB erworben hatte. Die Eigentümerstellung war nach §  891 BGB zu vermuten und der Beklagte hatte die Vermutung nicht widerlegt. Eine weitere Tasachenermittlung wurde richtigerweise als nicht erforderlich erachtet. 53   BGH NJW 2002, 2101, 2102; 2004, 217, 219; Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  14; ders., Beweislastregeln, S.  96; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  35. 54   Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  5 ; Leipold, Beweislastregeln, S.  93, 100; Musielak, S.  82. 55   Medicus, in: FS Baur, S.  63, 77 ff.; siehe auch Gursky, in: Staudinger, §  1006 Rn.  49. Leipold, Beweislastregeln, S.  98 begründet das mit einer sekundären Behauptungslast; ähnlich Baldus, in: MünchKommBGB, §  1006 Rn.  28; Gegenargumente zur Bezeichnung als sekundäre Behauptungslast bei Medicus, in: FS Baur, S.  63, 77 f. 56  Nach Leipold, Beweislastregeln, S.  97 kann der Vermutungsgegner die Erwerbstatsachen auch umfassend und in allgemeiner Form bestreiten. 57   NJW-RR 2006, 662.

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3.  Dogmatische Einordnung der gesetzlichen Vermutungen Nach der Erörterung der Wirkungsweise der Vermutungen ist auf die dogmatischen Grundlagen einzugehen. Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob es sich bei der Vermutung um eine Beweisregel oder Beweislastregel handelt, zum anderen welche Anforderungen an den Parteivortrag im Hinblick auf die Vermutungsbasis oder Vermutung zu stellen sind. a)  Beweisregel oder Beweislastregel Der methodische Unterschied zwischen Beweisregel und Beweislastregel liegt darin, dass mithilfe von Beweisregeln versucht wird, ein non liquet zu vermeiden, während Beweislastregeln an das non liquet anknüpfen.58 Die Behandlung der Vermutungen als Beweisregel würde bedeuten, dass die Vermutungsfolge vom Richter als feststehend behandelt wird, solange sie nicht widerlegt ist. Es würde die Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung festgestellt.59 Eine Einordnung als Beweislastregel würde hingegen bedeuten, dass die Vermutungsfolge nicht festgestellt ist, der Richter aber aufgrund der Regelung angewiesen wird, trotz der Unsicherheit zu entscheiden und dafür vom (Nicht-) Vorliegen der Tatsache auszugehen. Die Unsicherheit über die tatsächlichen Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals bleibt bestehen, trotzdem wird die Anwendung des Rechtssatzes ermöglicht. 60 Für die Betrachtung als Beweislastregel spricht, dass die vermutete Tatsache nicht als erwiesen i. S. des §  445 Abs.  2 ZPO erachtet wird (§  292 S.  2 ZPO). 61 Der Antrag nach §  445 Abs.  1 ZPO kann nur von der beweisbelasteten Partei gestellt werden. Dagegen lässt sich freilich einwenden, dass §  292 S.  2 ZPO eine Sonderregelung beinhaltet, die den Antrag auf Parteivernehmung unabhängig von den Voraussetzungen des §  445 Abs.  1 ZPO zulasse. 62 Ausschlaggebende Argumente für die eine oder andere Ansicht lassen sich den vorgenannten Regelungen nicht entnehmen. 63 Nach Musielak sind die Mittel Beweisregel und Beweislastregel im Ergebnis gleichwertig. 64 Da aber nur die Fiktion von Tatsachen zur Ausfüllung eines Tatbestandsmerkmals die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet lasse, sei die Variante der Beweislastregel vorzugswürdig. Es scheide somit die Einordnung als Beweisregel aus; in Betracht komme die Behandlung als   Guggenbühl, S.  32.   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  113 Rn.  7. 60   Musielak, S.  65. 61   Hedemann, S.  128 f. 62   Musielak, S.  66. 63   Siehe dazu ausführlich Musielak, S.  66. 64   Musielak, S.  70 f.; siehe auch Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  8 , der betont, dass sich aus einer Einordnung als Beweisregel keine nennenswerten praktischen Unterschiede ergeben würden. 58 59

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Beweislastregel oder als Rechtserscheinung eigener Art. 65 Vor allem um eine Abgrenzung zu den Beweisregeln vorzunehmen, sei jedenfalls die Bezeichnung als Beweislastnorm bzw. Beweislastregel gerechtfertigt. Zum Teil wird angenommen, für die vorherrschende Betrachtung als Beweislastregel spreche, dass die vermutete Tatsache nicht behauptet werden müsse. 66 Dies setzt jedoch voraus, dass eine Behauptungslast nicht besteht, worauf sogleich einzugehen ist. Letztlich ist der Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung entscheidend für die Einordnung als Beweislastregel. Beweisregeln sind zunehmend abgeschafft worden (siehe §  286 Abs.  2 ZPO), stattdessen wird der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung betont. 67 Die Freiheit der richterlichen Überzeugung ist ein tragendes Prinzip der Urteilsfindung und sollte daher – soweit möglich – unangetastet bleiben. 68 Es handelt sich bei der Vermutungswirkung nicht um eine Regel, die für den Richter dazu führt, dass er von der Tatsache oder dem Recht bzw. Rechtszustand überzeugt wäre. Er handelt vielmehr trotz des Fehlens einer Überzeugung, und zwar aufgrund der Anordnung der Vermutung. Ein Vermutungstatbestand regelt die Folgen der Beweislosigkeit. 69 Diese Sichtweise entspricht der Einordnung der mittlerweile herrschenden Meinung. Während in der älteren Literatur zum Teil die Einordnung der Vermutungen als Beweisregel befürwortet wurde,70 hat sich im Laufe der Zeit die Einstufung als Beweislastregel durchgesetzt.71 Dies bedeutet, dass die Vermutung nicht als bewiesene Tatsache (d. h. als Ergebnis einer Beweiswürdigung), sondern ohne Beweis dem Urteil zugrunde zu legen ist.72 b)  Behauptungslast des Vermutungsbegünstigten Die vermutete Tatsache bedarf keines Beweises, doch stellt sich darüber hinausgehend die Frage, ob sie behauptet werden muss. Die Antwort darauf ist mit der Einordnung der Vermutung als Beweislastregel nicht präkludiert.73 Nach herrschender Meinung besteht keine Behauptungslast für die vermutete Tatsache bzw. das vermutete Recht (den vermuteten Rechtszustand). Die Vermutung tritt danach unabhängig von der Behauptung des Vermutungsinhalts ein, selbst   Musielak, S.  71.   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  8. 67   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  8. 68   Musielak, S.  70 f. 69   Guggenbühl, S.  31. 70   Leonhard, Beweislast, S.  237. 71   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  8 , 14; ders., S.  85 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  34. 72   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  34; grundlegend dazu Leipold, passim; Musielak, passim. 73   Die Betrachtung als Beweisregel hätte hingegen bedeutet, dass die vermutete Tatsache behauptet werden muss. 65

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dann, wenn eine Partei die ihr günstige Vermutung nicht kennt. Für den Vermutungsinhalt besteht demnach weder eine Darlegungs- noch eine Beweislast.74 Richtigerweise weist Leipold darauf hin, dass sich nicht aus dem Grundsatz iura novit curia ergebe, dass die Vermutung nicht behauptet werden müsse.75 Es geht nämlich nicht darum, dass Rechtsfolge des Vermutungstatbestands die Vermutung ist, sondern um die Frage, ob die Behauptung der Vermutung zu ihrem Tatbestand gehört. Wäre das der Fall, bestünde eine Behauptungslast für die Vermutung. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Die Vermutung ist von Gesetzes wegen vorgesehen und daher nicht von einer Behauptung des Vermutungsinhalts durch die Partei abhängig.76 Dies ergibt sich vor allem daraus, dass die Vermutungswirkungen auch eintreten sollen, wenn eine Partei eine ihr günstige Vermutung nicht kennt oder nicht kennen kann.77 Nach dem Verhandlungsgrundsatz müssen die Parteien den Tatsachenstoff, den das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen soll, vortragen.78 Wird jedoch die Vermutungsbasis behauptet, ist der Sachverhalt, über den das Gericht entscheiden soll, in den Prozess eingeführt worden und die Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutungsregel liegen vor. Eine Behauptungslast und dementsprechend eine Beweislast besteht damit lediglich für die Vermutungsbasis, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen muss. Insoweit gelten die allgemeinen Regeln, so dass als Vermutungsbasis eine bewiesene, eine unstreitige oder offenkundige Tatsache dienen kann. Dem Vermutungsbegünstigten können für die Darlegung und den Beweis der Vermutungsbasis Darlegungs- und Beweiserleichterungen zugutekommen. 4.  Hinweispflicht des Gerichts Bei Feststehen der Vermutungsbasis muss der Richter nach der hier vertretenen Ansicht die Vermutungsvorschrift ohne Weiteres anwenden und somit seinem Urteil die vermutete Tatsache oder das vermutete Recht zugrunde legen. Da die Vermutung selbst ohne Kenntnis der Parteien eingreift, muss das Gericht, um Überraschungsentscheidungen zu verhindern, die Parteien darauf nach §  139

74   BGH NJW 2002, 2101, 2102; 2004, 217, 219; 2010, 363, 364; Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  14; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  21; Reichold, in: Thomas/Putzo, §  292 Rn.  3 ; Leipold, Beweislastregeln, S.  85 ff.; Rosenberg, Beweislast, S.  218; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  34; a. A. Musielak, S.  55; ebenso aus der älteren Literatur Hedemann, S.  283 ff.; Leonhard, S.  236. 75   Leipold, Beweislastregeln, S.  88. 76   Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  21. 77   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  14; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  21; Leipold, Beweislastregeln, S.  89; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  112 Rn.  34. 78   Greger, in: Zöller, vor §  128 Rn.  10.

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ZPO hinweisen.79 Die Hinweispflicht des Gerichts ist eine Grenze der Richtermacht, um eine Stellungnahme und Widerlegung zu ermöglichen. 5. Zusammenfassung Die vermutete Tatsache oder der vermutete Rechtszustand bedarf keines Beweises, wenn die Vermutungsbasis feststeht (weil sie unbestritten, offenkundig oder bewiesen ist). Die widerlegbaren Vermutungen führen dazu, dass der Vermutungsgegner den Sachverhalt aufklären muss, wenn er den Prozessverlust vermeiden möchte. Dementsprechend handelt es sich bei den widerlegbaren Vermutungen um Instrumente zur Risikozuweisung, die zugleich einen Aufklärungsanreiz beinhalten.

III. Fiktionen Fiktionen wirken wie unwiderlegbare Vermutungen. Sie sind in der Regel erkennbar an der Formulierung »gilt«, etwa in §  892 Abs.  1 S.  1 BGB80 : Zugunsten desjenigen, welcher ein Recht an einem Grundstück oder ein Recht an einem solchen Recht durch Rechtsgeschäft erwirbt, gilt der Inhalt des Grundbuchs als richtig, es sei denn, dass ein Widerspruch gegen die Richtigkeit eingetragen oder die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt ist. Der Unterschied zur unwiderlegbaren Vermutung ist in der gesetzgeberischen Vorstellung begründet. Fiktionen legen etwas fest, wobei der Gesetzgeber davon ausgeht, dass diese Anordnung nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Abgrenzung von Fiktion und unwiderlegbarer Vermutung wird dementsprechend allgemein folgendermaßen vorgenommen: 81 Der Gesetzgeber stellt durch unwiderlegbare Vermutungen Sachverhalte gleich, die übereinstimmen können und häufig auch werden. Durch Fiktionen ordnet der Gesetzgeber die Gleichbewertung verschiedener Tatbestände an, obwohl er weiß, dass sie tatsächlich ungleichwertig sind. Es wird angeordnet, dass eine bestimmte Regel zusätzlich für den in der Fiktion bezeichneten Tatbestand gilt (Verweisungsfunktion). 82 Die Unterscheidung ist eher theoretischer Natur, denn wie bei den unwiderlegbaren Vermutungen ist der Gegenbeweis ausgeschlossen. §  292 ZPO findet keine (analoge) Anwendung. Fiktionen können neben der Verweisung die Funktion einer Einschränkung oder Erläuterung erfüllen, wie etwa in §  812 Abs.  2 BGB, wo der Begriff der Leistung erläutert wird. Der Gesetzgeber hätte dort   Huber, in: Musielak, §  292 Rn.  4.   Die Vorschrift ist als Fiktion einzuordnen, wenn der Tatbestand auf Fälle der Grund­ buchunrichtigkeit beschränkt angesehen wird; siehe dazu Kohler, in: MünchKommBGB, §  892 Rn.  1. 81   Musielak, S.  83. 82   Larenz, S.  262: »verdeckte Verweisungen«. 79

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den Begriff der Leistung (teilweise) definieren können. 83 Fiktionen stellen in Wirklichkeit materielle Rechtssätze dar, sodass sich spezifische beweisrechtliche Fragen nicht stellen.

IV. Auslegungsregeln Auslegungsregeln, die die Formulierung »im Zweifel« (§§  154 Abs.  1 S.  1, Abs.  2, 329, 330 S.  1, 331 Abs.  1, 336 Abs.  2, 364 Abs.  2, 2084 BGB), »wenn (nicht) anzunehmen ist« (§§  139, 140 BGB) oder »ist [.  .  .] als vereinbart anzusehen« (§§  612 Abs.  2, 632 Abs.  2, 653 Abs.  2 BGB) verwenden, 84 haben mit den widerlegbaren Vermutungen gemeinsam, dass sie eingreifen, wenn eine Unsicherheit besteht. Die Zweifelsregelung bezieht sich allerdings nicht auf eine tatsächliche Behauptung – es würde sich dann um eine Vermutung handeln –, 85 sondern auf die Klarstellung eines Willens, wie also eine Erklärung oder Handlung im Zweifel zu verstehen ist. Es handelt sich um Rechtsregeln. 86 Über Auslegungsregeln wird ein bestimmtes Auslegungsergebnis als in der Regel zutreffend bewertet und ist daher vom Gesetzgeber zum Inhalt der Auslegungsregel gemacht worden; diesem Auslegungsergebnis wird bei Unklarheit der Vorzug gegeben. 87 Auslegungsregeln sind daher relevant bei der Rechtsanwendung, nicht hingegen bei der Tatsachenermittlung. Freilich kann ihr Eingreifen auf einer tatsächlichen Unsicherheit beruhen. Auslegungsregeln helfen somit über eine Unsicherheit hinweg und können im Falle einer nicht gelungenen Beweisführung zur Geltung kommen, etwa wenn eine bestimmte Höhe der Vergütung nicht bewiesen werden kann und deswegen auf die taxmäßige oder übliche Vergütung zu rekurrieren ist (§§  612 Abs.  2, 632 Abs.  2 BGB). 88 Ebenfalls kann auf eine Auslegungsregel zurückgegriffen werden, wenn ein bestimmter Wille oder eine Einigung der Parteien nicht nachgewiesen werden kann (§  154 Abs.  1 S.  1 BGB). Letztlich bedeuten auch Auslegungsregeln einen Ausweg aus tatsächlicher Unsicherheit. Dieser Ausweg besteht allerdings nicht in einer Überwindung der Sachverhaltsunkenntnis, sondern in dem rechtlichen Umgang mit ihr. Es wird mithin ein rechtlicher Ausweg für eine tatsächliche Unsicherheit aufgezeigt.

  Larenz, S.  264.  Zu weiteren richterlichen Auslegungsregeln Busche, in: MünchKommBGB, §   133 Rn.  62 ff. 85   Prütting, S.  133. 86   Leipold, in: Stein/Jonas, §  292 Rn.  3 ; Prütting, in: MünchKommZPO, §  292 Rn.  10. 87   Busche, in: MünchKommBGB, §  133 Rn.  62; Ellenberger, in: Palandt, §  133 Rn.  22. 88   Siehe dazu Richardi/Fischinger, in: Staudinger, §  612 Rn.  33 ff. 83

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V. Fazit Larenz hat auf die Notwendigkeit der wertmäßigen Übereinstimmung der Rechtsnormen und Regelungskomplexe hingewiesen und die Bemühungen darum als eine Aufgabe bezeichnet, die dem Gesetzgeber, der Rechtsprechung und der Jurisprudenz immer wieder neu gestellt wird. 89 Durch den hier vorgeschlagenen Lösungsansatz, d. h. einer materiellrechtlichen Ergänzung,90 könnte sich das Prozessrecht auf seine vornehmliche – immens wichtige – Aufgabe der effektiven Rechtsdurchsetzung konzentrieren. Die Effizienz des Zivilprozesses im Allgemeinen würde gefördert, weil viele Streitigkeiten bereits vorprozessual erledigt werden könnten – ein Aspekt, der im Zuge der ständig beklagten Überlastung der Gerichte nicht unterschätzt werden darf. 1.  Risikozuweisung über Vermutungen Fiktionen bieten sich zur Lösung der Probleme hier nicht an, weil sie ungleichwertige Tatbestände gleichsetzen. Im Sinne einer gerechten Risikoverteilung sollten widerlegbare Vermutungen verwendet werden und dadurch zugleich Aufklärungsanreize für den Vermutungsgegner geschaffen werden.91 Das wäre bei unwiderlegbaren Vermutungen nicht gegeben. Auslegungsregeln beziehen sich nicht auf tatsächliche Behauptungen, sodass ihre Anwendung in dem hier erörterten Themenkreis kein Lösungsansatz sein kann. Die gesetzgeberische Entscheidung für eine widerlegbare Vermutung kann auf verschiedenen Gründen beruhen. Regelmäßig spricht für den Vermutungsinhalt eine sich auf Lebenserfahrung gründende Wahrscheinlichkeit. So spricht eine Lebenserfahrung dafür, dass mit der Annahme einer Leistung als Erfüllung vertragsgemäß erfüllt worden ist (§  363 BGB). Ebenfalls spricht die Lebenserfahrung dafür, dass ein im Grundbuch eingetragenes Recht demjenigen zusteht, für den es eingetragen ist (§  891 Abs.  1 BGB). Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch eher die Rechtfertigung denn Motiv der Vermutung. Motive für den Erlass der Vermutungen sind das Bemühen um die Verhinderung von Rechtsstreitigkeiten und die Förderung eines rechtspolitisch gewünschten Ergebnisses. Schließlich soll über die Vermutungen und damit über die Verschiebung der Beweislast die Nähe einer Partei zum Lebenssachverhalt ausgenutzt werden, indem die Partei zur Aufklärung beiträgt, um den Prozessverlust zu vermeiden.92 Im Anwendungsbereich des Verbrauchsgüterkaufs beinhaltet beispiels  Larenz, S.  366 ff.; siehe auch Schumann, in: FS Larenz, S.  571 ff. zur materiellrechtsfreundlichen Auslegung des Prozessrechts. 90   Siehe §  12 IV. 91   Auch den Parteien steht es frei, im gesetzlich zulässigen Rahmen Vereinbarungen zur Beweislast zu treffen; siehe dazu ausführlich G. Wagner, passim; ferner Baumgärtel, in: FS Fasching, S.  67 ff. 92   Eingehend zur Begründung der Vermutungen Musielak, S.  359 ff. 89

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weise §  476 BGB eine Vermutung zum Vorliegen eines Sachmangels im Zeitpunkt des Gefahrübergangs, mithin eine Beweislastumkehr.93 Damit soll eine Beweisnot des Verbrauchers verhindert werden. Die Vorschrift dient dem rechtspolitischen Interesse des Verbraucherschutzes und zugleich dem Interesse des Handels an der Schnelligkeit des Warenabsatzes im täglichen Massengeschäft, weil der Verbraucher keine Prüfung des Gegenstands vor Gefahrübergang vornehmen muss, sondern im Zweifelsfall auf den Schutz der Beweislast­ umkehr vertrauen darf.94 Abgezielt wird auf die stärkeren Aufklärungsmöglichkeiten des Unternehmers. Die Problematik der Aufklärung zeigt sich auch in den in dieser Arbeit behandelten Konstellationen, weshalb es sich anbieten könnte, stärker auf Vermutungen als Regelungstechnik im materiellen Recht zurückzugreifen. Exemplarisch wird das an dem Fall der Haftung für kontaminierte Bluttransfusionen sichtbar. In einer Entscheidung, in der es um eine HIV-Infektion durch die Verabreichung von Blutprodukten ging, wendete der BGH sowohl das Institut der sekundären Darlegungs- und Beweislast als auch den Anscheinsbeweis an.95 Zu beweisen war ein Kausalzusammenhang zwischen einer Bluttransfusion und einer Infizierung des Patienten. Der BGH lässt den Anscheinsbeweis dahingehend zu, dass die HIV-Kontaminierung des verwendeten Produkts kausal für die Infektion des Patienten ist. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Kontaminierung eines verwendeten Blutprodukts feststeht und keine weiteren Ursachen außerhalb des Verantwortungsbereichs der Behandlungsseite für die der Kontaminierung entsprechende Erkrankung ersichtlich sind. Bei einer HIV-Infektion nach Bluttransfusion setzt das voraus, dass der Patient weder zu den HIV-gefährdeten Risikogruppen gehört noch durch die Art seiner Lebensführung einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt ist, aber HIV-kontaminiertes Blut oder kontaminierte Blutprodukte erhalten hat.96 Problematisch war die Feststellung der Kontaminierung. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass Blutkonserven regelmäßig verseucht sind.97 Der Anscheinsbeweis erstreckt sich auf diesen Gesichtspunkt nicht. Den Beweisschwierigkeiten begegnete der BGH mit den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast. Danach hätte der Beklagte jedenfalls die Nummer der verabreichten Charge darlegen müssen, damit die Klägerseite Indizien hätte vortragen können, aus denen sich eine Kontamination der verabreichten Charge ergeben hätte. Dieser Pflicht ist der Beklagte nicht nachgekommen, sodass das Gericht die Kontaminierung der Blutkonserve als erwiesen angesehen hat. Somit hat der BGH auf das Institut der sekundären Darlegungslast zurückgegriffen, um die Basis für die Anwendung des An  Lorenz, in: MünchKommBGB, §  476 Rn.  1; Weidenkaff, in: Palandt, §  476 Rn.  1.   Lorenz, in: MünchKommBGB, §  476 Rn.  4. 95   BGHZ 163, 209 = NJW 2005, 2614; dazu D. Magnus ZZP 120 (2007), 347 ff. 96   BGHZ 114, 284, 290 = NJW 1991, 1948, 1949. 97   D. Magnus ZZP 120 (2007), 347, 351. 93

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scheinsbeweises zu schaffen. Verlangt wird somit weder ein konkreter Nachweis für die Kontaminierung der Blutkonserve noch ein konkreter Nachweis für den Zusammenhang zwischen der Bluttransfusion und der Infektion. Aufgrund dessen wird von einer Haftung für vermeidbare Gefahrschaffung, einer beinahe objektiven Haftung, gesprochen.98 Ohne auf die Richtigkeit dieser Entscheidung im Ergebnis einzugehen, stellt sich jedenfalls die Frage, ob die Kombination der richterrechtlichen prozessualen Institute nicht zu weit geht. Um diese Lösung über das Prozessrecht zu vermeiden, wird eine Gesetzesanalogie zu den Vorschriften über die Ursachenvermutung nach §  84 Abs.  2 AMG, §  6 UmweltHG und §  34 GenTG vorgeschlagen.99 Danach wird jeweils vermutet, dass der Schaden durch die fragliche Sache (Arzneimittel, Anlage bzw. gentechnisch veränderter Organismus) verursacht ist, wenn die Sache nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den entstandenen Schaden zu verursachen. Eine solche Vermutung sei ein voraussehbarer Weg, um Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der Kausalität von ärztlichen Behandlungsfehlern zu überwinden.100 Die Gewährung von Beweiserleichterungen stelle eine nachträgliche (rückwirkende) Pflichtenverschärfung dar, auf die sich die Parteien nicht einstellen könnten. Über eine Gesetzesanalogie zur Ursachenvermutung könne dies hingegen verhindert werden. Sie stelle somit eine flexible und sachgerechte Alternative dar. Die Erwägungen zur Ursachenvermutung sind sachgerecht. Eine solch quasi objektive Haftung könnte jedoch einer klaren gesetzgeberischen Entscheidung im materiellen Recht bedürfen, die gezielt für diesen Fall gilt und nicht lediglich über eine Analogie hergeleitet wird. Vorzugswürdig wäre es aus diesem Grund, eine gesetzliche widerlegbare Vermutung für die Fälle der Bluttransfusionen einzuführen, die dem Vorbild der §  84 Abs.  2 AMG, §  6 UmweltHG und §  34 GenTG folgt. 2.  Zulässigkeit und Grenzen der Anordnung von Vermutungen Über die Anordnung der Vermutung wird gesetzgeberisch auf die prozessuale Situation Einfluss genommen. Vor allem für den Fall, dass der Beweispflichtige den Beweis nicht erbringen kann, ergibt sich ein für ihn negativer Prozessausgang, möglicherweise abweichend von der (wahren) materiellen Rechtslage. Vermutungen wirken dann als Beschränkung der Rechtsdurchsetzung. Aus diesem Grund muss bei der gesetzgeberischen Anordnung der Vermutungsregel entschieden werden, zu wessen Lasten die Nichterweislichkeit eines Merkmals gehen soll. Wie bereits herausgearbeitet wurde, müssen sich die Folgen der Beweislosigkeit an dem Maßstab der materiellen Gerechtigkeit messen lassen.101   Deutsch NJW 1991, 1937.   D. Magnus ZZP 120 (2007), 347, 360 ff. 100   D. Magnus ZZP 120 (2007), 347, 365. 101   Siehe §  2 II. 2. a). 98

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Teil 5:  Ausgestaltung und Auslegung des materiellen Rechts

Deswegen muss sich die sachgerechte Beweislastverteilung daran ausrichten, welche Rechtsfolge im Fall der Unaufklärbarkeit eintreten soll. Materiellrechtlich kann sich die Beweislastverteilung aus der Abwägung möglicher Fehlurteile ergeben. Das Beweislasturteil kann von dem Urteil abweichen, das bei Kenntnis der wahren Tatsachenlage getroffen worden wäre. Für die Beweislastverteilung ist zu fragen, welches Fehlurteil eher in Kauf genommen werden kann.102 Deswegen wird die gesetzgeberische Entscheidung der Beweislastverteilung im Grundsatz von den materiellen Folgen (bzw. dem Recht der Materie, dem sie angehört) geprägt,103 nicht hingegen von den Möglichkeiten, zur Aufklärung beizutragen (Nähe zu den prozessualen Aufklärungsmöglichkeiten).104 Die Rechtsfolge tritt schließlich auch ein, wenn jede Partei zur vollständigen Aufklärung beigetragen hat, diese jedoch nicht (vollständig) gelungen ist. Gleichwohl ist die Beweislast Ausgangspunkt der Betrachtung prozessualer Aufklärungspflichten,105 weil sie darüber entscheidet, zu wessen Lasten die Unerweislichkeit einer Tatsache geht. Die Risikozuweisung im Zivilprozess, mithin das Risiko der Nichtaufklärung eines Sachverhalts, erfolgt somit über die Verteilung der objektiven Beweislast. Über die Verteilung der objektiven Beweislast kann der Gesetzgeber Anreize zur Sachverhaltsaufklärung gezielt setzen, beispielsweise über die Anordnung von Vermutungen. Die Nähe zu den Aufklärungsmöglichkeiten sollte in die Abwägung einfließen. Die Beweislastverteilung über Vermutungen kann eine effiziente Sachverhaltsaufklärung bewirken.

  Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  67; ders., Beweislastregeln, S.  49.   Die Beweislastnormen gehören zu dem Rechtsgebiet wie der Rechtssatz, dessen Voraussetzungen die streitigen Tatsachen begründen sollen; Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  115 Rn.  31. 104   Stürner NJW 1979, 1225, 1226; ders. ZZP 98 (1985), 237, 238 f. Die Nähe zum Beweis kann allerdings ein zu beachtender Wertungsgesichtspunkt sein; Leipold, in: Stein/Jonas, §  286 Rn.  75. 105   Gottwald, in: Beiträge zum Zivilprozeßrecht V, S.  19, 21. 102

103

Teil  6

Schluss §  14  Fazit Gefordert wird schon seit langem eine Reform des Zivilprozessrechts, die nicht lediglich graduelle Änderungen vornimmt, sondern das Prozessrecht einer grundlegenden Revision – vergleichbar der Einführung der Civil Procedure Rules durch die Woolf-Reforms in England1 – unterzieht. Der Fokus müsse dabei auf den Mitteln zur Feststellung des Sachverhalts liegen, weil in diesem Bereich der Schwerpunkt der richterlichen und anwaltlichen Tätigkeit liege.2 Der deutsche Zivilprozess sei grundlegend vom prozessdarwinistischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts zu befreien. Es sei Anschluss an ein von Rationalismus geprägtes, der modernen Informationsgesellschaft entsprechendes Konfliktmanagement zu finden.3 Nur dann würde der Zivilprozess international, auch im Vergleich zur Schiedsgerichtsbarkeit, nicht ins Hintertreffen geraten.4 Dieser Befund konnte durch die vorliegende Analyse unterstrichen werden. Die Untersuchung bestätigt die Notwendigkeit der Reform des Zivilprozessrechts.

I.  Reform des Zivilprozessrechts: Neue Wege zur Feststellung des Sachverhalts Der Gesetzgeber hat bereits Reformansätze gewählt, mithin Strecken zurückgelegt, doch in unterschiedliche Richtungen. Aktuell gibt der Gesetzgeber mit der einen Hand, um es mit der anderen Hand zu nehmen. Die Erweiterung der amtswegigen Sachverhaltsaufklärung wird mit Mahnungen verbunden, die das Gegenteil nahelegen. Die Maßnahmen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Möglichkeit der prozessleitenden Anordnung der Vorlegung von Urkunden folgen keinem einheitlichen Gesamtkonzept. Weiterhin soll das Ausforschungsverbot gelten und keine »pretrial discovery of documents« amerikanischen Vorbilds eingeführt werden, doch ist der Wortlaut des §  142 ZPO sehr weit. Eine   Siehe §  3 II. 1.   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 154. 3   Stürner ZZP 104 (1991), 208, 216 f. 4   Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 154; Schlosser JZ 1991, 599 ff.; G. Wagner ZEuP 2001, 441, 465 ff.; zum Zivilprozess im Vergleich zur außergerichtlichen Streitbeilegung siehe auch Katzenmeier ZZP (115) 2002, 51 ff. (insbesondere S.  72 ff.). 1 2

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Teil 6:  Schluss

Abstimmung mit den von der Rechtsprechung gewährten Erleichterungen des Beweises fand nicht statt. Dadurch entsteht die kritisierte »Gemengelage aus Parteiherrschaft und Richtermacht, aus Erleichterungen und Einschränkungen der Wahrheitspflicht«5 – und man kann hinzufügen, aus Gesetzesrecht und Richterrecht. Eine Linie des Gesetzgebers ist dabei nicht zu erkennen. Dies führt schließlich dazu, dass die Vorlageanordnung vor allem von der Ausübung des Ermessens durch die Gerichte abhängt und es so zu einer ganz unterschiedlichen Praxis der Rechtsanwendung kommen kann.

II.  Vorzüge des Prozessrechts – Ergänzungen im materiellen Recht Die Vor- und Nachteile der materiellen und prozessualen Regelungsmechanismen wurden aufgezeigt. Die jeweiligen Vorzüge veranlassten den Gesetzgeber, sowohl im materiellen Recht als auch im Prozessrecht Mitwirkungspflichten einzuführen. Zugleich führt das zu unausgewogenen Regelungen, weil die Entscheidung für ein Konzept fehlt. Erforderlich ist daher die Festlegung eines einzuschlagenden Wegs. Die Entscheidung für ein Konzept müsste dabei nicht ein Ausschließlichkeitsmoment beinhalten, sondern eine Grundaussage, die begleitende Maßnahmen zulässt. Die herausgearbeiteten Vorzüge des Prozessrechts lassen sich durch Ergänzungen im materiellen Recht abrunden. Leitlinien sind der Verhandlungsgrundsatz als Ausgangspunkt der Sachverhaltsfeststellung, die prozessuale Mitwirkungsverantwortung sowie der Geheimnisschutz der Parteien. Ergänzt wird das durch die gesetzgeberische materielle Risikozuweisung. Dabei ist auf den dogmatisch sachgerechten Standort zu achten. Zahlreiche Beweiserleichterungen bewirken eine Veränderung des materiellen Rechts. Der Begriff der Beweiserleichterung ist insoweit vielleicht sogar als irreführend zu bezeichnen, denn es geht keineswegs immer lediglich um die Erleichterung eines Beweises, sondern um die Herabsetzung der materiellen Voraussetzungen. Eine Lösung müsste für die Fälle, in denen typischerweise Beweisschwierigkeiten auftreten und die eine Gewährung von Beweiserleichterungen zur Folge haben, im materiellen Recht getroffen werden, und zwar über die stärkere gesetzgeberische Verwendung des Instituts der Vermutung. Es ist davon auszugehen, dass der BGH seinen Standpunkt bezüglich des Bestehens einer prozessualen Mitwirkungsverantwortung nicht von sich aus aufgeben wird, sodass allein über ein gesetzgeberisches Tätigwerden eine Änderung herbeigeführt werden kann. Im Sinne einer europäischen Rechtsangleichung wäre das ebenfalls zu befürworten, weil sich dort die Tendenz zu prozessualen Mitteln der Tatsachenermittlung zeigt. Notwendig ist eine Neujustierung der Informationsmöglichkeiten und der Mitwirkungsverantwor  Greger BRAK-Mitt. 2005, 150, 153.

5

§  14  Fazit

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tung; abzulehnen sind Insellösungen, weil dadurch die grundsätzlich6 bestehende Einheit des Rechts missachtet würde.

III.  Verhandlungsgrundsatz und richterliche Prozessleitung im Einklang Im Wege einer induktiven Betrachtung einzelner Institute konnte der Verhandlungsgrundsatz konkretisiert werden. Der Verhandlungsgrundsatz besteht in der Zivilprozessordnung nicht (mehr) in Reinform. Vielmehr ist dieser Ausgangspunkt, der Durchbrechungen und Modifizierungen zulässt. Der Verhandlungsgrundsatz bedeutet die Beibringung des Prozessstoffs durch die Parteien, und zwar die Tatsachengrundlage und die Beweismittel betreffend. Mit dem Verhandlungsgrundsatz steht es nicht in Widerspruch, dem Gericht eine verstärkte materielle Prozessleitung zu ermöglichen. Die Prozessleitung erfolgt in dem von den Parteien vorgegebenen Lebenssachverhalt. 1.  Geleiteter Verhandlungsgrundsatz Es besteht (weiterhin) die primäre Herrschaft und Verantwortung der Parteien für den Prozessstoff, doch besitzt das Gericht die Möglichkeit des Eingriffs in diese Hoheit, indem es die Parteien zur Aufklärung anhält. Es sollte an dem Begriff des Verhandlungsgrundsatzes festgehalten werden. Der Terminus bedarf allerdings einer Konkretisierung. Gesprochen werden sollte von einem geleiteten Verhandlungsgrundsatz. Darin liegt ein Unterschied zu dem Begriff des modifizierten Verhandlungsgrundsatzes, weil zum Ausdruck gebracht wird, dass der Tatsachenvortrag weiterhin durch die Parteien erfolgt, allerdings innerhalb der »Leitplanken« und »Wegweiser«, die das Gericht vorgibt. Den Prozessstoff bestimmen beide Parteien, die jeweils nur ihnen zugängliche Erkenntnisse oder Erkenntnismittel dem Richter nicht vorenthalten dürfen. Die Erklärungs- und Wahrheitspflicht sowie das Verbot der unzulässigen Erklärung mit Nichtwissen zeigen, dass der Parteivortrag ein Mittel zur Feststellung des Sachverhalts ist. Mit anderen Worten bedeutet das: Bezüglich der Tatsachenbeibringung findet der Verhandlungsgrundsatz in Reinform Anwendung, wobei jedoch auch Tatsachen zu eigenen Lasten vorzubringen sind; bezüglich der Beschaffung der Beweismittel bestehen dagegen aufgrund der Möglichkeit der Beweiserhebung von Amts wegen Einschränkungen. Es zeigt sich, dass auch im Rahmen von Vereinheitlichungsbestrebungen auf europäischer Ebene der Mut aufgebracht werden sollte, an vertrauten und bewährten Strukturen der ZPO festzuhalten. Dazu gehört die richterliche »Aufsicht« und Leitung des Prozesses. Die richterliche Prozessleitung weist den Par  Die Einheit des Rechts wird durchbrochen, wenn spezifische Wertungen das erfordern; daher wird hier von einer grundsätzlichen Einheit des Rechts gesprochen. 6

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Teil 6:  Schluss

teien den Weg für die freie Entfaltung des Verhandlungsgrundsatzes. Eine verstärkte Mitwirkungsverantwortung ändert an dieser Notwendigkeit nichts, sondern erfordert eine Prozessleitung in noch stärkerem Maße. Nur über eine richterliche Prozessleitung kann ein Missbrauch der Mitwirkungsansprüche verhindert werden. Das Gericht ist nicht in eine passive Rolle zu drängen. Vielmehr ist die materielle Prozessleitung mit Recht als ein maßgebliches Institut für eine effiziente Durchführung des Prozesses anzusehen. 2. Beweisantragsrecht Die Möglichkeit einer Anordnung von Amts wegen ist durch die Vorschriften der Zivilprozessordnung wenig konkretisiert. Es würde sich anbieten, den Verhandlungsgrundsatz hier zu stärken, indem den Parteien die Möglichkeit eröffnet wird, einen Beweisantrag zur Vorlage von Urkunden durch die Gegenpartei zu stellen. Mithin wäre §  142 Abs.  1 ZPO entsprechend zu ergänzen. Die Anordnung der Beweiserhebung sollte in das billige Ermessen des Gerichts gestellt werden. Durch die entsprechende Stärkung des Verhandlungsgrundsatzes würde die Privatautonomie im Prozess fortgeführt. 3.  Sozialer Zivilprozess und sporting theory of justice In der Einleitung wurde die Tendenz geäußert, dass man sich zwischen dem Leitbild eines »sozialen Zivilprozesses«, in dem der Richter eine starke Stellung habe, und dem Leitbild eines eher in die Hand der Parteien gelegten Prozesses, der sich an der Verhandlungsmaxime orientiere (sporting theory of justice), entscheiden müsse.7 Die Untersuchung hat gezeigt, dass in der Verbindung der beiden Komponenten eine Stärke liegt. Erforderlich ist ein Zivilprozess, dessen Ausgangspunkt die Verhandlungsmaxime ist, der jedoch in dem durch die Parteien vorgegebenen Rahmen von dem Richter gelenkt wird (hier als »geleitete Verhandlungsmaxime« bezeichnet). Der Verhandlungsgrundsatz wird dadurch nicht aufgegeben, genauso wenig wie die Privatautonomie durch materiellrechtliche Schutzvorschriften aufgegeben wird. Es handelt sich nicht um echte Beschränkungen, sondern um ein notwendiges Korrelat, welches die Funktionsfähigkeit gewährleistet. 8 Eine geleitete Verhandlungsmaxime dürfte nicht der Gefahr unterliegen, der »von jedem Sachinteresse gereinigte(n) Wahrung der Gerechtigkeit«9 nicht mehr zu dienen. Die Verhandlungsmaxime in Verbindung mit sachgerechten Mitwirkungspflichten der Parteien bedeutet gerade keine sporting theory of justice, sondern einen fairen Prozess auf Augenhöhe.10   Siehe §  1 IV. 2.   Lorenz ZZP 111 (1998), 35, 40. 9   Wach, Vorträge, S.  53. 10  Siehe Mössle, S.  79 f. für die pretrial discovery. 7 8

§  14  Fazit

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4. Maximendenken Wassermann schreibt in seinem Werk »Der soziale Zivilprozeß« (1978) in dem Kapitel »Von der Verhandlungs- zur Kooperationsmaxime«11 : »Beide Begriffe, die Verhandlungs- wie die Inquisitionsmaxime, haben in der Vergangenheit ihren Wert und ihre Bedeutung gehabt, heute haben sie diese weitgehend verloren. Sie sind keine echte Hilfe mehr, um das Prozeßgeschehen zu erfassen, sie stehen mitunter einer zeitgemäßen Prozeßführung eher im Wege.«12 Weiter fragt er unter der Überschrift »Abschied vom Maximendenken«, »ob durch die Verfestigung einer überlebten Problemsituation nicht ein Verständnis vom Zivilprozeß vermittelt wird, das seiner heutigen Struktur nicht mehr angemessen ist.«13 Die Gefahr, dass eine Maxime der angemessenen Prozessführung entgegensteht, besteht nur, wenn der Verhandlungsgrundsatz als Dogma verstanden wird, aus dem sich das zivilprozessuale Verfahren vollkommen ergibt.14 Das ist jedoch nicht der Fall, wie durch den hier gewählten induktiven Ansatz gezeigt worden ist. Der Verhandlungsgrundsatz ist eben als Grundsatz zu verstehen, der Durchbrechungen und Ausnahmen kennt. Damit wird er nicht obsolet, sondern kann gerade als Orientierung dienen. Der geleitete Verhandlungsgrundsatz ist nicht gleichzusetzen mit einer »Kooperationsmaxime«15 oder einer »Arbeitsgemeinschaft«16 zwischen Gericht und Parteien. Eine Kooperation findet nicht statt, weil es sich um ein kontradiktorisches Verfahren handelt. Die Parteien müssen ihren zivilprozessualen Pflichten entsprechen, doch bedeutet das keine Kooperation. Davon zu trennen sind Überlegungen, die unter dem Stichwort »Kooperation als Prozessmaxime« geführt werden, inhaltlich jedoch die Pflicht oder Last der Parteien beschreiben, Handlungen entsprechend der gerichtlichen Prozessleitung vorzunehmen.17 Inhaltlich entsprechen diese Überlegungen eher der hier geforderten geleiteten Verhandlungsmaxime. Der Begriff der Kooperationsmaxime sollte daher vermieden werden,18 weil Ausgangspunkt weiterhin die Verhandlungsmaxime ist.   Wassermann, S.  97 ff.   Wassermann, S.  103. 13   Wassermann, S.  108. 14   Henckel, in: GS Bruns, S.  111, 124. 15   Wassermann, S.  109. 16   Den Begriff der Arbeitsgemeinschaft findet man bis zur 9. Auflage etwa in Rosenberg, Lehrbuch Zivilprozeßrecht, §  63 I; Wassermann, S.  97 ff. 17   Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  5 ; Greger, in: Gottwald/Greger/Prütting, Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, S.  77, 80; Habscheid, in: FS von Castelberg, S.  59, 71 (eher bezüglich der Erörterung der Rechtsfragen); Hahn, S.  299 ff., der einerseits durchaus eine »Kooperationsmaxime im Zivilprozeß« (S.  302) annimmt, diese allerdings inhaltlich differenziert betrachtet; inhaltlich auch differenzierend Stürner, in: FS Baur, S.  6 47, 657 ff. 18   Henckel, in: GS Bruns, S.  111, 124; ebenfalls Jauernig/Hess, §  25 Rn.  59. 11

12

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Teil 6:  Schluss

Entgegen Greger ist auch die Verwendung des Begriffs der Kooperationsmaxime neben dem der Verhandlungsmaxime nicht zu empfehlen, weil dadurch eher Verwirrung gestiftet denn Klarheit erzeugt würde. Gerade wenn man – wie Greger – nicht mehr darunter versteht als die richterliche Mitwirkung an der Stoffsammlung und entsprechende Mitwirkungslasten der Parteien,19 bedarf es keiner »eigenständigen« Maxime.20

IV.  Einbettung der Mitwirkungsverantwortung De lege lata besteht keine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht. Jedoch bestehen prozessrechtliche Mitwirkungslasten, die etwa aus dem Institut der sekundären Behauptungslast folgen. De lege ferenda sollten die Mitwirkungslasten erweitert werden, wobei zugleich der Geheimnisschutz gestärkt werden sollte. Es widerspricht der Gerechtigkeit, dass das Gericht eine Entscheidung gegen die »materielle Wahrheit« trifft, weil sich eine Partei der Mitwirkung verweigert. Dass der Vortrag der Tatsachen in der Initiative der Parteien liegt, ist ein Ziel, welches nur erreicht werden kann, wenn die Parteien über die notwendigen Informationen verfügen. Daher ist den Parteien Zugang zu dem entscheidungsrelevanten Tatsachenmaterial zu verschaffen. Beschleunigend wirkt es, wenn das nicht über eine separate Klage basierend auf einem materiellrechtlichen Herausgabe- oder Informationsanspruch erfolgen muss, sondern in dem Prozess geltend gemacht werden kann. Entgegen der – häufig beiläufig zu findenden – Behauptung, wonach sich Mitwirkungsverantwortung und Verhandlungsgrundsatz ausschließen, ist das Gegenteil der Fall.21 Die Mitwirkungsverantwortung fördert die Tatsachenbeibringung durch die Parteien, sodass die Sachverhaltsfeststellung in ihren Händen bleibt. Freilich bedeutet die Mitwirkungsverantwortung, gegebenenfalls zur Aufklärung zu eigenen Lasten beizutragen. Der Verhandlungsgrundsatz steht einer Mitverantwortung nicht entgegen – insoweit verhält er sich höchstens neutral. Als problematisch stellte sich heraus, dass das Ausforschungsverbot als Dogma gegen jede Art der Mitwirkungsverantwortung angeführt wird. Die Ausforschung an sich sollte aber nicht als äußerste Grenze bestehen, denn eine Partei kann auf Ausforschung angewiesen sein, wenn sie keine genaue Tatsachenkenntnis hat. Eine zu weitgehende Ausforschung kann über das Kriterium der Zumutbarkeit ausgeschlossen werden. 19   Greger, in: Gottwald/Greger/Prütting, Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, S.  77, 80. 20  Ähnlich Rosenberg/Schwab/Gottwald, §  77 Rn.  5: Modifizierung des Beibringungsgrundsatzes. 21   Stürner ZZP 104 (1991), 208, 215.

§  14  Fazit

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V. Verfahrensökonomie Ein effizientes Verfahren liegt im Interesse der Parteien, die in angemessener Zeit eine gerichtliche Entscheidung erhalten. Dabei ist zu betonen, dass es hier nicht um Effizienz im Sinne der ökonomischen Analyse des Rechts, also einen effektiven Zustand in wohlfahrtsökonomischer Hinsicht, 22 sondern um die schnelle Erreichung des Prozessziels (Durchsetzung des subjektiven Rechts) geht. Die Effizienz ist zur Förderung richtiger Gerichtsentscheidungen einzusetzen. Zugleich ist die Verfahrensökonomie nicht zum Selbstzweck zu erheben; 23 sie darf richtige Entscheidungen gerade nicht gefährden. Insoweit ist die dienende Funktion des Prozessrechts gegenüber dem materiellen Recht zu berücksichtigen, die eine Minimierung des Rechtsschutzes auf das verfassungsrechtlich gerade noch Hinnehmbare verbietet.24 Die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ist über Effizienzgesichtspunkte zu stellen, denn der Zivilprozess dient vor allem der Durchsetzung subjektiver Rechte, die Vorrang vor einer Schonung der Ressourcen der staatlichen Gerichtsbarkeit haben.25 Gleichwohl sollten sich die gefundenen Ergebnisse an dem Ziel der Prozessökonomie messen lassen, um als sachgerecht eingestuft zu werden. 1. Verfahrensökonomie als Zielgedanke: Zweckmäßige Gestaltung und Durchführung des Verfahrens Verfahrensökonomie bedeutet eine zweckmäßige Gestaltung und Durchführung des Verfahrens, wobei damit über die konkrete Ausgestaltung kaum etwas gesagt ist.26 Dient der Zivilprozess der Durchsetzung der subjektiven Rechte einerseits und der Bewährung und Fortbildung des objektiven Rechts sowie der Herstellung des Rechtsfriedens andererseits, 27 muss die Effizienz des Verfahrens diesen Interessen dienen.28 Notwendig ist im Interesse der Durchsetzung der subjektiven Rechte ein Verfahren, welches schnell und kostengünstig zum

  Siehe §  1 I. 2.   Roth JZ 2006, 9, 18. 24   Roth JZ 2006, 9, 18 (im Hinblick auf Einschränkungen der Rechtsmittel). 25   Roth, in: Stein/Jonas, vor §  253 Rn.  134. 26   Hütten, S.  8 : es sei auf das Verfahren als Institution abzustellen; siehe auch von Mettenheim, S.  26 ff. 27   BGHZ 18, 98, 106 = NJW 1955, 1513, 1514; BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828; Savigny, §  204, 2; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  8 f. 28   BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828: die für den Zivilprozess »geltenden Vorschriften sind nicht Selbstzweck, sondern Zweckmäßigkeitsnormen, gerichtet auf eine sachliche Entscheidung des Rechtsstreits im Wege eines zweckmäßigen und schnellen Verfahrens [.  .  .]«. Zur historischen Entwicklung der Verfahrensökonomie als Gesetzgebungsauftrag einerseits und als Pflicht der Gerichte und Parteien andererseits Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 121 ff. 22 23

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Teil 6:  Schluss

Rechtsschutz führt.29 Die Verfahrensökonomie ist »nur« ein wünschenswertes Ziel. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich gehindert, im Sinne der Verfahrenswirtschaftlichkeit einen »kurzen Prozess« anzuordnen.30 Die Verfahrensökonomie ist also dort zu fordern und zu fördern, wo es ohne Einschränkung des rechtsstaatlichen Verfahrens möglich ist. Die zügige Erledigung der Prozesse – unter Ausscheidung unnötiger Prozesse – darf die der materiellen Rechtslage entsprechende Durchsetzung der subjektiven Rechte nicht beeinträchtigen.31 Anklang findet die Verfahrensökonomie in den Entscheidungen des BGH. Er bezeichnet die zivilprozessualen Vorschriften als Zweckmäßigkeitsnormen, die »auf eine sachliche Entscheidung des Rechtsstreits im Wege eines zweckmäßigen und schnellen Verfahrens [gerichtet sind]«.32 Fraglich ist, ob es sich bei der Verfahrensökonomie um einen Verfahrensgrundsatz handelt. Verfahrensgrundsätze sind grundlegende Entscheidungen des Gesetzgebers, die nicht ausdrücklich normiert sind, an denen das Zivilverfahrensrecht gleichwohl ausgerichtet ist.33 Sie fungieren als Leitlinien und verleihen dem gerichtlichen Verfahren seine wesentliche Prägung.34 Nach Auffassung des Gesetzgebers sind sie dienlich, um die Ziele des Zivilprozesses (Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte, darüber hinaus die Herstellung des Rechtsfriedens sowie den Schutz der objektiven Rechtsordnung) 35 zu erreichen.36 Weil sie keine Rechtsnormqualität haben, erlangen sie nicht über eine unmittelbare Anwendung Bedeutung, sondern mittelbar über die Auslegung einzelner Verfahrensnormen.37 Darüber hinaus können sie zum Schließen einer Gesetzeslücke fruchtbar gemacht werden.38 Die Verfahrensbeschleunigung stellt keine Leitlinie für das prozessuale Handeln der Parteien oder des Richters,39 sondern ein Ziel des Zivilprozesses dar, nämlich eine – natürlich inhaltlich gerechte – Entscheidung in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. Die Verfahrensbeschleunigung gehört damit nicht zu den   Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 120.   Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 159. 31   Hütten, S.  7 f.; von Mettenheim, S.  17; Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 121. 32   BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828; siehe auch BGHZ 18, 98, 106 = NJW 1955, 1513, 1514. 33   Greger, in: Zöller, vor §  128 Rn.  2. 34   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  3. 35   BGHZ 10, 350, 359 = NJW 1953, 1826, 1828; BGHZ 18, 98, 106 = NJW 1955, 1513, 1514; Savigny, §  204, 2; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  8 ff.; E. Schmidt, S.  12 ff. 36   Freilich besteht eine Wechselwirkung, weil der Inhalt der Verfahrensgrundsätze wiederum durch die Zwecke des Verfahrens geprägt wird; Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  5. 37   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  289. 38   Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  6 . 39   Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 330; ders., in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  3, der in Fn.  1 (bei Rn.  4) jedoch darauf hinweist, dass über die Betrachtung der Verfahrensökonomie als Verfahrensgrundsatz in der Tat gestritten werden könne. 29

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§  14  Fazit

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Verfahrensgrundsätzen, weil es bei ihr nicht um die Gestaltung des Verfahrens geht.40 Ein Grundsatz ist sie auch deswegen nicht, weil ihr das Bemühen um die vollständige Stoffsammlung entgegensteht. Letztlich ist für Instrumente, die der Verfahrensbeschleunigung dienen, zu fragen, inwieweit andere Verfahrensgrundsätze das verhindern. Es bedarf aber auch keiner eigenständigen Prozessmaxime der Verfahrens­ ökonomie, um die Tatsachenfeststellung effizient zu gestalten.41 Es ist ein berechtigtes Anliegen des Gesetzgebers, mit den begrenzten Kapazitäten der Rechtspflege ökonomisch umzugehen, doch kann dieses Ziel über die entsprechende Anwendung der Prozessmaximen und prozessualen Vorschriften sichergestellt werden.42 Das kann erreicht werden, indem der Verhandlungsgrundsatz fruchtbar gemacht und die Mitwirkungsverantwortung der Parteien eingefordert wird. Für die vorliegende Untersuchung ist zu beachten, dass der Verhandlungsgrundsatz nicht durch die Verfahrensökonomie überlagert wird, unabhängig davon, ob man letztere als Verfahrensgrundsatz ansieht.43 Dementsprechend kann keine richterliche Inquisition betrieben werden, auch wenn es im Einzelfall ökonomischer wäre.44 Verfahrensbeschleunigung und Verhandlungsmaxime stehen nicht in einem Widerspruch, denn es ist davon auszugehen, dass es allgemein im Interesse der Parteien liegt, Rechtsschutz in kurzer Zeit zu erlangen.45 Tatsachen und Beweismittel dürften von ihnen zügig beigebracht werden.46 2. Effizienz durch Parteiverantwortung Im Sinne der Verfahrensökonomie ist eine Stärkung des Verhandlungsgrundsatzes zu befürworten. Die Parteien wissen, auf welchen Tatsachenstoff es für die Entscheidung ankommt, und sie werden im Grundsatz am besten in der Lage sein, den Tatsachenstoff zu beschaffen.47 Sollte dies in manchen Fällen je  Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 332.   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  337; insoweit im Ergebnis zurückhaltend auch Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 160; a. A. Schöpflin JR 2003, 485, 487: es sei aus einzelnen Vorschriften des Zivilprozessrechts induktiv auf die Geltung des Grundsatzes der Prozessökonomie zu schließen; darüber hinaus ergebe sich die Berechtigung aus dem Verfassungsrecht. 42   Schöpflin JR 2003, 485 ff. 43   Ein Verfahrensgrundsatz verträgt sich durchaus mit Ausnahmen und Durchbrechungen; Leipold, in: Stein/Jonas, vor §  128 Rn.  6 ; Schöpflin JR 2003, 485, 490. 44   So auch Schöpflin JR 2003, 485, 490. 45   Das Interesse einer Partei an einer Verschleppung des Verfahrens wäre jedenfalls nicht schützenswert. 46   Leipold, in: FS Fasching, S.  329, 340. 47   Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rn.  308; siehe auch Weyers, in: Dogmatik und Methode, S.  193, 200 ff. 40 41

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Teil 6:  Schluss

doch nicht der Fall sein, ist die Tatsachenermittlung gleichwohl nicht von der Parteihoheit abzuschotten, sondern die Initiative den Parteien zu überlassen. Um dadurch eine effiziente Sachverhaltsaufklärung zu ermöglichen, muss das Gericht den Parteien erforderlichenfalls durch Hinweise den Weg weisen. Ferner muss das Wissen der Parteien zur Ermittlung des Sachverhalts genutzt werden, und zwar bereits in der ersten Instanz. Eine Nichtnutzbarmachung oder eine Verzögerung ist im Sinne der Verfahrensökonomie nicht zu rechtfertigen. Der Rückzug auf den Standpunkt, eine Partei müsse nicht der anderen Partei Tatsachenkenntnis verschaffen, widerspricht in dieser Allgemeinheit einem effizienten Zivilprozess. Die Wahrheitspflicht führt zur Prozessförderung und damit zu einem effizienten Prozess.48 3.  Gesetzgeberische Risikozuweisung Im Sinne einer effektiven Verfahrensweise ist es schließlich, wenn auf den Beweis zur positiven Klärung der vermuteten Tatsache verzichtet wird, weil die Verwirklichung der Vermutungsbasis bereits feststeht.49 Zugleich erfolgt durch die Androhung des Prozessverlusts ein Anreiz zur Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien selbst. Die materiellrechtliche Anordnung von Vermutungen kann somit regelmäßig ein effektives prozessuales Verfahren bewirken. Die Ausgestaltung des materiellen Rechts auch unter Anreizgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der Nähe zu den Aufklärungsmöglichkeiten fördert eine verfahrensökonomische Tatsachenfeststellung.

§  15  Ergebnisse I.  Konkrete Änderungsvorschläge Die Untersuchung zeigt, dass in einigen Bereichen konkreter Änderungsbedarf besteht. Das ergibt sich einerseits daraus, dass in der Rechtsprechung Institute uneinheitlich verwendet werden und somit eine gesetzgeberische Klarstellung notwendig ist. Andererseits sind inhaltliche Änderungen vorzunehmen, weil sich die aktuelle Gesetzeslage nicht als angemessen darstellt. 1. De lege lata ergibt sich eine Bindung der Parteien und des Gerichts an einen wahrheitswidrigen Vortrag. Nur im Falle eines Irrtums kann ein wahrheitswidriges Geständnis nach Auffassung der Rechtsprechung widerrufen werden. Darin liegt ein Widerspruch zu der Erklärungs- und Wahrheitspflicht der Parteien, 48   Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117, 131 ff. (freilich kritisch zur historischen Wurzel). 49   Musielak, S.  72 f.

§  15  Ergebnisse

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die insoweit der Hoheit der Parteien Grenzen setzt. Um diese Folge gesetzgeberisch einzuführen, könnte folgende Vorschrift aufgenommen werden: »Bezweifelt das Gericht die Wahrheit einer nicht bestrittenen oder einer zugestandenen Tatsache, erfolgt eine Erörterung entsprechend §  139 Abs.  1 ZPO. Gelangt das Gericht danach zu der Überzeugung, dass die Tatsache nicht der Wahrheit entspricht, legt es diese seiner Entscheidung nicht zugrunde.«

2. De lege ferenda sollten die Grundsätze der sekundären Behauptungslast in Anlehnung an die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien kodifiziert werden. Eine entsprechende Vorschrift könnte lauten: »Steht die darlegungs- und beweisbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs und besitzt sie keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen, während der Prozessgegner sie hat, kann von dem Prozessgegner im Rahmen des Zumutbaren das substantiierte Bestreiten der Tatsachen unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden. Die darlegungs- und beweisbelastete Partei kann ihr Begehren auf Vermutungen stützen, soweit für ihr Vorbringen greifbare Anhaltspunkte sprechen.«

3. Durch die Änderung des §  142 ZPO ist ein Spannungsverhältnis zwischen dieser Vorschrift und den Vorschriften über den Urkundenbeweis entstanden. Im Vergleich zu den Vorschriften über den Urkundenbeweis (§§  422 ff. ZPO) ist die Anordnungsmöglichkeit nach §  142 ZPO an geringere Voraussetzungen geknüpft. §  142 Abs.  1 ZPO und die Vorschriften über den Urkundenbeweis sind aufeinander abzustimmen. Vorrangig sollte aber zunächst, um den Verhandlungsgrundsatz zu stärken, die Anordnung der Urkundenvorlage von einem Beweisantrag abhängig gemacht werden. Darüber hinaus sollten die Grundsätze über die sekundäre Behauptungslast auf die Urkundenvorlage übertragen werden (sog. sekundäre Vorlegungslast). Dabei ist vor allem auf das Erfordernis einer individualisierenden Beschreibung zu verzichten, wenn entsprechende Angaben einer Partei nicht möglich sind. Generelle Angaben zu Art und Inhalt reichen aus, wenn die Partei von den Details keine Kenntnis haben kann. §  142 Abs.  1 ZPO würde dann folgendermaßen lauten: »Auf Antrag des Beweisführers kann das Gericht anordnen, dass die gegnerische Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Das Gericht kann hierfür eine Frist setzen sowie anordnen, dass die vorgelegten Unterlagen während einer von ihm zu bestimmenden Zeit auf der Geschäftsstelle verbleiben. Steht die darlegungs- und beweisbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs und besitzt keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen, während der Prozessgegner sie hat, kann von dem Gegner im Rahmen des Zumutbaren die Vorlegung von Urkunden verlangt werden.«

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Teil 6:  Schluss

Insoweit könnte freilich auch mit Verweisen zwischen der Vorschrift über die sekundäre Behauptungslast und der Urkundenvorlage gearbeitet werden. 4. Ferner ist eine Regelung einzuführen, wodurch das Gericht zur Frage nach der Existenz von Urkunden ermächtigt wird (sog. sekundäre Informationslast). Das sollte ebenfalls auf Antrag einer Partei erfolgen: »Auf Antrag des Beweisführers kann das Gericht anordnen, dass sich die gegnerische Partei zur Existenz und zum Verbleib von relevanten Urkunden äußert, wenn Anhaltspunkte für deren Existenz bestehen oder solche Urkunden üblicherweise erstellt werden.«

5. Könnte man sich durchringen, eine umfassende Reform vorzunehmen, sollte die Anordnung der Urkundenvorlage aus Buch 1 Abschnitt 3 Titel 1 herausgenommen und stattdessen in Buch 2 Abschnitt 1 Titel 9 der Zivilprozessordnung integriert werden. Es könnte dann eine Vorlegungspflicht unabhängig von materiellrechtlichen Ansprüchen oder einer Bezugnahme angeordnet werden. Ein neuer §  421a ZPO würde dann lauten: »Der Gegner ist zur Vorlegung verpflichtet, wenn das Gericht die Relevanz für das Verfahren annimmt und eine entsprechende Anordnung erlässt.«

Diese Vorgehensweise hätte den Vorteil, dass die Sanktionsmechanismen des §  427 ZPO unmittelbar gelten würden, sodass sich die Frage einer separaten Sanktionsregelung oder eines Verweises nicht stellen würde. 6. Unabhängig von dem Standort ist als ultima ratio die Möglichkeit zur zwangsweisen Durchsetzung einzuführen: »Wird die Vorlage der Urkunde ohne Angabe eines Grundes oder aus einem rechtskräftig für unerheblich erklärten Grund verweigert, kann gegen die Partei ein Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft festgesetzt werden.«

7. Eingefügt werden müssten schließlich noch die Weigerungsrechte sowie ein Verfahren zur Sicherung des Geheimnisschutzes (sog. in camera-Verfahren). Folgende Ergänzungen des Gesetzes werden vorgeschlagen: »Die Partei ist zur Vorlegung nicht verpflichtet, soweit ihr das nicht zumutbar ist. Vorrangig hat das Gericht über Geheimnisschutzmaßnahmen die Zumutbarkeit zu gewährleisten.« »Das Gericht trifft die erforderlichen Maßnahmen, um den Geheimnisschutz der Parteien sicherzustellen. Insbesondere kann das Gericht zur Prüfung der Geheimhaltungsbedürftigkeit ein in camera-Verfahren durchführen. Gegebenenfalls ist das in camera-Verfahren im Rahmen der Beweiserhebung selbst fortzuführen. Auf Antrag der Partei kann das Gericht auch gestatten, dass die Unterlagen einem sachverständigen Dritten vorgelegt werden, der dem Gericht Bericht erstattet. Das Gericht teilt die Ergebnisse unter Wahrung der Vertraulichkeit der anderen Partei mit. Das Gericht hat Maßnahmen zur Wahrung der Vertraulichkeit in Urteil und Tenor zu treffen.«

§  15  Ergebnisse

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»Die Geheimhaltungsbedürftigkeit kann sich insbesondere aus Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, der Privatsphäre, der Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung sowie öffentlichen Interessen ergeben. Stellt sich die Geheimhaltungsbedürftigkeit als absolut heraus, kann die Mitwirkung verweigert werden. Anderenfalls kann das in camera-Verfahren oder eine andere dem Geheimnisschutz adäquate Maßnahme gewählt werden.« »Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Anordnung erfolgt entsprechend §§  386 bis 390 ZPO.«

8. Unter prozesswirtschaftlichen Erwägungen ist es nicht hinzunehmen, dass Bagatellforderungen Kosten in unverhältnismäßiger Höhe produzieren. Dementsprechend könnte eine Vorschrift in das Gesetz eingefügt werden, die in Anlehnung an §  495a ZPO bei Bagatellforderungen eine Schätzung des Gerichts zulässt: »Das Gericht entscheidet über die Höhe einer Forderung unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung, wenn die geltend gemachte Forderung 600 Euro nicht übersteigt und ein Beweisaufnahmeverfahren im Hinblick auf die dadurch verursachten Kosten außer Verhältnis stünde.«

II.  Zusammenfassung in Thesen §  1  Einleitung 1. Der Justizgewährungsanspruch verlangt die Feststellung, Durchsetzung und Gestaltung subjektiver Rechte in dem staatlich vorgesehenen Verfahren. Voraussetzung für die Gewährung des Rechtsschutzes ist die wahrheitsgemäße und umfassende Tatsachenfeststellung. Eine Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage ist aus rechtlicher, rechtspolitischer und ökonomischer Perspektive unbefriedigend. Die Sachverhaltsfeststellung im Zivilverfahrensrecht ist »von einem Spannungsverhältnis zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht sowie zwischen Freiheit und Reglementierung« gekennzeichnet. §  2  Relevanz der Informationsbeschaffung 2. Die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung sind für die Parteien von hoher Relevanz, weil sie nur dann in ausreichender Weise vortragen können. Das Interesse der Parteien an einer Sachverhaltsaufklärung wird maßgeblich durch das System der Risikozuweisung im Zivilprozess geprägt. Die Aufteilung des Sachvortrags und damit die Zuweisung des Risikos der Sachverhaltsaufklärung erfolgt auf der Basis der Verhandlungsmaxime durch die Verteilung der Beweislast und (dieser folgend) der Behauptungslast. 3. Die Behauptungs- und Beweisbedürftigkeit fehlt bei nicht bestrittenen Behauptungen und zugestandenen sowie offenkundigen Tatsachen. Offenkundige

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Teil 6:  Schluss

Tatsachen sind unabhängig davon zu berücksichtigen, ob sich eine Partei auf sie beruft, weil das Gericht keine Entscheidung in offenem Widerspruch zu dem zugrunde liegenden Lebenssachverhalt treffen sollte. Die Offenkundigkeit ist eine Grenze des Verhandlungsgrundsatzes. Gegen die Offenkundigkeit an sich ist der Gegenbeweis nicht möglich. Auch der Gegenbeweis der Tatsache selbst ist ausgeschlossen. Allerdings können die Parteien ihre Bedenken gegen die Offenkundigkeit vortragen. Verneint das Gericht nach erneuter Prüfung die Offenkundigkeit, folgt eine Beweiserhebung über die Tatsache. §  3  Rechtsvergleichende Grundlagen 4. Die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt, dass Wege und Grenzen der Wahrheitsfindung verschieden ausgestaltet sein können. Gleichwohl können einheitliche Tendenzen festgestellt werden. Die aktive materielle Prozessleitung wird als »Stellschraube« zu einem effizienten und der Wahrheitsermittlung verpflichteten Zivilprozess anerkannt. Dabei werden die Tatsachen regelmäßig von den Parteien vorgetragen, doch gibt es zugleich die Möglichkeit zu Beweiserhebungen von Amts wegen. Die Mitwirkungspflichten der Parteien sind originär prozessrechtlich begründet. Der Geheimnisschutz ist in der Regel nicht absolut, sondern relativ ausgestaltet, sodass eine Verwertung der geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen ermöglicht wird. Weitgehende Mitwirkungspflichten bestehen im US-amerikanischen Zivilprozessrecht, auch wenn durch die discovery-Reform im Jahre 1993 Einschränkungen eingefügt worden sind. Das englische Recht hat sich durch die Woolf-Reforms der kontinentaleuropäischen Tradition angenähert und den Wechsel von der adversary procedure zum active case management vollzogen. Auch im österreichischen Zivilprozess ist eine starke Stellung des Richters vorgesehen. Die Schweizerische Zivilprozessordnung, die in wesentlichen Bereichen an die zürcherische Zivilprozessordnung angelehnt ist, verbindet das Interesse an Aufklärung mit den Interessen der Parteien an dem Schutz ihrer Sphären. Auf richterliche Anordnung müssen die streitrelevanten Urkunden vorgelegt werden. Die Geheimhaltungsinteressen werden über Schutzmaßnahmen gewahrt, die im Ermessen des Gerichts stehen. §  4  Europäische und internationale Harmonisierungsbestrebungen und Regelwerke 5. Die Betrachtung der europäischen und internationalen Harmonisierungsbestrebungen zeigt, dass prozessuale Mitwirkungspflichten mittlerweile als Standard angesehen werden können. Die aktive richterliche Prozessleitung soll dabei einerseits eine Begrenzung auf den relevanten Tatsachenstoff, andererseits seine frühzeitige, klare und vollständige Beibringung fördern. Der Storme-Bericht zum europäischen Zivilprozessrecht schlägt weitgehende prozessual be-

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gründete Offenbarungspflichten der Parteien vor. Es zeigt sich die Tendenz, eine Offenlegung zur Ermittlung der Wahrheit zu unterstützen. Die Principles of Transnational Procedure verbinden die grundsätzliche Tatsachenbeibringung durch die Parteien mit der Verantwortung des Gerichts, welches eine aktive materielle Prozessleitung übernimmt (active case management). Die Parteien erhalten Zugriff auf die erheblichen Beweismittel, die nicht über besondere Weigerungsrechte geschützt sind. In der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist nach den IBA-Regeln eine eingeschränkte Urkundenvorlagepflicht vorgesehen. Zur Konkretisierung der Urkunden reicht die Angabe der Kategorie der vorzulegenden Dokumente aus. Die Dokumente müssen für den Rechtsstreit Relevanz besitzen. Die Anerkennung von Geheimhaltungsinteressen führt nicht notwendigerweise zu einem Ausschluss der Verwertbarkeit, sondern die Wahrung der Vertraulichkeit kann über Schutzmaßnahmen sichergestellt werden. Schließlich ist eine aktive materielle Prozessleitung anerkannt. Der Erlass der Enforcement-Richtlinie bestätigt die Erkenntnis, dass es durchaus Probleme der Rechtsdurchsetzung aufgrund des fehlenden Zugangs zu Tatsacheninformationen gibt, hier im Bereich des Rechts des geistigen Eigentums. Der deutsche Gesetzgeber entschied sich für eine materiellrechtliche Umsetzung in den diesbezüglichen Spezialgesetzen. Das führt jedoch zu umständlichen Wegen der Rechtsdurchsetzung, die gegenüber einer prozessualen Lösung nachteilig sind. Wünschenswert wäre eine umfassende prozessuale Lösung gewesen, die nicht Sondermaterien schafft, obwohl eine einheitliche Lösung möglich und sogar effizienter gewesen wäre. §  5  Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes 6. Ausgangspunkt der Tatsachenermittlung im Zivilprozess ist auch nach Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes im Jahre 2002 der Verhandlungsgrundsatz. Der Verhandlungsgrundsatz ist nicht als absoluter Grundsatz zu verstehen, sondern als Ausgangspunkt der Tatsachenermittlung, der innerprozessualen Grenzen unterliegt. Unterstützend wirkt die materielle Prozessleitung des Gerichts, dessen Mitverantwortung unter anderem durch die Modifizierung des §  139 ZPO hervorgehoben wurde. Die gegenseitige Abhängigkeit von Parteiherrschaft und richterlicher Prozessleitung sollte dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass von einem »geleiteten Verhandlungsgrundsatz« gesprochen wird. §  6  Grenzen der Hoheit der Parteien 7. In tatsächlicher Hinsicht sind die Parteien in der Lage, dem Gericht einen unwahren Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage zu unterbreiten, indem sie entweder relevante Tatsachen überhaupt nicht oder nicht der Wahrheit entspre-

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chend vortragen. Prozessrechtlich sind sie jedoch daran gehindert. Die Wahrheitspflicht (§  138 Abs.  1 ZPO) ist als Grenze der §§  138 Abs.  3, 288 ZPO und des Verhandlungsgrundsatzes insgesamt anzusehen. Es besteht keine Bindung des Gerichts an einen übereinstimmenden, aber unwahren Tatsachenvortrag der Parteien. Die einvernehmliche Darstellung eines unwahren Sachverhalts stellt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar. Möchten die Prozessparteien ihre Rechtsbeziehung einvernehmlich neu regeln, ist das materielle Recht der richtige Standort dafür. Diese Auffassung entspricht nicht der Rechtsprechung und herrschenden Ansicht im Schrifttum. De lege lata besteht eine Bindung der Parteien und des Gerichts an einen wahrheitswidrigen Vortrag der Parteien. Nur im Falle eines Irrtums kann ein wahrheitswidriges Geständnis widerrufen werden. Abgesehen von dieser Ausnahme ergibt sich ein Widerspruch zu der Erklärungs- und Wahrheitspflicht der Parteien sowie der Erkenntnis, dass eine Bindung des Gerichts an einen übereinstimmenden, aber unwahren Tatsachenvortrag nicht bestehen sollte. De lege ferenda ist der Gesetzgeber aufgerufen, die Vorschrift des §  290 ZPO zu ändern. Das Fragerecht des Richters sollte auf diesen Fall explizit ausgeweitet werden, um eine Entscheidung auf Grundlage eines wahren Sachverhalts zu ermöglichen. 8. Eine Erklärung mit Nichtwissen ist nicht deshalb zulässig, weil eine Partei keine (eigene) Erinnerung an einen Vorgang mehr hat. Vielmehr muss sich die Partei über Umstände erkundigen, die in ihrem Wahrnehmungsbereich stat­t­ gefunden haben (§  138 Abs.  4 ZPO). Die Partei muss die ihr zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten nutzen, um sich Kenntnis über die Tatsachen zu verschaffen. Eigenen Handlungen und Wahrnehmungen sind Vorgänge im eigenen Lebens-, Geschäfts- oder Verantwortungsbereich gleichgestellt. §  7  Instrumente zur Beseitigung von Informationsdefiziten 9. Zur Beseitigung von Informationsdefiziten folgt das deutsche Recht traditionell – geprägt durch die Linie des BGH – einem materiellrechtlichen Ansatz. Im materiellen Recht sind spezialgesetzlich Ansprüche auf Aufklärung und Information normiert. Daneben gewährt die Rechtsprechung einen Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben (§  242 BGB). Voraussetzung sowohl für die spezialgesetzlichen Ansprüche als auch für den Anspruch nach Treu und Glauben ist eine bestehende rechtliche Beziehung. Es bleiben Lücken, wenn es an dieser rechtlichen Sonderverbindung fehlt. Lücken können ebenfalls entstehen, wenn es an den notwendigen Informationen fehlt, um einen etwaigen Anspruchsgrund darzulegen. Auch prozessual ergeben sich Nachteile. Die materiellrechtlichen Ansprüche können nicht inzident im Prozess geltend gemacht werden, sodass der Weg über die zeitintensive Stufenklage zu wählen ist. Die vorherige

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selbstständige Geltendmachung des Anspruchs bedeutet eine zu vermeidende Prozessverdoppelung. 10. Die Unzulänglichkeiten der materiellrechtlichen Ansprüche führen dazu, prozessuale Wege der Informationsbeschaffung zu beschreiten. Das erkennt die Rechtsprechung teilweise an, ohne es »beim Namen zu nennen«. Über das Institut der sekundären Behauptungslast versucht die Rechtsprechung, das unterschiedliche Informationsniveau der Prozessbeteiligten auszugleichen. Problematisch an diesem Instrument ist einerseits die uneinheitliche Anwendung in der Praxis, andererseits die gleichwohl verbleibende Rechtsschutzlücke, wenn die beweisbelastete Partei ihrer eingeschränkten Substantiierungslast nicht entsprechen kann. 11. Aus den Vorlegungspflichten des Gegners nach bürgerlichem Recht (§  422 ZPO) oder bei Bezugnahme (§  423 ZPO) ergibt sich keine originäre Informa­ tionsmöglichkeit. §  422 ZPO verlangt einen materiellrechtlichen Vorlageanspruch, §  423 ZPO beinhaltet zwar einen prozessrechtlichen Vorlageanspruch, jedoch nur, wenn der Prozessgegner selbst auf die Urkunde Bezug genommen hat. Die Bezugnahme wird dementsprechend nur erfolgen, wenn der Inhalt der Urkunde vorteilhaft ist. 12. Der Gesetzgeber hat mit dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreformgesetz die Möglichkeit der Anordnung der Urkundenvorlegung nach §  142 ZPO und der Vorlage von Augenscheinsgegenständen nach §  144 ZPO erweitert. Anders als nach früherem Recht (bis zum 31.12.2001) kann eine Partei zur Urkundenvorlage verpflichtet werden, wenn nicht sie selbst, sondern die Gegenpartei auf die Urkunde Bezug genommen hat. Ausweislich des Wortlauts ist der Vorlageanspruch unabhängig vom Bestehen eines materiellrechtlichen Herausgabeanspruchs. Die Befürchtungen um zu weitgehende (ausforschende) Befugnisse des Gerichts führen zu Vorschlägen, den Anwendungsbereich des §  142 ZPO über den Wortlaut hinaus einzuschränken. Befürwortet wird eine Beschränkung auf die Funktion der materiellen Prozessleitung. Gegen die Auslegung als reines Instrument der materiellen Prozessleitung spricht jedoch der Sinn und Zweck der Vorschrift. §  142 ZPO ermöglichte bereits vor der Reform nicht nur die Aufklärung eines unklaren oder lückenhaften Vorbringens der Parteien, sondern auch die Vorbereitung einer Beweiserhebung durch Urkunden. Dieser doppelte Zweck sollte ausweislich der Gesetzesbegründung nicht geändert werden. Der Grundsatz, dass eine Partei nicht gehalten sei, dem Gegner das Material für seinen Prozesssieg zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt, gilt so nicht mehr. 13. §  142 ZPO beinhaltet somit eine beweisrechtliche Komponente und ist auf streitigen Tatsachenvortrag anwendbar. Daher ist die Frage nach dem Verhältnis zu §§  422, 423 ZPO zu klären. Nach einer einschränkenden Auslegung sind die

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Teil 6:  Schluss

Voraussetzungen der §§  422, 423 ZPO in §  142 ZPO hineinzulesen, um eine Diskrepanz zwischen den Vorschriften zu vermeiden. Gegen die Einschränkung spricht, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des §  142 ZPO eine Erweiterung der Anordnungskompetenz des Richters beabsichtigte. Schließlich wird über §  429 S.  2 ZPO ausdrücklich festgelegt, dass §  142 ZPO unberührt bleibt. Zwar betrifft die Anordnung die Vorlage durch einen Dritten, doch ergibt sich in einem Erst-recht-Schluss, dass von einer Partei die Vorlage unabhängig von einem materiellrechtlichen Vorlageanspruch verlangt werden kann. 14. Außerhalb der Schutzrechtsstreitigkeiten wird es für eine Vorlageanordnung nach §  142 ZPO nicht als ausreichend angesehen, dass ein Anspruch wahrscheinlich besteht. Fehlt die Fähigkeit zum substantiierten Vortrag oder möchte eine Partei nicht detaillierter vortragen, ergeht eine Anordnung nach §  142 ZPO nicht. Ebenso werden hohe Anforderungen an die bestimmte Bezeichnung der Urkunde gestellt. Das führt zu Problemen, wenn eine detaillierte Kenntnis der Existenz oder des Inhalts von Urkunden fehlt. Die Rechtslage de lege lata führt zu Schutzlücken. 15. Aus der Analyse der materiellrechtlichen und prozessualen Informationsund Offenlegungsinstrumente ergibt sich die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Tätigwerdens, in der konzeptionell eine Linie verfolgt wird. Aufgrund der verbleibenden Rechtsschutzlücken und des Fehlens eines Gesamtkonzepts bedarf es einer Fortentwicklung. Vorrangig sind die prozessualen Instrumente zu erweitern, wobei ein Ausgleich zwischen prozessualer Mitwirkungsverantwortung und den Geheimhaltungsinteressen der Parteien zu gewährleisten ist. §  8  Entwicklung einer prozessualen Verwirklichung der Verbindung von Rechtsdurchsetzung und Geheimnisschutz 16. De lege ferenda sollten die Grundsätze der sekundären Behauptungslast kodifiziert werden und eine Erweiterung auf die Urkundenvorlage erfolgen. Dabei ist auf das Erfordernis einer individualisierenden Beschreibung zu verzichten, wenn entsprechende Angaben einer Partei nicht möglich sind. Eine Vorlageanordnung darf nicht unterbleiben, weil eine Partei außerhalb des Geschehensablaufs steht und keine näheren Angaben zu dem tatsächlichen Lebenssachverhalt oder dem Inhalt oder dem Verbleib der Urkunde machen kann. Generelle Angaben zu Art und Inhalt reichen aus, wenn die Partei von den Details keine Kenntnis haben kann. Die Vorlageanordnung muss auch in Betracht kommen, wenn einer Partei die Informationen fehlen, um substantiiert vorzutragen und so eine Vorlagemöglichkeit auszulösen. Insoweit kann die Vorlageanordnung einer begrenzten Ausforschung dienen. Diese Verantwortung der Parteien kann als »sekundäre Vorlegungslast« bezeichnet werden. Die sekundäre Vorlegungslast greift bereits ein, wenn der Anspruch »lediglich« wahrscheinlich ist.

§  15  Ergebnisse

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17. Schließlich ist eine »sekundäre Informationslast« der Parteien einzuführen, die darin besteht, sich auch zu Beweismitteln zu äußern, wenn Anhaltspunkte für ihre Existenz bestehen oder solche Urkunden typischerweise erstellt werden. Relevant ist das, wenn eine Partei Tatsachen substantiiert vorträgt, die Existenz von Urkunden aber lediglich vermuten und dazu keine substantiierten Angaben machen kann. Sekundäre Vorlegungslast und sekundäre Informationslast führen übergreifend zu einer sekundären Mitwirkungsverantwortung. 18. Die Vorlage nach §  142 ZPO sollte von einem Beweisantrag abhängig gemacht werden. Dadurch würde die Parteiverantwortung im Sinne des Verhandlungsgrundsatzes gestärkt. Eine Erweiterung des Beweisantragsrechts wäre auch im Sinne einer Arbeitsteilung zwischen Richtern und Anwälten sinnvoll. Die Entscheidung über die Vorlageanordnung ist in das Ermessen des Gerichts zu stellen, welches im Rahmen seiner Entscheidung vor allem Geheimhaltungsinteressen zu berücksichtigen hat. 19. De lege lata können sich die Prozessparteien im Gegensatz zu Dritten grundsätzlich nicht auf Weigerungsrechte berufen. Grund dafür ist die jeweils unterschiedlich festzulegende Zumutbarkeitsschwelle. Weil Dritte nicht ihr subjektives Recht durchsetzen möchten, sondern zur Rechtsdurchsetzung oder Verteidigung einer Partei herangezogen werden, liegt die Schwelle für eine Heranziehung höher, sodass Geheimhaltungsinteressen generell relevant sind. Wertungsmäßig kann die Prozesspartei stärker belastet werden. Dementsprechend hat sie im gewissen Maße auf Geheimhaltung zu verzichten. Allerdings kann das nicht vollständig gelten, da durchaus berechtigte Geheimhaltungsinteressen der Parteien bestehen können. Das zurzeit geltende Regime, welches Geheimnisschutz oder Rechtsschutz als Alternative behandelt, erscheint nicht sachgerecht. 20. De lege ferenda sind Weigerungsrechte explizit zu normieren, um eine gewisse Vorhersehbarkeit sicherzustellen. Darüber hinaus sollten die Weigerungsrechte von den Ermessenserwägungen getrennt werden. Die Geheimnisschutzinteressen wären erst nach der Anordnung geltend zu machen. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit könnte nach §§  386 bis 390 ZPO erfolgen, sodass ein Zwischenurteil ergeht, welches über die sofortige Beschwerde anfechtbar ist. Über den förmlichen Beschluss könnte Rechtssicherheit hergestellt werden. Auch die Anwendbarkeit der §§  386 ff. ZPO sollte gesetzlich angeordnet werden. 21. Als schützenswerte Sphären konnten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die Privatsphäre, die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung sowie öffentliche Interessen herausgearbeitet werden. Im Einzelnen kann freilich eine Abwägung zwischen den Belangen erforderlich sein. Zur Wahrung dieser Geheimnissphären im Prozess ist ein Geheimnisschutzverfahren zu entwickeln.

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22. Hinweise auf eine mögliche Umsetzung des Geheimnisschutzes geben andere bestehende Regelungsmechanismen. Im materiellen Recht dient der Wirtschaftsprüfervorbehalt der Verbindung eines effektiven Rechtsschutzes mit Geheimhaltungsinteressen (siehe §  87c Abs.  4 HGB). In der rechtsvergleichenden Betrachtung sticht die Einschaltung von Mittelspersonen als ein gängiges In­ strument hervor (vergleiche die Rechtslage in den USA und England sowie unter Geltung der zürcherischen und Schweizerischen Zivilprozessordnung). In der Rechtsprechung des BAG und in der obergerichtlichen Rechtsprechung zeigen sich – mit unterschiedlicher Intensität – die Bemühungen, Geheimhaltungsinteressen im Prozess zu berücksichtigen. Weit fortgeschritten ist das vor dem Düsseldorfer Landgericht entwickelte »Düsseldorfer Verfahren« in Patentrechtsstreitigkeiten, welches das selbstständige Beweisverfahren zur Einholung eines Sachverständigengutachtens mit einer einstweiligen Verfügung zur Sicherung des Anspruchs aus §  809 BGB kombiniert. In der einstweiligen Verfügung wird dem Antragsgegner aufgegeben, die Besichtigung durch den Sachverständigen und Vertreter des Antragstellers zu dulden, während dem Antragsteller selbst nicht gestattet wird, bei der Besichtigung anwesend zu sein. Die anwesenden Personen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet, insbesondere die Vertreter des Antragstellers gegenüber dem Antragsteller. Nicht gelungen ist, dass eine Fortsetzung des Geheimnisschutzes in dem Hauptsacheverfahren nicht stattfindet. Die Möglichkeit der Einschaltung einer Vertrauensperson ist zur Verbindung von Geheimhaltung und effektivem Rechtsschutz auf den Zivilprozess im Allgemeinen zu übertragen. 23. Das in camera-Verfahren erfolgt zweistufig. Zunächst ist die Geheimhaltungsbedürftigkeit zu überprüfen (erster Schritt). Ergibt sich dabei, dass die geltend gemachten Geheimhaltungsinteressen hinter dem Rechtsschutzinteresse der anderen Partei zurückstehen müssen, erfolgt die Verwertung im Hauptsacheverfahren. Dabei kann es etwa bei der Urkundenvorlage notwendig sein, einzelne Stellen, die für die Streitentscheidung nicht relevant sind, unkenntlich zu machen. Ergibt die Überprüfung, dass das Geheimhaltungsinteresse überwiegt, ist das in camera-Verfahren im Hauptsachverfahren fortzusetzen (zweiter Schritt). Das in camera-Verfahren ist gegebenfalls über die Einschaltung eines Interessenvertreters der ausgeschlossenen Partei oder die Weitergabe der Information an einen unabhängigen Dritten – in Anlehnung an den sog. Wirtschaftsprüfervorbehalt – zu modifizieren. 24. Die Begründung für ein in camera-Verfahren muss differenziert erfolgen. Der Verzicht der beweisbelasteten Partei auf das rechtliche Gehör (zum Geheimnisschutz der nicht beweisbelasteten Partei) lässt sich auf eine Prozessvereinbarung bzw. einen Verzicht des Beweisführers auf das rechtliche Gehör stützen. Der Verzicht der nicht beweisbelasteten Partei (zum Geheimnisschutz der beweisbelasteten Partei) kann dogmatisch lediglich auf einer gerichtlichen Anordnung beruhen.

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25. Die Verwertung von Tatsachen, die nur einer Partei bekannt sind und die sie lediglich dem Gericht, einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Dritten und unter Umständen dem gegnerischen Anwalt unter Ausschluss des Prozessgegners offenbart (sog. in camera-Verfahren), stellt eine Beschränkung des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei dar. Die verfassungsrechtlich geschützte Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art.  103 Abs.  1 GG) unterliegt jedoch verfassungsimmanenten Schranken, die in kollidierenden Grundrechten Dritter und in mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern gründen können. Grundlage des kollidierenden verfassungsrechtlichen Rechts ist die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes. 26. Die Geheimhaltung muss in Urteil und vollstreckungsfähigem Tenor ihre Fortsetzung finden. Die geheimhaltungsbedürftigen Aussagen sind in einem gesonderten Dokument aufzunehmen. Insoweit empfiehlt sich die Anlegung von Beiakten, die gegenüber der anderen Partei vertraulich zu behandeln sind. Geheimhaltungsbedürftige Tatsachen sind nicht in den Tenor aufzunehmen, sondern in Anlagen, die in Analogie zu §  172 Nr.  2 GVG vertraulich zu behandeln sind. 27. Das in camera-Verfahren ist lediglich als ultima ratio zu wählen. Es ist daher vorrangig eine intensive Prüfung der Geheimhaltungsbedürftigkeit vorzunehmen. Dabei ist für Urkunden zu prüfen, ob nicht die Unkenntlichmachung einzelner – für das Verfahren nicht wesentlicher – Inhalte ausreichend ist. Ein Geheimverfahren ist keineswegs erstrebenswert, sondern erst als letztes Mittel zur Wahrung eines effektiven Rechtsschutzes einzusetzen. De lege ferenda bedarf es einer einfachgesetzlichen Grundlage. 28. Die Nichtvorlage trotz entsprechender Anordnung, ohne die berechtigte Geltendmachung eines Geheimhaltungsinteresses, kann über eine negative Beweiswürdigung sanktioniert werden. Der drohende Prozessnachteil stellt einen erheblichen Anreiz zur Mitwirkung dar. Fehlt es mangels entsprechender Kenntnis an der Grundlage für eine negative Beweiswürdigung, bleibt als Sanktion die Fiktion oder die Möglichkeit der Betragsschätzung durch das Gericht. Schließlich sollte die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung eingeführt werden. §  9  Die weitergehenden Forderungen nach einer Aufklärungspflicht der Parteien 29. Für eine über die hier vorgeschlagene Erweiterung hinausgehende allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht, wie sie von Stürner vorgeschlagen wird, gibt es de lege lata keine ausreichende Analogiebasis. Aus den von Stürner genannten Vorschriften kann sie nicht entnommen werden. De lege ferenda sollte ein

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Ansatz gewählt werden, der an die bestehende Regelung des §  142 ZPO anknüpft. §  10  Gesetzliche Beweiserleichterungen 30. Die Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) stellt eine Senkung des Beweismaßes dar. Für die Glaubhaftmachung reicht aus, dass das Gericht die Wahrheit der behaupteten Tatsache für überwiegend wahrscheinlich hält. Gesetzgeberisch wird die Glaubhaftmachung mithin angeordnet in Fällen, in denen die Schnelligkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes im Vordergrund steht, das Verfahren einseitig ausgestaltet ist oder (lediglich) prozessuale Fragen zu entscheiden sind. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs auf andere Konstellationen, in denen Beweisschwierigkeiten bestehen, erscheint nicht angemessen. Im Grundsatz kann die Glaubhaftmachung nicht ausreichen, weil das materielle Recht das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale verlangt, hingegen nicht – von Ausnahmen abgesehen – lediglich an Wahrscheinlichkeiten anknüpft. 31. Die Beweismaßsenkung des §  287 Abs.  1 S.  1 ZPO gilt für die haftungsausfüllende Kausalität und die Höhe des Schadens, hingegen nicht für die haftungsbegründende Kausalität. Zur Haftungsbegründung gehören bei Vertragsverletzungen der Zusammenhang zwischen der Vertragsverletzung und der Rechtsgutbeeinträchtigung, bei Deliktsansprüchen der Zusammenhang zwischen der Handlung und der Rechtsgutverletzung. §  287 Abs.  1 S.  2 ZPO sieht Verfahrenserleichterungen vor. Es steht im Ermessen des Gerichts, ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen ist. Das richterliche Ermessen über die Anordnung einer Beweisaufnahme von Amts wegen stellt eine Einschränkung des Gebots der Erschöpfung der Beweisanträge dar. 32. Forderungen nach einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des §  287 ZPO sind differenzierend zu betrachten. In der ZPO sind prozesswirtschaftliche Erwägungen anerkannt. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz des Zivilprozesses muss die Entstehung hoher Kosten bei geringen Streitwerten vermieden werden. Die Durchsetzung des materiellen Rechts darf gleichwohl nicht verhindert werden, weshalb ein Ausgleichsmechanismus zu wählen ist. Vorgeschlagen wird daher in Anlehnung an §  495a ZPO, dass das Gericht bei Bagatellforderungen bis zur Höhe von 600 Euro eine Schätzung nach billigem Ermessen vornehmen kann. Voraussetzung ist, dass ein Beweisaufnahmeverfahren im Hinblick auf die dadurch verursachten Kosten außer Verhältnis zu der Forderung stünde. 33. Der Grundsatz »De minimis non curat praetor« kann nicht zum Ausschluss von Klagen auf Minimalbeträge führen. Dagegen spricht bereits die Schwierig-

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keit der Definition der »Kleinigkeit«. Darüber hinaus würden sich nur schwer zu verhindernde Missbrauchsmöglichkeiten ergeben, die insbesondere in der absichtlichen Nichtzahlung geringfügiger Beträge liegen könnte. Kleinstbeträge können mit gutem Grund eingeklagt werden, sodass das Rechtsschutzbedürfnis nicht allgemein versagt werden kann. Minimalbeträge sind – sollte das erforderlich sein – im materiellen Recht auszuscheiden. Erkennt das materielle Recht allerdings Ansprüche über Minimalbeträge an, sind sie prozessual durchsetzbar. §  11  Richterrechtliche Beweiserleichterungen 34. Ein Anscheinsbeweis kann bei typischen Geschehensabläufen angenommen werden. Es ist derjenige Verlauf, der bei der gegebenen Sachlage der Regel des Lebens, dem Üblichen, Gewöhnlichen entspricht, kraft freier Würdigung als erwiesen anzusehen. Voraussetzung für den Anscheinsbeweis sind Erfahrungssätze von hinreichender Tragweite, die bei sog. Erfahrungsgrundsätzen gegeben ist, nicht hingegen bei einfachen Erfahrungssätzen. Erfahrungsgrundsätze lassen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von einer Tatsache auf einen anderen Umstand schließen, auch wenn ihnen keine wissenschaftliche Verifizierung zugrunde liegt. 35. Die dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises ist umstritten. Nach hier vertretener Auffassung besteht ein Unterschied zwischen Anscheinsbeweis und Vollbeweis. Besonderheiten ergeben sich, weil sich der Richter mit einer Sachverhaltsaufklärung zufrieden gibt, die nicht alle Details beinhaltet. Der entscheidende Unterschied zum gewöhnlichen Beweis liegt in der »Irgendwie-Feststellung«, innerhalb derer Details von dem Geschehensablauf nicht dargelegt und bewiesen werden müssen. Der erste Anschein spricht für eine Tatsache und kann zunächst als gegeben angesehen werden, weil aufgrund der Typizität andere Möglichkeiten des Geschehensablaufs außer Betracht gelassen werden können. Dass der Anscheinsbeweis Besonderheiten aufweist – und das verdeutlicht seine ambivalente Struktur –, zeigt sich auch an der Führung des Gegenbeweises, der die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs voraussetzt (und ausreichen lässt). Der anderen Partei obliegt der Gegenbeweis, weil sie nunmehr die konkrete Beweisführungslast trifft. Die konkrete Beweisführungslast wird dementsprechend umgekehrt. Die Grundlage des Anscheinsbeweises ist §  286 Abs.  1 S.  1 ZPO, der jedoch modifiziert angewendet wird. 36. Die Rechtsprechung greift in unterschiedlicher Weise auf sog. tatsächliche Vermutungen zurück. Grundlage einer tatsächlichen Vermutung sind Sätze der Lebenserfahrung. Anders als bei einer gesetzlichen Vermutung besteht eine Behauptungslast für die vermutete Tatsache. Die Anforderungen an den Partei-

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vortrag dürfen nicht übersteigert werden. Unsicherheiten bestehen im Hinblick auf Voraussetzungen und Rechtsfolgen sowie die dogmatische Begründung. In der Rechtsprechung wird auf tatsächliche Vermutungen zur Umkehr der Beweislast und im Rahmen der Beweiswürdigung zurückgegriffen. Darüber hinaus wird teilweise sogar von einer »Beweiserleichterung bis hin zur Beweislast­ umkehr« gesprochen. 37. Die Rechtsfolge der Beweislastumkehr erscheint zu weitgehend und dogmatisch nicht überzeugend. Die Beweislastumkehr bedeutet eine Veränderung des materiellen Rechts. Eine solche Verschiebung mit den Mitteln des Prozessrechts ist lediglich zurückhaltend vorzunehmen; eine tatsächliche Vermutung ist dafür nicht ausreichend. Ausreichend ist eine Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung, denn an Denk- und Erfahrungssätze, zu denen die Sätze der Lebenserfahrung gehören, ist der Richter gebunden. Inhaltlich geht der BGH häufig so vor, auch wenn er die Vorgehensweise dogmatisch als Beweislast­ umkehr »ausflaggt«. 38. Zur Vermeidung von Unklarheiten sollte auf den Begriff der tatsächlichen Vermutung als terminus technicus verzichtet werden. Tatsächliche Vermutungen werden im Rahmen der Beweiswürdigung eingesetzt, ohne dass es sich um eine besondere Art der Beweisführung handeln muss. Sie können unter anderem einen Anscheinsbeweis begründen. Aus der Begrifflichkeit der tatsäch­ lichen Vermutung können keine Erkenntnisse gezogen werden. 39. Eine Beweisvereitelung liegt bei einem Tun oder Unterlassen vor, welches die Sachverhaltsaufklärung verhindert. Möglich ist neben einer vorsätzlichen auch eine fahrlässige Beweisvereitelung. Eine allgemeine Vorschrift zur Beweisvereitelung findet sich im Gesetz nicht. Die Folgen einer Beweisvereitelung werden lediglich vereinzelt geregelt, etwa in §  427 oder §  444 ZPO. Aus diesen Regelungen kann der allgemeine Gedanke entnommen werden, dass die schuldhafte Vernichtung eines Beweisgegenstands durch die nicht beweisbelastete Partei Beweiserleichterungen für die andere Partei zur Folge haben kann. Richtigerweise ist als Konsequenz einer Beweisvereitelung eine Umkehr der konkreten Beweisführungslast vorzunehmen. Ein prozessualer Nachteil kann an die Beweisvereitelung nur geknüpft werden, wenn eine vorhergehende Pflicht besteht, das Beweismittel aufzubewahren. Diese Pflicht ergibt sich aus der Mitwirkungsverantwortung der Parteien in Verbindung mit der Erklärungs- und Wahrheitspflicht. 40. Dem Unterschied zwischen einer vorsätzlichen und fahrlässigen Beweisvereitelung wird in den konkreten Folgen Rechnung getragen. Bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Beweisvereitelung wird der Richter den Hauptbeweis als zulasten der für die Beweisvereitelung verantwortlichen Partei geführt anzusehen haben. Bei fahrlässiger Beweisvereitelung kann das ebenfalls angezeigt sein,

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doch ist Zurückhaltung geboten. Sachgerecht erscheint regelmäßig die Berücksichtigung im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Ermessensleitender Gesichtspunkt ist der Grad des Verschuldens. Dadurch wird eine Flexibilität erreicht, die zwar zu Rechtsunsicherheit führen kann. Die Beweisvereitelung ist jedoch so vielschichtig, dass ihr ohne eine gewisse Flexibilität nicht gerecht zu werden ist. 41. Anscheinsbeweis und Beweisvereitelung ähneln sich in der Rechtsfolge: die Umkehr der konkreten Beweisführungslast. Der Grund für die Umkehr ist jedoch verschieden. Bei dem Anscheinsbeweis ist es ein Erfahrungssatz, der ansonsten bestehende Beweisschwierigkeiten überbrückt. Bei der Beweisvereitelung ist es das Verhalten einer Partei, welches die Umkehr der konkreten Beweisführungslast auslöst. In das System der Mitwirkungsverantwortung passen sowohl der Anscheinsbeweises als auch die Beweisvereitelung hinein, sodass sich ein schlüssiges Gesamtkonzept ergibt. §  12  Materiellrechtlich veranlasste Beweismaßsenkung 42. Das materielle Recht ist der richtige Standort für Regelungen, die einen positiven oder negativen Anreiz für die Prozessparteien zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung bewirken sollen. Positive Anreizsysteme belohnen normkonformes Verhalten, während negative Anreizsysteme über Sanktionen (Haftungsandrohung) funktionieren. Der Einzelne wird versuchen, die Haftungsfolge zu vermeiden, indem er die für ihn sprechenden Tatsachen vorträgt und gegebenenfalls beweist. Daher eignen sich sanktionsbewehrte Rechtsnormen zur Erreichung bestimmter Ziele. 43. Aus der Tatsache, dass das materielle Recht in bestimmten Fällen für den Nachweis der Kausalität geringere Beweisanforderungen stellt, etwa eine nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit (zum Beispiel §  119 Abs.  1 BGB oder §  1 Abs.  2 Nr.  2 ProdHaftG; ähnlich §  252 S.  2 BGB), kann nicht geschlossen werden, dass analog diesen Vorschriften für den Kausalitätsnachweis generell nur die nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit bzw. die überwiegende Wahrscheinlichkeit zu verlangen ist. Der Gesetzgeber geht nicht allgemein von einem solchen Verständnis des Kausalitätsnachweises aus. Auch de lege ferenda erscheint eine entsprechende Änderung nicht angezeigt. Die Lösung des Gesetzgebers, lediglich an einzelnen Stellen eine nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit ausreichen zu lassen, ist vorzugswürdig, weil dem Grundkonzept des deutschen Zivilrechts der volle Nachweis der anspruchsbegründenden Tatsachen (im Prozess) entspricht.

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Teil 6:  Schluss

§  13  Gesetzgeberische Risikozuweisung über Vermutungen, Fiktionen und Auslegungsregeln 44. Als geeignetes Instrument zur Beweisrisikoverteilung sind widerlegbare gesetzliche Vermutungen (siehe §  292 ZPO) anzusehen. Die widerlegbaren Vermutungen führen dazu, dass der Vermutungsgegner den Sachverhalt aufklären muss, wenn er den Prozessverlust vermeiden möchte. Dementsprechend handelt es sich bei den widerlegbaren Vermutungen um Instrumente der Risikozuweisung, die einen Aufklärungsanreiz beinhalten. 45. Die dogmatische Grundlage der gesetzlichen Vermutung ist umstritten. Erörtert wird eine Einordnung als Beweisregel oder Beweislastregel. Der methodische Unterschied zwischen Beweisregel und Beweislastregel liegt darin, dass mithilfe von Beweisregeln versucht wird, ein non liquet zu vermeiden, während Beweislastregeln an das non liquet anknüpfen und in dieser Situation eine Sachentscheidung ermöglichen. Zustimmungswürdig ist die Betrachtung als Beweislastregel. Es handelt sich bei der Vermutungswirkung nicht um eine Regel, die für den Richter dazu führt, dass er von der Tatsache oder dem Recht bzw. Rechtszustand überzeugt wäre. Er handelt vielmehr trotz des Fehlens einer Überzeugung, und zwar aufgrund der Anordnung der Vermutung. 46. Die vermutete Tatsache bedarf keines Beweises. Darüber hinausgehend tritt die Vermutung unabhängig von der Behauptung des Vermutungsinhalts ein. Die Vermutungswirkungen sollen auch eintreten, wenn eine Partei das Bestehen der Vermutung nicht kennt. Nach dem Verhandlungsgrundsatz müssen die Parteien den Tatsachenstoff, den das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen soll, vortragen. Wird die Vermutungsbasis behauptet, ist der Sachverhalt, über den das Gericht entscheiden soll, in den Prozess eingeführt worden und die Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutungsregel liegen vor. 47. Im Sinne einer gerechten Risikoverteilung sollte das materielle Recht gezielt widerlegbare Vermutungen beinhalten und dadurch zugleich einen Aufklärungsanreiz für den Vermutungsgegner schaffen. Regelmäßig erfolgt eine gesetzgeberische Vermutungsanordnung, weil für ihren Inhalt eine sich auf Lebenserfahrung gründende Wahrscheinlichkeit spricht. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch eher die Rechtfertigung als das Motiv für den Erlass der Vermutung. Motive sind das Bemühen um die Verhinderung von Rechtsstreitigkeiten und die Förderung eines rechtspolitisch gewünschten Ergebnisses. Schließlich soll über die Vermutungen und damit über die Verschiebung der Beweislast die Nähe einer Partei zum Lebenssachverhalt ausgenutzt werden. Die Partei soll veranlasst werden, zur Aufklärung beizutragen, um den Prozessverlust zu vermeiden. Ist dies das Motiv, bietet sich ein stärkerer Einsatz aus dem Blickwinkel der hier erörterten Probleme an. So könnte eine Risikozuweisung im Schnitt-

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feld von materiellem Recht und Prozessrecht erfolgen, die einer Partei die Wahl zwischen Mitwirkung und Prozessnachteil lässt. 48. Hingegen bieten sich unwiderlegbare Vermutungen, Fiktionen oder Auslegungsregeln zur Lösung der hier behandelten Probleme nicht an. Unwiderlegbare Vermutungen beinhalten die Aufstellung eines zweiten Tatbestands (die Vermutungsbasis/Ausgangstatsache) für eine bestimmte Rechtsfolge (Vermutung). Es handelt sich um Rechtssätze, die materielle Rechtsfolgen bestimmen. Eine Risikoverlagerung in dem Sinne, dass ein Aufklärungsanreiz gesetzt wird, ist damit nicht verbunden. Fiktionen setzen ungleichwertige Tatbestände gleich. Sie stellen materielle Rechtssätze ohne spezifischen beweisrechtlichen Bezug dar. Auslegungsregeln beziehen sich nicht auf tatsächliche Behauptungen, sodass ihre Anwendung in dem hier erörterten Themenkreis kein Lösungsansatz sein kann. §  14  Fazit 49. Eine umfassende Reform des Zivilprozessrechts erfolgte zuletzt durch das Zivilprozessreformgesetz. Nach der Reform ist jedoch bekanntlich vor der Reform: Notwendig sind weitere Änderungen, die sich die Sachverhaltsfeststellung in Gänze vornehmen und einen mutigen Schritt in die Richtung einer vollständigen Sachverhaltsaufklärung unternehmen. Zu kombinieren ist das mit wenigen, aber klaren Grenzen der Sachverhaltsermittlung. Dadurch kann eine Reform in Permanenz verhindert werden. Ein Verfahrensrecht als perpetuum mobile schadet der Rechtssicherheit und dem Vertrauen in den Rechtsstaat. 50. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen lassen sich in die übergeordneten Prinzipien des Zivilprozessrechts integrieren: neue Wege können auf dem vorhandenen Terrain beschritten werden. Insbesondere die prozessuale Mitwirkungsverantwortung der Parteien, abgemildert durch ein Geheimverfahren, fügt sich in den Prozess unter Geltung des »geleiteten Verhandlungsgrundsatzes« ein.

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Stichwortverzeichnis adversary procedure  58 Analogie – Gesetzeslücke 328 – Planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes 328 Anerkenntnis 118 Anordnungsbefugnis – Ermessensausübung 171 – Grenzen 171 – Nichterfüllung 174 Anreizsystem 327 Anscheinsbeweis 293 – dogmatische Einordnung  299 – Gegenbeweis 299 Anton-Piller-Order 62 Aufklärung 127 Aufklärungspflicht  129, 255 – de lege ferenda  256 – de lege lata  255 – prozessual 146 – vorprozessual 25 Ausforschung – offene 162 Ausforschungsverbot  159, 185 Auskunftsrecht – Enforcement-Richtlinie 94 Auslegungsregeln 342 Behauptungen ins Blaue hinein  161 Behauptungslast  27, 36 – abstrakte 37 – Erweiterung der sekundären  186 – konkrete 37 – objektive 36 – subjektive 36 Behauptung – zugestandene 28 Beibringungsgrundsatz 23 Beweisantragsrecht 350

Beweiserhebung – Österreich 66 – von Amts wegen  104 Beweiserleichterung  9, 12, 42 Beweiserleichterungen  269, 291 – gesetzliche 269 – richterrechtliche 291 Beweisführungslast 36 Beweislast  27, 33 Beweislastentscheidung 38 Beweislast – objektive 33 – subjektive 35 Beweislastumkehr  42, 291 Beweislastumkehr – richterrechtlich 43 Beweislastveränderung 12 Beweismaß 39 Beweismaßreduktion 270 Beweismaß – Regelbeweismaß 40 Beweismaßsenkung – materiellrechtlich veranlasst  327 Beweismaß – Vollbeweis 40 Beweismittel – Bestimmtheit 160 Beweismittelvorlage: – Enforcement-Richtlinie 91 Beweisregel 39 Beweissicherungsmaßnahme – Enforcement-Richtlinie 93 Beweisvereitelung 312 Beweisvereitelung – dogmatische Einordnung  318 Beweiswürdigung 38 Billigkeit 12 case management  58

402

Stichwortverzeichnis

Civil Procedure Rules  58 conference of the parties  49 De minimis non curat praetor  280 disclosure  49, 58 discovery 48 Dispositionsmaxime 118 Düsseldorfer Verfahren in Patentrechtsstreitigkeiten 232 Effizienz  286, 290, 353 – Parteiverantwortung 355 Einzelfallgerechtigkeit 3 Enforcement-Richtlinie 90 Erfahrungssätze 296 Erklärungspflicht 111 Erkundigungspflicht 124 Erkundungsbeweis – Österreich 66 Erledigungserklärung 117 Erörterungspflicht – gerichtliche 102 Europäische Zivilprozessrechtsordnung 80 Federal Rules of Civil Procedure  46 Fiktionen 341 fishing expeditions  48 Geheimhaltung:Anspruch auf rechtliches Gehör 235 Geheimhaltungsinteresse:IBA-Regeln 89 Geheimhaltungsinteressen – Anerkennung 227 Geheimnisschutz – Alles-oder-Nichts-Lösung 221 Geheimnisschutz – Anwalt und Mandant  210 – Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse 205 – der Prozessparteien  200 – dogmatische Begründung  240 – Dritter 197 – Einsichtnahmerecht des Anwalts  246 – Gefahr strafrechtlicher Verfolgung  214 – Öffentliche Interessen  220 – Privatsphäre 207 – prozessualer 195

– Regelungsmechanismen 222 – Sphärentheorie 208 – Umsetzung  221, 244 – Verfahren 244 – Vorverlagerung 250 – Wirtschaftsprüfervorbehalt 223 Geheimverfahren 230 Gerichtskundigkeit 29 Geschäftsgeheimnisse – England 61 – Schweiz 72 – USA 53 Geständnis  28, 112 Gewaltmonopol 1 Glaubhaftmachung  41, 270 Handlungsbedarf – gesetzgeberischer 188 Hinweispflicht – gerichtliche 102 IBA-Regeln 88 IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration  88 in camera-Verfahren  54 In camera-Verfahren – ultima ratio  251 Individualisierungstheorie 24 Informationrechte – Principles of Transnational Civil Procedure 85 Informationsanspruch – materiellrechtlich 130 Informationsdefizit 129 – Beseitigung 129 Informationslast – sekundäre 189 Informationsrecht – Eingriff in einen anderen Rechtskreis 132 – materiellrechtliche Lösung  178 – prozessuale Lösung  178 – Interessenwahrnehmung 131 – Klärung des Anspruchsinhalts  133 – materiellrechtliche Durchsetzung  144 – Sicherung eines Rechts  134 – Treu und Glauben  140 Interessenausgleich 327

Stichwortverzeichnis

Justizgewährungsanspruch 2 Klageerhebung 24 Klagerücknahme 117 legal professional privilege  60 Maximendenken 351 Mitwirkung 127 Mitwirkungslast – Schweiz 71 Mitwirkungspflicht – prozessual 146 – Schweiz 71 Mitwirkungsverantwortung 106 – Einbettung 352 Mitwirkungsverantwortung – Erweiterung 185 – prozessual 146 Modellgesetz 81 Nichtbestreiten 28 Nichtvorlage:Sanktionen 253 Nichtwissen – Erklärung mit  123 non liquet  3, 38 Offenkundigkeit 29 Offenlegungspflichten – Storme-Bericht 82 Öffentlichkeitsausschluss 195 offer of judgment  51 Organisationsbereich 124 Parteiherrschaft 98 Parteivortrag 191 pretrial  47, 58 Principles of European Civil Procedure 81 Principles of Transnational Civil Procedure  81, 84 private privilege  60 privileges 52 Privilegien 194 protective orders  48, 53 Prozessförderungspflicht 102 Prozessleitung – materielle 105

403

Prozessleitung – Principles of Transnational Civil Procedure 85 – Schweiz 69 Prozessökonomie 116 Prozessrecht – dienende Funktion  11 – Durchsetzung materiellen Rechts  11 – materiellrechtsfreundliche Auslegung 13 Prozessvergleich 117 public interest immunity  60 Rechtsanwendung 2 Rechtsauffassung – Bindung des Gerichts  114 Rechtsharmonisierung 80 Rechtsschutzbedürfnis 119 Rechtsvergleich 45 Rechtsvergleich – England 57 – Österreich 65 – Schweiz 69 – USA 46 Rechtsverweigerungsverbot 3 Reform – Zivilprozessrecht 347 Richtermacht 98 Risikozuweisung 27 – gesetzgeberisch 330 – gesetzgeberische 356 Sachverhaltsaufklärung – Unzulänglichkeiten 177 Sachverhaltskenntnis 2 Sanktionen:Österreich 68 Sanktionen – Principles of Transnational Civil Procedure 86 – Schweiz 74 Sanktionsmechanismen 253 Schaden – Nachweisführung 273 Schadensentstehung – Verfahrenserleichterungen 278 Schadensschätzung 273 – Änderungsvorschläge 279 – Ausdehnung 280

404

Stichwortverzeichnis

– Beweismaßsenkung 277 – Neufassung 279 – ratio 273 Schiedsgerichtsbarkeit 87 Search order  62 sporting theory of justice  350 Steuerungswirkung  5, 13 Storme-Bericht 81 Storme group  81 Substantiierung 7 Substantiierungslast 37 Substantiierungslast – Modifikation 147 Substantiierungstheorie 25 Tatsachenbehauptung – Bestimmtheit 160 Tatsachenfeststellung – Schweiz 70 Tatsachenvortrag – substantiiert 163 – unwahrer 112 Tatsache – offenkundige 28 trade secret  54 Untersuchungsgrundsatz 23 – Schweiz 70 Urkunde – bestimmte Bezeichnung  166 Urkundenbeweis – Abstimmungsbedarf 190 Urkundenvorlegung – Anordnung 152 – Einschränkungen 154 Verfahrensökonomie 353 – Zielgedanke 353 Verhaltensanreiz 7 Verhandlungsgrundsatz  23, 97 – geleiteter 349 – Grenzen 110 – Österreich 65 – Principles of Transnational Civil Procedure 85

– Schweiz 70 Vermutungen – dorgmatische Einordnung  338 – Gegenstand 335 – gesetzliche 332 – Grenzen 345 – Risikozuweisung 343 – tatsächliche 305 – Widerlegbarkeit 333 – Zulässigkeit 345 Verzicht 118 Vorlageanordnung – Anfechtung 249 – Rechtsmittel 175 – Voraussetzungen 159 Vorlagepflicht 151 Vorlagepflicht – bei Bezugnahme  151 – IBA-Regeln 88 – materiellrechtlich 151 – Österreich  65, 66 – Schweiz 71 Vorlegungslast – sekundäre 186 Waffengleichheit 7 Wahrhaftigkeit 111 Wahrheitspflicht  28, 110 Weigerungsrechte 194 Weigerungsrechte – Österreich 67 – Schweiz 71 Wirtschaftsprüfervorbehalt 223 Wohlfahrtseinbuße 6 Woolf-Reforms 58 Zeugnisverweigerungsrecht – persönliches 198 – sachliches 198 Zivilprozessrecht – Reform 347 Zivilprozess – sozialer 350