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German Pages 352 [354] Year 2018
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 403 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Dirk Wiegandt
Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess Zur Verzahnung von Kartellverwaltungs- und Kartellprivatrecht
Mohr Siebeck
Dirk Wiegandt, geboren 1984; Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg, Genf und Cambridge (LL.M.); Referendariat am Hanseatischen Oberlandesgericht; Assistent am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg; 2017 Promotion; Rechtsanwalt in Hamburg.
ISBN 978-3-16-155918-1 / eISBN 978-3-16-155919-8 DOI 10.1628/978-3-16-155919-8 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Vorwort
Vorwort
Diese Arbeit wurde von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg im Herbst 2017 als Dissertation angenommen. Entstanden ist sie während meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. Rechtsprechung und Literatur befinden sich weitgehend auf dem Stand März 2018. Zum Gelingen der Arbeit haben viele beigetragen. Ihnen allen bin ich dankbar. Mein besonderer Dank gilt allen voran meinem verehrten Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow. Er hat die Arbeit nicht nur thematisch angeregt und betreut. Als seinem wissenschaftlichen Assistenten am Hamburger Max-Planck-Institut hat er mir auch alle erdenklichen Freiheiten zum eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten gegeben und war mir dabei mit seiner Offenheit, seiner wissenschaftlichen Neugier und seiner Effizienz stets Vorbild. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner Herrn Prof. Dr. Reinhard Ellger, der das Zweitgutachten zügig erstellt hat. Den Herren Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann und Prof. Dr. Dr. h.c. Holger Fleischer danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Am Hamburger Max-Plack-Institut durfte ich nicht nur von Forschungsbedingungen profitieren, wie sie besser nicht hätten sein können, sondern auch viele Menschen kennenlernen, die mich während der Zeit meiner Dissertation eng begleitet und mit ihrer Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft wie auch mit ihrem Zuspruch zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Namentlich hervorheben möchte ich Dr. Konrad Duden, Dr. Andreas Engel, Jakob Gleim, Dr. Sebastian Gößling, Nina Marie Güttler, Eike Götz Hosemann, Felix Jaeger, Dr. Jakob Schemmel, Jennifer Trinks, Dr. Oliver Unger und Dr. Denise Wiedemann. Janina Jentz danke ich für die Hilfe bei der Drucklegung des Manuskripts. Die Mühen des Korrekturlesens haben Dr. Marie Ackermann und mein Vater Karl Rudolf Wiegandt auf sich genommen. Nicht nur dafür bin ich ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet. Meiner Freundin danke ich vor allem für ihre moralische Unterstützung und ihren bedingungslosen Zuspruch. Den allergrößten Dank schulde ich schließlich auch meinen Eltern, die mich in allen Phasen meiner Ausbildung unterstützt haben. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. Hamburg, im März 2018
Dirk Wiegandt
Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht
Inhaltsübersicht
Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... XVII
Einführung ................................................................................................. 1 A. B. C.
Anlass der Untersuchung ....................................................................... 1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung .................................................. 3 Gang der Darstellung ............................................................................. 4
Kapitel 1 – Grundlagen ........................................................................... 7 A. B. C.
Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa ....................... 7 Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa .............67 Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung ..................................................................... 82
Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung ............................................................ 107 A. B. C. D. E.
Adressaten .......................................................................................... 110 Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht ...... 114 Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht ..................................... 168 Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht .......................................... 176 Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht ........................................ 180
VIII
Inhaltsübersicht
Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung ............................ 185 A. B.
Bindungswirkung nach § 33b GWB .................................................... 185 Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen im Recht anderer Mitgliedstaaten .............................. 250
Kapitel 4 – Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur...................... 259 A. B. C.
Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden ............................ 259 Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden .................................. 263 Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden ........................ 269
Zusammenfassung ................................................................................ 275 Literaturverzeichnis .................................................................................... 281 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 319 Sachverzeichnis .......................................................................................... 329
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsübersicht .......................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... XVII
Einführung ................................................................................................. 1 A. B. C.
Anlass der Untersuchung ....................................................................... 1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung ................................................. 3 Gang der Darstellung ............................................................................ 4
Kapitel 1 – Grundlagen .......................................................................... 7 A.
Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa....................... 7
I.
Behördliche Durchsetzung (public enforcement).................................... 8 1. Durchsetzung durch die Europäische Kommission ...........................10 a) Internationale Zuständigkeit ........................................................ 11 b) Durchsetzungsinstrumentarium ................................................... 12 aa) Entscheidungstypen .............................................................. 12 bb) Sanktionstypen ..................................................................... 20 2. Durchsetzung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden ...............21 a) Internationale Zuständigkeit ........................................................ 25 aa) Bedeutung des Auswirkungsprinzips ....................................26 bb) Fallallokation im Europäischen Wettbewerbsnetz .................29 cc) Territoriale Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit ......................................................... 33 b) Durchsetzungsinstrumentarium ................................................... 36 aa) Entscheidungstypen .............................................................. 36 bb) Sanktionstypen ..................................................................... 38 Private Durchsetzung (private enforcement) ......................................... 38 1. Dezentrale Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die nationalen Zivilgerichte .................................................... 41
II.
X
Inhaltsverzeichnis
a) Unmittelbare Wirkung und individualschützender Charakter der europäischen Wettbewerbsregeln ..........................42 b) Grundsatz der Verfahrensautonomie unter dem Vorbehalt der Äquivalenz und Effektivität...................................................44 aa) Anforderungen des Äquivalenzgrundsatzes ..........................45 bb) Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes .........................47 2. Erscheinungsformen ......................................................................... 51 a) Defensive und offensive Geltendmachung...................................52 b) Initiativ- und Folgeklagen ........................................................... 53 3. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht .......................56 a) Internationale Zuständigkeit ........................................................57 b) Anwendbares Recht..................................................................... 64 B.
Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa ............67
I. II.
Traditionelles Primat der behördlichen Durchsetzung ...........................68 Impulse für die Belebung der privaten Durchsetzung ............................70 1. Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung .................................70 2. Die EuGH-Urteile Courage und Manfredi ........................................72 3. Weitere Impulse ............................................................................... 73 III. Gesetzgeberische Folgemaßnahmen zur Effektivierung der privaten Durchsetzung .......................................................................... 74 1. Gesetzgeberische Maßnahmen auf nationaler Ebene .........................74 2. Gesetzgeberische Maßnahmen auf europäischer Ebene: Der Weg zur Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU...............77 C.
Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung .................................................................... 82
I.
Ausgangslage ........................................................................................ 82 1. Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren ........................................82 2. Wechselwirkungen ........................................................................... 85 Verzahnung der Durchsetzungsspuren mittels Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess .............................88 1. Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen als Mittel zur Sicherung einer kohärenten Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln ........................................................................... 89 2. Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden als Antwort auf zivilprozessuale Hürden beim Nachweis eines Wettbewerbsverstoßes ........................91 a) Zivilprozessuale Hürden beim Nachweis eines Verstoßes ...........93 aa) Aus der Darlegungslast resultierende Hürden .......................93 bb) Aus der Beweislast resultierende Hürden ..............................97
II.
Inhaltsverzeichnis
XI
cc) Insbesondere: Nachweis eines Verstoßes im more economic approach ............................................................. 100 b) Fruchtbarmachung kartellbehördlicher Entscheidungen in der follow on-Situation .............................................................. 104 3. Fazit ............................................................................................... 105
Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung ............................................................ 107 A.
Adressaten .......................................................................................... 110
I. II.
Private Schiedsgerichte ....................................................................... 111 Zwischenergebnis ............................................................................... 114
B.
Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht....... 114
I.
Erfasste Entscheidungsstellen ............................................................. 114 1. Nationale Wettbewerbsbehörden .................................................... 114 2. Nationale Gerichte .......................................................................... 118 Erfasste Entscheidungen ..................................................................... 121 1. Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden.................... 121 a) Allgemeine Anforderungen ....................................................... 121 aa) Feststellung eines Verstoßes ............................................... 121 bb) Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV oder parallel anwendbares nationales Wettbewerbsrecht ......................... 122 cc) Abschließende Prüfung und Bewertung des Verstoßes........ 126 b) Erfasste Entscheidungstypen ..................................................... 127 aa) Vorfrage: Art. 5 VO Nr. 1/2003 als Ermächtigungsgrundlage? ................................................... 127 (1) Das EuGH-Urteil in der Sache Tele2 Polska ................ 128 (2) Stellungnahme .............................................................. 129 bb) Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Einzelnen ................................... 134 (1) Abstellungsentscheidungen und isolierte Feststellungsentscheidungen ......................................... 134 (2) Anordnung einstweiliger Maßnahmen .......................... 138 (3) Annahme von Verpflichtungszusagen .......................... 141 (4) Bußgeldentscheidungen und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionsentscheidungen.............................................. 145 (5) Einstellungsentscheidungen .......................................... 148 (6) Entscheidungen über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung .......................... 149
II.
XII
Inhaltsverzeichnis
cc) Zusammenfassung .............................................................. 151 c) Voraussetzungen für den Eintritt der Bindungswirkung ............ 151 aa) Wirksamkeit der kartellbehördlichen Entscheidung ............ 151 bb) Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung ........... 154 cc) Verfahrensaussetzung bei noch fehlender Bestandskraft? .................................................................... 157 2. Entscheidungen der nationalen Gerichte ......................................... 159 a) Anwendungskonstellationen ...................................................... 159 aa) Unzulässigkeit der gerichtlichen Anfechtung ...................... 160 bb) Aufhebung der kartellbehördlichen Entscheidung ............... 160 cc) Bestätigung der kartellbehördlichen Entscheidung .............. 160 dd) Feststellung der Rechtmäßigkeit einer bereits erledigten kartellbehördlichen Entscheidung ....................... 162 b) Rechtskraft als Erfordernis für den Eintritt der Bindungswirkung ...................................................................... 163 III. Erfordernis der Sachverhaltsidentität .................................................. 164 IV. Erfasste Kartellzivilverfahren ............................................................. 165 1. Beschränkung auf den Schadensersatzprozess ................................ 165 2. Analoge Anwendung in anderen Kartellzivilverfahren? .................. 167 C.
Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht ..................................... 168
I.
Beschränkung auf am behördlichen Kartellverfahren beteiligte Beklagte .............................................................................................. 169 II. Bindung von Kronzeugen.................................................................... 171 III. Bußgeldbescheid gegenüber einer Muttergesellschaft für den Verstoß einer Tochtergesellschaft ....................................................... 173 1. Diskussion um eine kartellzivilrechtliche Konzernhaftung ............. 174 2. Folgen der Bindungswirkung eines Bußgeldbescheides gegenüber der Konzernmuttergesellschaft ...................................... 175 D.
Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht........................................... 176
I. II.
Intertemporaler Anwendungsbereich................................................... 176 Zeitliche Dimension des festgestellten Verstoßes................................ 178
E.
Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht ........................................ 180
Inhaltsverzeichnis
XIII
Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung ............................ 185 A. I.
Bindungswirkung nach § 33b GWB ..................................................... 185
Tatbestandswirkung oder Feststellungswirkung? ................................ 185 1. Begriffsbestimmungen .................................................................... 187 a) Tatbestandswirkung .................................................................. 187 aa) Tatbestandswirkung im engeren Sinn.................................. 188 bb) Tatbestandswirkung im weiteren Sinn ................................ 189 b) Feststellungswirkung ................................................................. 192 aa) Feststellungswirkung im Sinne der Zivilprozesslehre ......... 192 bb) Feststellungswirkung im Sinne der Verwaltungsrechtslehre....................................................... 193 2. Auslegung des § 33b GWB im Lichte von Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie ....................................................... 194 a) Kein Fall der Tatbestandswirkung im engeren Sinn................... 194 b) Kein Fall der Tatbestandswirkung im weiteren Sinn ................. 194 c) Ergebnis: § 33b GWB als Anordnung einer Feststellungswirkung ................................................................. 197 3. Beschränkung der Feststellungswirkung auf den Kartellrechtsverstoß ........................................................................ 198 a) Grenzziehung zwischen bindungsfähigen und nicht bindungsfähigen Entscheidungsinhalten .................................... 200 aa) Marktabgrenzung ................................................................ 200 bb) Betroffenheit ....................................................................... 202 cc) Verschulden ........................................................................ 204 b) Zusammenfassung ..................................................................... 205 II. Folgen für den Zivilprozess ................................................................ 206 1. Berücksichtigung von Amts wegen ................................................. 206 2. Entfallen der Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes .................................................................... 208 3. Entzug der richterlichen Kompetenz zur selbstständigen Beurteilung der Kartellrechtswidrigkeit .......................................... 209 4. Zusammenfassung .......................................................................... 210 III. Qualifikation ....................................................................................... 210 IV. Rechtsstaatliche Bedenken .................................................................. 216 1. Grundsatz der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit .............................................................................. 216 a) Grundlagen und Gewährleistungsgehalt .................................... 217 b) Vereinbarkeit ............................................................................ 219 2. Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und Anspruch auf rechtliches Gehör ...................................................................... 223 a) Grundlagen und Gewährleistungsgehalt .................................... 224
XIV
Inhaltsverzeichnis
b) Vereinbarkeit ............................................................................ 227 Besonderheiten der Feststellungswirkung von Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden ............................................................ 230 1. Anerkennungspflicht bereits nach dem acquis communautaire? ..... 231 a) Herleitung aus dem Primärrecht ................................................ 232 b) Herleitung aus dem Sekundärrecht ............................................ 234 c) Zwischenergebnis ...................................................................... 237 2. Erfordernis und Zulässigkeit eines immanenten Anerkennungsvorbehalts ................................................................ 237 VI. Möglichkeit der Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV ............. 243 1. Keine Überprüfung der Gültigkeit der Entscheidung durch den Gerichtshof ..................................................................................... 244 2. Beschränkung der Vorabentscheidung auf die abstrakte Auslegung des Unionsrechts ........................................................... 245 3. Abweichungsmöglichkeit infolge einer Vorabentscheidung durch den EuGH ............................................................................. 245 4. Keine Beschränkung der gerichtlichen Vorlagekompetenz durch die Grundsätze der TWD-Rechtsprechung ............................. 249 V.
B.
Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen im Recht anderer Mitgliedstaaten.............................. 250
I. II. III. IV.
Mindestvorgabe des Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie ...... 251 Qualifikation ....................................................................................... 254 Eingeschränkter Harmonisierungseffekt und forum shopping ............. 256 Zusammenfassung............................................................................... 258
Kapitel 4 – Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur...................... 259 A. B.
Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden ............................ 259 Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden ................................. 263
I. II.
Feststellungsentscheidungen ............................................................... 263 Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen .......... 266
C.
Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden ....................... 269
I.
Grenzüberschreitende Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit........................................................................ 269 System gegenseitiger Anerkennung .................................................... 272
II.
Inhaltsverzeichnis
XV
Zusammenfassung ................................................................................ 275 A. B. C. D.
Grundlagen ......................................................................................... 275 Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung ....... 276 Rechtsfolgen der Bindungswirkung ..................................................... 278 Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur .......................................................... 279
Literaturverzeichnis .................................................................................... 281 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 319 Sachverzeichnis .......................................................................................... 329
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. ABl. Abs. AcP AEUV AG Am. J. Int’l L. Antitrust L.J. AöR Art. Aufl. BayVBl. BB BGB BGBl. BGH BGHZ BKartA BT-Drucks. BVerfG BVerwG bzw. Civ. Just. Q. CML Rev. DB DÖV DVBl. E.C.L.R. E.L. Rev. EBOR ECLI ECN EGMR EL EMRK endg. ERCL
Abkürzungsverzeichnis andere(r) Ansicht alter Fassung Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft / Union Absatz Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Amtsgericht American Journal of International Law Antitrust Law Journal Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Betriebs-Berater Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeskartellamt Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise Civil Justice Quarterly Common Market Law Review Der Betrieb Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt European Competition Law Review European Law Review European Business Organization Law Review European Case Law Identifier European Competition Network Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention endgültig European Review of Contract Law
XVIII EuG EuGH EuGRZ EuGVÜ EuR EuR-Bei EUV EuZW EWiR EWS f./ff. FAZ FIW Fn. G.C.L.R. GA Geo. L.J. GG GRC GRUR Int. GRUR GRUR-RR GWB Halbs. Hrsg. i.S.v. i.V.m. ICLQ IIC Int’l Law. IPRax JBl JöR JURA JuS JZ KG KommJur L.M.C.L.Q. LG lit.
Abkürzungsverzeichnis Gericht der Europäischen Union (früher: Gericht Erster Instanz) Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Übereinkommen über die gerichtliche Zuständgikeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen Europarecht Europarecht Beiheft Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb Fußnote Global Competition Litigation Review Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof Georgetown Law Journal Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Rechtsprechungs-Report Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Halbsatz Herausgeber im Sinne von in Verbindung mit International & Comparative Law Quarterly International Review of Intellectual Property and Competition Law International Lawyer Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts Juristische Blätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Ausbildung Juristische Schulung JuristenZeitung Kammergericht Kommunaljurist Lloyd’s Maritime and Commercial Law Quarterly Landgericht litera (Buchstabe)
Abkürzungsverzeichnis LMK Loy. Consumer L. Rev. m.w.N. MüKo n.v. N° NCA NJW NJW-RR Nr. NVwZ NZKart OGH ÖJZ OLG OWiG ÖZöR RabelsZ RdC RG RGZ RIW Rn. Rs. S. SchiedsVZ SDÜ sog. StIGH SZ Tex. Int’l. L.J. u.a. U.S. U.S.C. UAbs. USA Utah L. Rev. Va. L. Rev. Vand. L. Rev. verb. vgl. VIZ VO VwGO VwVfG
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Lindenmaier-Möhring – Kommentierte BGHRechtsprechung Loyola Consumer Law Review mit weiteren Nachweisen Münchener Kommentar nicht veröffentlicht Numéro (Nummer) National Competition Authority Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift, Rechtsprechungs-Report Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Kartellrecht Oberster Gerichtshof (Österreich) Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Rabels Zeitschrift fuer ausländisches und internationales Privatrecht Recueil des Cours Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der Internationalen Wirtschaft Randnummer Rechtssache Satz; Seite(n) Zeitschrift für Schiedsverfahren Schengener Durchführungsübereinkommen sogenannte(r/n) Ständiger Internationaler Gerichtshof Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivilsachen Texas International Law Journal und andere United States United States Code Unterabsatz United States of America Utah Law Review Virginia Law Review Vanderbilt Law Review verbundene vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht Verordnung Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz
XX WM WRP WuW ZaöRV ZEuP ZGR ZHR Ziff. ZIP ZOV ZPO ZSR ZVglRWiss ZVR ZWeR ZZP Int. ZZP
Abkürzungsverzeichnis Wertpapier-Mitteilungen, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für offene Vermögensfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Verkehrsrecht Zeitschrift für Wettbewerbsrecht Zeitschrift für Zivilprozess International Zeitschrift für Zivilprozess
Wegen aller weiteren gängigen juristischen Abkürzungen wird verwiesen auf Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Aufl., Berlin 2015.
Einführung Einführung
A. Anlass der Untersuchung
A. Anlass der Untersuchung
Weit mehr als ein Jahrzehnt nach dem wegweisenden Diktum des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Courage aus dem Jahr 2001, wonach die praktische Wirksamkeit des europäischen Kartellverbots beeinträchtigt wäre, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch wettbewerbsbeschränkendes Verhalten entstanden ist,1 und einem durch die Verordnung Nr. 1/20032 herbeigeführten „Paradigmenwechsel im europäischen Durchsetzungsregime“3 wurde am 26. November 2014 die Kartellschadensersatzrichtlinie erlassen.4 Mit der Richtlinie soll die Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche gestärkt und das Zusammenspiel von behördlicher und privater Durchsetzung koordiniert werden.5 Bereits vor ihrem Erlass haben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in der Europäischen Union in den letzten Jahren signifikant zugenommen,6 gerade im Anschluss an kartellbehördliche Verfahren als sog. follow on-Schadensersatzklagen.7 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 26. Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, 1 (Kartellverfahrensverordnung). 3 Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490). 4 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349, 1 (Kartellschadensersatzrichtlinie). 5 Zu dieser doppelten Zielsetzung nur Schweitzer, NZKart 2014, 335 (335). 6 Siehe etwa die empirische Bestandsaufnahme bei Rodger, Competition Law, Comparative Private Enforcement and Collective Redress across the EU, 2014, 85 ff., 121 ff. 7 Hier seien nur für Deutschland beispielhaft die follow on-Schadensersatzverfahren genannt im Zusammenhang mit dem Selbstdurchschreibepapier-Kartell (LG Mannheim 29.4.2005, 22 O 74/04 Kart, EWiR 2007, 659; OLG Karlsruhe 11.6.2010, 6 U 118/05, juris; BGH 28.6.2011, KZR 75/10, NJW 2012, 928 – ORWI), mit dem Zementkartell (LG Düsseldorf 21.2.2007, 34 O (Kart) 147/05, BB 2007, 847; OLG Düsseldorf 14.5.2008, VIU (Kart) 14/07, WuW 2008, 845; BGH 7.4.2009, KZR 42/08, GRUR-RR 2009, 319; LG Düsseldorf 17.12.2013, 37 O 200/09 (Kart), NZKart 2014, 75; OLG Düsseldorf 18.2.2015, VI-U (Kart) 3/14, NZKart 2015, 201; LG Mannheim 24.1.2017, 2 O 195/15, juris), mit 1 2
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Einführung
Ein zentrales Instrument, um kartellrechtliche Schadensersatzklagen zu erleichtern, ist die Verankerung einer Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess, die mit der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen werden soll. Der Nachweis des Kartellrechtsverstoßes bildet einen neuralgischen Punkt bei der Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche.8 Der durch den Beibringungsgrundsatz geprägte Zivilprozess erweist sich insofern gegenüber dem kartellbehördlichen Verfahren, das den Wettbewerbsbehörden weitreichende Ermittlungsbefugnisse an die Hand reicht, als strukturell unterlegen.9 Die Bindungswirkung schafft hier Abhilfe, indem sie den Kläger vom Nachweis des Kartellrechtsverstoßes befreit. Eine Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen wurde in Deutschland erstmals im Zuge der 7. GWB-Novelle eingeführt.10 Bis dahin ging eine entsprechende Bindungswirkung nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003, mit dem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Masterfoods in Gesetzesform gegossen worden war,11 allein von Entscheidungen der Europäischen Kommission aus. Mit der Kartellschadensersatzrichtlinie ist nun erstmals unionsweit eine Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess zu gewährleisten.12 Angesichts der deutlichen Verlagerung der behördlichen dem Berliner Transportbeton-Kartell (LG Berlin 23.5.2003, 102 O 129/02 Kart, juris; KG Berlin 1.10.2009, 2 U 10/03, WuW 2010, 189; BGH 8.6.2010, KZR 45/09, juris), mit dem Feuerwehrfahrzeug-Kartell (LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616; OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris), mit dem WasserstoffperoxidKartell (LG Dortmund 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int 2013, 842, Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH, daraufhin EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335), mit dem Boykottaufruf des Lottoblocks gegen gewerbliche Spielevermittler (LG Dortmund 24.4.2012, 25 O 5/11, juris; OLG Düsseldorf 9.4.2014, VIU (Kart) 10/12, juris; BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris – Lottoblock II) und mit dem LKW-Kartell (LG Hannover 18.12.2017, 18 O 8/17, juris); zu den Klagen gegen das deutsche Zuckerkartell siehe etwa die Berichterstattung des Handelsblatts vom 23.8.2016, abrufbar unter: . 8 Statt vieler Basedow, EBOR 2001, 443 (462 f.); Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 244. 9 Hirsch, ZWeR 2003, 233 (243); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 148. 10 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 7.7.2005, BGB1. I 2005, 1954. 11 In der Sache Masterfoods hat der EuGH entschieden, dass die nationalen Gerichte, wenn sie über Vereinbarungen oder Verhaltensweisen befinden, die bereits Gegenstand einer Kommissionsentscheidung sind, keine Entscheidungen erlassen dürfen, die dieser zuwiderlaufen, EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 52. 12 Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie; anders als die deutsche Vorgängerregelung (§ 33 Abs. 4 GWB a. F.) wie auch nunmehr § 33b GWB verpflichtet Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie allerdings lediglich dazu, Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten als Grundlage eines prima facie-Beweises für einen Verstoß zuzulassen.
B. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
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Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln auf die mitgliedstaatliche Ebene und die nationalen Wettbewerbsbehörden unter der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/200313 ist dieser Reformschritt in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Nach dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten soll die Arbeit der nationalen Wettbewerbsbehörden noch effektiver ausgestaltet werden,14 sodass die Rolle der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zukünftig an Bedeutung noch gewinnen könnte.
B. Gegenstand und Ziel der Untersuchung B. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
Wenn auch der Anlass der Untersuchung ein aktueller ist, so liegt ihr im Kern doch ein altbekanntes Thema zugrunde: Das Verhältnis von öffentlichem (Kartellverwaltungs-)Recht und (Kartell-)Privatrecht. Die herkömmliche Grenzziehung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht,15 die mitunter „einem Äquator ähnelt, der die juristische Welt in zwei Hemisphären aufteilt“16 bedeutet nicht, dass beide Teilrechtsordnungen beziehungslos nebeneinander stehen. Öffentliches Recht und Privatrecht sind vielmehr vielfach miteinander verwoben und beeinflussen sich wechselseitig.17 Gerade die für das Wirtschaftsrecht charakteristische Gemengelage von behördlichen und privatrechtlichen Verfahren und Sanktionen bedingt vielfach wechselseitige Abhängigkeiten.18 Im Kartellrecht sind beide Teilrechtsordnungen traditionell
13 Whish / Bailey, CML Rev. 47 (2010), 1757 (1763); Laitenberger, EuZW 2016, 81 (81); siehe auch die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 8; hiernach ergingen von insgesamt 787 Fällen im Zeitraum vom 1.5.2004 bis zum 31.12.2013, in denen die europäischen Wettbewerbsregeln angewandt wurden, 665 Entscheidungen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden und „nur“ 122 durch die Europäische Kommission. 14 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final. 15 Dazu etwa Molitor, Über öffentliches Recht und Privatrecht, 1949, passim; Schöne, Privatrecht und öffentliches Recht, 1955, passim; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, passim; D. Schmidt, Die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, 1985, passim. 16 Basedow, JuS 2004, 89 (89). 17 Dazu etwa Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, 1996, 7 (23); Trute, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, 1996, 167 (175 ff.). 18 Vgl. nur Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, 567.
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Einführung
ganz besonders eng miteinander verwoben.19 Davon legt die hier in den Blick genommene Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess ein besonders eindringliches Zeugnis ab. Dem Vorgesagten entsprechend hat die vorliegende Arbeit gleichermaßen das Kartellverwaltungs- wie das Kartellprivatrecht zum Gegenstand, werden beide durch das Instrument der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess doch gleichsam miteinander verzahnt. Im Zentrum der Arbeit stehen verfahrensrechtliche Aspekte, und zwar sowohl zivilverfahrens- wie kartellverfahrensrechtlicher Art. Das materielle Kartellrecht20 wird nur dort näher in den Blick genommen, wo es für die vornehmlich verfahrensrechtlichen Fragen der Bindungswirkung relevant wird. Die Untersuchung hat die Bindungswirkung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden zum Gegenstand, auf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an Entscheidungen der Kommission wird nur dort näher eingegangen, wo ein vergleichender Blick wertvoll erscheint. Die vorliegende Untersuchung setzt sich zweierlei zum Ziel: Das Instrument der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen soll hinsichtlich seiner Voraussetzungen, seines Anwendungsbereichs und seiner Rechtsfolgen durchleuchtet werden. Darüber hinaus unternimmt es die Arbeit, die Bindungswirkung in den breiteren Kontext des zweispurigen Regimes zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts einzubetten. Insbesondere sollen Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzung herausgearbeitet werden. Hierzu wird der im folgenden Abschnitt skizzierte Gang der Darstellung gewählt.
C. Gang der Darstellung C. Gang der Darstellung
Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Das erste Kapitel widmet sich den Grundlagen. Behandelt wird zunächst das zweispurige Regime, mit dem das Kartellrecht in Europa durchgesetzt werden kann, nämlich zum einen im Wege der behördlichen Durchsetzung durch die Europäische Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden und zum anderen im Wege der privaten Durchsetzung mit den Mitteln des Zivilrechts (Teil A). Nach einem Überblick über die Entwicklungslinien dieses zweispurigen Durchsetzungsregimes (Teil B) wird das gegenwärtige Verhältnis von behördlicher und privater Durchsetzung untersucht, in dem das Instrument der Bindungswirkung Siehe dazu nur K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977, 88 ff.; Trute, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, 1996, 167 (193); vgl. auch Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235 (235 ff.). 20 Die Begriffe Kartellrecht und Wettbewerbsrecht werden im Folgenden als Synonyme verwendet. 19
C. Gang der Darstellung
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kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess eine Verzahnung bewirkt und damit die Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren durchbricht (Teil C). Gegenstand des zweiten Kapitels sind die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich der Bindungswirkung. Neben der vorgelagerten Frage, wer überhaupt Adressat der Bindungswirkung ist (Teil A), werden zunächst die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich der Bindungswirkung in sachlicher Hinsicht beleuchtet (Teil B), wobei insbesondere auf die Frage eingegangen wird, welche Entscheidungen eine Bindungswirkung im Zivilprozess entfalten können; sodann wird der Anwendungsbereich der Bindungswirkung in persönlicher (Teil C), zeitlicher (Teil D) sowie räumlicher Hinsicht (Teil E) untersucht. Das dritte Kapitel fragt nach den Rechtsfolgen der Bindungswirkung. Zunächst wird die unwiderlegbare Bindung der Zivilgerichte an Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden behandelt, wie sie § 33b GWB unterschiedslos in Bezug auf die Entscheidungen der eigenen wie auch in Bezug auf Entscheidungen anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden anordnet (Teil A). Dem getrennten Regelungsansatz der Kartellschadensersatzrichtlinie folgend, soll im Anschluss die nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie mögliche Zulassung von Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten als „bloßen“ prima facie-Beweis für einen Wettbewerbsverstoß behandelt werden, wie sie im Recht der ganz überwiegenden Anzahl der Mitgliedstaaten verankert wurde (Teil B). Das vierte Kapitel fragt nach den Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur. Es verändert damit im Verhältnis zu den in den beiden vorangegangenen Kapiteln behandelten Fragen gewissermaßen die Blickrichtung um 180°: Stand in den vorangegangenen Kapiteln die Einwirkung der behördlichen auf die private Durchsetzungspur im Wege der Bindungswirkung im Blickfeld, wird hier umgekehrt danach gefragt, wie die Bindungswirkung im Zivilprozess ihrerseits auf die behördliche Durchsetzung zurückwirkt. Neben der Frage der Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden (Teil A), wird eine Rückwirkung auf die Entscheidungspraxis diskutiert, insbesondere auf den Entscheidungstyp der isolierten Feststellungsentscheidung und auf den Entscheidungstyp der Verpflichtungszusage (Teil B). Schließlich werden die territorial beschränkte Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz sowie das Fehlen eines echten Systems gegenseitiger Anerkennung problematisiert und gesetzgeberische Folgemaßnahmen erwogen (Teil C). Im abschließenden Teil werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.
Kapitel 1
Grundlagen Kapitel 1 – Grundlagen
A. Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
A. Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
Das Kartellrecht dient der Sicherung des Wettbewerbs als rechtliches Ordnungsprinzip vor Beschränkungen der Marktprozesse.1 Den Versuchungen der Marktteilnehmer, sich dem unverfälschten Wettbewerbsprozess der Marktwirtschaft durch Kartellbildung, Konzentrations- und Behinderungsstrategien zu entziehen,2 sucht es durch vorbeugende Verhinderung und Beseitigung von Wettbewerbsbeschränkungen entgegenzuwirken.3 Seiner verfahrensmäßigen Rechtsdurchsetzung kommt dabei – wenn man in ihr nicht gar generell „die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten“4 erblicken will – eine zentrale Rolle zu, hängt doch die praktische Wirksamkeit eines wettbewerbsrechtlichen Systems ganz wesentlich von der Art und Ausgestaltung der seiner Durchsetzung dienenden Verfahrensregelungen ab.5 Das Kartellrecht in Europa stützt sich zum Zwecke seiner verfahrensmäßigen Rechtsdurchsetzung auf ein zweispuriges Regime: Neben den Instrumentarien der Europäischen Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden zur Durchsetzung des Kartellrechts in Form von hoheitlichen Verfügungen und Sanktionen, existiert eine „zweite Spur“ an privatrechtli1 Rittner / Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2008, § 14 Rn. 39; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 8 ff.; zur Debatte um den Schutzzweck des europäischen Kartellrechts siehe etwa Basedow, WuW 2007, 712 (712 ff.); Thomas, JZ 2011, 485 (485 ff.); Riesenkampff, in: FS Möschel, 2011, 489 (489 ff.); Parret, European Competition Journal 2010, 339 (339 ff.). 2 Vgl. zu diesen systemimmanenten Schranken der Marktwirtschaft nur Franz Böhm, FAZ Nr. 571 vom 27.5.1961, S. 5: „Wo immer die Gelegenheit sich bietet, den Wettbewerb einzuschränken und eine wirtschaftliche Machtstellung auf einem Markt zu realisieren, da erweist sich die Sünde als süß und die Tugend als bitter.“ 3 Säcker, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 2; vgl. auch Miksch, Wettbewerb als Aufgabe, 2. Aufl. 1947, 6. 4 Vgl. bereits Immanuel Kant über die Bedeutung der (prozessualen) Rechtsdurchsetzung Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, 423. 5 R.A. Posner, Antitrust law, 2. Aufl. 2001, 266; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, § 7 Rn. 5; Kloub, European Competition Journal 5 (2009), 515 (519 ff.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 105 f.; Harnos, ZWeR 2016, 284 (284).
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Kapitel 1 – Grundlagen
chen Instrumentarien in Form von Unterlassungs-, Beseitigungs-, Bereicherungs- und Schadensersatzklagen mit denen Verstöße gegen das Kartellrecht vor den nationalen Zivilgerichten geltend gemacht werden können.6 I.
Behördliche Durchsetzung (public enforcement)
Werden Wettbewerbsregeln durch besondere (Wettbewerbs-)Behörden mittels hoheitlicher Verfügungs- und Sanktionsmaßnahmen durchgesetzt, ist von der behördlichen oder öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung (public enforcement) die Rede.7 Die Wettbewerbsbehörden werden gemeinhin auf Beschwerde hin oder von Amts wegen tätig und sind mit besonderen Ermittlungs-, Entscheidungs- und Sanktionsbefugnissen ausgestattet, um Verstöße effektiv aufdecken, verfolgen und mit Sanktionen belegen zu können. Mit der Verhängung von Sanktionen durch die Wettbewerbsbehörden, insbesondere in Form von Bußgeldern, sollen Verstöße gegen das Kartellrecht geahndet sowie (potentielle) Delinquenten abgeschreckt und damit Wiederholungen von Zuwiderhandlungen verhindert werden.8 Die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln beruht traditionell ganz wesentlich auf den Instrumentarien der behördlichen Durchsetzungs6 Zur zweispurigen Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln siehe etwa die Schlussanträge von GA‘in Kokott 30.11.2014 – Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:45, Rn. 59: „Anerkannt ist, dass die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln auf zwei Standbeinen fußt. Es handelt sich zum einen um die den Wettbewerbsbehörden obliegende öffentliche Durchsetzung mit repressiven Mitteln (auch public enforcement genannt) und zum anderen um die auf der Initiative des Einzelnen beruhende private Durchsetzung mit Mitteln des Zivilrechts (auch als private enforcement bezeichnet).“ (Hervorhebungen im Original); ferner Lianos / Davis / Nebbia, Damages Claims for the Infringement of EU Competition Law, 2015, Rn. 7.02 f.; Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 334; Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (134); Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 299 f.; M.-P. Weller, ZWeR 2008, 170 (172 f.); K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169 (173); Böni, EWS 2014, 324 (324 f.); unterscheidet man weiter zwischen verwaltungsrechtlichen Verfügungen und ordnungs- bzw. strafrechtlichen Sanktionen, kann auch von einem dreispurigen Durchsetzungsregime gesprochen werden, vgl. etwa Möschel, in: FS Bechtold, 2006, 329 (329); Möschel, WuW 2007, 483 (484); Nazzini, Concurrent Proceedings in Competition Law, 2004, Rn. 2.01 ff.; zur Empfehlung der Monopolkommission, schwere Kartellverstöße zu kriminalisieren, Monopolkommission, Sondergutachten 72: Strafrechtliche Sanktionen bei Kartellverstößen, 2015, Rn. 191 ff. 7 Siehe nur die Schlussanträge von GA‘in Kokott 30.11.2014 – Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:45, Rn. 59. 8 Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 22 Rn. 8; Wils, World Competition 32 (2009), 3 (6 ff.); Wils, World Competition 29 (2006), 183 (185 ff.); Dunne, CML Rev. 53 (2016), 453 (455); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 114; Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (142 f.); ein durch den Präventionsgedanken geprägtes effektives Sanktionssystem im Kartellrecht verteidigend Ackermann, ZWeR 2010, 329 (329 ff.); Ackermann, ZWeR 2012, 3 (3 f.).
A. Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
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spur.9 Mit der durch die Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 bewirkten Dezentralisierung der europäischen Kartellrechtsanwendung ist in der Europäischen Union ein System paralleler Zuständigkeiten geschaffen worden, in dem die behördliche Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln sowohl der Europäischen Kommission10 als auch den nationalen Wettbewerbsbehörden zugewiesen ist.11 Gemeinsam bilden die Europäische Kommission und die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ein Netzwerk an Wettbewerbsbehörden, das Europäische Wettbewerbsnetz (European Competition Network, ECN).12 Das Europäische Wettbewerbsnetz fungiert als Bindeglied zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden und schafft ein Diskussions- und Kooperationsforum zur bestmöglichen Fallallokation,13 zum gegenseitigen Informationsaustausch14 sowie zur gegenseitigen Amtshilfe bei der Ermittlung von Wettbewerbsverstößen.15 9 Zum traditionellen Primat der behördlichen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa infra Kapitel 1 B. I. 10 Innerhalb der Europäischen Kommission ist in erster Linie die weitgehend unabhängig agierende Generaldirektion Wettbewerb zuständig, die als besondere Dienststelle die Kommissionsbeschlüsse im Bereich der Wettbewerbspolitik vorbereitet. 11 Gemäß Art. 4 VO Nr. 1/2003 ist für die Anwendung der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten europäischen Wettbewerbsregeln die Europäische Kommission zuständig; daneben besteht nach Art. 5 VO Nr. 1/2003 eine Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. 12 Erwägungsgrund 15 Kartellverfahrensverordnung: „Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sollen gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden“; zur Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden siehe Art. 11 bis 14 und 22 VO Nr. 1/2003, die Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommission zur Arbeitsweise des Netzes der Wettbewerbsbehörden, 15435/02 ADD 1 (Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommision), und insbesondere die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. 2004 C 101, 43 (Netzwerkbekanntmachung der Kommission); aus dem Schrifttum zum Europäischen Wettbewerbsnetz eingehend etwa Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz, 2006, passim; Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, passim; Gerard, in: Lianos / Geradin, 2013, 181 (181 ff.). 13 Näher zur Fallallokation im Europäischen Wettbewerbnetz infra Kapitel 1 A. I. 2. a) bb). 14 Siehe zum Informationsaustausch unter den Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz Art. 12 VO Nr. 1/2003 und im deutschen Recht § 50a GWB; aus dem Schrifttum zum Informationsaustausch Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz, 2006, 186 ff.; Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 231 ff.; van der Woude, in: Ehlermann / Atanasiu, 2004, 369 (369 ff.); Gussone / Michalczyk, EuZW 2011, 130 (130 ff.). 15 Siehe zur Amtshilfe im Europäischen Wettbewerbsnetz Art. 22 VO Nr. 1/2003; aus dem Schrifttum hierzu eingehend etwa Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz, 2006, 219 ff.; Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 231 ff.
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Kapitel 1 – Grundlagen
1. Durchsetzung durch die Europäische Kommission Das Kartellverwaltungsverfahren der Kommission zur Durchsetzung der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten europäischen Wettbewerbsregeln richtet sich maßgeblich nach der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003, nach der dazugehörigen Durchführungsverordnung Nr. 773/200416 sowie nach zahlreichen Mitteilungen und Bekanntmachungen.17 Ergänzend gelten die allgemeinen Grundsätze des europäischen Verwaltungsrechts.18 Ob die Kommission ein Verfahren einleitet und mit einer Entscheidung abschließt, liegt nach dem das Kartellverwaltungsverfahren der Kommission bestimmenden Opportunitätsprinzip in ihrem pflichtgemäßen Ermessen.19 Wird die Kommission auf eine Beschwerde hin oder von Amts wegen tätig, so obliegen ihr nach dem im Kommissionsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz die für den Nachweis einer Zuwiderhandlung notwendigen Maßnahmen.20 Hierzu reichen die Art. 17 bis 22 VO Nr. 1/2003 der Kommission sehr weitreichende Ermittlungsbefugnisse an die Hand, die das allgemeine, in Art. 337 AEUV niedergelegte Recht der Kommission konkretisieren, zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben alle erforderlichen Auskünfte einzuholen und alle erforderlichen Nachprüfungen vorzunehmen. 21 Um die Beachtung Verordnung (EG) Nr. 773/2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. 2004 L 123, 18. 17 Nachweise etwa bei Dieckmann, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 41 Rn. 3 f.; Ortiz Blanco / Jörgens, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 1.08. 18 Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1674; eingehend zu den in einer Vielzahl von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs entwickelten allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätzen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, passim. 19 Bekanntmachung der Kommission über die Behandlung von Beschwerden durch die Kommission gemäß Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, 65 Rn. 41, 53; EuGH 18.10.1979, Rs. C-125/78, GEMA / Kommission, EU:C:1979:237, Rn. 17 f.; EuG 18.9.1992, Rs. T-24/90, Automec II, EU:T:1992:97, Rn. 75 f.; EuGH 24.10.1996, Rs. C91/95, Tremblay u.a., EU:C:1996:407, Rn. 30; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 5 Rn. 2, § 6 Rn. 14; Wesselburg, Drittschutz bei Verstößen gegen das Kartellverbot, 2010, 83 f. 20 Siehe nur Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 5 Rn. 2. 21 Die in der VO Nr. 1/2003 konkretisierten Ermittlungsbefugnisse der Kommission reichen von der Untersuchung von Wirtschaftszweigen und einzelnen Arten von Vereinbarungen (Art. 17) über Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sowie Regierungen und Wettbewerbsbehörden (Art. 18) und der Befragung natürlicher und juristischer Personen (Art. 19) bis hin zu Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen (Art. 20) und in anderen Räumlichkeiten (Art. 21) sowie der Möglichkeit auf Ersuchen Nachprüfungen durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten vornehmen zu lassen; einen Überblick über die Ermittlungsbefugnisse der Kommission bietet etwa de Bronett, EWS 2011, 8 (8 ff.); einge16
A. Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
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der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten Verbote effektiv gewährleisten zu können, räumt die Kartellverfahrensverordnung der Kommission schließlich die in den Art. 7 bis 10 und Art. 23, 24 VO Nr. 1/2003 bestimmten Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse ein. 22 Hinzu tritt die Befugnis nach Art. 29 Abs. 1 VO Nr. 1/2003, Unternehmen den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen. Gegenüber der Vorgänger-Verordnung Nr. 17/62,23 in der im Wesentlichen nur Art. 3 die Befugnis zum Erlass von Entscheidungen darstellte, wuchs das kartellbehördliche Handlungsinstrumentarium mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 auf mehrere Handlungsformen an und wurde deutlich vielfältiger und offener. 24 Die der Kommission zu Gebote stehenden Entscheidungen und Sanktionen bilden den „Grundkatalog“ an Instrumentarien zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln im Europäischen Wettbewerbsnetz. Sie finden sich ihrem Grundmodell nach im Wesentlichen auch in Art. 5 VO Nr. 1/2003 wieder, der die Entscheidungsarten und Sanktionen der nationalen Wettbewerbsbehörden umreißt.25 Da diese Instrumentarien die möglichen Zahnräder bilden, die vermöge einer Bindungswirkung im Zivilprozess zugunsten der privaten Durchsetzungsspur eine Kräfteübertragung bewirken können, sollen diese im Anschluss an die Grundsätze über die internationale Zuständigkeit der Europäischen Kommission überblicksartig beleuchtet werden. a) Internationale Zuständigkeit Die Zuständigkeit einer Behörde reicht grundsätzlich nur so weit wie der Anwendungsbereich des von ihr durchzustzenden materiellen Verwaltungsrechts (Gleichlaufprinzip).26 Dementsprechend reicht die Zuständigkeit der Europäischen Kommission so weit wie der internationale Anwendungsbereich des von ihr durchzusetzenden unionalen Kartellrechts.27 Für eine Anhend Hensmann, Die Ermittlungsrechte der Kommission im europäischen Kartellverfahren, 2009, passim. 22 Mit der Umbenennung von „Entscheidungen“ in „Beschlüsse“ durch den Vertrag von Lissabon ging keine sachliche Änderung dieser Handlungsform einher; bei den in der VO Nr. 1/2003 vorgesehenen „Entscheidungen“ handelt es sich um „Beschlüsse“ in der Terminologie des Art. 288 Abs. 4 AEUV; siehe dazu nur Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 13 Rn. 2; dem etablierten Sprachgebrauch entsprechend wird hier der Begriff der „Entscheidung“ beibehalten. 23 Verordnung (EWG) Nr. 17 des Rates, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, ABl. 1962 Nr. 13, 204. 24 Podszun, ZWeR 2012, 48 (51). 25 Näher hierzu infra Kapitel 1 A. I. 2. b) sowie Kapitel 2 B. II. 1. b). 26 Basedow, Weltkartellrecht, 1998, 39; vgl. zum Gleichlaufprinzip auch bereits Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 471 ff., 154 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 151 ff. 27 Siehe nur Glöckner, Kartellrecht, 2012, Rn. 277.
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Kapitel 1 – Grundlagen
wendung der Art. 101 und 102 AEUV kommt es nach der tradierten ZellstoffRechtsprechung des Gerichtshofs darauf an, dass das in Rede stehende wettbewerbsbeschränkende Verhalten innerhalb des Binnenmarktes „durchgeführt wird“ (Durchführungsprinzip), unabhängig davon, ob das Verhalten inneroder außerhalb des Binnenmarktes verabredet oder beschlossen wurde.28 Der Kommission kommt hiernach also zunächst eine unionsweite Verfahrenszuständigkeit für die Verfolgung aller Zuwiderhandlungen zu, die im Binnenmarkt durchgeführt werden.29 Auch wenn der Gerichtshof das Auswirkungsprinzip, wonach sich ein kartellrechtlich relevantes Verhalten nach den Kartellrechten derjenigen Rechtsordnungen richtet, auf deren Märkten das Verhalten Wirkungen entfaltet, zunächst nicht ausdrücklich anerkannt hat, deckte sich dieser Ansatz doch schon weitgehend – wenn auch nicht vollständig – mit dem mittlerweile fast universell anerkannten Auswirkungsprinzip,30 das auch in den mitgliedstaatlichen Kartellrechten fest verankert ist.31 Inzwischen hat auch der Gerichtshof eine endgültige Hinwendung zum Auswirkungsprinzip vollzogen, indem er in seiner Intel-Entscheidung alternativ zum Kriterium der „Durchführung“ auch das Kriterium „qualifizierter Auswirkungen“ akzeptiert hat.32 b) Durchsetzungsinstrumentarium aa) Entscheidungstypen Die Kommission kann zunächst gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 VO Nr. 1/2003 Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, die den Verboten der Art. 101 oder 102 AEUV zuwiderhandeln, dazu verpflichten, festgestellte Zuwiderhandlungen abzustellen (Abstellungsverfügung). Sie kann ihnen hierzu alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktu28 Grundlegend EuGH 27.9.1988, Rs. C-89/85, Ahlström Osakeyhtiö (Zellstoff I), EU:C:1988:447, Rn. 16; dazu aus dem Schrifttum etwa Basedow, NJW 1989, 627 (634); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (938); Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 50 ff. 29 Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 19; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 21; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 101 f. 30 Basedow, in: Basedow, 2007, 229 (242); Immenga, in: FS Kühne, 2009, 725 (728); Mankowski, RIW 2008, 177 (185) („Durchführung meint im Ergebnis in aller Regel Auswirkung“); vgl. aber zu möglichen Schutzlücken des Durchführungs- gegenüber dem Auswirkungsprinzip Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1592. 31 Näher zum Auswirkungsprinzip und zu seiner Bedeutung im Kartellrecht der Mitgliedstaaten infra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa). 32 EuGH 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, Intel, EU:C:2017:632, Rn. 45 ff.; hierzu aus dem Schrifttum etwa Wernicke, EuZW 2017, 859 (859 f.).
A. Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
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reller Art vorschreiben.33 Die Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV ist notwendiges Grundelement aller Entscheidungen gemäß Art. 7 VO Nr. 1/2003.34 Obgleich streng genommen nur ein Begründungselement, besteht der Tenor einer Abstellungsverfügung in der Praxis regelmäßig aus zwei Teilen, nämlich der Feststellung einer Zuwiderhandlung und der Verpflichtung der Unternehmen zur Abstellung der Zuwiderhandlung verbunden mit etwaigen Abhilfemaßnahmen.35 Ist ein wettbewerbswidriges Verhalten zum Entscheidungszeitpunkt bereits beendet, so kann die Kommission eine Zuwiderhandlung nach Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003 auch isoliert feststellen (isolierte Feststellungsentscheidung).36 Der Tenor einer solchen Entscheidung beschränkt sich dementsprechend auf die Feststellung der beendeten Zuwiderhandlung. Voraussetzung für den Erlass einer isolierten Feststellungsentscheidung ist ein berechtigtes Interesse der Kommission. Ein solches Feststellungsinteresse liegt vor, wenn eine Rechtslage der Klärung harrt und seitens der Entscheidungsadressaten Art. 7 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 1/2003; die Anordnung struktureller Abhilfemaßnahmen als Antwort auf eine Zuwiderhandlung gegen die verhaltensorientierten Verbote der Art. 101 und 102 AEUV ist nur verhältnismäßig, wenn keine gleichermaßen wirksamen verhaltensorientierten Maßnahmen in Frage kommen, siehe Erwägungsgrund 12 VO Nr. 1/2003; vgl. auch die Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Artikel 101 und 102 des AEUV, ABl. 2011 C 308, 6 Rn. 83; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 6 Rn. 43; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 81; gegen eine Subsidiarität struktureller Maßnahmen dagegen Maier-Rigaud, WuW 2012, 487 (496 ff.). 34 Vgl. EuGH 2.3.1983, Rs. C-7/82, GVL, EU:C:1983:52, Rn. 23; „Die Befugnis zum Erlass der [auf die Beendigung von Zuwiderhandlungen gerichteten] Entscheidungen umfasst notwendigerweise die Befugnis zur Feststellung der jeweils in Rede stehenden Zuwiderhandlung“; aus dem Schrifttum Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 5; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 2; Sauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 11.04; vgl. auch Hellström / Maier-Rigaud / Bulst, Antitrust L.J. 76 (2009), 43 (48). 35 Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1651; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 13 Rn. 7; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 6; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 71; die Überschrift zu Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 („Feststellung und Abstellung von Zuwiderhandlungen“) legt ein zweistufiges Verfahren nahe, woraus sich die entsprechende Kommissionspraxis erklären lässt, im ersten Artikel des Tenors einer auf Art. 7 VO Nr. 1/2003 gestützten Verfügung die Feststellung einer Zuwiderhandlung auszusprechen; kritisch hierzu indes de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 7. 36 Die Regelung in Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr.1/2003 kodifiziert die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die schon zuvor die isolierte Feststellung einer bereits beendeten Zuwiderhandlung zuließ, sofern hieran ein berechtigtes Interesse bestand, EuGH 2.3.1983, Rs. C7/82, GVL, EU:C:1983:52, Rn. 24 ff.; ferner EuG 6.10.2005, verb. Rs. T-22/02 und T23/02, Sumitomo Chemical, EU:T:2005:349, Rn. 129 ff. 33
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Kapitel 1 – Grundlagen
oder anderer Unternehmen die Gefahr einer Wiederholung der beanstandeten Verhaltensweise besteht,37 wenn die Wahrung einer kohärenten Rechtsanwendung eine Entscheidung gebietet,38 oder die Wirkungen einer Zuwiderhandlung fortdauern.39 Ein berechtigtes Interesse der Kommission soll nach der bislang vorherrschenden Ansicht indes fehlen, wenn die Feststellung einer beendeten Zuwiderhandlung allein dazu dienen soll, Kartellgeschädigten die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche zu erleichtern.40 Diese Auffassung lässt allerdings unberücksichtigt, dass die Geltendmachung von Wettbewerbsverstößen vor den Zivilgerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs beitragen kann.41 Die isolierte Feststellung von Verstößen liegt daher nicht allein im Individualinteresse potentieller Kläger, sondern auch im Interesse der allgemeinen Wettbewerbsordnung. Daher ist richtigerweise ein öffentliches Interesse und in der Folge ein berechtigtes Interesse der Kommission, an der isolierten Feststellung einer ZuEuGH 2.3.1983, Rs. C-7/82, GVL, EU:C:1983:52, Rn. 24 ff.; Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 50; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 90; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 9; Sauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 11.04; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 13 Rn. 12. 38 Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 3; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 9, der treffend darauf hinweist, dass es sich insofern um eine „spiegelbildliche Entscheidungsart“ zur Nichtanwendbarkeitsentscheidung auf Grundlage von Art. 10 VO Nr. 1/2003 handelt. Isolierte Feststellungsentscheidungen tragen zur Kohärenz der europäischen Kartellrechtsanwendung bei, indem sie gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten und Wettbewerbsbehörden im Rahmen von Art. 16 VO Nr. 1/2003 Bindungswirkung entfalten, Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 90. 39 Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 21 Rn. 33; für ein berechtigtes Interesse der Kommission an der Feststellung zwar beendeter, aber noch fortwirkender Verstöße gegen Art. 102 AEUV siehe die Schlussanträge von GA Colomer 26.6.1998 – Rs. C-119/97 P, Ufex, EU:C:1998:255, Rn. 70 f. 40 EuG 15.1.1997, Rs. T-77/95, SFEI u.a., EU:T:1997:1, Rn. 58; vgl. auch EuG 6.10.2005, verb. Rs. T-22/02 und T-23/02, Sumitomo Chemical, EU:T:2005:349, Rn. 129 ff.; aus dem Schrifttum de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 9; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 91; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 3; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 33; Sauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 11.04; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 432. 41 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 91; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 29; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 42; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 23; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 23; näher zur Rechtsprechung des Gerichtshofs infra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb). 37
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widerhandlung anzunehmen, wenn hierdurch Geschädigten die zivilgerichtliche Durchsetzung ihrer Ansprüche erleichtert wird.42 Art. 8 VO Nr. 1/2003 normiert die Befugnis der Kommission zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen, wie sie der Kommission bereits zuvor durch den Gerichtshof in der Sache Camera Care zuerkannt worden war.43 Grundlage und Voraussetzung der Anordnung einstweiliger Maßnahmen ist eine prima facie festgestellte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV sowie eine besondere Dringlichkeit, die nur bei der Gefahr eines ernsten, nicht wieder gutzumachenden Schadens angenommen werden kann.44 Auf Grundlage von Art. 9 VO Nr. 1/2003 kann die Kommission angebotene Verpflichtungszusagen der Adressaten einer beabsichtigten Abstellungsverfügung im Wege einer Entscheidung für bindend erklären (Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen). Diese Entscheidungen ersetzen damit eine beabsichtigte Abstellungsverfügung nach Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1/2003.45 Im Unterschied zur Abstellungsverfügung sind sie jedoch kein Instrument zur Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 oder 102 AEUV,46 sondern 42 Dahingehend auch Kerse / Khan, EU Antitrust Procedure, 6. Aufl. 2012, Rn. 6–040 Fn. 116: „[…] facilitating actions for damages ought to weigh heavily in favour of there being a legitimate interest in making a finding of infringement“; vgl. auch EuG 6.2.2014, Verb. Rs. T-23/10 und T-24/10, Arkema France, EU:T:2014:62, Rn. 113 f.; im deutschen Kartellverwaltungsrecht ist mittlerweile weitgehend anerkannt, dass sich ein berechtiges Interesse beim Erlass einer isolierten Feststellungsentscheidung auch daraus ergeben kann, dass die Durchsetzung privater Ersatzansprüche erleichtert wird; näher dazu infra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (1) und Kapitel 4 B. I. 43 EuGH 17.1.1980, Rs. C-792/79, Camera Care, EU:C:1980:18, Rn. 12 ff.; ferner EuG 24.1.1992, Rs. T-44/90, La Cinq, EU:T:1992:5, Rn. 27; vgl. auch Erwägungsgrund 11 VO Nr. 1/2003 a.E; eingehend dazu Nordsjo, E.C.L.R. 2006, 299 (299 ff.). 44 Statt aller de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 8 VO 1/2003 Rn. 2 f. 45 Schweitzer, in: Ehlermann / Marquis, 2010, 547 (549); Wils, World Competition 29 (2006), 345 (348); Wils, World Competition 31 (2008), 335 (338); Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 2; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 1. Vergleichsverfahren in Kartellfällen nach Art. 10a VO Nr. 773/2004 erfolgen dagegen im Rahmen der Feststellung einer Zuwiderhandlung und Bußgeldverhängung nach Art. 7 und Art. 23 VO Nr. 1/2003, siehe die Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. 2008 C 167, 1; eingehend zum Vergleichsverfahren in Kartellfällen aus dem Schrifttum etwa Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, 2011, passim. 46 Erwägungsgrund 13 S. 2 VO Nr. 1/2003: „Ohne die Frage zu beantworten, ob eine Zuwiderhandlung vorgelegen hat oder noch vorliegt, sollte in solchen Entscheidungen festgestellt werden, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht“ (Hervorhebung nur hier); aus dem Schrifttum de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 4; Ortiz Blanco / Jörgens / Kellerbauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 13.10; Temple Lang, E.C.L.R.
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ermöglichen es der Kommission gerade unter Vermeidung einer förmlichen Feststellung, wettbewerbsrechtlich bedenkliche Verhaltensweisen flexibel47 im Zusammenwirken mit den beteiligten Unternehmen auszuräumen.48 Verstöße gegen die Zusagen sind bußgeldbewehrt.49 Ferner können Unternehmen mittels eines Zwangsgeldes zur Einhaltung der Zusagen gezwungen werden.50 Indem das Instrument die oftmals sehr ermittlungsintensive Feststellung eines Verstoßes entbehrlich macht, liegen Art. 9 VO Nr. 1/2003 Erwägungen der Verfahrensökonomie zugrunde.51 Die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen lässt ausweislich der Erwägungsgründe der Kartellverfahrensverordnung die Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte unberührt, selbst eine Zuwiderhandlung festzustellen und über den Fall zu entscheiden.52 2003, 347 (348); unter anderem weil derartige Entscheidungen die förmliche Feststellung eines Verstoßes durch die Kommission vermeiden, haben die beteiligten Unternehmen oftmals ein großes Interesse an der Unterbreitung freiwilliger Verpflichtungszusagen, Wils, World Competition 29 (2006), 345 (350); Cook, World Competition 29 (2006), 209 (210 f.); Klees, EWS 2011, 14 (16); Schweitzer, in: FS Möschel, 2011, 637 (657 Fn. 45); Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 2. 47 Die Kommission hat bei der Ausgestaltung einer Entscheidung nach Art. 9 VO Nr. 1/2003 einen weiten Handlungsspielraum und kann hierbei weitergehende Rechtsfolgen anordnen als bei einer Entscheidung nach Art. 7 und 23 VO Nr. 1/2003; hierzu etwa Schweitzer, in: FS Möschel, 2011, 637 (643 f., 649); Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 3; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 13 Rn. 14; Brenner, EuR 2014, 671 (674). 48 EuGH 29.6.2010, Rs. C-441/07 P, Alrosa, EU:C:2010:377, Rn. 35; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 4; Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 1; Waelbroeck, in: Gheur / Petit, 2009, 221 (221 f.). 49 Art. 23 Abs. 2 lit. c VO Nr. 1/2003. 50 Art. 24 Abs. 1 lit. c VO Nr. 1/2003. 51 EuGH 29.6.2010, Rs. C-441/07 P, Alrosa, EU:C:2010:377, Rn. 35; Schweitzer, in: FS Möschel, 2011, 637 (638 f.); Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 2 f.; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 3; Kreße, WRP 2014, 1261 (1262); Klees, WuW 2009, 374 (376). 52 Erwägungsgrund 13 S. 3 VO Nr. 1/2003: „Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen lassen die Befugnisse der Wettbewerbsbehörden und der Gerichte der Mitgliedstaaten, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festzustellen und über den Fall zu entscheiden, unberührt.“ Siehe ferner Erwägungsgrund 22 S. 3 VO Nr. 1/2003: „Von der Kommission angenommene Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen berühren nicht die Befugnis der Gerichte und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, die Artikel 81 und 82 des Vertrags anzuwenden.“ Trotz dieser scheinbar eindeutigen Aussage bleibt die Wirkung von Entscheidungen über die Entgegennahme von Verpflichtungszusagen auf nachfolgende Zivilklagen teilweise umstritten; näher hierzu etwa Schweitzer, in: Ehlermann / Marquis, 2010, 547 (561 f., 573 ff.); Schweitzer, Commitment Decisions in the
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Mit dem Erlass einer Nichtanwendbarkeitsentscheidung53 auf Grundlage von Art. 10 VO Nr. 1/2003 kann die Kommission feststellen, dass Art. 101 AEUV auf eine Vereinbarung, einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung oder eine abgestimmte Verhaltensweise keine Anwendung findet, weil die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht vorliegen oder aber die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt sind.54 Gleichermaßen kann die Kommission feststellen, dass Art. 102 AEUV keine Anwendung findet. Art. 10 VO Nr. 1/2003 begründet damit eine spiegelbildliche Entscheidungsart zur isolierten Feststellung einer Zuwiderhandlung nach Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003.55 Das zum Erlass von Nichtanwendbarkeitsentscheidungen erforderliche öffentliche Unionsinteresse besteht insbesondere dann, wenn eine unsichere, neue Rechtslage der Klärung harrt und die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung eine Entscheidung der Kommission gebietet.56 Mit der Befugnis zum Erlass von NichtanwendbarkeitsentEU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 17; Wils, World Competition 29 (2006), 345 (361 ff.); Cook, World Competition 29 (2006), 209 (224 ff.). 53 Für die Entscheidungsart der Nichtanwendbarkeitsentscheidung wird teils auch der Begriff der „Positiventscheidung“ verwendet, so etwa im Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 81 und 82 des EG-Vertrags, ABl. 1999 C 132, 1, Rn. 88; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 1. 54 Nichtanwendbarkeitsentscheidungen erfolgen mit deklaratorischer Wirkung; in dem durch die VO 1/2003 geschaffenen System der Legalausnahme folgt die Nichtanwendbarkeit des Art. 101 AEUV in seiner Gesamtheit bereits aus dem Gesetz, bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV bedarf es für die Freistellung vom Kartellverbot keiner konstitutiven Entscheidung mehr, Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 1/2003. 55 Vgl. de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 7 VO 1/2003 Rn. 9, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 1. 56 Statt aller Anweiler, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 10 ff.; siehe auch Erwägungsgrund 14 S. 3 VO Nr. 1/2003: „In Ausnahmefällen, wenn es das öffentliche Interesse der Gemeinschaft gebietet, kann es auch zweckmäßig sein, dass die Kommission eine Entscheidung deklaratorischer Art erlässt, mit der die Nichtanwendung des in Artikel 81 oder Artikel 82 des Vertrags verankerten Verbots festgestellt wird, um die Rechtslage zu klären und eine einheitliche Rechtsanwendung in der Gemeinschaft sicherzustellen; dies gilt insbesondere in Bezug auf neue Formen von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, deren Beurteilung durch die bisherige Rechtsprechung und Verwaltungspraxis noch nicht geklärt ist.“ Das erforderliche öffentliche Interesse begründet den Ausnahmecharakter der Nichtanwendbarkeitsentscheidung und soll verhindern, dass das alte zentralisierte Anmeldesystem im Gewand der Nichtanwendbarkeitsentscheidung Einzug in das System der VO Nr. 1/2003 erhält, Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 156 ff.; Ortiz Blanco / Jörgens / Kellerbauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 13.44; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 2; Brammer, CML Rev. 49 (2012), 1163 (1174 f.); siehe aber zur Möglichkeit informeller Beratungsschreiben die Bekanntmachung der Kommission über informelle Beratung bei neuartigen Fragen zu den Artikeln 81 und
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Kapitel 1 – Grundlagen
scheidungen hebt sich die Kommission von den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ab, denen die formelle Feststellung einer Nichtanwendbarkeit der Art. 101 und 102 AEUV verwehrt ist.57 Die Befugnis zum Erlass von Nichtanwendbarkeitsentscheidungen ist damit also Ausfluss der hervorgehobenen Stellung der Kommission, die dieser im System der dezentralen Kartellrechtsanwendung zukommt.58 In diesem System fällt die Aufgabe, neuartige Rechtslagen zu klären und eine einheitliche Rechtsanwendung zu wahren – neben den europäischen Gerichten – insbesondere der Kommission zu. 59 Auch im System der Legalausnahme unter der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 können per Verordnung60 bestimmte Gruppen von unternehmerischen Verhaltensweisen von der Anwendung des Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt werden.61 Erfüllt ein bestimmtes Markt82 des Vertrages, die in Einzelfällen auftreten (Beratungsschreiben), ABl. 2004 C 101, 78; dazu aus dem Schrifttum etwa de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 10 ff. 57 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 22 ff.; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 2; Ortiz Blanco / Jörgens / Kellerbauer, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 13.39; die nationalen Wettbewerbsbehörden können auf der Grundlage von Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 lediglich entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden; näher hierzu infra Kapitel 1 A. I. 2. b) aa). 58 Vgl. de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 4; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 1; Anweiler, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 2; vgl. auch die Schlussanträge von GA Mazák 7.12.2010 – Rs. C375/09, Tele2 Polska, EU:C:2010:743, Rn. 47; daneben sind Ausdruck der hervorgehobenen Stellung der Kommission im Europäischen Wettbewerbsnetz insbesondere das Evokationsrecht der Kommission in Art. 11 Abs. 6 VO Nr. 1/2003 und die Regelung der Bindungswirkung in Art. 16 VO Nr. 1/2003; näher zur Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen infra Kapitel 1 C. II. 1. 59 Statt aller nur de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 4; Anweiler, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 10 VO 1/2003 Rn. 2; Gerber / Cassinis, E.C.L.R. 2006, 51 (57). 60 Die in Art. 105 Abs. 3 AEUV auch primärrechtlich verankerte Befugnis der Kommission zum Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen beruht auf Ermächtigungsverordnungen des Rates, die dieser auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments auf Grundlage des Art. 103 Abs. 2 lit. b AEUV erlassen hat; dazu nur Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 14 Rn. 20 ff.; eine Übersicht der in Kraft befindlichen Gruppenfreistellungsverordnungen bieten etwa Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 4 und Kerse / Khan, EU Antitrust Procedure, 6. Aufl. 2012, Rn. 1-037. 61 Vgl. dazu Erwägungsgrund 10 der VO Nr. 1/2003; aus dem Schrifttum K. Schmidt, BB 2003, 1237 (1241); Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 3 Rn. 1; kritisch zum Fortbestehen der Gruppenfreistellung etwa de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 2, der hierin einen Bruch mit dem Legalausnahmesystem sieht.
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verhalten die Voraussetzungen einer Gruppenfreistellungsverordnung, können Unternehmen davon ausgehen, dass ein entsprechendes Verhalten mit dem Kartellverbot in Einklang steht (safe harbour-Konzept). Die abstrakte Normierung von Gruppenfreistellungen kann es jedoch mit sich bringen, dass Verhaltensweisen freigestellt werden, von denen Wirkungen ausgehen, die mit Art. 101 Abs. 3 AEUV unvereinbar sind.62 Für derartige Fälle ermächtigt Art. 29 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 die Kommission63 dazu, Unternehmen im Einzelfall den durch eine Gruppenfreistellungsverordnung gewährten Rechtsvorteil wieder zu entziehen (Entscheidung über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellung).64 Voraussetzung für eine solche Entzugsentscheidung ist, dass eine Vereinbarung, ein Beschluss oder eine abgestimmte Verhaltensweise im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV einer Gruppenfreistellungsverordnung unterfällt65 und zumindest eine der für die Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV kumulativ erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegt.66 Der Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellung macht sodann den Weg frei für eine Abstellungsverfügung gemäß Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 oder die Verbindlicherklärung einer Verpflichtungszusage gemäß Art. 9 VO Nr. 1/2003.67 Bislang haben Entzugsentscheidungen kaum praktische Bedeutung erlangt.68
62 Statt aller Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 14 Rn. 33. 63 Nach Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 können unter bestimmten Voraussetzungen auch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung entziehen; näher hierzu infra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (6). 64 Der „Rechtsvorteil“ besteht in der Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 1 AEUV; der Entzug zielt als actus contrarius zur Freistellungsgewährung daher auf die Anwendung des Kartellverbots auf das in Rede stehende Marktverhalten; statt aller de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 5. 65 Die Feststellung, dass die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV vorliegen und diejenigen des Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht vorliegen, genügt allein nicht; es muss auch festgestellt werden, dass die Voraussetzungen der jeweiligen Gruppenfreistellungsverordnung erfüllt sind, um den aufgrund dieser Verordnung gewährten Rechtsvorteil zu entziehen, de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 5; vgl. EuG 8.6.1995, Rs. T-7/93, Langnese-Iglo, EU:T:1995:98, Rn. 145 ff.; bestätigt durch EuGH 1.10.1998, Rs. C-279/95 P, Langnese-Iglo, EU:C:1997:536. 66 EuG 8.6.1995, Rs. T-7/93, Langnese-Iglo, EU:T:1995:98, Rn. 177; bestätigt durch EuGH 1.10.1998, Rs. C-279/95 P, Langnese-Iglo, EU:C:1997:536; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 5; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 8. 67 Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 9. 68 Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 1; soweit ersichtlich, hat es bislang überhaupt nur eine einzige Entzugsentscheidung der Kommission gegeben, und zwar in der Sache Langnese-Iglo, siehe Kommission, 23.12.1992, ABl. 1993 L 183, 19 – Langnese-Iglo; im Wesentlichen bestätigt durch EuG
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Kapitel 1 – Grundlagen
bb) Sanktionstypen Die Beachtung der in Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV niedergelegten Verbote soll insbesondere durch Sanktionen in Form von Geldbußen und Zwangsgeldern gewährleistet werden.69 Entsprechende Sanktionsbefugnisse gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen70 werden der Kommission in den Art. 23 und 24 VO Nr. 1/2003 eingeräumt. Auf der Grundlage von Art. 23 VO Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Geldbußen verhängen, wobei Absatz 1 Verstöße gegen Verfahrensvorschriften und Absatz 2 Verstöße gegen das materielle Kartellrecht sowie gegen Entscheidungen nach Art. 8 und 9 VO Nr. 1/2003 einer Bußgeldandrohung unterstellt. Voraussetzung für die Festsetzung einer Geldbuße ist ein Verschulden. Die das Verfahren betreffenden „leichteren“ Verstöße gegen Auskunfts-, Wahrheits-, Mitwirkungs- und Duldungspflichten sind deutlich milderen Bußgeldandrohungen unterworfen als die „schwereren“ Verstöße gegen die materiellen Verbote der Art. 101 und 102 AEUV, Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen einstweiliger Maßnahmen gemäß Art. 8 VO Nr. 1/2003 und die Nichteinhaltung von nach Art. 9 VO Nr. 1/2003 für verbindlich erklärten Verpflichtungszusagen.71 Geldbußen dienen sowohl repressiven als auch präventiven Zwecken.72 Die präventive 8.6.1995, Rs. T-7/93, Langnese-Iglo, EU:T:1995:98; bestätigt durch EuGH 1.10.1998, Rs. C-279/95 P, Langnese-Iglo, EU:C:1997:536. 69 Siehe Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV. 70 Art. 23 und 24 VO Nr. 1/2003 ermächtigen die Kommission ausschließlich zur Sanktionierung von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen; nur soweit eine natürliche Person in der Eigenschaft eines Unternehmens tätig wird, kommt eine Individualperson als Adressat einer Sanktion in Betracht; Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 74; Wils, World Competition 28 (2005), 117 (125); Dannecker / Körtek, in: Dannecker / Jansen, 2004, 1 (17). 71 Die Bußgeldobergrenze beträgt bei Verfahrensverstößen 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes, wohingegen bei materiell-rechtlichen Verstößen und Zuwiderhandlungen gegen Entscheidungen nach Art. 8 und 9 VO Nr. 1/2003 Bußgelder bis zu einer Höhe von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes verhängt werden können; bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen, Art. 23 Abs. 3 VO Nr. 1/2003; siehe zur Bemessung von Geldbußen bei Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, 2. 72 Vgl. zum Zweck von Geldbußen nur EuGH 15.7.1970, Rs. C-41/69, Chemiefarma, EU:C:1970:71, Rn. 172/176 und EuGH 15.7.1970, Rs. C-44/69, Buchler, EU:C:1970:72, Rn. 49: „Ihr Zweck besteht ebensosehr darin, unerlaubte Handlungsweisen zu ahnden, wie darin, ihrer Wiederholung vorzubeugen“; Ziff. 4 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, 2; aus dem Schrifttum etwa Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 23; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 10 Rn. 3; Schwarze, EuZW 2003, 261 (267).
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Funktion von Geldbußen besteht in der Bußgeldpraxis der Kommission und der Rechtsprechung des Gerichtshofs maßgeblich in der Abschreckungswirkung gegenüber den belangten sowie potentiellen Delinquenten.73 Art. 24 VO Nr. 1/2003 ermächtigt die Kommission dazu, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Zwangsgelder festzusetzen. Mithilfe solcher Zwangsgelder kann die Kommission Unternehmen dazu zwingen, eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV abzustellen, einer Anordnung einstweiliger Maßnahmen, einer für verbindlich erklärten Verpflichtungszusage oder einer Auskunfts- oder Duldungspflicht nachzukommen. Das Zwangsgeld hat somit die Aufgabe, Gehorsam gegenüber den Anordnungen der Wettbewerbsbehörde zu erzwingen und dient damit der Effizienz des Kartellverwaltungsverfahrens.74 Im Gegensatz zur Geldbuße ist das Zwangsgeld nicht vergangenheits- sondern zukunftsbezogen: Als Beugemittel soll zukünftiges Verhalten erzwungen und nicht vergangenes Unrecht geahndet werden.75 2. Durchsetzung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden Die nationalen Wettbewerbsbehörden werden in der Kartellverfahrensverordnung mit Art. 5 VO Nr. 1/2003 unmittelbar adressiert und parallel zur Europäischen Kommission zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV in vollem Umfang, also einschließlich des Freistellungstatbestandes in Art. 101 Abs. 3 AEUV,76 für „zuständig“ erklärt. Die nationalen Wettbewerbsbehörden sind zur Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln freilich nicht nur – im Vgl. Ziff. 4 und 30 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, 2; EuGH 7.6.1983, verb. Rs. C-100 bis 103/80, Musique Diffusion française, EU:C: 1983:158, Rn. 105 ff.; EuGH 29.6.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko, EU:C:2006:431, Rn. 16; EuGH 17.6.2010, Rs. C-413/08 P, Lafarge, EU:C:2010:346, Rn. 102; Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 25; Kerse / Khan, EU Antitrust Procedure, 6. Aufl. 2012, Rn. 7-172 ff. 74 Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 29; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 24 VO 1/2003 Rn. 1. 75 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 10 Rn. 3; Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 29; aus diesem Funktionsunterschied des Zwangsgeldes gegenüber der Geldbuße erklärt sich, dass für die Festsetzung eines Zwangsgeldes ein Verschulden keine Voraussetzung ist, de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 24 VO 1/2003 Rn. 2. 76 Mit der unmittelbaren Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV durch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden (und Gerichte) wurde das unter der alten Verordnung Nr. 17/62 bestehende Freistellungsmonopol der Kommission beseitigt und damit die wesentliche Voraussetzung für eine umfassende dezentrale Kartellrechtsanwendung gesetzt; näher hierzu infra Kapitel 1 B. II. 1. 73
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Rahmen ihrer Zuständigkeit77 – befugt, sondern auf Grundlage des Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 auch verpflichtet, wenn sie ihr einzelstaatliches Wettbewerbsrecht anwenden und durch Vereinbarungen oder Verhaltensweisen der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann.78 Welche innerstaatliche Stelle als nationale Wettbewerbsbehörde im Sinne von Art. 5 S. 1 VO Nr. 1/2003 für die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zuständig ist, überlässt Art. 35 Abs. 1 S. 1 VO Nr. 1/2003 der Bestimmung durch die Mitgliedstaaten.79 Den Mitgliedstaaten kommt bei der Auswahl, Organisation und Ausgestaltung der für die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zuständigen Stellen ein weiter Regelungsspielraum zu, solange die betraute Stelle eine wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV gewährleisten kann.80 Entsprechend vielfältig erweist sich ein Blick auf die organisatorische Ausgestaltung der nationalen Wettbewerbsbehörden. Vereinfachend lassen sich dabei gegenwärtig zwei Grundmodelle bei der Organisation und Ausgestaltung der nationalen Wettbewerbsbehörden unterscheiden: 81 das administrative und das justizielle Vollzugsmodell. Dazu sogleich infra Kapitel 1 A. I. 2. a). Zum Kriterium der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels siehe die Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, 81. 79 Die nach Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV durch die Mitgliedstaaten bestimmten Stellen werden aufgeführt unter infra Kapitel 2 B. I. 1. 80 Cseres, in: Lianos / Geradin, 2013, 539 (560); De Smijter / Sinclair, in: Faull & Nikpay, The EU Law of Competition, 3. Aufl. 2014, 2.79; Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (364); die Verpflichtung aus Art. 35 Abs. 1 S. 1 VO Nr. 1/2003, eine wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu gewährleisten, erfordert aber, dass der nationalen Wettbewerbsbehörde die Befugnis eingeräumt wird, sich als Antragsgegnerin an einem gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, das sich gegen eine von ihr erlassene Entscheidung richtet, EuGH 7.12.2010, Rs. C-439/08, VEBIC, EU:C:2010:739, Rn. 59; dazu Roth, WRP 2013, 257 (262 f.); Frese, CML Rev. 48 (2011), 893 (893 ff.); Harnos, ZWeR 2016, 284 (287 f., 297 f.); das Urteil verdeutlicht, dass trotz des im Ausgangspunkt weiten Regelungsspielraums hinsichtlich Organisation und Ausgestaltung der nationalen Wettbewerbsbehörden aus dem Erfordernis, eine wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu gewährleisten, sehr konkrete Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht erwachsen können; vgl. dazu auch das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 230, 4 Rn. 9. 81 Zur Organisation der nationalen Wettbewerbsbehörden siehe auch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. 2004 C 101, 43 Rn. 2; siehe ferner das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 9 ff.; vgl. ferner den Bericht ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 5 ff. 77 78
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Nach dem administrativen Vollzugsmodell liegen sowohl die Ermittlungsals auch die Entscheidungsbefugnisse bei einer Behörde. Hierbei lassen sich, ungeachtet spezifischer Eigenheiten, je nach innerer Struktur der nationalen Behörden zwei nähere Ausgestaltungen unterscheiden. Zum einen können die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse einer weitgehend einheitlich organisierten und operierenden Behörde anvertraut sein, wie beispielsweise in Deutschland dem Bundeskartellamt.82 Nach einer zweiten Ausgestaltung sind diese Aufgaben mehr oder weniger strikt auf zwei organisatorisch getrennte Stellen innerhalb der betreffenden Wettbewerbsbehörde verteilt, wobei eine Stelle die Ermittlungen führt und eine andere Stelle, häufig ein Kollegialorgan, die Entscheidungen trifft; so etwa die Aufgabenteilung innerhalb der französischen Autorité de la Concurrence.83 Das ehemals noch in einigen Mitgliedstaaten existierende dualistische administrative Vollzugsmodell, bei dem die Ermittlungsbefugnisse einerseits und die Entscheidungsbefugnisse andererseits zwei unterschiedlichen Behörden zugewiesen sind, wurde mittlerweile ausnahmslos abgeschafft, zuletzt in Belgien mit der Schaffung der einheitlichen und unabhängigen Autorité belge de la concurrence, bei der nur noch eine interne funktionelle Aufgabenteilung besteht.84 Nach dem justiziellen Vollzugsmodell können dagegen Verbotsentscheidungen und/oder Bußgeldentscheide nur von einem Gericht getroffen werden, während eine Stelle die Funktion einer Anklagebehörde wahrnimmt, die den Fall vor das Gericht bringt, so beispielsweise in Österreich die Aufgabenverteilung zwischen der Bundeswettbewerbsbehörde und dem Bundeskartellanwalt auf der einen Seite und dem Kartellgericht auf der anderen.85 Diese Systemunterschiede bei der Organisation und Ausgestaltung der nationalen Wettbewerbsbehörden werden durch die Kartellverfahrensverordnung ausdrücklich anerkannt.86
82 Zur inneren Organisation des Bundeskartellamtes, insbesondere zu den Beschlussabteilungen nach § 51 Abs. 2 S. 1 GWB als dessen Entscheidungsträger, Klaue, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 51 GWB Rn. 4 ff.; Dreher / Kulka, Wettbewerbsund Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1627 ff.; historisch zur institutionellen Ausgestaltung des Bundeskartellamtes und zur Entscheidung zugunsten eines administrativen Erstverfahrens mit anschließender umfassender gerichtlicher Nachprüfungsmöglichkeit Klocker, in: Bundeskartellamt, 2008, 11 (12). 83 Dazu Stockmann, ZWeR 2014, 341 (343 ff., 356). 84 Dazu van de Walle de Ghelcke, Concurrences N° 4-2013, 201 (201 ff.); vgl. ferner das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/ 2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 11, und (noch zum früheren dualistischen administrativen Vollzugsmodell) den Bericht ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 8. 85 Dazu etwa Eilmansberger / Thyri, in: Cahill, 2004, 35 (35 ff.); Kofler-Senoner / Siebert, EuZW 2012, 650 (650 f.).
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Das Verwaltungsverfahren, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden Art. 101 und 102 AEUV durchsetzen, ist weder unionsrechtlich geregelt noch im Grundsatz harmonisiert.87 Die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden wenden daher bei der Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln ihr jeweiliges nationales Verfahrensrecht an (Grundsatz der Verfahrensautonomie), wobei sie allerdings die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität,88 einzelne Vorgaben der Kartellverfahrensverordnung89 sowie die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union90 und der Europäischen Menschenrechtskonvention91 zu beachten haben.92 Die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln erfolgt damit je nach handelnder nationaler Wettbewerbsbehörde auf Grund-
So räumt Art. 35 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003 ausdrücklich die Möglichkeit ein, dass auch Gerichte mit den Aufgaben einer nationalen „Wettbewerbsbehörde“ betraut werden können. Nach Art. 35 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 können einzelstaatlichen Verwaltungsbehörden und Gerichten unterschiedliche Befugnisse und Aufgaben zugewiesen werden, wenn sowohl Verwaltungsbehörden als auch Gerichte nebeneinander mit der Durchsetzung in einem Mitgliedstaat betraut sind; siehe ferner Erwägungsgrund 35 S. 3 VO Nr. 1/2003: „Mit der vorliegenden Verordnung wird anerkannt, dass für die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln im öffentlichen Interesse in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Systeme bestehen.“ 87 Cseres, in: Lianos / Geradin, 2013, 539 (539 f.); Nazzini, Concurrent Proceedings in Competition Law, 2004, 3.84 ff.; Paulis / Gauer, Concurrences N° 1-2005, 32 (33); Gippini-Fournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (454); Andreangeli, Civ. Just. Q. 35 (2016), 342 (344); kritisch zur fehlenden Harmonisierung des Kartellverwaltungsverfahrens etwa Gerber / Cassinis, E.C.L.R. 2006, 10 (10 f.). 88 Eingehend zur Bedeutung dieser Grundsätze im Zusammenhang mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (351 ff.); zur Bedeutung des Effektivitätsgrundsatzes (insbesondere für das Kartellbußgeldrecht) Harnos, ZWeR 2016, 284 (284 ff.). 89 Hierzu zählen insbesondere die Vorgaben, die sich aus den Art. 2, 3, 5 und 16 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 (auch) für die nationalen Wettbewerbsbehörden ergeben; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 3; Nazzini, Concurrent Proceedings in Competition Law, 2004, 3.85; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 18. 90 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2012 C 326, 391. 91 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und Nr. 14, Rom / Rome, 4.XI.1950. 92 Vgl. EuGH 10.11.1993, Rs. C-60/92, Otto / Postbank, EU:C:1993:876, Rn. 14; EuGH 17.7.1997, Rs. C-242/95, GT-Link, EU:C:1997:376, Rn. 23; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 3; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 30, und das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2 Rn. 43. 86
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lage eines anderen Kartellverwaltungsverfahrens.93 Dabei kann das anwendbare Verfahrensrecht für den Ausgang eines Verfahrens durchaus von entscheidender Bedeutung sein.94 Zwar haben mittlerweile viele Mitgliedstaaten ihre Verfahrensrechte freiwillig den für das Kartellverwaltungsverfahren der Kommission geltenden und in der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 niedergelegten Verfahrensregelungen mehr oder weniger weitgehend angepasst.95 Trotz dieser Konvergenztendenzen bestehen jedoch weiterhin teils erhebliche Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Kartellverfahrensrechten, so etwa beim Umfang der den Wettbewerbsbehörden zu Gebote stehenden Ermittlungsbefugnisse.96 a) Internationale Zuständigkeit Die Frage der internationalen Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden wird in der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 nicht beantwortet.97 In ihr findet sich insbesondere keinerlei Aussage darüber, ob und inwieweit ein Bezug zwischen einem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten und dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates bestehen muss, damit sich eine nationale Wettbewerbsbehörde eines Falles annehmen darf.98 In der Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission wie auch in der Netzwerkbekanntmachung der Kommission wird die Frage nach der Fallverteilung im System paralleler Zuständigkeiten so verstanden, dass sie eine Frage „ledig-
Statt aller Cseres, in: Lianos / Geradin, 2013, 539 (550). Basedow, EBOR 2001, 443 (451). 95 Vgl. Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 960 (964); Gippini-Fournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (454 f.); vgl. auch die Bestandsaufnahme im begleitenden Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD (2014) 231, 2 Rn. 48 ff.; zurückhaltend zum Grad der erreichten Harmonisierung indes Cseres, in: Lianos / Geradin, 2013, 539 (545 f., 550 ff.); Cseres, Competition Law Review 6 (2010), 145 (155 ff.). 96 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 30 ff.; siehe ferner die Bestandsaufnahme im Bericht der ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Ivestigative Powers Report, 31 October 2012, 6 ff.; Probleme der fehlenden Harmonisierung in weiteren Bereichen werden aufgezeigt bei Cseres, in: Lianos / Geradin, 2013, 539 (553 ff.). 97 Schwarze, in: FS Bechtold, 2006, 483 (485); Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 29 f.; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 19; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 20; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 101. 98 Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 30. 93 94
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lich der Arbeitsteilung“99 betreffe, was im Ausgangspunkt ein System vollkommen paralleler Zuständigkeiten voraussetzen würde.100 Der Bezug eines wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates wird erst auf der Ebene der Fallallokation als Verteilungskriterium herangezogen, um festzustellen, welche nationale(n) Wettbewerbsbehörde(n) „gut geeignet“101 bzw. „besonders gut in der Lage“102 ist (sind), sich eines Falles anzunehmen. Der Fallallokation vorgelagert stellt sich allerdings die hiervon zu trennende Frage nach der internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. aa) Bedeutung des Auswirkungsprinzips Dass ein System vollkommen paralleler Zuständigkeiten der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz besteht, lässt sich weder der Kartellverfahrensverordnung noch sonstigem Unionsrecht entnehmen. Insbesondere ist Art. 5 VO Nr. 1/2003, der die nationalen Wettbewerbsbehörden zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV für „zuständig“ erklärt, nicht so zu verstehen, dass den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden für deren gesamten Geltungsbereich eine Zuständigkeit zukommt.103 Eine solche unionsweite Verfahrenszuständigkeit für die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV hat allein der Europäischen Kommission inne.104 Eine territoriale Beschränkung der Verfahrenszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden lässt sich vielmehr mittelbar der Regelung des Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 entnehmen, wonach die nationalen Wettbewerbsbehörden zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV ermächtigt bzw. ver99 Vgl. Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43); Rn. 31: „Da mit der Ratsverordnung ein System paralleler Zuständigkeiten geschaffen wurde, stellt die Verteilung von Fällen zwischen den Mitgliedern lediglich eine Arbeitsteilung dar […]“; vgl. auch die Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommision (15435/02 ADD 1), Rn. 11: „Unbeschadet des Artikels 11 Absatz 6 der Verordnung sind alle Mitglieder des Netzes ohne Einschränkung parallel zuständig für die Anwendung der Artikel [101] und [102] des Vertrags.“ (Hervorhebung nur hier); vgl. aus dem Schrifttum hierzu Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 29 f. 100 Von einem solchen Verständnis des Rates und der Kommission gehen aus Schwarze, in: FS Bechtold, 2006, 483 (485 f.); Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 29 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 102. 101 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 9, 31 f. 102 Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommision (15435/02 ADD 1), Rn. 12, 15 ff. 103 Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 19; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 101 f. 104 Siehe dazu supra Kapitel 1 A. I. 1. a).
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pflichtet sind, wenn sie das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden. Eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde ist hiernach also nur dann zur Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln ermächtigt und verpflichtet, wenn sie auch die (internationale) Zuständigkeit zur Anwendung des eigenen Wettbewerbsrechts innehat.105 Die Frage der Anwendbarkeit des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts ist mit der Frage nach der Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden untrennbar verwoben, da die Zuständigkeit einer Verwaltungsbehörde nur so weit reicht wie der Anwendungsbereich des eigenen materiellen Verwaltungsrechts; es besteht mithin ein Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und dem anwendbaren materiellen (Kartell-)Verwaltungsrecht.106 Der internationale Anwendungsbereich des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts ist in Ermangelung unionsrechtlicher Regelungen dem nationalen Recht zu entnehmen, wobei dieses den völkerrechtlichen Grenzen hinsichtlich einer exterritorialen Kartellrechtsanwendung genügen muss.107 Dies führt in aller Regel zur Anwendung des Auswirkungsprinzips, dient dieses doch den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeinhin als Anknüpfungskriterium zur Bestimmung des internationalen Anwendungsbereichs der eigenen Wettbewerbsregeln.108 Nach dem Auswirkungs105 Schwarze, in: FS Bechtold, 2006, 483 (485 f.); Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 32; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 102. 106 Basedow, Weltkartellrecht, 1998, 39; Immenga, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, IntWettbR/IntKartellR § 130 GWB Rn. 60; Rehbinder, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 130 GWB Rn. 334; Stadler, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 130 GWB Rn. 243; allgemein zum internationalen Verwaltungsrecht Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 471 ff., 154 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 151 ff. 107 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 21; Schwarze, in: FS Bechtold, 2006, 483 (486); Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 32; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 19; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 102 f. 108 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 21; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 19; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 102 f.; Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 6; für das deutsche Kartellrecht siehe § 185 Abs. 2 GWB (§ 130 Abs. 2 GWB a. F.); zur (weltweiten) Verbreitung des Auswirkungsprinzips (effects doctrine) bzw. des – dem Auswirkungsprinzip nahe kommenden – Durchführungsprinzips Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1548; Basedow, Weltkartellrecht, 1998, 19 ff.; vgl. auch Basedow, EBOR 2001, 443 (450): „the effects doctrine is […] by now almost generally acknowledged“; ausführlich zur Staatspraxis Schwartz / Basedow, in: Lipstein, geb. Ausg. 2011, Rn. 14 ff., 60 ff.; zur Maßgeblichkeit des Auswirkungsprinzips in Frankreich Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 59.
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prinzip bemisst sich ein kartellrechtlich relevantes Verhalten allein nach denjenigen Rechtsordnungen, auf deren Märkten das betreffende Verhalten Wirkungen entfaltet. Das Auswirkungsprinzip wird ganz überwiegend als das einzige Anknüpfungskriterium angesehen, das dem Regelungsanspruch des Wettbewerbsrechts gerecht wird, indem es Marktschutz unabhängig davon sichert, ob im In- oder Ausland gehandelt wurde.109 Die Vereinbarkeit des Auswirkungsprinzips mit dem Völkerrecht wird heute kaum mehr ernstlich in Zweifel gezogen.110 Nach ganz überwiegender Auffassung entspricht es dem Grundsatz sinnvoller Anknüpfung bei der Regelung exterritorialer wettbewerbsrechtlicher Sachverhalte und genügt – jedenfalls in einer (durchweg vertretenen und angewandten) qualifizierten Form111 – dem völkerrechtlichen Erfordernis einer hinreichend engen Verbindung zwischen regelndem Staat und zu regelndem Sachverhalt (genuine link).112
K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 120; K. M. Meessen, Am. J. Int’l L. 78 (1984), 783 (799); Schwartz / Basedow, in: Lipstein, geb. Ausg. 2011, Rn. 9 ff.; Basedow, Weltkartellrecht, 1998, 19 f.; vgl. auch Basedow, EBOR 2001, 443 (450): „the effects doctrine is inherent in competition law“; Immenga, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, IntWettbR/IntKartellR Rn. 14; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 265; Wurmnest, EuZW 2012, 933 (637); zu den Unzulänglichkeiten territorialer oder personaler Anknüpfungskriterien Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1543 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 162. 110 Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1549 ff.; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 67; Immenga, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, IntWettbR/IntKartellR Rn. 13; grundlegend K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 149 ff.; K. M. Meessen, Am. J. Int’l L. 78 (1984), 783 (799 ff.); der Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit gegenüber dem Auswirkungsprinzip wurde in der Vergangenheit insbesondere durch das Vereinigte Königreich erhoben, siehe dazu Lowe, RabelsZ 52 (1988), 157 (179 ff.); Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 533, 537 f.; mittlerweile hat sich auch die Rechtslage im Vereinigten Königreich der effects doctrine deutlich angenähert, vgl. Section 2(3) UK Competition Act (1998): „Subsection (1) applies only if the agreement, decision or practice is, or is intended to be, implemented in the United Kingdom.“ Siehe hierzu etwa Basedow, The Law of Open Societies, 2015, Rn. 758; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 265 f. 111 Es ist allgemein anerkannt, dass für eine Anknüpfung auf Grundlage des Auswirkungsprinzips zur Vermeidung einer ausufernden exterritorialen Kartellrechtsanwendung nicht beliebige Wirkungen genügen, sondern vielmehr qualifzierte Auswirkungen erforderlich sind, wobei die „Qualifzierung“ der erforderlichen Auswirkungen über verschiedene Ansätze erfolgt; siehe näher hierzu etwa Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1555 ff.; Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, 529 f.; vgl. auch EuGH 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, Intel, EU:C:2017:632, Rn. 49. 109
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Die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden wird folglich – unabhängig davon, wo gehandelt wurde, sowie unabhängig von der Staatsangehörigkeit bzw. dem Unternehmenssitz der Delinquenten – dort begründet, wo das betreffende wettbewerbsbeschränkende Verhalten hinreichende Auswirkungen zeitigt, um nach dem jeweiligen nationalen Kartellverfahrensrecht die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörde zu begründen. Beteiligen sich etwa deutsche Unternehmen an einem Preiskartell über Waren, die im Baltikum vermarktet werden und bewirkt diese Absprache in der Folge auf dem litauischen, lettischen sowie estnischen Markt eine Verfälschung des Wettbewerbs, so reicht dies zuständigkeitsrechtlich mangels Inlandswirkung nicht aus, um vonseiten des Bundeskartellamtes ein Kartellverfahren wegen Zuwiderhandlung gegen das unionsrechtliche Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV einzuleiten.113 Hinsichtlich der litauischen, lettischen und estnischen Wettbewerbsbehörde stellt sich im gebildeten Beispielsfall – vorausgesetzt die Auswirkungen des Kartells sind dort jeweils signifikant genug, um die Zuständigkeit der Behörde nach dem einzelstaatlichen Kartellverfahrensrecht zu begründen – die nachgelagerte Frage, welche Wettbewerbsbehörde(n) den Fall tatsächlich verfolgen sollte(n): Eine einzige, parallel zwei, oder alle drei der genannten Wettbewerbsbehörden oder aber die Europäische Kommission? Damit stellt sich die Frage nach der Fallallokation im Europäischen Wettbewerbsnetz. bb) Fallallokation im Europäischen Wettbewerbsnetz Die tatsächliche Ausübung der internationalen Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden wird durch die Grundsätze über die Fallverteilung im Europäischen Wettbewerbsnetz einer flexiblen und pragmatischen Abstimmung unterzogen.114 Diese Grundsätze sind nicht in der Kartellverfahrensverordnung fixiert, auch wenn sich ihren Erwägungsgründen einige Anhaltspunkte entnehmen lassen: So sollen die Europäische Kommission und die natio112 Grundlegend zur Vermutung für die vökerrechtliche Zulässigkeit exterritorialer Regelungsanknüpfung StIGH, 7.9.1927, The Case of the S.S. “Lotus” (France v. Turkey), PCIJ series A no. 10, S. 18 f.; siehe dazu unter dem Blickwinkel des internationalen Wettbewerbsrechts die Schlussanträge von GA Darmon 25.5.1988 – Rs. C-89/85, Ahlström Osakeyhtiö (Zellstoff I), EU:C:1988:258, Rn. 23–29; aus dem Schrifttum etwa Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1550 ff.; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 65 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 267 f. 113 Vgl. Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 32; Stadler, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 130 GWB Rn. 134, 245. 114 Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 11 VO 1/2003 Rn. 91 f.; Kallfaß, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 11 VO 1/2003 Rn. 9.
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nalen Wettbewerbsbehörden gemeinsam ein Netz bilden,115 in dem nach Möglichkeit jeder Fall von nur einer Wettbewerbsbehörde bearbeitet wird116 und in dem sich die Kommission auf die Verfolgung der schwerwiegendsten Verstöße konzentriert.117 Im Übrigen beschränkt sich die Kartellverfahrensverordnung auf einzelne Regelungen zum Zusammenwirken von Europäischer Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden.118 Nähere Kriterien für die Fallverteilung unter den Wettbewerbsbehörden ergeben sich erst aus der durch die Kommission auf Grundlage der Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission119 erlassenen Netzwerkbekanntmachung.120 Im Ausgangspunkt sind hiernach drei verschiedene Optionen hinsichtlich der Arbeitsteilung im Wettbewerbsnetz denkbar: Ein Fall wird durch eine einzelne nationale Wettbewerbsbehörde bearbeitet (gegebenenfalls unterstützt durch andere nationale Wettbewerbsbehörden), ein Fall wird durch mehrere parallel agierende nationale121 Wettbewerbsbehörden bearbeitet oder aber die Bearbeitung eines Falles erfolgt durch die Europäische Kommission.122 Nach der Netzwerkbekanntmachung soll ein Fall möglichst nur einer Wettbewerbsbehörde zugeordnet werden und zwar einer „gut geeigneten“.123 In der Regel soll diejenige Wettbewerbsbehörde, die ein Verfahren einleitet, dieses auch zum Abschluss bringen. Eine Umverteilung soll nur zu Verfahrensbeginn in Erwägungsgrund 15 Kartellverfahrensverordnung: „Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sollen gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden. Zu diesem Zweck müssen Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt werden. Nähere Einzelheiten betreffend die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes werden von der Kommission in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten festgelegt und überarbeitet.“ 116 Erwägungsgrund 18 S. 2 Kartellverfahrensverordnung: „[…] Ziel ist es, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird.“ 117 Vgl. Erwägungsgrund 3 S. 2 Kartellverfahrensverordnung. 118 Siehe insbesondere die Regelungen in Art. 11–13 und Art. 22 VO Nr. 1/2003. 119 Vgl. Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommission (15435/02 ADD 1), Rn. 4: „Die Einzelheiten [über die Grundsätze der Arbeitsweise des Netzes] werden in einer Mitteilung der Kommission dargelegt, die in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten erstellt und gegebenenfalls aktualisiert wird.“ 120 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 5 ff.; eingehend zu den darin niedergelegten Grundsätzen der Fallallokation aus dem Schrifttum etwa Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz, 2006, 145 ff.; Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 149 ff.; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 133 ff.; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 33 ff.; Rodger, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 345 (348 ff.). 121 Ein paralleles Vorgehen der Kommission und einer mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde ist dagegen ausgeschlossen. Denn macht die Kommission von ihrem Evokationsrecht aus Art. 11 Abs. 6 VO Nr. 1/2003 Gebrauch, entfällt automatisch die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. 122 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 5. 123 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 6 ff. 115
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Betracht kommen und innerhalb einer „Umverteilungsfrist“ von zwei Monaten nach der erstmaligen Unterrichtung des Netzes gemäß Art. 11 Abs. 3 VO Nr. 1/2003 erfolgen. Eine Umverteilung kommt in Betracht, wenn die zunächst befasste Behörde zu dem Schluss gelangt, dass sie nicht „gut geeignet“ ist, sich des Falles anzunehmen, oder sich andere Behörden ebenso für „gut geeignet“ erachten, um in dem Fall tätig zu werden.124 Als „gut geeignet“ gilt eine Wettbewerbsbehörde wenn drei kumulative Bedingungen erfüllt sind: Erstens, die betreffende Vereinbarung oder Verhaltensweise hat wesentliche unmittelbare tatsächliche oder absehbare Auswirkungen auf den Wettbewerb innerhalb des Hoheitsgebiets dieser Behörde.125 Zweitens, die Behörde kann die gesamte Zuwiderhandlung wirksam beenden, und drittens, sie kann die zum Nachweis der Zuwiderhandlung erforderlichen Beweise (gegebenenfalls mit Unterstützung anderer Behörden) erheben.126 Aus diesen Kriterien folgt nach der Netzwerkbekanntmachung, dass eine einzelne nationale Wettbewerbsbehörde im Regelfall „gut geeignet“ ist, sich Fällen anzunehmen, in denen die betreffende Vereinbarung oder Verhaltensweise hauptsächlich den Wettbewerb innerhalb ihres Hoheitsgebiets beeinträchtigt.127 Darüber hinaus soll das Vorgehen einer einzelnen nationalen Wettbewerbsbehörde auch dann in Betracht kommen, wenn dies ausreicht, um die gesamte Zuwiderhandlung zu beenden.128 Auch wenn das Ziel besteht, jeden Fall nur einer Behörde zuzuordnen,129 so ist ein paralleles Vorgehen mehrerer Behörden dennoch nicht ausgeschlossen. Das parallele Vorgehen von zwei oder gar drei nationaler Wettbewerbsbehörden kann nach der Netzwerkbekanntmachung angemessen sein, wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise hauptsächlich in den betreffenden Hoheitsgebieten wesentliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hat und das Vorgehen nur einer Behörde nicht ausreichen würde, um die gesamte Zuwiderhandlung zu beenden bzw. zu ahnden.130 Bei einem parallelen Vorgehen sollen sich die befassten Behörden darum bemühen, ihr Vorgehen so weit wie möglich untereinander abzustimmen, wobei es zweckdienlich sein kann, eine von ihnen als federführende Behörde zu bestimmen und dieser bestimmte (Koordinierungs-)Aufgaben zu übertragen.131 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 6, 18. Dieses Kriterium ist freilich regelmäßig bereits Voraussetzung dafür, dass nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Kartellverfahrensrecht die internationele Zuständigkeit der betreffenden nationalen Wettbewerbsbehörde gegeben ist; dazu supra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa). 126 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 8. 127 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 10. 128 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 11. 129 Erwägungsgrund 18 Kartellverfahrensverordnung: „[…] Ziel ist es, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird.“ 130 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 12. 131 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 13. 124 125
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Die Europäische Kommission erfüllt die drei oben genannten Kriterien einer „guten Geeignetheit“ zwar naturgemäß stets,132 soll sich aber aus Effektivitätsgesichtspunkten auf die Verfolgung der schwerwiegendsten Verstöße konzentrieren. Sie ist daher nach der Netzwerkbekanntmachung „besonders gut geeignet“, sich eines Falles anzunehmen, wenn die betreffende Vereinbarung oder Verhaltensweise in mehr als drei Mitgliedstaaten Auswirkungen auf den Wettbewerb hat, wenn eine enge Verknüpfung mit anderen Unionsbestimmungen besteht, die ausschließlich oder effizienter von der Kommission angewandt werden können, oder wenn das Unionsinteresse eine Entscheidung der Kommission erfordert, um die Wettbewerbspolitik weiterzuentwickeln, neue Wettbewerbsfragen zu klären oder eine wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln sicherzustellen.133 Für die Fallverteilung im gebildeten Beispielsfall eines Preiskartells über Waren, die im Baltikum vermarktet werden und auf dem litauischen, lettischen und estnischen Markt den Wettbewerb verfälschen,134 kann nach dem Vorgesagten Folgendes angenommen werden: Es ist zwar nicht ausgeschlossen, aber nach den Kriterien der Netzwerkbekanntmachung unwahrscheinlich, dass sich die Europäische Kommission durch Ausübung ihres Evokationsrechts nach Art. 11 Abs. 6 VO Nr. 1/2003 des Falles annehmen wird, da die Preisabsprache in nicht mehr als drei Mitgliedstaaten Auswirkungen auf den Wettbewerb hat.135 In Bezug auf ein Tätigwerden der nationalen Wettbewerbsbehörden ist im Ausgangspunkt sowohl denkbar, dass nur eine der drei Wettbewerbsbehörden tätig wird, als auch, dass zwei oder gar alle drei der genannten Wettbewerbsbehörden tätig werden. Dies hängt nach den Kriterien der Netzwerkbekanntmachung entscheidend davon ab, ob das alleinige Vorgehen einer nationalen Wettbewerbsbehörde voraussichtlich ausreichen wird, um die gesamte Zuwiderhandlung zu beenden bzw. zu ahnden. Letzteres hängt wiederum auch von der Frage nach der territorialen Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ab: Sind diese befugt, Auswirkungen eines kartellrechtlich relevanten Verhaltens auf mitgliedstaatlichen Auslandsmärkten in ihre Beurteilung miteinzubeziehen und das Verhalten auch insoweit zu untersagen und zu ahnden? Oder sind die nationalen Wettbewerbsbehörden vielmehr darauf beschränkt, die Auswirkungen im Inland zu unterbinden und zu ahnden?
Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 11 VO 1/2003 Rn. 103; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 107. 133 Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 14 f. 134 Siehe supra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa). 135 Vgl. Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 14. 132
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cc) Territoriale Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit Von der Frage nach der territorialen Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden gilt es zunächst die Frage nach dem Geltungsbereich von Entscheidungen und Sanktionen der nationalen Wettbewerbsbehörden zu unterscheiden. Der Geltungsbereich von Verwaltungsakten umschreibt das Gebiet, in dem ein Verwaltungsakt beachtet werden muss und gegebenenfalls mit Staatsgewalt durchgesetzt werden kann (vgl. in völkerrechtlicher Terminologie auch die sog. jurisdiction to enforce).136 Herkömmlich gilt ein Verwaltungsakt nur in dem Staat, dessen Behörde den Verwaltungsakt erlassen hat. Der Geltungsbereich eines Verwaltungsaktes deckt sich also grundsätzlich mit dem Staatsgebiet.137 Dieser Grundsatz gilt, wie an späterer Stelle ausgeführt wird, selbst für die unter der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 erlassenen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden nach wie vor fort.138 Hier soll es dagegen um die Frage gehen, ob die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden – auch wenn ihre Entscheidungen nur im Inland gelten – befugt sind, ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten auch insoweit zu untersagen und zu ahnden, als dieses über das eigene Staatsgebiet hinaus Wirkungen entfaltet. Es geht mithin um eine Umgrenzung der Sachverhalte, die von einer Entscheidung oder Sanktion umfasst sein können, und damit um eine Frage des territorialen Regelungsbereichs (vgl. in völkerrechtlicher Terminologie auch die sog. jurisdiction to prescribe).139 136 Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 69 f.; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 55 f.; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 28, 93 f.; Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, 11; K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 15; Vogel spricht dagegen statt von „Geltungsbereich“ vom „intransitiven Anwendungsbereich“, Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, 2. 137 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (398); Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 151; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 29, 93 f.; K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 15 ff.; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 299; Bleckmann, JZ 1985, 1072 (1073); die Monopolkommission spricht von „dem Hauptprinzip des internationalen Verwaltungsrechts“, Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 32: Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, 2002, Rn. 61. 138 Näher dazu infra Kapitel 3 A. V. 1. 139 Zur Unterscheidung von Geltungs- und Regelungsbereich Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, 10 ff.; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 55 f.; der Begriff „Anwendungsbereich“ wird vermieden, da er mitunter auch im Sinne des beschriebenen „Geltungsbereichs“ verwendet wird; zumeist wird der Begriff „Anwendungsbereich“ aber im Sinne des hier beschriebenen „Regelungsbereichs“ verstanden, so etwa von Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 69 f.; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 28, 93; K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 15; dagegen spricht Vogel inso-
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Die Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 schweigt zur Frage der territorialen Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. Ganz überwiegend wird aus diesem Schweigen und aus völkerrechtlichen Grundsätzen gefolgert, dass die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden auf das jeweilige Hoheitsgebiet beschränkt bleibt.140 Dieser Auffassung ist offensichtlich auch die Europäische Kommission.141 Nach zum Teil vertretener gegenteiliger Auffassung soll den nationalen Wettbewerbsbehörden dagegen mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 eine exterritoriale Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit verliehen worden sein, von der auch verpflichtend Gebrauch zu machen sei.142 Angeführt wird, dass eine effektive Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die nationalen Wettbewerbsbehörden nur gewährleistet sei, wenn diesen auch exterritoriale Befugnisse zur Untersagung und Ahndung eingeräumt seien.143 Das gegenteilige Verständnis konterkariere das ausdrückliche Ziel der Kartellverfahrensverordnung, dass jeder Fall möglichst nur von einer Behörde bearbeifern vom „transitiven Anwendungsbereich“, Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, 2. 140 Gerard, in: Lianos / Geradin, 2013, 181 (218); Smits, Legal Issues of Economic Integration 32 (2005), 175 (184 f.); Dekeyser / Gauer, in: Hawk, 2005, 549 (575, 584); Paulis / Gauer, Concurrences N° 1-2005, 32 (33 f.); Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (328); Riley, E.C.L.R. 2003, 657 (665); Burnside / Crossley, European Law Review 2005, 234 (243); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 169; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 26; Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 6; Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 8 f.; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 58; Temple Lang, in: Hawk, 2006, 265 (306). 141 Vgl. das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 161, in dem die Europäische Kommission davon ausgeht, dass die Entscheidungen mehrerer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden zum selben Kartellrechtsverstoß Bindungswirkung entfalten können, womit die Kommission ersichtlich von einer territorial beschränkten Entscheidungszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz ausgeht; ebenso Drexl / Conde Gallego / Enchelmaier / Mackenrodt / Podszun, IIC 2008, 799 (804). 142 Wils, Principles of European Antitrust Enforcement, 2005, 37; Brammer, Cooperation between National Competition Agencies, 2009, 437 ff.; Pignataro, Contratto e Impresa / Europa 8 (2003), 233 (264); Klees, WuW 2006, 1222 (1227); Soltész / Marquier, EuZW 2006, 102 (105 ff.); Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (244); Roesen, Mehrfache Sanktionen im internationalen und europäischen Kartellrecht, 2009, 316 ff. 143 Wils, Principles of European Antitrust Enforcement, 2005, 37; Roesen, Mehrfache Sanktionen im internationalen und europäischen Kartellrecht, 2009, 317; Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (244).
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tet wird.144 Die nationalen Wettbewerbsbehörden seien daher nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV befugt und verpflichtet, wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen auf mitgliedstaatlichen Auslandsmärkten in ihre Beurteilung miteinzubeziehen und das betreffende Verhalten auch insoweit zu unterbinden und zu ahnden.145 So sehr die angeführten Argumente aus rechtspolitischer Sicht auch für die Verleihung exterritorialer Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse streiten mögen, so kann das Fehlen einer diesbezüglichen Regelung in der Kartellverfahrensverordnung doch vernünftigerweise nur so verstanden werden, dass die bestehenden, auch aus dem Völkerrecht fließenden Grenzen bei der Verfolgung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen durch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden auch im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes beibehalten bleiben.146 Bei der Inanspruchnahme des in den Mitgliedstaaten fest verankerten Auswirkungsprinzips ist anerkannt, dass eine Begrenzung des Rechtsfolgenausspruchs auf die Inlandswirkungen auch völkerrechtlich geboten erscheint.147 Denn wenn es gerade die Inlandswirkungen sind, die den Anwendungsbereich des eigenen Kartellrechts eröffnen und damit die Zuständigkeit der eigenen Wettbewerbsbehörde erst begründen, so ist das legitime Interesse des Auswirkungsstaates auch auf die Beseitigung dieser Inlandswirkungen begrenzt.148 Eine solche Beschränkung entspricht auch der ständigen Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz: So wurden etwa im (äußerst seltenen) Fall eines parallelen Vorgehens zweier Wettbewerbsbehörden gegen ein und desselben Kartellverstoß, und zwar gegen das Benzyl-Butyl-Phthalat (BBP)-Kartell, sowohl durch das deutsche Bundeskartellamt als auch den ehemaligen belgischen Conseil de la Concurrence Bußgelder verhängt. Bei der Bemessung wurden jeweils ausdrücklich nur diejenigen Kartellfolgen berücksichtigt, die 144 Vgl. Erwägungsgrund 18 S. 2 Kartellverfahrensverordnung; siehe die Argumentation bei Klees, WuW 2006, 1222 (1227); Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 438; Pignataro, Contratto e Impresa / Europa 8 (2003), 233 (264); Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (244 Fn. 37). 145 Wils, Principles of European Antitrust Enforcement, 2005, 37; Pignataro, Contratto e Impresa / Europa 8 (2003), 233 (264). 146 Dekeyser / Gauer, in: Hawk, 2005, 549 (575); Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 58; Riley, E.C.L.R. 2003, 657 (665); Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 14. 147 Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1578; Wagner-von Papp, in: Tietje, 2. Aufl. 2015 (§ 11 Rn. 70); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 163 f.; vgl. auch K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 171, 231 f.; Baetge, Globalisierung des Wettbewerbsrechts, 2009, 283 ff. 148 Wagner-von Papp / Wurmnest, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1578.
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im Inland eingetreten sind.149 Der zweitentscheidende belgische Conseil de la Concurrence hat – unter Würdigung des Grundsatzes ne bis in idem – ausdrücklich klargestellt, dass er allein die Kartellfolgen auf dem belgischen Markt zu berücksichtigen befugt ist.150 Festzuhalten bleibt, dass die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden auf das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates beschränkt ist. Im Gegensatz hierzu – darauf sei an dieser Stelle bereits hingewiesen – sind die international zuständigen mitgliedstaatlichen Zivilgerichte grundsätzlich umfassend kognitionsbefugt, sie können Delinquenten also auch zum Ersatz solcher Schäden verurteilen, die durch Auswirkungen außerhalb des Forumstaates entstanden sind.151 b) Durchsetzungsinstrumentarium aa) Entscheidungstypen Während das bei der Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die nationalen Wettbewerbsbehörden anzuwendende Verfahrensrecht von der Kartellverfahrensverordnung weitgehend ungeregelt bleibt und in der Folge der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterliegt,152 zählt Art. 5 VO Nr. 1/2003 die verschiedenen Entscheidungstypen auf, derer sich die nationalen Wettbewerbsbehörden zur Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV bedienen können. Die aufgezählten Entscheidungstypen entsprechen mit Ausnahme des Erlasses von Nichtanwendbarkeitsentscheidungen (vgl. Art. 10 VO Nr. 1/2003) den der Kommission eingeräumten Entscheidungsbefugnissen: So können die nationalen Wettbewerbsbehörden entsprechend der Kommissionsbefugnis aus Art. 7 VO Nr. 1/2003 Entscheidungen erlassen, mit denen die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird (Art. 5 erster Spiegelstrich VO Nr. 1/2003), entsprechend Art. 8 VO Nr. 1/2003 einstweilige Maßnahmen anordnen (Art. 5 zweiter Spiegelstrich VO Nr. 1/ Siehe dazu das Commission staff working paper accompanying the Communication from the Commission to the European Parliament and Council – Report on the functioning of Regulation 1/2003, SEC(2009) 574 final, Rn. 223; Gerard, in: Lianos / Geradin, 2013, 181 (218). Die Beschränkung auf Inlandswirkungen bei der Ahndung von Verstößen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden ist offenbar auch Gegenstand einer Übereinkunft der Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz, so Paulis / Gauer, Concurrences N° 12005, 32 (34); Soltész / Marquier, EuZW 2006, 102 (105); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 169 Fn. 541; Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 437. 150 Conseil de la concurrence 4.4.2008, Décision n°2008-I/O-13, CONC-I/O-04/0051, BBP, Rn. 67. 151 Näher zur internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten infra Kapitel 1 A. II. 3 a). 152 Dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. 149
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2003) und entsprechend Art. 9 VO Nr. 1/2003 Entscheidungen erlassen, mit denen Verpflichtungszusagen für bindend erklärt werden (Art. 5 dritter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003). Die Befugnis, im Einzelfall den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellung zu entziehen, folgt für die nationalen Wettbewerbsbehörden aus Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003.153 Im Falle der Nichtuntersagung sind die nationalen Wettbewerbsbehörden nach Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 indes nur befugt zu entscheiden, dass für sie „kein Anlass besteht, tätig zu werden.“ Mit diesem Entscheidungstenor wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass vonseiten der Wettbewerbsbehörde aus Rechts- oder aus Opportunitätsgründen keine weiteren Maßnahmen beabsichtigt werden und das Verfahren geschlossen wird. Der Tenor enthält also keine förmliche Feststellung der Rechtmäßigkeit der geprüften Vereinbarung oder Verhaltensweise.154 Eine Nichtanwendbarkeitsentscheidung, nach der eine bestimmte Vereinbarung oder Verhaltensweise nicht gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln verstößt, bleibt den nationalen Wettbewerbsbehörden damit verwehrt.155 Wie bereits erwähnt,156 sind Nichtanwendbarkeitsentscheidungen im System der dezentralen Kartellrechtsanwendung der Kommission vorbehalten,157 wodurch eine Gestaltung der Wettbewerbspolitik durch die Kommission und damit eine möglichst kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln in den Mitgliedstaaten gewährleistet werden soll.158 Der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von Entscheidungen bereits unmittelbar aus Art. 5 VO Nr. 1/2003 ergibt oder ob die dort aufgezählten Entscheidungstypen vielmehr der Umsetzung in das einzelstaatliche Kartellverwaltungsrecht bedürfen und die Aufzählung nur als rechtlicher Rahmen der Entscheidungen der nationalen Wett153 Näher zu den einzelnen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden und zur Frage ihrer Bindungswirkung im Zivilprozess infra Kapitel 2 B. II. 1 b) bb). 154 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 12; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 35 ff.; dementsprechend können derartige Entscheidungen bei Unternehmen auch kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass ihr Verhalten nicht gegen die Art. 101 und 102 AEUV verstößt, EuGH 18.6.2013, Rs. C-681/11, Schenker & Co., EU:C:2013:404, Rn. 42. 155 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 22 ff.; kritisch hierzu Brammer, CML Rev. 49 (2012), 1163 (1169 ff.); Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (242 ff.). 156 Siehe supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 157 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 24, 29. 158 Siehe Erwägungsrund 14 VO Nr. 1/2003, wonach eine Nichtanwendbarkeitsentscheidung der Kommission ergehen kann „um die Rechtslage zu klären und eine einheitliche Rechtsanwendung in der Gemeinschaft sicherzustellen“; siehe hierzu EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 24 ff.; aus dem Schrifttum Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 15; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 38; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 16.
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bewerbsbehörden zu verstehen ist, soll in Kapitel 2, das sich unter anderem den verschiedenen Typen von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden widmet, nachgegangen werden.159 bb) Sanktionstypen Die Sanktionierung von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV durch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden ist – abgesehen von der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zu gewährleisten160 – weder unionsrechtlich geregelt noch harmonisiert. Art. 5 vierter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003 lässt den Mitgliedstaaten einen weiten Regelungsspielraum, indem die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden hiernach Entscheidungen erlassen können, mit denen Geldbußen, Zwangsgelder und „sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.“161 Die nationalen Kartellsanktionsrechte weisen denn auch, ungeachtet zunehmender Konvergenz, teils grundlegende Unterschiede auf.162 Hieraus folgt, dass im System paralleler Zuständigkeiten die Europäische Kommission und die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden zwar dieselben materiellen Verbotstatbestände durchsetzen, hierbei jedoch nicht nur unterschiedliche Verfahren sondern auch verschiedene Sanktionen zur Anwendung kommen können.163 II. Private Durchsetzung (private enforcement) Die verfahrensmäßige Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln obliegt nicht allein der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden als öffentlichen Durchsetzungsagenten. Die Durchsetzung des Kartellrechts ist auch in die Hände Privater gelegt. Private tragen mittels der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen vor den Zivilgerichten zur Infra Kapitel 2 B. II. 1. b) aa). Zu den Grenzen einer möglichen Harmonisierung der Sanktionsrechte der Mitgliedstaaten über den Effektivitätsgrundsatz Harnos, ZWeR 2016, 284 (284 ff.). 161 Vgl. statt aller nur Dunne, CML Rev. 53 (2016), 453 (458): „Regulation 1/2003 engages in only light touch harmonization of domestic procedural rules, including rules on sanctions.“ 162 Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 16, Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 14 f.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 35 ff. 163 Frese, Sanctions in EU Competition Law, 2014, 11; Cseres, Competition Law Review 6 (2010), 145 (155); Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EUWettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 14. 159 160
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Durchsetzung der Kartellverbotsnormen bei (private enforcement).164 Der Begriff der privaten Kartellrechtsdurchsetzung bzw. des private enforcement verleitet zwar leicht dazu, die Indienstnahme privater Kläger im Interesse der allgemeinen Wettbewerbsordnung einseitig zu betonen, ohne das zwittrige Wesen der Geltendmachung von Wettbewerbsverstößen im Zivilprozess hinreichend zu würdigen,165 dient die Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen durch Private im Zivilprozess doch zunächst und zuvörderst dem Individualrechtsschutz, im Falle von Schadensersatzklagen im Wege der Kompensation erlittener Schäden.166 Daneben fungiert der Einzelne in der 164 Unter den Begriff des private enforcement ist nicht schon jedes durch einen Privaten veranlasste Vorgehen gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu fassen; hierzu wäre bereits das Tätigwerden einer Wettbewerbsbehörde auf private Beschwerde hin zu zählen („privately triggered public enforcement“, so Jacobs / Deisenhofer, in: Ehlermann / Atanasiu, 2003, 187 (197)). Für die Abgrenzung zwischen public und private enforcement ist daher nicht auf den Veranlasser eines Vorgehens gegen Wettbewerbsbeschränkungen abzustellen, sondern auf das zur Anwendung kommende Durchsetzungsinstrumentarium (hoheitliche Verfügung / Sanktion vs. zivilrechtliche Geltendmachung / Klage); vgl. Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 18; Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 1 f.; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 106 f. Fn. 325; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 21. 165 Vgl. Basedow, in: Basedow, 2007, 1 (2); vgl. auch GA Jääskinen 7.2.2013 – Rs. C536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:67, Rn. 48: „Aus wettbewerbspolitischer Sicht berührt die vorliegende Rechtssache die Diskussion über die sogenannte private Durchsetzung der Wettbewerbsregeln. Anders als in den USA ist der Begriff hier vielleicht nicht ganz passend, da es im Wettbewerbsrecht der Union Rechtsinstitute wie ‚pre-trial discovery‘ (Offenlegung vor der Verhandlung), ‚class actions‘ (Klage im Interesse einer Gruppe) und ‚punitive damages‘ (Strafe einschließender Schadensersatz) nicht gibt. Die in der Union durch Wettbewerbsbeschränkungen Geschädigten sind meines Erachtens – vielleicht im Unterschied zu Geschädigten in den USA – einfach nur um Rechtsschutz für ihre privatrechtlichen Ansprüche und nicht um die Durchsetzung öffentlicher Politik bemüht.“ 166 Wils, World Competition 32 (2009), 3 (12 ff.); Nebbia, E.L. Rev. 33 (2008), 23 (23 ff.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 57 ff.; Becker, in: Augenhofer, 2009, 15 (19, 24 ff.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 114 f.; Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (142); anders das private enforcement im US-amerikanischen Antitrust-Recht, das dem Primat der Abschreckungswirkung folgt; siehe nur H. Buxbaum, in: Basedow, 2007, 41 (44): „Of the goals served by private enforcement […] deterrence has emerged as paramount in the U.S. system“; Baker, Loy. Consumer L. Rev. 16 (2004), 379 (382): „The core, modern rationale for treble damages must be deterrence.“ Auch die Kommission folgte im Gesetzgebungsprozess zur Kartellschadensersatzrichtlinie letzten Endes einer primär dem Individualrechtsschutz verpflichteten Konzeption (vgl. Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 3: „Wichtigstes Leitprinzip ist […] das Ziel einer vollständigen Entschädigung.“), während sie zuvor noch die von Schadensersatzklagen ausgehende Abschreckungswirkung besonders betont hatte (vgl. Kommission, Grünbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672 endgültig, 3: „The antitrust rules in Articles 81 and 82 of the Treaty are enforced both by
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privaten Kartellrechtsdurchsetzung aber durchaus auch als private attorney general,167 sprich als privater „Sachwalter von Allgemeinbelangen“168, indem er neben seinen Einzelinteressen, die ihn zur zivilgerichtlichen Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen motivieren, zugleich auch im Allgemeininteresse handelt.169 Das Privatrechtssubjekt vereint im Rahmen der Normdurchsetzung damit in sich private wie auch öffentliche Funktionen.170 Die zum Individualrechtsziel als Nebeneffekt hinzutretende Abschreckungswirkung, die in der Breitenwirkung gerade von Schadensersatzklagen als einem Mittel der Wettbewerbsaufsicht erhofft wird,171 lässt damit das für das Kartellprivatrecht charakteristische Zwitterwesen zwischen Zivil- und Wirtschaftsrecht deutlich zu Tage treten.172
public and private enforcement. Both forms are part of a common enforcement system and serve the same aims: to deter anti-competitive practices“); zu dieser Akzentverschiebung bei der Gewichtung der Durchsetzungsziele Silva Morais, in: Lowe / Marquis, 2014, 109 (112 f.); Bien, NZKart 2013, 481 (481); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 72 ff.; Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 946 (947); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 115 Fn. 362. 167 Der Begriff des private attorney general wurde eingeführt durch den Ausspruch des Judge Jerome Frank in der Entscheidung des U.S. Court of Appeals Associated Industries of New York State, Inc. v. Ickes, 134 F.2d 694, 704 (2d Cir. 1943); näher zur Bedeutung und Funktion der Figur des private attorney general etwa Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, 54 f.; Rubinstein, Vand. L. Rev. 57 (2004), 2129 (2129 ff.); R. Buxbaum, Die private Klage als Mittel zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Rechtsnormen, 1972, passim; kritisch zu diesem Begriff im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Kartellverstößen vor den Zivilgerichten Möschel, WuW 2006, 115 (115): „Ein privates Unternehmen agiert nicht als ‚public attorney‘. Es verfolgt eigene Interessen und nichts anderes.“ Dem beipflichtend K. Schmidt, ZWeR 2010, 15 (33). 168 Hess, JZ 2011, 66 (67). 169 Vgl. EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 91; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 19; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 42; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 23; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 23. 170 Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, 54; Rubinstein, Vand. L. Rev. 57 (2004), 2129 (2131). 171 Vgl. bereits K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen der Gesetzgebung im Kartelldeliktsrecht, 1978, 13; ferner Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (458); van den Bergh, Maastricht J. of European and Comparative L. 20 (2013), 12 (14); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490); Zimmer / Höft, ZGR 2009, 662 (663 f.); vgl. auch die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 35: „Der Schadensersatzanspruch […] wird gegenüber dem geltenden Recht aufgewertet, um einen wirksamen Ausgleich für den Geschädigten sicherzustellen und zugleich den abschreckenden Effekt zu verstärken“ (Hervorhebungen nur hier). 172 Basedow, ZWeR 2006, 294 (304); siehe zum Kartellrecht als Bestandteil des Wirtschaftsrechts und zu seiner besonderen Stellung zwischen Privatrecht und öffentlichem
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1. Dezentrale Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die nationalen Zivilgerichte Die mitgliedstaatlichen Gerichte werden in Art. 6 VO Nr. 1/2003 für „zuständig“ erklärt, die Art. 101 und 102 AEUV anzuwenden. Als Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung fungieren die mitgliedstaatlichen Gerichte, vor denen Parteien die sich aus Kartellrechtsverstößen erwachsenden zivilrechtlichen Ansprüche geltend machen.173 Daneben spielen die mitgliedstaatlichen Gerichte auch im Rahmen der öffentlichen Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln eine Rolle,174 und zwar entweder als Gerichte, die in einem Mitgliedstaat zur funktional agierenden nationalen „Wettbewerbsbehörde“ bestimmt worden sind,175 oder aber als Gerichte, die über Rechtsbehelfe gegen die von den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden erlassenen Verfügungen und Sanktionen zu entscheiden haben.176 Die hier interessierende Rolle der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte als Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung folgt ungeachtet der klarstellenden Regelung in Art. 6 VO Nr. 1/2003 bereits aus der unmittelbaren Wirkung und dem individualschützenden Charakter der europäischen Wettbewerbsregeln sowie aus den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität, welche die VerRecht K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169 (169 ff.); K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977, 88 ff. 173 Die Rolle der nationalen Gerichte als Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung wird in Erwägungsgrund 7 der VO Nr. 1/2003 besonders hervorgehoben, indem es dort heißt: „Die einzelstaatlichen Gerichte erfüllen eine wesentliche Aufgabe bei der Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln. In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen schützen sie die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden subjektiven Rechte, indem sie unter anderem den durch die Zuwiderhandlung Geschädigten Schadenersatz zuerkennen“; zum deutschen Sonderprozessrecht der §§ 87 GWB ff. für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten in Kartellsachen, das unter anderem eine ausschließliche sachliche Zuständigkeit zugunsten der Landgerichte statuiert (§ 87 S. 1 GWB), K. Schmidt, ZWeR 2007, 394 (394 ff.). 174 Siehe dazu nur Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (314 f.); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 59 f.; von der Regelung in Art. 6 VO Nr. 1/2003 werden alle einzelstaatlichen Gerichte i. S. v. Art. 267 AEUV erfasst, unabhängig von ihrer Stellung im Jusitzsystem, Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 6 VO 1/2003 Rn. 2; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 6 VO 1/2003 Rn. 1. 175 Vgl. Art. 35 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003. 176 Gegen Verfügungen der deutschen Kartellbehörden ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO durch die abdrängende Sonderzuweisung in § 63 Abs. 1 und 4 GWB zugunsten der Oberlandesgerichte ausgeschlossen; in der Sache handelt sich beim Kartellbeschwerdeverfahren nach den §§ 63 ff. GWB aber um (besondere) Verwaltungsstreitverfahren, Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 42 Rn. 5; K. Schmidt, in: FS Selmer, 2004, 499 (500); Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1708; siehe dazu auch infra Kapitel 2 B. I. 2.
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Kapitel 1 – Grundlagen
fahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln überlagern.177 a) Unmittelbare Wirkung und individualschützender Charakter der europäischen Wettbewerbsregeln Mit dem Unionsrecht wurde bekanntlich eine eigenständige supranationale Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.178 Wesentliches Merkmal der so verfassten Rechtsordnung ist – neben ihrem Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten179 – die unmittelbare Wirkung zahlreicher ihrer Bestimmungen.180 Wie der Europäische Gerichtshof in der grundlegenden Entscheidung van Gend & Loos181 aus dem Jahr 1963 erstmals klarstellte, sind Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung neben den Mitgliedstaaten auch die Einzelnen, denen das Unionsrecht, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleiht.182 Der Begriff der unmittelbaren Wirkung bringt das direkte Einwirken von Unionsrechtsnormen auf innerstaatliche Rechtsverhältnisse zum Ausdruck, ohne dass es für deren Geltung eines innerstaatlichen Vollzugsaktes bedarf.183 Für den Einzelnen hat die unmittelbare Wirkung zur Folge, dass er sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf die sich aus dem Unionsrecht ergebenden subjektiven184 Rechte berufen kann.185 Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung einer Primärrechtsnorm ist nicht zwingend eine Vgl. nur Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 6 VO 1/2003 Rn. 1; Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 6 VO 1/2003 Rn. 1; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 75. 178 Grundlegend EuGH 15.7.1964, Rs. C-6/64, Costa / E.N.E.L., EU:C:1964:66, 1259 (1269); EuGH 13.2.1969, Rs. C-14/68, Walt Wilhelm, EU:C:1969:4, Rn. 6. 179 EuGH 15.7.1964, Rs. C-6/64, Costa / E.N.E.L., EU:C:1964:66, 1259 (1269 f.). 180 EuGH 14.12.1991, Gutachten 1/91, EU:C:1991:490, Rn. 21; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 25. 181 EuGH 5.2.1963, Rs. C-26/62, Van Gend & Loos, EU:C:1963:1. 182 EuGH 5.2.1963, Rs. C-26/62, Van Gend & Loos, EU:C:1963:1, S. 25. 183 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 26; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, 60. Ergänzungslieferung 2016, Art. 1 AEUV Rn. 68. 184 Zur Unterscheidung zwischen unmittelbarer subjektiver Wirkung des Unionsrechts (Berechtigung und Verpflichtung Einzelner) und unmittelbarer objektiver Wirkung des Unionsrechts (als Maßstabs- und Auslegungsnorm) siehe Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, 16; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 26; eingehend zur Verleihung subjektiver Rechte durch das Unionsrecht Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (333 ff.). 185 EuGH 9.3.1978, Rs. C-106/77, Simmenthal, EU:C:1978:49, Rn. 14/16; aus dem Schrifttum siehe nur Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, 60. Ergänzungslieferung 2016, Art. 1 AEUV Rn. 69. 177
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ausdrückliche Anordnung, es genügt vielmehr eine eindeutige, klare und uneingeschränkte Verpflichtung eines Mitgliedstaates oder eines Einzelnen.186 Bezogen auf die europäischen Wettbewerbsregeln hat der Gerichtshof bereits im Jahr 1974 mit seiner Grundsatzentscheidung in der Sache BRT und SABAM (BRT-I)187 festgestellt, dass die heute in Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV niedergelegten Verbotstatbestände „ihrer Natur nach geeignet sind, in den Beziehungen zwischen einzelnen unmittelbare Wirkungen zu erzeugen“ und „unmittelbar in deren Person Rechte entstehen [lassen], welche die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben.“188 Ist eine Verbotsnorm mit unmittelbarer Wirkung ausgestattet und kann als solche durch den Einzelnen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten geltend gemacht werden, so sagt dies freilich noch nichts über die zivilrechtlichen Folgewirkungen von Verstößen gegen diese Verbotsnormen aus. Im Unionsrecht sind diese meist nur unvollständig oder gar nicht geregelt, beschränkt sich das Unionsrecht doch in der Regel auf die Normierung primärer Verhaltenspflichten.189 So findet sich auch in Bezug auf die europäischen Wettbewerbsregeln mit Art. 101 Abs. 2 AEUV, der die Nichtigkeit kartellrechtswidriger Vereinbarungen und Beschlüssen anordnet, nur eine punktuelle Regelung der Zivilrechtsfolgen. Im Übrigen, also etwa in Bezug auf die Rückabwicklung kartellrechtswidriger Rechtsgeschäfte oder in Bezug auf mögliche Ansprüche auf Unterlassung, Beseitigung, Belieferung und Schadensersatz, enthält das primäre Unionsrecht dagegen keine (ausdrücklichen) eigenen Regelungen.190 186 Grundlegend EuGH 5.2.1963, Rs. C-26/62, Van Gend & Loos, EU:C:1963:1, S. 24 ff.; aus dem Schrifttum statt aller Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 30. 187 EuGH 30.1.1974, Rs. C-127/73, BRT und SABAM (BRT-I), EU:C:1974:6. 188 EuGH 30.1.1974, Rs. C-127/73, BRT und SABAM (BRT-I), EU:C:1974:6, Rn. 16; seitdem ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH 10.7.1980, Rs. C-37/79, Marty, EU:C:1980:190, Rn. 13; EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91, Rn. 45; EuGH 18.3.1997, Rs. C-282/95 P, Guérin automobiles / Kommission, EU:C:1997:159, Rn. 39; EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 23; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 39; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013: 366, Rn. 21; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 20. In der der Entscheidung in der Sache BRT-I vorausgegangenen Bosch-Entscheidung hatte der Gerichtshof solche Vereinbarungen und Beschlüsse, die bereits vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 17/1962 bestanden hatten und dementsprechend nicht freigestellt werden konnten, noch im Interesse der Rechtssicherheit für „vorläufig gültig“ befunden, EuGH 6.4.1962, Rs. C-13/61, Bosch, EU:C:1962:11, 99 (119). 189 Weyer, ZEuP 1999, 424 (424); Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (337). 190 Weyer, ZEuP 1999, 424 (426 f.); Wurmnest, RIW 2003, 896 (896); Mäsch, EuR 2003, 825 (833); Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 1.
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Kapitel 1 – Grundlagen
b) Grundsatz der Verfahrensautonomie unter dem Vorbehalt der Äquivalenz und Effektivität In Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung sind die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des (zivil-)gerichtlichen Verfahrens, das die Durchsetzung der dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden subjektiven Rechte gewährleisten soll, Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten.191 Der damit zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der Verfahrensautonomie erfasst in der Sache auch die ergänzende Heranziehung der materiell-rechtlichen (Zivil-)Rechtsfolgen des innerstaatlichen Rechts.192 Anders als der Begriff der Verfahrensautonomie vermuten lassen könnte, beschränkt sich der Grundsatz keineswegs auf verfahrensrechtliche Bestimmungen im technischen Sinne. Vor dem Hintergrund der „unvollständigen“ Unionsgesetzgebung ist er sehr viel weiter und umfasst alle verfahrens- wie auch materiellrechtlichen Regelungen des innerstaatlichen Rechts, welche die Ausübung der unionsrechtlich garantierten Rechte betreffen.193 Aus der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten folgt jedoch keinesfalls, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Verfahrens zur Durchsetzung der unionsrechtlich garantierten Rechte wie auch bei der Ausgestaltung der Zivilrechtsfolgen völlig freie Hand haben. Ohne unionsrechtlichen Schutzmechanismus stünde zu befürchten, dass die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte im Wege einer allzu nachlässigen Ausgestaltung der nationalen Regelungen leerlaufen könnten. 194 Werden dem Einzelnen durch das UniGrundlegend EuGH 19.12.1968, Rs. C-13/68, Salgoil, EU:C:1968:54, S. 693; EuGH 16.12.1976, Rs. C-33/76, Rewe /Landwirtschaftskammer für das Saarland, EU:C:1976:188, Rn. 5; EuGH 16.12.1976, Rs. C-45/76, Comet, EU:C:1976:191, Rn. 11/18; in Bezug auf die Art. 101 und 102 AEUV siehe nur EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 29; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 62, 71, 77; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 25. 192 Vgl. etwa EuGH 10.7.1997, Rs. C-261/95, Palmisani, EU:C:1997:351, Rn. 27; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 64, 92; aus dem Schrifttum Weyer, ZEuP 1999, 424 (425); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 39; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 99; Wurmnest, German Law Journal 2005, 1173 (1177 f.). 193 Vgl. zum weiten unionsrechtlichen Begriff des „Verfahrensrechts“ Galetta, EuRBei 2012, 37 (37); Galetta, Procedural autonomy of EU member states: Paradise lost?, 2010, 1 f.; im englischsprachigen Schrifttum wird gegenüber dem Begriff der procedural autonomy daher auch der Begriff der remedial / procedural autonomy verwendet, so etwa von Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 147 Fn. 38; vgl. zum Ganzen auch Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 118 Fn. 372. 194 Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (40); Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 88; Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (337); Mäsch, EuR 2003, 825 (836). 191
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onsrecht subjektive Rechte verliehen, deren Durchsetzung das Unionsrecht selbst nicht regelt und die damit den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, so verpflichtet Art. 4 Abs. 3 EUV die Mitgliedstaaten, alle geeigneten Schritte zu unternehmen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.195 Ausdruck dieser allgemeinen Verpflichtung sind insbesondere der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz, welche die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie im Wege eines Mindeststandards auf gleichwertige und wirksame Rechtsbehelfe begrenzen.196 Nach diesem Doppelvorbehalt dürfen die nationalen Regeln nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei entsprechenden Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren197 (Effektivitätsgrundsatz).198 aa) Anforderungen des Äquivalenzgrundsatzes Der Äquivalenzgrundsatz setzt in der Sache voraus, dass eine innerstaatliche Regelung in gleicher Weise für Klagen gilt, die auf die Verletzung des UnionsWeyer, ZEuP 1999, 424 (441 f.); Weyer, ZEuP 2003, 318 (322) ; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 88; Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (40). 196 Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (337); die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten endet mit anderen Worten also dort, wo sich die Anwendung der nationalen Verfahrensvorschriften in diskriminierender Weise auf die Durchsetzung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auswirkt oder dessen Effektivität in Frage stellt, Rodríguez Iglesias, EuGRZ 1997, 289 (295); Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008, 154. 197 Während der Gerichtshof ursprünglich nur überprüft hat, ob die nationalen Regelungen die Verfolgung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte „unmöglich macht“ (siehe EuGH 16.12.1976, Rs. C-33/76, Rewe / Landwirtschaftskammer für das Saarland, EU:C: 1976:188, Rn. 5; EuGH 16.12.1976, Rs. C-45/76, Comet, EU:C:1976:191, Rn. 11/18), hat er später seinen Prüfungsmaßstab dahingehend verschärft, dass die nationalen Regelungen die Rechtsverfolgung auch nicht „übermäßig erschweren“ dürfen (ständige Rechtsprechung seit EuGH 9.11.1983, Rs. C-199/82, San Giorgio, EU:C:1983:318, Rn. 14); aus dem Schrifttum hierzu etwa Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, 2007, 14. 198 Grundlegend dazu die zeitgleichen Entscheidungen Rewe und Comet, in denen der Gerichtshof erstmalig die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dem Vorbehalt der Äquivalenz und Effektivität unterstellte, EuGH 16.12.1976, Rs. C-33/76, Rewe / Landwirtschaftskammer für das Saarland, EU:C:1976:188, Rn. 5, EuGH 16.12.1976, Rs. C45/76, Comet, EU:C:1976:191, Rn. 11/18, seitdem ständige Rechtsprechung; näher dazu etwa Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, 2007, 13 ff.; Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, 193 ff.; in Bezug auf die Art. 101 und 102 AEUV siehe nur EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 29; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 62, 71, 77; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 27; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 24 f. 195
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rechts gestützt sind, wie für solche Klagen, die auf eine Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern beide einen ähnlichen Gegenstand oder Rechtsgrund haben.199 Das nationale Gericht hat bei der Entscheidung über die Gleichwertigkeit der Vorschriften objektiv und abstrakt zu prüfen, ob diese unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamtverfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vergleichbar sind.200 Bezogen auf die (innerstaatlichen) Zivilrechtsfolgen bei Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht legt der Äquivalenzgrundsatz damit die Zivilrechtsfolgen des nationalen Kartellrechts und die zu ihrer Durchsetzung bestehenden Verfahrensmodalitäten als Mindeststandard auch für die Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV fest. Die bei Verstößen gegen das nationale Kartellrecht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe sind damit auch bei Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV zu gewähren und dürfen in Bezug auf Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei Verstößen gegen das nationale Kartellrecht.201 Der Äquivalenzgrundsatz macht also nicht positiv die Bereitstellung neuer prozessualer oder materiell-rechtlicher Rechtsbehelfe erforderlich. Eine dahingehende, sehr viel weiter reichende Beschränkung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bedingt jedoch mitunter der Effektivitätsgrundsatz.
EuGH 15.9.1998, verb. Rs. C-279/96, C-280/96 und C-281/96, Ansaldo Energia u.a., EU:C:1998:403, Rn. 29; EuGH 1.12.1998, Rs. C-326/96, Levez, EU:C:1998:577, Rn. 41 f.; EuGH 9.2.1999, Rs. C-343/96, Dilexport, EU:C:1999:59, Rn. 27; EuGH 16.5.2000, Rs. C-78/98, Preston, EU:C:2000:247, Rn. 55; EuGH 29.10.2009, Rs. C-63/08, Pontin, EU:C:2009:666, Rn. 45; EuGH 8.7.2010, Rs. C-246/09, Bulicke, EU:C:2010:418, Rn. 26 f.; EuGH 8.9.2011, Rs. C-177/10, Rosado Santana, EU:C:2011:557, Rn. 90. 200 EuGH 1.12.1998, Rs. C-326/96, Levez, EU:C:1998:577, Rn. 44; EuGH 16.5.2000, Rs. C-78/98, Preston, EU:C:2000:247, Rn. 61 ff.; EuGH 29.10.2009, Rs. C-63/08, Pontin, EU:C:2009:666, Rn. 45 f.; EuGH 8.7.2010, Rs. C-246/09, Bulicke, EU:C:2010:418, Rn. 29; EuGH 8.9.2011, Rs. C-177/10, Rosado Santana, EU:C:2011:557, Rn. 90. 201 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 93 (wird im Rahmen vergleichbarer Klagen nach innerstaatlichem Recht besonderer Schadensersatz gewährt, muss dies auch bei auf Art. 101 AEUV gestützten Klagen geschehen [vgl. aber nunmehr Art. 3 Abs. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie, wonach eine Überkompensation nicht erfolgen darf]); aus dem Schrifttum etwa Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 100; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 90 f.; Weyer, ZEuP 1999, 424 (442 ff.); mit Blick auf die kartellrechtliche Schadensersatzhaftung nun ausdrücklich Art. 4 S. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Im Einklang mit dem Äquivalenzgrundsatz dürfen nationale Vorschriften und Verfahren für Klagen auf Ersatz des Schadens, der aus Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 AEUV entsteht, für mutmaßlich Geschädigte nicht weniger günstig sein als die Vorschriften und Verfahren für ähnliche Klagen auf Ersatz des Schadens, der aus Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht entsteht.“ 199
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bb) Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes Der aus Art. 4 Abs. 3 EUV entwickelte Grundsatz der Effektivität hat mit Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV auf der Ebene des Primärrechts erstmals eine ausdrückliche Verankerung gefunden.202 Der Effektivitätsgrundsatz verlangt inhaltlich zunächst – parallel zum richterrechtlich entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsatz effektiven Rechtsschutzes,203 nunmehr auch ausdrücklich niedergelegt im Unionsgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz in Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC –, dass der Zugang zu einem Gericht eröffnet sein muss, das den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte in wirksamer Weise gewährleistet.204 Der Effektivitätsgrundsatz zeitigt im Anwendungsbereich des innerstaatlichen Rechts sodann zunächst eine negative Schrankenfunktion,205 indem er etwa innerstaatliche Beweisvorschriften,206 Verjährungsfristen207 oder materielle Ausschlussfristen und prozessuale Präk-
Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV lautet: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“; hierzu Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (337); Arnull, E.L. Rev. 36 (2011), 51 (53); Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (357). 203 Der Gerichtshof hat sich bei der Entwicklung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes effektiven Rechtsschutzes maßgeblich von den Garantien der Art. 6 und 13 EMRK leiten lassen; vgl. EuGH 15.5.1986, Rs. C-222/84, Johnston, EU:C:1986:206, Rn. 18; EuGH 15.10.1987, Rs. C-222/86, Heylens, EU:C:1987:442, Rn. 14: EuGH 25.7.2002, Rs. C50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores, EU:C:2002:462, Rn. 39; EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163, Rn. 37; EuGH 26.6.2007, Rs. C-305/05, Ordre des barreaux francophones, EU:C:2007:383, Rn. 29 ff.; EuGH 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat International Foundation, EU:C:2008:461, Rn. 283, 335; EuGH 18.3.2010, Rs. C-317/08 bis C-320/08, Alassini u.a., EU:C:2010:146, Rn. 61; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 45 ff.; in Bezug auf die prozessuale Rechtsdurchsetzung scheint der Effektivitätsgrundsatz in der Sache zunehmend mit dem grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz zu einem einheitlichen Institut zu verschmelzen, so Heinze, JZ 2011, 709 (713); Heinze, EuR 2008, 654 (661); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 80 f., 124; vgl. auch die Schlussanträge von GA‘in Kokott 19.11.2009 – Verb. Rs. C-317/08 bis C-320/08, Alassini u.a., EU:C:2009: 720, Rn. 42 „Im Zusammenhang mit der gerichtlichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist das Prinzip der Effektivität Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.“ (Hervorhebung im Original). 204 EuGH 17.9.2002, Rs. C-253/00, Muñoz und Superior Fruiticola, EU:C:2002:497, Rn. 22, 30; EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163, Rn. 61; Heinze, EuR 2008, 654 (662); Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (340). 205 In Bezug auf das Verwaltungsrecht Kadelbach, Allgemeines Verwaltnungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, 115; ferner Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008, 156. 206 EuGH 9.11.1983, Rs. C-199/82, San Giorgio, EU:C:1983:318, Rn. 14; EuGH 9.2.1999, Rs. C-343/96, Dilexport, EU:C:1999:59, Rn. 48. 202
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lusionsregelungen208 unter seinen Vorbehalt stellt.209 Entgegen seiner früheren Rechtsprechung210 hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Effektivitätsgrundsatz unter bestimmten Umständen auch positiv die Bereitstellung neuer Rechtsbehelfe erforderlich machen kann, um wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. 211 Auf die Zivilrechtsfolgen bezogen hat der Gerichtshof (zunächst für den Bereich des Antidiskriminierungsrechts) befunden, dass der Effektivitätsgrundsatz mitunter auch die Gewährung abschreckenden Schadensersatzes erforderlich machen kann.212 Bei Fehlen einer den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes genügenden innerstaatlichen Rechtsfolgenregelung kann der nationale Gesetzgeber auf der Grundlage des Effektivitätsgrundsatzes zum Tätigwerden verpflichtet werden;213 ergänzende Rechtsfolgenrege207 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 78. 208 EuGH 14.12.1995, Rs. C-312/93, Peterbroeck, EU:C:1995:437, Rn. 12 ff.; EuGH 21.11.2002, Rs. C-473/00, Cofidis, EU:C:2002:705, Rn. 27 ff. 209 Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (340 f.); Reich, VuR 2012, 327 (327). 210 EuGH 7.7.1981, Rs. C-158/80, Rewe / Hauptzollamt Kiel, EU:C:1981:163, Rn. 44; zu der im Urteil postulierten, in der weiteren Rechtsprechung aber aufgegebenen no new remedies-rule aus dem Schrifttum etwa Craig / de Búrca, EU Law, 6. Aufl. 2015, 228; Arnull, E.L. Rev. 36 (2011), 51 (55 f.); Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (355 f.). 211 Im vertikalen Verhältnis des Bürgers gegenüber dem Staat: EuGH 19.6.1990, Rs. C213/89, Factortame I, EU:C:1990:257, Rn. 19 ff. (zum Erfordernis einstweiliger Anordnungen gegenüber dem Staat zur Durchsetzung des Unionsrechts); EuGH 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft u.a., EU:C:2001:134, Rn. 88 ff. (zum Erfordernis eines im Wege der Erstattungsklage einklagbaren Zinsanspruchs); EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163, Rn. 46 ff. (zum Erfordernis eines eigenständigen Rechtsbehelfs, mit der im Hauptantrag die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht überprüft werden kann; im Ergebnis aufgrund des Bestehens inzidenter Rechtsbehelfe im nationalen Recht abgelehnt); im horizontalen Verhältnis der Bürger untereinander: EuGH 17.9.2002, Rs. C-253/00, Muñoz und Superior Fruiticola, EU:C:2002:497, Rn. 22, 30 (zum Erfordernis einer Zivilklage durch Wirtschaftsteilnehmer gegen Konkurrenten zur Beachtung verordnungsrechtlich gewährleisteter Qualitätsnormen; dazu etwa G. Wagner, in: Eger / Schäfer, 2007, 605 (610 f.)); aus dem Schrifttum zu alledem etwa Craig / de Búrca, EU Law, 6. Aufl. 2015, 237 ff.; Arnull, E.L. Rev. 36 (2011), 51 (55 ff.); Weyer, ZEuP 2003, 318 (322); Heinze, EuR 2008, 654 (662); Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 87 f. 212 Zum Erfordernis eines Schadensersatzanspruchs mit „wirklich abschreckender Wirkung“ bei geschlechtsbezogenen Benachteiligungen EuGH 10.4.1984, Rs. C-14/83, von Colson und Kamann, EU:C:1984:153, Rn. 23; EuGH 10.4.1984, Rs. C-79/83, Harz, EU:C:1984:155, Rn. 23; EuGH 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, EU:C:1990:383. Rn. 23; EuGH 2.8.1992, Rs. C-271/91, Marshall, EU:C:1993:335, Rn. 24; EuGH 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl, EU:C:1997:208, Rn. 39 f.; aus dem Schrifttum hierzu etwa G. Wagner, AcP 206 (2006), 352 (389 ff.); Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht, 2015, 130 ff.
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lungen können grundsätzlich aber auch bereits mit unmittelbarer Wirkung dem Unionsrecht zu entnehmen sein.214 Beide Aspekte können als vom Begriff des Effektivitätsgrundsatzes (im weiten Sinn) erfasst angesehen werden.215 Mit Blick auf die europäischen Wettbewerbsregeln hat der Gerichtshof mit seiner Entscheidung in der Sache Courage216 aus dem Jahr 2001, entsprechend einem zunächst im Antidiskriminierungsrecht entwickelten Ansatz,217 die Steuerungswirkung des Schadensersatzrechts bei Verstößen gegen die wettbewerbsrechtlichen Verbotstatbestände besonders betont. Ein Schadensersatzanspruch, so führt der Gerichtshof aus: „erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln und ist geeignet, von […] Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Aus dieser Sicht können Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Gemeinschaft beitragen.“218
Der Gerichtshof urteilte, dass die „volle Wirksamkeit“ der europäischen Wettbewerbsregeln beeinträchtigt wäre, „wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte“, der ihm durch wettbewerbswidriges Verhalten entstanden ist.219 Hiernach ergibt sich aus dem Gebot der effektiven Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln220 sowie aus der Teilhabe an der unmittelbaren horizontalen Wirkung der Art. 101 und 102 AEUV221 ein unionsrechtlich garantiertes Recht auf Schadensersatz bei Verstößen gegen das Unionskartellrecht.222 Der Anspruch auf Schadensersatz findet seine konkrete 213 Siehe grundlegend zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten bei fehlender Sanktionsregelung in einer europäischen Richtlinie, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung des Unionsrechts durch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu gewährleisten, EuGH 21.9.1989, Rs. C-68/88, Kommission / Griechenland, EU:C: 1989:339, Rn. 23 f. 214 Weyer, ZEuP 2003, 318 (322). 215 Weyer, ZEuP 2003, 318 (322); siehe zu den verschiedenen Ausprägungen des Effektivitätsgrundsatzes auch Heinze, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 337 (337 f.) 216 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465. 217 G. Wagner, AcP 206 (2006), 352 (404); G. Wagner, in: Eger / Schäfer, 2007, 605 (608 f.). 218 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27. 219 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 26. 220 Roth, WRP 2013, 257 (261 f.); Roth, IPRax 2016, 318 (318); Bulst, ZEuP 2008, 178 (186); Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (472); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 32; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 91; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 6 Rn. 13 Fn. 16, § 23 Rn. 3 ; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 73. 221 Weyer, ZEuP 2003, 318 (341 f.); Weyer, ZEuP 1999, 424 (463 ff.); Weyer, GRUR Int. 2002, 57 (59); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 32.
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Rechtsgrundlage jedoch nicht unmittelbar im Unionsrecht selbst und ist in seinen Anspruchsvoraussetzungen entsprechend auch nicht durch das Unionsrecht umfassend determiniert – wie vereinzelt in Anlehnung an die Francovich-Rechtsprechung223 des Gerichtshofs zur unionsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht zunächst angenommen wurde224 –, sondern entstammt dem gegebenenfalls unionsrechtskonform anzupassenden Haftungsrecht der Mitgliedstaaten.225 Die einzelnen Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch bei Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV sind folglich dem innerstaatlichen Haftungsrecht der Mitgliedstaaten zu entnehmen, wobei dessen Ergebnisse durchweg den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes genügen müssen und gegebenenfalls zu korrigieren sind.226 In seiner Folgeentscheidung Manfredi227 aus dem Jahr Die Entscheidungen des Gerichtshofs in Courage und Manfredi sind jeweils zum unionsrechtlichen Kartellverbot (Art. 101 Abs. 1 AEUV) ergangen, deren Grundaussagen sind aber ohne weiteres auf Verstöße gegen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot (Art. 102 AEUV) übertragbar; siehe nur Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (42); Becker, in: Augenhofer, 2009, 15 (18). 223 EuGH 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, EU:C:1991:428. 224 Mäsch, EuR 2003, 825 (842 ff.); Nowak, EuZW 2001, 717 (718); bejahend, zumindest in Bezug auf die anspruchsbegründenden Voraussetzungen auch Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (466 ff.); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 170 ff., 192: „Irrespective of these national provisions […] we submit that Community law in the post-Courage / Manfredi era itself defines the constitutive conditions of the right to damages“ (Hervorhebung im Original); siehe vor Erlass der Courage-Entscheidung des EuGH bereits die Schlussanträge von GA van Gerven 27.10.1993, Rs. C-128/92, Banks, EU:C:1993:860, Rn. 36 ff. 225 So die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum Weyer, ZEuP 2003, 318 (324 f., 343); Weyer, GRUR Int. 2002, 57 (58); Bulst, Schadenersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006, 187 ff.; Bulst, ZEuP 2008, 178 (185 f.); Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 946 (947); Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (43 f.); Wurmnest, RIW 2003, 896 (897); Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 4 ff.; Säcker / Jaecks, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 101 AEUV Rn. 684 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 127 ff.; Lettl, ZHR 2003, 473 (476 ff.); Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (217); differenzierend, aber im praktischen Ergebnis identisch G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 20 ff. (unionsrechtlich begründetes Recht auf Schadensersatz, aber Ausgestaltung der Haftungsvoraussetzungen durch das Recht der Mitgliedstaaten); ausdrücklich in diesem Sinn auch EuG 28.2.2002, Rs. T395/94, Atlantic Container Line, EU:T:2002:49, Rn. 414: „Im Übrigen ist es abgesehen von der in [Art. 101 Abs. 2 AEUV] ausdrücklich vorgesehenen Sanktion der Nichtigkeit nach der Rechtsprechung Sache des nationalen Rechts, die mit einer Verletzung des [Art. 101 AEUV] verbundenen zivilrechtlichen Folgen, wie etwa die Verpflichtung zum Ersatz des einem Dritten zugefügten Schadens oder gegebenfalls eine Verpflichtung zum Vertragsschluss, festzulegen […], solange die praktische Wirksamkeit des Vertrages nicht beeinträchtigt wird.“ 226 Vgl. nun auch ausdrücklich Art. 4 S. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Im Einklang mit dem Effektivitätsgrundsatz gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass alle nationa222
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2006 hat der Gerichtshof seine Courage-Rechtsprechung bestätigt und fortentwickelt. Dem Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof entnommen, dass ein Geschädigter bei Verstößen gegen das Unionskartellrecht nicht nur Ersatz des Vermögensschadens (damnum emergens), sondern auch des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) sowie die Zahlung von Zinsen verlangen können muss.228 Das also bereits primärrechtlich garantierte Recht auf vollständigen Schadensersatz bei Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht ist mittlerweile auch sekundärrechtlich in Art. 3 der Kartellschadensersatzrichtlinie verankert.229 2. Erscheinungsformen Die Entscheidungen des Gerichtshofs in den Sachen Courage und Manfredi haben Schadensersatzklagen bei Kartellrechtsverstößen als Rechtsbehelf ganz in den Vordergrund der Debatte um die Effektivierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa gerückt. Entsprechend hat sich auch die Europäische Kommission im Gesetzgebungsprozess, der zum Erlass der Kartellschadensersatzrichtlinie geführt hat, auf diesen Rechtsbehelf konzentriert,230 auch wenn die private Durchsetzung des Kartellrechts in ihren Erscheinungsformen freilich breiter gefächert ist. Hinsichtlich der Art der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen lässt sich zunächst zwischen defensiven und offensiven Formen unterscheiden. Darüber hinaus ist zwischen Initiativ- und Folgeklagen zu differenzieren.231 len Vorschriften und Verfahren für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen so gestaltet sind und so angewandt werden, dass sie die Ausübung des Unionsrechts auf vollständigen Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schadens nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.“ 227 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461. 228 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 95; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 24. 229 Art. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie: „(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass jede natürliche oder juristische Person, die einen durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, den vollständigen Ersatz dieses Schadens verlangen und erwirken kann. (2) Der vollständige Ersatz versetzt eine Person, die einen Schaden erlitten hat, in die Lage, in der sie sich befunden hätte, wenn die Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht nicht begangen worden wäre. Er erfasst daher das Recht auf Ersatz der eingetretenen Vermögenseinbuße und des entgangenen Gewinns, zuzüglich der Zahlung von Zinsen. (3) Der vollständige Ersatz im Rahmen dieser Richtlinie darf nicht zu Überkompensation führen, unabhängig davon, ob es sich dabei um Strafschadensersatz, Mehrfachentschädigung oder andere Arten von Schadensersatz handelt.“ 230 Dazu sogleich infra Kapitel 1 B. III. 3.; auf Grundlage einer empirischen Bestandsaufnahme für eine stärkere Beachtung anderer Formen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung plädiert Peyer, Journal of Competition Law and Economics 8 (2012), 331 (331 ff.). 231 Für die im Folgenden näher zu beleuchtenden Erscheinungsformen der privaten Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln gilt es die dargelegte Überformung des
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a) Defensive und offensive Geltendmachung Die zivilrechtlichen Rechtsbehelfe bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht lassen sich zunächst in defensive und offensive Formen der Geltendmachung unterteilen.232 Bildhaft gesprochen greifen Kartellopfer im Fall der offensiven Geltendmachung zum Schwert (sword litigation) und im Fall der defensiven Geltendmachung zum Schild (shield litigation).233 Die defensive Funktion der zivilrechtlichen Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen kommt namentlich in der durch Art. 101 Abs. 2 AEUV statuierten Nichtigkeitssanktion für kartellrechtswidrige Vereinbarungen und Beschlüsse zum Tragen.234 Anders als das europäische Kartellverbot enthält das Missbrauchsverbot in Art. 102 AEUV zwar selbst keine ausdrückliche Nichtigkeitssanktion, eine solche kann sich aber aus nationalem Recht ergeben.235 Für das deutsche Recht folgt die Nichtigkeit von als Mittel des Missbrauchs dienenden Rechtsgeschäften aus § 134 BGB.236 Gegenüber einem klageweise geltend gemachten Erfüllungsanspruch aus einem gegen Art. 101 Abs. 1 oder 102 AEUV verstoßenden Vertrag kann sich ein Beklagter somit als Verteidigungsvorbringen auf dessen Nichtigkeit berufen.237
innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten durch den unionsrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz freilich ebenso zu berücksichtigen. So hat der Gerichtshof – verallgemeinerungsfähig für alle Formen der zivilrechtlichen Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen – in jüngerer Zeit wiederholt hervorgehoben, dass die innerstaatlichen Rechtsvorschriften, die den Schutz der dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, speziell im Bereich des Wettbewerbsrechts die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen dürfen, vgl. EuGH 7.12.2010, Rs. C-439/08, VEBIC, EU:C:2010:739, Rn. 57; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 24; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 27; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 26. 232 Siehe nur K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Anh. 2 VO 1/2003 Rn. 1; K. Schmidt, ZWeR 2007, 394 (397 f.); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (64 ff.); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 18 ff. 233 Für diese gängigen Beschreibung vgl. nur Ezrachi, in: Mackenrodt / Conde Gallego / Enchelmaier, 2008, 117 (118); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 2 f.; Wils, World Competition 26 (2003), 473 (474). 234 Siehe nur Basedow, ZWeR 2006, 294 (294); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (64 ff.) 235 EuGH 11.4.1989, Rs. C-66/86, Ahmed Saeed Flugreisen, EU:C:1989:140, Rn. 45; vgl. ferner bereits EuGH 27.3.1974, Rs. C-127/73, BRT und SABAM (BRT-II), EU:C:1974:25, Rn. 12/14; aus dem Schrifttum statt aller Fuchs / Möschel, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 102 AEUV Rn. 415. 236 Fuchs / Möschel, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 102 AEUV Rn. 416; Roth, in: Basedow, 2007, 61 (65). 237 Diese Form der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen betrifft damit naturgemäß ausschließlich vertragliche Auseinandersetzungen.
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Verstöße gegen das europäische Wettbewerbsrecht können daneben offensiv, also in anspruchsbegründender Form, geltend gemacht werden. Die offensive Funktion des Kartellprivatrechts, und zwar in Form von Schadensersatzklagen, stand im rechtspolitischen Diskurs des vergangenen Jahrzehnts um eine Belebung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa ganz im Vordergrund.238 Neben der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen,239 sei es durch Vertragspartner einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung240 oder durch Drittbetroffene,241 zählen hierzu aber auch Ansprüche auf Beseitigung und Unterlassung kartellrechtswidriger Verhaltensweisen242 sowie Ansprüche auf Rückerstattung von Leistungen, die auf Grundlage eines nach Art. 101 Abs. 2 AEUV oder § 134 BGB i.V.m. Art. 102 AEUV nichtigen Vertrages erbracht wurden.243 b) Initiativ- und Folgeklagen Eine weitere, hier wesentliche Unterscheidung betrifft das Verhältnis von zivilgerichtlicher Geltendmachung und kartellbehördlichem Verwaltungsverfahren. Zivilgerichtliche Klagen können sich einerseits auf eine vorangegangene von einer Wettbewerbsbehörde getroffene Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht stützen und werden dementsprechend als Folgeklagen bezeichnet ( follow on-Klagen). Werden Klagen dagegen unabhängig von einer vorangegangenen wettbewerbsbehördlichen Ermittlung Siehe nur Basedow, in: Baudenbacher, 2006, 353 (354); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 3. 239 Im deutschen Recht findet sich die Rechtsgrundlage für Schadensersatzansprüche bei Verstößen gegen die europäischen Wettbewerbsregeln in § 33a Abs. 1 i. V. m. § 33 Abs. 1 GWB (i. V. m. Art. 101 oder 102 AEUV i. V. m. §§ 249, 252 BGB); bis zur 7. GWBNovelle sah das GWB einen Anspruch auf Schadensersatz explizit nur bei Verstößen gegen Vorschriften des GWB vor, für einen Schadensersatzanspruch bei Verstößen gegen die unionsrechtlichen Verbote musste daher § 823 Abs. 2 BGB herangezogen werden; dazu nur Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 40. 240 Eine vertragliche Auseinandersetzung lag der Courage-Entscheidung zugrunde: Der Gaststättenpächter Bernard Crehan hatte die Brauerei Courage im Wege der Widerklage auf Schadensersatz wegen überhöhter Preise in Anspruch genommen, die in einer vermeintlich wettbewerbsrechtswidrigen Bierbezugsabrede festgelegt worden waren, EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 3 ff. 241 Zur Unterscheidung zwischen vertraglichen Auseinandersetzungen und Klagen durch geschädigte Drittbetroffene im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung siehe nur Basedow, EBOR 2001, 443 (459 ff.); Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 946 (946). 242 Im deutschen Recht finden Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche ihre Rechtsgrundlage in § 33 Abs. 1 GWB (i. V. m. Art. 101 oder 102 AEUV). 243 Im deutschen Recht richten sich Ansprüche auf Rückerstattung von Leistungen, die auf Grundlage kartellrechtswidriger und damit nichtiger Verträge erbracht worden sind, nach den §§ 812 BGB ff.; näher hierzu etwa Wurmnest, RIW 2003, 896 (898 ff.). 238
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und Entscheidung angestrengt, ist von Initiativ- oder eigenständigen Klagen die Rede (stand alone-Klagen).244 Follow on-Klagen zeichnen sich gegenüber stand alone-Klagen dadurch aus, dass der Kläger seine Klage auf ein vorangegangenes kartellbehördliches Verfahren gleichsam draufsattelt, wodurch er davon profitiert, dass eine Wettbewerbsbehörde bereits mit den ihr zur Verfügung stehenden Befugnissen und Mitteln einen Kartellrechtsverstoß hat feststellen können.245 Letzteres bringt für den Kläger insbesondere den Vorteil mit sich, dass er kraft der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen von dem oftmals nur äußert schwer zu führenden Nachweis des Kartellrechtsverstoßes befreit wird und sein eigenes Prozess- und Kostenrisiko erheblich senken kann. 246 Wesentliches Charakteristikum der follow on-Klage ist ihre Abhängigkeit von der behördlichen Kartellverfolgung. 247 Nicht zuletzt dadurch, dass der Einsatz und die Auswahl des Durchsetzungsinstrumentariums über den Eintritt bzw. Nichteintritt einer Bindungswirkung in nachfolgenden Zivilprozessen entscheiden,248 wird den Wettbewerbsbehörden eine Steuerung von follow on-Klagen ermöglicht.249 Wie noch zu zeigen sein wird, bedingt diese Steuerungsmöglichkeit auch bestimmte Rückwirkungen auf die behördliche Durchsetzungsspur, insbesondere auf die Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden.250 Aus wettbewerbspolitischer Sicht erfüllen follow on-Klagen eine gegenüber stand alone-Klagen weniger wertvolle Funktion.251 Während erfolgreiche stand alone-Klagen dazu beitragen, dass bisher von den Wettbewerbsbehörden unentdeckt und ungeahndet gebliebene Verstöße durch die Mittel des Zivilprozesses aufgedeckt und abgestellt werden, hat bei Ersteren eine Wettbewerbsbehörde den Verstoß bereits nachgewiesen, abgestellt und der generalpräventiven Funktion der behördlichen Durchsetzung in der Regel bereits Siehe nur Kauper / Snyder, Geo. L.J. 74 (1986), 1163 (1163 ff.); Harker / Hviid, World Competition 31 (2008), 279 (281 ff.); Hempel, WuW 2005, 137 (137); Bauer, Loy. Consumer L. Rev. 16 (2004), 303 (311); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (138). 245 Basedow, ZWeR 2006, 294 (295); Wils, World Competition 32 (2009), 3 (15 f.). 246 Näher hierzu infra Kapitel 1 C. II. 2. 247 Hempel, WuW 2005, 137 (144); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 91. 248 Näher hierzu infra Kapitel 2 B. II. 1. b). 249 Hempel, WuW 2005, 137 (144). 250 Dazu infra Kapitel 4 B. 251 Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Ezrachi, in: Mackenrodt / Conde Gallego / Enchelmaier, 2008, 117 (119): „[…] they represent private enforcement at its best, as they provide not only for compensation and deterrence but also detect and put a stop to anticompetitive activities“; Böge / Ost, E.C.L.R. 2006, 197 (203); Berrisch / Burianski, WuW 2005, 878 (888); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 49, 91; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven, 2005, 29; siehe für eine kritische Beurteilung der wettbewerbspolitischen Rolle von follow onKlagen im US-amerikanischen Antitrust-Recht H. Buxbaum, in: Basedow, 2007, 41 (49). 244
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durch Verbotsverfügungen und eine Belegung der Delinquenten mit Bußgeldern weitgehend Genüge getan. Vollzugslücken in der Breite, die eine schwerpunktmäßig ausgerichtete und damit fragmentarische behördliche Kartellrechtsdurchsetzung unausweichlich hinterlässt, können allein stand alone-Klagen schließen.252 Den follow on-Klagen verbleibt demgegenüber vornehmlich die Erfüllung einer individualschützenden kompensatorischen Funktion.253 Dies stellt das öffentliche Interesse auch an follow on-Klagen indes nicht in Frage. Schließlich tragen auch sie dazu bei, dass der den Rechtsverletzern aus einem Kartellrechtsverstoß erlangte Mehrerlös254 zumindest zum Teil entzogen wird und den Rechtsverletzern damit nicht dauerhaft erhalten bleibt.255 Ferner geht von ihnen eine zusätzliche, die behördliche Durchsetzung ergänzende Abschreckungswirkung aus.256 Anders als in den USA, in denen empirischen Ermittlungen zufolge follow on-Klagen in der Vergangenheit weitaus seltener als stand alone-Klagen zu verzeichnen waren,257 haben die in der rechtspolitischen Diskussion um das 252 Cumming / Spitz / Janal, Civil procedure used for enforcement of EC competition law by the English, French, and German civil courts, 2007, 241; Böge / Ost, E.C.L.R. 2006, 197 (197); Hempel, WuW 2005, 137 (144); Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 240; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 49; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 128. 253 Siehe nur Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (104). 254 Dazu, dass der wirtschaftliche Vorteil der Rechtsverletzer mit den Schäden der Marktbeteiligten freilich keineswegs deckungsleich sein muss, sondern diese auch übersteigen oder unterschreiten kann, Alexander, JZ 2006, 890 (893 f.); vgl. auch Basedow, in: Baudenbacher, 2006, 353 (360 ff.); zum Verhältnis der Vorteilsabschöpfung zum Schadensersatz siehe § 34 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB; näher dazu etwa Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 34 GWB Rn. 6. 255 Vgl. die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 35 f.: „Die Abschreckungswirkung von Schadensersatzansprüchen wird nicht dadurch infrage gestellt, dass Zivilrechtsverfahren vielfach erst im Anschluss an behördliche Verfahren durchgeführt werden (sog. Follow-on-Klagen). Sie beruht vielmehr darauf, dass der ‚Täter‘ keine oder nur geringe Chancen sieht, dass er einen Gewinn, den er aus dem Kartellrechtsverstoß erlangt hat, dauerhaft behalten kann. Um eine ausreichende Abschreckung zu erzielen, ist es daher wichtig, dass die ‚Kartellrendite‘ bei den Unternehmen, die den Wettbewerbsverstoß begangen haben, abgeschöpft wird.“ Aus dem Schrifttum etwa Bien / Harke, ZWeR 2013, 312 (327); Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 61. 256 Ezrachi, in: Mackenrodt / Conde Gallego / Enchelmaier, 2008, 117 (119); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 49, 91; Hempel, WuW 2005, 137 (144); vgl. zum US-amerikanischen Antitrust-Recht, dem durch die Gewährung dreifachen Schadensersatzes (treble damages) naturgemäß eine deutlich ausgeprägtere Abschreckungsfunktion zukommt Kauper / Snyder, Geo. L.J. 74 (1986), 1163 (1220). 257 Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 229, Kauper / Snyder, Geo. L.J. 74 (1986), 1163 (1175 ff.), jeweils unter Hinweis auf die sog. Georgetown-Studie; die wirtschafltich bedeutendsten Schadensersatzklagen stellen hingegen regelmäßig follow on-
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Kapitel 1 – Grundlagen
private enforcement in Europa ganz im Vordergrund stehenden kartellrechtlichen Schadensersatzklagen bislang fast ausnahmslos in Form von follow onKlagen praktische Bedeutung erlangt, namentlich im Anschluss an die kartellbehördliche Feststellung von Hardcore-Kartellen.258 3. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht Zivilrechtsstreitigkeiten, in denen Kläger Verstöße gegen das europäische Wettbewerbsrecht geltend machen, weisen regelmäßig grenzüberschreitende Bezüge auf.259 Damit stellen sich notwendig Fragen nach der internationalen Zuständigkeit der Gerichte und – in Ermangelung europaweit einheitlicher Anspruchsgrundlagen260 – nach dem anwendbaren Recht. Bei grenzüberschreitenden Kartelldeliktsklagen erfolgt die Bestimmung der international zuständigen Gerichte und des anwendbaren Kartelldeliktsrechts mittels der Regelungen des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, die sich im Allgemeinen methodisch wie auch inhaltlich von der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden261 und der grundsätzlich einseitig262 zu bestimmenden Anwendungsreichweite der durch die Wettbewerbsbehörden durchzusetzenden kartellrechtlichen Verbotstatbestände grundlegend unterscheiden.263 Klagen dar, so Kauper / Snyder, Geo. L.J. 74 (1986), 1163 (1222); Baker, Loy. Consumer L. Rev. 16 (2004), 379 (382). 258 Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (227 f., 237); Brinker, BB 2016, 2194 (2194); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (138); Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (158); Thiede / Träbing, NZKart 2016, 422 (422); Palzer, ZEuP 2015, 416 (422); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336); Bien, NZKart 2013, 481 (481); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 129 f.; Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (105); Weitbrecht, NJW 2012, 881 (881 f.). 259 Statt vieler Wurmnest, EuZW 2012, 933 (933); Roth, IPRax 2016, 318 (318); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 1. 260 Wie oben dargelegt, sind auch in Bezug auf das unionsrechtlich garantierte Recht auf Schadensersatz bei Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV Anspruchsgrundlage und -voraussetzungen dem – durch das Unionsprimärrecht „nur“ überformten und durch die Kartellschadensersatzrichtlinie harmonisierten – innerstaatlichen Haftungsrecht der Mitgliedstaaten zu entnehmen, supra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb). 261 Zur internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz supra Kapitel 1 A. I. 2. a). 262 Zur Lehre von der Einseitigkeit des Internationalen Verwaltungsrechts grundlegend Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 115 f.; Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, 194 ff., 239, 310; vgl. auch F.A. Mann, RdC 132 (1971, I), 107 (118 f.); kritisch zum „Einseitigkeitsdogma“ aus jüngerer Zeit dagegen etwa Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 33 ff.; Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 202 ff. 263 Basedow, in: Basedow, 2007, 229 (236 f.); Basedow, Weltkartellrecht, 1998, 38 ff.; Schwartz / Basedow, in: Lipstein, geb. Ausg. 2011, Rn. 6 f.
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a) Internationale Zuständigkeit Am Anfang aller Überlegungen eines Geschädigten, der die ihm aus einem Kartellrechtsverstoß erwachsenden zivilrechtlichen Ansprüche geltend machen will, steht die Frage nach dem zuständigen Gericht. Unter strategischen Gesichtspunkten wird hierbei nicht so sehr die örtliche oder sachliche, sondern vor allem die internationale Zuständigkeit von Interesse sein.264 Für die anwaltliche Beratung des Geschädigten ist es notwendig, auf die möglichen Foren hinzuweisen und zur Wahl des aus Klägersicht strategisch günstigsten Forums zu raten.265 Die internationale Zuständigkeit der Gerichte in der Europäischen Union266 bestimmt sich für Klagen in „Zivil- und Handelssachen“, bei denen der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat,267 nach der Brüssel IaVO.268 Zivilrechtliche Streitigkeiten in Kartellsachen stellen ohne weiteres „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne der Verordnung dar.269 Verwaltungsrechtssachen270 und damit auch Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Ausübung kartellbehördlicher Befugnisse, sind vom Anwendungsbereich der
Becker / Kammin, EuZW 2011, 503 (504). Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 1096; Mäsch, IPRax 2005, 509 (511); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (933); Roth, IPRax 2016, 318 (319). 266 Eine Ausnahme bildet Dänemark, das aufgrund eines allgemeinen Vorbehalts nicht an Unionsrechtsakten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen teilnimmt (siehe Protokoll über die Position Dänemarks, ABl. 1997 C 340, 101; zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 21 Protokoll Nr. 1 zum Lissabonner Vertrag, ABl. 2007 C 306, 165, ber. ABl. 2008 C 111, 56); allerdings wurde bereits die Brüssel I-VO durch ein völkerrechtliches Abkommen auf Dänemark erstreckt (siehe ABl. 2005 L 299, 62); Art. 3 dieses Abkommens stellt klar, dass Änderungen der Verordnung nicht automatisch für Dänemark wirksam werden, sodass Dänemark mitteilen musste, dass es auch an die Nachfolgeregelungen der Brüssel Ia-VO gebunden sein will, was mittlerweile geschehen ist; hierzu etwa Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl. 2015, 79. 267 Hat der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, bestimmt sich die internationale Zuständigkeit grundsätzlich nach dem autonomen Zuständigkeitsrecht eines jeden Mitgliedstaats (Art. 6 Abs. 1 Brüssel Ia-VO); zum autonomen deutschen Zuständigkeitsrecht bei Kartelldelikten etwa Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 153 ff.; Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, 203 ff. 268 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2012 L 351, 1; die Brüssel Ia-VO hat die Brüssel IVO mit Wirkung zum 10.1.2015 abgelöst (Art. 80, 81 Brüssel Ia-VO). 269 Vgl. bereits Schwartz / Basedow, in: Lipstein, geb. Ausg. 2011, Rn. 93 (zum EuGVÜ); aus jüngerer Zeit siehe nur Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (401); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 250. 270 Klarstellend Art. 1 Abs. 1 S. 2 Brüssel Ia-VO: „Sie gilt insbesondere nicht für […] verwaltungsrechtliche Angelegenheiten […].“ 264 265
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Verordnung ausgeschlossen.271 Erfasst sind indes ohne weiteres Streitigkeiten, bei denen ein öffentlicher Hoheitsträger selbst Opfer eines Kartellrechtsverstoßes geworden ist, indem er etwa Waren oder Dienstleistungen zu kartellbedingt überhöhten Preisen bezogen hat und in der Folge zivilrechtlich gegen die Delinquenten vorgeht.272 Für Kartelldeliktsklagen273 ist – vorbehaltlich einer vorrangigen Gerichtsstandsvereinbarung (Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia-VO)274 – neben dem allgemeinen Gerichtsstand am (Wohn-)Sitz des Beklagten (Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 62, 63 Brüssel Ia-VO), insbesondere der Wahlgerichtsstand der unerlaubten Handlung (Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO) von besonderer Relevanz.275 Da Wettbewerbsverstöße regelmäßig eine Verhaltenskoordination mehrerer Marktteilnehmer voraussetzen, richten sich kartelldeliktische Ansprüche häufig gegen mehrere (Kartell-)Beklagte, sodass auch dem Gerichtsstand der Statt aller Wurmnest, EuZW 2012, 933 (933). So etwa im Fall der Schadensersatzklage der Europäischen Union, vertreten durch die Europäische Kommission, gegen Kartellanten des Aufzugs- und Fahrtreppen-Kartells, die das Ausgangsverfahren bildete in der Sache EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 23 ff.; siehe dazu etwa Garzaniti / Vanhulst / Oeyen, EuZW 2012, 691 (691); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (933). 273 Bei nichtdeliktischen bzw. vertraglichen Klagen, etwa bei der klageweise begehrten Feststellung der Nichtigkeit eines kartellrechtswidrigen Vertrages, ist der Gerichtsstand am Erfüllungsort (Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO) eröffnet; eine Annexkompetenz für konkurrierende kartelldeliktische Ansprüche wird am Vertragsforum allerdings nicht begründet, Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 104 f.; Danov, Jurisdiction and judgments in relation to EU competition law claims, 2011, 48; Becker / Kammin, EuZW 2011, 503 (505); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 79; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 87 ff. 274 Ob allgemein gehaltene Gerichtsstandsvereinbarungen auch kartelldelktische Ansprüche zwischen den Parteien erfassen, ist äußerst umstritten; nach der Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache CDC muss sich eine solche Klausel für eine wirksame Derogation konkret auf Streitigkeiten aus einer Haftung wegen Wettbewerbsverstößen beziehen, EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 71; vgl. auch bereits die Entscheidung des englischen High Court of Justice in Provimi Ltd v Roche Products and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 69, 90 ff.; unter Heranziehung deutscher Auslegungsmaßstäbe wurden kartelldeliktische Ansprüche, sofern ein hinreichender Bezug zum Vertragsverhältnis bestand, in der Vergangenheit regelmäßig auch als von einer allgemein gehaltenen Gerichtsstandsvereinbarung erfasst angesehen, Bulst, EBOR 2003, 623 (646 f.); Basedow / Heinze, in: FS Möschel, 2011, 63 (81 f.); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (936), jeweils m. w. N. 275 Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 60 ff.; Mankowski, WuW 2012, 797 (797 ff.); Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, 93 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 100 ff.; Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (934 f.); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 89. 271 272
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Streitgenossenschaft (Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO) eine besonders hervorgehobene Bedeutung zukommt.276 Der allgemeine Gerichtsstand ist für natürliche Personen nach Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 62 Brüssel Ia-VO an ihrem Wohnsitz begründet. Für Gesellschaften und juristische Personen ist nach Art. 63 Abs. 1 Brüssel Ia-VO auf den satzungsmäßigen Sitz, den Hauptverwaltungssitz oder die Hauptniederlassung abzustellen. Die Kognitionsbefugnis der Gerichte am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagtensitzes ist unbeschränkt,277 Geschädigte können dort also ihren gesamten Schaden einklagen, auch wenn dieser zum Teil oder zur Gänze durch Auswirkungen in einem anderen Staat bzw. anderen Staaten als dem Forumstaat entstanden ist.278 Beim Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO umfasst der zuständigkeitsbegründende Ort, „an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“, nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowohl den „Ort, an dem sich der Schadenserfolg verwirklicht hat“ (Erfolgsort) als auch den „Ort des ursächlichen Geschehens“ (Handlungsort),279 wobei durch den jeweiligen Ort neben der internationalen auch die örtliche Zuständigkeit indiziert wird.280 Fallen Handlungs- und Erfolgsort auseinander, hat der Kläger die Wahl, ob er seine Klage bei dem So etwa im Ausgangsverfahren vor dem LG Dortmund in der Sache EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335; auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft stützten sich auch die Entscheidungen des englischen High Court of Justice in Provimi Ltd v Roche Products and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 43 ff. sowie in Cooper Tire & Rubber Company and others v Shell Chemicals UK Ltd and others, [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 34 ff.; aus dem Schrifttum zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bei kartelldeliktischen Klagen Basedow / Heinze, in: FS Möschel, 2011, 63 (63 ff.); Lund, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht, 2014, 235 ff.; Mankowski, WuW 2012, 947 (947 ff.); Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, 167 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 126 ff.; Danov, Jurisdiction and judgments in relation to EU competition law claims, 2011, 51 ff. 277 Siehe nur EuGH 7.3.1995, Rs. C-68/93, Shevill, EU:C:1995:61, Rn. 32. 278 Statt aller Wurmnest, EuZW 2012, 933 (934). 279 Grundlegend EuGH 30.11.1976, Rs. C-21/76, Mines de Potasse d’Alsace, EU:C: 1976:166, Rn. 15/19 (zum EuGVÜ); seitdem ständige Rechtsprechung, siehe etwa EuGH 11.1.1990, Rs. C-220/88, Dumez France, EU:C:1990:8, Rn. 10; EuGH 7.3.1995, Rs. C68/93, Shevill, EU:C:1995:61, Rn. 20; EuGH 19.9.1995, Rs. C-364/93, Marinari, EU:C: 1995:289, Rn. 11; EuGH 27.10.1998, Rs. C-51/97, Réunion européenne, EU:C:1998:509, Rn. 28; EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 38. 280 Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, denn statt des Plurals, der „nur“ auf die internationale Zuständigkeit hinweist (vgl. Art. 4 Brüssel Ia-VO: „vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats“), wird hier der Singular verwendet („Gericht des Ortes“); siehe dazu statt aller nur Basedow, in: FS 50 Jahre FIW, 2010, 129 (134); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (934 Fn. 18). 276
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einen oder dem anderen Gericht anhängig machen will. Wo bei Kartellverstößen Handlungs- und Erfolgsort zu lokalisieren sind, hat der Gerichtshof mit seinem Urteil in der Sache CDC Hydrogen Peroxide (CDC) erstmalig einer Konkretisierung zugeführt:281 Hiernach liegt der Handlungsort bei Kartellverstößen abstrakt am Gründungsort des Kartells.282 Lässt sich ein einziger Gründungsort bestimmen, so können dort alle Mitglieder des Kartells verklagt werden.283 Lässt sich bei komplexen Kartellen ein einziger Gründungsort hingegen nicht identifizieren, so kann alternativ auf den Ort einer „spezifischen Absprache“ abgestellt werden, sofern diese Absprache „für sich allein“ den Schaden eines Käufers verursacht hat. In diesem Fall ist das Gericht, in dessen Zuständigkeitsbereich eine solche Absprache getroffen wurde, für die Entscheidung über den dadurch verursachten Schaden zuständig.284 Der Nachweis einer kausalen Verknüpfung zwischen einer spezifischen Absprache und dem dadurch verursachtem Schaden wird in der Praxis freilich nur äußerst schwer zu führen sein, sodass der Handlungsort hier wohl kaum praktische Relevanz erlangen wird.285 Den Erfolgsort lokalisiert der Gerichtshof bei Kartellverstößen am Sitz des jeweils Geschädigten,286 wobei das Gericht am Erfolgsort – entgegen dem sonst bei Streudelikten maßgeblichen „Mosaikprinzip“287 – bei einer Klage gegen einen oder mehrere Kartellbeteiligte für die Entscheidung über den gesamten Schaden zuständig ist.288 Damit hat der Gerichtshof in der Sache für Kartellgeschädigte ein im System der Brüssel Ia-VO an sich unerwünschtes289 forum actoris, also einen KlägergeEuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 34 ff.; dazu Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (232, 239 ff.); Roth, IPRax 2016, 318 (323 ff.); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604 f.); Harms / Sanner / Schmidt, EuZW 2015, 592 (592); Wiegandt, EWS 2015, 157 (157 ff.). 282 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 44. 283 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 47 ff.; kritisch dazu Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604). 284 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 46. 285 Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (241); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604); Harms / Sanner / Schmidt, EuZW 2015, 592 (592); Wiegandt, EWS 2015, 157 (159). 286 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 52. 287 Grundlegend EuGH 7.3.1995, Rs. C-68/93, Shevill, EU:C:1995:61, Rn. 33, wonach die Gerichte am Erfolgsort bei Streudelikten nur für die Entscheidung über den Ersatz der Schäden zuständig sind, die im Staat des angerufenen Gerichts verursacht worden sind; eine Ausnahme hat der Gerichtshof allerdings bereits bei einer mittels des Internets begangenen Verletzung des Persönlichkeitsrechts anerkannt, EuGH 25.10.2011, Rs. C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising, EU:C:2011:685, Rn. 48. 288 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 54; dazu Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (242); kritisch Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604 f.). 289 Vgl. EuGH 11.1.1990, Rs. C-220/88, Dumez France, EU:C:1990:8, Rn. 19; EuGH 10.6.2004, Rs. C-168/02, Kronhofer, EU:C:2004:364, Rn. 20; siehe dazu auch die Schlussanträge von GA Jääskinen 11.12.2014 – Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, 281
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richtsstand begründet.290 Diese Lokalisierung des Erfolgsortes nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO durch den Gerichtshof lässt sich nicht (allein) aus dem prozessualen Kriterium der Beweisnähe erklären,291 sondern resultierte wohl auch und gerade aus dem Bestreben, die Rechtsposition von Kartellopfern und damit das private enforcement zu stärken.292 In Bezug auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft aus Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO folgt der Gerichtshof ebenfalls einer klägerfreundlichen Lesart: So hat er in der Sache CDC klargestellt, dass bei einem Verstoß gegen das unionsrechtliche Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV, jedenfalls in der follow on-Situation bei Vorliegen einer verbindlichen Kommissionsentscheidung,293 Klagen gegen mehrere Kartellbeteiligte bei einem Gericht gebündelt werden können, an dem nur einer der Beklagten seinen Sitz hat.294 Die Zulassung der Zuständigkeitskonzentration, die der früheren Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten295 wie auch dem bereits zuvor größtenteils zuständigkeitsfreundlichen Meinungsbild im Schrifttum entspricht,296 begünsEU:C:2014:2443, Rn. 44; Heinze, in: FS Ahrens, 2016, 521 (523); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604). 290 Heinze, in: FS Ahrens, 2016, 521 (526); Stadler, JZ 2015, 1138 (1140); Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (242 ff.); Roth, IPRax 2016, 318 (325); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604); Wiegandt, EWS 2015, 157 (159). 291 Vgl. die Begründung des Gerichtshofs EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 53; zweifelnd hinsichtlich der Überzeugungskraft dieser Begründung Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (243); Heinze, in: FS Ahrens, 2016, 521 (526 ff.); Roth, IPRax 2016, 318 (325). 292 Heinze, in: FS Ahrens, 2016, 521 (529, 531); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (5 f.). 293 Der Gerichtshof bejahte die erforderliche Vorhersehbarkeit einer Anwendung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im konkreten Fall mit Blick auf die Existenz einer Kommissionsentscheidung, EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 23 f.; nach Sinn und Zweck dürfte Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO aber auch darüber hinaus Anwendung finden können Roth, IPRax 2016, 318 (322); Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (237); Wiegandt, EWS 2015, 157 (158 f.). 294 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 33; dazu Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (230 ff., 233 ff.); Roth, IPRax 2016, 318 (320 ff.); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604); Wiegandt, EWS 2015, 157 (157 ff.). 295 Für Österreich OGH 14.2.2012, 5 Ob 39/11p, WuW 2012, 1251, (1258 ff.); für England und Wales Provimi Ltd v Roche Products and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 43 ff.; Cooper Tire & Rubber Company and others v Shell Chemicals UK Ltd and others, [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 34 ff.; für die Niederlande Rechtbank Midden-Nederland 27.11.2013, C-16-338073 – HA ZA 13-117, ECLI:NL:RBMNE:2013:5978; bereits unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Gerichtshofs in der Sache Cartel Damage Claims (CDC) Hydrogen Peroxide ferner Gerechtshof Amsterdam 21.7.2015, 200.156.295/01, ECLI:NL:GHAMS:2015:3006. 296 Bulst, EBOR 2003, 623 (643); Mäsch, IPRax 2005, 509 (512 f.); Hess, WuW 2010, 493 (499 f.); Mankowski, WuW 2012, 947 (950); M. Weller, ZVglRWiss 2013, 89 (100 f.); Lund, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht, 2014,
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Kapitel 1 – Grundlagen
tigt die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen bei grenzüberschreitenden Kartellverstößen. Schließlich eröffnet der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bei europaweiten Kartellen und einer entsprechend weiten Streuung potentieller Beklagter eine Vielzahl von Gerichtsständen, unter denen die Kläger „shoppen“ können.297 Angesichts der Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Sach- und Verfahrensrechten, die durch die Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU keineswegs umfassend beseitigt wurden,298 und der in Art. 6 Abs. 3 lit. b Halbs. 2 Rom II-VO eingeräumten Option, unter bestimmten Voraussetzungen sämtliche Ansprüche auf das Recht des angerufenen Gerichts zu stützen,299 begründet dies Wahlmöglichkeiten, deren Bedeutung für die private Kartellrechtsdurchsetzung kaum überschätzt werden kann.300 Es ist festzuhalten, dass Kläger bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten ihre Klage regelmäßig wahlweise bei verschiedenen Gerichten werden anhängig machen können.301 Bei einem Vergleich der Regeln über die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte mit den bereits dargelegten Grundsätzen über die internationale Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden302 fällt zudem zweierlei auf: Erstens sind die jeweils maßgeblichen zuständigkeitsbegründenden Kriterien grundverschieden. Während die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden dadurch begründet wird, dass das in Rede stehende Verhalten hinreichende Auswirkungen auf dem jeweiligen Staatsgebiet zeitigt,303 sind in international-zivilprozessualer Hinsicht die marktbezogenen Auswirkungen nicht einmal für die Lokalisierung des Erfolgsorts im Rahmen des Deliktsgerichtsstandes maßgeb-
241 ff.; a. A. dagegen Basedow / Heinze, in: FS Möschel, 2011, 63 (63 ff.); Harms, EuZW 2014, 129 (129 ff.). 297 Stadler, JZ 2015, 1138 (1141); Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (218, 220 f.). 298 Vgl. dazu nur Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (219, 224 ff.); Roth, IPRax 2016, 318 (319); Kwan, E.C.L.R. 2015, 455 (455 ff.); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (8 ff.). 299 Hierzu sogleich infra Kapitel 1 A. II. 3. b). 300 Basedow / Heinze, in: FS Möschel, 2011, 63 (63 f.); Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (235 f.); Wiegandt, EWS 2015, 157 (158). 301 Vgl. nur Basedow, ZWeR 2006, 294 (299); Ashton / Vollrath, ZWeR 2006, 1 (4): „In 90% of cases of infringement of Community competition law, parties to the dispute will have a choice of more than one court in which to litigate the action“; vgl. auch Mäsch, IPRax 2005, 509 (516), nach dessen Auffassung die (europäischen) Gerichtsstände der unerlaubten Handlung und der Streitgenossenschaft Klägern bei Kartelldelikten „viel Spielraum für forum shopping“ bieten. 302 Supra Kapitel 1 A. I. 2. a). 303 Zur Bedeutung des Auswirkungsprinzips für die internationale Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden supra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa).
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lich.304 Die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte wird bei Kartellrechtsverstößen vielmehr am Sitz des Beklagten, am Gründungsort eines Kartells, bzw. alternativ am Ort einer spezifischen Absprache, sowie jeweils am Sitz der Geschädigten begründet. Diese Kriterien werden daher vielfach auch zugunsten von Zivilgerichten zuständigkeitsbegründend wirken, die nicht demselben Mitgliedstaat angehören, wie eine bereits tätig gewordene nationale Wettbewerbsbehörde. Hieraus folgt, dass neben Entscheidungen der eigenen nationalen Wettbewerbsbehörde auch solche anderer Wettbewerbsbehörden die „kartellbehördliche Grundlage“ von follow on-Klagen bilden können. Zweitens reicht die Kognitionsbefugnis der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte weiter als die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden.305 Während die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte, selbst die Erfolgsortgerichte,306 umfassend kognitionsbefugt sind, beschränkt sich die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden territorial auf die Auswirkungen im jeweiligen Staatsgebiet.307 Dies bedeutet für die follow on-Situation, dass bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten potentiell Entscheidungen mehrerer Wettbewerbsbehörden im Kartellschadensersatzprozess relevant werden können,308
Kritisch dazu Wurmnest, CML Rev. 53 (2016), 225 (244); vor Klärung der Rechtsfrage durch den Gerichtshof im Sinne einer Lokalisierung des Erfolgsortes am Sitz des jeweils Geschädigten in der Sache CDC, wurde der Erfolgsort bei Kartellverstößen ganz überwiegend „marktbezogen“ lokalisiert, Bulst, EWS 2004, 403 (406 f.); Basedow, in: FS 50 Jahre FIW, 2010, 129 (142); Vilà Costa, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 17 (27); Mankowski, WuW 2012, 797 (804); Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, 151 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 118 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933 (935); v. Hein, IPRax 2005, 17 (23); Danov, Jurisdiction and judgments in relation to EU competition law claims, 2011, 94 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 143. 305 Vgl. dazu auch Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 137, 169. 306 Vgl. zum zuständigkeitsrechtlichen „Mosaikprinzip“, wonach die Erfolgsortgerichte bei Streudelikten an sich nur für die Entscheidung über den Ersatz der Schäden zuständig sind, die im Staat des angerufenen Gerichts verursacht worden sind EuGH 7.3.1995, Rs. C68/93, Shevill, EU:C:1995:61, Rn. 33; zur Ausnahme bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet EuGH 25.10.2011, Rs. C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising, EU:C:2011:685, Rn. 48; zur umfassenden Kognitionsbefugnis am Erfolgsort bei Kartelldelikten EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 54; dazu aus dem Schrifttum Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (221); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (5 f.); Weller / Wäschle, RIW 2015, 603 (604 f.). 307 Supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). 308 Vgl. Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 161; dort geht die Kommission davon aus, dass die Entscheidungen mehrerer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden zum selben Kartellverstoß im Zivilprozess 304
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Kapitel 1 – Grundlagen
da diese einen Verstoß jeweils nur insoweit feststellen werden, als dieser Auswirkungen auf dem eigenen Staatsgebiet hatte.309 b) Anwendbares Recht Neben der Frage nach der internationalen Zuständigkeit der Gerichte stellt sich bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten310 die Frage nach dem anwendbaren Recht. Mit der Rom II-VO311 gelten für die Gerichte aller Mitgliedstaaten312 einheitliche Kollisionsregeln zur Bestimmung des auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendenden Rechts. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass ein Urteil unabhängig davon, durch welches Gericht es getroffen wird, nach demselben Recht beurteilt wird.313 Unterschiede bei der Rechtsanwendung und damit Anreize für ein forum shopping verbleiben freilich hinsichtlich des gerade für das Kartelldeliktsrecht wichtigen Beweis- und Verfahrensrechts, das von der Verordnung grundsätzlich ungeregelt bleibt314 und herkömmlich der lex fori unterliegt.315
Bindungswirkung entfalten können; vgl. ebenso aus dem Schrifttum Drexl / Conde Gallego / Enchelmaier / Mackenrodt / Podszun, IIC 2008, 799 (804). 309 Näher zur Frage des Anwendungsbereichs der Bindungswirkung in räumlicher Hinsicht infra Kapitel 2 E. 310 Werden Wettbewerbsverstöße im Rahmen vertraglicher Auseinandersetzungen geltend gemacht, insbesondere im Wege des Nichtigkeitseinwands aus Art. 101 Abs. 2 AEUV, richtet sich die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach der Rom I-VO; siehe näher dazu etwa Fallon / Francq, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 63 (63 ff.). 311 Verordnung (EG) Nr.864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. 2007 L 199, 40. 312 Wiederum mit Ausnahme Dänemarks. 313 Erwägungsgrund 6 zur Rom II-VO: „Um den Ausgang von Rechtsstreitigkeiten vorhersehbarer zu machen und die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht sowie den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen zu fördern, müssen die in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen im Interesse eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts unabhängig von dem Staat, in dem sich das Gericht befindet, bei dem der Anspruch geltend gemacht wird, dieselben Verweisungen zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts vorsehen.“ Der Entscheidungseinklang – in vielen Mitgliedstaaten bereits formales Ideal des Internationalen Privatrechts – ist auch ein übergeordnetes Ziel des europäischen Kollisionsrechts, Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, 266 ff.; Basedow, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 902 (903); Nietner, Internationaler Entscheidungseinklang im europäischen Kollisionsrecht, 2016, 18 ff.; Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (250). 314 Vgl. Art. 1 Abs. 3 Rom II-VO, wonach die Verordnung „unbeschadet der Artikel 21 und 22 nicht für den Beweis und das Verfahren“ gilt. Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO weist der lex causae indes gesetzliche Vermutungen und die Verteilung der Beweislast zu. 315 Vgl. dazu nur Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (234); Schoeman, L.M.C.L.Q. 2010, 81 (81 ff.).
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Mit Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO besteht für das Kartelldeliktsrecht eine spezielle Anknüpfungsregel, nach der „[a]uf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten […] das Recht des Staates anzuwenden [ist], dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird.“ Die Rom II-VO folgt mit dieser Anknüpfung mithin dem Auswirkungsprinzip:316 Unabhängig davon, wo gehandelt wurde, ist das Kartelldeliktsrecht derjenigen Rechtsordnungen anzuwenden, auf deren Märkten das wettbewerbsbeschränkende Verhalten Wirkungen entfaltet.317 Die Anknüpfung auf Grundlage des Auswirkungsprinzips präzisiert die Regelanknüpfung an den Erfolgsort (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO) deliktsspezifisch318 und schaltet gleichzeitig die für das Kartelldeliktsrecht unpassende Auflockerung der Regelanknüpfung durch eine Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO aus.319 Auch eine Rechtswahl ist – mit Blick auf den ordnungspolitischen Steuerungszweck des Kartellrechts einleuchtend320 – nach Art. 6 Abs. 4 Rom IIVO ausgeschlossen. Die starre Anknüpfung nach Maßgabe des Auswirkungsprinzips sichert einen wünschenswerten Gleichlauf des anwendbaren Kartelldeliktsrechts mit den im betreffenden Markt durch die Wettbewerbsbehörden durchzusetzenden kartellrechtlichen Verbotstatbeständen.321 Mit Art. 6 Abs. 3 lit. b Rom II-VO besteht daneben eine Sonderregelung für multi-state-Delikte, Fallgestaltungen also, in denen durch ein und dasselbe Verhalten der Markt in gleich mehreren Staaten beeinträchtigt wird. Hier gilt im Grundsatz das „Mosaikprinzip“, wonach sich ein in verschiedenen 316 Francq / Wurmnest, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 91 (119); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (937); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 21; Mankowski, RIW 2008, 177 (184); Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (639); Immenga, in: FS Kühne, 2009, 725 (727); Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 334; Massing, Europäisches Internationales Kartelldeliktsrecht, 2011, 172. 317 Zur Frage, ob und gegebenenfalls anhand welcher einschränkenden Kriterien das Auswirkungsprinzip im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO konkreitisiert werden kann Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (640 f.); Maier, Marktortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, 2011, 343 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 562 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933 (937 f.); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 21 ff.; Massing, Europäisches Internationales Kartelldeliktsrecht, 2011, 180 ff. 318 Vgl. Erwägungsgrund 21 S. 1 zur Rom II-VO: „Die Sonderregel nach Artikel 6 stellt keine Ausnahme von der allgemeinen Regel nach Artikel 4 Absatz 1 dar, sondern vielmehr eine Präzisierung derselben.“ 319 Basedow, in: Basedow, 2007, 229 (245); Basedow, ZWeR 2006, 294 (299); Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (638 f.); Mankowski, RIW 2008, 177 (184). 320 G. Wagner, IPRax 2008, 1 (8); Zimmer / Leopold, EWS 2005, 149 (154); vgl. ferner bereits Basedow, NJW 1989, 627 (632). 321 Vgl. Basedow, in: Basedow, 2007, 229 (243, 245).
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Rechtsordnungen verwirklichter Schaden nach dem in der jeweiligen Rechtsordnung anwendbaren Marktortrecht richtet. Der von einem Geschädigten in verschiedenen Rechtsordnungen erlittene Gesamtschaden ist demzufolge kollisionsrechtlich in Teilschäden zu parzellieren, die nach jeweils unterschiedlichen Kartelldeliktsrechten zu ersetzen sind.322 Mit der Sonderregelung in Art. 6 Abs. 3 lit. b Halbs. 1 Rom II-VO wird dem Geschädigten zur Erleichterung der Schadensabwicklung und zur Förderung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung323 ein Optionsrecht eingeräumt: Anstelle der nach dem „Mosaikprinzip“ berufenen Schadensrechte kann er die Liquidation seiner Schäden insgesamt der lex fori am Beklagtensitz unterstellen, sofern der Markt in diesem Staat zu den Märkten gehört, die „unmittelbar und wesentlich“ durch das inkriminierte Verhalten beeinträchtigt sind, und der Beklagte seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat.324 Entsprechendes gilt gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. b Halbs. 2 Rom II-VO bei einer – etwa auf Grundlage von Art. 8 Nr. l Brüssel Ia-VO325 – gegen mehrere Beklagte gestützten Klage, sofern das wettbewerbsschädigende Verhalten der Beklagten jeweils den Markt im Gerichtsstaat „unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt“ hat. Wird auf Grundlage der dargelegten allseitigen326 Kollisionsregel in Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO ausländisches Recht als Deliktsstatut berufen, so ist Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (644 f.); Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 362 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933 (938); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 39 f.; Massing, Europäisches Internationales Kartelldeliktsrecht, 2011, 237 f. 323 Rodriguez Pineau, Journal of Private International Law 5 (2009), 311 (323); Francq / Wurmnest, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 91 (101, 124); Becker / Kammin, EuZW 2011, 503 (507). 324 Teils werden daneben weitere (ungeschriebene) einschränkende Voraussetzungen an das Optionsrecht geknüpft, siehe etwa bei Francq / Wurmnest, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 91 (125 ff.); Wurmnest, EuZW 2012, 933 (938 f.); Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 573 f. 325 Zur Anwendung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO bei Schadensersatzklagen gegen mehrere Kartellbeteiligte supra Kapitel 1 A. II. 3. a). 326 Der Formulierung des Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO ist zu entnehmen, dass dieser als allseitige Kollisionsnorm konzipiert ist und damit auch ausländisches Kartelldeliktsrecht, und zwar auch das von Drittstaaten (Art. 3 Rom II-VO), zur Anwendung berufen kann, Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (637 f.); Mankowski, Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten – Fragen des anwendbaren Rechts und der internationalen Zuständigkeit, 2012, 34 ff.; Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 352; dagegen eine nur partielle Allseitigkeit annehmend, und zwar auf das Recht der Mitgliedstaaten beschränkt, Immenga, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, IntWettbR/IntKartellR Rn. 74; demgegenüber ist § 185 Abs. 2 GWB (§ 130 Abs. 2 GWB a. F.) als einseitige Kollisionsnorm formuliert, indem dieser unilateral das deutsche Kartellrecht nach dem GWB zur Anwendung beruft und dessen internationalen Anwendungsbe322
B. Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
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dieses mitunter gegenüber dem herkömmlich von der lex fori beherrschten Verfahrens- und Beweisrecht abzugrenzen:327 Für Rechtsinstitute im Graubereich zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht stellt sich damit die Frage nach ihrer Qualifikation, die darüber entscheidet, ob das betreffende Institut nach dem Verfahrensrecht des Gerichtsstaates (lex fori) oder aber nach dem ausländischen Deliktsstatut (lex causae) zu beurteilen ist.328 Der Frage, ob vor diesem Hintergrund das Institut der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen und die Berücksichtigung kartellbehördlicher Entscheidungen als Anscheinsbeweis (Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie) prozessual oder aber materiell zu qualifizieren und in der Folge nach der verfahrensrechtlichen lex fori oder nach der als Deliktsstatut berufenen lex causae zu beurteilen sind, wird in Kapitel 3, das sich den Rechtsfolgen der Bindungswirkung widmet, nachgegangen.329
B. Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa B. Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
Die beschriebene Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung ist zunächst nur ein Befund der bestehenden (sowohl hoheitlichen als auch privatrechtlichen) Instrumentarien, mit denen das Kartellrecht durchgesetzt werden kann. Dieser Befund sagt weder etwas über die Relevanz der jeweiligen Durchsetzungsspur im praktischen Rechtsleben noch über deren rechtspolitische Entwicklung aus. Beides soll im Folgenden umrissen werden, um sich auf dieser Grundlage sodann dem Verhältnis der Durchsetzungsspuren nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung zuzuwenden, in dem das Instrument der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess eine Verzahnung der beiden Durchsetzungsspuren bewirkt.
reich absteckt, zur Anwendung ausländischen Kartellrechts hingegen schweigt; eingehend dazu Tzakas, Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr, 2011, 210 ff. 327 Zur Abgrenzung von materiellem Recht und Verfahrensrecht vor dem Hintergrund des lex fori-Grundsatzes, nach dem das anwendbare Verfahrensrecht grundsätzlich dasjenige des mit der Sache befassten Gerichtes ist, etwa Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136 ff.); Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 83 ff.; G. Wagner, Prozessverträge, 1998, 348 f. 328 Vgl. nur Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136); Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, 9 (Letzterer im Übrigen zur internrechtlichen Abgrenzung von Prozessrecht und materiellem Recht). 329 Zur Qualifikation der Bindungswirkung infra Kapitel 3 A. III.; zur Qualifikation der prima facie-Beweiswirkung infra Kapitel 3 B. II.
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Kapitel 1 – Grundlagen
Traditionelles Primat der behördlichen Durchsetzung
Die Kartellrechtsdurchsetzung in Europa stützt sich traditionell ganz wesentlich auf die behördliche Spur.330 Anders als in den USA, dessen AntitrustRecht dem private enforcement seit jeher eine wichtige Stellung zuweist331 und das mit der Gewährung dreifachen Schadensersatzes (treble damages)332 sowie durch die zivilprozessualen Rahmenbedingungen333 starke Anreize für private Kläger gerade zur Erhebung von Schadensersatzklagen schafft, kam der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Deutschland334 wie auch in Europa insgesamt, zumindest in Form von Schadensersatzklagen, in der Vergangenheit eine nur untergeordnete Rolle zu.335 Zwar wurde das Kartellrecht im 330 Siehe etwa die Bestandsaufnahme von Gerber, in: Möllers / Heinemann, 2007, 431 (446): „competition law in Europe […] has relied almost exclusively on public initiative and public decision making throughout its development. At both the national and European levels, competition authorities apply competition laws and control the development of the law“; siehe ferner Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 312; Neruda, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 230 (230); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490); G. Wagner, ZVglRWiss 2015, 494 (503); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (154); van den Bergh, Maastricht J. of European and Comparative L. 20 (2013), 12 (13); vgl. auch Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (365): „Il est generalement considéré que l’exécution des articles 81 et 82 appartient avant tout aux autorités publiques […].“ 331 H. Buxbaum, in: Basedow, 2007, 41 (43 ff.); Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 173 ff., 223 ff.; K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169 (193); vgl. auch den Überblick bei C. A. Jones, Private Enforcement of Antitrust Law in the EU, UK, and USA, 1999, 14 ff.; siehe ferner den oft zitierten Ausspruch des U.S. Supreme Court in der Sache Minnesota Mining & Manufacturing Company v. New Jersey Wood Finishing Company, 381 U.S. 311, 318 (1965): „Congress has expressed its belief that private antitrust litigation is one of the surest weapons for effective enforcement of the antitrust laws.“ Die private Kartellrechtsdurchsetzung überwiegt in den USA in ihrer Bedeutung seit Langem deutlich die behördliche Kartellrechtsdurchsetzung, vgl. G. Wagner, in: Eger / Schäfer, 2007, 605 (607); Bulst, Schadenersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006, 38; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 223 ff.; um die 90 % der jährlich bei amerikanischen Gerichten anhängig gemachten Antitrust-Klagen stammen nicht von den für den Vollzug zuständigen Behörden, sondern gehen auf die Initiative privater Kläger bzw. darauf spezialisierter Anwaltskanzleien zurück, vgl. die statistischen Daten bei Viscusi / Harrington / Vernon, Economics of regulation and antitrust, 4. Aufl. 2005, 71 f. 332 Section 4(a) Clayton Act, 15 U.S.C. § 15(a). 333 Neben der pre-trial-discovery, die privaten Klägern einen umfassenden Zugang zu Unterlagen des Beklagten bis hin zur Ausforschung gestattet, zählt hierzu auch die prima facie-Beweiswirkung rechtskräftiger Urteile, die in einem von den Kartellbehörden eingeleiteten Zivil- oder Strafverfahren gegen Beklagte ergangen sind, im späteren Schadensersatzprozess, siehe Section 5(a) Clayton Act, 15 U.S.C. § 16(a). 334 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 37; Möschel, in: FS Bechtold, 2006, 329 (329); Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 80 ff.; für eine kritische Beurteilung der Rechtsprechungstradition des Bundesgerichtshofs zum deutschen Kartellprivatrecht K. Schmidt, AcP 206 (2006), 169 (178 ff.), unter Bezugnahme auf das Werk von Nörr, Die
B. Genese der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung in Europa
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Zivilprozess schon immer recht häufig in seiner defensiven Funktion durch Vertragspartner eines kartellrechtswidrigen Vertrages über den Nichtigkeitseinwand des Art. 101 Abs. 2 AEUV bemüht.336 Die offensive, anspruchsbegründende Funktion des Kartellprivatrechts, gerade in Form von Schadensersatzklagen, führte hingegen in Europa über lange Zeit ein Schattendasein. Wie die Erfahrung lehrt, können die Wettbewerbsbehörden infolge begrenzter Ressourcen nicht jeden Kartellrechtsverstoß ermitteln und verfolgen, sodass sie nicht für eine flächendeckende Durchsetzung des Kartellrechts Sorge tragen können.337 Die damit notwendigerweise schwerpunktmäßig ausgerichtete und dadurch ungleichmäßige Durchsetzung der Wettbewerbsregeln kann in letzter Konsequenz selbst zu einem wettbewerbsverzerrenden Faktor werden.338 Auf der Einsicht, dass die behördlichen Ressourcenkapazitäten begrenzt sind, beruhte dann auch ganz wesentlich die Diskussion um ein verstärktes private enforcement in Europa, wie sie um die Jahrtausendwende an Fahrt gewonnen, durch weitere Ereignisse in den letzten Jahren zusätzliche Impulse bekommen und schließlich zu gesetzgeberischen Folgemaßnahmen geführt hat. In der Folge haben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in den letzten Jahren signifikant zugenommen, wobei follow on-Klagen wegen Verstößen gegen das europäische Kartellverbot klar dominieren.339
Leiden des Privatrechts, 1994, passim; siehe ferner Möschel, 70 Jahre deutsche Kartellpolitik, 1972, 1 ff. 335 Basedow, in: Baudenbacher, 2006, 353 (354); Bulst, Schadenersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006, 27; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 7 Rn. 8; Paulis, in: Basedow, 2007, 7 (8); Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 312; Jones / Sufrin, EU Competition Law, 5. Aufl. 2014, 1085; Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (457); Gerber, in: Möllers / Heinemann, 2007, 431 (442 ff.); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490); Mäsch, EuR 2003, 825 (828 f.); Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (215 f.). 336 Basedow, Tex. Int’l. L.J. 42 (2007), 429 (436); Basedow, EBOR 2001, 443 (459); K. Schmidt, in: Ehlermann / Atanasiu, 2003, 253 (260 f.); K. Schmidt, ZWeR 2007, 394 (398); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (64 ff.); Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (28); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 3. 337 Vgl. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, SEC(2005) 1732, Rn. 14; ferner Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Basedow, ZWeR 2006, 294 (304); Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 7 Rn. 8; Glöckner, WRP 2007, 490 (494); Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 312; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 239 f.; Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (216); für wenig gewichtig hält dieses Argument dagegen Möschel, WuW 2007, 483 (488). 338 Glöckner, WRP 2007, 490 (494); Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (216). 339 Dazu, dass kartellrechtliche Schadensersatzklagen bislang praktisch ausnahmslos als follow on-Klagen geführt werden, womit im Ergebnis gerade keine verstärkte Durchsetzung in der Breite erzielt wird, supra Kapitel 1 A. II. 2. b) sowie infra Kapitel 1 C. II. 2. b) und 3.
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Kapitel 1 – Grundlagen
II. Impulse für die Belebung der privaten Durchsetzung Entscheidende Impulse für eine Belebung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa gingen um die Jahrtausendwende zunächst von zweierlei Ereignissen aus: Zum einen von dem mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 herbeigeführten Wechsel vom zentralisierten Freistellungssystem hin zu einem dezentralen System der europäischen Kartellrechtsanwendung. Zum anderen von den schon erwähnten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in den Sachen Courage340 aus dem Jahr 2001 sowie Manfredi341 aus dem Jahr 2006.342 In den letzten Jahren hat die Entwicklung durch weitere Ereignisse zusätzliche Impulse erhalten. 1. Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung Schon im Weißbuch zur Modernisierung der Kartellrechtsanwendung von 1999343 und im Vorschlag zur späteren Verordnung Nr. 1/2003 von 2000344 wies die Kommission auf die Bedeutung der zivilgerichtlichen Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen und auf ihre Absicht hin, mittels einer Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung die private Durchsetzung zu stärken. Tatsächlich wurden die Kompetenzen der nationalen Gerichte durch die Verordnung Nr. 1/2003 erheblich erweitert. Unter der alten Verordnung Nr. 17/1962 folgte aus dem Anmelde- und Freistellungssystem, das die Entscheidung über die (damals konstitutive) Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bei der Europäischen Kommission monopolisierte, dass sich die ZuEuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465; zum Urteil bereits supra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb). 341 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461; zum Urteil bereits supra Kapitel 1 A. II. 2. b) bb). 342 Diese beiden Ereignisse werden gemeinhin als wesentliche Triebfedern für die Belebung der Debatte um eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung angesehen, Basedow, ZWeR 2006, 294 (295); Bulst, ZEuP 2008, 178 (183); Mäsch, IPRax 2005, 509 (509 f.); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490 f.); Roth, in: FS Kropholler, 2008, 623 (623); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 109 ff.; Wilman, Private Enforcement of EU Law Before National Courts, 2015, 205 f. 343 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 81 und 82 des EG-Vertrags, ABl. 1999 C 132, 1, Rn. 46, 99, 100; vgl. hierzu auch Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (452); Wurmnest, in: Remien, 2012, 27 (35). 344 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln, KOM(2000) 582 endg., ABl. 2000 C 365 E, 284, Begründung, Abschnitt II C 1 a): „Auch die nationalen Gerichte werden eine wichtige und verstärkte Rolle bei der Durchführung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft spielen. […] Der Vorschlag der Kommission zielt darauf ab, die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln über Klagen Einzelner bei den nationalen Gerichten zu verstärken.“ Siehe hierzu auch Basedow, ZWeR 2006, 294 (295 f.); Basedow, EBOR 2001, 443 (459); Hirsch, ZWeR 2003, 233 (235). 340
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ständigkeit der nationalen Gerichte auf die Feststellung einer Unvereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 1 AEUV und das Eingreifen der Nichtigkeitssanktion nach Art. 101 Abs. 2 AEUV beschränkte.345 Mit Anordnung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 101 Abs. 3 AEUV im Sinne einer Legalausnahme durch die Verordnung Nr. 1/2003346 fällt den nationalen Gerichte seitdem auch die Kompetenz zu, selbst zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt sind.347 Die nationalen Gerichte müssen sich daher nicht mehr fragen, ob der Prozess gegebenenfalls nach § 148 ZPO auszusetzten ist, um eine Entscheidung der Kommission über einen Freistellungsantrag abzuwarten, und sind damit in der Lage, kartellrechtliche Zivilstreitigkeiten beschleunigt abzuschließen.348 Durch den herbeigeführten Systemwechsel hat sich also ein bedeutender Teil der Verantwortung für die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln von der Kommission, die sich nunmehr auf die Wettbewerbspolitik und die Ahndung schwerwiegender Verstöße konzentriert, auf die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte verlagert.349 Damit hat die Verordnung Nr. 1/2003 die Voraussetzungen für eine umfassende dezentrale Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die nationalen Gerichte geschaffen.350 Statt aller Bunte, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Einl. Rn. 94. Nach Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 sind Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen i. S. v. Art. 101 Abs. 1 AEUV, die die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen, nicht verboten, ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung bedarf. 347 K. Schmidt, BB 2003, 1237 (1238 ff., 1244); K. Schmidt, ZEuP 2004, 881 (886); Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (316); Hossenfelder / Lutz, WuW 2003, 118 (119); Weitbrecht, EuZW 2003, 69 (72); Kirchhoff, WuW 2004, 745 (745). 348 Zur Verfahrensaussetzung bei einer möglichen Freistellungsentscheidung der Kommission unter dem alten Anmeldesystem EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91, Rn. 52 ff.; aus dem Schrifttum Basedow, ZWeR 2006, 294 (296); Basedow, Tex. Int’l. L.J. 42 (2007), 429 (437); Hirsch, ZWeR 2003, 233 (237); Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 6 VO 1/2003 Rn. 4. 349 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 36; Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (313 ff.); Gerber / Cassinis, E.C.L.R. 2006, 10 (10); Hirsch, ZWeR 2003, 233 (233); Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (214 ff.); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (490); die Rolle der nationalen Gerichte wird in Erwägungsgrund 7 der VO Nr. 1/2003 wie folgt beschrieben: „Die einzelstaatlichen Gerichte erfüllen eine wesentliche Aufgabe bei der Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln. In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen schützen sie die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden subjektiven Rechte, indem sie unter anderem den durch die Zuwiderhandlung Geschädigten Schadenersatz zuerkennen. Sie ergänzen in dieser Hinsicht die Aufgaben der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden. Ihnen sollte daher gestattet werden, die Artikel 81 und 82 des Vertrags in vollem Umfang anzuwenden.“ 350 Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (313 f.); Hossenfelder / Lutz, WuW 2003, 118 (119); Jones / Sufrin, EU Competition Law, 5. Aufl. 2014, 1086. 345 346
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Kapitel 1 – Grundlagen
2. Die EuGH-Urteile Courage und Manfredi Als Motor der Debatte um eine verstärkte private Durchsetzung in Europa erwies sich ferner der Europäische Gerichtshof. In der bereits mehrfach erwähnten Courage-Entscheidung äußerte sich der Gerichtshof auf Vorlage des Londoner Court of Appeal sehr grundlegend zum Stellenwert privater Schadensersatzklagen bei Verstößen gegen die europäischen Wettbewerbsregeln. Der Gerichtshof machte dabei deutlich, dass Einschränkungen derartiger Klagen nur schwer mit dem Unionsrecht in Einklang stehen können. So heißt es im Urteil: „Die volle Wirksamkeit des [unionsrechtlichen Kartellverbots wäre] beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist.“351
Die besondere rechtspolitische Impulswirkung erhielt das Courage-Urteil durch die Feststellung des Gerichtshofs, dass ein Schadensersatzanspruch „die Durchsetzungskraft der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln“ erhöhe und geeignet sei, von „Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können.“ Aus dieser Sicht könnten Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten, so der Gerichtshof, „wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Gemeinschaft beitragen.“352 Der Gerichtshof stellte zur Begründung des Rechts auf Schadensersatz bei Verstößen gegen das Unionskartellrecht also maßgeblich auf die verhaltenssteuernde Wirkung privater Schadensersatzklagen ab.353 In der Folgeentscheidung Manfredi354 bekräftigte der Gerichtshof die in der Courage-Entscheidung entwickelten Grundsätze und betonte die Überformung der unionsrechtlich geforderten Grundlagen für einen Schadensersatzanspruch im Recht der Mitgliedstaaten durch den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz.355
EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 26. EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27. 353 G. Wagner, AcP 206 (2006), 352 (404); bereits das Urteil des EuGH in Sachen van Gend & Loos enthält einen Ausspruch für eine Komplementierung der öffentlichen Rechtsdurchsetzung durch eine private Komponente, indem es dort heißt: „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten […] ausgeübte Kontrolle ergänzt“, EuGH 5.2.1963, Rs. C-26/62, Van Gend & Loos, EU:C:1963:1, S. 26; aus dem Schriftum hierzu etwa Nebbia, E.L. Rev. 33 (2008), 23 (24 f.); Paulis, in: Basedow, 2007, 7 (8); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 109 Fn. 332; zur Mobilisierung Privater zur Durchsetzung des Unionsrechts allgemein Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, passim. 354 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461. 351 352
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3. Weitere Impulse In den letzten Jahren gingen zusätzliche Impulse für die private Durchsetzung insbesondere von zwei weiteren Ereignissen aus.356 Zum einen wurden private Gesellschaften wie die Cartel Damage Claims S.A. (CDC) mit Sitz in Brüssel ins Leben gerufen.357 Deren Geschäftsmodell besteht darin, Ersatzansprüche von Kartellgeschädigten aufzukaufen und sich diese abtreten zu lassen, um sodann Ansprüche gebündelt geltend zu machen.358 In den letzten Jahren wurden auf diese Weise Klagen mit sehr hohen Streitwerten angestrengt. Genannt seien nur die in Deutschland geführten Schadensersatzklagen gegen das Zementkartell und das Wasserstoffperoxid-Kartell.359 Die Bündelung von Ansprüchen bei einem Kläger durch das klassische Instrument der Inkassozession ist als ein Versuch der Praxis zu verstehen, die kollektive Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen bereits unter geltendem Recht zu optimieren.360 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 60 ff., Rn. 71 f., Rn. 77 ff.; näher dazu etwa Bulst, ZEuP 2008, 178 (178 ff.); Afferni, ERCL, 179 (179 ff.). 356 Siehe dazu Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (218). 357 Siehe die Website ; genannt seien auch die Claims Funding Europe Ltd., die gegen das Luftfrachtkartell vorgeht (siehe die Website ) sowie die Association for Cartel Damage Actions (ACDA) (siehe die Website ). 358 Zum Geschäftsmodell siehe Schreiber, Int’l Law. 44 (2010), 1157 (1169 ff.). 359 Zur Klage gegen das Zementkartell siehe LG Düsseldorf 21.2.2007, 34 O (Kart) 147/05, BB 2007, 847; OLG Düsseldorf 14.5.2008, VI-U (Kart) 14/07, WuW 2008, 845; BGH 7.4.2009, KZR 42/08, GRUR-RR 2009, 319; LG Düsseldorf 17.12.2013, 37 O 200/09 (Kart), NZKart 2014, 75; OLG Düsseldorf 18.2.2015, VI-U (Kart) 3/14, NZKart 2015, 201; LG Mannheim 24.1.2017, 2 O 195/15, juris; zur Klage gegen das Wasserstoffperoxid-Kartell siehe LG Dortmund 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int 2013, 842, Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH, daraufhin EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335; zum Vorgehen der Cartel Damage Claims S.A. gegen das deutsche Zuckerkartell siehe ; zu Klagen gegen das Zuckerkartell siehe auch die Berichterstattung des Handelsblatts vom 23.8.2016, abrufbar unter: . 360 Vgl. dazu etwa Hempel, in: Möschel / Bien, 2010, 71 (78 f.); Stadler, JZ 2014, 613 (614); im Verfahren gegen das Zementkartell vor dem Landgericht und Oberlandesgericht Düsseldorf wurden die Abtretungsverträge allerdings für sittenwidrig und unwirksam erklärt, weil mangels ausreichender Finanzausstattung der Klägerin im Falle des Unterliegens der Kostenerstattungsanspruch der Beklagten gefährdet sei, LG Düsseldorf 17.12.2013, 37 O 200/09 (Kart), NZKart 2014, 75; OLG Düsseldorf 18.2.2015, VI-U (Kart) 3/14, NZKart 2015, 201 – Schadensersatz aus Zementkartell (CDC); siehe hierzu die kritischen Anmerkungen von Stadler, JZ 2014, 613 (613 ff.) (zum landgerichtlichen Urteil); Thole, ZWeR 2015, 93 (93 ff.); Kainer / Persch, WuW 2016, 2 (2 ff.) (zum oberlandesgerichtlichen Urteil). 355
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Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof im bereits diskutierten CDC-Urteil361 die Zuständigkeitsregeln der Brüssel Ia-VO in einem derartigen Fall sehr klägerfreundlich ausgelegt, so dass mancher gar von einer Einladung zum forum shopping spricht.362 Anreize zum forum shopping folgen insbesondere daraus, dass der Gerichtshof bei einem einheitlichen und fortgesetzten Verstoß gegen das Kartellverbot eine Klage am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zugelassen hat, sodass Schadensersatzklagen gegen mehrere Kartellanten bei einem Gericht konzentriert werden können, an dem nur einer der Kartellbeklagten seinen Sitz hat.363 Außerdem hat der Gerichtshof selbst am Erfolgsort, den er am jeweiligen Geschädigtensitz lokalisiert, eine unbeschränkte Kognitionsbefugnis der Gerichte angenommen.364 Hinter diesem Auslegungsergebnis dürfte auch und gerade das Bestreben stehen, die Rechtsposition Kartellgeschädigter und damit das private enforcement zu stärken.365 III. Gesetzgeberische Folgemaßnahmen zur Effektivierung der privaten Durchsetzung Der oben beschriebene Systemwechsel hin zu einer dezentralen Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die Verordnung Nr. 1/2003 sowie die Betonung der Steuerungswirkung privater Schadensersatzklagen durch den EuGH in den Urteilen Courage und Manfredi wirkten auf nationaler wie auf europäischer Ebene auch als wesentliche Triebfedern für gesetzgeberische Folgemaßnahmen zur Effektivierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung. Diese Maßnahmen sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. 1. Gesetzgeberische Maßnahmen auf nationaler Ebene In Deutschland hat der Gesetzgeber bereits mit der 7. GWB-Novelle,366 die am 1. Juli 2005 in Kraft getreten ist, das deutsche Wettbewerbsrecht nicht nur an das durch die Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 herbeigeführte System der dezentralen europäischen Kartellrechtsanwendung angepasst, sondern seinerzeit in den §§ 33–34a GWB a.F. auch die private Rechtsdurch-
361 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335; zum Urteil des EuGH in der Sache CDC und zur internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten generell bereits supra Kapitel 1 A. II. 3 a). 362 Stadler, JZ 2015, 1138 (1139); vgl. auch Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (239) („Forum Shopping das Gebot der Stunde“). 363 Näher dazu bereits supra Kapitel 1 A. II. 3 a). 364 Näher dazu bereits supra Kapitel 1 A. II. 3 a). 365 Heinze, in: FS Ahrens, 2016, 521 (529, 531); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (5 f.). 366 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 7.7.2005, BGB1. I 2005, 1954.
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setzung durch verschiedene Regelungen deutlich aufzuwerten gesucht.367 Zu den Neuregelungen zur Förderung der privaten Rechtsdurchsetzung zählte neben dem Verzicht auf das bis dahin bestehende Schutzgesetzerfordernis,368 einer Klarstellung zum Einwand der Schadensabwälzung auf nachgelagerte Marktstufen (passing on defence),369 einer Vereinfachung der Schadensschätzung nach § 287 ZPO durch Berücksichtigung des Verletzergewinns,370 der Verzinsung ab Schadenseintritt,371 auch die erstmals im Zuge der 7. GWBNovelle eingeführte Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen.372 Eine Bindungswirkung der Feststellungen in bestandskräftigen kartellbehördlichen Verfügungen war bis dahin im deutschen Recht unbekannt,373 auch wenn bereits zuvor kartellbehördlichen Entscheidungen im Zivilprozess zumindest erhebliche faktische Bedeutung zukam, indem Kläger sich zur Substantiierung des Kartellrechtsverstoßes auf diese berufen und die Gerichte mitunter auf die darin getroffenen tatsächlichen Feststellungen verwiesen haben.374 Die 8. GWB-Novelle,375 die am 30.6.2013 in Kraft getreten ist, Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 35: „Damit soll ein effektives zivilrechtliches Sanktionssystem geschaffen werden, von dem eine zusätzliche spürbare Abschreckungswirkung ausgeht.“ Näher zur 7. GWB-Novelle etwa Fuchs, WRP 2005, 1384 (1391 f.); Hartog / Noack, WRP 2005, 1396 (1403 ff.); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (69 f.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 64 f. 368 Die Vorgängervorschrift des im Rahmen der 7. GWB-Novelle neu gestalteten § 33 GWB a. F. erforderte, dass die verletzte Vorschrift „den Schutz eines anderen bezweckt“ und bezog sich nicht auf Verstöße gegen die europäischen Wettbewerbsregeln, die nur unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB sanktioniert wurden; hierzu etwa Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 2 f., 25. 369 Nach § 33 Abs. 3 S.2 GWB a. F. (nun § 33c Abs. 1 S. 1 GWB) ist ein Schaden nicht deshalb ausgeschlossen, weil eine zu einem überteuerten Preis bezogene Ware oder Dienstleistung weiterveräußert wurde; grundlegend zum (zulässigen) Einwand der Schadensabwälzung auf nachgelagerte Marktstufen im deutschen Kartelldeliktsrecht (vor Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie) BGH 28.6.2011, KZR 75/10, NJW 2012, 928 – ORWI; hierzu Bulst, ZWeR 2012, 70 (70 ff.); Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (90 ff.). 370 § 33 Abs. 3 S. 3 GWB a. F. (siehe nun § 33a Abs. 3 S. 2 GWB). 371 § 33 Abs. 3 S. 4 und 5 GWB a. F. (siehe nun § 33a Abs. 4 S. 1 und 2 GWB). 372 § 33 Abs. 4 GWB a. F.: „Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Gesetzes oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union Schadensersatz gefordert, ist das Gericht an die Feststellung des Verstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde, der Europäischen Kommission oder der Wettbewerbsbehörde oder des als solche handelnden Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wurde.“ 373 Vgl. BGH 24.6.1965, KZR 7/64, NJW 1965, 2249 (2250) – Brotkrieg II; OLG Düsseldorf 6.5.1993, 5 U 160/92, OLGZ 1994, 80 (81); vgl. zu entsprechenden Reformüberlegungen aber etwa bereits Steindorff, ZHR 1974, 504 (516, 524 f., 532). 374 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (155 f.); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 246; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des 367
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brachte weitere vereinzelte Verbesserungen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung mit sich.376 Mit der 9. GWB-Novelle,377 die am 9.6.2017 in Kraft getreten ist,378 wurden schließlich die Vorgaben der Kartellschadensersatzrichtlinie379 in das deutsche Recht umgesetzt. Auch in anderen europäischen Ländern war der Gesetzgeber bereits darum bemüht, die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken, ehe der europäische Gesetzgeber im November 2014 schließlich die Kartellschadensersatzrichtlinie erlassen hat, so etwa in Österreich, Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Italien, Polen und Ungarn.380 Eine Regelung zur Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen wurde im Zuge dessen etwa in Österreich, im Vereinigten Königreich und in Ungarn eingeführt.381 In anderen Mitgliedstaaten blieb eine Regelung über die Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen zwar aus, allerdings haben sich die dortigen Gerichte auch ohne eine institutionalisierte Bindungswirkung bereits in der Vergangenheit mitunter maßgeblich auf Feststellungen in kartellbehördlichen Entscheidungen gestützt, so etwa in Frankreich, Italien, Schweden und PoKartellrechts, 2010, 82 f.; Wurmnest, German Law Journal 2005, 1173 (1185); dazu, dass der Zivilrichter nicht gehindert war, auf die in einem Bußgeldbescheid getroffenen rechtserheblichen Tatsachen zu verweisen, BGH 24.6.1965, KZR 7/64, NJW 1965, 2249 (2250) – Brotkrieg II; OLG Düsseldorf 6.5.1993, 5 U 160/92, OLGZ 1994, 80 (81). 375 Achtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1738. 376 Dazu Bien, ZWeR 2013, 448 (448 ff.); Bunte, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Einl. Rn. 40 ff., 48. 377 Neuntes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 1.6.2017, BGBl. I 2017, 1416; zum Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle Petrasincu, WuW 2016, 330 (330 ff.); Kersting / Preuß, WuW 2016, 394 (394 ff.). 378 Nach Art. 8 des Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind die der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie dienenden §§ 33a bis 33f und § 33h GWB (unter Ausnahme von § 33c Abs. 5 GWB) rückwirkend zum 27.12.2016 in Kraft getreten. 379 Näher zur Kartellschadensersatzrichtlinie sogleich infra Kapitel 1 B. III. 2. 380 Bien, NZKart 2013, 481 (482); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (489); zu den Reformen in Österreich Kofler-Senoner / Siebert, EuZW 2012, 650 (653 f.); zu Frankreich Vogel, EuZW 2012, 897 (900); Jalabert-Doury, in: Foer / Cuneo, 2012, 316 (316 ff.); näher zum Vereinigten Königreich Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 183 ff., vgl. auch zur Einführung einer Opt-out-Gruppenklage durch den Consumer Rights Act 2015 Mozetic, Civ. Just. Q. 35 (2016), 29 (29 ff.); zu Italien Cortese, EuZW 2012, 730 (730 ff.); Barone / Amore, in: Foer / Cuneo, 2012, 346 (346 ff.); zu Polen MotykaMojkowski, EuZW 2012, 817 (817 ff.). 381 Näher zur Regelung der Bindungswirkung in Österreich Kofler-Senoner / Siebert, EuZW 2012, 650 (653 f.); zur Regelung im Vereinigten Königreich Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 185; Rodger, Competition Law, Comparative Private Enforcement and Collective Redress across the EU, 2014, 41 f.; Jones / Sufrin, EU Competition Law, 5. Aufl. 2014, 1120 f.; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (798); zur Regelung in Ungarn Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (153, 156, 163 Fn. 210).
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len.382 Mit Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie, deren Entstehungsprozess und Inhalt im Folgenden umrissen werden soll, hat die Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen schließlich flächendeckend Einzug in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gehalten. 2. Gesetzgeberische Maßnahmen auf europäischer Ebene: Der Weg zur Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU Auf europäischer Ebene wurden die Betonung der Steuerungswirkung privater Schadensersatzklagen und der ausdrückliche Hinweis auf das bisherige Fehlen unionsweiter Harmonisierungsmaßnahmen durch den Europäischen Gerichtshof383 vonseiten der Kommission sogleich als rechtspolitischer Handlungsauftrag verstanden.384 In einem ersten Schritt wurde die Anwaltskanzlei Ashurst mit einem rechtsvergleichenden Gutachten zu den Voraussetzungen privater Schadensersatzklagen beim Verstoß gegen die europäischen Wettbewerbsregeln beauftragt, das nebst Länderberichten Ende August 2004 veröffentlicht wurde385 und der privaten Kartellrechtsdurchsetzung mittels Schadensersatzklagen in der EU eine „völlige Unterentwicklung“ bescheinigte.386 382 Zur Situation in Frankreich Jalabert-Doury, in: Foer / Cuneo, 2012, 316 (329); das französische Recht kannte bis zur Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie lediglich bei der 2014 eingeführten action de groupe der Verbraucherverbände eine unwiderlegliche Bindungswirkung, dazu Bien, NZKart 2014, 507 (509); Becker, NZKart 2016, 58 (60); zur praktischen Bedeutung kartellbehördlicher Entscheidungen vor den italienischen Zivilgerichten Barone / Amore, in: Foer / Cuneo, 2012, 346 (347); Cortese, EuZW 2012, 730 (731); Panzani, Italian Antitrust Review 2 (2015), 98 (99); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (153 f.); zur Situation in Schweden Glader / Alstergren, in: Foer / Cuneo, 2012, 395 (402); zu Polen Motyka-Mojkowski, EuZW 2012, 817 (818). 383 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 29: „Mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung ist es jedoch Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen […].“ 384 Basedow, Tex. Int’l. L.J. 42 (2007), 429 (437); Basedow, ZWeR 2006, 294 (296); Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (217); Wilman, Private Enforcement of EU Law Before National Courts, 2015, 210. 385 Ashurst, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules, 31 August 2004, abrufbar unter: . 386 Ashurst, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules, 31 August 2004, 1: „The picture that emerges from the present study on damages actions for breach of competition law in the enlarged EU is one of astonishing diversity and total underdevelopment.“ Kritisch zu diesem Befund Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven, 2005, 5 („in dieser Allgemeinheit unzutreffend“); Lübbig / le Bell, WRP 2006, 1209 (1211) („verzerrtes Bild“); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (491); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz
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Vor diesem Hintergrund und nach Vorarbeiten einer Expertengruppe, die unter dem Namen „Think Tank on Private Enforcement“ durch die Generaldirektion Wettbewerb einberufen worden war,387 veröffentlichte die Kommission im Jahr 2005 das Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“,388 das die Haupthindernisse für eine erfolgreiche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zu identifizieren suchte und verschiedene gesetzgeberische Reaktionsmöglichkeiten aufzeigte. Eine der diskutierten Reaktionsmöglichkeiten zielte auf eine Erleichterung der Beweislast des Klägers im Kartellschadensersatzprozess ab, wobei neben anderen Optionen eine Bindung der Zivilgerichte an die Feststellungen in Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden als Handlungsoption aufgeworfen wurde.389 Auf das Grünbuch folgte das Weißbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts“ aus dem Jahr 2008,390 in dem die Kommission eine Bindungswirkung von Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden als Regelung vorschlug.391 Es bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 2; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 47; Bulst, Schadenersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006, 27 („Situation weniger dramatisch […] als in der Studie beschrieben“). 387 Unter dem Vorsitz des früheren Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof Walter van Gerven gehörten der Expertengruppe Jürgen Basedow, Direktor am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und seinerzeit amtierender Vorsitzender der Monopolkommission, Sir Christopher Bellamy, zu jener Zeit Präsident des Competition Appeal Tribunal (CAT), Carole Champalaune, damals Richterin an der Cour de Cassation, sowie Robert Mok, ehemals Advocaat-Generaal am Hoge Raad der Niederlande, an. 388 Kommission, Grünbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672 endgültig; begleitet wurde das Grünbuch durch das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, SEC(2005) 1732; zur Bewertung des Grünbuchs etwa Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Diemer, E.C.L.R. 2006, 309 (309 ff.); Eilmansberger, CML Rev. 44 (2007), 431 (431 ff.). 389 Alternativ wurde eine Beweislastumkehr diskutiert, Grünbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672 endgültig, 7 (Option 8); als weitere Optionen für eine Erleichterung der Beweislast des Klägers wurden eine Verlagerung oder Einschränkung der Beweislast in Fällen einer Informationsasymmetrie zwischen Kläger und Beklagtem (Option 9) und eine widerlegbare oder unwiderlegbare Beweisvermutung als Folge einer ungerechtfertigen Weigerung, Beweise auszuhändigen (Option 10), erwogen. 390 Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig; zeitgleich erschien das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final; zur Bewertung des Weißbuchs etwa Bulst, Bucerius Law Journal 2008, 81 (81 ff.); Komninos, Concurrences N° 2-2008, 84 (84 ff.); Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (489 ff.); Editorial Comments, CML Rev. 45 (2008), 609 (609 ff.). 391 Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 6 f.; detailliertere Ausführungen dazu finden
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folgten ein inoffiziell gebliebener Richtlinienentwurf aus dem Jahr 2009 und der offizielle Richtlinienvorschlag der Kommission aus dem Jahr 2013, der eine dem Vorschlag des Weißbuchs entsprechende Regelung zur Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen enthielt.392 Zeitgleich mit dem Richtlinienvorschlag veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung zur Ermittlung des Schadensumfangs bei Kartellschadensersatzklagen393 begleitet von einem umfangreichen praktischen Leitfaden,394 die den Gerichten und Parteien im Gerichtsverfahren eine (rechtlich unverbindliche) Hilfestellung bei der regelmäßig ökonomisch wie rechtlich schwierigen Quantifizierung von Kartellschäden bieten sollen.395 Mehr als ein Jahrzehnt nach den ersten Vorarbeiten für ein gesetzgeberisches Tätigwerden auf Unionsebene396 wurde am 26. November 2014 schließlich die Kartellschadensersatzrichtlinie erlassen.397 sich in Kapitel 4 des Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 134 ff.; aus dem Schrifttum zur vorgeschlagenen Bindungswirkung im Weißbuch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (795 ff.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (135 ff.). 392 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, COM(2013) 404 final; zum Richtlinienvorschlag etwa Möllers, Europa e Diritto Privato 2014, 821 (821 ff.); Mederer, EuZW 2013, 847 (847 ff.). 393 Kommission, Mitteilung der Kommission zur Ermittlung des Schadensumfangs bei Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2013 C 167, 19. 394 Kommission, Arbeitsunterlagen der Kommissionsdienststellen – Praktischer Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfanges bei Schadenersatzklagen im Zusammenhang mit Zuwiderhandlungen Artikel 101 oder 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, SWD(2013) 205. 395 Beiden Dokumenten war ein umfangreiches Konsultationsverfahren sowie die seitens der Kommission in Auftrag gegebene Studie von Oxera, Quantifying antitrust damages. Towards non-binding guidance for courts, December 2009, vorausgegangen; vgl. zu alledem etwa Bernhard, NZKart 2013, 488 (488 ff.). 396 Vgl. oben zu den ersten Vorarbeiten, die mit der Beauftragung eines externen rechtsvergleichenden Gutachtens durch die Anwaltskanzlei Ashurst und der Einsetzung der Expertengruppe „Think Tank on Private Enforcement“ begonnen hatten. 397 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349, 1; zur Bewertung der Richtlinie etwa Schweitzer, NZKart 2014, 335 (335 ff.); Editorial Comments, CML Rev. 51 (2014), 1333 (1333 ff.); Kersting, WuW 2014, 564 (564 ff.); Kwan, E.C.L.R. 2015, 455 (455 ff.); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (131 ff.); Andreangeli, Civ. Just. Q. 35 (2016), 342 (342 ff.); Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (7 ff.); Stauber / Schaper, NZKart 2014, 346 (346 ff.); Kühne / Woitz, DB 2015, 1028 (1028 ff.); Haus / Serafimova, BB 2014, 2883 (2883 ff.); Böni, EWS 2014, 324 (324 ff.).
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Mit der Richtlinie werden erklärtermaßen zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen die Bedingungen für die wirksame Geltendmachung von Ersatzansprüchen wegen Kartellrechtsverstößen in den Mitgliedstaaten verbessert und vereinheitlicht werden,398 womit die Richtlinie die private Kartellrechtsdurchsetzung nicht etwa umfassend regelt, sondern in ihrem Anwendungsbereich auf Schadensersatzklagen beschränkt bleibt.399 Zweites erklärtes Ziel der Richtlinie ist es, das Zusammenspiel von behördlicher und privater Durchsetzung kohärent zu regeln.400 Entsprechend dieser doppelten Zielsetzung401 dient ein erster Teil der in der Richtlinie getroffenen Regelungen der Effektivierung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen. Diese Regelungen gehen dabei über eine bloße Kodifizierung des acquis teils deutlich hinaus:402 Neben Regelungen etwa zur Offenlegung von Beweismitteln (Art. 5),403 zur Verjährung (Art. 10),404 zur Ausgestaltung des Einwands der Abwälzung des Preisaufschlags auf nachgelagerte Marktstufen (passing on defence) und dessen Auswirkung auf AnArt. 1 Abs. 1 S. 1 und 2 Kartellschadensersatzrichtlinie. Dazu nur Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336); Editorial Comments, CML Rev. 51 (2014), 1333 (1341); vgl. auch Erwägungsgrund 5 der Kartellschadensersatzrichtlinie: „Schadensersatzklagen sind bei Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht nur eines der Elemente eines effektiven Systems der privaten Rechtsdurchsetzung […].“ Außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie bleiben mithin andere Formen der privaten Rechtsdurchsetzung, wie zvilrechtliche Unterlassungs-, Beseitigungs- oder Bereichungsklagen; zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung supra Kapitel 1 A. II. 2. 400 Siehe Art. 1 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie und Erwägungsgrund 6: „Zur Sicherstellung wirksamer privater zivilrechtlicher Durchsetzungsmaßnahmen und einer wirksamen öffentlichen Rechtsdurchsetzung durch die Wettbewerbsbehörden müssen beide Instrumente zusammenwirken, damit die Wettbewerbsvorschriften höchstmögliche Wirkung entfalten. Es ist erforderlich, die Koordinierung zwischen den beiden Formen der Durchsetzung kohärent zu regeln […].“ 401 Zur doppelten Zielsetzung der Richtlinie Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (7); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (335, 345); Calisti / Haasbeek / Kubik, NZKart 2014, 466 (467, 469); Kwan, E.C.L.R. 2015, 455 (455); Vollrath, NZKart 2013, 434 (435); Bulst, NZKart 2013, 433 (433). 402 Vgl. dazu etwa die Zusammenfassung bei Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336 ff.). Den acquis greifen dagegen auf Art. 3, der das Recht auf vollständigen Schadensersatz bei Wettbewerbsverstößen festschreibt (vgl. EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 26; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 60) sowie Art. 4, der die Überformung des Rechts der Mitgliedstaaten zum Schadensersatz bei Wettbewerbsverstößen durch den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz kodifiziert (vgl. EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 29; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 62). 403 Zur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33g GWB. 404 Zur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33h GWB. 398 399
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sprüche direkter und mittelbarer Abnehmer (Art. 12 bis 15),405 zur Ermittlung des Schadensumfangs, insbesondere zur Schadensvermutung bei Kartellen (Art. 17 Abs. 2),406 trifft dies insbesondere auch auf die Regelung zur Wirkung nationaler Entscheidungen zu (Art. 9).407 Entgegen der im Weißbuch und im Richtlinienvorschlag von 2013 noch empfohlenen (unwiderleglichen) Bindungswirkung auch der Entscheidungen anderer nationaler Wettbewerbsbehörden verpflichtet Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie die Mitgliedstaaten lediglich dazu, Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden zumindest als „Anscheinsbeweis“ für einen Wettbewerbsverstoß zuzulassen.408 Die von der Kommission befürwortete und zunächst vorgeschlagene Bindungswirkung auch der Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden war in einzelnen Mitgliedstaaten, insbesondere in Italien, Irland und Bulgarien auf erhebliche (auch verfassungsrechtliche) Bedenken409 und entschiedene Gegenwehr gestoßen und war daher letzten Endes politisch nicht durchsetzbar.410 Der zweite Teil der in der Richtlinie getroffenen Regelungen dient nicht der Effektivierung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, sondern der Abstimmung von behördlicher und privater Rechtsdurchsetzung. Die mit der Richtlinie bezweckte Koordinierung der Durchsetzungsspuren erfolgt namentlich im Sinne eines Schutzes der behördlichen Durchsetzungsspur vor unerwünschten Rückwirkungen privater Schadensersatzklagen, wie das kategorische Offenlegungsverbot von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen bei der Offenlegung von Beweismitteln (Art. 6 Abs. 6 sowie Art. 7 Abs. 1) 411 und die Privilegierung von Kronzeugen bei der gesamtschuldnerischen Haftung (Art. 11 Abs. 4, 5 S. 2, Abs. 6)412 zeigen. Hinter diesen RegeZur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33c GWB. Umgesetzt im deutschen Recht in § 33a Abs. 2 GWB. 407 Im deutschen Recht nun verankert in § 33b GWB; näher dazu, dass die Effektivierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung den maßgeblichen Zweck der Bindungswirkung bildet, infra Kapitel 1 C. II. 2. 408 Näher zur Anordnung einer bloßen prima facie-Beweiswirkung im Recht anderer Mitgliedstaaten infra Kapitel 3 B. 409 Näher zu den geltend gemachten rechtsstaatlichen Bedenken gegenüber der Anordnung einer Bindungswirkung, insbesondere von Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten, infra Kapitel 3 A. IV. und V. 410 Vgl. dazu G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 597; Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336); Kersting, WuW 2014, 564 (572); Lianos / Davis / Nebbia, Damages Claims for the Infringement of EU Competition Law, 2015, Rn. 3.43 f.; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 168; vgl. zur kritischen Haltung etwa in Italien Cortese, EuZW 2012, 730 (731); Panzani, Italian Antitrust Review 2 (2015), 98 (101 f.); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (136 f.). 411 Zur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33g Abs. 4, § 89b Abs. 8, § 89c Abs. 4 GWB sowie § 89 Abs. 2 GWB. 412 Zur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33e GWB. 405 406
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lungen steht die Sorge, dass die Attraktivität und damit Funktionsfähigkeit von Kronzeugenprogrammen durch Akteneinsichtsrechte privater Schadensersatzkläger beeinträchtigt werden könnten.413 Kritische Stimmen sehen darin eine unverhältnismäßige Begünstigung der behördlichen gegenüber der privaten Durchsetzungsspur.414 In den genannten Regelungen erschöpfen sich die Bestimmungen der Richtlinie, die das Zusammenspiel von privater und behördlicher Durchsetzung betreffen, freilich nicht. Hierzu zählt auch und gerade die Regelung zur Wirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden (Art. 9). Über den Regelungsinhalt der Richtlinie hinaus gibt es weitere Aspekte, die eine umfassendere Betrachtung des Verhältnisses von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung rechtfertigen. Wie sich dieses Verhältnis nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsentwicklung darstellt und welche Bedeutung der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen darin zukommt, soll im nächsten Abschnitt beleuchtet werden.
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
Behördliche und private Kartellrechtsdurchsetzung verlaufen im Ausgangspunkt rechtlich unabhängig nebeneinander. Gleichwohl stehen sich beide Durchsetzungsspuren keineswegs isoliert gegenüber, es bestehen vielmehr diverse Wechselwirkungen. Durch das Instrument der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess werden die Durchsetzungsspuren miteinander verzahnt und die Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren durchbrochen. I.
Ausgangslage
1. Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren Die Verfahren zur Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen vor den Zivilgerichten und die behördlichen Verfahren zur Verfolgung und Ahndung von Verstößen durch die Wettbewerbsbehörden verlaufen im Grundsatz rechtlich unabhängig nebeneinander;415 das Wettbewerbsrecht wird durch die Näher hierzu sogleich infra Kapitel 1 C. I. 2. Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (7, 13); vgl. auch Schweitzer, NZKart 2014, 335 (345) („Richtlinie sichert im Ergebnis die Vorherrschaft der öffentlichen Durchsetzung in Europa ab“); Editorial Comments, CML Rev. 51 (2014), 1333 (1341) („impression that, on balance, the interests related to public enforcement slightly prevail over the rights of injured private parties […]“). 415 Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 424; Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (146 ff.); Komninos, CML Rev. 44 413 414
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Wettbewerbsbehörden und Gerichte jeweils eigenständig ausgelegt und angewandt. Es bestehen zwar verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen den Wettbewerbsbehörden und den Gerichten,416 ein potentieller Kläger muss aber nicht etwa erst eine behördliche Entscheidung abwarten, bevor er im Zivilprozess einen Kartellrechtsverstoß und die darauf beruhenden (Zivil-)Rechtsfolgen geltend machen kann.417 In diesem Sinne verlaufen die behördlichen und privatrechtlichen Verfahren zur Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen rechtlich unabhängig nebeneinander. Die Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren leuchtet vor dem Hintergrund ein, dass behördliche und private Durchsetzung in ihren jeweiligen Ausgangspunkten unterschiedliche Ziele verfolgen:418 Die behördliche Durchsetzung dient der Abstellung und Ahndung von Wettbewerbsverstößen sowie der Abschreckung von (potentiellen) Delinquenten. Dagegen dient die private Kartellrechtsdurchsetzung zuvörderst dem Individualrechtsschutz, bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen im Wege der Kompensation infolge von Wettbewerbsverstößen erlittener Schäden.419 Zwar ist mittlerweile weitgehend anerkannt, dass trotz dieser im Ausgangspunkt unterschiedlich nuancierten Zielrichtungen auch die private Kartellrechtsdurchsetzung als Mittel der Wettbewerbsaufsicht fungieren und die behördliche Durchsetzungsspur (2007), 1387 (1422 ff.); Komninos, Competition Law Review 3 (2006), 5 (16 f.); vgl. zur Möglichkeit nebeneinander herlaufender Verwaltungs-, Bußgeld- und Zivilverfahren im (deutschen) Kartellrecht bereits Spengler, Über die Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit von Wettbewerbsbeschränkungen, 1960, 23; vgl. auch K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977, 115 f.: „Die öffentlichen und privatrechtlichen Instrumente des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen scheinen zunächst vor allem in das Verhältnis eines Nebeneinander gestellt.“ 416 Zur Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte, die Kommission um Übermittlung von Informationen oder um Stellungnahmen zu bitten, sowie zur Möglichkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission, aus eigener Initiative den Gerichten Stellungnahmen zur Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zu übermitteln siehe Art. 15 Abs. 1 und 3 VO Nr. 1/2003; siehe ferner die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, 54. 417 Siehe nur Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1426). 418 Vgl. Kommission, Impact Assessment Report – Damages actions for breach, SWD(2013) 204 final, Rn. 29: „There is a consensus […] that public and private enforcement are two different instruments that pursue different objectives [and] that both instruments are in principle equally important and must hence be independent and complementary mechanisms.“ 419 Wils, World Competition 32 (2009), 3 (12 ff.); Nebbia, E.L. Rev. 33 (2008), 23 (23 ff.); Neruda, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 230 (235 f.); Komninos, Competition Law Review 3 (2006), 5 (10); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 114 f.; vgl. dagegen zum Primat der Abschreckungswirkung des private enforcement im US-amerikanischen Antitrust-Recht H. Buxbaum, in: Basedow, 2007, 41 (44); Baker, Loy. Consumer L. Rev. 16 (2004), 379 (382).
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Kapitel 1 – Grundlagen
ergänzen kann,420 sodass neben den Wettbewerbsbehörden im Kartellzivilprozess auch die Zivilgerichte im öffentlichen Interesse tätig werden.421 Diese Komplementärfunktion der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ändert indes nichts an der rechtlichen Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren, sondern bestätigt diese vielmehr. Zwischen den Durchsetzungsspuren besteht de jure auch kein Rangverhältnis im Sinne eines generellen Vorranges der behördlichen gegenüber der privaten Durchsetzungsspur.422 Beide Durchsetzungsspuren verlaufen im Grundsatz vielmehr rechtlich gleichrangig nebeneinander. Rein tatsächliche Begründungen für ein Rangverhältnis, wie die im praktischen Rechtsleben weitaus größere Bedeutung der behördlichen Durchsetzungsspur, vermögen an diesem rechtlichen Befund nichts zu ändern.423 In der bereits erwähnten Siehe dazu nur Basedow, ZWeR 2006, 294 (304); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 8 ff.; Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (142); Komninos, Competition Law Review 3 (2006), 5 (15); van den Bergh / Keske, ERCL 2007, 468 (473 f.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 113 f.; vgl. auch Erwägungsgrund 7 VO Nr. 1/2003: „In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen schützen [die einzelstaatlichen Gerichte] die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden subjektiven Rechte, indem sie unter anderem den durch die Zuwiderhandlung Geschädigten Schadenersatz zuerkennen. Sie ergänzen in dieser Hinsicht die Aufgaben der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden.“ (Hervorhebung nur hier); a. A. dagegen Wils, World Competition 26 (2003), 473 (488): „There is not even a case for a supplementary role for private enforcement […]“; zu Recht kritisch zu dieser Einschätzung C. A. Jones, World Competition 27 (2004), 13 (13 ff.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 104 Fn. 204. 421 Vgl. EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 19: „Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Art. 101 AEUV und 102 AEUV anzuwenden, wenn der Sachverhalt unter das Unionsrecht fällt, und ihre wirksame Anwendung im öffentlichen Interesse sicherzustellen.“ (Hervorhebungen nur hier). 422 Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (146); Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1422 f.); Komninos, Competition Law Review 3 (2006), 5 (16 f.); Böni, EWS 2014, 324 (325); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 481 (unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Pfleiderer, EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389); siehe auch die Schlussanträge von GA Mazák 16.12.2010 – Rs. C360/09, Pfleiderer, Slg. 2011, I-5161, Rn. 40: „Meines Erachtens besteht aufgrund der Verordnung Nr. 1/2003 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs de iure kein bestimmtes Rang- oder Prioritätsverhältnis zwischen der öffentlich-rechtlichen Durchsetzung des EUWettbewerbsrechts und privaten Schadensersatzklagen.“ 423 So zu Recht Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 481; vgl. auch die Schlussanträge von GA Mazák 16.12.2010 – Rs. C-360/09, Pfleiderer, Slg. 2011, I-5161, Rn. 40: „[…] auch wenn de iure kein Rangverhältnis besteht, [ist] die Rolle der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung der Einhaltung der Art. 101 und 102 AEUV derzeit meines Erachtens von weit größerer Bedeutung als private Schadensersatzklagen.“ Einen generellen Vorrang der behördlichen gegenüber der privaten Kartellrechtsdurchsetzung bejahen dagegen Mäger / Zimmer / Milde, WuW 2009, 885 (894 f.); 420
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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Entscheidung des Unionsgesetzgebers, bei der Frage der Akteneinsichtnahme privater Schadensersatzkläger in Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen einen vollumfänglichen Schutz der behördlichen vor möglichen negativen Rückwirkungen der privaten Durchsetzung einzuräumen,424 mag man indes eine gewisse Durchbrechung der Gleichrangigkeit erblicken. 2. Wechselwirkungen Wenngleich die beiden Durchsetzungsspuren im Grundsatz rechtlich unabhängig nebeneinander verlaufen, stehen diese einander keineswegs isoliert gegenüber. Die Gemengelage von behördlichen und zivilgerichtlichen Verfahren bedingt vielmehr unterschiedliche wechselseitige Beeinflussungen.425 Diese Wechselwirkungen im Verhältnis der Durchsetzungsspuren können auftreten, wenn ein bestimmtes wettbewerbswidriges Verhalten Gegenstand sowohl eines behördlichen Kartellverfahrens als auch eines zivilgerichtlichen Verfahrens ist, wobei Wechselwirkungen teils als Verstärkungen, vielfach aber auch als Spannungen zu Tage treten.426 Die behördliche Kartellrechtsdurchsetzung vermag die private Durchsetzung in der follow on-Situation zunächst ganz wesentlich zu stärken.427 So kann neben der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im follow on-Prozess428 die Einsicht privater Kläger in die Verfahrensakten der Wettbewerbsbehörden die Durchsetzung kartellprivatrechtlicher Ansprüche entscheidend erleichtern.429 Umgekehrt kann die Feststellung eines Wettbevgl. für einen Vorrang der behördlichen Kartellrechtsdurchsetzung auch Mundt, in: FS Möschel, 2011, 427 (438 f.); Canenbley / Steinvorth, in: FS 50 Jahre FIW, 2010, 143 (151 f.). 424 Art. 6 Abs. 6 und Art. 7 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie. 425 Panzani, Italian Antitrust Review 2 (2015), 98 (98); einen Überblick zu verschiedenen Wechselwirkungen zwischen privater und behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung bieten etwa Wils, World Competition 32 (2009), 3 (15 ff.); Neruda, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 230 (238 ff.); Komninos, Competition Law Review 3 (2006), 5 (20 ff.); fokussiert auf Spannungen zwischen den Durchsetzungsspuren Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (135 ff.). 426 Neruda, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 230 (238); Lianos / Davis / Nebbia, Damages Claims for the Infringement of EU Competition Law, 2015, Rn. 7.108; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 302; Calisti / Haasbeek / Kubik, NZKart 2014, 466 (469); Böni, EWS 2014, 324 (330); vgl. auch Heinemann, in: Zäch / Heinemann / Kellerhals, 2010, 300 (316) („The co-existence of public and private enforcement is not always peaceful“); generell zu möglichen negativen Rückwirkungen des private auf das public enforcement etwa Stephenson, Va. L. Rev. 91 (2005), 93 (117 ff.); Kern, ZZP Int. 12 (2007), 351 (367). 427 Statt aller Wils, World Competition 32 (2009), 3 (15); zu den Vorteilen von follow on-Klagen gegenüber stand alone-Klagen bereits supra Kapitel 1 A. II. 2. b). 428 Dazu näher sogleich infra Kapitel 1 C. II. 429 Statt aller Wils, World Competition 32 (2009), 3 (17); zu Einsichtsrechten privater Kläger in die Verfahrensakten der Wettbewerbsbehörden etwa Sanner, Informationsgewin-
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Kapitel 1 – Grundlagen
werbsverstoßes im Zivilprozess die Einleitung eines kartellbehördlichen Verwaltungsverfahrens nach sich ziehen.430 Aus der Perspektive der Wettbewerbsbehörden steht dennoch die Sorge im Vordergrund, dass der Zugang privater Kläger zu Daten und Informationen der Wettbewerbsbehörden, die diese im Rahmen von Kronzeugenprogrammen gewonnen haben, nachteilige Rückwirkungen auf Attraktivität und damit Funktionsfähigkeit dieser Programme haben könnte.431 Befürchtet wird, dass potentielle Kronzeugen aus Furcht vor privaten Schadensersatzklagen432 von einer Offenlegung von Kartellen im Rahmen dieser Programme absehen.433 nung, 2014, 418 ff.; Westhoff, Der Zugang zu Beweismitteln bei Schadensersatzklagen im Kartellrecht, 2010, 114 ff.; Lampert / Weidenbach, WRP 2007, 152 (152 ff.). 430 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (402); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (533); vgl. LG München I 23.8.2000, 21 O 16924/99, WuW/E DE-R 633 – Transportbeton Deggendorf; nachdem im zivilgerichtlichen Verfahren ein Kartellverstoß ans Licht gekommen war, schloss sich ein Bußgeldverfahren an, vgl. OLG Düsseldorf 29.10.2003, VI-Kart 9-11/03 OWi, juris; BGH 25.4.2005, KRB 22/04, juris – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung. 431 Diese Problematik war bereits Gegenstand zahlreicher Gerichtsurteile und hat auch den Gerichtshof bereits mehrfach beschäftigt, EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366; EuGH 27.2.2014, Rs. C-365/12 P, Kommission / EnBW, EU:C:2014:112; zum Problemfeld aus dem Schrifttum etwa Böge, in: Basedow, 2007, 217 (217 ff.); Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (139 ff.); Häfele, Private Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht und die Kronzeugenregelung, 2013, passim; Milde, Schutz des Kronzeugen im Spannungsfeld von behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung und privaten Schadensersatzklagen, 2013, passim; Fort, G.C.L.R. 2008, 24 (24 ff.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 552 ff. 432 Kronzeugen können zivilrechtlich in Anspruch genommen werden, auch wenn sie im Rahmen des Bußgeldverfahrens verschont geblieben sind; klarstellend die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298, 17 Rn. 39; sowie Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006, Rn. 24; im Gesamtschuldnerausgleich werden Kronzeugen indes privilegiert, siehe Art. 11 Abs. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie und im deutschen Recht § 33e GWB. 433 EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 26 f.; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 42; siehe auch Erwägungsgrund 26 der Kartellschadensersatzrichtlinie: „[…] Unternehmen könnten davon abgeschreckt werden, im Rahmen von Kronzeugenprogrammen und Vergleichsverfahren mit Wettbewerbsbehörden zusammenzuarbeiten, wenn Erklärungen, mit denen sie sich selbst belasten, wie Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, die ausschließlich zum Zwecke dieser Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden erstellt werden, offengelegt würden.“; differenzierend nach Schwere und Dauer des Kartells, dem Risiko baldiger Aufdeckung und der Höhe der zu erwartenden Bußgelder Sir Peter Roth in National Grid Electricity Transmission Plc v ABB & Others, [2012] EWHC 869 (Ch), Rn. 37; kritisch zur Annahme eines Attraktivitätsverlusts der Kronzeugenprogramme, da es an entsprechenden empirischen Belegen fehle, dagegen Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (7 Fn. 13, 9); Krüger, NZKart 2013, 483 (485); zweifelnd auch Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (144)
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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Die Kartellschadensersatzrichtlinie entscheidet dieses Spannungsverhältnis wie bereits erwähnt zugunsten eines umfassenden Schutzes von Kronzeugenerklärungen vor der Einsichtnahme privater Kläger.434 Da der Gerichtshof in den Sachen Pfleiderer und Donau Chemie die Notwendigkeit einer Einzelfallabwägung zwischen den widerstreitenden Interessen der Informationsübermittlung einerseits und dem Schutz der Kronzeugenunterlagen andererseits betont hat,435 wird das in der Richtlinie verankerte kategorische Offenlegungsverbot für Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen unter Berufung auf diese Rechtsprechung indes vielfach für primärrechtswidrig erachtet.436 Auch das Zusammentreffen von Kartellschadensersatz und Kartellbußgeldern wirft Fragen der Wechselwirkung auf.437 So können Schadensersatzzahlungen, die vor der Verhängung eines Bußgeldes infolge eines Vergleichs geleistet werden, von den Wettbewerbsbehörden bei der Bußgeldbemessung mildernd berücksichtigt werden.438 Geht man davon aus, dass der Kartell(vor dem Hintergrund der gegenüber einem Kronzeugen, dem volle Immunität gewährt wurde, nicht eintretenden Bindungswirkung; näher dazu infra Kapitel 2 C. II.). 434 Siehe Art. 6 Abs. 6 und Art. 7 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie, wonach die Anordnung einer Offenlegung von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen durch die nationalen Gerichte ausgeschlossen und ihre Einführung in Verfahren über Schadensersatzklagen als unzulässig angesehen werden soll. Für die Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33g Abs. 4, § 89b Abs. 8 sowie § 89c Abs. 4 GWB. 435 EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 30 f.; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 31: „Die Notwendigkeit einer […] Abwägung ergibt sich daraus, dass insbesondere im Wettbewerbsrecht jede starre Regel – sei es im Sinne einer völligen Verweigerung eines Zugangs zu den betreffenden Dokumenten oder im Sinne eines allgemein gewährten Zugangs zu diesen – die wirksame Anwendung insbesondere des Art. 101 AEUV und der Rechte, die diese Bestimmung den Einzelnen verleiht, beeinträchtigen kann.“ Vgl. aber das Urteil des Gerichtshofs in der Sache EnBW, wonach die kartellspezifischen Regelungen der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 und der VO Nr. 773/2004 eine (widerlegbare) allgemeine Vermutung begründen, wonach der Inhalt von Kartellverfahrensakten der Kommission den in Art. 4 Transparenz-VO Nr. 1049/2001 aufgezählten Geheimhaltungsinteressen unterfällt, EuGH 27.2.2014, Rs. C-365/12 P, Kommission / EnBW, EU:C:2014:112, Rn. 81 ff.; näher dazu etwa Palzer, ZEuP 2015, 416 (416 ff.). 436 Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (9 f.); Dworschak / Maritzen, WuW 2013, 829 (839); Kersting, WuW 2014, 564 (566 f.); Zweifel an der Primärrechtskonformität haben Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (143 f.); Clark / Sander, Journal of European Competition Law & Practice 2015, 153 (161); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (342 f.); die Primärrechtskonformität bejahen dagegen Mederer, EuZW 2013, 847 (850); Vollrath, NZKart 2013, 434 (446); Böni, EWS 2014, 324 (328); vgl. auch Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 46 f., 68. 437 Bach, in: FS Canenbley, 2012, 15 (15 ff.). 438 Art. 18 Abs. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie; vgl. zu diesem Vorgehen in der Bußgeldpraxis der Kommission, Entscheidung v. 21.10.1998, ABl. 1999 L 24, 1 Rn. 172 – Pre-lnsulated Pipes Cartel; sowie Kommission, Entscheidung v. 30.10.2002, ABl. 2003
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schadensersatz neben kompensatorischen auch pönale Elemente aufweist,439 stellt sich vor dem Hintergrund des Grundsatzes ne bis in idem das Problem einer Doppelsanktionierung und in der Folge auch die Frage nach einer Anrechnung pönaler Schadensersatzelemente auf Kartellbußgelder.440 Wechselwirkungen bestehen schließlich auch bei der Frage der Verjährung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche. So wird die Verjährung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche gehemmt, wenn eine Wettbewerbsbehörde Maßnahmen im Hinblick auf eine Untersuchung oder auf ihr Verfahren trifft, wobei die Hemmung erst ein Jahr nach bestands- oder rechtskräftiger Entscheidung oder anderweitiger Erledigung des Verfahrens endet.441 II. Verzahnung der Durchsetzungsspuren mittels Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess Über die beschriebenen Wechselwirkungen hinaus werden die Durchsetzungsspuren durch das Instrument der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess miteinander verzahnt. Die Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren wird dadurch einseitig durchbrochen.442 Wie im Folgenden gezeigt wird, ist dabei grundlegend zwischen der vertikalen Bindung der Gerichte an Entscheidungen der Europäischen Kommission und der L 255, 33 Rn. 440 und 441 – Nintendo; gleichwohl besteht nach der Rechtsprechung kein Anspruch der Kartellanten auf eine Reduktion der Bußgelder bei freiwilligen Kompensationszahlungen, EuG 27.9.2006, Rs. T-59/02, Archer Midland v. Commission, EU:T:2006: 272, Rn. 349–355; aus dem Schrifttum zur Problematik etwa Wils, World Competition 32 (2009), 3 (19 ff.); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (344 f.). 439 Für den Schadensersatzanspruch wegen Kartellrechtsverstößen nach deutschem Recht bejahen dies etwa M.-P. Weller, ZWeR 2008, 170 (175 ff.) und Alexander, JuS 2007, 109 (113); vgl. aber nunmehr Art. 3 Abs. 3 der Kartellschadensersatzrichtlinie, wonach eine Überkompensation etwa durch die Gewährung von Strafschadensersatz nicht erfolgen darf. 440 M.-P. Weller, ZWeR 2008, 170 (170 ff.); Wils, World Competition 32 (2009), 3 (21 f.); zur Anrechnung drittstaatlicher Kartellsanktionen, insbesondere der treble damages des US-amerikanischen Antitrust-Rechts etwa Liebau, „Ne bis in idem“ in Europa: Zugleich ein Beitrag zum Kartellsanktionenrecht in der EU und zur Anrechnung drittstattlicher Kartellsanktionen, 2005, passim. 441 Art. 10 Abs. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie; siehe im deutschen Recht § 33h Abs. 6 GWB. 442 Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 424; die Verzahnung der Durchsetzungsspuren über das Instrument der Bindungswirkung bleibt einseitig, da sie allein zu einer Bindung der Zivilgerichte an Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden führt. In umgekehrter Richtung besteht im Grundsatz keine Bindung: Die Wettbewerbsbehörden sind an (ausländische) gerichtliche Entscheidungen, auch auf Grundlage der Brüssel I-VO, grundsätzlich nicht gebunden, zumindest wenn ein Urteil – wie im Schadensersatzprozess – nur zwischen den Parteien wirkt. Etwas anderes könnte allenfalls bei (ausländischen) Gestaltungsurteilen gelten, denen eine erga omnes Wirkung zukommt; näher dazu Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (402 f.).
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horizontalen Bindung der Gerichte an Entscheidungen der eigenen und anderer Wettbewerbsbehörden zu unterscheiden. 1. Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen als Mittel zur Sicherung einer kohärenten Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln Nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003, mit dem die Masterfoods-Rechtsprechung des Gerichtshofs in Gesetzesform gegossen wurde,443 dürfen die mitgliedstaatlichen Gerichte keine Entscheidungen erlassen, die einer bereits getroffenen oder beabsichtigten Kommissionsentscheidung zuwiderlaufen.444 Daneben besteht eine Bindungswirkung von bereits erlassenen, nicht aber von nur beabsichtigten Entscheidungen der Kommission gemäß Art. 16 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 auch den nationalen Wettbewerbsbehörden gegenüber. Die damit gegenüber den Gerichten weiter gehende Bindungswirkung geht auf die Delimitis-Rechtsprechung des Gerichtshofs zurück, wonach es die nationalen Gerichte zu vermeiden haben, Entscheidungen zu erlassen, die beabsichtigten Entscheidungen der Kommission zur Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zuwiderlaufen, da sie andernfalls den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit verletzen.445 Kommissionsentscheidungen entfalten ihre Bindungswirkung gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten unabhängig davon, ob diese als Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung fungieren, indem sie etwa Kartellgeschädigten Schadensersatz zuerkennen, oder aber die Rechtmäßigkeit einer angefochtenen nationalen behördlichen Entscheidung überprüfen.446 Obgleich im Einzelnen Uneinigkeit darüber herrscht, welchen In der Sache Masterfoods hatte der Gerichtshof entschieden, dass die nationalen Gerichte, wenn sie über Vereinbarungen oder Verhaltensweisen befinden, die bereits Gegenstand einer Kommissionsentscheidung sind, keine Entscheidungen erlassen dürfen, die dieser zuwiderlaufen, EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 52; näher zur Entscheidung etwa Bornkamm, ZWeR 2003, 73 (73 ff.); Kjølbye, CML Rev. 39 (2002), 175 (175 ff.); Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1388 ff.). 444 Monographisch hierzu Hausen, Die Wirkung von Kommissionsentscheidungen im deutschen Kartellzivilprozess, 2006, passim; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 19 ff. 445 EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91, Rn. 47; die weiter reichende Bindung der nationalen Gerichte an Kommissionsentscheidungen lässt sich auch damit erklären, dass die Gerichte von der Kommission institutionell unabhängig und damit verfahrensmäßig weniger eng als die nationalen Wettbewerbsbehörden an diese angebunden sind, Kling / Thomas, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016, § 10 Rn. 38. 446 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 8 Rn. 99; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 5, 10; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 11 Rn. 63; Becker / Vollrath, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 8; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 76 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 422. 443
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Kapitel 1 – Grundlagen
Entscheidungen der Kommission nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 Bindungswirkung zukommt,447 steht im Grundsatz außer Frage, dass dies sowohl Entscheidungen sein können, in denen ein Verstoß gegen die Art. 101 oder 102 AEUV bejaht wurde,448 als auch Entscheidungen, in denen ein Verstoß verneint wurde, wie es der Kommission mit dem Entscheidungstyp der Nichtanwendbarkeitsentscheidung nach Art. 10 VO Nr. 1/2003 möglich ist.449 Die Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen soll in einem System paralleler Zuständigkeiten im Interesse der Rechtssicherheit eine kohärente Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln sichern und damit sich widersprechende Entscheidungen vermeiden.450 Dass mit der Bindung der Gerichte an Kommissionsentscheidungen regelmäßig auch eine Erleichterung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung einhergeht, ist dagegen mehr Reflex als intendierter Regelungszweck, auch wenn die Kommission im Zuge der Debatte um ein verstärktes private enforcement Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 gerade als Instrument zur Stärkung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen „entdeckt“ und hervorgehoben hat.451 447 Eingehend dazu etwa Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 55 ff.; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 135 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 432 ff.; näher zur gleichgelagerten Frage, welchen Entscheidungstypen der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess Bindungswirkung zukommt infra Kapitel 2 B. II. 1. b). 448 Etwa im Rahmen einer Abstellungsverfügung oder isolierten Feststellungsentscheidung der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 bzw. S. 4 VO Nr. 1/2003; zu den Entscheidungstypen der Abstellungsverfügung und der isolierten Feststellungsentscheidung der Kommission bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 449 Siehe zum Entscheidungstyp bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa); Nichtanwendbarkeitsentscheidungen unterfallen nach ganz überwiegender Auffassung Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 und entfalten damit Bindungswirkung; siehe die Schlussanträge von GA Mazák 7.12.2010 – Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2010:743, Rn. 47 Fn. 45; aus dem Schrifttum Kerse / Khan, EU Antitrust Procedure, 6. Aufl. 2012, Rn. 2-089; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 162; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 6 Rn. 106; Schneider, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 8; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 61 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 440 ff.; Meyer, GRUR 2006, 27 (30); Hossenfelder / Lutz, WuW 2003, 118 (122 f.); Hirsch, ZWeR 2003, 233 (251); a. A. dagegen K. Schmidt, BB 2003, 1237 (1242); Röhling, GRUR 2003, 1019 (1023); Montag / Rosenfeld, ZWeR 2003, 107 (115). 450 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 110; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 8 Rn. 94 ff.; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 11 Rn. 61; Schneider, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 4; siehe ferner Erwägungsgrund 22 Kartellverfahrensverordnung: „In einem System paralleler Zuständigkeiten müssen im Interesse der Rechtssicherheit und der einheitlichen Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft einander widersprechende Entscheidungen vermieden werden.“
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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2. Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden als Antwort auf zivilprozessuale Hürden beim Nachweis eines Wettbewerbsverstoßes Der Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden liegt – ungeachtet großer Schnittflächen – ein anderes Regelungskonzept zugrunde.452 Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass den Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden nur im Falle der Feststellung eines Verstoßes Bindungswirkung zukommen kann, wohingegen Kommissionsentscheidungen die Gerichte unabhängig davon binden, ob darin ein Verstoß bejaht oder verneint wurde. Die Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden wirkt also ausschließlich zugunsten des Geschädigten.453 Die einseitige Stoßrichtung lässt den maßgeblichen Zweck der Bindungswirkung deutlich zu Tage treten: Geschädigten soll die Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen im Schadensersatzprozess erleichtert werden. Neben der Entlastung des Klägers dient die Bindungswirkung der Prozessökonomie, indem sie die Verhandlung eines bereits im Kartellverwaltungsverfahren festgestellten Verstoßes für den Kartellschadensersatzprozess entbehrlich macht.454 Als weiterer Nebenzweck tritt schließlich auch hier die Gewährleistung einer möglichst kohärenten Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln hinzu.455 Die Bindungswirkung vereinigt damit überindividuelle Interessen mit den individuellen Interessen der Kartellgeschädigten.456 Vgl. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zum Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“, SEC(2005) 1732, Rn. 85; Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM (2008) 165 endgültig, 6 f.; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 134 ff.; siehe dazu auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 152 f. 452 Siehe dazu auch Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 426; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 152 f.; das abweichende Regelungskonzept übersieht Meyer, GRUR 2006, 27 (28), wenn er in der Regelung zur Bindungswirkung nationaler Entscheidungen (§ 33 Abs. 4 GWB a. F.) lediglich eine Wiederholung und Komplettierung des Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 sieht. 453 Siehe dazu nur OLG Düsseldorf 3.5.2006, VI-W (Kart) 6/06, WuW 2006, 913 (915); Scheffler, NZKart 2015, 223 (224). 454 Wils, World Competition 32 (2009), 3 (17); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541 f.); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247, 256; Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (23); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 209; Meyer, GRUR 2006, 27 (28); Erwägungsgrund 34 S. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 146; vgl. zu verfahrensbeschleunigenden Effekten der prima facie-Beweiswirkung im US-amerikanischen Antitrust-Recht Bauer, Loy. Consumer L. Rev. 16 (2004), 303 (311 f.). 455 Erwägungsgrund 34 S. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Zur Gewährleistung der Wirksamkeit und Kohärenz der Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV […].“ (Hervorhebung nur hier); siehe ferner das Commission Staff Working Paper accompanying the 451
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Kapitel 1 – Grundlagen
Das maßgebliche gesetzgeberische Bestreben, den Geschädigten im Kartellschadensersatzprozess zu Hilfe zu eilen, wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welchen Hindernissen sich die private Kartellrechtsdurchsetzung ausgesetzt sieht. Die private Durchsetzung beruht auf der Eigeninitiative des Einzelnen, doch so mancher potentielle Kläger wird bereits aus wirtschaftlichen Gründen, etwa aus Sorge um bestehende Geschäftsbeziehungen oder aus Angst vor geschäftlichen Gegenmaßnahmen wirtschaftlich mächtiger Delinquenten,457 oder aber in Anbetracht des Kostenrisikos458 auf eine klageweise Geltendmachung verzichten. Neben diese wirtschaftlichen Hindernisse treten materiell-rechtliche Schwierigkeiten459 sowie insbesondere die zivilprozessualen Rahmenbedingungen hinzu.460 So sehen sich Private bei der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen im Zivilprozess gegenüber dem kartellbehördlichen Verfahren, das den Behörden weitreichende Ermittlungsbefugnisse und mit den Kronzeugenregelungen ein in der Praxis sehr effektives Vehikel zur Aufdeckung von Kartellverstößen an die Hand reicht,461 einer White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 144; aus dem Schrifttum statt vieler nur Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (186); Nazzini, Italian Antitrust Review 2 (2015), 68 (68); Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (23). 456 Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 424. 457 Zu dieser sog. Ross und Reiter-Problematik etwa Glöckner, WRP 2007, 490 (495) („you may win the case, but lose your business“); Harker / Hviid, World Competition 31 (2008), 279 (280); Basedow, ZWeR 2006, 294 (302); K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen der Gesetzgebung im Kartelldeliktsrecht, 1978, 105; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 85; Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (216); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 130 f. 458 K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen der Gesetzgebung im Kartelldeliktsrecht, 1978, 105 ff.; Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 156; Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (9); Hehne / Hermann / Fellbaum / Matthes, in: Tietje / Blau, 2005, 86 (101 ff.); van den Bergh, Maastricht J. of European and Comparative L. 20 (2013), 12 (14); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 131; Peyer, Journal of Competition Law and Economics 8 (2012), 331 (344). 459 Hingewiesen sei hier nur auf das Problem des Einwands der Schadensabwälzung (passing-on defence); der Einwand ist nach der Kartellschadensersatzrichtlinie zuzulassen (Art. 13); zur Umsetzung im deutschen Recht siehe § 33c Abs. 1 S. 2 GWB. 460 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 37; eingehend hierzu etwa Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, passim; Hehne / Hermann / Fellbaum / Matthes, in: Tietje / Blau, 2005, 86 (86 ff.). 461 Vgl. nur Palzer, ZEuP 2015, 416 (421) („wichtigstes Ermittlungsinstrument“); zum Kronzeugenprogramm auf europäischer Ebene siehe die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298, 17; auf nationaler Ebene verfügen mittlerweile alle Mitgliedstaaten, bis auf Malta, über eigene Kronzeugenprogramme; siehe für Deutschland die sog. „Bonusregelung“ des Bundeskartellamtes (Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006), näher dazu Engelsing, ZWeR
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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gänzlich anderen Ausgangslage ausgesetzt. Die private Durchsetzung mittels des vom Beibringungsgrundsatz geprägten Zivilprozesses erweist sich insofern gegenüber der kartellbehördlichen Durchsetzung als strukturell unterlegen,462 mancher spricht gar von einer grande misère der Kläger.463 So haben private Kläger die prozessualen Hürden der Darlegungs- und Beweislast zu überwinden, also die Anforderungen zu erfüllen, die das Zivilverfahrensrecht den Parteien an den von ihnen vorzutragenden und im Falle des Bestreitens zu beweisenden Tatsachenstoff stellt, ohne dass ihnen hierbei die behördlichen Ermittlungsbefugnisse und Ressourcen zur Verfügung stünden.464 Die folgende Untersuchung legt ihr Augenmerk auf die besonderen Schwierigkeiten, die der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bereitet,465 soll die Bindungswirkung doch gerade hier Abhilfe schaffen. a) Zivilprozessuale Hürden beim Nachweis eines Verstoßes aa) Aus der Darlegungslast resultierende Hürden Die Darlegungslast gibt an, welche Partei bestimme Tatsachen im Zivilprozess vorzutragen hat (subjektive Darlegungslast) und wie sich das Fehlen eines entsprechenden Vortrags auf den Prozess auswirkt (objektive Darlegungslast).466 Die Darlegungslast ist untrennbar verwoben mit dem die Zivilverfah2006, 179 (179 ff.); einen rechtsvergleichenden Überblick bieten Mobley / Denton, Global Leniency Manual 2010, 2010, passim; näher zu den Kronzeugenregelungen etwa Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsrecht, 2011, passim; PufferMariette, Die Effektivität von Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, 2008, passim; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 2006, passim. 462 Hirsch, ZWeR 2003, 233 (243); Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 17; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 148; vgl. dazu auch Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (528); Kühne / Woitz, DB 2015, 1028 (1028); Brinker, BB 2016, 2194 (2194). 463 Komninos, CML Rev. 39 (2002), 447 (486), unter Bezugnahme auf den Titel des Beitrags von Morgan de Rivery / Arnould, in: Dony / Walsche, 1999, 1357 (1357). 464 Vgl. nur Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 42. 465 Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes wird weithin als ein wesentliches Hindernis für die private Kartellrechtsdurchsetzung angesehen, siehe nur Basedow, EBOR 2001, 443 (462 f.); Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 244; Hirsch, ZWeR 2003, 233 (241 ff.); Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002, 83 f.; Hempel, WuW 2004, 362 (374); Möschel, WuW 2007, 483 (489 f.); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (534); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 1; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 245. 466 Musielak / Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, 1984, § 13 Rn. 192; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 40; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 1965, 47 f.
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Kapitel 1 – Grundlagen
rensrechte der Mitgliedstaaten prägenden Beibringungsgrundsatz,467 nach dem es Sache der Parteien ist, den Streitstoff in den Prozess einzuführen.468 Sie ist grundsätzlich derart verteilt, dass jede Partei die konkreten Behauptungen aufzustellen hat, welche die abstrakten Voraussetzungen der ihr günstigen Normen erfordern (sog. Normtheorie).469 Sie deckt sich nach Gegenstand und Umfang grundsätzlich mit der Beweislast470 und folgt darin, wer die Behauptung aufzustellen hat, regelmäßig der Verteilung der Beweislast.471 Mit Art. 2 VO Nr. 1/2003 besteht für alle einzelstaatlichen Kartellverfahren, und damit auch für den Kartellzivilprozess,472 eine unionsrechtliche Regelung der Beweislastverteilung, die unmittelbar zwar allein die Verteilung der objektiven Beweis- und nicht auch der Darlegungslast normiert,473 der sich jedoch infolge des grundsätzlichen Gleichlaufs beider zumindest mittelbar auch eine Aussage über die Verteilung der Darlegungslast entnehmen lässt.474 Demnach folgt aus Art. 2 S. 1 VO Nr. 1/2003 für die Verteilung der 467 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (140); die Darlegungslast gibt es naturgemäß nur in Verfahren mit Beibringungsgrundsatz, Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 38. 468 BGH 11.6.1990, II ZR 159/89, NJW 1990, 3151; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 77 Rn. 7; der Beibringungs- oder Verhandlungsgrundsatz bezieht sich dabei allein auf die vorzutragenden Tatsachen, die rechtliche Würdigung des tatsächlichen Parteivorbringens bleibt Sache des Gerichts (da mihi factum, dabo tibi ius), statt aller Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 77 Rn. 9. 469 Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 1965, 44; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 38; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, 6. 470 Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 1965, 44; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 38. 471 Greger, in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2017, § 138 ZPO Rn. 8b; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 41; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (140 f.); der Gleichlauf der Verteilung von Darlegungs- und Beweislast wird allerdings mitunter durch die Grundsätze der sog. sekundären Darlegungslast wieder aufgehoben; dazu Greger, in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2017, § 138 ZPO Rn. 8b. 472 Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 4; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 1; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 286; Papadelli, Beweislastverteilung bei der privaten Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 339. 473 Statt aller nur Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 11. 474 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (140 f.); Ellenrieder, Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen, 2011, 38; vgl. auch K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 35: „Der Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess bringt es mit sich, dass Art. 2 mit der Beweislast zugleich auch die Darlegungslast regelt.“
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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Darlegungslast im Kartellzivilprozess, dass eine Prozesspartei, die Rechtsfolgen aus Art. 101 Abs. 1 oder 102 AEUV herleiten möchte, die Tatsachen vortragen muss, aus denen sich ein entsprechender Verstoß durch die gegnerische Prozesspartei ergibt.475 Aus Art. 2 S. 2 VO Nr. 1/2003 folgt wiederum, dass der gegnerischen Partei die Darlegung obliegt, dass eine beanstandete Vereinbarung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Kartellverbot freigestellt ist.476 Bezogen auf den Zivilprozess spiegelt Art. 2 VO Nr. 1/2003 damit den zivilprozessualen Grundsatz wider, wonach jeder Partei die Darlegung der ihr günstigen Tatsachen obliegt.477 Wie konkret die Tatsachen vorgetragen werden müssen, um relevant zu sein, ist eine Frage des erforderlichen Substantiierungsgrades.478 Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Vortrag schlüssig und damit ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen.479 Das Gericht muss in die Lage versetzt werden, aufgrund des Vorbringens zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.480 Die Angabe näherer Einzelheiten ist erst dann erforderlich, wenn der Gegenvortrag dazu Anlass bietet.481 Der jeweils erforderliche Substantiierungsgrad ergibt sich also aus einem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag, wobei die Ergänzung des Tatsachenvortrags bei hinreichendem Gegenvortrag immer zunächst Sache der darlegungsbelasteten Partei ist.482 Genügt der erbrachte Tatsachenvortrag den Anforderungen der Substantiierungslast nicht, nimmt der Zivilprozess bereits in einem frühen Stadium einen für den Kartellgeschädigten ungünstigen Ausgang, da die Stufe der Beweiserhebung erst gar nicht erreicht wird.483
Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 83. Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (141); K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 36. 477 K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 36. 478 Auch Substantiierungs- oder konkrete Behauptungslast genannt; siehe dazu etwa Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 41; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, 6 f.; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 136; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 210 ff. 479 Ständige Rechtsprechung: BGH 12.7.1984, VII ZR 123/83, JZ 1985, 183 (184); BGH 23.4.1991, X ZR 77/89, NJW 1991, 2707 (2709); BGH 13.8.1997, VIII ZR 246/96, NJW-RR 1998, 712 (713); BGH 4.7.2000, VI ZR 236/99, NJW 2000, 3286 (3287); BGH 12.6.2008, V ZR 221/07, WM 2008, 2068; BGH 2.4.2009, V ZR 177/08, NJW-RR 2009, 1236. 480 BGH 12.7.1984, VII ZR 123/83, JZ 1985, 183 (184). 481 BGH 12.7.1984, VII ZR 123/83, JZ 1985, 183 (184); BGH 23.4.1991, X ZR 77/89, NJW 1991, 2707 (2709). 482 Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 136. 475 476
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Kapitel 1 – Grundlagen
Gerade die hinreichend substantiierte Darlegung eines Verstoßes gegen das Kartellverbot kann den Kläger vor große, wenn nicht gar unüberwindbare Schwierigkeiten stellen, wenn er als typischerweise Außenstehender nicht an der kartellrechtswidrigen Absprache teilgenommen hat484 und damit kaum Zugang zu Informationen über die Vereinbarung der gegnerischen Partei(en) haben wird.485 Aber auch für die hinreichende Substantiierung eines Verstoßes gegen das Missbrauchsverbot verfügen Geschädigte oftmals über nur ungenügende Informationen.486 Für den Fall, dass die an sich darlegungsbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs steht und keine Erkenntnisse der maßgeblichen Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind, kann sich der Prozessgegner der darlegungsbelasteten Partei zwar im deutschen Zivilprozess nach den Grundsätzen der in der Rechtsprechung des BGH487 entwickelten sog. sekundären Darlegungslast nicht auf ein einfaches Bestreiten beschränken.488 Kommt der Prozessgegner der sekundären Darlegungslast nicht 483
(141).
Stürner, in: Basedow, 2007, 163 (170 f.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135
Anders hingegen bei der Geltendmachung eines Wettbewerbsverstoßes durch einen an der wettbewerbswidrigen Vereinbarung beteiligten Vertragspartner (so etwa die Konstellation in Courage); Letztere werden regelmäßig über ausreichende Informationen zur Darlegung der kartellwidrigen Vereinbarung haben, insbesondere bei defensiver Geltendmachung eines Kartellrechtsverstoßes im Wege des Nichtigkeitseinwands besteht daher regelmäßig eine hinreichende Informationsgrundlage; siehe nur Roth, in: Basedow, 2007, 61 (65). 485 Basedow, EBOR 2001, 443 (462 f.); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 109; Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 244; Hirsch, ZWeR 2003, 233 (242); Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 83. 486 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 109; Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 244 f. 487 Ständige Rechtsprechung, BGH 19.12.1953, II ZR 27/53, BGHZ 12, 49 (50); BGH 1.12.1982, VIII ZR 279/81, BGHZ 86, 23 (29); BGH 17.3.1987, VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190 (196); BGH 7.12.1998, II ZR 266/97, BGHZ 140, 156 (158 f.); BGH 14.6.2005, VI ZR 179/04, BGHZ 163, 209 (214). 488 Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 136; Greger, in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2017, § 138 ZPO Rn. 8b; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2005, § 138 ZPO Rn. 37; zur sekundären Darlegungslast im Kartellzivilprozess Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 99 f.; Ellenrieder, Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen, 2011, 87 f.; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 150 ff.; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 299 ff.; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 234 ff. Auch die Zivilverfahrensrechte anderer Mitgliedstaaten berücksichtigen in derartigen Fällen die Schwierigkeiten der darlegungsbelasteten Partei wie auch die ALI/UNIDROIT 484
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nach, gilt die Behauptung der primär darlegungspflichtigen Partei trotz ihrer mangelnden Substantiierung als zugestanden im Sinne von § 138 Abs. 3 ZPO. Im kartellrechtlichen Kontext ist es allerdings eine Frage sorgfältiger Abwägung im Einzelfall, inwieweit im Interesse einer effektiven Rechtsverfolgung die Offenlegung wettbewerblich relevanter Informationen zumutbar ist, an deren Geheimhaltung ein schützenswertes Interesse besteht.489 bb) Aus der Beweislast resultierende Hürden Ein im Zivilprozess den Anforderungen der Darlegungslast zwar genügender, in der Folge aber hinreichend substantiiert bestrittener Sachvortrag bedarf des Beweises. Über das Ergebnis einer erforderlichen Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung (Grundsatz freier Beweiswürdigung, § 286 S. 1 ZPO). Das Beweismaß gibt dabei an, welcher Grad an Gewissheit erreicht sein muss, damit eine aufgestellte Behauptung vom Richter als wahr und der Beweis als geführt zu erachten ist.490 Erwägungsgrund 5 der VO Nr. 1/2003 stellt klar, dass die Regelung über die Beweislastverteilung in Art. 2 VO Nr. 1/2003 keine Regelung des Beweismaßes mitbeinhaltet.491 Das Principles of Transnational Civil Procedure. So sehen etwa Letztere eine Herabsenkung der Darlegungslast vor, siehe Principle 11.3: „When a party shows good cause for inability to provide reasonable details of relevant facts or sufficient specification of evidence, the court should give due regard to the possibility that necessary facts and evidence will develop later in the course of the proceeding.“; die Principles sind abgedruckt in RabelsZ 69 (2005), 341–350; einführend zu den Principles Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 (201 ff.). 489 So ist einerseits die Pflicht zur Offenbarung von Betriebsinterna für den Fall als unzumutbar angesehen worden, dass die Parteien „in hartem Wettbewerb stehen“, da die Aufdeckung der Betriebsinterna in einem solchen Fall grundsätzlich geeignet sei „die Erfolgsaussichten eines Unternehmens im Wettbewerb nachhaltig zu beeinträchtigen“ (BGH 12.11.1991, KZR 18/90, NJW 1992, 1817 (1819) – Anzeigenblatt); andererseits ist in anderem Zusammenhang eine Abstufung der Darlegungslast gar als verfassungsrechtlich geboten eingestuft worden, wenn andernfalls grundrechtlich geschützte Positionen einer Partei vereitelt würden (BVerfG 6.10.1999, 1 BvR 2110/93, NJW 2000, 1483 (1484)), was sich auf durch das Unionsprimärrecht verbürgte Positionen übertragen ließe; dazu G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 150 f.; Hirsch, ZWeR 2003, 233 (242); vgl. ferner Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 99 f.; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 301 f.; siehe auch (hinsichtlich der umgekehrten Frage einer möglichen sekundären Darlegungslast des Kartellgeschädigten zugunsten des Schädigers) BGH 28.6.2011, KZR 75/10, NJW 2012, 928 (934) – ORWI: „Die Bejahung einer sekundären Darlegungslast des Kartellgeschädigten setzt aber eine umfassende Prüfung ihrer Erforderlichkeit und Zumutbarkeit voraus, bei der sorgfältig abzuwägen ist, inwieweit dem Geschädigten insbesondere eine Darlegung zu wettbewerblich relevanten Umständen abverlangt werden kann, an deren Geheimhaltung er ein schützenswertes Interesse hat.“ 490 Musielak / Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, 1984, § 9 Rn. 146; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 11 ff.; Foerste, in: Mu-
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Beweismaß richtet sich folglich nach dem nationalen Zivilverfahrensrecht des angerufenen Gerichts, wobei die unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind.492 Im deutschen Zivilprozess stellt der BGH493 wie auch die ihm folgende überwiegende Literatur494 nicht auf den erreichten objektiven Wahrscheinlichkeitsgehalt eines Beweisschlusses, sondern auf einen subjektiven Maßstab des Fürwahrhaltens ab. Es kommt also auf die eigene Überzeugung des entscheidenden Richters an, eine bloß (objektiv) überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt nicht. In zweifelhaften Fällen darf sich der Richter aber mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.495 Die Beweislastverteilung gibt Auskunft darüber, wer Beweisanträge stellen kann und muss, um einen Prozessverlust zu vermeiden (subjektive Beweislast) und zu wessen Gunsten oder Ungunsten sich eine erfolglos gebliebene Beweisaufnahme auswirkt (objektive Beweislast).496 Die bei einer erfolglosen Beweisaufnahme zu treffende Beweislastentscheidung dient letzten Endes dazu, eine non liquet-Situation zu überwinden, um also trotz Unaufgeklärtheit des Sachverhalts zu einer Sachentscheidung zu gelangen.497 Für Verstöße gegen die Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV enthält Art. 2 VO Nr. 1/2003 eine abschließende Regelung über die Verteilung der objektiven Beweislast, die mit der zivilprozessualen Grundregel übereinstimmt, wonach jede Partei die Beweislast aller Voraussetzungen der ihr günstigen Normen trägt.498 So folgt aus Art. 2 VO Nr. 1/2003, dass die Prozesspartei, die einen sielak / Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 286 Rn. 17; Brinkmann, Das Beweismaß im Zivilprozess aus rechtsvergleichender Sicht, 2005, 11. 491 Erwägungsgrund 5 zur VO Nr. 1/2003 lautet: „Diese Verordnung berührt weder die nationalen Rechtsvorschriften über das Beweismaß noch die Verpflichtung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, zur Aufklärung rechtserheblicher Sachverhalte beizutragen, sofern diese Rechtsvorschriften und Anforderungen im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts stehen.“ 492 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 3 f.; K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 22 f.; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (148). 493 Ständige Rechtsprechung, BGH 17.2.1970, III ZR 139/67, BGHZ 53, 245 (255 f.) – Anastasia; BGH 14.1.1993, IX ZR 238/91, NJW 1993, 935 (937); BGH 18.1.2000, VI ZR 375/98, NJW 2000, 953 (954); BGH 28.1.2003, VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116 (1117). 494 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 11 f.; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 34; Foerste, in: Musielak / Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 18 f. 495 BGH 17.2.1970, III ZR 139/67, BGHZ 53, 245 (255 f.) – Anastasia. 496 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 3 ff. 497 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 115 Rn. 1 ff. 498 Stürner, in: Basedow, 2007, 163 (183); Basedow, EBOR 2001, 443 (462); Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 17; Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (230); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durch-
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Verstoß gegen die europäischen Wettbewerbsregeln geltend macht, den behaupteten Verstoß beweisen muss. Der Prozessgegner muss dagegen beweisen, dass er nach Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Kartellverbot freigestellt ist.499 Sieht das nationale Recht Beweiserleichterungen vor, so erfordert der Äquivalenzgrundsatz, dass diese auch bei der Geltendmachung der europäischen Wettbewerbsregeln Anwendung finden.500 Allerdings dürfen die im nationalen Verfahrensrecht verankerten Beweiserleichterungen im Ergebnis nicht so weit reichen, dass sie letztlich zu einer Beweislastumkehr führen, denn andernfalls würde die unionsrechtlich vorgegebene Beweislastverteilung in Art. 2 VO Nr. 1/2003 konterkariert.501 Der durch den Kläger zu führende Beweis eines Wettbewerbsverstoßes stellt regelmäßig ein nicht nur äußerst faktenintensives, 502 sondern angesichts der Normstruktur und Weite der wettbewerbsrechtlichen Verbotstatbestände503 auch ein äußerst komplexes Unterfangen dar, das die Einbeziehung und Bewertung einer Vielzahl insbesondere ökonomischer Faktoren verlangt.504 setzung des Kartellrechts, 2010, 71, 151 ff.; vgl. auch Principle 21.1 der ALI/UNIDROIT Principles of Transnational Civil Procedure: „Ordinarily, each party has the burden to prove all the material facts that are the basis of that party’s case.“ 499 Statt aller Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 2 VO 1/2203 Rn. 6 ff.; zu verschiedenen Anwendungsproblemen der nur auf den ersten Blick klaren Beweislastregelung Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (143 ff.); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 287 ff. 500 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 29; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 62. 501 Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 20; Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 11; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (143); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 163 f. 502 Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 185; Ellenrieder, Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen, 2011, 13; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 65: „Competition cases are particularly fact-intensive.“ 503 Die wettbewerbsrechtlichen Verbotstatbestände tragen dem Umstand, dass die Bedingungen, unter denen der Wettbewerb als Ordnungsprinzip wirkt und durch Beschränkungen beeinträchtigt wird, nur mit Rücksicht auf die spezifischen Eigenarten der jeweiligen wirtschaftlichen Zusammenhänge ermittelt werden können, mittels ausfüllungsbedürftiger, generalklauselartiger Rechtsbegriffe Rechnung; dazu nur Immenga / Mestmäcker, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Einl. EU D, Rn. 2; Neruda, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 230 (232); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (137). 504 Siehe statt vieler nur Basedow, EuZW 2006, 97 (97); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 109; siehe auch Erwägungsgrund 14 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen nationales Wettbewerbsrecht oder das Wettbewerbsrecht der Union erfordern in der Regel eine komplexe Analyse der zugrunde liegenden Tatsachen und wirtschaftlichen Zusammenhänge.“
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Kapitel 1 – Grundlagen
Zu diesen hohen rechtlichen Anforderungen treten in tatsächlicher Hinsicht die regelmäßig nur geringen Informationsgrundlagen der einen Verstoß geltend machenden Prozesspartei.505 So verlangt in Missbrauchsfällen bereits der Nachweis einer marktbeherrschenden Stellung regelmäßig eine Fülle von Marktinformationen.506 Noch schwieriger gestaltet sich häufig der Nachweis von Kartellabsprachen, werden diese doch fast ausschließlich mündlich getroffen und aus Angst vor Sanktionen durch die beteiligten Personen und Unternehmen meist mit größtmöglicher Sorgfalt verdeckt. Der Nachweis eines Verstoßes im Kartellzivilprozess wird daher gemeinhin als nur äußerst schwer zu führen erachtet.507 cc) Insbesondere: Nachweis eines Verstoßes im more economic approach Die Schwierigkeiten, die der Nachweis eines Verstoßes im Kartellzivilprozess bereitet, werden zusätzlich verschärft unter einer verstärkt ökonomischen Betrachtungsweise der europäischen Wettbewerbsregeln, wie sie sich unter Einflüssen der Chicago School of Antitrust in der Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission508 durchgesetzt hat.509 Für die konkrete Anwendung und Auslegung der Verbotstatbestände bedeutet der more economic approach, dass nicht die Struktur bestimmter Vereinbarungen oder Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Betrachtung liegt, sondern die Frage, wie sich diese konkret auf den Markt auswirken.510 Entsprechend wird der Ansatz auch als Hinwendung von einem formal-juristischen (form-based approach) 505 Zu diesem ungünstigen Zusammenspiel rechtlicher und faktischer Aspekte für die einen Verstoß geltend machende Prozesspartei in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung siehe nur Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 150, 185 f. 506 Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 19; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 109. 507 Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 84; Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 2 VO 1/2003 Rn. 19; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 109; Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 244; Zimmer / Höft, ZGR 2009, 662 (685); Hirsch, ZWeR 2003, 233 (242); Berrisch / Burianski, WuW 2005, 878 (881); Hempel, WuW 2004, 362 (374); Ellenrieder, Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen, 2011, 13; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 1; Lübbig / le Bell, WRP 2006, 1209 (1213); Hartog / Noack, WRP 2005, 1396 (1404); Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 40. 508 Zu Einflüssen der Chicago School auf die Wettbewerbspolitik der Kommission Basedow, in: Augenhofer, 2009, 1 (3, 8 ff.); Müller, Wettbewerb und Unionsverfassung, 2014, 61 f.; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 1 Rn. 33. 509 Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Basedow, ZWeR 2006, 294 (302); Basedow, EBOR 2001, 443 (465); Böge / Ost, E.C.L.R. 2006, 197 (203 ff.); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (73); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (146 ff.); Ritter, WuW 2008, 762 (765).
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zu einem wirkungsbezogenen Ansatz (effects-based approach) beschrieben.511 Der more economic approach spiegelt sich insbesondere in den von der Kommission veröffentlichten Leitlinien wider.512 Diese entfalten zwar im Außenverhältnis weder gegenüber den Unionsgerichten, die gerade über die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Kommission wachen sollen, noch gegenüber den nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten rechtliche Bindung.513 Sie bewirken aber für die Kommission eine Selbstbindung im Rahmen der Ermessensausübung514 und haben darüber hinaus erhebliche faktische Bedeutung erlangt.515 510 Drexl, in: Bogdandy / Bast, 2. Aufl. 2009, 905 (920); sehr deutlich in Bezug auf Art. 102 AEUV der Bericht der Economic Advisory Group on Competition Policy (EAGCP) mit dem Titel „An economic approach to Article 82“ vom 21.7.2005: „An economics-based approach to the application of article 82 implies that the assessment of each specific case will not be undertaken on the basis of the form that a particular business practice takes (for example, exclusive dealing, tying, etc.) but rather will be based on the assessment of the anti-competitive effects generated by business behaviour.“ (Hervorhebungen nur hier). 511 Drexl, in: Bogdandy / Bast, 2. Aufl. 2009, 905 (920); Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 1 Rn. 35; kritisch dazu Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 44, die darauf hinweisen, dass ein Wirkungsbezug für die europäischen Wettbewerbsregeln seit jeher charakteristisch gewesen ist. 512 Mitteilung der Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010 C 130, 1; deutlich zum programmatischen Ansatz die Vorgängerleitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2000 C 291, 1 Rn. 7: „Bei der Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln legt die Kommission wirtschaftliche Erwägungen zugrunde, bei denen die Auswirkungen auf dem betreffenden Markt im Vordergrund stehen“; Mitteilung der Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2011 C 11, 1; Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, 97 (zum programmatischen Ansatz Rn. 5: „Die Leitlinien schaffen ein analytisches Gerüst für die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3. […] Die Methodik beruht auf dem ökonomischen Ansatz, der bereits in den Leitlinien über vertikale Beschränkungen, Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit und Vereinbarungen über Technologietransfer eingeführt und entwickelt wurde“; ferner Rn. 24: „Das Verbot von Artikel 81 Absatz 1 ist nicht anwendbar, wenn die festgestellten wettbewerbswidrigen Auswirkungen unbedeutend sind. Hierin kommt der von der Kommission verfolgte wirtschaftliche Ansatz zum Ausdruck“; Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrages auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009 C 45, 7. 513 EuGH 13.12.2012, Rs. C-226/11, Expedia, EU:C:2012:795, Rn. 29; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 47. 514 Die Kommission kann nicht von ihren Bekanntmachungen abweichen, ohne gegen allgemeine Rechtsgrundsätze zu verstoßen, insbesondere gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes, EuGH 13.12.2012, Rs. C-226/11, Expedia, EU:C:2012:795, Rn. 28 (in Bezug auf die de minimis-Bekanntmachung); dazu Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 47. 515 Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 49.
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Gegenüber einer an bestimmte Verhaltenstypen anknüpfenden Bestimmung wettbewerbswidrigen Verhaltens sieht sich die verstärkte Einbeziehung von Effizienzüberlegungen bei der Auslegung der Verbotstatbestände mit Recht dem Vorwurf ausgesetzt, der Rechtssicherheit abträglich zu sein.516 Um die eigenen Prozesschancen einschätzen zu können, sind potentielle Kläger aber gerade auf transparente materielle Verbotstatbestände angewiesen.517 Es werden aber nicht nur die Begründungsstandards für den Nachweis eines Verstoßes angehoben, die stärkere Einbeziehung von Effizienzüberlegungen kann letztlich auch zu einer Verlagerung der Darlegungs- und Beweislast innerhalb des Art. 2 VO Nr. 1/2003 führen, und zwar zulasten der Partei, die einen Verstoß geltend macht. Denn wenn etwa das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV nur eingreifen sein soll bei Vereinbarungen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs bewirken, wenn eine „gründliche Marktuntersuchung“ den Schluss nahe legt, dass die Vereinbarung wahrscheinlich wettbewerbswidrige Auswirkungen auf den Markt hat,518 sind bereits innerhalb des Verbotstatbestandes bestimmte Marktstrukturen nachzuweisen, die ansonsten erst auf der Rechtfertigungsebene eine Rolle spielen.519 Schließlich sind nach der Normstruktur des Art. 101 AEUV effizienzsteigernde Wirkungen grundsätzlich erst im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV in Abwägung mit den dort genannten weiteren Kriterien zu würdigen.520 In ähnlicher Weise werden bei der Anwendung des Art. 102 AEUV auf Fälle von Behinderungsmissbrauch die Begründungsstandards für einen Verstoß angehoben,521 wenn nach der Prioritätenmitteilung der Kommission anhand verschiedener Basedow, ZWeR 2006, 294 (302); Basedow, in: Ehlermann / Atanasiu, 2003, 137 (142 f.); Basedow, WuW 2007, 712 (715); Dreher / Adam, ZWeR 2006, 259 (273 ff.); Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 1 Rn. 36; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (147); Immenga, ZWeR 2006, 346 (363 f.); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (73); Drexl, in: Bogdandy / Bast, 2. Aufl. 2009, 905 (933 ff., 920): „[…] der Wettbewerbsjurist [kann] nicht mehr in allen Fällen die Rechtmäßigkeit des Vereinbarten allein aufgrund einer Prüfung des Vertragstextes beurteilen, sondern muss regelmäßig die konkreten Auswirkungen auf den relevanten Markt mit in Betracht ziehen. Dies bedeutet, dass eine Vereinbarung A im Falle X unwirksam, im Falle Y aber sehr wohl wirksam sein kann.“ Zum allgemeinen Rechtsgrundsatz der Rechtssicherheit im europäischen Wettbewerbsrecht Basedow, ZEuP 1996, 570 (580 ff.). 517 Basedow, EuZW 2006, 97 (97). 518 Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, 97 Rn. 24. 519 Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (231 f.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (146). 520 Siehe nur Schuhmacher, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, 60. Ergänzungslieferung 2016, Art. 101 AEUV Rn. 18. 521 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (146 f.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 619 ff.; Dreher / Adam, ZWeR 2006, 259 (276). 516
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ökonomisch zu würdigender Beurteilungsfaktoren zu ermitteln ist, ob das in Rede stehende Verhalten zum Schaden der Verbraucher zu einer „wettbewerbswidrigen Marktverschließung“ führt.522 Diese ökonomisch aufgeladenen Begründungsstandards führen letztlich dazu, dass eine Partei, die sich im Zivilprozess auf das Kartell- oder Missbrauchsverbot beruft, Tatsachen darlegen und gegebenenfalls beweisen muss, die sie vielfach kaum wird darlegen und beweisen können.523 Es erstaunt daher nicht, dass rechtsempirischen Untersuchungen zufolge etwa Missbrauchsklagen in Deutschland weit häufiger auf die §§ 19, 20 GWB statt auf Art. 102 AEUV gestützt werden,524 sind Erstere doch hinsichtlich der Nachweisanforderungen vergleichsweise klägerfreundlich ausgestaltet und in ihrer Anwendung auch im zivilprozessualen Rahmen aufgrund ihrer Normstruktur und -klarheit zu bewältigen.525 Die Wettbewerbsbehörden mögen für die Auslegung und Anwendung der Verbotstatbestände nach Maßgabe des more economic approach institutionell gewappnet sein, die Parteien eines Kartellzivilverfahrens dürften dadurch indes regelmäßig überfordert bzw. auf sehr aufwändige und entsprechend kostspielige ökonometrische Sachverständigengutachten angewiesen sein.526 Je mehr ökonomischer Sachverstand erforderlich ist, um die Wettbewerbsregeln auf einen konkreten Fall anzuwenden, desto weniger werden sich potentielle Kläger aber zur Geltendmachung geneigt zeigen.527 Zwischen dem more economic approach und dem Ziel der Effektivierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung tritt damit ein auffälliges Spannungsverhältnis zu Tage.528 522 Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrages auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. 2009 C 45, 7, Rn. 20. 523 Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (231); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (146); Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 946 (950). 524 Siehe die statistischen Daten bei Peyer, Journal of Competition Law and Economics 8 (2012), 331 (355 ff.); vgl. ferner G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 621; Roth, in: Basedow, 2007, 61 (62, 73). 525 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 621; Roth, in: Basedow, 2007, 61 (62, 73). 526 Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (231); Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters bei der Durchsetzung des Kartellrechts nach der Verordnung Nr. 1/2003 und nach der 7. GWB-Novelle, 2003, 12; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (147 f.); Roth, in: Basedow, 2007, 61 (73); Böge / Ost, E.C.L.R. 2006, 197 (203 f.); Ritter, WuW 2008, 762 (765); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 294; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven, 2005, 29. 527 Roth, in: Basedow, 2007, 61 (73); Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Basedow, in: Ehlermann / Atanasiu, 2003, 137 (142 f.). 528 Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Böge / Ost, E.C.L.R. 2006, 197 (203 ff.); Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters bei der Durchsetzung des Kartellrechts nach der Verordnung Nr. 1/2003 und nach der 7. GWB-Novelle, 2003, 11 ff.; G. Meessen, Der Anspruch auf
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Kapitel 1 – Grundlagen
b) Fruchtbarmachung kartellbehördlicher Entscheidungen in der follow on-Situation Folge der aufgezeigten Schwierigkeiten, im Zivilprozess einen Kartellrechtsverstoß nachzuweisen, ist vielfach ein „rationales Desinteresse“ der Geschädigten an einer Klageerhebung.529 Erfahrungsgemäß wagen im Geschäftsleben nur wenige Kläger den mühseligen Gang zu Gericht allein um der Herstellung von Gerechtigkeit willen.530 Sie werden in der Regel vielmehr nur dann vor Gericht ziehen, wenn – neben einem finanziellen Anreiz – auch die hinreichende Aussicht auf ein Obsiegen besteht.531 Nun werden in der follow-on Situation532 die aus der Darlegungslast fließenden Anforderungen dem Kläger noch keine unüberwindbaren Hürden bereiten, wenn er sich die in einer vorangegangenen kartellbehördlichen Entscheidung getroffenen Feststellungen zum Verstoß als Parteivorvorbringen zu eigen machen kann. 533 Der Beklagte müsste einem derart substantiierten Vortrag, um einen Beweisantritt durch den darlegungs- und beweispflichtigen Kläger erforderlich zu machen, ein hinreichend substantiiertes Bestreiten entgegensetzen.534 Die rein faktische Zugänglichkeit einer kartellbehördlichen Entscheidung hilft indes nicht über die Prozessrisiken hinweg, die im Falle des Bestreitens in Bezug auf den behördlich festgestellten Tatsachenstoff – an den das Zivilgericht ohne eine institutionalisierte Bindungswirkung nicht gebunden ist –, in Bezug auf eine Beweislastentscheidung im Falle eines non liquet sowie in Bezug auf die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts durch das Zivilgericht bestehen bleiben.535 Damit bleibt auch in der follow-on-Situation der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes mit erheblichen Prozessrisiken behaftet. Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 619 ff.; Bulst, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 946 (950); Ritter, WuW 2008, 762 (765); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 294; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (146 f.); Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven, 2005, 29. 529 Basedow, ZWeR 2006, 294 (302); G. Wagner, in: Eger / Schäfer, 2007, 605 (631); Schätzungen zufolge werden jährlich Kartellschadensersatzansprüche in Höhe von mehreren Milliarden Euro nicht geltend gemacht; siehe Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 2 f., sowie Abschnitt 2.2 des Folgenabschätzungsberichts, SEC(2008) 405, 13 ff.; vgl. ferner Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (9); Mederer, EuZW 2013, 847 (848). 530 Basedow, in: Augenhofer, 2009, 1 (8). 531 Basedow, EuZW 2006, 97 (97); Basedow, EBOR 2001, 443 (465). 532 Zur Unterscheidung von Initiativ- und Folgeklagen supra Kapitel 1 A. II. 2. b); deutlich verschärfter stellt sich die Anreizproblematik freilich bei stand-alone Klagen dar; eingehend zu diesen etwa Ellenrieder, Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen, 2011, 13 ff. 533 Hempel, WuW 2005, 137 (140 f.); Meyer, GRUR 2006, 27 (28); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (141); Lübbig / le Bell, WRP 2006, 1209 (1213). 534 Hempel, WuW 2005, 137 (140 f.); Meyer, GRUR 2006, 27 (28).
C. Verhältnis von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung
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In Anbetracht dessen bringt die Bindung der Zivilgerichte an vorangegangene kartellbehördliche Entscheidungen erhebliche Erleichterungen für den Kläger mit sich.536 Kartellrechtliche Schadensersatzklagen sind in der follow on-Situation damit deutlich leichter anzustrengen als stand alone-Klagen,537 und werden denn auch bisher praktisch ausnahmslos als follow on-Klagen geführt.538 Neben einer verbesserten Rechtsposition der Kläger bei der Geltendmachung von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen gehen mit der Bindungswirkung auch ein beschleunigtes Verfahren sowie ein höherer Grad an Rechtssicherheit und damit auch ein geringeres Kostenrisiko einher.539 Schließlich mildert die Bindungswirkung, zumindest für Schadensersatzklagen in der follow on-Situation, die problematischen Folgen, welche die Hinwendung zum more economic approach für die private Kartellrechtsdurchsetzung mit sich bringt. Die Statuierung einer Bindungswirkung im Zivilprozess kann damit auch als Antwort auf das Problem der jedenfalls für die Zwecke der privaten Rechtsdurchsetzung allzu ökonomisch aufgeladenen Begründungsstandards verstanden werden.540 3. Fazit Scheinen behördliche und privatrechtliche Instrumentarien zur Durchsetzung des Kartellrechts im Ausgangspunkt „vor allem in das Verhältnis eines Nebeneinander gestellt“541, sind diese in der Situation der follow on-Schadensersatzklage in abhängiger Weise hintereinander geschaltet: Das kartellbehördliche geht dem zivilgerichtlichen Verfahren voran. Anschließend wird über die Bindungswirkung im Zivilprozess das zivilgerichtliche Verfahren mit dem vorangegangenen kartellbehördlichen Verfahren verzahnt. Die derart hinterei535 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (142); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 88 f. 536 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (151); Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1152, 1154); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 208 f.; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 88 f.; vgl. dagegen Bien / Harke, ZWeR 2013, 312 (329 f.): „geringe praktische Bedeutung“; zurückhaltend auch G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 140. 537 Wils, World Competition 32 (2009), 3 (15 f.). 538 Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (227 f., 237); Brinker, BB 2016, 2194 (2194); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (138); Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (158); Thiede / Träbing, NZKart 2016, 422 (422); Palzer, ZEuP 2015, 416 (422); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336); Bien, NZKart 2013, 481 (481); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 129 f.; Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (105); Weitbrecht, NJW 2012, 881 (881 f.). 539 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (151); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 209. 540 Vgl. Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (148). 541 K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen der Gesetzgebung im Kartelldeliktsrecht, 1978, 115.
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Kapitel 1 – Grundlagen
nander geschalteten und über die Bindungswirkung verzahnten Verfahren entsprechen einer Arbeitsteilung: Die Aufdeckung und Feststellung von Kartellrechtsverstößen obliegt dabei den Wettbewerbsbehörden, während die private Durchsetzung erst im Anschluss an das kartellbehördliche Verfahren wirksam wird.542 Zwar wird dadurch gerade nicht, wie mitunter erhofft, eine verstärkte Durchsetzung in der Breite erzielt, wodurch Vollzugslücken geschlossen und die Wettbewerbsbehörden entlastet würden.543 Die bestehende (faktische) Abhängigkeit kartellrechtlicher Schadensersatzklagen von einer vorausgehenden kartellbehördlichen Verfolgung dominiert indes die Wirklichkeit des private enforcement in Europa.544 Schließlich haben eigenständige Klagen aufgrund der bestehenden Informationsdefizite auf Seiten der Kläger im System der privaten Durchsetzung kontinental-europäischer Prägung kaum Aussichten auf Erfolg.545 Aus diesem Befund folgt nicht zuletzt eine besondere Verantwortung der Wettbewerbsbehörden. Denn von ihnen hängt es hiernach ab, ob Geschädigte in die Lage versetzt werden, ihre Ersatzansprüche vor den Zivilgerichten erfolgreich durchzusetzen.546 Vgl. Zimmer / Höft, ZGR 2009, 662 (715); diese Arbeitsteilung im Verhältnis der Durchsetzungsspuren wird als vorzugswürdig erachtet von Wils, World Competition 32 (2009), 3 (12 ff.); vgl. auch Bien, NZKart 2013, 12 (15): „Die bestehende faktische Abhängigkeit privater Schadenersatzklagen von vorausgehenden Verwaltungsverfahren der Behörden erscheint vorzugswürdig. Sie beugt Missbräuchen wirksam vor.“ Vgl. zur Arbeitsteilung zwischen kartellbehördlicher und zivilprozessualer Durchsetzung auch K. Schmidt, ZWeR 2010, 15 (32). 543 Dazu, dass die um die Jahrtausendwende zunehmend eingesetzte Debatte um ein verstärktes private enforcement ganz wesentlich von der Einsicht getragen wurde, dass die Wettbewerbsbehörden nicht für eine flächendeckende Durchsetzung des Kartellrechts Sorge tragen können (verknüpft mit der Hoffnung, dass die private Durchsetzung hinterlassene Vollzugslücken schließen könnte), supra Kapitel 1 B. I. 544 Vgl. nur Bien, NZKart 2013, 12 (14): „Ohne Mithilfe der Kartellbehörden ist die private Kartellrechtsdurchsetzung im derzeitigen kontinentaleuropäischen System praktisch ausgeschlossen.“ 545 Siehe nur Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (237), der eine Zunahme eigenständiger Klagen nur im Falle einer Hinwendung zu Instrumenten des USamerikanischen Antitrust-Rechts und den dortigen zivilprozessualen Rahmenbedingungen für möglich hält, die in Europa indes ganz überwiegend abgelehnt wird; zu Gestalt und Rolle des private enforcement im US-amerikanischen Antitrust-Recht bereits supra Kapitel 1 B. I. 546 Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (105); vgl. auch Bundeskartellamt, Stellungnahme des Bundeskartellamts zum Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle, 25.7.2016, S. 18: „Eine funktionierende behördliche Kartellverfolgung ist […] für Geschädigte der Garant für den Ersatz ihrer Schäden. Denn private Schadensersatzklagen schließen sich in der Praxis in aller Regel an abgeschlossene Bußgeldverfahren der Kartellbehörden an.“ Zu den Rückwirkungen, die sich auch und gerade aus der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess für die behördliche Durchsetzungsspur ergeben infra Kapitel 4. 542
Kapitel 2
Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Das erste Kapitel diente der Klärung der Grundlagen der zweispurigen Kartellrechtsdurchsetzung und der Verzahnung der Durchsetzungsspuren durch das Instrument der Bindungswirkung im Zivilprozess. Es hat damit den Boden bereitet, um die Regelung der Bindungswirkung genauer zu betrachten. Mit dem zweiten Kapitel werden die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich der Bindungswirkung beleuchtet. Normtextlicher Bezugspunkt der Untersuchung ist § 33b GWB sowie Art. 9 der Kartellschadensersatzrichtlinie. Bestand bei Einführung der Bindungswirkung in Deutschland im Zuge der 7. GWB-Novelle noch keine unionsrechtliche Grundlage, so hat die angeordnete Bindungswirkung mit der Kartellschadensersatzrichtlinie und deren Regelung zur Wirkung nationaler Entscheidungen in Art. 9 nachträglich eine solche erhalten, wobei diese ihrerseits wesentlich von der deutschen Regelung inspiriert worden ist.1 Im deutschen Recht findet sich die Regelung zur Bindungswirkung, nach einer redaktionellen Anpassung im Zuge der 9. GWB-Novelle, in § 33b GWB: „§ 33b Bindungswirkung von Entscheidungen einer Wettbewerbsbehörde Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union Schadensersatz gefordert, so ist das Gericht an die Feststellung des Verstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde, der Europäischen Kommission oder der Wettbewerbsbehörde oder des als solche handelnden Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wurde. Das Gleiche gilt für entsprechende Feststellungen in rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, die infolge der Anfechtung von Entscheidungen nach Satz 1 ergangen sind. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.“
Im Unterschied zur Regelung in § 33b GWB (wie bereits zuvor in § 33 Abs. 4 GWB a.F.) und anders als noch der Regelungsentwurf im RichtlinienvorWils, World Competition 32 (2009), 3 (16 f.); Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (24); Truli, European Competition Journal 2009, 795 (800); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (156); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 105; vgl. auch das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 142 Fn. 65. 1
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
schlag der Kommission2 behandelt Art. 9 der Kartellschadensersatzrichtlinie die Wirkungen inländischer und ausländischer Entscheidungen getrennt voneinander, wobei Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess weniger weitreichende Rechtsfolgen entfalten können (bloße prima facie-Beweiswirkung) als Entscheidungen der eigenen Wettbewerbsbehörde, die einen Kartellrechtsverstoß unwiderlegbar feststellen sollen: „Artikel 9 Wirkung nationaler Entscheidungen (1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz nach Artikel 101 oder 102 AEUV oder nach nationalem Wettbewerbsrecht vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt. (2) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass eine bestandskräftige Entscheidung nach Absatz 1, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist, gemäß ihrem jeweiligen nationalen Recht vor ihren nationalen Gerichten zumindest als Anscheinsbeweis dafür vorgelegt werden kann, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde, und gegebenenfalls zusammen mit allen anderen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln geprüft werden kann. (3) Dieser Artikel lässt die Rechte und Pflichten nationaler Gerichte nach Artikel 267 AEUV unberührt.“
Diesem getrennten Regelungsansatz folgend enthalten auch die Erwägungsgründe der Richtlinie jeweils einen Erwägungsgrund zur Wirkung inländischer und zur Wirkung ausländischer Entscheidungen.3 Für den weiteren Gang der Untersuchung sind in diesem Zusammenhang zwei Gesichtspunkte anzumerken: Erstens soll auf die nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie gestattete unterschiedliche Behandlung von Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden gegenüber solchen der eigenen Wettbewerbsbehörde im dritten Kapitel der Arbeit, das die Rechtsfolgen der Bindungswirkung beleuchtet, eingegangen werden.4 Auch die Besonderheiten, die sich bei einer auch den Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden eingeräumten unwiderlegbaren Bindungswirkung ergeben, werden hierbei zu behandeln sein.5 Für den Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels spielen die möglichen unterschiedlichen Wirkungen dagegen noch keine Rolle. Zweitens folgt aus der Existenz einer Richtlinie bekanntlich nicht nur eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber, die Vorgaben der Richtlinie in ihr nationales Recht umzusetzen, sondern auch eine Pflicht der Gerichte, das Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, COM(2013) 404 final, Art. 9. 3 Erwägungsgründe 34 und 35 Kartellschadensersatzrichtlinie. 4 Infra Kapitel 3 A. und B. 5 Infra Kapitel 3 A. V. 2
Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
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nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen.6 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung folgt normativ aus der Verpflichtung zur Richtlinienumsetzung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV sowie ergänzend aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.7 Sie verlangt nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte „unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht.“8 Damit wird im Ausgangspunkt auf das nationale Recht und dessen Auslegungsmethoden verwiesen, wobei die richtlinienkonforme Auslegung bei deren Anwendung zur interpretatorischen Vorrangregel9 avanciert: Der Methodenkanon des nationalen Rechts ist „so weit wie möglich“10, also bis zur Grenze des methodisch Zulässigen, auszuschöpfen und dementsprechend einer nationalen Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen, wenn und soweit dies dem Ziel dient, das mit der Richtlinie verfolgt wird.11 Für die nachfolgende Untersuchung folgt hieraus, dass die Regelung des § 33b GWB den dargelegten Anforderungen entsprechend durchweg im Lichte von Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie auszulegen ist.
6 Ständige Rechtsprechung seit EuGH 10.4.1984, Rs. C-14/83, von Colson und Kamann, EU:C:1984:153, Rn. 26; EuGH 10.4.1984, Rs. C-79/83, Harz, EU:C:1984:155, Rn. 26; aus dem Schrifttum Canaris, in: FS Bydlinski, 2002, 47 (47 ff.); Roth / Jopen, in: Riesenhuber, 3. Aufl. 2015, Rn. 3 f.; Rösler, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 122 (124); Riesenhuber / Möslein, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 1306 (1307 f.); Herresthal, JuS 2014, 289 (289). 7 EuGH 10.4.1984, Rs. C-14/83, von Colson und Kamann, EU:C:1984:153, Rn. 26; EuGH 10.4.1984, Rs. C-79/83, Harz, EU:C:1984:155, Rn. 26; EuGH 13.11.1990, Rs. C106/89, Marleasing, EU:C:1990:395, Rn. 8; EuGH 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, EU:C:1994:292, Rn. 26; hierzu aus dem Schrifttum Canaris, in: FS Bydlinski, 2002, 47 (55 ff., 62); Roth / Jopen, in: Riesenhuber, 3. Aufl. 2015, Rn. 3; Rösler, in: Basedow / Hopt / Zimmermann, 2009, 122 (124); Herresthal, JuS 2014, 289 (290). 8 EuGH 10.10.2013, Rs. C-306/12, Spedition Welter, EU:C:2013:650, Rn. 30; ferner etwa EuGH 4.7.2006, Rs. C-212/04, Adeneler, EU:C:2006:443, Rn. 111; EuGH 24.1.2012, Rs. C-282/10, Dominguez, EU:C:2012:33, Rn. 27; EuGH 5.9.2012, Rs. C-42/11, Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517, Rn. 56. 9 Canaris, in: FS Bydlinski, 2002, 47 (64 ff.); Roth / Jopen, in: Riesenhuber, 3. Aufl. 2015, Rn. 26; Herresthal, JuS 2014, 289 (291). 10 EuGH 13.11.1990, Rs. C-106/89, Marleasing, EU:C:1990:395, Rn. 8; EuGH 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, EU:C:1994:292, Rn. 26; EuGH 27.7.2000, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano Grupo, EU:C:2000:346, Rn. 30; EuGH 5.10.2004, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, EU:C:2004:584, Rn. 113. 11 Canaris, in: FS Bydlinski, 2002, 47 (64 ff.); Roth / Jopen, in: Riesenhuber, 3. Aufl. 2015, Rn. 26; Herresthal, JuS 2014, 289 (291).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
In Anlehnung an die in den Erwägungsgründen zur Kartellschadensersatzrichtlinie betonte „sachliche, persönliche, zeitliche und räumliche Dimension“12 eines festgestellten Kartellrechtsverstoßes, sollen im Folgenden, nach Beantwortung der vorgelagerten Frage, wer überhaupt Adressat der Bindungswirkung ist, die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich der Bindungswirkung in sachlicher, persönlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht untersucht werden.13
A. Adressaten A. Adressaten
Adressaten der Bindungswirkung sind nach Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie die „nationalen Gerichte“. Der Ausdruck „nationales Gericht“ bezeichnet nach Art. 2 Nr. 9 der Richtlinie ein Gericht eines Mitgliedstaats im Sinne des Art. 267 AEUV, also alle mitgliedstaatlichen Gerichte, die im Vorabentscheidungsverfahren vorlageberechtigt bzw. -verpflichtet sind. Der Gerichtshof bestimmt den Begriff des mitgliedstaatlichen Gerichts im Sinne von Art. 267 AEUV in ständiger Rechtsprechung autonom unionsrechtlich anhand einer Reihe von Merkmalen, wie dem Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage, dem ständigen Charakter der Einrichtung, der obligatorischen Gerichtsbarkeit, dem kontradiktorischen Charakter des Verfahrens, der Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit.14 Als Adressaten scheiden hiernach die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden aus,15 darunter auch Gerichte, die gemäß Art. 35 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003 zur funktional zuständigen „Wettbewerbsbehörde“ für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV bestimmt wurden.16 Die nationalen Erwägungsgrund 34 S. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie. Vgl. ähnlich auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (135). 14 EuGH 16.10.1997, Rs. C-69 bis 79/96, Garofalo, EU:C:1997:492, Rn. 19; EuGH 30.11.2000, Rs. C-195/98, Österreichischer Gewerkschaftsbund, EU:C:2000:655, Rn. 24; EuGH 31.5.2005, Rs. C-53/03, Syfait, EU:C:2005:333, Rn. 29; EuGH 22.12.2010, Rs. C118/09, Koller, EU:C:2010:805, Rn. 22; EuGH 12.6.2014, Rs. C-377/13, Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta, EU:C:2014:1754, Rn. 23; aus dem Schrifttum etwa Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 41; Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, 60. Ergänzungslieferung 2016, Art. 267 AEUV Rn. 16; Basedow, Journal of International Arbitration 32 (2015), 367 (371); Leopold / Reiche, EuZW 2005, 143 (143). 15 So hat der Gerichtshof, auch unter Hinweis auf die Einbindung in das Europäische Wettbewerbsnetz, den Gerichtscharakter und damit auch die Vorlageberechtigung der griechischen Wettbewerbskommission verneint, EuGH 31.5.2005, Rs. C-53/03, Syfait, EU: C:2005:333, Rn. 29 ff.; vgl. dazu Leopold / Reiche, EuZW 2005, 143 (143 f.). 16 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (158); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 219. 12 13
A. Adressaten
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Gerichte, vor denen die Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde angefochten werden können, sind zwar ohne weiteres mitgliedstaatliche Gerichte im Sinne des Art. 267 AEUV, dennoch sind diese freilich nicht Adressat der Bindungswirkung, sind sie doch gerade dazu berufen, die Rechtmäßigkeit kartellbehördlicher Entscheidungen zu überprüfen. Dies folgt auch aus dem Erfordernis der Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung für den Eintritt der Bindungswirkung,17 dem auf Schadensersatzklagen beschränkten Anwendungsbereich18 sowie aus dem Umstand, dass die Entscheidung einer „Rechtsmittelinstanz“19 selbst Bindungswirkung entfalten kann.20 Als Adressaten verbleiben damit alle Ausgangs- und Instanzgerichte, die über kartellrechtliche Schadensersatzklagen befinden. Im Rahmen des § 33b GWB, der gegenüber Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie insoweit keine Erweiterungen enthält, sind dementsprechend Adressaten der angeordneten Bindungswirkung alle deutschen Zivilgerichte, die über kartellrechtliche Schadensersatzklagen entscheiden. I.
Private Schiedsgerichte
Darüber hinaus könnten auch private Schiedsgerichte, die über kartellrechtliche Schadensersatzklagen befinden, Adressat der Bindungswirkung sein. Kartellrechtliche Streitigkeiten sind, nachdem das anfängliche Misstrauen des Kartellrechts gegenüber der Schiedsgerichtsbarkeit in Deutschland wie auch in anderen EU-Mitgliedstaaten gewichen ist, mittlerweile als schiedsfähig anerkannt.21 Kartellrechtliche Streitigkeiten werden vor Schiedsgerichten zwar vor allem in defensiver Form relevant, also im Wege des Nichtigkeitseinwands. Das Kartellrecht kann aber durchaus auch offensiv im Wege von Schadensersatzklagen geltend gemacht werden,22 wobei allerdings ungewiss 17 Zum Erfordernis der Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung für den Eintritt der Bindungswirkung infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 18 Zur Beschränkung der Bindungswirkung auf die Situation der Schadensersatzklage infra Kapitel 2 B. IV. 1. 19 Der Begriff des „Rechtsmittels“ nach der Kartellschadensersatzrichtlinie ist weiter als der Begriff des Rechtsmittels im Sinne des deutschen Prozessrechts, indem neben der gerichtlichen Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung auch die gerichtliche Überprüfung einer kartellbehördlichen Entscheidung erfasst wird; näher dazu infra Kapitel 2 B. I. 2. 20 Vgl. nur Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 219; zu den erfassten Entscheidungsstellen, zu denen neben den nationalen Wettbewerbsbehörden auch „Rechtsmittelgerichte“ gehören, infra Kapitel 2 B. I. 2. 21 G. Wagner, ZVglRWiss 2015, 494 (496 ff.); Komninos, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 191 (194 ff.); Hilbig, Das gemeinschaftsrechtliche Kartellverbot im internationalen Handelsschiedsverfahren, 2006, 77 ff.; K. Schmidt, BB 2006, 1397 (1397 f.); Steinle / Wilske / Eckardt, SchiedsVZ 2015, 165 (168). 22 Siehe nur Komninos, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 191 (194); G. Wagner, ZVglRWiss 2015, 494 (496 ff.); K. Schmidt, BB 2006, 1397 (1398 f.).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
ist, ob kartellrechtliche Schadensersatzansprüche zwischen den Parteien auch von einer nur allgemein gehaltenen Schiedsvereinbarung erfasst werden.23 Gegen eine Bindungswirkung gegenüber privaten Schiedsgerichten spricht, dass diese nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht die Voraussetzungen eines mitgliedstaatlichen Gerichts im Sinne des Art. 267 AEUV erfüllen.24 Nach ganz überwiegender Auffassung sind private Schiedsgerichte daher auch nicht auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 unmittelbar an Kommissionsentscheidungen gebunden.25 Dies spricht dafür, dass private Schiedsgerichte auch nicht an die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden gebunden sind.26 Zwar wäre eine weitergehende Rege23 Bejahend Basedow, in: Basedow, 2007, 229 (233); Komninos / Burianski, G.C.L.R. 2009, 16 (22 ff.); aus der Rechtsprechung jüngst LG Dortmund 13.9.2017, 8 O 30/16 (Kart), juris, Rn. 15; a. A. dagegen G. Wagner, ZVglRWiss 2015, 494 (505 ff., 508); vgl. auch die Schlussanträge von GA Jääskinen 11.12.2014 – Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2014:2443, Rn. 118 ff.; der Gerichtshof hat sich in der Sache CDC nicht zum Geltungsbereich von Schiedsvereinbarungen geäußert, aber für die ebenfalls streitgegenständlichen Gerichtsstandsvereinbarungen entschieden, dass sich diese auf Streitigkeiten aus einer Haftung wegen Wettbewerbsverstößen konkret beziehen müssen, um diese wirksam einzubeziehen, EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C: 2015:335, Rn. 71; auf Schiedsvereinbarungen übertragbar halten diese Ausführungen G. Wagner, ZVglRWiss 2015, 494 (508); Steinle / Wilske / Eckardt, SchiedsVZ 2015, 165 (165 ff.); Harms / Sanner / Schmidt, EuZW 2015, 592 (592); Harler / Weinzierl, EWS 2015, 121 (122 f.); a. A. LG Dortmund 13.9.2017, 8 O 30/16 (Kart), juris, Rn. 31 ff. 24 EuGH 23.3.1982, Rs. C-102/81, Nordsee / Reederei Mond, EU:C:1982:107, Rn. 10 ff.; EuGH 1.6.1999, Rs. C-126/97, Eco Swiss, EU:C:1999:269, Rn. 34; EuGH 27.1.2005, Rs. C-125/04, Denuit und Cordenier, EU:C:2005:69, Rn. 13; EuGH 12.6.2014, Rs. C377/13, Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta, EU:C:2014:1754, Rn. 27; dazu Schütze, SchiedsVZ 2007, 121 (121 ff.); bezogen auf ein in einem bilateralen Investitionsschutzabkommen vorgesehenes Schiedsgericht jüngst EuGH 6.3.2018, Rs. C-284/16, Achmea, EU:C:2018:158, Rn. 43 ff., 49; unter Hinweis auf grundlegende Änderungen im Bereich der Handelsschiedsgerichtsbarkeit für eine Rechtsprechungsänderung des Gerichtshofs und für eine Vorlageberechtigung privater Schiedsgerichte plädiert Basedow, Journal of International Arbitration 32 (2015), 367 (381 ff.). 25 Komninos, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 191 (208); Hilbig, Das gemeinschaftsrechtliche Kartellverbot im internationalen Handelsschiedsverfahren, 2006, 169; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (158); Nazzini, E.C.L.R. 2004, 153 (161); Blanke, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 29.72; Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 14; vgl. auch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, 54 Rn. 1; offenlassend Hermanns / Brück, SchiedsVZ 2004, 137 (140); siehe zur Frage auch K. Schmidt, BB 2006, 1397 (1403). 26 Vgl. ebenso Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 219 Fn. 1052; als offen betrachtet diese Frage Komninos, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 191 (211) („open to discussion“); für eine Bindung auch von Schiedsgerichten dagegen Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 217.
A. Adressaten
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lung in Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie und in § 33b GWB durchaus denkbar. Hiergegen spricht aber neben dem Wortlaut der Vorschriften27 auch der Umstand, dass sich der deutsche Gesetzgeber bei Einführung der Bindungswirkung im Zuge der 7. GWB-Novelle28 wie auch später der europäische Gesetzgeber29 an der Regelung in Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 orientiert hat sowie die in Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie und in § 33b S. 3 GWB erwähnte und damit vorausgesetzte Vorlagemöglichkeit nach Art. 267 AEUV, die privaten Schiedsgerichten nach der gegenwärtigen Rechtslage gerade nicht offensteht.30 Ein Schiedsgericht, das über einen Sachverhalt zu befindet hat, der bereits Gegenstand der Entscheidung einer mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde war, ist allerdings auch ohne formelle Bindungswirkung gut beraten, der Entscheidung inhaltlich zu folgen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass ein ergangener Schiedsspruch wegen Nichtbeachtung der europäischen Wettbewerbsregeln, die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen und von den nationalen Gerichten grundsätzlich von Amts wegen zu beachten sind,31 aufgehoben bzw. nicht anerkannt und vollstreckt wird.32 Es besteht damit zwar formell keine Bindung privater Schiedsgerichte, de facto werden sie die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden jedoch zu beachten haben.
27 Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass eine in einer Entscheidung festgestellte Zuwiderhandlung „vor einem ihrer nationalen Gerichte als unwiderlegbar festgestellt gilt“ (Hervorhebung nur hier); in § 33b GWB ist davon die Rede, dass ein „Gericht“ an die Entscheidung gebunden ist, womit ebenfalls allein auf staatliche Gerichte Bezug genommen werden dürfte; a. A. Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 217. 28 Vgl. die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 54. 29 Vgl. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zum Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“, SEC(2005) 1732, Rn. 85; Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 6 f.; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 134 ff. 30 Siehe aber Basedow, Journal of International Arbitration 32 (2015), 367 (381 ff.), der angesichts grundlegender Änderungen im Bereich der Handelsschiedsgerichtsbarkeit für eine Rechtsprechungsänderung des Gerichtshofs und für eine Vorlageberechtigung privater Schiedsgerichte plädiert. 31 EuGH 1.6.1999, Rs. C-126/97, Eco Swiss, EU:C:1999:269, Rn. 36 ff. 32 Vgl. Komninos, in: Basedow / Francq / Idot, 2012, 191 (208); Nazzini, E.C.L.R. 2004, 153 (161 f.); Blanke, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 29.72; Schneider, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 6; Becker / Vollrath, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 10; Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 14 (jeweils bezogen auf Entscheidungen der Kommission).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
II. Zwischenergebnis Alle staatlichen Ausgangs- und Instanzgerichte, die über kartellrechtliche Schadensersatzklagen entscheiden, sind Adressat der Bindungswirkung der Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden und Gerichte. Private Schiedsgerichte scheiden als unmittelbare Adressaten der Bindungswirkung aus, unterliegen aber de facto einem Beachtungsgebot.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
In sachlicher Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, den Entscheidungen welcher Stellen im Zivilprozess die angeordnete Bindungswirkung zukommen kann. Da weder § 33b GWB noch Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie die Typen von Entscheidungen anführen, denen im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann, ist weiter zu klären, welche Entscheidungen die angeordnete Bindungswirkung auslösen können. Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung ist ferner, dass der Sachverhalt, den das Gericht im Zivilprozess beschäftigt, mit dem Sachverhalt, welcher der Wettbewerbsbehörde zuvor zur Entscheidung vorgelegen hat, identisch ist, worauf ebenfalls einzugehen ist. Schließlich gilt es den auf Schadensersatzklagen beschränkten Anwendungsbereich der Bindungswirkung kritisch zu hinterfragen. I.
Erfasste Entscheidungsstellen
1. Nationale Wettbewerbsbehörden Bindungswirkung kann nach Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie zunächst den Entscheidungen der „nationalen Wettbewerbsbehörden“ zukommen. Mit dem Begriff der „nationalen Wettbewerbsbehörde“ wird nach Art. 2 Nr. 7 der Richtlinie eine Behörde bezeichnet, die von einem Mitgliedstaat nach Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 als für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zuständige Behörde bestimmt worden ist. Da die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der zuständigen Stellen nach Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 nicht an das administrative Vollzugsmodell gebunden sind,33 ist der Begriff der „nationalen Wettbewerbsbehörde“ funktional mit Blick auf die eingeräumten Befugnisse zur Anwendung und Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zu verstehen und hängt von keiner bestimmten organisatorischen oder verfahrensmäßigen Ausgestaltung der zuständigen Stellen ab.34 33 Nach Art. 35 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003 können auch Gerichte zu den für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV bestimmten „Behörden“ gehören. 34 Vgl. nur Schuhmacher, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, 60. Ergänzungslieferung 2016, Art. 101 AEUV Rn. 442.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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In Deutschland sind nach § 50 Abs. 1 GWB sowohl das Bundeskartellamt als auch die Landeskartellbehörden für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zuständige Wettbewerbsbehörden im Sinne des Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003. Die ursprünglich ausschließlich zugunsten des Bundeskartellamtes erfolgte Kompetenzzuweisung wurde im Zuge der 7. GWB-Novelle um die Zuständigkeit der Landeskartellbehörden erweitert, da angesichts der Weite der Zwischenstaatlichkeitsklausel in Art. 101 und 102 AEUV35 Fälle denkbar sind, in denen eine Vereinbarung oder Verhaltensweise geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel im europarechtlichen Sinne zu beeinträchtigen, ohne aber gleichzeitig länderübergreifende Wirkung im Sinne des § 48 Abs. 2 S. 1 GWB zu entfalten.36 In den übrigen Mitgliedstaaten wurden die folgenden Stellen als für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zuständige nationale Wettbewerbsbehörde bestimmt: In Belgien die Autorité belge de la concurrence / Belgische Mededingingsautoriteit, in Bulgarien die Комисия за защита на конкуренцията (Bulgarian Commission for Protection of Competition), in Dänemark die Konkurrence- og Forbrugerstyrelsen (Danish Competition and Consumer Authority), in Estland die Konkurentsiamet (Estonian Competition Authority), in Finnland die Kilpailu- ja kuluttajavirasto (Finnish Competition and Consumer Authority), in Frankreich die Autorité de la concurrence, in Griechenland die Επιτροπή Ανταγωνισμού (Hellenic Competition Commission), in Irland die Competition and Consumer Protection Commission, in Italien die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, in Kroatien die Agencija za zaštitu tržišnog natjecanja (Croatian Competition Agency), in Lettland der Latvijas Republikas Konkurences padome (Competition Council 35 Grundlegend zur Zwischenstaatlichkeitsklausel EuGH 30.6.1966, Rs. C-56/65, Société Technique Minière / Maschinenbau Ulm, EU:C:1966:38, wonach es darauf ankommt, dass die Vereinbarung „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen kann“; siehe dazu auch die Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, 81; aus dem Schrifttum zur Weite der Zwischenstaatlichkeitsklausel etwa Soltész, in: FS Bechtold, 2006, 501 (502) („sehr geringe Anforderungen“, „nahezu ständig angenommen“); Zimmer, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 196. 36 Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 39; aus dem Schrifttum Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 17; Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 44; wenden die obersten Landesbehörden die europäischen Wettbewerbsregeln an, so erfolgt der Geschäftsverkehr im Europäischen Wettbewerbsnetz und die Mitwirkung an Verfahren der Kommission allerdings über das Bundeskartellamt (§ 50 Abs. 2 und 3 GWB); eigenständige regionale Wettbewerbsbehörden sind auch auf Ebene der autonomen Regionen in Spanien vorgesehen Ruiz Calzado / Armengod, in: Low, 2012, 296 (296); Alonso Soto, in: Cahill, 2004, 541 (541).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
of the Republic of Latvia), in Litauen der Lietuvos Respublikos Konkurencijos Taryba (Competition Council of the Republic of Lithuania), in Luxemburg der Conseil de la concurrence, in Malta die LAwtorità ta’ Malta għallKompetizzjoni u għall-Affarijiet tal-Konsumatur (Malta Competition and Consumer Affairs Authority), in den Niederlanden die Autoriteit Consument & Markt, in Österreich die Bundeswettbewerbsbehörde, das Kartellgericht und der Bundeskartellanwalt,37 in Polen das Urząd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Office of Competition and Consumer Protection), in Portugal die Autoridade da Concorrência (Portuguese Competition Authority), in Rumänien der Consiliul Concurenței (Romanian Competition Council), in Schweden die Konkurrensverket (Swedish Competition Authority), in der Slowakei das Protimonopolný úrad Slovenskej republiky (Antimonopoly Office of the Slovak Republic), in Slowenien die Javna agencija Republike Slovenije za varstvo konkurence (Slovenian Competition Protection Agency), in Spanien die Comisión Nacional de los Mercados y la Competencia, in Tschechien das Úřad pro ochranu hospodářské soutěže (Czech Office for the Protection of Competition), in Ungarn die Gazdasági Versenyhivatal (Hungarian Competition Authority), im Vereinigten Königreich die Competition and Markets Authority und in Zypern die Επιτροπής Προστασίας Ανταγωνισμού (Commission for the Protection of Competition of the Republic of Cyprus).38 Die große Mehrzahl der Mitgliedstaaten folgt bei der organisatorischen Ausgestaltung der Wettbewerbsbehörden dem administrativen Vollzugsmodell,39 nach dem sowohl die Ermittlungs- wie auch die Entscheidungsbefugnisse grundsätzlich bei einer Wettbewerbsbehörde liegen.40 Dies gilt entweder für alle oder zumindest den Großteil der zu Gebote stehenden Entscheidungs37 Nach § 83 Abs. 1 öKartG ist das Kartellgericht zuständig für den Erlass von Entscheidungen und der Bundeskartellanwalt für die Antragstellung beim Kartellgericht; die Bundeswettbewerbsbehörde ist nach § 3 Abs. 1 öWettbG zuständig für das Zusammenwirken mit der Kommission und den anderen nationalen Wettbewerbsbehörden. 38 Vgl. etwa den Überblick in ECN Brief, Special Issue, A look inside the ECN: its members and its work, Dezember 2010; ein Link zu den Internetpräsentationen der Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz findet sich auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb, abrufbar unter . 39 Einführend zu den Grundmodellen bei der Ausgestaltung und Organisation der nationalen Wettbewerbsbehörden bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. 40 Dies ist der Fall in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, dem Vereinigten Königreich und Zypern; vgl. das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD (2014) 231, 2, Rn. 10 Fn. 8; vgl. ferner ECN Brief, Special Issue, A look inside the ECN: its members and its work, Dezember 2010.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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befugnisse, wobei in letzterem Fall mitunter einzelne Entscheidungen entsprechend dem justiziellen Vollzugsmodell nur durch Gerichte erlassen werden können.41 In etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten liegen die Ermittlungsund Entscheidungsbefugnisse bei einer weitgehend einheitlich operierenden Behörde.42 In etwa genauso vielen Mitgliedstaaten sind die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse dagegen grundsätzlich auf zwei innerhalb der betreffenden Behörde43 getrennte Stellen verteilt, wobei eine Stelle die Ermittlungen führt und eine andere Stelle, in der Regel ein Kollegialorgan, die Entscheidungen trifft.44 Der Grad der bestehenden organisatorischen Trennung variiert hierbei stark zwischen den einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden.45
41 In Estland können etwa strafrechtliche Sanktionen nur durch Gerichte erlassen werden, Ollõkainen, in: Cahill, 2004, 113 (113 f.); in Finnland können Bußgelder grundsätzlich nur durch die Gerichte verhängt werden, Wik / Paanajärvi, in: Low, 2012, 87 (89) (Antwort auf Frage 11); Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 45, 47; vgl. auch das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 11 Fn. 9 und 10. 42 Neben dem Bundeskartellamt in Deutschland gilt dies grundsätzlich für die nationale Wettbewerbsbehörden in Estland, Finnland, Kroatien, Malta, den Niederlanden, Polen, Schweden, Slowakei, Slowenien, Tschechien und im Vereinigten Königreich; vgl. den Bericht ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 7; vgl. auch das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 10; ECN Brief, Special Issue, A look inside the ECN: its members and its work, Dezember 2010. 43 Das in einigen Mitgliedstaaten ehemals existierende dualistische administrative Vollzugsmodell wurde abgeschafft, zuletzt in Belgien mit der Schaffung der einheitlichen und unabhängigen Autorité belge de la concurrence, bei der nur noch eine interne funktionelle Aufgabenteilung besteht; siehe dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. 44 Eine organisatorische Trennung von Ermittlungs- und Entscheidungsfunktionen existiert innerhalb der nationalen Wettbewerbsbehörden in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Portugal, Rumänien, Spanien, Ungarn und Zypern; vgl. dazu den Bericht ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 6 f.; vgl. ferner das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 10. 45 Eine strikte Aufgabenteilung existiert etwa innerhalb der französichen Autorité de la Concurrence und innerhalb der spanischen Comisión Nacional de los Mercados y la Competencia; in beiden Ländern existierte ehemals ein dualistisches administratives Vollzugsmodell; zu Frankreich Stockmann, ZWeR 2014, 341 (343 ff., 356); Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 57 ff.; zum vor der Reform bestehenden Modell Idot, in: Cahill, 2004, 151 (156 f.); zu Spanien Jara Ronda, in: FS Säcker, 2006, 123 (123); Fischer, RIW 2007, 920 (921 f.); Krasselt-Priemer, GRUR Int. 2008, 570 (571 f.); zum vor der Reform bestehenden Modell etwa Alonso Soto, in: Cahill, 2004, 541 (541 f.).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Das justizielle Vollzugsmodell findet sich mehr oder minder voll verwirklicht in nur wenigen Mitgliedstaaten wieder. In diesen Mitgliedstaaten können Verbots- und/oder Bußgeldentscheidungen nur von einem Gericht erlassen werden, während die Wettbewerbsbehörde im Wesentlichen die Rolle einer Ermittlungs- und Anklagebehörde übernimmt, die den Fall vor das Gericht bringt.46 Mit der in § 33b S. 1 GWB enthaltenen Präzisierung, wonach zum Kreis der erfassten Entscheidungsstellen neben der eigenen Kartellbehörde und der Wettbewerbsbehörde in einem anderen Mitgliedstaat auch ein „als solche handelndes Gericht“ in einem anderen Mitgliedstaat gehört, nimmt das deutsche Recht auf das in einigen Mitgliedstaaten anzutreffende justizielle Vollzugsmodell eigens Bezug. Von diesen Gerichten, das heißt den als „nationale Wettbewerbsbehörde“ handelnden Gerichten, gilt es die nationalen „Rechtsmittelgerichte“ zu unterscheiden, die als Entscheidungsstellen vom sachlichen Anwendungsbereich der Regelung über die Bindungswirkung ebenfalls erfasst werden. 2. Nationale Gerichte Neben der Bindung an Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden ist nach Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie auch eine Bindung an die Entscheidungen der „Rechtsmittelinstanzen“ zu gewährleisten. Mit dem Begriff der „Rechtsmittelinstanz“ wird nach Art. 2 Nr. 10 der Richtlinie ein nationales Gericht bezeichnet, das im Wege ordentlicher Rechtsmittel befugt ist, Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder darüber ergehende gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen, unabhängig davon, ob dieses Gericht selbst die Befugnis hat, eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht festzustellen.47 Indem der Begriff des ordentlichen „Rechtsmittels“ neben der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch ein Gericht auch die gerichtliche Überprüfung behördlicher Entscheidungen erfasst, ist der Begriff hier weiter als der Begriff des Rechtsmittels im Sinne des deutschen Prozessrechts.48 Dies ist insbesondere der Fall in Irland und Österreich; zu Irland Cahill, in: Cahill, 2004, 273 (273 ff.); Burke / Collins / Jenkinson, in: Low, 2012, 140 (142 f.) (Antworten auf Fragen 11 und 15); zu Österreich Eilmansberger / Thyri, in: Cahill, 2004, 35 (35 ff.); Kofler-Senoner / Siebert, EuZW 2012, 650 (650 f.); vgl. auch das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 11; vgl. ferner den Bericht ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 9 f.; vgl. zudem den ECN Brief, Special Issue, A look inside the ECN: its members and its work, Dezember 2010. 47 Vgl. auch die Begriffsverwendung in Art. 35 Abs. 3 S. 2 VO Nr. 1/2003. 48 Als Rechtsmittel werden im deutschen Prozessrecht Rechtsbehelfe bezeichnet, die sich gegen gerichtliche Entscheidungen richten und mithilfe derer ein Beteiligter eine ihm ungünstige, noch nicht rechtskräftige Entscheidung durch ein höheres Gericht beseitigen 46
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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Der Begriff der „Rechtsmittelinstanz“ ist dagegen insofern eng, als er nur die im Rahmen der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung tätigen Gerichte erfasst, die dazu berufen sind, Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder darüber ergehende gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen. Die zivilgerichtlichen Rechtsmittelinstanzen scheiden als Entscheidungsstellen demzufolge aus. Erlässt eine zivilgerichtliche Rechtsmittelinstanz ein Urteil, in dem ein Kartellrechtsverstoß bestätigt bzw. festgestellt wird, so vermag diese Entscheidung also nicht die hier besprochene Bindungswirkung auszulösen.49 Das deutsche Recht ordnet in § 33b S. 2 GWB – ohne den Begriff des Rechtsmittels oder der Rechtsmittelinstanz zu verwenden – entsprechend auch nur an, dass die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes in rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, die infolge der Anfechtung einer bindungsfähigen kartellbehördlichen Entscheidung ergangen sind, Bindungswirkung entfalten.50 Die Bestimmung der zuständigen Gerichte im vorgenannten Sinne unterliegt der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.51 Gegen die Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden, bei denen es sich der Sache nach um Verwaltungsakte im Sinne des § 35 S. 1 VwVfG handelt,52 ist anstelle der an sich im Verwaltungsrechtsweg nach §§ 40 Abs. 1, 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaften Anfechtungsklage vor den Verwaltungsgerichten nach § 63 Abs. 1, 4 GWB das Beschwerdeverfahren zu den Oberlandesgerichten eröffnet.53 Bei der Beschwerde nach § 63 GWB handelt es sich in der Sache um oder abändern lassen kann (Berufung, Revision, Beschwerde); das Rechtsmittel ist hiernach also ein besonderer Fall des allgemeineren Rechtsbehelfs, Rudisile, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 31. EL 2016, Vorb. § 124 VwGO Rn. 1 f.; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 133 Rn. 1 ff.; siehe auch unter ‚Rechtsmittel‘ und ‚Rechtsbehelf‘ in Creifelds, Rechtswörterbuch, 22. Aufl. 2017, 1067, 1076. Vorliegend soll dagegen das Begriffsverständnis der Kartellschadensersatzrichtlinie zugrunde gelegt werden, sodass auch über die Rechtmäßigeit einer kartellbehördlichen Verfügung befindende Gerichte „Rechtsmittelinstanzen“ darstellen (vgl. auch Art. 35 Abs. 3 S. 2 VO Nr. 1/2003). 49 Eine solche Entscheidung unterfällt aber der Brüssel Ia-VO, denn zivilrechtliche Kartellsachen stellen ohne weiteres „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne der Brüssel IaVO dar, siehe dazu bereits supra Kapitel 1 A. II. 3. a); daraus resultierende Urteile unterliegen folglich auch der Anerkennung nach Maßgabe der Art. 36 Brüssel Ia-VO ff.; dazu Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (401); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 553. 50 Dazu, dass nur in der Anfechtungskonstellation ergangene Gerichtsentscheidungen Bindungswirkung nach § 33b S. 2 GWB entfalten infra Kapitel 2 B. II. 2. a). 51 Ein Überblick über die in den Mitgliedstaaten zuständigen Rechtsmittelgerichte findet sich etwa in ECN Brief, Special Issue, A look inside the ECN: its members and its work, Dezember 2010; siehe ferner die Auflistung in ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 20 ff. 52 Statt aller Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 42 Rn. 3, 5. 53 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 63 GWB Rn. 2; K. Schmidt, in: FS Selmer, 2004, 499 (500); Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 42 Rn. 5.
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
eine kraft abdrängender Sonderzuweisung vor den Oberlandesgerichten zu verhandelnde verwaltungsrechtliche Klage.54 Über eine Beschwerde entscheidet nach § 63 Abs. 4 GWB das für den Sitz der Kartellbehörde zuständige Oberlandesgericht, im Falle der Entscheidungen des Bundeskartellamtes also das OLG Düsseldorf.55 Gegen die Entscheidungen der Beschwerdegerichte findet unter bestimmten Voraussetzungen nach §§ 74, 76 GWB Rechtsbeschwerde zum BGH statt. Von der Beschwerde in Kartellverwaltungssachen zu unterscheiden ist der im Kartellbußgeldverfahren56 statthafte Einspruch gegen Bußgeldbescheide nach § 67 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 83 GWB. Nach § 83 Abs. 1 GWB entscheidet auch hierüber das für den Sitz der Kartellbehörde zuständige Oberlandesgericht, im Falle von Bußgeldbescheiden des Bundeskartellamtes also wiederum das OLG Düsseldorf. Gegen die Entscheidungen der Oberlandesgerichte findet nach § 79 OWiG i.V.m. § 84 GWB Rechtsbeschwerde zum BGH statt. Als „Rechtsmittelinstanzen“, deren Entscheidungen im Kartellschadensersatzprozess Bindungswirkung entfalten können, fungieren in Deutschland damit die Oberlandesgerichte, namentlich das OLG Düsseldorf, sowie in zweiter Instanz der BGH. Die Bedeutung der nationalen Rechtsmittelinstanzen als Stellen, deren Entscheidungen Bindungswirkung entfalten können, ist nicht zu unterschätzen. Schließlich werden im Zuge der Effektivierung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen viele Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden – so ist zu vermuten – gerade auch deshalb angefochten, um eine Bindungswirkung in drohenden follow on-Schadensersatzprozessen zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern.57 In diesen Fällen tritt, vorausgesetzt die gerichtliche Anfechtung bleibt erfolglos, anstelle der Bindung an die kartellbehördliche Ent54 K. Schmidt, DB 2007, 2188 (2188); K. Schmidt, in: FS Selmer, 2004, 499 (503); Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 63 GWB Rn. 2; Kremer, Die kartellverwaltungsrechtliche Beschwerde, 1988, 24 ff. 55 Die Zuständigkeit des OLG Düsseldorf ergibt sich aus § 2 Verordnung über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte, zuletzt vom 30.8.2011 (GVBI. NW 2011, S. 469), OLG Düsseldorf 25.4.2000, Kart 2/00 (V), WuW 2000, 894 – Tequila; zum drohenden positiven Kompetenzkonflikt zwischen dem OLG Düsseldorf und dem OLG Köln nach dem Umzug des Bundeskartellamtes von Berlin nach Bonn Jaeger / Dicks, in: FS 100 Jahre OLG Düsseldorf, 2006, 155 (175). 56 Das deutsche Kartellverfahrensrecht trennt grundlegend zwischen Verwaltungs- und Bußgeldverfahren, vgl. nur Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, Vor § 54 GWB Rn. 1 f.; Töllner, EWS 2011, 21 (21 ff.). 57 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 141; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (819); Hempel, WuW 2005, 137 (143); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 231; vgl. auch Furse, European Competition Journal 2013, 79 (103) („increased risk of appeals“); vgl. ferner den anwaltlichen Ratschlag bei Weidenbach / Saller, BB 2008, 1020 (1025): „Kampf gegen die Bestandskraft von Entscheidungen […] PRAXISTIPP: Um eine solche Bindungswirkung zu verhindern, sollten die etwaigen Rechtsverletzer eine Bestandskraft der Behördenentscheidung grund-
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scheidung grundsätzlich die Bindung an die infolge der Anfechtung ergehende Gerichtsentscheidung.58 II. Erfasste Entscheidungen Weder Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie noch § 33b GWB führen im Einzelnen die Entscheidungstypen an, denen im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann. Beide Regelungen stellen schlicht auf „Entscheidungen“ ab, in denen ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt wurde. Auch die Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 11 der Kartellschadensersatzrichtlinie hilft insoweit nicht weiter, denn hiernach bezeichnet der Begriff „Zuwiderhandlungsentscheidung“ schlicht die Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde oder einer Rechtsmittelinstanz, mit der eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt wird. Damit ist weiter klärungsbedürftig, welchen Typen von Entscheidungen im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann. Bei der Untersuchung dieser Frage gilt es mit Blick auf die von der Regelung erfassten Entscheidungsstellen zwischen den Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden und solchen der nationalen Gerichte zu unterscheiden. 1. Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden Um sich der Antwort auf die Frage zu nähern, welchen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden Bindungswirkung zukommen kann, werden im Folgenden zunächst allgemeine Anforderungen für die Bindungsfähigkeit formuliert. In einem zweiten Schritt werden dann die verschiedenen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden jeweils daraufhin untersucht, ob sie Bindungswirkung im Zivilprozess entfalten können. Schließlich sind die Anforderungen an betreffende kartellbehördliche Entscheidungen darzulegen, die für den Eintritt der Bindungswirkung im Kartellschadensersatzprozess erfüllt sein müssen. a) Allgemeine Anforderungen aa) Feststellung eines Verstoßes Voraussetzung dafür, dass der Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann, ist zunächst, dass in ihr ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt wurde.59 sätzlich verhindern. Das verschafft ihnen zumindest zusätzliche Zeit, um mit den potenziellen Schadensersatzklägern Verhandlungen zu führen.“ 58 Näher dazu infra Kapitel 2 B. II. 2. 59 Dies unterscheidet die Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess von der Bindung an Entscheidungen der Kommission nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003, die auch durch Nichtanwendbarkeitsentscheidungen
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Folglich scheiden von vornherein solche Entscheidungen aus dem sachlichen Anwendungsbereich aus, in denen die Frage, ob ein Verstoß vorgelegen hat oder noch vorliegt, durch die Behörde überhaupt nicht beantwortet (oder gar verneint)60 wurde. Wie noch näher ausgeführt wird, kommt es für die Bindungswirkung einer Entscheidung indes nicht darauf an, ob die Feststellung des Verstoßes unmittelbar in den Entscheidungstenor aufgenommen wurde oder ob sich der festgestellte Verstoß erst aus den Gründen der Entscheidung ergibt. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass aus der betreffenden Entscheidung unmissverständlich hervorgeht, dass die beanstandete Maßnahme als Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht gewertet wurde.61 bb) Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV oder parallel anwendbares nationales Wettbewerbsrecht Es fragt sich weiter, auf die Verletzung welchen Wettbewerbsrechts sich der festgestellte Verstoß beziehen muss. Wird allein der Fall erfasst, dass ein Verstoß gegen die europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 oder 102 AEUV festgestellt wurde? Oder kann darüber hinaus auch einer Entscheidung Bindungswirkung zukommen, in der ein Verstoß gegen Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts festgestellt wurde? In Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie ist schlicht von einer festgestellten Zuwiderhandlung gegen „das Wettbewerbsrecht“ die Rede. Der Ausdruck „Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht“ bezeichnet nach Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie neben einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV auch eine solche gegen nationales Wettbewerbsrecht. Das „nationale Wettbewerbsrecht“ erfasst hierbei solche Bestimmungen des nationalen Rechts, mit denen überwiegend das gleiche Ziel verfolgt wird wie mit den Art. 101 und 102 AEUV und die nach Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 auf denselben Fall und parallel zum Wettbewerbsrecht der Union angewandt werden.62 Damit beschränkt sich die Regelung zur Bindungswirkung in Art. 9 der Richtlinie nicht auf Entscheidungen, in denen ein Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV festgestellt wurde.63 Auch die Entscheidung einer anderen nach Art. 10 VO Nr. 1/2003 ausgelöst werden kann, mit der die Anwendung der Art. 101 Abs. 1 oder Art. 102 AEUV auf eine Vereinbarung oder Verhaltensweise gerade verneint wird; siehe hierzu bereits supra Kapitel 1 C. II. 1. 60 Eine Nichtanwendbarkeitsentscheidung, derzufolge eine bestimmte Vereinbarung oder Verhaltensweise nicht gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln der Art. 101 oder 102 AEUV verstößt, ist den nationalen Wettbewerbsbehörden verwehrt; eine solche Entscheidung bleibt im System der dezentralen Kartellrechtsanwendung der Kommission vorbehalten; dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. b) aa). 61 Näher dazu infra Kapitel 3 A. I. 2. 62 Siehe die Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie. 63 Siehe zum Anwendungsbereich der Richtlinie, der auch bestimmte Fälle von Verstößen gegen nationales Wettbewerbsrecht erfasst, auch Erwägungsgrund 10 der Richtlinie
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mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde, in der ein Verstoß gegen Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts im genannten Sinn festgestellt wurde, muss damit nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie zumindest als prima facie-Beweis für das Vorliegen eines Verstoßes zugelassen werden.64 Aus der Regelung des Art. 3 VO Nr. 1/2003 zum Verhältnis zwischen den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln und dem nationalen Wettbewerbsrecht folgt allerdings, dass Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts im Bereich wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen im Ergebnis keine eigenständige Bedeutung mehr haben, soweit die Zwischenstaatlichkeitsklausel des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt ist. Denn Art. 101 AEUV begründet insoweit nicht nur den Mindest-, sondern auch den Maximalstandard: Art. 101 AEUV setzt sich nicht nur gegen milderes nationales Wettbewerbsrecht durch,65 nach nationalem Wettbewerbsrecht können unter Art. 101 AEUV erlaubte Vereinbarungen auch nicht verboten werden.66 Die Möglichkeit parallel zu Art. 101 AEUV weiterhin das nationale Wettbewerbsrecht anzuwenden, kann das Ergebnis eines Falles daher nicht beeinflussen.67 Im Bereich einseitiger Verhaltensweisen begründet Art. 102 AEUV dagegen lediglich den Mindeststandard. Den Mitgliedstaaten ist es nämlich nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen zu erlassen oder anzuwenden.68 Jedoch sowie aus dem Schrifttum Vollrath, NZKart 2013, 434 (436); Schweitzer, NZKart 2014, 335 (336); Böni, EWS 2014, 324 (325). 64 Kersting / Preuß, WUW1211285 (Online-Langfassung des Beitrags aus WuW 2016, 394), L1 (L4); vgl. dazu auch die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BTDrucks. 18/10207, S. 56. 65 Bereits aus dem Charakter des Art. 101 AEUV als unmittelbar anwendbarer und vorrangiger Vorschrift des Unionsrechts folgt, dass sich dieser gegen milderes nationales Wettbewerbsrecht durchsetzt, Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 8; Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 1. 66 Dies folgt aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO Nr. 1/2003, wonach Vereinbarungen, die zwar den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber nicht nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verboten oder von dem Verbot nach dieser Vorschrift freigestellt sind, nicht nach nationalem Wettbewerbsrecht verboten werden dürfen; statt aller dazu Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 9; Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 1. 67 Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 2; Rehbinder, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 19 f.; Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 5. 68 Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO Nr. 1/2003; vgl. auch den klarstellenden Hinweis in § 22 Abs. 3 S. 3 GWB; aus dem Schrifttum siehe statt aller nur Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 12.
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wird nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 1/2003 eine Verpflichtung zur parallelen Anwendung des Art. 102 AEUV überhaupt nur dann ausgelöst, wenn die Handlung nach Art. 102 AEUV verboten ist.69 Da die Kartellschadensersatzrichtlinie eine parallele Anwendungsverpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 voraussetzt, werden von ihr infolgedessen auch nur solche Fälle erfasst, in denen die Behörde die Entscheidung bezüglich einer einseitigen Handlung zwar auf Bestimmungen des nationalen Rechts gestützt hat, die Handlung zugleich aber auch nach Art. 102 AEUV verboten ist. Die parallele Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts kann damit auch hier das Ergebnis eines Falles nicht beeinflusst haben. Die Möglichkeit, in den eben genannten Fällen das nationale Wettbewerbsrecht weiterhin anzuwenden, kann den nationalen Wettbewerbsbehörden allenfalls die praktische Rechtsanwendung erleichtern.70 Es ist davon auszugehen, dass die angeordnete Bindungswirkung nach der Richtlinie in Fällen einer parallelen Anwendung aber nicht von der Prüfungspraxis der betreffenden nationalen Wettbewerbsbehörde abhängen soll. Es kann für die Bindungswirkung nicht darauf ankommen, ob der festgestellte Verstoß seitens der Behörde ausdrücklich (auch) auf die europäischen Wettbewerbsregeln gestützt wurde oder aber ausschließlich auf Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts.71 Es ist zwar umstritten, ob es für eine Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln überhaupt ausreicht, dass die Behörde diese Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 52; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 6; Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 6; trotz des Wortlauts in Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 1/2003 („verbotene Missbräuche“) anderer Auffassung Eilmansberger / Bien, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 102 AEUV Rn. 58. 70 Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 2; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 3 Rn. 10, 16, nach denen Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung der schwer handhabbaren Zwischenstaatlichkeitsklausel vermieden werden könnten, indem die Frage offen gelassen wird; a. A. Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2006, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 6. 71 Das Bundeskartellamt prüft in Fällen paralleler Anwendbarkeit sowohl die europäischen Wettbewerbsregeln als auch die betreffenden Bestimmungen des GWB, und zwar entweder parallel zusammen oder aber hintereinander, wobei ein festgestellter Verstoß jeweils ausdrücklich sowohl auf die europäischen Wettbewerbsregeln als auch auf die Vorschriften des GWB gestützt wird; für eine parallele (integrierte) Prüfung etwa BKartA 9.7.2015, B1-72/12 – Gemeinsame Rundholzvermarktung durch das Land BadenWürttemberg, S. 72 ff.; für eine hintereinander geschaltete Prüfung siehe etwa BKartA 18.11.2011, B3-134/09 – Endkundenmärkte für Hörgeräte, S. 10 ff., 20 ff.; zur (nicht ganz einheitlichen) Prüfungspraxis der deutschen Gerichte in Fällen, in denen das unionsrechtliche und das nationale Wettbewerbsrecht parallel angewendet werden, Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 6 Rn. 37. 69
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geprüft hat und die Entscheidung dies erkennen lässt,72 oder ob darüber hinaus auch die an den Adressaten gerichteten Rechtsfolgen ausdrücklich auf Art. 101 oder 102 AEUV gestützt werden müssen.73 Unabhängig davon muss die Bindungswirkung aber gewährleistet sein, falls sich eine Wettbewerbsbehörde in der Rechtsfolgenanordnung allein auf Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts gestützt hat, die Entscheidung aber gleichwohl erkennen lässt, dass europäisches und nationales Wettbewerbsrecht parallel geprüft wurden. Dies setzt die Richtlinie offenkundig voraus, wenn es am Ende von Erwägungsgrund 34 in Bezug auf die zu gewährleistenden Wirkungen nationaler Entscheidungen heißt: „Diese Grundsätze sollten auch für eine Entscheidung in Fällen gelten, in denen das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht auf denselben Fall und parallel angewandt werden, und in der ein Verstoß gegen Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts festgestellt wurde.“
Im deutschen Recht wird die Bindungswirkung nach Maßgabe des § 33b S. 1 GWB durch Entscheidungen ausgelöst, in denen ein Verstoß gegen das GWB oder gegen Art. 101 oder 102 AEUV festgestellt wurde.74 Die Regelung geht damit insofern über die Richtlinie hinaus, als ihr auch eine Entscheidung unterfällt, in der ein Verstoß gegen das GWB festgestellt wurde, die europäischen Wettbewerbsregeln aber mangels Geeignetheit der betreffenden Maßnahme, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, nicht nach Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 parallel anzuwenden waren.75 Eine Entscheidung, in 72 In diesem Sinne etwa Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 57; vgl. auch Rehbinder, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 13, dem zufolge die angeordnete Rechtsfolge neben dem Tenor auch „nur“ in der Begründung einer Entscheidung zum Ausdruck kommen kann. 73 Dies fordern etwa Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 5, sowie De Smijter / Sinclair, in: Faull & Nikpay, The EU Law of Competition, 3. Aufl. 2014, 2.53 Fn. 63 („the term ‘apply’ in Art. 3(1) implies that Arts. 101 and 102 must find expression in the operative part of the decision“); vgl. auch PufferMariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 5. 74 Nach § 33b S. 1 GWB ist das Gericht an die Feststellung „des Verstoßes“ gebunden; wie sich aus dem Einleitungssatz ergibt („Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union Schadensersatz gefordert, […]“), wird damit der Verstoß gegen den ersten Teil des GWB oder gegen Art. 101 bzw. 102 AEUV in Bezug genommen, aufgrund dessen der Kläger Schadenseratz fordert. 75 Wird der zwischenstaatliche Handel nicht beeinträchtigt, so ist das nationale Recht grundsätzlich ohne jedwede unionsrechtliche Einschränkung anwendbar (vgl. etwa die nach § 3 GWB vom Kartellverbot freigestellten Mittelstandskartelle); dazu etwa Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 6 Rn. 21; vgl. vorliegend auch Erwägungsgrund 10 S. 5: „Diese Richtlinie sollte Schadensersatzklagen wegen
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
der ein Verstoß gegen das GWB festgestellt wurde, bindet nämlich selbstverständlich unabhängig davon, ob das GWB gemäß § 22 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 GWB auf denselben Fall parallel zu den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln angewandt wurde oder nicht. Andererseits erfasst die Regelung in § 33b S. 1 GWB die Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden allein in denjenigen Fällen, in denen ein Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV festgestellt wurde.76 Der Fall, dass durch die Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaates ein Verstoß (allein) gegen das nationale Wettbewerbsrecht festgestellt wurde, wird dem Wortlaut nach also nicht erfasst.77 Wie dargelegt wurde, ist nach der Richtlinie aber zu gewährleisten, dass einer Entscheidung, in der eine andere mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde das europäische und das nationale Wettbewerbsrecht parallel angewandt, den festgestellten Verstoß aber allein auf das nationale Wettbewerbsrecht gestützt hat, zumindest eine prima facie-Beweiswirkung beigelegt wird. Dies wurde bei Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie durchaus gesehen, gesetzgeberischer Handlungsbedarf aber verneint.78 Angesichts der klaren Richtlinienvorgabe wird man § 33b S. 1 GWB richtlinienkonform dahingehend auszulegen haben, dass einer Entscheidung, in der eine andere mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde den festgestellten Verstoß allein auf das nationale Wettbewerbsrecht gestützt, die europäischen und nationalen Wettbewerbsregeln aber erkennbar parallel geprüft hat, jedenfalls eine prima facie-Beweiswirkung für einen Verstoß zukommen muss.79 cc) Abschließende Prüfung und Bewertung des Verstoßes Uneinigkeit besteht darüber, ob eine kartellbehördliche Entscheidung nur dann bindungsfähig sein kann, wenn der darin festgestellte Verstoß abschließend geprüft und bewertet wurde. Mitunter wird davon ausgegangen, dass Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht unberührt lassen, die nicht den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Artikel 101 oder 102 AEUV beeinträchtigen.“ 76 Der (hypothetisch) denkbare Fall, dass die Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaates einen Verstoß gegen das GWB feststellt, kommt in der Praxis nicht vor, da Wettbewerbsbehörden nur das Wettbewerbsrecht anzuwenden pflegen, zu deren Durchsetzung sie geschaffen wurden; es besteht also ein Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und dem Anwendungsbereich des materiellen (Kartell-)Verwaltungsrechts; siehe hierzu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa). 77 Vgl. in diesem Sinne bereits die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BTDrucks. 15/3640, S. 54; aus dem Schrifttum Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 260. 78 Vgl. die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 56; dort heißt es zum Anwendungsfall lapidar: „Einer gesetzlichen Regelung bedarf es dazu nicht.“ Siehe dazu auch Kersting / Preuß, WUW1211285 (Online-Langfassung des Beitrags aus WuW 2016, 394), L1 (L4), die allerdings davon ausgehen, dass es kaum je zu einer solchen Entscheidung kommen wird. 79 So auch Bach / Wolf, NZKart 2017, 285 (293 f.).
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eine kartellbehördliche Entscheidung auch dann bindungsfähig sein kann, wenn ihr lediglich eine summarische Prüfung zugrunde liegt und in ihr ein Verstoß lediglich prima facie festgestellt wurde.80 Dies betrifft vor allem die Frage der Bindungswirkung einstweiliger Maßnahmen, werden diese doch gemeinhin im summarischen Verfahren und auf Grundlage eines nur prima facie festgestellten Verstoßes erlassen.81 Die Frage soll daher bei der Prüfung der Bindungswirkung der Anordnung einstweiliger Maßnahmen beantwortet werden.82 b) Erfasste Entscheidungstypen Bevor die Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Einzelnen untersucht werden, gilt es zunächst die Frage der Ermächtigungsgrundlage zu klären, auf die sich die zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zu treffenden Maßnahmen stützen lassen: Findet sich diese bereits unmittelbar in Art. 5 VO Nr. 1/2003? Oder folgt die Ermächtigung zum Erlass der kartellbehördlichen Entscheidungen zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln erst aus dem nationalen Kartellverfahrensrecht? aa) Vorfrage: Art. 5 VO Nr. 1/2003 als Ermächtigungsgrundlage? Seit Erlass der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 besteht Uneinigkeit, ob sich die Entscheidungsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden bereits unmittelbar aus der Regelung in Art. 5 VO Nr. 1/2003 ergeben,83 oder 80 So Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163 f.); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 225, 137 ff. (jeweils in Bezug auf einstweilige Maßnahmen); verneinend dagegen etwa Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 248 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 559. 81 Zum Erfordernis eines zumindest prima facie festgestellten Verstoßes bei der Anordnung einstweiliger Maßnahmen im deutschen Recht nach § 32a GWB siehe nur Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 5; vgl. ferner die Formulierung in Art. 8 VO Nr. 1/2003: „auf der Grundlage einer prima facie festgestellten Zuwiderhandlung“; näher zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen nach dem nationalen Kartellverwaltungsrecht der Mitgliedstaaten infra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (2). 82 Infra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (2). 83 Dahingehend etwa Smits, Legal Issues of Economic Integration 32 (2005), 175 (176 Fn. 5, 184); Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 2; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 37 Fn. 78; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1; Pohlmann, LMK 2011, 320463 (320463); Zuber, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 3; einschränkend GippiniFournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (460) (nicht in Bezug auf Sanktionsmaßnahmen);
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
ob die dort angeführten Entscheidungstypen jeweils der Umsetzung in das nationale Kartellverfahrensrecht bedürfen.84 Offenbar dem ersten Verständnis folgend, hat etwa die italienische Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato die Befugnis zum Erlass einstweiliger Anordnungen zu einem Zeitpunkt, als diese noch nicht im innerstaatlichen italienischen Recht vorgesehen war, unmittelbar auf Art. 5 VO Nr. 1/2003 gestützt.85 Auch das Bundeskartellamt hat sich bereits vor Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle unmittelbar auf Art. 5 VO Nr. 1/2003 berufen.86 Dagegen hat das OLG Düsseldorf mit Billigung des BGH entschieden, dass Art. 5 vierter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003 die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht dazu ermächtigt, unabhängig von den Vorschriften des nationalen Rechts Bußgelder gegen Unternehmen zu verhängen.87 (1) Das EuGH-Urteil in der Sache Tele2 Polska Eine Klärung in Bezug auf diese Streitfrage brachte das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Tele2 Polska88 nur auf den ersten Blick. Das vorlegende polnische Gericht hatte gefragt, ob eine nationale Wettbewerbsbehörde unmittelbar auf der Grundlage des Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 das Verfahren gegen Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5 („beschränke Ermächtigungsgrundlage“). 84 So OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 – Silostellgebühren II; bestätigt durch BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198; aus dem Schrifttum Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 8 Rn. 11 ff.; De Smijter / Sinclair, in: Faull & Nikpay, The EU Law of Competition, 3. Aufl. 2014, 2.83 ff.; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 4; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 17; Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1; Frese, Sanctions in EU Competition Law, 2014, 13; Harnos, ZWeR 2016, 284 (294 f.). 85 Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato 15.6.2005, Provvedimento n. 14388 (A364) – Merck – Principi Attivi; bestätigt durch das Tribunale Amministrativo Regionale Lazio, sezione I, 3.3.2006, n. 341 – Merck; vgl. hierzu auch die Schlussanträge von GA Mazák 7.12.2010 – Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2010:743, Rn. 58; Ritter, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 2. 86 BKartA 11.2.2005, B9-55/03 – Deutsche Post AG, S. 21 f.; hierzu Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 6; Sura, in: Langen / Bunte, EUKartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 4 Fn. 3. 87 OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 – Silostellgebühren II; bestätigt durch BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198. 88 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270; siehe zum Urteil Brammer, CML Rev. 49 (2012), 1163 (1163 ff.); Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (242 ff.); Pohlmann, LMK 2011, 320463 (320463); Röhling, EuZW 2011, 516 (516 f.); Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 3 ff.; Frese, Sanctions in EU Competition Law, 2014, 12 f.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
129
ein Unternehmen mit einer Entscheidung beenden kann, wonach für sie „kein Anlass besteht, tätig zu werden“, obwohl das nationale Recht unter solchen Umständen allein die Möglichkeit des Erlasses einer negativen Sachentscheidung vorsah.89 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil den Erlass einer negativen Sachentscheidung ausgeschlossen,90 ohne aber gleichzeitig Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 ausdrücklich den Charakter einer eigenständigen Ermächtigungsgrundlage beizumessen.91 Sehr viel eindeutiger hatte sich noch Generalanwalt Mazák in seinen Schlussanträgen ausgesprochen und hierbei angenommen, dass Art. 5 VO Nr. 1/2003 den nationalen Wettbewerbsbehörden bezüglich aller darin aufgezählten Entscheidungstypen unmittelbare Entscheidungsbefugnisse übertrage.92 Trotz der gegenüber den Ausführungen des Generalanwalts äußerst zurückhaltenden Aussagen des Gerichtshofs, führen einzelne Stimmen das Urteil – zu Unrecht – dafür an, dass Art. 5 VO Nr. 1/2003 eine (zumindest beschränkte) direkte Ermächtigungsgrundlage begründe.93 (2) Stellungnahme Der Verordnungscharakter der Regelung in Art. 5 VO Nr. 1/2003, der eine unmittelbare Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten bedingt (Art. 288 Abs. 2 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 31. EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 35: „Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Verordnung unmittelbar anwendbar ist und der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die dazu verpflichten würde, ein Verfahren […] durch eine Entscheidung zu beenden, mit der ein Verstoß gegen diesen Artikel verneint wird.“ (Hervorhebung nur hier). 91 Ebenso Frese, Sanctions in EU Competition Law, 2014, 12 f.; ferner OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 (169) – Silostellgebühren II: „In jener Entscheidung hat der EuGH lediglich den allgemein anerkannten Grundsatz des Vorranges des Unionsrechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten […] bekräftigt und entschieden, dass Art. 5 Kartellverfahrensverordnung in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und Absatz 2 dieser Vorschrift einer von einer nationalen Wettbewerbsbehörde getroffenen Feststellung entgegensteht, mit der ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV verneint wird“; bestätigt durch BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198 (2201). 92 Schlussanträge von GA Mazák 7.12.2010 – Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C: 2010:743, Rn. 57: „Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 […] überträgt allen NWB […] die gleichen Entscheidungsbefugnisse, ohne dass eine Umsetzung von Art. 5 in nationales Recht abgewartet werden müsste.“ 93 Pohlmann, LMK 2011, 320463 (320463): „Ermächtigungsgrundlage für kartellbehördliche Verfügungen ist danach direkt Art. 5 VO 1/2003 i. V. mit der nationalen Zuständigkeitsregelung. […] Das nationale Recht hat nur noch die Aufgabe, eine bestimmte Behörde zu diesen Maßnahmen zu ermächtigen.“ Vorsichtiger Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5: „Nach Tele2 Polska ist jedenfalls eindeutig, dass Art. 5 die nationalen Behörden direkt zum Erlass einer Entscheidung ermächtigt, im Einzelfall nicht tätig zu werden. Jedenfalls insoweit ist Art. 5 eine echte Ermächtigungsgrundlage“ (Hervorhebung im Original). 89 90
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
AEUV), sagt entgegen anderslautender Aussagen94 noch nichts über die Wirkung gerade als Ermächtigungsgrundlage.95 Zuzugeben ist zwar, dass der Wortlaut die Übertragung von entsprechenden Befugnissen durch die Mitgliedstaaten nicht vorauszusetzen scheint.96 Ferner, so wird angeführt, soll für ein Verständnis der Vorschrift als Ermächtigungsgrundlage sprechen, dass der Verordnungsgeber auf diese Weise im ganzen Unionsgebiet einen einheitlichen Kanon an Entscheidungsbefugnissen der nationalen Wettbewerbsbehörden sicherstellen konnte, um auch insoweit gleiche Bedingungen im Binnenmarkt (level playing field) zu begründen.97 Selbst nach dieser Lesart dürfte der Erlass weiterer Verfahrensvoraussetzungen im innerstaatlichen Recht aber notwendig bleiben,98 sodass der hierdurch erreichte Vereinheitlichungsgrad nicht merklich größer ausfällt als bei einem Verständnis der Regelung als rechtlicher Rahmen möglicher Entscheidungsbefugnisse. Dagegen, dass den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden mit Art. 5 VO Nr. 1/2003 unmittelbare Entscheidungsbefugnisse übertragen wurden, spricht sowohl die Gesetzessystematik der Kartellverfahrensverordnung als auch deren Entstehungsgeschichte. Art. 5 VO Nr. 1/2003 listet lediglich Grundmodelle der verfahrensabschließenden Entscheidungen der nationalen 94 Schlussanträge von GA Mazák 7.12.2010 – Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C: 2010:743, Rn. 56 f.; Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 4; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 37 Fn. 78. 95 Vgl. in diesem Sinne auch OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 (169) – Silostellgebühren II. 96 Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 4; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 37 Fn. 78; vgl. aber hinsichtlich der Sanktionsbefugnisse Art. 5 vierter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003, wonach die nationalenWettbewerbsbehörden „Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen“ verhängen können (Hervorhebung nur hier). 97 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7 Rn. 37 Fn. 78; vgl. auch Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 4. In materiell-rechtlicher Hinsicht folgt ein unionsweites level playing field für das unionsrechtliche Kartellverbot aus der Konvergenzregel in Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO Nr. 1/2003; dagegen können neben dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO Nr. 1/2003 strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen Anwendung finden; siehe dazu bereits supra Kapitel 2 B. II. 1. a) bb). 98 Smits, Legal Issues of Economic Integration 32 (2005), 175 (176 Fn. 5); Jaeger, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band III, Stand Oktober 2007, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5; Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5 ff.; a. A. Pohlmann, LMK 2011, 320463 (320463); Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 9, die der Auffassung sind, dass die nationalen Vorschriften, im deutschen Recht also die §§ 32 ff. GWB, nur noch deklaratorische oder konkretisierende Bedeutung haben.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
131
Wettbewerbsbehörden auf, wohingegen der Kommission nach Art. 4 VO Nr. 1/2003 ausdrücklich die „in dieser Verordnung vorgesehenen Befugnisse“ übertragen wurden; dazu zählen die in den Art. 7, 8, 9, 10, 23 und 24 der Verordnung detailliert nach Inhalt, Reichweite und Voraussetzungen geregelten Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse.99 Im Gegensatz dazu bleiben die Voraussetzungen, unter denen von den in Art. 5 VO Nr. 1/2003 aufgezählten Entscheidungstypen Gebrauch gemacht werden kann, als auch deren näherer Inhalt und Umfang ungeregelt.100 Vor diesem Hintergrund erscheint der unmittelbare Rückgriff auf Art. 5 VO Nr. 1/2003 als Ermächtigungsgrundlage allenfalls mit Blick auf Entscheidungen nach Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 vertretbar (Entscheidung, dass „kein Anlass besteht, tätig zu werden“),101 gehen mit dieser Entscheidungsart doch für den Adressaten keine belastenden Rechtswirkungen einher und ist Erlassvoraussetzung auch schlicht, dass die „Voraussetzungen für ein Verbot […] nicht gegeben“ sind. Im Übrigen sind die Entscheidungsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden, anders als diejenigen der Kommission, indes nicht nur weiter konkretisierungs- sondern auch überhaupt erst regelungsbedürftig. Für dieses Verständnis spricht auch ein Vergleich des Art. 5 VO Nr. 1/2003 mit dem anders strukturierten Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003, der die nationalen Wettbewerbsbehörden unter näher ausgeführten Voraussetzungen unmittelbar dazu ermächtigt, im Einzelfall den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen, ohne dass diese Befugnis im innerstaatlichen Recht nachvollzogen werden müsste.102 Der Aufzählung der Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden in Art. 5 VO Nr. 1/2003 kommt nach 99 Zu den Entscheidungs- und Sanktionsbefugnissen der Kommission einführend bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa) und bb). 100 Vgl. dazu OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 (168) – Silostellgebühren II; BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198 (2201); Oliver, Cahiers de droit européen 41 (2005), 351 (366); Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 12; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 7; Harnos, ZWeR 2016, 284 (294); zu weitgehend daher Pohlmann, LMK 2011, 320463 (320463): „Die inhaltlichen Vorgaben für verfahrensabschließende Entscheidungen finden sich unmittelbar und ausschließlich in der VO 1/2003, genauer in dessen Art. 5 und 29 II. Das nationale Recht hat nur noch die Aufgabe, eine bestimmte Behörde zu diesen Maßnahmen zu ermächtigen.“ 101 Vgl. dahingehend Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5. 102 Ebenso OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 (168) – Silostellgebühren II; BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198 (2201); Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 12 Fn. 33; näher zur Entscheidung nach Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 im Einzelfall den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen infra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (6).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
überzeugender Lesart vielmehr „nur“ eine Begrenzungsfunktion zu, indem der äußere Rahmen möglicher Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden abgesteckt wird.103 Daneben hat die Vorschrift eine Indikativfunktion dafür, welche Entscheidungstypen geeignet sind, um dem Erfordernis der wirksamen Anwendung der Kartellverfahrensverordnung nach Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 zu genügen.104 Ein solches Verständnis steht schließlich auch in Einklang mit der seitens der Kommission im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens dargelegten Konzeption und Zielsetzung der Vorschrift.105 In ihrer begleitenden Begründung zum Verordnungsvorschlag heißt es zunächst grundlegend zum Verhältnis der Kartellverfahrensverordnung zum nationalen Kartellverfahrensrecht: „Der Vorschlag beruht auf der Prämisse, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden die Artikel [101 und 102 AEUV] gemäß ihrem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht anwenden. Eine umfassende Harmonisierung der nationalen Verfahrensrechtsvorschriften ist für die Umsetzung der Reform nicht erforderlich. Andererseits müssen eine begrenzte Anzahl von Fragen auf [Unions-]ebene geregelt werden, von denen das ordnungsgemäße Funktionieren des vorgeschlagenen Systems unmittelbar abhängt.“106
Sodann fügt die Kommission in Bezug auf die ausnahmsweise auf Unionsebene zu regelnden Fragen hinzu: „Festgelegt werden muss auch, Entscheidungen welchen Inhalts die nationalen Wettbewerbsbehörden im Zuge der Anwendung der Artikel [101 und 102] erlassen können (siehe Artikel 5 der Vorlage), um so das Legalausnahmesystem vollständig und wirkungsvoll umzusetzen. Keine dem Netz angehörende Wettbewerbsbehörde darf ermächtigt werden, bei der Anwendung der [EU]-Wettbewerbsregeln konstitutive Freistellungsentscheidungen zu erlassen.“
Der Regelungsabsicht, den Inhalt der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden festzulegen und dabei negative Sachentscheidungen auszuschließen, wird das dargelegte Verständnis des Art. 5 VO Nr. 1/2003 als einer Norm gerecht, die den mitgliedstaatlichen Handlungsrahmen bei der Ausgestaltung der Entscheidungsbefugnisse begrenzt und zugleich indiziert, über welche Entscheidungstypen die nationalen Wettbewerbsbehörden verfügen 103 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1, 14; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 8 Rn. 14; Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 12. 104 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 17. 105 Vgl. auch OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 (168 f.) – Silostellgebühren II; BGH 16.12.2014, KRB 47/13, NJW 2015, 2198 (2201). 106 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln, KOM(2000) 582 endg., ABl. 2000 C 365 E, 284, unter „III. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ im allgemeinen Teil der Begründung.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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sollten, um eine wirksame Anwendung der Kartellverfahrensverordnung gewährleisten zu können.107 Die praktische Bedeutung der Frage nach dem genauen Regelungsgehalt des Art. 5 VO Nr. 1/2003 hat freilich dadurch abgenommen, dass die nationalen Kartellverfahrensrechte heute die wesentlichen Elemente aller oder zumindest der überwiegenden Zahl der darin aufgezählten Entscheidungsbefugnisse vorsehen.108 Die Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 hat insofern als „Modellgesetz“ für die nationalen Verfahrensrechte gewirkt.109 Ungeachtet des in Art. 5 VO Nr. 1/2003 umrissenen rechtlichen Rahmens und zunehmender Konvergenztendenzen bestehen zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf einzelne Befugnisse aber durchaus auch noch Unterschiede: So fehlt es etwa einigen nationalen Wettbewerbsbehörden beim Erlass von Abstellungsentscheidungen an der ausdrücklichen Befugnis, Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art anzuordnen. Vereinzelt fehlt auch eine Rechtsgrundlage zur Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen. Schließlich verfügen nicht alle mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden über eine ausdrückliche Befugnis zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen.110 Im Hinblick auf die teils noch bestehenden Unterschiede hat die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten daher auch jüngst eine Harmonisierung grundlegender Entscheidungsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden vorgeschlagen.111
107 Vgl. Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 8 Rn. 13 f.; Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 14 ff.; a. A. Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 5. 108 Siehe das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Bericht über das Funktionieren der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates („Bericht 2009“), SEC(2009) 574 final, Rn. 197; ferner ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 79 f. 109 Ost, in: Schwarze, 2010, 33 (33, 37); Gippini-Fournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (454 f.). 110 Siehe ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 11 f., 14 f., 28 f., 40; vgl. auch die Zusammenfassung im begleitenden Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59. 111 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 9–11.
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
bb) Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Einzelnen Nach dem Vorgesagten gilt es die Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden einzeln in den Blick zu nehmen.112 Diese sollen jeweils daraufhin untersucht werden, ob sie Bindungswirkung im Zivilprozess entfalten. Die Untersuchung gliedert sich entsprechend der in Art. 5 VO Nr. 1/2003 umrissenen Grundmodelle verfahrensabschließender Entscheidungen. Hinzu tritt die Befugnis der nationalen Wettbewerbsbehörden aus Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003, den Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen. (1) Abstellungsentscheidungen und isolierte Feststellungsentscheidungen Die Befugnis, die Abstellung von Zuwiderhandlungen anzuordnen, gehört zum unerlässlichen Entscheidungsrepertoire der nationalen Wettbewerbsbehörden und findet sich dementsprechend auch in allen mitgliedstaatlichen Kartellverfahrensrechten wieder.113 Die Entscheidungsart entspricht der Kommissionsbefugnis aus Art. 7 VO Nr. 1/2003, ohne dass notwendigerweise eine Übereinstimmung in der konkreten Ausgestaltung bestehen müsste.114 Maßgeblich ist, dass die nationale Wettbewerbsbehörde in der Lage ist, Unternehmen eine Vereinbarung oder Verhaltensweise mit Wirkung für die Zukunft effektiv zu untersagen.115 Unterschiede in den nationalen Kartellverfahrensrechten lassen sich insbesondere bezüglich der Möglichkeit feststellen, Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art anzuordnen.116 Notwendige Voraussetzung und damit Grundelement einer
112 Einführend zu den Entscheidungs- und Sanktionstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. b). 113 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 10 f.; mit der Feststellung und Abstellung von Verstößen sind dabei mit Ausnahme von Österreich und Irland, in denen nach dem justiziellen Vollzugsmodell Gerichte zur Entscheidung befugt sind, jeweils Behörden betraut. 114 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 10; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 8 Rn. 10, 20. 115 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 10; vgl. auch Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 sowie dazu EuGH 7.12.2010, Rs. C439/08, VEBIC, EU:C:2010:739, Rn. 56. 116 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 11 f., 14 f.; während in einigen Mitgliedstaaten Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter und struktureller Art möglich sind (so im deutschen Recht, vgl. § 32 Abs. 2 GWB), können einige nationale Wettbewerbsbehörden weder Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter Art noch struktureller Art anordnen; in anderen wiederum bleibt die Befugnis auf die Anordnung von Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter Art beschränkt.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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Abstellungsentscheidung ist die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes.117 Der Entscheidungsart kann damit im Zivilprozess ohne weiteres Bindungswirkung zukommen.118 Nicht ausdrücklich vorgesehen ist in Art. 5 VO Nr. 1/2003 die Möglichkeit, bereits beendete Zuwiderhandlungen festzustellen. Der Kommission ist die isolierte Feststellung von Verstößen in Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003 ausdrücklich zugestanden, sofern hieran ein berechtigtes Interesse besteht.119 Angesichts der fehlenden entsprechenden Verankerung in Art. 5 VO Nr. 1/2003 haben einzelne nationale Wettbewerbsbehörden in der Vergangenheit bezweifelt, ob sie Verstöße gegen die Art. 101 und 102 AUEV isoliert feststellen können, ohne zugleich eine Geldbuße zu verhängen und haben in der Folge isolierte Feststellungsentscheidungen ausschließlich auf Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrecht gestützt.120 Der Gerichtshof hat mittlerweile in der Sache Schenker klargestellt, dass die Befugnis der nationalen Wettbewerbsbehörden zur isolierten Feststellung von Verstößen durch Art. 5 VO Nr. 1/2003 nicht ausgeschlossen wird.121 Um die wirksame Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln sicherzustellen, dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden allerdings nur ausnahmsweise davon absehen, Geldbußen gegen Delinquenten zu verhängen und sich darauf beschränGippini-Fournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (462); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 557; Hossenfelder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 15; vgl. auch EuGH 2.3.1983, Rs. C-7/82, GVL, EU:C:1983:52, Rn. 23: „Die Befugnis zum Erlass der [auf die Beendigung von Zuwiderhandlungen gerichteten] Entscheidungen umfasst notwendigerweise die Befugnis zur Feststellung der jeweils in Rede stehenden Zuwiderhandlung“ (bezüglich der entsprechenden Kommissionsbefugnis); in Bezug auf die Kommissionsbefugnis nach Art. 7 VO Nr. 1/2003 bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). Entsprechend der Praxis der Kommission stellt auch das Bundeskartellamt regelmäßig die Zuwiderhandlung im Tenor eigens fest; siehe aus jüngerer Zeit etwa BKartA 20.12.2013, B9-66/10 – HRS Bestpreisklausel, S. 2; kritisch zur Praxis des Bundeskartellamtes Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 21 f. 118 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91, 95; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 32; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 131 f. 119 Siehe hierzu bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 120 Gippini-Fournier, in: Koeck / Karollus, 2008, 375 (562 f.); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 557; vgl. dazu auch das Commission staff working paper accompanying the Communication from the Commission to the European Parliament and Council – Report on the functioning of Regulation 1/2003, SEC(2009) 574 final, Rn. 198; Ortiz Blanco / Jörgens, in: Ortiz Blanco, EU Competition Procedure, 3. Aufl. 2013, Rn. 3.09. 121 EuGH 18.6.2013, Rs. C-681/11, Schenker & Co., EU:C:2013:404, Rn. 45. 117
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
ken, einen Verstoß isoliert festzustellen.122 Dies vorausgesetzt, wird es aber – wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Sache Schenker festgestellt hat – in aller Regel an einem berechtigten Interesse an einer isolierten Feststellung nicht fehlen. Denn neben der Möglichkeit, Delinquenten zukünftig als Wiederholungstäter zu belangen und neben einer abschreckenden Signalwirkung wird es „Unternehmen und Verbrauchern, die durch ein Kartell geschädigt wurden, durch die behördliche Feststellung der Zuwiderhandlung erheblich erleichtert, zivilrechtliche Ansprüche gegen die Kartellbeteiligten geltend zu machen.“123 Die Geltendmachung von Verstößen vor den Zivilgerichten liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im öffentlichen Interesse, indem sie dazu beiträgt, einen wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten.124 Ferner kann sie im Erfolgsfall dazu beitragen, dass den Delinquenten der durch den Kartellrechtsverstoß erlangte Mehrerlös nicht dauerhaft erhalten bleibt.125 Würde ein Feststellungsinteresse hier verneint, hätte es ein Rechtsverletzer außerdem in der Hand, eine isolierte Feststellungsentscheidung und damit auch die Bindungswirkung in späteren follow on-Schadensersatzprozessen zu verhindern, indem er mittels einseitiger Erklärungen die Wiederholungsgefahr entfallen lässt.126 Eine Befugnis, bereits beendete Zuwiderhandlungen festzustellen, findet sich mittlerweile im Kartellverfahrensrecht fast aller Mitgliedstaaten.127 Von den meisten Wettbewerbsbehörden wurde in der Vergangenheit von dieser Befugnis auch Gebrauch gemacht.128 Im deutschen Kartellverwaltungsrecht129 EuGH 18.6.2013, Rs. C-681/11, Schenker & Co., EU:C:2013:404, Rn. 46 ff., 50; das Absehen von der Verhängung einer Geldbuße kann hiernach gerechtfertigt sein, wenn das betreffende Unternehmen an einem Kronzeugenprogramm teilgenommen hat. 123 Schlussanträge von GA‘in Kokott 28.2.2013 – Rs. C-681/11, Schenker & Co. u.a., EU:C:2013:126, Rn. 114. 124 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 91; näher dazu supra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb); zur entsprechenden Frage eines Feststellungsinteresses im Rahmen der Kommissionsbefugnis aus Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003 supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 125 Vgl. nur Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 61; zur ergänzenden Abschreckungswirkung von follow on-Klagen und dem öffentlichen Interesse an diesen bereits supra Kapitel 1 A. II. 2. b). 126 Aus dem deutschen Schrifttum Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 61. 127 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 12 f; eine Ausnahme bildet Schweden; dort können bereits beendete Verstöße nur im Rahmen einer Bußgeldentscheidung festgestellt werden. 128 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 13. 129 Alle in den §§ 32 ff. GWB aufgeführten Entscheidungstypen stehen als „Kartellbehörde“ sowohl dem Bundeskartellamt als auch den zuständigen Landeskartellbehörden zu Gebote, vgl. § 48 Abs. 1 und 2 GWB. 122
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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ist die Befugnis zur Abstellung und nachträglichen Feststellung von Zuwiderhandlungen in § 32 Abs. 1 und 3 GWB verankert. Die Befugnis wurde weitestgehend an die entsprechende Befugnis der Kommission aus Art. 7 VO Nr. 1/2003 angepasst.130 Hinsichtlich der Anordnung von Abhilfemaßnahmen sieht § 32 Abs. 2 GWB seit der 8. GWB-Novelle ausdrücklich Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter wie auch struktureller Art vor und stimmt insoweit wörtlich mit Art. 7 Abs. 1 S. 2 und 3 VO Nr. 1/2003 überein.131 Die bereits im Zuge der 7. GWB-Novelle in § 32 Abs. 3 GWB eingeräumte Befugnis, bereits beendete Zuwiderhandlungen festzustellen, ist entsprechend Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003 von einem berechtigten Interesse abhängig. In der Praxis des Bundeskartellamtes,132 in der Rechtsprechung133 wie auch im Schrifttum ist nach anfänglicher Zurückhaltung mittlerweile weitgehend anerkannt,134 dass – den oben dargelegten Grundsätzen entsprechend – ein berechtigtes Feststellungsinteresse nicht nur durch eine Wiederholungsgefahr und durch eine unklare Rechtslage, sondern auch durch das Interesse der Geschädigten an einer erleichterten zivilrechtlichen Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche begründet wird. Für ein so begründetes Feststellungsinteresse ist es nach richtiger Auffassung auch nicht erforderlich, dass Schadensersatzansprüche vonseiten der Geschädigten bereits angemeldet wurden, mit einer Feststellungsentscheidung kann vielmehr auch bezweckt werden, Geschädigte zur Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche überhaupt erst zu motivieren.135 130 Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 1 ff.; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 3; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 3 f.; vgl. auch die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 51. 131 Eine substantielle Erweiterung der bereits nach der 7. GWB-Novelle bestehenden Befugnisse ergab sich daraus indes nicht, Bosch / Fritzsche, NJW 2013, 2225 (2228); vgl. zur Möglichkeit strukturelle Maßnahmen anzuordnen bereits BGH 4.3.2008, KVZ 55/07, WuW/E DE-R 2361, sowie die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 51. 132 Vgl. BKartA 26.8.2015, B2-98/11 – ASICS, S. 70 f.; bestätigt durch OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris, Rn. 120 f. – Preisvergleichsmaschinenverbot. 133 OLG Düsseldorf 8.6.2007, VI-Kart 15/06 (V), WuW 2007, 777 – Deutscher Lottound Totoblock: „Das für die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes nach § 32 Abs. 3 GWB erforderliche Interesse kann sich sowohl aus der ernsthaften Besorgnis einer Wiederholung des Kartellverstoßes als auch aus dem Interesse des durch den Kartellrechtsverstoß Betroffenen ergeben, Ersatzansprüche durchsetzen zu können.“ OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris, Rn. 120 f. – Preisvergleichsmaschinenverbot. 134 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 24; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 61; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 50; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 430 ff.; weiter zurückhaltend indes Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32 GWB Rn. 23; im Grundsatz ablehnend Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 81.
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
(2) Anordnung einstweiliger Maßnahmen Auch die Befugnis zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen nach Art. 5 zweiter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003 wird zum unentbehrlichen Entscheidungsrepertoire der nationalen Wettbewerbsbehörden gezählt.136 Eine ausdrückliche gesetzliche Befugnis zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen findet sich denn auch mittlerweile im Kartellverfahrensrecht beinahe aller Mitgliedstaaten.137 Die Entscheidungsart entspricht der Kommissionsbefugnis aus Art. 8 VO Nr. 1/2003. Auch wenn die Voraussetzungen für den Erlass einstweiliger Maßnahmen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten nicht mit denen der Kommissionsbefugnis aus Art. 8 VO Nr. 1/2003 identisch sein müssen,138 lässt sich doch ein recht hoher Grad an Übereinstimmung feststellen.139 Voraussetzung für den Erlass einstweiliger Maßnahmen ist für gewöhnlich neben der Dringlichkeit der Sachlage ein prima facie festgestellter Kartellrechtsverstoß, wobei im Einzelnen Abweichungen hinsichtlich des erforderlichen Beweismaßes bestehen können.140 So wird etwa im deutschen Recht beim Erlass einstweiliger Maßnahmen nach § 32a GWB verlangt, dass im Rahmen einer summarischen Prüfung ein Verstoß in dem Sinne wahrscheinlich ist, dass gute Gründe für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung sprechen.141 Nach der Rechtsprechung der französischen Cour de Cassation genügt beim Erlass einer mesure conservatoire durch die Autorité de la concurrence, dass das in Rede stehende Verhalten „geeignet erscheint“ einen So zu Recht Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 24. Begleitendes Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59; vgl. nun auch Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 10; vgl. aus dem Schrifttum Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 14. 137 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 40; vgl. auch das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59. 138 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 10; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 8 Rn. 10. 139 Vgl. ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 40 ff. 140 Vgl. ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 40 ff. 141 Siehe nur Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 5; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 559. 135 136
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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Kartellrechtsverstoß darzustellen,142 woraus auf ein niedrigeres Beweismaß geschlossen wird.143 Übereinstimmung besteht jedenfalls insoweit, dass das Beweismaß beim Erlass einstweiliger Maßnahmen nicht den Grad an Gewissheit erfordert, dem eine abschließende Entscheidung genügen muss.144 Einstweilige Maßnahmen sind nach dem Kartellverwaltungsrecht der Mitgliedstaaten ferner grundsätzlich vorläufiger Natur145 und regelmäßig hinsichtlich der Rechtsfolgen auf das in der gegebenen Sachlage Notwendige zu beschränken.146 Ob einstweiligen Maßnahmen im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann, wird im Schrifttum vereinzelt bejaht,147 überwiegend aber – mangels einer abschließenden Prüfung und Bewertung des Verstoßes – verneint.148 Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie wie auch des § 33b GWB lassen sich für das Erfordernis einer abschließenden Prüfung und Bewertung eines festgestellten Kartellrechtsverstoßes keine Anhaltspunkte entnehmen. Obgleich eine jede Auslegung bekanntlich mit Cass. com. 18.4.2000, n° 99-13.627, Bull. civ. IV, nº 75, p. 65 – Numéricâble; Cass. com. 8.11.2005, n° 04-16.857 – Neuf Télécom („des mesures conservatoires peuvent être décidées, […] dès lors que les faits dénoncés, […] apparaissent susceptibles […] de constituer une pratique contraire aux articles L. 420-1 ou L. 420-2 du Code de commerce“); vgl. aus jüngerer Zeit Autorité de la concurrence 2.5.2016, Décision n° 16-MC-01 – Engie – Direct Energie. 143 Siehe ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 42. 144 Zum deutschen Recht Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 5; Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 32a GWB Rn. 10; zum französischen Recht Cass. com. 18.4.2000, n° 99-13.627, Bull. civ. IV, nº 75, p. 65 – Numéricâble; Vogel, Französisches Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2015, 478; vgl. so auch ausdrücklich zu einstweiligen Maßnahmen der Kommission EuG 24.1.1992, Rs. T44/90, La Cinq, EU:T:1992:5, Rn. 61; EuG 12.7.1991, Rs. T-23/90, Peugeot, EU:T:1991:45, Rn. 59; dazu aus dem Schrifttum etwa Nordsjo, E.C.L.R. 2006, 299 (301); Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 98. 145 Vgl. ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 44 f. 146 Zum deutschen Recht Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 19 f.; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32a GWB Rn. 8; zum französischen Recht Vogel, Französisches Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2015, 483; Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 336. 147 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163 f.); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 225, 137 ff. 148 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 248 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 559. 142
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
dem Wortlaut zu beginnen und auf diesen aufzubauen hat,149 können für eine das Erfordernis tragende Interpretation doch gewichtige teleologische Gesichtspunkte streiten, die auch die fehlende Stütze im Wortlaut kompensieren können.150 Entsprechende Gesichtspunkte ergeben sich zunächst aus dem Wesen einstweiliger Maßnahmen. Die bei der Anordnung einstweiliger Maßnahmen regelmäßig erfolgende lediglich summarische Prüfung des Verstoßes bezieht ihre Rechtfertigung aus der Dringlichkeit der Sachlage, die in der Regel aus der Gefahr schwerer, nicht wiedergutzumachender Schäden für den Wettbewerb folgt.151 Diese besondere Sachlage macht ein Vorgehen im summarischen Verfahren der einstweiligen Maßnahme überhaupt erst zulässig.152 Hieraus folgt neben dem vorläufigen Charakter einstweiliger Maßnahmen auch das Erfordernis, dass diese in ihren Rechtsfolgen auf das in der gegebenen Sachlage Notwendige beschränkt bleiben müssen.153 Käme einstweiligen Maßnahmen im Zivilprozess nun Bindungswirkung zu, stünde dies nicht nur ihrem vorläufigen Charakter entgegen, sondern widerspräche auch dem Erfordernis, diese in ihren Rechtsfolgen auf das in der gegebenen Sachlage Notwendige zu beschränken. Schließlich wird eine Verwaltungsentscheidung mittels einer Bindungswirkung mit einer übergreifenden rechtlichen Außenwirkung ausgestattet, indem Rechtswirkungen auf andere Entscheidungsträger erstreckt werden.154 Darüber hinaus würde das für die Bindungsfähigkeit kartellbehördlicher Entscheidungen erforderliche (Mindest-)Beweismaß geSiehe nur Canaris, in: FS Medicus, 1999, 25 (40). Grundlegend Canaris, in: FS Medicus, 1999, 25 (40 f.); zum Gewicht des Wortlautarguments im Unionsrecht und dessen Überwindbarkeit mittels systematischer und teleologischer Argumentation Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, 374 f.; vgl. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs etwa EuGH 24.11.2011, Rs. C-404/09, Kommission / Spanien, EU:C:2011:768, Rn. 76 ff. 151 Vgl. ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 40 f.; vgl. jeweils zum deutschen Recht Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 9; Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 32a GWB Rn. 7 ff.; vgl. bezogen auf einstweilige Maßnahmen der Kommission EuGH 17.1.1980, Rs. C-792/79, Camera Care, EU:C:1980:18, Rn. 14, 19; EuG 24.1.1992, Rs. T-44/90, La Cinq, EU:T:1992:5, Rn. 28; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 21 Rn. 44. 152 Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 10 (zum deutschen Recht). 153 Zum deutschen Recht Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 19 f.; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32a GWB Rn. 8; zum französischen Recht Vogel, Französisches Wettbewerbs- und Kartellrecht, 2015, 483; Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 336; vgl. bezogen auf einstweilige Maßnahmen der Kommission EuGH 17.1.1980, Rs. C-792/79, Camera Care, EU:C:1980:18, Rn. 19; EuG 12.7.1991, Rs. T-23/90, Peugeot, EU:T:1991:45, Rn. 19; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 21 Rn. 44 f.; Nordsjo, E.C.L.R. 2006, 299 (304). 154 Vgl. nur Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230). 149 150
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genüber dem im Kartellzivilprozess an sich erforderlichen Beweismaß – also bei Fehlen einer Entscheidung mit Bindungswirkung155 – bedenklich herabgesenkt, genügt doch beim Erlass einstweiliger Maßnahmen für die Feststellung eines Verstoßes allgemein ein geringerer Grad an Gewissheit als für eine entsprechende Feststellung im Rahmen endgültiger Entscheidungen.156 Eine Bindungswirkung einstweiliger Maßnahmen im Zivilprozess ist daher richtigerweise ausgeschlossen. (3) Annahme von Verpflichtungszusagen Verpflichtungszusagen sind ein vergleichsweise junges Handlungsinstrument im europäischen Wettbewerbsrecht. Eingeführt mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003, um der Kommission ein Mittel an die Hand zu reichen, mit dem bedenkliche Verhaltensweisen flexibel im Zusammenwirken mit den beteiligten Unternehmen ausgeräumt werden können,157 und anfangs noch als Handlungsinstrument für Ausnahmefälle gehalten,158 hat es in der Praxis der Kommission alsbald große Bedeutung erlangt.159 Mittlerweile löst die Kommission einen beträchtlichen Teil ihrer Verfahren mittels Verpflichtungszusagen.160 Auch auf Ebene der Mitgliedstaaten wird vom Instrument der Verpflichtungszusage reger Gebrauch gemacht.161 Eine gesetzliche Befugnis zur VerZum Beweismaß im deutschen Zivilprozess supra Kapitel 1 C. II. 2. a) bb). Im deutschen Recht setzt ein prima facie festgestellter Verstoß lediglich voraus, dass im Rahmen einer summarischen Prüfung ein Verstoß in dem Sinne wahrscheinlich ist, dass gute Gründe für das Vorliegen eines Verstoßes sprechen, Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32a GWB Rn. 5; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 559; vgl. auch die Rechtsprechung der europäischen Gerichte zum sog. fumus boni juris EuG 12.7.1991, Rs. T-23/90, Peugeot, EU:T:1991:45, Rn. 59; EuG 24.1.1992, Rs. T-44/90, La Cinq, EU:T:1992:5, Rn. 61; EuG 22.12.2004, Rs. T-201/04 R, Microsoft, EU:T:2004:372, Rn. 404. 157 Siehe Art. 9 VO Nr. 1/2003; Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 1; Podszun, ZWeR 2012, 48 (59); Waelbroeck, in: Gheur / Petit, 2009, 221 (221 f.); Furse, E.C.L.R. 2004, 5 (5); siehe auch Georgiev, Utah L. Rev. 2007, 971 (973 f.), der die Ursprünge des Instruments im USamerikanischen Antitrust-Recht ausmacht, in dem Antitrust-Fälle regelmäßig mittels consent decrees abgeschlossen werden; vgl. dazu auch Wils, World Competition 31 (2008), 335 (339); zur Befugnis der Kommission Verpflichtungszusagen nach Art. 9 VO Nr. 1/2003 für verbindlich zu erklären bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 158 Temple Lang, in: Hawk, 2006, 265 (270). 159 Schweitzer, in: FS Möschel, 2011, 637 (637 f.); Schweitzer, in: Ehlermann / Marquis, 2010, 547 (547 ff.); Kahlenberg / Neuhaus, EuZW 2005, 620 (620 ff.); Brenner, EuR 2014, 671 (671 f.). 160 Podszun, ZWeR 2012, 48 (51, 59); Brenner, EuR 2014, 671 (671 f.); Klees, EWS 2011, 14 (15). 161 Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal En155 156
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
bindlicherklärung von Verpflichtungszusagen war bei Erlass der Kartellverfahrensverordnung zwar in noch keinem Mitgliedstaat vorgesehen, entsprechende Befugnisnormen wurden aber schon bald in den meisten Kartellverfahrensrechten verankert.162 Heute findet sich eine ausdrückliche gesetzliche Befugnis im Recht beinahe aller Mitgliedstaaten.163 Die Möglichkeit, Verpflichtungszusagen für verbindlich zu erklären, wird sogar zum unentbehrlichen Entscheidungsrepertoire der nationalen Wettbewerbsbehörden gezählt.164 In einigen, aber bei weitem nicht allen Mitgliedstaaten wurden von den Wettbewerbsbehörden Leitlinien erlassen, die das Verfahren für die Annahme von Verpflichtungszusagen näher darlegen und damit auch die Ermessensausübung der Behörden begrenzen.165 Begrenzungen für den Einsatz von forcement Regime, 2012, 3 f.; Lianos, in: Lowe / Marquis / Monti, 2016, 105 (125); rund 25 % der gemäß Art. 11 Abs. 4 VO Nr. 1/2003 der Kommission mitzuteilenden Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden sind Zusagenentscheidungen, so das begleitende Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59. 162 § 32b GWB wurde 2005 im Zuge der 7. GWB-Novelle eingeführt, Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (45 ff.); zum ebenfalls 2005 im österreichischen Recht verankerten § 27 öKartG Kühnert / Xeniadis, Österreichische Zeitschrift für Kartellrecht 2012, 206 (206 ff.); zu den Sections 31A bis 31E UK Competition Act (1998), eingeführt 2004, Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 431 f.; für Frankreich siehe L. 464-2 und R. 464-2 Code de commerce, die ebenfalls 2004 eingeführt wurden, Théophile, in: Hawk, 2006, 325 (325 ff.); Mainguy / Depincé, Droit de la concurrence, 2. Aufl. 2015, 335 f.; für Italien siehe Art. 14-ter Legge per la tutela della concorrenza e del mercato, Legge n. 287, v. 10.10.1990 (Wettbewerbsgesetz), eingeführt im Jahr 2006; für die in Belgien erstmals 2006 eingeführte Befugnis siehe Art. IV.49 Code de droit économique; siehe zu alledem auch Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 4. 163 Eine Ausnahme bildet Estland, ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 28 f. 164 Begleitendes Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59; vgl. nun auch Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 11; vgl. aus dem Schrifttum Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO Rn. 15. 165 So etwa in Frankreich, Autorité de la concurrence, Communiqué de procédure du 2 mars 2009 relatif aux engagements en matière de concurrence; in Spanien Comisión Nacional de la Competencia, Comunicación sobre Terminación Convencional de Expedientes Sancionadores, Oktober 2011; für das Vereinigte Königreich siehe die Guidelines Enforcement, Part 4, OFT407, aus dem Jahr 2004, die nach Section 31D UK Competition Act (1998) von Gesetzes wegen zu erlassen waren; keine entsprechenden Leitlinien gibt es in
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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Verpflichtungszusagen bestehen insbesondere insofern, als diese bei schwerwiegenden Kartellrechtsverstößen, insbesondere bei Hardcore-Kartellen und gravierenden Fällen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, zum Teil bereits von vornherein ausgeschlossen sind.166 Selbst wenn eine solche Einschränkung im Recht der Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich vorgesehen ist, wird eine solche mitunter auch aus Erwägungsgrund 13 S. 4 VO Nr. 1/2003 abgeleitet, wonach „Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen […] für Fälle ungeeignet [sind], in denen die Kommission eine Geldbuße aufzuerlegen beabsichtigt.“167 Dessen ungeachtet ergehen Zusagenentscheidungen bisweilen auch bei sehr ernstzunehmenden Kartellrechtsverstößen, bei denen aus präventiven Gründen die Verhängung einer Geldbuße durchaus angezeigt erscheint, oder aber in Fällen, in denen angesichts einer unklaren Rechtslage an sich viel für eine gerichtliche Klärung spräche.168 Wesentliches Charakteristikum der Verpflichtungszusage ist, dass die Entscheidung über deren Verbindlicherklärung keine formelle Feststellung eines Verstoßes enthält;169 die Entscheidung basiert lediglich auf wettbewerbsrechtDeutschland; allgemein zu den Leitlinien der nationalen Wettbewerbsbehörden Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 5 m. w. N.; ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 29. 166 So etwa in Frankreich Autorité de la concurrence, Communiqué de procédure du 2 mars 2009 relatif aux engagements en matière de concurrence, Rn. 11; für das Vereinigte Königreich siehe die Guidelines Enforcement, Part 4, OFT407, S. 11 f.; siehe hierzu auch Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 6; ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 29 f. 167 ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 29; so heißt es unter Hinweis auf Erwägungsgrund 13 S. 4 VO Nr. 1/2003 in der Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle (BT-Drucks. 15/3640, S. 34), dass Entscheidungen über Verpflichtungszusagen für Fälle ungeeignet sind, in denen die Kartellbehörde eine Geldbuße aufzuerlegen beabsichtigt; vgl. dazu Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32b GWB Rn. 9; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32b GWB Rn. 4; Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (48). 168 Siehe nur Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 6; einer gerichtlichen Klärung sind Entscheidungen über Verpflichtungszusagen nur schwer zugänglich; näher zur richterlichen Kontrolle von Entscheidungen über Verpflichtungszusagen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 19 ff. 169 Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal En-
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
lichen Bedenken.170 Indem ein Verstoß nicht formell festgestellt wird, kann Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen auch keine Bindungswirkung im Zivilprozess zukommen.171 Ein Verstoß ist demzufolge von den Geschädigten im follow on-Prozess weiter darzulegen und zu beweisen. Der Umstand, dass die Wettbewerbsbehörde hinsichtlich der in Rede stehenden Vereinbarung oder Verhaltensweise Bedenken mitgeteilt hat, mag den Richter zwar im Einzelfall dazu veranlassen, sich im Rahmen seiner eigenen rechtlichen Würdigung hieran zu orientieren.172 Rechtlich gebunden ist der Richter aber weder an die tatsächlichen Feststellungen der Behörde noch an deren (ohnehin nur vorläufige) rechtliche Bewertung. Zwar wurde im Anschluss an eine Zusagenentscheidung durch das Landgericht Frankfurt bereits Schadensersatz zugesprochen, allerdings in einem Fall, in dem der Sachverhalt weitgehend unstreitig war; der Zusagenentscheidung wurde in forcement Regime, 2012, 6; vgl. auf EU-Ebene Erwägungsgrund 13 S. 2 VO Nr. 1/2003: „Ohne die Frage zu beantworten, ob eine Zuwiderhandlung vorgelegen hat oder noch vorliegt, sollte in solchen Entscheidungen festgestellt werden, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht“ (Hervorhebung nur hier); hierzu bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa); zum deutschen Recht siehe die Regierungsbegründung zur 7. GWBNovelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 34: „Verfügungen nach § 32b treffen […] keine Aussage darüber, ob ein Kartellrechtsverstoß vorgelegen hat oder noch vorliegt“; zu Frankreich siehe Autorité de la concurrence, Communiqué de procédure du 2 mars 2009 relatif aux engagements en matière de concurrence, Rn. 43; für das Vereinigte Königreich siehe die Guidelines Enforcement, Part 4, OFT407, Rn. 4.7; vgl. dagegen aber die Entscheidung der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato 28.6.2006, Provvedimento n. 15632 (A362) – Diritti calcistici (Chiusura istruttoria), in der die italienische Wettbewerbsbehörde ausdrücklich einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV festgestellt und die Entscheidung auch entsprechend tenoriert hat. 170 Vgl. § 32b Abs. 1 GWB: „Bieten Unternehmen […] an, Verpflichtungen einzugehen, die geeignet sind, die ihnen von der Kartellbehörde nach vorläufiger Beurteilung mitgeteilten Bedenken auszuräumen […]“; L. 464-2 Code de commerce: „[L’Autorité de la concurrence] peut aussi accepter des engagements proposés par les entreprises ou organismes et de nature à mettre un terme à ses préoccupations de concurrence […]“; Section 31A(2) UK Competition Act (1998): „For the purposes of addressing the competition concerns […]“ (Hervorhebungen jeweils nur hier). 171 Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (145); Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (55); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 131; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (164); Kreße, WRP 2014, 1261 (1265); Hempel, WuW 2005, 137 (142); Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32b GWB Rn. 3; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 40 Rn. 24; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 559 f.; Becker, NZKart 2016, 58 (58); Truli, European Competition Journal 2009, 795 (818); Wils, World Competition 29 (2006), 345 (361). 172 Vgl. Temple Lang, E.C.L.R. 2003, 347 (350); Wils, World Competition 29 (2006), 345 (361); Wagner-von Papp, CML Rev. 49 (2012), 929 (958 Fn. 108); auch dies strikt ablehnend dagegen Cook, World Competition 29 (2006), 209 (225 f.).
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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diesem Fall – zu Recht – auch keine Bindungswirkung beigemessen.173 Im Hinblick auf die fehlende Bindungswirkung ist es schließlich auch bedenklich, wenn die Ausführungen in einer Zusagenentscheidung durch ein Gericht im Schadensersatzprozess ohne weitere Prüfung einfach als gegeben hingenommen werden, kommt dies doch im Ergebnis der Annahme einer (zumindest „faktischen“) Bindungswirkung gleich.174 Es bleibt festzuhalten, dass Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen im Zivilprozess keine Bindungswirkung entfalten können. Mit diesen bleibt letztlich im Dunkeln, ob das in Rede stehende Verhalten einen Verstoß darstellt oder nicht. Die Durchsetzung privater Schadensersatzansprüche wird durch den Gebrauch von Verpflichtungszusagen damit erheblich erschwert.175 Wie noch ausgeführt wird, bedingt die praktische Wirksamkeit der Art. 101 und 102 AEUV, zu deren Durchsetzungskraft kartellrechtliche Schadensersatzklagen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wesentlich beitragen,176 allerdings wichtige Rückwirkungen auf die behördliche Durchsetzungsspur allgemein und auch auf den Erlass von Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen, sodass deren Einsatz mit Blick auf die (fehlende) Bindungswirkung im Zivilprozess im Ergebnis gewissen Grenzen unterliegt.177 (4) Bußgeldentscheidungen und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionsentscheidungen Da die Sanktionierung von Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV durch die nationalen Wettbewerbsbehörden unionsrechtlich weder geregelt 173 LG Frankfurt 3.6.2015, 2-03 O 324-14, n.v.; dazu Becker, Concurrences N° 2-2016, 224 (224 ff.); Becker, NZKart 2016, 58 (59); siehe zum Urteil auch Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 148. 174 Vgl. aber das Urteil des Tribunal de commerce de Paris 30.3.2015, n° 2012000109 – DKT v. Eco-Emballages et Valorplast, in dem das Gericht die Feststellungen in einer Zusagenentscheidung der französischen Autorité de la concurrence teils einfach als gegeben hingenommen hat und der Entscheidung damit im Ergebnis eine „faktische“ Bindungswirkung hat zukommen lassen; siehe dazu Becker, NZKart 2016, 58 (58 ff.); Duron, Journal of European Competition Law & Practice 2015, 125 (125 ff.). 175 Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (57); Podszun, ZWeR 2012, 48 (59); Kreße, WRP 2014, 1261 (1265); Kühne, WuW 2011, 577 (577); Wagner-von Papp, CML Rev. 49 (2012), 929 (962, 969); Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (148): („[commitment decisions] undermine the right of victims to compensation […]“). 176 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 27; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 91; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 29; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 42; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 23; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 23; hierzu ferner bereits supra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb). 177 Näher dazu infra Kapitel 4 B. II.
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
noch (bislang) harmonisiert ist, unterliegt sie der – unter dem Vorbehalt der Äquivalenz und Effektivität stehenden – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.178 Es ist also Sache der Mitgliedstaaten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln bereitzuhalten.179 Die mitgliedstaatlichen Kartellsanktionsrechte weisen denn auch, trotz zunehmender Konvergenz, zum Teil erhebliche Unterschiede auf.180 Mit Blick auf die Unterschiede gerade bei der Verhängung und Bemessung von Geldbußen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden hat die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten diesbezüglich eine Harmonisierung vorgeschlagen.181 Ungeachtet der bestehenden Unterschiede und einer etwaigen Harmonisierung erfordert die Verhängung von Bußgeldern wie auch die Verhängung sonstiger Sanktionen zur Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 und 102 AEUV den Nachweis eines Verstoßes. Dementsprechend können Bußgeldentscheidungen und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionsentscheidungen im Zivilprozess ohne weiteres Bindungswirkung entfalten.182 Dem Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess steht 178 Einführend zu den Sanktionstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. b) bb). 179 Frese, Sanctions in EU Competition Law, 2014, 11; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 35; vgl. auch Art. 5 vierter Spiegelstrich VO Nr. 1/2003, wonach die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden Entscheidungen erlassen können, mit denen Geldbußen, Zwangsgelder und „sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.“ Zu den Grenzen einer Harmonisierung der Sanktionsrechte der Mitgliedstaaten über den Effektivitätsgrundsatz Harnos, ZWeR 2016, 284 (284 ff.). 180 Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO Rn. 16; Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EUWettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 14 f.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 35 ff. 181 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 12–14. 182 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 248; Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 106; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 40 Rn. 24; Dreher, ZWeR 2008, 325 (327 f.); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 560; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 185; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; aus der Rechtsprechung siehe nur LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616, OLG Karlsruhe
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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dabei freilich auch nicht entgegen, wenn ein Bußgeldbescheid auf einer Vergleichsvereinbarung beruht.183 Da es im innerstaatlichen Recht einiger Mitgliedstaaten Entscheidungen gibt, mit denen auch die für ein Unternehmen handelnden natürlichen Personen sanktioniert werden können,184 gilt es indes einschränkend zu beachten, dass eine Bindungswirkung im Kartellschadensersatzprozess, wie noch näher ausgeführt wird,185 nur gegenüber einem Beklagten eintreten kann, der am Verfahren, das zur bindenden Entscheidung geführt hat, beteiligt war, dort rechtliches Gehör gefunden hat und gegen die Entscheidung auch gerichtlich vorgehen konnte. Eine gegenüber einer natürlichen Person ergangene Sanktionsentscheidung kann also nicht im Wege der Bindungswirkung dem Unternehmen entgegengehalten werden, für das die betreffende natürliche Person gehandelt hat. Angesichts der gegenüber Abstellungsverfügungen regelmäßig sehr viel umfassenderen Ausführungen zum festgestellten Verstoß ist die Bindungswirkung von Bußgeldbescheiden (und sonstigen Sanktionsentscheidungen) für Kartellgeschädigte in der Regel besonders wertvoll. So finden sich in Bußgeldbescheiden etwa regelmäßig nähere Feststellungen zur Dauer des Kartellrechtsverstoßes, handelt es sich doch um ein wesentliches Kriterium bei der Zumessung von Geldbußen, so etwa im deutschen Kartellbußgeldverfahren im Rahmen von § 17 OWiG.186 Dagegen wird bei einem auf einer Vergleichsvereinbarung beruhenden „bloßen“ Kurzbußgeldbescheid die Substantiierung von Schadensersatzansprüchen aufgrund der spärlicheren Ausführungen im Vergleich zu einem vollständig begründeten Bußgeldbescheid wiederum schwerer fallen.187 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris – Feuerwehrfahrzeuge, für eine Bindung des Gerichts an einen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamtes. 183 OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 47 – Feuerwehrfahrzeuge: „Der Anwendung des § 33 Abs. 4 GWB steht auch nicht entgegen, dass es sich bei dem Ausgang des Bußgeldverfahrens um ein ‚Settlement Agreement‘, also eine Vergleichsvereinbarung, gehandelt hatte.“ Aus dem Schrifttum hierzu Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 106. 184 Haftstrafen oder Geldbußen gegenüber natürlichen Personen sind etwa vorgesehen im irischen Kartellsanktionsrecht, dazu Cahill, in: Cahill, 2004, 273 (274 ff.); zu Santionsentscheidungen gegenüber natürlichen Personen im estnischen Kartellsanktionsrecht Ollõkainen, in: Cahill, 2004, 113 (118 ff.); siehe dazu auch Wils, World Competition 28 (2005), 117 (129 f., 135 f.). 185 Näher zum Anwendungsbereich der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht infra Kapitel 2 C. 186 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II; näher zur zeitlichen Dimension des für das Zivilgericht bindend festgestellten Verstoßes infra Kapitel 2 D. II. 187 Pichler / Klar, NZKart 2015, 217 (217); Ritter, WuW 2008, 762 (765); Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 81 GWB Rn. 42; eingehend dazu auch Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, 2011, 214 ff.
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
(5) Einstellungsentscheidungen Die nationalen Wettbewerbsbehörden sind im Falle der Nichtuntersagung, wie bereits ausgeführt wurde,188 nach Art. 5 S. 3 VO Nr. 1/2003 lediglich befugt zu entscheiden, dass für sie „kein Anlass besteht, tätig zu werden.“ Eine Nichtanwendbarkeitsentscheidung, nach der eine bestimmte Vereinbarung oder Verhaltensweise nicht gegen die europäischen Wettbewerbsregeln verstößt, ist ihnen damit verwehrt. Dies hat der Europäische Gerichtshof in der Sache Tele2 Polska klargestellt.189 Daneben steht es den Mitgliedstaaten aber frei zu bestimmen, ob die Verfahrenseinstellung überhaupt einer formellen Entscheidung bedarf.190 Da mit einer Einstellungsentscheidung lediglich zum Ausdruck gebracht wird, dass seitens der betreffenden Wettbewerbsbehörde keine weiteren Maßnahmen beabsichtigt werden und das Verfahren geschlossen wird, enthalten diese keine formelle Feststellung in Bezug auf die Rechtmäßigkeit (oder Unrechtmäßigkeit) der in Rede stehenden Vereinbarung oder Verhaltensweise.191 Selbst wenn man davon ausgeht, dass die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Rahmen der Begründung einer solchen Entscheidung feststellen können, dass die Voraussetzungen der Art. 101 und 102 AEUV nicht vorliegen, und dies nur nicht tenorieren dürfen,192 so fehlt es jedenfalls an der positiven Feststellung eines Verstoßes.193 Infolgedessen scheidet eine Bindungswirkung von Einstellungsentscheidungen im Zivilprozess von vornherein aus.194 Siehe bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. b) aa). EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270, Rn. 35; zum Urteil bereits supra Kapitel 2 B. II. 2. b) aa) (1); kritisch dazu, dass den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden Nichtanwendbarkeitsentscheidungen verwehrt bleiben, Brammer, CML Rev. 49 (2012), 1163 (1169 ff.); Petit / Lousberg, Journal de droit européen 2011, 242 (242 ff.); dazu, dass diese im System der dezentralen Kartellrechtsanwendung damit der Kommission vorbehalten sind, bereits supra Kapitel 1 A. I. 1. b) aa). 190 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 11; Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 17. 191 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 12; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 35 ff.; dementsprechend können derartige Entscheidungen bei Unternehmen auch kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass ihr Verhalten nicht gegen die Art. 101 und 102 AEUV verstößt, EuGH 18.6.2013, Rs. C-681/11, Schenker & Co., EU:C:2013:404, Rn. 42. 192 Brammer, CML Rev. 49 (2012), 1163 (1176); Puffer-Mariette, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 17; Bauer, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 37. 193 Dazu, dass Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess nur dann bindungsfähig sein können, wenn mit ihnen ein Kartellrechtsverstoß positiv festgestellt wurde, supra Kapitel 2 B. II. 1. a) aa). 194 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91, 95; Rehbinder, in: Loe188 189
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(6) Entscheidungen über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung Wurde eine Vereinbarung durch eine Gruppenfreistellungsverordnung für kartellrechtskonform erklärt, obwohl sie Wirkungen entfaltet, die mit Art. 101 Abs. 3 AEUV unvereinbar sind, kann eine nationale Wettbewerbsbehörde gemäß Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 den durch die Gruppenfreistellung unberechtigterweise gewährten Rechtsvorteil im Einzelfall entziehen, vorausgesetzt der räumlich relevante Markt ist auf das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates beschränkt. Im Gegensatz zu den in Art. 5 VO Nr. 1/2003 ihrem Grundmodell nach aufgezählten Entscheidungstypen, muss diese Befugnis im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten nicht nachvollzogen werden, um als Ermächtigungsgrundlage zu dienen.195 Entsprechende Befugnisnormen im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, wie im deutschen Kartellverfahrensrecht § 32d GWB, haben insofern nur deklaratorischen Charakter.196 Der Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung nach Art. 29 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 setzt die Feststellung voraus, dass eine bestimmte Vereinbarung dem europäischen Kartellverbot unterfällt und Wirkungen entfaltet, die mit den Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV unvereinbar sind.197 Mit der Entscheidung wird also notwendig die materielle Kartellrechtswidrigkeit der in Rede stehenden Vereinbarung festgestellt, sodass einer Bindungswirkung im Zivilprozess auf den ersten Blick nichts entgegenzustehen scheint.198 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Ent-
wenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 170; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 131 f.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 249; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 181 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 561; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (804 f.); Hempel, WuW 2005, 137 (142); vgl. dagegen aber Meyer, GRUR 2006, 27 (31). 195 Dazu, dass die Ermächtigung zum Erlass der in Art. 5 VO Nr. 1/2003 aufgezählten Entscheidungstypen nach vorzugswürdiger Lesart nicht schon unmittelbar aus Art. 5 VO Nr. 1/2003 folgt, supra Kapitel 2 B. II. 1. b) aa). 196 Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32d GWB Rn. 1; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32d GWB Rn. 2; Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 32d GWB Rn. 8; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 3 Rn. 48 (jeweils bezogen auf § 32d GWB). 197 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 3 Rn. 49 und 32; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 562. 198 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 562; von einer Bindungswirkung gehen denn auch etwa ohne weiteres aus Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; Grünberger, in:
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
scheidung über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellung lediglich mit ex nunc-Wirkung erfolgt, sie lässt für die Vergangenheit die (auch zivilrechtlich) freistellende Wirkung also unberührt.199 Die freistellende Wirkung entfällt erst mit dem Wirksamwerden der Entscheidung für die Zukunft.200 Für die Frage der Bindungswirkung im Zivilprozess folgt daraus, dass mit der Entscheidung nur feststeht, dass die Vereinbarung im Falle ihrer unveränderten Fortsetzung gegen das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt.201 Die Entscheidung enthält damit aber keine für das Zivilgericht bindende Feststellung eines in der Vergangenheit liegenden oder eines noch andauernden Verstoßes.202 In der Praxis wird die Entscheidung über den Entzug des Rechtsvorteils regelmäßig mit einer Abstellungsentscheidung verbunden.203 Letztere kann im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten.204 Mit einer darin bejahten Wiederholungsgefahr, wie sie in einem solchen Fall in der Regel angenommen werden dürfte, wird jedoch in zeitlicher Hinsicht nicht auch die weiter andauernde Begehung eines Verstoßes festgestellt,205 sodass selbst mit einer verbundenen Abstellungsentscheidung ein andauernder Verstoß letztlich nicht bindend festgestellt sein kann.
Möschel / Bien, 2010, 135 (163); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 225. 199 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 3 Rn. 43; Bischke / Schirra, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 3; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 7; Fuchs, ZWeR 2005, 1 (28). 200 Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 3 Rn. 43; Bischke / Schirra, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 3; Fuchs, ZWeR 2005, 1 (28); vgl. auch de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 7. 201 Vgl. Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 562; näher zur zeitlichen Dimension des für das Zivilgericht bindend festgestellten Verstoßes infra Kapitel 2 D. II. 202 Offenbar a. A. indes Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 91; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 74; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 225, die jeweils ohne weiteres davon ausgehen, dass Entscheidungen über den Entzug des Rechtsvorteils im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten können. 203 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 8; de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 29 VO 1/2003 Rn. 7; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 562. 204 Supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (1). 205 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II; näher zur zeitlichen Dimension eines für das Zivilgericht bindend festgestellten Verstoßes infra Kapitel 2 D. II.
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cc) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Abstellungsverfügungen, isolierte Feststellungsentscheidungen, Bußgeldentscheidungen und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionsentscheidungen im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten können. Keine Bindungswirkung entfalten demgegenüber einstweilige Maßnahmen, Entscheidungen über die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, Einstellungsentscheidungen sowie Entscheidungen über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung. c) Voraussetzungen für den Eintritt der Bindungswirkung Nachdem festgestellt wurde, welchen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess die angeordnete Bindungswirkung zukommen kann, sind nachfolgend die Voraussetzungen zu erörtern, die eine Entscheidung erfüllen muss, damit die ihr beigemessene Bindungswirkung im Einzelfall auch eintritt. Hierzu muss die kartellbehördliche Entscheidung wirksam und bestandskräftig sein. Fehlt es (noch) an einer bestandskräftigen Entscheidung, stellt sich für das über die Schadensersatzklage befindende Gericht die Frage, ob es das Verfahren aussetzt. aa) Wirksamkeit der kartellbehördlichen Entscheidung Ungeschriebene, aber dennoch selbstverständliche Grundvoraussetzung dafür, dass einer kartellbehördlichen Entscheidung im Zivilprozess Bindungswirkung zukommen kann, ist ihre Wirksamkeit.206 Die Entscheidung muss also überhaupt rechtlich existent und darf nicht nichtig sein. Ferner darf sie zum Zeitpunkt der Sachentscheidung im Schadensersatzprozess nicht bereits zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben worden sein.207 Was die Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden angeht, so erlangen diese als Verwaltungsakte nach allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen208 rechtliche Existenz, wenn sie mindestens einem von mehreren Adressaten oder Betroffenen bekanntgegeben werden.209 Von die206 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 204; dies gilt allgemein und für jedwede Beachtlichkeit eines Verwaltungsaktes, dazu etwa Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (228); Merten, NJW 1983, 1993 (1997). 207 Vgl. im deutschen Recht § 43 Abs. 2 VwVfG. 208 Das Kartellverwaltungsverfahren der deutschen Kartellbehörden richtet sich, soweit das GWB nicht wie in den §§ 54 bis 62 GWB Sonderregeln bereithält, nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes bzw. des jeweiligen Landes, Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 42 Rn. 1; Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, Vor § 54 GWB Rn. 4. 209 Vgl. § 43 Abs. 1 VwVfG; BGH 19.6.1998, V ZR 43–97, NJW 1998, 3055 (3055 f.); Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 4; Stelkens, in:
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
sem Zeitpunkt an können Verwaltungsakte mit Rechtsbehelfen angegriffen werden,210 im Falle der Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden mittels der (Anfechtungs-)Beschwerde nach § 63 GWB. Verfügungen der deutschen Kartellbehörden sind allen Beteiligten förmlich zuzustellen, 211 solange dies nicht geschieht, beginnt die Beschwerdefrist des § 66 Abs. 1 GWB für den jeweiligen Adressaten oder Betroffenen nicht zu laufen.212 Von der Frage der rechtlichen Existenz eines Verwaltungsaktes (auch äußere Wirksamkeit) wird herkömmlich die Frage der inneren Wirksamkeit unterschieden, mit der die normative Geltung der mit dem Verwaltungsakt intendierten bzw. kraft Gesetzes verbundenen materiellen Rechtswirkungen (Anordnung, Gestaltung, Feststellung) gemeint ist.213 Zu den mit einem Verwaltungsakt verbundenen Rechtswirkungen kann eine Bindungswirkung gegenüber anderen Behörden oder Gerichten gehören, die vielfach – wie vorliegend im Falle der Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess – über die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes hinaus auch dessen Unanfechtbarkeit voraussetzt.214 Die Wirksamkeit der Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden setzt schließlich voraus, dass diese nicht an einem derart schwerwiegenden Fehler leiden, dass sie als nichtig betrachtet werden müssen.215 „Nur“ rechtsfehlerhafte Entscheidungen sind dagegen wirksam.216 Fehler aus dem kartellbehördlichen Verwaltungsverfahren werden damit zwar gegebenenfalls – vorausgesetzt die fehlerhafte Entscheidung wird nicht rechtzeitig angefochStelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 35 VwVfG Rn. 20; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 164 f.; Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 61 GWB Rn. 16. 210 Vgl. Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 4; Schoch, JURA 2011, 23 (23); unterbleibt ein Angriff auf den Verwaltungsakt, so wird dieser unanfechtbar und erwächst in Bestandskraft, dazu sogleich infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 211 § 61 Abs. 1 S. 1 GWB. 212 Vgl. § 66 Abs. 1 S. 2 GWB; Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 61 GWB Rn. 18. 213 Schoch, JURA 2011, 23 (23); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 163 ff. 214 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 3, 27; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 166; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (538); zur Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung als Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess sogleich infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 215 Die Frage der Nichtigkeit kartellbehördlicher Entscheidungen richtet sich nach der allgemeinen Vorschrift des § 44 VwVfG, vgl. Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, Vor § 54 GWB Rn. 4 f. 216 Es ist allgemein anerkannt, dass ein rechtswidriger, nicht nichtiger Verwaltungsakt, (zunächst) wirksam ist, BVerwG 20.11.1997, 5 C 1/96, BVerwGE 105, 370 (372); Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 3a; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 178.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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ten und erwächst in Bestandskraft217 – perpetuiert, indem sie über die Bindungswirkung auf die private Durchsetzungsspur durchschlagen.218 Jedoch würde eine vollumfassende Rechtmäßigkeitsprüfung durch das Zivilgericht die angeordnete Bindung des Gerichts an die behördliche Entscheidung im Ergebnis konterkarieren.219 Was die Entscheidungen anderer nationaler Wettbewerbsbehörden anbelangt, so müssen diese nach dem Recht desjenigen Mitgliedstaates, dessen Behörde die betreffende Entscheidung erlassen hat, wirksam sein.220 So setzt die Anerkennung eines ausländischen Verwaltungsaktes generell voraus, dass der betreffende Rechtsakt in der Herkunftsrechtsordnung wirksam ist.221 Der damit einhergehende „Verweis“ auf die Herkunftsrechtsordnung darf sich hierbei nicht in der Feststellung erschöpfen, dass der Verwaltungsakt gesetzmäßig erlassen wurde.222 Das Recht der Herkunftsrechtsordnung bestimmt auch, welche Folgen ein Verfahrensverstoß hat, ob dieser gegebenenfalls geheilt wurde oder unbeachtlich ist, und ob der betreffende Rechtsakt insgesamt nichtig ist.223 Solange die kartellbehördliche Entscheidung nur anfechtbar, aber nicht nichtig und damit nach dem Recht der Herkunftsrechtsordnung wirksam ist, kann sie im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten.224 Eine révision au fond, also eine vollständige Überprüfung in der Sache, scheidet damit aus.225 Allenfalls bei Entscheidungen, die unter Verstoß gegen rechts217 Zur Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung als Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess sogleich infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 218 Hempel, WuW 2004, 362 (371); Hempel, WuW 2005, 137 (143); Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (220); Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 73. 219 Eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit wird diskutiert, aber im Ergebnis ebenfalls abgelehnt von Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 208 ff. 220 Vgl. auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 291 ff. 221 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 335; König, Die Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte, 1965, 53 f.; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 103; vgl. auch Dutta, Die Durchsetzung öffentlichrechtlicher Forderungen ausländischer Staaten durch deutsche Gerichte, 2006, 74 ff., 407 ff. (den Bestand öffentlichrechtlicher Forderungen ausländischer Staaten betreffend). 222 Dazu bereits Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 355. 223 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 355. 224 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 293; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 563; vgl. auch bereits Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 342 (generell zur Anerkennung ausländischer Staatsakte); weitere Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung ist hier freilich, dass die fehlerhafte Entscheidung nicht rechtzeitig angefochten wird und damit in Bestandskraft erwächst, infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 225 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 313 ff.; vgl. auch Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 563; zur Frage der inhatlichen Überprüfung bei der Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte generell Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 342 ff.; König, Die Anerkennung ausländischer
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
staatliche Mindestgarantien zustande gekommen sind, könnte im Wege eines aus dem Konventions- bzw. aus den Grundrechten zu gewinnenden Anerkennungsvorbehalts eine Bindungswirkung im Einzelfall versagt werden.226 Aus dem Erfordernis der Wirksamkeit der kartellbehördlichen Entscheidung folgt schließlich, dass die Entscheidung zum Zeitpunkt der Sachentscheidung im Kartellschadensersatzprozess nicht zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben worden sein darf. Für die Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden ergibt sich dies bereits aus § 43 Abs. 2 VwVfG.227 Hiernach endet mit Rücknahme, Widerruf oder anderweitiger Aufhebung eines Verwaltungsaktes neben der äußeren auch dessen innere Wirksamkeit228 und damit auch eine Bindungswirkung gegenüber anderen Behörden oder Gerichten. Rücknahme und Widerruf der Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden richten sich, sofern keine Sonderregeln bestehen,229 nach den §§ 48, 49 VwVfG.230 In Bezug auf die Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden folgt aus dem soeben dargelegten „Verweis“ auf die jeweilige Herkunftsrechtsordnung hinsichtlich der Wirksamkeitsvoraussetzungen, dass der Wirksamkeitsverlust der Entscheidung im Mitgliedstaat, dessen Wettbewerbsbehörde die betreffende Entscheidung erlassen hat, notwendig auch die mögliche Bindungswirkung im Zivilprozess entfallen lässt.231 bb) Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess ist weiter, dass die kartellbehördliche Entscheidung bestandskräftig ist. Gemeint ist
Verwaltungsakte, 1965, 85 f.; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 108 ff.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (777); das von der Bindungswirkung betroffene Zivilgericht kann allerdings nach Art. 267 AEUV ein Auslegungsersuchen an den Gerichtshof richten, bzw. ist hierzu sogar verpflichtet, dazu infra Kapitel 3 A. VI. 226 Näher zur Frage, ob bei Entscheidungen der Kartellbehörden anderer Mitgliedstaaten ein Anerkennungsvorbehalt erforderlich und zulässig ist infra Kapitel 3 A. V. 2. 227 Die allgemeine Bestimmung des § 43 Abs. 2 VwVfG findet mangels einschlägiger Sonderregeln auch im Kartellverwaltungsverfahren Anwendung, Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 214. 228 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 40; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 214. 229 Vgl. etwa § 32b Abs. 2 GWB oder § 40 Abs. 3a GWB. 230 Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, Vor § 54 GWB Rn. 5; Klose, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 53 Rn. 139. 231 Vgl. bereits Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 336; König, Die Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte, 1965, 55 f.; vgl. ferner Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 105; Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 465 ff.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (774 f.), jeweils generell zu den Folgen des Geltungsverlustes in der Herkunftsrechtsordnung für die Frage der Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte.
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
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die formelle Bestandskraft der Entscheidung, also ihre Unanfechtbarkeit.232 Dies bedeutet, dass gegen die kartellbehördliche Entscheidung keine ordentlichen Rechtsbehelfe mehr offen stehen, sei es, weil die Betroffenen die vorgesehenen Rechtsbehelfsfristen haben verstreichen lassen oder die in Betracht kommenden Rechtsbehelfe erfolglos ausgeschöpft wurden.233 Entsprechendes folgt aus Art. 2 Nr. 12 Kartellschadensersatzrichtlinie, wonach eine „bestandskräftige Zuwiderhandlungsentscheidung“ eine Zuwiderhandlungsentscheidung bezeichnet, „gegen die ein ordentliches Rechtsmittel nicht oder nicht mehr eingelegt werden kann“, wobei der Begriff „Rechtsmittel“ hier wiederum weiter zu verstehen ist als im deutschen Prozessrecht, da neben der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch ein Gericht auch die gerichtliche Überprüfung behördlicher Entscheidungen gemeint ist.234 Da die Bindungswirkung im Zivilprozess erst mit formeller Bestandskraft eintritt, also mit Unanfechtbarkeit der Entscheidung, spielt es keine Rolle, ob ein eingelegter Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat oder nicht.235 Damit besteht also solange keine Bindungswirkung im Zivilprozess, als Rechtsbehelfsfristen noch nicht abgelaufen sind oder ein Gerichtsverfahren über die Entscheidung noch anhängig ist.236 Das Erfordernis der Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung für den Eintritt der Bindungswirkung erlaubt es Unternehmen, gegenüber denen ein Verstoß behördlich festgestellt wurde, die Bindungswirkung im 232 Nach dem allgemeinen verwaltungsrechtlichen wie auch unionsrechtlichen Sprachgebrauch tritt die formelle Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung mit deren Unanfechtbarkeit ein, vgl. nur EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rn. 24; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (165); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 565 f.; der Begriff der materiellen Bestandskraft wird hingegen uneinheitlich verwendet, zumeist wird damit die Bindung der Beteiligten und der Behörde an die in einer Verwaltungsentscheidung getroffene Regelung bezeichnet, dazu Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 31; Randak, JuS 1992, 33 (34 f.); Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (178 ff.); Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (187 ff.); Kopp, DVBl. 1983, 392 (397 f.); näher zum (divergierenden) Sprachgebrauch bei der Frage der Bindungswirkung von Verwaltungsakten infra Kapitel 3 A. I. 1. 233 Vgl. EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rn. 24; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (801 f.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (165); Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 29; Kopp, DVBl. 1983, 392 (395); die Unanfechtbarkeit kann auch bereits früher eintreten, wenn die Anfechtungsberechtigten einen zulässigen Rechtsbehelfsverzicht erklären, Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (186); Postier, NVwZ 1985, 95 (96). 234 Siehe dazu bereits supra Kapitel 2 B. I. 2. 235 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (165); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 206 f. 236 Vgl. nur Truli, European Competition Journal 2009, 795 (802); Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (27); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 105.
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Zivilprozess durch gerichtliche Anfechtung noch zu verhindern und dient damit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.237 Ferner kommt dem in einer bestandskräftigen Entscheidung festgestellten Verstoß grundsätzlich eine höhere Richtigkeitsgewähr zu, haben es die von der Entscheidung Betroffenen doch entweder schon nicht für erforderlich gehalten, gegen die Entscheidung vorzugehen, oder aber die kartellbehördliche Entscheidung wurde gerichtlich bestätigt.238 Ob die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde bestandskräftig ist, hängt von den in der Herkunftsrechtsordnung eröffneten Rechtsbehelfen gegen die Entscheidung und den hierbei zu beachtenden Klagefristen ab.239 In allen Mitgliedstaaten unterliegen die Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden der gerichtlichen Nachprüfung, die jeweiligen Klagefristen variieren hierbei jedoch stark.240 Zu berücksichtigen sind nach der insoweit eindeutigen Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 12 der Richtlinie wie auch sonst beim Eintritt der formellen Bestandskraft241 allein die eröffneten ordentlichen Rechtsbehelfe. Die mögliche Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe, welche die Unanfechtbarkeit gegebenenfalls nachträglich beseitigen, steht dem Eintritt der formellen Bestandskraft also nicht entgegen. 242 Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden erwachsen mit Verstreichenlassen der einmonatigen Beschwerdefrist nach § 66 Abs. 1 GWB in formelle Bestandskraft,243 ferner dann wenn eine (Rechts-)Beschwerde als unzulässig abgewiesen wird oder aber die Entscheidung auf die (Rechts-)Beschwerde hin rechtskräftig bestätigt wird.244 In letzterem Fall, wenn also die Entscheidung der Kartellbehörde rechtskräftig bestätigt wird, geht die Bindungswirkung auf die das Beschwerdeverfahren abschließende Gerichtsent237 Zur Frage der Vereinbarkeit der Bindungswirkung mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes infra Kapitel 3 A. IV. 2. 238 Vgl. Scheffler, WRP 2007, 163 (167); siehe dahingehend auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 206. 239 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (165). 240 So reichen die Fristen bei der gerichtlichen Nachprüfung von Abstellungsentscheidungen in den Mitgliedstaaten von 14 bis zu 90 Tagen, siehe dazu den Überblick bei ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 18 f.; zur gerichtlichen Kontrolle der Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden siehe auch Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, S. 6 Fn. 9. 241 Vgl. zum Eintritt der formellen Bestandskraft im deutschen Verwaltungsrecht nur Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 28; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (187). 242 A.A. Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (166); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 566. 243 Bei Bußgeldbescheiden entsprechend nach Verstreichenlassen der zweiwöchigen Einspruchsfrist nach § 67 Abs. 1 S. 1 OWiG. 244 Vgl. Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 205.
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scheidung über.245 Unterschiedlich wird in diesem Fall die Frage beantwortet, ob die Bindungswirkung in der Folge ausschließlich von der Gerichtsentscheidung oder ergänzend auch von der kartellbehördlichen Entscheidung ausgeht, worauf bei der Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Gerichte eingegangen wird.246 Dadurch, dass die Anfechtung einer Verwaltungsentscheidung durch nur einen von mehreren Adressaten den Eintritt der Unanfechtbarkeit und damit der formellen Bestandskraft gegenüber den übrigen Adressaten im Allgemeinen nicht hindert, gilt es die formelle Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung individuell mit Blick auf den jeweiligen Adressaten zu bestimmen.247 Ficht also nur einer von mehreren Adressaten eine kartellbehördliche Entscheidung an, so tritt gegenüber einem Adressaten, der die Rechtsbehelfsfristen hat verstreichen lassen, zunächst nur eine relative, auf ihn beschränkte formelle Bestandskraft ein. Sie wird zur absoluten formellen Bestandskraft, sobald die Entscheidung auch von keinem anderen Adressaten mehr mittels ordentlicher Rechtsbehelfe angefochten werden kann.248 Für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess genügt es, dass der jeweilige Beklagte gegen die Entscheidung mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr vorgehen kann, also eine nur relative, auf den Beklagten beschränkte formelle Bestandskraft.249 cc) Verfahrensaussetzung bei noch fehlender Bestandskraft? Bevor eine kartellbehördliche Entscheidung unanfechtbar und damit formell bestandskräftig ist, ist ein Zivilgericht im Kartellschadensersatzprozess nicht an diese gebunden. Wurde eine bindungsfähige kartellbehördliche Entscheidung bereits erlassen, sind die Rechtsbehelfsfristen aber noch nicht verstrichen oder ist über einen eingelegten Rechtsbehelf noch nicht rechtskräftig entschieden, so wird das Gericht aber zu entscheiden haben, ob es das Verfahren aussetzt. In Deutschland eröffnen die § 148, 149 ZPO in derartigen Fällen die Möglichkeit, das Verfahren auszusetzen. Die Aussetzung steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.250 Die Kommission ermunNäher dazu sogleich infra Kapitel 2 B. II. 2. Dazu sogleich infra Kapitel 2 B. II. 2. a) cc). 247 Vgl. Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803 f.); aus dem Schrifttum zum deutschen Verwaltungsrecht Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 29; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (186). 248 Vgl. Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803 f.); Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (186); Merten, NJW 1983, 1993 (1995). 249 Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803 f.). 250 Statt aller nur Fritsche, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 148 ZPO Rn. 13; Fritsche, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 149 ZPO Rn. 9; eine Aussetzung ist auch möglich im Hinblick auf eine Verwaltungsentscheidung einer ausländischen Behörde, Stadler, in: Musielak / Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 148 ZPO Rn. 7. 245 246
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tert die Zivilgerichte in einer solchen Situation, das Verfahren auszusetzen.251 Bei Entscheidungen der Kommission sollte ein nationales Gericht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Verfahren im Regelfall aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Gültigkeit der Entscheidung der Kommission abhängt.252 Fraglich ist, ob man ein entsprechendes Gebot zur Verfahrensaussetzung auch im Hinblick auf Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden annehmen kann. Der Gerichtshof hat sich zur Begründung des Aussetzungsgebotes auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) gestützt.253 Dieser Begründungsansatz könnte zumindest bei Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten ebenfalls verfangen,254 resultiert doch aus dem Loyalitätsgebot auch eine Pflicht der Mitgliedstaaten zu loyaler Zusammenarbeit untereinander.255 Das Aussetzungsermessen des Zivilgerichts wird sich im Rahmen der § 148, 149 ZPO aber nur ausnahmsweise zu einer Aussetzungspflicht verdichten.256 Aus der Regelung des § 33b GWB selbst lässt sich eine solche Ermessensreduzierung auf Null bei der Frage der Verfahrensaussetzung jedenfalls nicht ableiten, knüpft diese doch ausdrücklich nur an bestands- bzw. rechtskräftige Entscheidungen an.257 Zwar empfiehlt sich in der Regel eine Aussetzung bei bindenden Entscheidungen.258 Gegen die Aussetzung können aber im Einzelfall die Interessen der Parteien, im vorliegenden Zusammenhang insbesondere das Interesse an einer zeitnahen Entscheidung259 und die Gefahr einer Verfahrensverschleppung sprechen.260 Eine Aussetzung des Verfahrens kann schließlich unter Umständen eine jahrelange Verzögerung nach sich ziehen und den Nachweis erlittener Schäden damit weiter erschweren.261 251 Vgl. Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 157: „Where an appeal is pending against the NCA decision, national civil courts seised with a damages action are encouraged to consider whether staying their proceedings is appropriate.“ 252 EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 57; dies folgt auch ausdrücklich aus Art. 16 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003; dazu Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 10. 253 EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 57. 254 Vgl. dagegen aber Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (181); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 564. 255 Siehe nur Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV Rn. 150. 256 A.A. Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 208 Fn. 1003, 231 f. 257 Vgl. OLG Düsseldorf 3.5.2006, VI-W (Kart) 6/06, WuW 2006, 913 (914 f.) (zu § 33 Abs. 4 GWB a. F.); vgl. ferner Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803). 258 Fritsche, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 148 ZPO Rn. 13. 259 Vgl. dazu OLG Düsseldorf 3.5.2006, VI-W (Kart) 6/06, WuW 2006, 913; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803); Hartog / Klauss, E.C.L.R. 2006, 221 (222). 260 Vgl. zu den abwägungsrelevanten Kriterien bei der Verfahrensaussetzung allgemein Stadler, in: Musielak / Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 148 ZPO Rn. 8.
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Warten Geschädigte den Eintritt der formellen Bestandskraft und damit der Bindungswirkung ab, bevor Klage erhoben wird, laufen diese auch nicht Gefahr, dass ein Schadensersatzanspruch im Zeitpunkt der späteren Klageerhebung bereits verjährt ist. Die Verjährung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche wird schließlich durch die Einleitung eines kartellbehördlichen Verfahrens gehemmt; diese Hemmung endet erst ein Jahr nach bestands- oder rechtskräftiger Entscheidung.262 Das Erfordernis der Bestandskraft für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess ist folglich auch nicht mit unzumutbaren Härten für Geschädigte verbunden. 2. Entscheidungen der nationalen Gerichte Wird eine der Bindungswirkung fähige Entscheidung einer einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörde angefochten, so geht gemäß § 33b S. 2 GWB die Bindungswirkung auf die das gerichtliche Verfahren abschließende Gerichtsentscheidung über. Im Folgenden werden die Anwendungskonstellationen beleuchtet, in denen eine Gerichtsentscheidung die in § 33b S. 2 GWB angeordnete Bindungswirkung im Zivilprozess entfaltet. Dem Bestandskrafterfordernis bei der Bindungswirkung behördlicher Entscheidungen entsprechend muss die Gerichtsentscheidung ferner rechtskräftig sein, um im Zivilprozess Bindungswirkung zu entfalten. a) Anwendungskonstellationen Die Bindung an gerichtliche Entscheidungen nach § 33b S. 2 GWB bezieht sich ausschließlich auf die Anfechtungssituation. In Bezug genommen werden allein gerichtliche Entscheidungen, die infolge der Anfechtung einer nach § 33 S. 1 GWB bindungsfähigen kartellbehördlichen Entscheidung ergangen sind. Es muss mithin stets eine der Bindungswirkung im Zivilprozess fähige kartellbehördliche Entscheidung ergangen sein,263 die im Anschluss einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen wurde. Entscheidungen eines nationalen Gerichts, die in der Verpflichtungssituation ergangen sind und in denen ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wird, scheiden damit von vornherein aus dem Anwendungsbereich des § 33b S. 2 GWB aus.264 Im Weiteren ist nach dem Inhalt der gerichtlichen Entscheidung zu unterscheiden, ob diese nach § 33b S. 2 GWB Bindungswirkung entfalten kann. 261 Hartog / Klauss, E.C.L.R. 2006, 221 (222); Truli, European Competition Journal 2009, 795 (803); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 564 f. 262 Art. 10 Abs. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie; siehe im deutschen Recht § 33h Abs. 6 GWB. 263 Zu den einzelnen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden, die im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten können, supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb). 264 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 254.
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aa) Unzulässigkeit der gerichtlichen Anfechtung Zwar in der Anfechtungssituation ergangen, aber gleichwohl nicht der angeordneten Bindungswirkung fähig sind gerichtliche Entscheidungen, mit denen ein gegen eine kartellbehördliche Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf bereits als unzulässig verworfen wurde. Wird also gegen eine Verfügung der deutschen Kartellbehörden nach § 63 Abs. 1 GWB Beschwerde eingelegt und verwirft daraufhin das Gericht die Beschwerde als unzulässig,265 so entfaltet diese Gerichtsentscheidung keine Bindungswirkung in einem späteren Kartellschadensersatzprozess. Eine solche Entscheidung bestätigt die kartellbehördliche Entscheidung in der Sache schon nicht und enthält damit auch keinerlei Aussage über das Vorliegen eines Kartellrechtsverstoßes. Eine Bindungswirkung geht in dieser Situation allerdings nach § 33b S. 1 GWB von der erfolglos angefochtenen und damit in Bestandskraft erwachsenen kartellbehördlichen Entscheidung selbst aus.266 bb) Aufhebung der kartellbehördlichen Entscheidung Ebenfalls keine Bindungswirkung entfalten selbstverständlich – schon mangels Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes – gerichtliche Entscheidungen, mit denen eine bindungsfähige kartellbehördliche Entscheidung auf Beschwerde bzw. Klage hin aufgehoben wurde. Mit der Aufhebung durch das Gericht endet nach den oben dargelegten Grundsätzen auch die mögliche Bindungswirkung nach § 33b S. 1 GWB der kartellbehördlichen Entscheidung selbst.267 cc) Bestätigung der kartellbehördlichen Entscheidung Bleibt die gerichtliche Anfechtung einer kartellbehördlichen Entscheidung in der Sache erfolglos, bestätigt das Gericht also den behördlich festgestellten Kartellrechtsverstoß, so entfaltet diese Gerichtsentscheidung nach § 33b S. 2 GWB Bindungswirkung im Zivilprozess. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Bindungswirkung in der Folge ausschließlich von der Gerichtsentscheidung oder aber ergänzend auch von der kartellbehördlichen Entscheidung ausgeht.268 Entsprechend stellt sich diese Frage auch im Falle der geDie nach § 71 Abs. 1 S. 1 GWB durch Beschluss ergehende Entscheidung über die Beschwerde lautet bei deren Unzulässigkeit auf Verwerfung, Stockmann, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 71 GWB Rn. 9; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 71 GWB Rn. 6. 266 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 251. 267 Supra Kapitel 2 B. II. 1. c) aa). 268 Vgl. Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 47 (Bindungswirkung sowohl der Entscheidung der Kartellbehörde als auch der Entscheidung des Gerichts, wobei im Falle von Abweichungen die Gerichtsentscheidung vorgeht); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 252 ff. (Entscheidung der Kartellbehörde bleibt maßgeblich, die 265
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richtlichen Überprüfung einer erstinstanzlichen Gerichtsentscheidung, mit der ein zunächst behördlich festgestellter Kartellrechtsverstoß bestätigt wurde. Die gesetzliche Anordnung erscheint insoweit klar: Nach § 33b S. 2 GWB geht die Bindungswirkung von der abschließenden Gerichtsentscheidung aus. Im Einzelnen wird man aber nach Art und Umfang der gerichtlichen Überprüfung differenzieren müssen. Kommt dem Gericht bei der gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung die Befugnis zu, den Sachverhalt erneut umfassend selbst zu prüfen, ohne hierbei an die Feststellungen (und deren Bewertung) durch die Behörde oder das erstinstanzliche Gericht gebunden zu sein, so geht die Bindungswirkung ausschließlich von der abschließenden Gerichtsentscheidung aus. Trifft das Gericht demgegenüber keine oder nur teilweise eigene Feststellungen, und nimmt es auf die durch die Wettbewerbsbehörde oder die im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren getroffenen Feststellungen Bezug, so wird man für die Bindungswirkung die abschließende Gerichtsentscheidung nicht losgelöst von den Feststellungen aus dem Verwaltungsverfahren oder Vorprozess betrachten können. Folglich bleibt hier die Entscheidung aus dem Verwaltungsverfahren oder aus dem Vorprozess für die Bindungswirkung relevant. Nimmt man die gegen Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden eröffneten Rechtsbehelfe in den Blick, so führt hier etwa der Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid nach § 67 OWiG i.V.m. § 83 GWB nicht nur zur Überprüfung der Begründung der angegriffenen Entscheidung, sondern zu einer vollständigen tatsächlichen und rechtlichen Neubewertung des dem Bußgeldbescheid zugrunde liegenden Sachverhalts; der Bußgeldbescheid umschreibt hierbei lediglich – ähnlich wie die Anklageschrift im Strafverfahren – den Prozessgegenstand in persönlicher und sachlicher Hinsicht, ohne selbst Prüfungsgegenstand zu sein.269 Entscheidet das Gericht, in aller Regel nach durchgeführter Hauptverhandlung,270 auf Verurteilung, so kommt dieser Entscheidung daher bezogen auf den darin festgestellten Verstoß die in § 33b S. 2 GWB angeordnete Bindungswirkung zu, ohne dass ergänzend auf den Bußgeldbescheid abzustellen wäre.271 Wird dagegen eine die kartellbehördliche Ausgangsentscheidung bestätigende gerichtliche Entscheidung vor dem BGH im Wege der Rechtsbeschwerde nach §§ 74, 76 GWB überprüft, so ist der BGH grundsätzlich an die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden.272 Weist der BGH die RechtsbeGerichtsentscheidung erstreckt die Bindungswirkung aber möglicherweise zeitlich auf weitere der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegende Tatsachen). 269 Klusmann, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 58 Rn. 2; Vollmer, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 83 GWB Rn. 15. 270 Klusmann, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 58 Rn. 14; Vollmer, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 83 GWB Rn. 16. 271 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 255 f. 272 § 76 Abs. 4 GWB.
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schwerde zurück und bestätigt damit den Kartellrechtsverstoß, so besteht in der Folge eine Bindungswirkung nach § 33b S. 2 GWB mit Blick auf diejenigen Feststellungen in der Entscheidung des Beschwerdegerichts, welche die Entscheidung des BGH tragen.273 Für die Frage der Bindungswirkung nach § 33b S. 2 GWB hat hier demnach eine kombinierte Betrachtung beider Entscheidungen zu erfolgen. Wie diese Ausführungen zeigen, ist im Einzelnen nach Art und Umfang der gerichtlichen Überprüfung zu unterscheiden, ob die Bindungswirkung nach § 33b S. 2 GWB allein von einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung ausgeht, oder ob man ergänzend die Entscheidung aus dem kartellverwaltungsrechtlichen Verfahren bzw. aus dem erstinstanzlichen Gerichtsverfahren heranzuziehen hat. dd) Feststellung der Rechtmäßigkeit einer bereits erledigten kartellbehördlichen Entscheidung Denkbar sind schließlich gerichtliche Entscheidungen, mit denen festgestellt wird, dass eine bereits erledigte kartellbehördliche Entscheidung, mit der ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wurde, rechtswidrig oder rechtmäßig gewesen ist (Fortsetzungsfeststellungsklage bzw. -beschwerde). Im Falle der gerichtlichen Feststellung, dass eine erledigte kartellbehördliche Entscheidung rechtswidrig gewesen ist, kann der Gerichtsentscheidung mangels Bestätigung des behördlich festgestellten Verstoßes keine Bindungswirkung zukommen; auch der kartellbehördlichen Entscheidung selbst kommt infolge ihres Wirksamkeitsverlustes keine Bindungswirkung zu. 274 Wird dagegen durch das Gericht festgestellt, dass eine erledigte, der Bindungswirkung fähige kartellbehördliche Entscheidung rechtmäßig gewesen ist, so kann dieser Entscheidung potentiell die Bindungswirkung nach § 33b S. 2 GWB zukommen. Im deutschen Recht ist den Gerichten eine solche Feststellung in § 71 Abs. 3 GWB ausdrücklich zugestanden: Hiernach spricht das Gericht auf Antrag aus, ob, in welchem Umfang und bis zu welchem Zeitpunkt eine kartellbehördliche Verfügung begründet gewesen ist. Derartige Feststellungen können, wenn sie im Hinblick auf eine bindungsfähige Abstellungsverfügung nach § 32 GWB erfolgen,275 für eine kartellrechtliche Schadensersatzklage sehr wertvoll sein, kann damit doch der Zeitraum bestimmt werden, für den 273 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 15 – Lottoblock II; aus dem Schrifttum Fritzsche / Klöppner / Schmidt, NZKart 2016, 412 (414). 274 Supra Kapitel 2 B. II. 1. c) aa). 275 Die den Gerichten ebenfalls in § 71 Abs. 3 GWB zugestandene Feststellung, dass die Anordnung einstweiliger Maßnahmen nach § 32a GWB, die Annahme einer Verpflichtungszusage nach § 32b GWB oder der Entzug einer Freistellung nach § 32d GWB begründet gewesen ist, ist für Kartellgeschädigte dagegen uninteressant, kommt diesen Entscheidungen doch selbst schon keine Bindungswirkung zu, vgl. supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (2), (3) und (6); siehe dazu auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 255.
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Schadensersatz wegen des festgestellten Kartellrechtsverstoßes verlangt werden kann.276 Antragsberechtigt im Rahmen des § 71 Abs. 3 GWB sind nach überwiegender und überzeugender Auffassung nicht nur die am Kartellverwaltungsverfahren Beteiligten, insbesondere die Kartellbehörde, sondern auch Dritte, die Schadensersatzansprüche geltend machen können.277 Dagegen, dass die Feststellung der Rechtmäßigkeit einer bereits erledigten kartellbehördlichen Entscheidung durch ein Gericht Bindungswirkung zeitigen kann, könnte zwar der auf Anfechtungsentscheidungen beschränkte Wortlaut des § 33b S. 2 GWB sprechen. Allerdings ist im Lichte von Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie, der offener formuliert ist,278 und des maßgeblichen Schutzzwecks der Regelung, nämlich die Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen zu erleichtern, eine Bindungswirkung im Schadensersatzprozess richtigerweise zu bejahen.279 b) Rechtskraft als Erfordernis für den Eintritt der Bindungswirkung Entsprechend dem Erfordernis der Bestandskraft für den Eintritt der Bindungswirkung einer kartellbehördlichen Entscheidung280 muss eine Gerichtsentscheidung rechtskräftig sein, damit diese im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten kann.281 Die erforderliche formelle Rechtskraft einer Gerichtsent276 Vgl. Lembach, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 71 GWB Rn. 61; Kühnen, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 71 GWB Rn. 49; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 254; vgl. auch BGH 26.9.1995, KVR 25/94, NJW 1996, 193 (194 f.) – Stadtgaspreise; OLG Düsseldorf 22.1.2003, Kart 38/01 (V), juris, Rn. 26 f. (Feststellungsinteresse des Bundeskartellamts mit Blick auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen des durch die Verfügung Begünstigten). 277 K. Schmidt, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 71 GWB Rn. 34a; Kühnen, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 71 GWB Rn. 51; Lembach, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 71 GWB Rn. 65; a. A. Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 71 GWB Rn. 19. 278 In Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie ist schlicht die Rede von der Bindung an Entscheidungen einer „Rechtsmittelinstanz“: Nach Art. 2 Nr. 10 der Richtlinie wird damit ein nationales Gericht bezeichnet, „das im Wege ordentlicher Rechtsmittel befugt ist, Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder darüber ergehende gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen “ (Hervorhebung nur hier). Von einer Überprüfung wird man auch bei der gerichtlichen Feststellung der Rechtmäßigkeit einer bereits erledigten Entscheidung sprechen können. 279 Vgl. auch Lembach, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, 71 GWB Rn. 61; Kühnen, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 71 GWB Rn. 49, 53; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 255. 280 Zum Erfordernis der Bestandskraft einer kartellbehördlichen Entscheidung für den Eintitt der Bindungswirkung im Zivilprozess supra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 281 Während in § 33b S. 2 GWB korrekt von „rechtskräftigen“ Gerichtsentscheidungen die Rede ist, wird in Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie das Wort „bestandskräftig“ attributiv sowohl auf eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde als auch
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scheidung tritt mit deren Unanfechtbarkeit ein,282 gegen die Gerichtsentscheidung dürfen also keine ordentlichen Rechtsmittel mehr eröffnet sein. Da ein Gericht im Kartellschadensersatzprozess an eine (noch) nicht rechtskräftige Entscheidung nicht gebunden ist, kann sich für das Gericht wiederum die Frage stellen, ob es das Verfahren bis zum Eintritt der Rechtskraft aussetzt. Entsprechend dem bei noch fehlender Bestandskraft einer kartellbehördlichen Entscheidung Gesagten283 wird sich auch bei einer noch nicht rechtskräftigen Gerichtsentscheidung die dem Gericht in § 148 ZPO eingeräumte Ermessensentscheidung in aller Regel nicht im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null zu einer Aussetzungspflicht verdichten. Schließlich kann auch hier im Einzelfall das Interesse der Parteien an einer möglichst zeitnahen Entscheidung und die Gefahr einer Verfahrensverschleppung gegen eine Aussetzung des Verfahrens sprechen. III. Erfordernis der Sachverhaltsidentität Der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde einen Kartellrechtsverstoß im Kartellverwaltungsverfahren bejaht hat, muss mit dem Sachverhalt, der im Kartellschadensersatzprozess in Rede steht, identisch sein.284 Dieses Erfordernis wurde, was die Bindung der nationalen Gerichte an die Entscheidungen der Kommission anbelangt, bereits in der Sache Masterfoods betont.285 Das Erfordernis der Sachverhaltsidentität gilt ohne weiteres auch bei der Bindung an Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden. Schließlich deutet hierauf bereits der Wortlaut des § 33b S. 1 GWB hin, der eine Bindung im Hinblick auf die „Feststellung des einer Rechtsmittelinstanz bezogen; gemeint ist freilich auch hier die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. 282 Statt aller nur Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, 149 Rn. 1. 283 Supra Kapitel 2 B. II. 1. c) cc). 284 Truli, European Competition Journal 2009, 795 (807); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (166, 168); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 175; Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 84; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 75; vgl. ferner bereits Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 7; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 154. 285 EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 52; besonders deutlich die Schlussanträge von GA Cosmas 16.5.2000 – Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:249, Rn. 16 („absolute Identität des rechtlichen und tatsächlichen Rahmens der Streitigkeit“); dazu Bornkamm, ZWeR 2003, 73 (84); Kjølbye, CML Rev. 39 (2002), 175 (182); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (166 f.); Nazzini, Italian Antitrust Review 2 (2015), 68 (72); Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 8 Rn. 145; vgl. auch Hirsch, ZWeR 2003, 233 (248) („ein und derselbe Einzelfall“).
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Verstoßes“286 ausspricht, also ein und denselben Verstoß voraussetzt. Für den Eintritt einer Bindungswirkung im Zivilprozess genügt es daher nicht, dass der Sachverhalt, den das Gericht im Kartellschadensersatzprozess beschäftigt, mit dem Sachverhalt, der zuvor einer einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörde zur Entscheidung vorgelegen hat, bloß Ähnlichkeiten aufweist oder im Zusammenhang steht. 287 Der Sachverhalt muss vielmehr identisch sein. IV. Erfasste Kartellzivilverfahren 1. Beschränkung auf den Schadensersatzprozess Nach dem ausdrücklichen Wortlaut in § 33b S. 1 GWB wie auch des Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie beschränkt sich die Bindungswirkung auf den Kartellschadensersatzprozess. Im deutschen Recht gelangt über den Verweis in § 34a Abs. 5 GWB die Bindungswirkung daneben noch bei der Vorteilsabschöpfung durch Verbände gemäß § 34a Abs. 1 GWB zur Anwendung. Werden Kartellrechtsverstöße in anderer Form im Zivilprozess geltend gemacht, sei es defensiv oder offensiv, greift die Bindungswirkung ausweislich des Wortlautes dagegen nicht ein.288 Der sachliche Anwendungsbereich der Bindungswirkung erweist sich mit Blick auf die erfassten Formen der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen als offenkundig zu eng. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen bildet zwar einen wichtigen, aber eben nur einen Baustein der privaten Kartellrechtsdurchsetzung.289 Zwar lässt sich die Geltendmachung von Ansprüchen aus vertraglichen Schadenspauschalierungen und Vertragsstrafenabreden noch dem auf Schadensersatzklagen beschränkten Anwendungsbereich zuschlagen.290 Warum die Bindungswirkung darüber hinaus aber nicht auch Hervorhebung nur hier. Truli, European Competition Journal 2009, 795 (807); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (166, 168); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 175; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 75; vgl. auch die Schlussanträge von GA Cosmas 16.5.2000 – Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:249, Rn. 16. 288 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (400); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (158 f.); Truli, European Competition Journal 2009, 795 (805 f.); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 41; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 163, 168. 289 Zu anderen Erscheinungsformen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung supra Kapitel 1 A. II. 2. a). 290 Vgl. LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 (619 f.); OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 46 – Feuerwehrfahrzeuge; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 93; vgl. dagegen aber Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 45. 286 287
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
im Rahmen kartellrechtlicher Unterlassungs- oder Beseitigungsklagen, bei Klagen aus ungerechtfertigter Bereicherung und bei der defensiven Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen, etwa im Rahmen einer Klage auf Erfüllung eines für kartellrechtswidrig gehaltenen Vertrages gelten soll, lässt sich sachlich schlichtweg nicht begründen. 291 Vor dem Hintergrund der Regelung in Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003, mit der die Bindung an Entscheidungen der Kommission ohne Rücksicht auf die Verfahrensart angeordnet wird,292 ist dies umso bemerkenswerter. Statt auf sachlichen Gründen, dürfte der eingeschränkte Anwendungsbereich denn auch allein auf der rechtspolitischen Fokussierung auf Schadensersatzklagen im Zuge der Debatte um ein verstärktes private enforcement beruhen.293 Wie bereits die Monopolkommission in ihrem Sondergutachten zum allgemeinen Wettbewerbsrecht in der 7. GWBNovelle betont hat, handelt es sich bei der Bindung an Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden nicht um einen bloßen Teilaspekt kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, sondern um ein „allgemeines Problem“.294 Schließlich stellen sich die typischen Darlegungs- und Beweisprobleme beim Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes vielfach auch in anderen Fällen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung.295 Unterlassungs- und Beseitigungsklagen werden in der follow on-Situation zwar selten eine praktische Rolle spielen, da die bereits tätig gewordene Wettbewerbsbehörde in aller Regel dafür gesorgt haben wird, dass der festgestellte Kartellrechtsverstoß vollständig abgestellt wurde.296 Bei Klagen aus ungerechtfertigter Bereicherung und bei 291 Siehe bereits Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 45: „Für die unterschiedliche Behandlung dieser Fälle gibt es keinen rationalen Grund.“ 292 So lag der Masterfoods-Entscheidung, auf der die Regelung in Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2002 beruht, eine Streitigkeit über eine für kartellrechtswidrig gehaltene Vertragsabrede zugrunde, EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689. 293 Vgl. dahingehend auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (159); Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (220); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 190 f.; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 218; vgl. dagegen Truli, European Competition Journal 2009, 795 (806), nach der die Beschränkung auf Schadensersatzklagen vermutlich vertretbar („presumably defendable“) ist; die dafür angeführten Gründe vermögen allerdings nicht zu überzeugen. 294 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 45 (Hervorhebung im Original); beipflichtend Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (159); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247; Fuchs, WRP 2005, 1384 (1395). 295 Zu den zivilprozessualen Hürden beim Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes im Zivilprozess supra Kapitel 1 C. II. 2. a). 296 Vgl. auch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (806); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247 Fn. 140; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (159); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 193; Meyer, GRUR 2006, 27 (29).
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich in sachlicher Hinsicht
167
der defensiven Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen kann sich die fehlende Bindungswirkung indes als durchaus praxisrelevant erweisen.297 2. Analoge Anwendung in anderen Kartellzivilverfahren? In Anbetracht der verfehlten Beschränkung der Bindungswirkung auf den Schadensersatzprozess wurde vorgeschlagen, den sachlichen Anwendungsbereich der Bindungswirkung auf weitere Formen der Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen „teleologisch zu erweitern“298, also die Bindungswirkung im Wege eines Analogieschlusses auch dort zur Anwendung zu bringen. Ein Analogieschluss setzt bekanntlich neben einer vergleichbaren Interessenlage, die nach dem eben Gesagten ohne weiteres zu bejahen ist, auch eine planwidrige Regelungslücke voraus.299 So misslich der allzu enge Anwendungsbereich der Bindungswirkung auch ist, so wenig plausibel erscheint es hier von einer planwidrigen, also nur versehentlichen Unvollständigkeit der Regelung auszugehen. Hiergegen spricht bereits, dass sich sowohl der deutsche Gesetzgeber bei Einführung der Bindungswirkung im Zuge der 7. GWBNovelle300 wie auch später der europäische Gesetzgeber bei den Vorarbeiten, die zum Erlass der Kartellschadensersatzrichtlinie geführt haben,301 maßgeblich an der Regelung in Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 orientiert hatte, die gerade nicht auf die Situation der Schadensersatzklage beschränkt ist. Der Gesetzgeber hätte sich schlicht am Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/ 2003 orientieren können, hat aber stattdessen eine engere Regelung gewählt, 297 Vgl. mit anschaulichen Beispielen etwa Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 45; ferner Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (159); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 189 f. 298 Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (220 f.), mit Blick auf eine Anwendung auch auf Bereicherungsklagen; vgl. auch Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 92, nach dem sich eine entsprechende Anwendung bei Unterlassungs- und Beseitigungsklagen empfehle; sowie Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 73, nach dem die Bindungswirkung entgegen dem Wortlaut zumindest auch bei Beseitigungsklagen gelten solle; für eine analoge Anwendung generell auf sonstige Zivilklagen Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 200 ff. 299 Siehe etwa BGH 5.5.2015, XI ZR 406/13, NJW 2015, 2414 (2416); BGH 22.5.2012, XI ZR 290/11, NJW 2012, 2571 (2575); Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, 194, 202 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, 473. 300 Vgl. die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 54. 301 Vgl. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zum Grünbuch „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“, SEC(2005) 1732, Rn. 85; Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, 6 f.; Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 134 ff.
168
Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
die sich auf Schadensersatzklagen beschränkt. Es muss deshalb von einer bewussten Entscheidung ausgegangen werden.302 Eine analoge Anwendung auf weitere Fälle scheidet dementsprechend aus.303 Es ist äußerst bedauerlich, dass der deutsche Gesetzgeber die 9. GWB-Novelle nicht zum Anlass genommen hat, um den Anwendungsbereich der Bindungswirkung auf weitere Formen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung auszudehnen.
C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht
Mit dem Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht ist die Frage angesprochen, zu wessen Lasten der in einer Entscheidung festgestellte Kartellrechtsverstoß vor dem Zivilgericht als bindend festgestellt gilt. Es wurde bereits festgehalten, dass der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die Wettbewerbsbehörde einen Kartellrechtsverstoß hat feststellen können, mit dem Sachverhalt, der im zivilgerichtlichen Verfahren in Rede steht, identisch sein muss.304 Im Rahmen des Anwendungsbereichs der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht ist darüber hinausgehend zu fragen, ob auch der Beklagte im zivilgerichtlichen Schadensersatzverfahren mit dem Beteiligten, gegen den sich das behördliche Kartellverfahren gerichtet hat und gegenüber dem die Entscheidung ergangen ist, identisch sein muss.305 Oder kann die Bindungswirkung auch einem Unternehmen entgegengehalten werden, das als Teilnehmer einer als kartellrechtswidrig befundenen Vereinbarung oder Verhaltensweise in einer Entscheidung nur erwähnt wird, ohne dass sich das kartellbehördliche Verfahren auch gegen dieses gerichtet hat? Diese Frage kann nicht zuletzt mit Blick auf eine mögliche Bindung von Unternehmen, die als Kronzeugen aufgetreten sind, Bedeutung erlangen. Im Folgenden sollen die maßgeblichen Kriterien der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht herausgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage soll sodann die Frage nach der möglichen Bindung von Kronzeugen beantwortet werden. Abschließend soll schließlich Dreher, in: FS Canenbley, 2012, 167 (178 f.); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 218 f.; vgl. auch Palzer / Preisendanz, EWS 2010, 215 (220), die im Ergebnis eine Analogie gleichwohl befürworten. 303 Ebenso Klose, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 53 Rn. 136; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 219; Mayer, WuW 2010, 29 (34 f.) (jeweils zu § 33 Abs. 4 GWB a. F.); dahingehend auch Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 456 f. 304 Zum Erfordernis der Sachverhaltsidentität supra Kapitel 2 B. III. 305 Grünberger spricht insofern vom „Grundsatz der zweifachen Identität“, Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (166); vgl. auch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (806 ff.). 302
C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht
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noch eine besondere Fallkonstellation betrachtet werden, die Fragen der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht aufwirft: die der bußgeldrechtlichen Konzernmutterhaftung, also der Fall, dass eine Muttergesellschaft für den Verstoß einer Tochtergesellschaft mit einem Bußgeld belegt worden ist. I.
Beschränkung auf am behördlichen Kartellverfahren beteiligte Beklagte
Für den Anwendungsbereich der Bindungswirkung ist in persönlicher Hinsicht maßgeblich darauf abzustellen, ob der Beklagte am Kartellverfahren, das zur bindenden kartellbehördlichen Entscheidung geführt hat, förmlich beteiligt war, dort rechtliches Gehör gefunden hat und die Möglichkeit hatte, gegen die Entscheidung gerichtlich vorzugehen.306 Dies folgt aus dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Anspruch auf rechtliches Gehör.307 Denn mit der Bindungswirkung im Zivilprozess geht notwendig eine Einschränkung der zivilprozessualen Verteidigungsmöglichkeiten einher.308 Grundsätzlich steht es nur den am kartellbehördlichen Verfahren Beteiligten offen, gegen eine kartellbehördliche Entscheidung gerichtlich vorzugehen.309 Eine Bindungswirkung gegenüber Unternehmen, die in einer Entscheidung nur erwähnt werden, ohne dass sie die Möglichkeit hatten, im Kartellverwaltungsverfahren Gehör zu finden und die Entscheidung gerichtlich anzufechten, würde damit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Anspruch auf rechtliches Gehör zuwiderlaufen. Denkbar Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 45; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 171; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 97; Hempel, WuW 2005, 137 (144); Meyer, GRUR 2006, 27 (31 f.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 133 f.; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 233 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 253 f.; ferner bereits Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 44; vgl. aus der Rechtsprechung OLG Düsseldorf 29.1.2014, VIU (Kart) 7/13, juris, Rn. 43; OLG Düsseldorf 9.4.2014, VI-U (Kart) 10/12, juris, Rn. 36; siehe auch das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 154: „[…] the NCA decision can only be invoked against undertakings that were a party to the NCA proceedings and therefore had the opportunity to make their arguments on the substance known and to exercise their rights of defense.“ 307 Näher zur Vereinbarkeit der Bindungswirkung mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Anspruch auf rechtliches Gehör infra Kapitel 3 A. IV. 2. 308 Die Bindungswirkung lässt zugunsten des an sich im Schadensersatzprozess belasteten Klägers die Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes entfallen. Umgekehrt ist es dem Beklagten damit verwehrt, mittels Gegenvortrag und Beweis das Zivilgericht vom Nichtvorliegen des Verstoßes zu überzeugen; näher dazu infra Kapitel 3 A. II. 2. 309 So steht die Beschwerde gegen Verfügungen der deutschen Kartellbehörden nach § 63 Abs. 2 GWB den am Kartellverwaltungsverfahren Beteiligten zu, also nach § 54 Abs. 2 Nr. 2 GWB insbesondere den Unternehmen, gegen die sich das Verfahren gerichtet hat. 306
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
sind etwa Fälle, in denen sich die kartellbehördlichen Ermittlungen nur gegen größere Unternehmen richten und auch die verfahrensabschließenden Entscheidungen der Wettbewerbsbehörde nur diesen gegenüber ergehen, wohingegen die Beteiligung kleinerer Unternehmen an einer kartellrechtswidrigen Vereinbarung oder Verhaltensweise darin nur erwähnt wird, ohne dass sich das Verfahren auch gegen diese gerichtet hat. Hier scheidet eine Bindungswirkung gegenüber Letzteren aus, haben sie im Kartellverwaltungsverfahren doch schon kein rechtliches Gehör gefunden.310 Es ist mithin erforderlich, dass sich das kartellbehördliche Verfahren und die ergangene Entscheidung gegen dieselbe Person gerichtet haben, die vor dem Zivilgericht auf Schadensersatz verklagt wird.311 Für den Eintritt der Bindungswirkung selbstverständlich nicht erforderlich ist dagegen, dass auch der Kläger im Schadensersatzprozess am Kartellverwaltungsverfahren – etwa als Beigeladener – beteiligt war.312 Die Bindungswirkung hängt in persönlicher Hinsicht also lediglich auf Beklagtenseite von der Beteiligung am Kartellverwaltungsverfahren ab.313 Wenn in persönlicher Hinsicht eine Bindungswirkung gegenüber Beklagten, die im kartellbehördlichen Verfahren kein Gehör gefunden haben und gegen die Entscheidung auch keine Rechtsschutzmöglichkeiten hatten, ausgeschlossen ist, so ist damit allerdings nicht zugleich gesagt, dass die kartellbehördliche Entscheidung keinerlei faktische bzw. indizielle Wirkung im Kartellzivilprozess zeitigen kann.314 So hat das Kammergericht Berlin in seinem Urteil zum Berliner Transportbeton-Kartell in Bezug auf die Beklagte, gegen die sich das vorangegangene Bußgeldverfahren des Bundeskartellamtes nicht gerichtet hatte und gegen die demnach auch kein Bescheid ergangen war, zwar Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 45. Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (168); vgl. auch Furse, European Competition Journal 2013, 79 (85): „Section 47A permits claims only against parties in respect of whom a relevant infringement decision has been taken“ (hinsichtlich der Regelung über die Zuständigkeit des Competition Appeal Tribunal (CAT) für follow on-Klagen im Vereinigten Königreich). 312 So aber der Einwand der Beklagten gegenüber dem Eintritt der Bindungswirkung in OLG Düsseldorf 9.4.2014, VI-U (Kart) 10/12, juris, Rn. 36. 313 OLG Düsseldorf 29.1.2014, VI-U (Kart) 7/13, juris, Rn. 43; OLG Düsseldorf 9.4.2014, VI-U (Kart) 10/12, juris, Rn. 36; Truli, European Competition Journal 2009, 795 (808); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (168 f.); Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 97; klarstellend auch das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 154: „Identity of all parties of the civil proceedings with those of the administrative proceedings (as in the res iudicata rule) can naturally not be required for a binding effect of NCA decisions, because the claimants in the civil proceedings are not, or at least not necessarily, a party or participant in the proceedings before the NCA (e.g. as complainants).“ 314 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 45; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 235. 310 311
C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht
171
zu Recht keine Bindungswirkung angenommen; dennoch hat es ausnahmsweise einen Anscheinsbeweis zugunsten einer Kartellteilnahme eingreifen lassen, da sich nahezu alle liefernden Unternehmen – wie sich aus den Ausführungen des Bundeskartellamtes ergab – am Kartell beteiligt hatten und die Beklagte zudem unter dem beherrschenden Einfluss des Haupttäters stand.315 Auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass eine Entscheidung einem Beklagten gegenüber faktische bzw. indizielle Wirkung entfalten kann, obwohl dieser am Kartellverwaltungsverfahren nicht beteiligt war, so ist gegenüber der Annahme von Beweiserleichterungen doch Vorsicht geboten. Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass durch die Hintertür, nämlich über die Annahme von Anscheinsbeweisen oder andere Beweiserleichterungen, eine aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten abzulehnende Bindungswirkung gleichsam doch eintritt. II. Bindung von Kronzeugen In ähnlicher Weise wie die Frage der Akteneinsicht in Kronzeugenanträge und hierzu übermittelte Beweismittel316 birgt auch die Frage einer gegenüber Kronzeugen eintretenden Bindungswirkung die Gefahr von Friktionen zwischen privater und behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung, steht doch auch hier zu besorgen, dass Unternehmen abgeschreckt werden könnten, an Kronzeugenprogrammen teilzunehmen, wenn eine Bindungswirkung in späteren Schadensersatzprozessen droht.317 Wenn man die Bonusregelung des Bundeskartellamtes und die Entscheidungspraxis hierzu als Grundlage nimmt,318 scheidet zumindest für den Fall eines vollständigen Erlasses des Bußgeldes der Eintritt einer Bindungswirkung nach den eben ausgeführten Grundsätzen aus.319 Denn gegenüber einem Kronzeugen, der sich als erster Kartellbeteiligter an die Behörde wendet und dem das Bußgeld in der Folge vollständig erlassen wird,320 ergeht – anders als KG Berlin 1.10.2009, 2 U 10/03, WuW 2010, 189 (191) – Berliner Transportbeton; dazu Fritzsche / Klöppner / Schmidt, NZKart 2016, 412 (414); kritisch zur Annahme eines Anscheinsbeweises in diesem Fall Galle, NZKart 2016, 214 (215). 316 Vgl. dazu supra Kapitel 1 C. I. 2. 317 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 44; Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (514 f.); Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsrecht, 2011, 227 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 254; Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 141. 318 Vgl. dazu Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006. 319 Vgl. hierzu aus der Rechtsprechung OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris, Rn. 69 – Gelenkleiterfahrzeuge. 320 Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006, Rn. 3 f. 315
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
in Verfahren vor der Kommission wie auch in Verfahren vor Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten – schon keine förmliche Entscheidung, welche die Grundlage für eine Bindungswirkung bilden könnte.321 Dass der Kronzeuge gegebenenfalls in einem Bußgeldbescheid als Kartellbeteiligter erwähnt wird, der anderen Kartellbeteiligten gegenüber ergangen ist, genügt nach den obigen Ausführungen für die Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht gerade nicht. Dagegen ergeht im Falle einer bloßen Reduzierung des Bußgeldes dem Kronzeugen gegenüber ein Bußgeldbescheid, der in der Folge auch Bindungswirkung gegenüber dem Kronzeugen auslösen kann.322 Wenn auch wettbewerbspolitische Gründe dafür streiten mögen, Kronzeugen von der Bindungswirkung generell auszunehmen323 – was wiederum mit Blick auf die Wirksamkeit kartellrechtlicher Schadensersatzklagen bezweifelt werden kann –, so lässt sich eine Ausklammerung von Kronzeugen jedenfalls nach geltender Rechtslage nicht begründen.324 Ergeht auch im Falle des vollständigen Erlasses des Bußgeldes eine förmliche Entscheidung gegenüber dem Kronzeugen, mit der eine Kartellbeteiligung festgestellt und eine Geldbuße in der Höhe von null festgesetzt wird, wie es der Praxis nicht nur der Kommission, sondern auch der Praxis anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden entspricht,325 so kann dem Kronzeugen auch auf dieser Grundlage die Bindungswirkung entgegengehalten werden.326 321 Insoweit unterscheidet sich die Praxis wesentlich vom Verfahren der Kommission, bei dem das Bußgeldverfahren auch im Falle eines vollständigen Erlasses mit einer Entscheidung gegenüber dem Kronzeugen abgeschlossen wird, Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 237 Fn. 1146; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 221; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 254; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 538; Soltész, WuW 2005, 616 (622 Fn. 27). 322 Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 254; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 237; Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 222; vgl. auch Zimmer / Logemann, ZEuP 2009, 489 (514 f.). 323 Vgl. dahingehend etwa Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 254; Köck / Biernath / Ngernwatthana / Drews, in: Tietje / Blau, 2005, 109 (136); Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWBNovelle, 2004, Rn. 44. 324 Siehe nur Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 94. 325 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 538. 326 Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 221 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 538.
C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht
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Angesichts der unterschiedlichen Handhabe beim vollständigen Bußgelderlass durch die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden und den sich daraus ergebenden Folgen für die Bindungswirkung im Zivilprozess, drängt sich eine dahingehende Harmonisierung im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes auf.327 Ergeht beim vollständigen Erlass eines Bußgeldes keine förmliche Entscheidung, in der eine Geldbuße von null festgesetzt und damit die Kartellbeteiligung festgestellt wird, wie es im deutschen Recht der Fall ist, könnte als funktionales Äquivalent auch der Erlass einer isolierten Feststellungsentscheidung in Betracht kommen.328 III. Bußgeldbescheid gegenüber einer Muttergesellschaft für den Verstoß einer Tochtergesellschaft Eine besondere Fallkonstellation im Hinblick auf den Anwendungsbereich der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht ist die der bußgeldrechtlichen Konzernmutterhaftung, also der Fall, dass eine Muttergesellschaft für den Kartellrechtsverstoß einer Tochtergesellschaft bußgeldrechtlich belangt worden ist. Zur Beantwortung der Frage, was in einem solchen Fall aus der Bindungswirkung eines entsprechenden Bußgeldbescheides für den follow onSchadensersatzprozess folgt, ist vorab auf die Diskussion um eine kartellziDivivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 538; generell zur problematischen fehlenden Harmonisierung der Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsnetz etwa Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsrecht, 2011, 158 ff.; Hetzel, EuR 2005, 735 (735 ff.); um einen höheren Harmonisierungsgrad zu erzielen haben sich die Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz auf ein „ECN-Kronzeugenregelungsmodell“ geeinigt, in dem sich Mindeststandards für die mitgliedstaatlichen Kronzeugenregelungen finden, ECN-Kronzeugenregelungsmodell vom 29.9.2006, geändert durch das ECN-Kronzeugenregelungsmodell vom 22.11.2012, abrufbar unter: ; das ECN-Kronzeugenregelungsmodell ist für die nationalen Behörden und Gerichte nicht verbindlich, EuGH 20.1.2016, Rs. C-428/14, DHL Express (Italy) und DHL Global Forwarding (Italy), EU:C:2016:27, Rn. 44; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 22; angesichts der mangelnden Umsetzung des ECN-Kronzeugenregelungsmodells hat die Kommission eine Harmonisierung der Kronzeugenbehandlung vorgeschlagen, Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 16–22. 328 Vgl. im deutschen Recht § 32 Abs. 3 GWB; dazu, dass die isolierte Feststellung eines Verstoßes der Festsetzung einer Geldbuße in der Höhe von null entspricht, siehe die Schlussanträge von GA‘in Kokott 28.2.2013 – Rs. C-681/11, Schenker & Co. u.a., EU:C:2013:126, Rn. 112: „Durch die Feststellung der Zuwiderhandlung, die in Wirklichkeit mit der Festsetzung einer Geldbuße in der Höhe von null gleichbedeutend ist, wird […] unzweifelhaft klargestellt und dokumentiert, dass das Unternehmen schuldhaft gegen die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln verstoßen hat.“ (Hervorhebung nur hier); näher zum Erlass isolierter Feststellungsentscheidungen supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (1). 327
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
vilrechtliche Konzernhaftung einzugehen. Würde eine Mutter nämlich (auch) zivilrechtlich für Verstöße ihrer Tochtergesellschaften haften, stünde der Annahme eines mit dem Bußgeldbescheid gegenüber der Mutter bindend festgestellten Verstoßes im Schadensersatzprozess nichts entgegen. Verläuft die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit dagegen mit der zivilrechtlichen Haftung inkongruent, fragt sich weiter, ob über das Institut der Bindungswirkung gleichwohl ein Verstoß der Muttergesellschaft auch für den Schadensersatzprozess angenommen werden muss. 1. Diskussion um eine kartellzivilrechtliche Konzernhaftung In jüngerer Zeit ist eine Diskussion darüber entfacht, ob (auch) auf Ebene der zivilrechtlichen Schadensersatzhaftung der europäische Unternehmensbegriff zu übernehmen ist, sodass eine Muttergesellschaft für Kartellrechtsverstöße von Tochtergesellschaften, mit denen sie eine „wirtschaftliche Einheit“329 bildet, auf Schadensersatz haften würde. Zum Teil wird dies aus der Kartellschadensersatzrichtlinie abgeleitet.330 Im Zuge der 9.GWB-Novelle wurde im deutschen Recht eine Annäherung an den europäischen Unternehmensbegriff der wirtschaftlichen Einheit vollzogen, jedoch beschränkt für die bußgeldrechtliche Haftung: Nunmehr können Konzernmuttergesellschaften für Verstöße von Tochtergesellschaften bußgeldrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.331 In Bezug auf die zivilrechtliche Schadensersatzhaftung erfolgte keine entsprechende Regelung. Dass die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit des EU-Bußgeldrechts unter Überwindung des tradierten Trennungsprinzips, also eines gesellschaftsrechtlichen Grundprinzips, auch auf die zivilrechtliche Schadensersatzhaftung zu übertragen ist, darf mit guten Gründen bezweifelt werden.332 Insbesondere existiert kein Grundsatz, wonach die Zum Unternehmen als wirtschtlicher Einheit siehe nur EuGH 10.9.2009, Rs. C97/08 P, Akzo Nobel, EU:C:2009:536, Rn. 55 ff.; näher zur europäischen Rechtsprechung etwa Kokott / Dittert, WuW 2012, 670 (670 ff.). 330 Unter Hinweis darauf, dass dort der Begriff des „Unternehmens“ verwendet wird (vgl. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie), Vollrath, NZKart 2013, 434 (438); Kersting, WuW 2014, 564 (565); Kersting, WuW 2016, 329 (329); Makatsch / Mir, EuZW 2015, 7 (8); Haus / Serafimova, BB 2014, 2883 (2884); vgl. auch Monopolkommission, Hauptgutachten 2012/2013, 2014, Rn. 951, sowie Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 101 f. 331 Vgl. § 81 Abs. 3a GWB; aus dem Schrifttum zur Neuregelung etwa Podszun / Kreifels / Schmieder, WuW 2017, 114 (115 f.); Ost / Kallfaß / Roesen, NZKart 2016, 447 (455 ff.). 332 Ablehnend mit einer eingehenden Auseinandersetzung etwa Thomas / Legner, NZKart 2016, 155 (156 ff.); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 75 ff.; v. Hülsen / Kasten, NZKart 2015, 296 (297 ff.); Suchsland / Rossmann, WuW 2015, 973 (973 ff.); Stauber / Schaper, NZKart 2014, 346 (347); Klotz, Wirtschaftliche Einheit und Konzernhaftung im Kartellzivilrecht, 2016, 100 ff.; Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1758, 1777; siehe aus der instanzgerichtlichen Recht329
C. Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht
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zivilrechtliche Haftung kongruent mit der bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit verlaufen müsste.333 2. Folgen der Bindungswirkung eines Bußgeldbescheides gegenüber der Konzernmuttergesellschaft Was die Frage der Bindungswirkung eines Bußgeldbescheides gegenüber einer Konzernmuttergesellschaft betrifft, die wegen eines Verstoßes einer Tochter belangt worden ist, ohne dass sie am Verstoß aktiv beteiligt war oder Aufsichtspflichten verletzt hat, so kann die Bindungswirkung eine zivilrechtliche Schadensersatzhaftung der Muttergesellschaft jedenfalls nicht begründen. Die Bindungswirkung soll die Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten Geschädigter bei der Geltendmachung ihrer bestehenden Ersatzansprüche mildern;334 sie modifiziert die zugrunde liegenden zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen aber nicht. Das gegenteilige Verständnis, wonach der Bindungswirkung im Falle eines an die Konzernmuttergesellschaft gerichteten Bußgeldbescheides mittelbar eine anspruchsbegründende Wirkung zukommen soll,335 wäre mit dem auf eine „bloße“ Beweiserleichterung abzielenden Regelungszweck der Bindungswirkung schlichtweg unvereinbar.336 Es wäre auch widersinnig anzunehmen, dass die zivilrechtliche Haftung davon abhängen soll, dass ein Bußgeldverfahren durchgeführt wurde und die tätig gewordene Wettbewerbsbehörde dabei befugt war, eine Muttergesellschaft für Verstöße ihrer Tochtergesellschaften bußgeldrechtlich zu belangen.337 In einem entsprechenden an eine Muttergesellschaft gerichteten Bußgeldbescheid wird in der Sache auch nur festgestellt, dass ihr der Verstoß der Tochter für die Zwecke der Bußgeldhaftung zugerechnet wird. Eine persönliche Beteiligung der Muttergesellschaft an der Zuwiderhandlung oder eine Verletzung von sprechung ablehnend gegenüber der Haftung einer Muttergesellschaft für Kartellrechtsverstöße einer Tochtergesellschaft LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris, Rn. 80 ff. – Fahrtreppen; LG Düsseldorf 8.9.2016, 37 O 27/11 (Kart), juris, Rn. 187 – Aufzugskartell. 333 Thomas / Legner, NZKart 2016, 155 (158). 334 Näher zum maßgeblichen Zweck der Bindungswirkung supra Kapitel 1 C. II. 2. 335 Vgl. Weitbrecht, WuW 2015, 959 (965) („[…] Bußgeldrechtlich führt daher auch in der Zukunft für Deutschland kein Weg am unionsrechtlichen Unternehmensbegriff vorbei; wird dies so gelöst, dann folgt zivilrechtlich allein schon aus der Bindungswirkung des § 33 Abs. 4 GWB die Passivlegitimation des Konzernmutter“); siehe ferner Wachs, WuW 2017, 2 (4 ff.); vgl. auch Bürger, WuW 2011, 130 (137 f.) und Lund, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht, 2014, 261 ff., die einen Gleichlauf der zivilrechtlichen Haftung der Mutter im Ergebnis gleichwohl verneinen, da sie das Verschulden – zu Recht – nicht als von der Bindungswirkung erfasst ansehen (jeweils in Bezug auf Kommissionsentscheidungen). 336 Siehe dahingehend auch Klotz, Wirtschaftliche Einheit und Konzernhaftung im Kartellzivilrecht, 2016, 123. 337 Vgl. Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 77; Thomas / Legner, NZKart 2016, 155 (157 f.).
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Aufsichtspflichten wird damit gerade nicht festgestellt, worauf es für die Zwecke der zivilrechtlichen Haftung aber richtigerweise nach wie vor ankommen dürfte.338 Selbst wenn man einen Verstoß der Muttergesellschaft als bindend festgestellt ansehen wollte, ist zu berücksichtigen, dass damit nicht zugleich auch ein Verschulden der Mutter festgestellt wäre. Die Bindungswirkung erstreckt sich nämlich richtigerweise allein auf die objektive Tatseite einer Zuwiderhandlung.339
D. Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht D. Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht
Im Rahmen des Anwendungsbereichs der Bindungswirkung in zeitlicher Hinsicht stellen sich zwei voneinander zu trennende Fragen: Zum einen fragt sich, auf welche (Alt-)Fälle die Regelung über die Bindungswirkung überhaupt Anwendung findet. Gefragt ist damit nach dem intertemporalen Anwendungsbereich. Die intertemporale Anwendbarkeit der Regelung über die Bindungswirkung vorausgesetzt, kann weiter fraglich sein, mit welcher zeitlichen Dimension der in einer vorangegangenen Entscheidung bejahte Verstoß für den Zivilrichter bindend festgestellt ist. I.
Intertemporaler Anwendungsbereich
Die Frage nach dem intertemporalen Anwendungsbereich der Bindungswirkung hat nach erstmaliger Einführung der Bindungswirkung in Deutschland im Zuge der 7. GWB-Novelle bereits mehrfach die Gerichte beschäftigt. Sie kann auch noch lange nach dem Inkrafttreten der Regelung relevant werden, bilden im Kartellrecht doch häufig Vereinbarungen und Verhaltensweisen Gegenstand behördlicher und gerichtlicher Verfahren, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. 340 Die Frage nach dem intertemporalen Anwendungsbereich der Bindungswirkung wurde von der Rechtsprechung einhellig dahingehend beantwortet, dass die Regelung auch für Kartellrechtsverstöße gilt, die bereits vor ihrem Inkrafttreten begangen worden sind, sofern die kartellbehördliche oder gerichtliche Entscheidung, deren Bindungswirkung in Rede steht, nach dem Inkrafttreten der Regelung bestands- oder rechtskräftig ge338 Vgl. auch LG Düsseldorf 8.9.2016, 37 O 27/11 (Kart), juris, Rn. 184 f. – Aufzugskartell. 339 Näher dazu infra Kapitel 3 A. I. 3. a) cc). 340 Scheffler, WRP 2007, 163 (163 f.); als Beispiel sei nur das WasserstoffperoxidKartell erwähnt, das von Januar 1994 bis Dezember 2000 dauerte, Gegenstand einer Entscheidung der Kommission vom 3.5.2006 wurde (ABl. 2006 L 353, 54) und in Form von Schadensersatzklagen noch immer die deutschen Gerichte beschäftigt (LG Dortmund 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int 2013, 842, Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH, daraufhin EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335).
D. Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht
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worden ist.341 Zwar gebieten die allgemeinen Grenzen bei der Rückwirkung von Gesetzen, dass eine unerlaubte Handlung nach dem zur Zeit ihrer Begehung geltenden Recht beurteilt wird,342 allerdings handelt es sich bei der Bindungswirkung im Zivilprozess – wie an späterer Stelle näher ausgeführt wird343 – richtigerweise um ein verfahrensrechtliches Institut, für das diese engen Grenzen gerade nicht gelten.344 Da die nunmehr in § 33b GWB niedergelegte Regelung über die Bindungswirkung der erstmals im Zuge der 7. GWB-Novelle eingeführten Regelung des § 33 Abs. 4 GWB a.F. entspricht,345 gilt für ihren intertemporalen OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris, Rn. 35 – Post-Konsolidierer; LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 (619), bestätigt durch OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 47 – Feuerwehrfahrzeuge; OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris, Rn. 61 – Grauzementkartell; OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris, Rn. 38; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 54; LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris, Rn. 161; LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris, Rn. 145; LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris, Rn. 45 – Fahrtreppen; aus dem Schrifttum Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (987 f.); vgl. auch Scheffler, WRP 2007, 163 (166), der indes noch weitergehend davon ausgeht, dass die Regelung über die Bindungswirkung auch für bereits zuvor abgeschlossene Verfahren gelten soll; zwar zweifelnd, aber mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen, OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris, Rn. 68 – Gelenkleiterfahrzeuge. 342 Allgemein zum Deliktsrecht RG 19.6.1920, V 82/20, RGZ 99, 221 (225 f.); BGH 14.7.1994, III ZR 174/92, NJW 1994, 2684 (2685); v. Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 2003, § 4 Rn. 177; speziell zum Kartelldeliktsrecht BGH 28.6.2011, KZR 75/10, NJW 2012, 928 – ORWI; Scheffler, WRP 2007, 163 (165); Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (983). 343 Näher dazu bei der Frage nach der kollisionsrechtlichen Qualifikation der Bindungswirkung infra Kapitel 3 A. III. 344 Siehe dazu die Begründung des OLG Düsseldorf: „Die Regelung des § 33 Abs. 4 GWB stellt zwar eine gegenüber der alten Rechtslage wesentliche Neuerung dar, hat aber lediglich eine Beweiserleichterung für potentielle Privatkläger zur Ermöglichung von Anschlussklagen („Follow-on“-Verfahren) und damit eine prozessuale Frage zum Gegenstand. Dies führt dazu, dass für die Anwendbarkeit dieser prozessualen Vorschrift nicht auf die Entstehung des Rechtsverhältnisses oder die Eröffnung des kartellbehördlichen oder gerichtlichen Verfahrens, sondern auf den Zeitpunkt dessen bestands- oder rechtskräftigen Abschlusses abzustellen ist […]“, OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris, Rn. 35 – Post-Konsolidierer; ferner LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 (619), bestätigt durch OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 47 – Feuerwehrfahrzeuge; OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris, Rn. 61– Grauzementkartell; OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris, Rn. 38; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 54; LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris, Rn. 161; LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris, Rn. 145; LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris, Rn. 45 – Fahrtreppen; siehe übereinstimmend aus dem Schrifttum Scheffler, WRP 2007, 163 (166); Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (988). 345 Es handelt sich lediglich um eine redaktionelle Anpassung; so auch ausdrücklich die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 56. 341
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Anwendungsbereich mangels einer gegenüber der alten Rechtslage wesentlichen Neuerung nichts anderes: Die in § 33b GWB niedergelegte Bindungswirkung gilt damit, sofern die Entscheidung, deren Bindungswirkung in Rede steht, nach dem 1.7.2005 als dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorgängerregelung in § 33 Abs. 4 GWB a.F. bestands- bzw. rechtskräftig geworden ist. II. Zeitliche Dimension des festgestellten Verstoßes Für die Frage, mit welcher zeitlichen Dimension der in einer vorangegangenen Entscheidung bejahte Verstoß für den Zivilrichter als bindend festgestellt gilt, kommt es auf die durch die Wettbewerbsbehörde oder das Gericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen an.346 Für Zeiträume, die außerhalb der seitens der Wettbewerbsbehörde festgestellten Dauer des Verstoßes liegen, trägt der Kläger grundsätzlich weiter die volle Darlegungs- und Beweislast.347 Die Feststellungen zur zeitlichen Dimension eines Kartellrechtsverstoßes hängen wesentlich von dem Entscheidungstyp ab, von dem seitens der Wettbewerbsbehörde Gebrauch gemacht worden ist.348 So werden, worauf der BGH in seiner Lottoblock II-Entscheidung hingewiesen hat, in einer Bußgeldentscheidung regelmäßig auch Feststellungen zur Dauer des Verstoßes getroffen, weil es sich um ein wesentliches Kriterium im Rahmen der Bußgeldzumessung handelt.349 Bei Entscheidungen im Kartellverwaltungsverfahren, etwa bei Abstellungsentscheidungen, ist die Dauer eines Verstoßes hingegen nicht notwendig zu bestimmen.350 Abstellungsentscheidungen werden 346 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II; LG Hannover 18.12.2017, 18 O 8/17, juris, Rn. 68; vgl. ferner Erwägungsgrund 34 S. 6 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Die Wirkung der Feststellung sollte jedoch nur die Art der Zuwiderhandlung sowie ihre […] zeitliche […] Dimension erfassen, so wie sie von der Wettbewerbsbehörde oder der Rechtsmittelinstanz in Ausübung ihrer bzw. seiner Zuständigkeit festgestellt wurde.“ Dazu, dass die Bindungswirkung nicht nur den Tenor, sondern auch Feststellungen in den tragenden Gründen der Entscheidung erfasst infra Kapitel 3 A. I. 347 Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 116; Rother, NJW 2016, 3534 (3534); vgl. hierzu aus der Rechtsprechung nur LG Berlin 14.6.2016, 16 O 348/15 Kart, juris, Rn. 10: „Die Klägerin trägt selbst nichts zu den tatsächlichen Voraussetzungen eines Kartellverstoßes der Beklagten in den Jahren 2010 und 2011 und zu einem sich daraus etwa ergebenden Schaden vor, sondern stützt sich insoweit ausschließlich auf den Inhalt der Verfügung des Bundeskartellamts, die ihrerseits aber gegenüber der Beklagten eine (Preissenkungs-)Verfügung nur für die Jahre 2012 – 2015 ausspricht. Die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Kartellschadens sind damit nicht gegeben, die vorliegende Klage unschlüssig.“ 348 Näher zu den einzelnen Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden und zur Frage ihrer Bindungswirkung im Zivilprozess supra Kapitel 2 B. II. 1 b) bb). 349 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II; siehe zum Urteil aus dem Schrifttum Brinker, BB 2016, 2194 (2194); Rother, NJW 2016, 3534 (3534); Mehrbrey / Jaeger, WuW 2016, 492 (492 ff.). 350 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II.
D. Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht
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zwar grundsätzlich auf einen noch andauernden oder in der Vergangenheit liegenden Verstoß gestützt, aus dem sich eine Wiederholungsgefahr ergibt,351 sie verhalten sich hierbei allerdings nicht notwendig dazu, wie lange der in Rede stehende Verstoß angedauert hat oder ob der Verstoß bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fortgesetzt wurde. Auch mit der in einer Abstellungsentscheidung bejahten Wiederholungsgefahr ist nicht die weiter andauernde Begehung des betreffenden Verstoßes festgestellt.352 Wenn bei einer Abstellungsentscheidung für das Zivilgericht nicht die weiter andauernde Begehung des Verstoßes mit Bindungswirkung festgestellt ist, so heißt das jedoch nicht zugleich, dass dafür keine tatsächliche Vermutung streiten kann.353 So gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Vermutung, dass Unternehmen, die ihr Verhalten abgestimmt haben und weiter auf dem Markt tätig sind, die mit den Wettbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Bestimmung ihres weiteren Marktverhaltens berücksichtigen.354 Diese Vermutung ist als integraler Bestandteil des Unionsrechts von den nationalen Gerichten anzuwenden.355 Sie kann aber durch eine Zäsur im Geschehensablauf beendet werden. Eine die Vermutung beendigende Zäsurwirkung geht im Bußgeldverfahren in der Regel von einer kartellbehördlichen Durchsuchung oder Nachprüfung aus.356 Im Kartellverwaltungsverfahren kann der Zustellung einer Abstellungsentscheidung grundsätzlich eine Zäsurwirkung zukommen.357 Allerdings kann dies im Einzelfall nur unter einschränkenden Voraussetzungen der Fall sein: So hat der BGH in seiner Lottoblock II-Entscheidung die Vermutung einer andauernden Zuwiderhandlung nicht mit Zustellung einer Abstellungsentscheidung entfallen lassen, sondern verlangt, dass sich das Unternehmen offen und eindeutig von der Abstimmung distanziert.358 Zur Begründung hat er darauf abgestellt, dass es Im Rahmen von § 32 Abs. 1 GWB kann ausnahmsweise auch ein bevorstehender Verstoß zum Gegenstand einer Abstellungsentscheidung gemacht werden, Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 15; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 10; vgl. auch BGH 14.8.2008, KVR 54/07, juris, Rn. 52 – Lottoblock I; BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II. 352 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 18 – Lottoblock II. 353 Vgl. BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 23 ff. – Lottoblock II; vgl. dagegen Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 116. 354 EuGH 8.7.1999, Rs. C-49/92 P, Anic Partecipazioni, EU:C:1999:356, Rn. 121; EuGH 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls / Kommission, EU:C:1999:358, Rn. 162; dazu auch BGH 14.8.2008, KVR 54/07, juris, Rn. 43 – Lottoblock I; BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 23 – Lottoblock II; Westermann, ZWeR 2010, 81 (93 f.). 355 EuGH 21.1.2016, Rs. C-74/14, Eturas, EU:C:2016:42, Rn. 33; BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 24 – Lottoblock II. 356 Brinker, BB 2016, 2194 (2194). 357 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 35 – Lottoblock II; dazu auch Brinker, BB 2016, 2194 (2194). 351
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
sich um einen punktuellen Verstoß in Form einer einmaligen Verhaltensabstimmung handelte, deren Auswirkungen potentiell zeitlich unbegrenzt sind, und deren Fortbestand von den Teilnehmern nichts weiter verlangte, als dass sie sich schlicht an diese halten.359 Falls das Fortwähren eines Verstoßes demgegenüber erfordert, dass die Beteiligten erneut aktiv kartellrechtswidrig handeln, so wird man in der Regel davon ausgehen können, dass mit Zustellung einer Abstellungsentscheidung die Vermutung andauernden kartellrechtswidrigen Verhaltens entfällt, ist doch im Allgemeinen zu erwarten, dass sich der Adressat einer Abstellungsentscheidung auch an diese hält.360
E. Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht E. Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht
Mit dem Anwendungsbereich der Bindungswirkung in räumlicher Hinsicht wird hier die Frage erörtert, mit welcher räumlichen Dimension der in einer Entscheidung bejahte Verstoß für den Zivilrichter als bindend festgestellt gilt.361 Wettbewerbsbeschränkungen betreffen bestimmte Märkte, die in räumlicher Hinsicht mit Blick auf ökonomische Zusammenhänge und nicht mit Blick auf Staatsgrenzen gebildet werden.362 Den Wettbewerbsbeschränkungen ist damit eine räumliche Dimension inhärent,363 die mitunter lokal oder national, vielfach aber auch grenzüberschreitend ausfällt. Hieraus folgt zunächst, dass das Gericht die räumliche Dimension des Verstoßes präzise BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 36 – Lottoblock II; gestützt auf die Rechtsprechung der europäischen Gerichte, EuGH 7.1.2004, Rs. C-204/00 P, Aalborg Portland, EU:C:2004:6, Rn. 81 ff.; EuG 15.7.2015, Rs. T-393/10, Westfälische Drahtindustrie, EU:T:2015:515, Rn. 194; vgl. hierzu auch Brinker, BB 2016, 2194 (2194). 359 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 36 – Lottoblock II. 360 Auch der BGH geht im Ausgangspunkt von der Erwartung aus, dass sich ein grundsätzlich rechtstreuer Adressat an eine sofort vollziehbare Abstellungsverfügung halten wird, BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 35 – Lottoblock II. 361 Im Rahmen des Anwendungsbereichs in räumlicher Hinsicht wird mitunter auch die Bindung an Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden als der eigenen erörert, vgl. etwa das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 158 ff., unter der Überschrift „Territorial scope of binding effect of NCA decisions“; die Frage, den Entscheidungen welcher Stellen Bindungswirkung zukommt, wurde hier bereits im Rahmen des sachlichen Anwendungsbereichs erörtert, supra Kapitel 2 B. I.; siehe zu den Besonderheiten einer Bindungswirkung ausländischer Entscheidungen infra Kapitel 3 A. V. 362 Siehe dazu nur Füller, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1035 ff.; Jones / Sufrin, EU Competition Law, 5. Aufl. 2014, 61 ff., 82 ff.; siehe ferner die Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372, 5; vgl. auch § 18 Abs. 2 GWB: „Der räumlich relevante Markt kann weiter sein als der Geltungsbereich dieses Gesetzes.“ 363 Dazu nur Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (403 f.). 358
E. Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht
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anhand der in der Entscheidung getroffenen Feststellungen zu ermitteln hat.364 Bei Verstößen mit einer grenzüberschreitenden Dimension stellt sich zudem eine weitere Frage: Können hier neben den Auswirkungen auf dem Gebiet der erlassenden Wettbewerbsbehörde auch Auslandswirkungen mit Bindungswirkung für das Zivilgericht festgestellt sein? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es die Grundsätze über die internationale (Entscheidungs-)Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz in Erinnerung zu rufen:365 Um die internationale Zuständigkeit einer nationalen Wettbewerbsbehörde zu begründen, genügt es hiernach, dass eine Vereinbarung oder Verhaltensweise im Sinne des Auswirkungsprinzips zumindest auch hinreichend signifikante Auswirkungen im eigenen Staatsgebiet entfaltet.366 Zeitigt eine Vereinbarung oder Verhaltensweise in mehreren Mitgliedstaaten hinreichend signifikante Auswirkungen, um die Zuständigkeit der jeweiligen nationalen Wettbewerbsbehörde zu begründen, so erfolgt nach den Grundsätzen über die Fallverteilung im Europäischen Wettbewerbsnetz eine Abstimmung, ob der Fall durch eine einzelne mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde, durch mehrere parallel agierende mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden oder aber durch die Europäische Kommission bearbeitet wird.367 Im Gegensatz zur Kommission sind die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden allerdings darauf beschränkt, die Auswirkungen im Inland zu unterbinden und zu ahnden. Denn mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 wurde den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden nach richtiger Lesart keine exterritoriale Entscheidungsund Sanktionszuständigkeit verliehen.368 Haben die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden den Rechtsfolgenausspruch nach dem eben Gesagten auf die im Erlassstaat eingetretenen Auswirkungen zu beschränken, so kann ihren Entscheidungen in der Folge im Zivilprozess auch keine Bindungswirkung zukommen, die über die im Erlassstaat eingetretenen und festgestellten Auswirkungen hinausreicht.369 Oder anders gewendet: Die Bindungswirkung kann in räumlicher Hinsicht nicht weiter Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (404); vgl. aus der Rechtsprechung OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris, Rn. 37, 40 (getroffene Feststellung gesonderter regionaler Absprachen anstelle eines einheitlichen bundesweiten Kartells). 365 Siehe dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. a). 366 Dazu supra Kapitel 1 A. I. 2. a) aa). 367 Dazu supra Kapitel 1 A. I. 2. a) bb). 368 Dazu supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). 369 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 539; Drexl / Conde Gallego / Enchelmaier / Mackenrodt / Podszun, IIC 2008, 799 (803 f.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (170); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 253; Schütt, WuW 2004, 1124 (1131); unentschieden Truli, European Competition Journal 2009, 795 (809 f.); a. A. dagegen Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 75. 364
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Kapitel 2 – Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
reichen als die (territorial beschränkte) Entscheidungszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden. Dieser Auffassung ist offenbar auch die Europäische Kommission, wenn sie davon ausgeht, dass die Entscheidungen mehrerer einzelstaatlicher Wettbewerbsbehörden zum selben Verstoß Bindungswirkung entfalten können.370 Hat etwa bei einem Kartell, das sich in Deutschland und in Belgien ausgewirkt hat, das Bundeskartellamt die Kartellmitglieder jeweils mit Bußgeldern belegt, so ist bei einer sich anschließenden Schadensersatzklage – sei es vor den deutschen oder belgischen Gerichten371 – mit dem entsprechenden Bußgeldbescheid in räumlicher Hinsicht lediglich festgestellt, dass sich das Kartell (auch) in Deutschland ausgewirkt hat. Das Zivilgericht hat in dieser Situation also über die gesamten Auswirkungen des Kartells und die daraus erwachsenden Schäden zu urteilen,372 ist hierbei aber – es sei denn die belgische Wettbewerbsbehörde ist (ausnahmsweise) parallel tätig geworden373 – allein hinsichtlich der in Deutschland eingetretenen Auswirkungen gebunden. Die Bindungswirkung bleibt insoweit in ihrer Bedeutung beschränkt, womit letzten Endes die einheitliche Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln beeinträchtigt sein kann.374 Denn es bleibt dem Gericht unbenommen, außerhalb des Gebiets der nationalen Wettbewerbsbehörde, deren Entscheidung Bindungswirkung entfaltet, einen Verstoß zu verneinen. Hinzu kommt, dass der Ort, an dem sich eine Wettbewerbsbeschränkung ausgewirkt hat, nicht notwendig mit dem Ort zusammenfällt, an dem ein daraus erwachsender Vermögensschaden eingetreten ist.375 Die Entscheidung einer einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörde kann also Bindungswirkung entfalten, wenn der geltend gemachte Schaden in einer anderen Jurisdiktion entstanden ist, solange sich der festgestellte Verstoß auf dem Gebiet der erlassenden WettbeCommission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 161. 371 Zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten supra Kapitel 1 A. II. 3. a). 372 Die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte sind grundsätzlich umfassend kognitionsbefugt, sie können (Kartell-)Beklagte also auch zum Ersatz solcher Schäden verurteilen, die außerhalb des Forums entstanden sind; dazu supra Kapitel 1 A. II. 3. a). 373 Dass sich das Kartell daneben auch in Belgien ausgewirkt hat, kann gegebenenfalls über eine parallel ergangene Entscheidung der belgischen Wettbewerbsbehörde mit Bindungswirkung festgestellt sein; vgl. zum parallelen Vorgehen des Bundeskartellamtes und des ehemaligen belgischen Conseil de la Concurrence im Falle des Benzyl-Butyl-Phthalat (BBP)-Kartells supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). 374 Siehe dahingehend auch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (809 f.); Schütt, WuW 2004, 1124 (1132); kritisch auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 212 ff., 322, der allerdings davon ausgeht, dass es praktisch kaum je zu einer widersprüchlichen Entscheidung eines Gerichts kommen wird. 375 Dazu G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 134 f.; Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1153 Fn. 104). 370
E. Anwendungsbereich in räumlicher Hinsicht
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werbsbehörde ausgewirkt hat und der geltend gemachte Schaden auch auf diesen Auswirkungen beruht.376 Infolge der räumlich beschränkten Bindungswirkung kann es erforderlich sein, im Einzelnen zu bestimmen, ob eine bestimmte Schadensposition gerade auf den bindend festgestellten Auswirkungen auf dem Gebiet der entscheidenden Wettbewerbsbehörde beruht. Ob dem Kartellopfer überhaupt ein Schaden entstanden ist und ob sich dieser auf die Auswirkungen gerade im Hoheitsgebiet der Wettbewerbsbehörde zurückführen lässt, unterliegt dabei angesichts der auf den Kartellrechtsverstoß beschränkten Bindungswirkung den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen; diese Voraussetzungen sind also vom Kläger darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen.377 Festzuhalten bleibt, dass aus der territorial beschränkten Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden der räumlich beschränkte Anwendungsbereich der Bindungswirkung folgt. Er ergibt sich damit nicht etwa unmittelbar aus der Regelung über die Bindungswirkung selbst: Weder der Kartellschadensersatzrichtlinie noch der Regelung des § 33b GWB lässt sich eine solche Beschränkung entnehmen.378 Das Grundübel liegt vielmehr schon darin, dass es versäumt wurde, den einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden in einem System paralleler Zuständigkeiten unter der Kartellverfahrensverordnung zur effektiven Untersagung und Ahndung von grenzüberschreitenden Kartellrechtsverstößen eine exterritoriale Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit zu verleihen. Solange es den einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden verwehrt bleibt, die Auswirkungen eines kartellrechtlich relevanten Verhaltens auch auf angrenzenden mitgliedstaatlichen Auslandsmärkten in ihre Beurteilung miteinzubeziehen und das Verhalten auch insoweit zu untersagen und zu ahnden, bleibt damit auch das Instrument der Bindungswirkung in seiner räumlichen Reichweite beschränkt. 379 376 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 134 ff. 377 Näher zur Beschränkung der Bindungswirkung auf den in einer Entscheidung bejahten Kartellrechtsverstoß infra Kapitel 3 A. I. 3. 378 Erwägungsgrund 34 S. 6 Kartellschadensersatzrichtlinie verweist letztlich auch nur auf die (territorial beschränkte) Entscheidungszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden, wenn es dort heißt: „Die Wirkung der Feststellung sollte nur die Art der Zuwiderhandlung sowie ihre […] räumliche Dimension erfassen […], so wie sie von der Wettbewerbsbehörde oder der Rechtsmittelinstanz in Ausübung ihrer bzw. seiner Zuständigkeit festgestellt wurde.“ (Hervorhebung nur hier); auch die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle (BT-Drucks. 15/3640, S. 54) besagt letztlich nichts anderes: „Die Tatbestandswirkung reicht nur so weit, wie die Wirkung der Entscheidung der Wettbewerbsbehörde insbesondere in räumlicher Hinsicht. Die Bindungswirkung erfasst jeweils nur Wettbewerbsbeschränkungen, die Auswirkungen im Gebiet der Wettbewerbsbehörden haben.“ 379 Näher dazu, dass es sich de lege ferenda empfliehlt, den einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz eine grenzüberschreitende Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit zu verleihen, infra Kapitel 4 C. I.
Kapitel 3
Rechtsfolgen der Bindungswirkung Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich der Bindungswirkung bestimmt wurden, gilt es die Rechtsfolgenseite der Bindungswirkung in den Blick zu nehmen. Das dritte Kapitel unternimmt es zunächst, die in § 33b GWB angeordnete Bindung der Gerichte an den in einer vorangegangenen Entscheidung festgestellten Verstoß zu beleuchten. Im Anschluss soll auf die nach Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie ebenfalls mögliche Zulassung von Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten als bloßen prima facie-Beweis für das Vorliegen eines Verstoßes eingegangen werden, wie sie im Recht der allermeisten Mitgliedstaaten verankert wurde.
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
I.
Tatbestandswirkung oder Feststellungswirkung?
In § 33b S. 1 GWB heißt es, dass das Gericht „an die Feststellung des Verstoßes gebunden“ ist, wie sie in der bestandskräftigen Entscheidung getroffen wurde. Nach Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass ein in einer bestandskräftigen Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörden festgestellter Verstoß bei einer Klage auf Schadensersatz vor den nationalen Gerichten „als unwiderlegbar festgestellt gilt“. Wie lässt sich die ohne nähere Spezifizierung in § 33b S. 1 GWB angeordnete „Bindung des Gerichts“ ihrer Rechtsnatur nach qualifizieren? Ausweislich der Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle sollte seinerzeit mit der Regelung in § 33 Abs. 4 GWB a.F. eine „Tatbestandswirkung“ für follow on-Klagen eingeführt werden.1 Im Schrifttum ist teils ebenfalls von
1 Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 54: „Mit der Vorschrift wird eine Tatbestandswirkung für sog. Follow-on-Klagen eingeführt.“ In der Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle ist dagegen nunmehr ausdrücklich von einer Feststellungswirkung die Rede, siehe die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BTDrucks. 18/10207, S. 82 (im Zusammenhang mit der Mitteilung von Bußgeldentscheidungen auf den Internet-Seiten des Bundeskartellamtes nach § 53 Abs. 5 GWB).
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
einer Tatbestandswirkung,2 überwiegend hingegen von einer Feststellungswirkung die Rede,3 ohne dass im Einzelnen immer Klarheit darüber bestünde, was hiermit jeweils genau gemeint ist.4 Mitunter werden die Begriffe auch synonym verwendet.5 Mit der Verwendung dieser Begriffe werden indes überwiegend unterschiedliche Auffassungen über den Umfang der gewährten Bindungswirkung geknüpft: Während diejenigen, die von einer Tatbestandswirkung sprechen, die gewährte Bindungswirkung regelmäßig als auf den Entscheidungstenor beschränkt ansehen,6 nehmen die Stimmen, die bewusst von einer Feststellungswirkung sprechen, auch eine Bindung an die der Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen an.7 2 Siehe nur Lübbig, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 107; Lübbig / le Bell, WRP 2006, 1209 (1212); Meyer, GRUR 2006, 27 (29 f.); Hempel, WuW 2005, 137 (142 f.); Hartog / Noack, WRP 2005, 1396 (1404); Lahme, Die Eignung des Zivilverfahrens zur Durchsetzung des Kartellrechts, 2010, 88. 3 Siehe etwa Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 40 Rn. 23; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 89; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 161; Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1786; Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1152 f.); Dreher, ZWeR 2008, 325 (327 ff.); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 255; Klose, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 53 Rn. 136; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 201; Berrisch / Burianski, WuW 2005, 878 (282 Fn. 30); Schütt, WuW 2004, 1124 (1131). 4 Ein terminologisches Durcheinander beklagen etwa Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (172); Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 138 f.; Dreher, ZWeR 2008, 325 (328), Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 426 f.; Weitbrecht, NJW 2012, 881 (882); wegen der divergierenden Begriffsverständnisse verzichtet Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 410 f. Fn. 1500, gänzlich auf die Verwendung der Begriffe Tatbestands- und Feststellungswirkung und spricht stattdessen unter Verzicht auf eine weitere Differenzierung schlicht von Bindungswirkung; vgl. auch Zöttl / Schlepper, EuZW 2012, 573 (574): „Ob man sie [= die Bindungswirkung] als ‚Tatbestandswirkung im weiteren Sinn‘ oder als ‚Feststellungswirkung‘ bezeichnet, ist letztlich ein Streit um des Kaisers Bart, weil die Verortung vom jeweiligen Vorverständnis dieser Begriffe abhängig ist.“ 5 Vgl. (in der Vorauflage) Rehbinder in Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 2. Aufl. 2009, § 33 GWB Rn. 54: „Von besonderer Bedeutung für Folgeklagen ist die in § 33 Abs. 4 geregelte Feststellungswirkung (Tatbestandswirkung) von Entscheidungen über das Vorliegen eines Verstoßes.“ Mittlerweile ist dort nur noch von Feststellungswirkung die Rede, Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 73. 6 Meyer, GRUR 2006, 27 (30): „Nur wenn die Kartellbehörde den Verstoß gegen kartellrechtliche Vorschriften tenoriert, kann § 33IV GWB die Zivilgerichte binden“; ebenso Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 168 f., 173 f., der die Ausführungen in den Gründen aber zur Auslegung und Präzisierung des Entscheidungssatzes heranziehen möchte; siehe ferner Burrichter / Ahlenstiel, in: Lowe / Marquis, 2014, 95 (96): „[…] the binding effect of section 33(4) ARC is limited to the operative parts of the decision […].“
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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Der terminologischen Verwirrung um die Begriffe der Tatbestands- und Feststellungswirkung soll zunächst mittels Begriffsbestimmungen begegnet werden. Auf dieser Grundlage ist sodann der Frage nach der richtigen Einordnung der Bindungswirkung nachzugehen. Schließlich ist die auf den Kartellrechtsverstoß beschränkte inhaltliche Reichweite der angeordneten Bindung zu beleuchten. 1. Begriffsbestimmungen a) Tatbestandswirkung Dem Begriff der Tatbestandswirkung werden in Zivilprozess- und Verwaltungsrechtslehre recht unterschiedliche Begriffsinhalte beigelegt, wobei gerade innerhalb der Verwaltungsrechtslehre kein einheitlicher Sprachgebrauch herrscht.8 Mancher spricht gar davon, dass sich die Begriffsbedeutung in einem „heillosen Meinungswirrwarr“9 verliere. Diese Mehrdeutigkeit ist darauf zurückzuführen, dass der ursprünglich in der Zivilprozesslehre mit klar umrissenem Inhalt entwickelte Begriff der Tatbestandswirkung10 bei seiner Übernahme in den verwaltungsrechtlichen Sprachgebrauch von seinem zivilprozessualen Ursprung gelöst wurde und einen starken Bedeutungswandel erfahren hat.11
7 So etwa Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 40 Rn. 23; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 89; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (174); Dreher, ZWeR 2008, 325 (328 f.); Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1786; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 133; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 255; Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1152 ff.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 201; Schütt, WuW 2004, 1124 (1131). 8 Siehe etwa die Bestandsaufnahmen bei Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 105; Clausing, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 31. EL 2016, § 121 VwGO Rn. 38; Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (226); Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (177 f.); Randak, JuS 1992, 33 (35). 9 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 69. 10 Der Begriff der Tatbestandswirkung geht zurück auf Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, 626; vgl. Kuttner, Die privatrechtlichen Nebenwirkungen der Zivilurteile, 1908, 4; J. Goldschmidt, AcP 117 (1919), 1 (12); Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, 1956, 58 Fn. 1; Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (225); Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (177 Fn. 43). 11 Die Dogmatik zur Bindungswirkung von Verwaltungsakten wurde geprägt von der (bereits früher entwickelten) Dogmatik der Bindungswirkungen von (zivil-)gerichtlichen Urteilen. Auch die Handlungsform des Verwaltungsaktes selbst wurde in Parallele zum gerichtlichen Urteil entwickelt. Diese Entlehnung findet ihren Ausdruck bereits bei Otto Mayer, dem „Erfinder“ des Verwaltungsaktes, der zu Beginn seiner Ausführungen über den Verwaltungsakt schreibt: „Sein Vorbild ist das gerichtliche Urteil“, O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 3. Aufl. 1924, 93; dazu etwa Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 249; Schroeder, DÖV 2009, 217 (217 f.).
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
aa) Tatbestandswirkung im engeren Sinn In der Zivilprozesslehre bezeichnet der Begriff der Tatbestandswirkung nach vorherrschendem Sprachgebrauch, dass die Existenz eines Urteils Voraussetzung (= Tatbestandsmerkmal) für den Eintritt einer meist materiell-rechtlichen Rechtsfolge ist.12 Synonym wird auch von Neben- oder Reflexwirkung gesprochen,13 da an das Vorhandensein eines Urteils mehr oder weniger zufällig wie an ein beliebiges anderes Tatbestandsmerkmal angeknüpft wird, ohne dass die eintretende Rechtsfolge Gegenstand des Urteils selbst ist oder bestimmungsgemäß mit diesem eintritt. Die nach der jeweiligen Rechtsnorm eintretende Rechtsfolge tritt also nur neben den mit dem Urteil bezweckten Wirkungen wie der materiellen Rechtskraft, Vollstreckbarkeit oder Gestaltungswirkung ein.14 Wenn etwa gemäß § 775 Abs. 1 Nr. 4 BGB der Bürge vom Hauptschuldner Befreiung von der Bürgschaft verlangen kann, „wenn der Gläubiger gegen den Bürgen ein vollstreckbares Urteil auf Erfüllung erwirkt hat“, so hat dieser Befreiungsanspruch des Bürgen gegenüber dem Hauptschuldner keinen inhaltlichen Bezug zum Urteilsausspruch selbst. Er entsteht nur als Nebenfolge davon, dass der Bürge dem Gläubiger gegenüber zur Erfüllung verurteilt wurde. Die Existenz des Urteils ist mithin zum Tatbestandsmerkmal des § 775 Abs. 1 Nr. 4 BGB erhoben, der daran die Entstehung eines Befreiungsanspruchs des Bürgen knüpft.15 Als weiteres Beispiel sei die Vorschrift des § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB erwähnt, wonach ein rechtskräftig festgestellter Anspruch erst in dreißig Jahren verjährt. Auch die Verjährungsverlängerung ist keine Rechtsfolge, die bereits aus dem Urteil selbst folgt oder bestimmungsgemäß mit diesem eintritt. Vielmehr ergibt sich die Verjährungsverlängerung erst als materiell-rechtliche Nebenfolge aus der Regelung in § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB, die an das Vorhandensein eines Urteils diese Rechtsfolge anknüpft.16 12 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 149 Rn. 6; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 2014, 908; Gaul, in: FS Zeuner, 1994, 317 (317); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 133; Lüke, JuS 2000, 1042 (1042, 1046); Saenger, in: Saenger, ZPO, 7. Aufl. 2017, § 322 ZPO Rn. 5; Schütt, WuW 2004, 1124 (1131). 13 Gaul, in: FS Zeuner, 1994, 317 (317); Kuttner, Die privatrechtlichen Nebenwirkungen der Zivilurteile, 1908, 1 ff.; J. Goldschmidt, AcP 117 (1919), 1 (7); Nicklisch, Die Bindung der Gerichte an gestaltenden Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte, 1965, 41 f.; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 71 Fn. 19 m. w. N. 14 Nicklisch, Die Bindung der Gerichte an gestaltenden Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte, 1965, 42; Kuttner, Die privatrechtlichen Nebenwirkungen der Zivilurteile, 1908, 4; Gaul, in: FS Zeuner, 1994, 317 (317). 15 Vgl. Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 149 Rn. 6; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 2014, 909. 16 Vgl. bereits Kuttner, Die privatrechtlichen Nebenwirkungen der Zivilurteile, 1908, 115 ff.; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 2014, 909.
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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In getreuer Übertragung wird der Begriff der Tatbestandswirkung zum Teil auch im verwaltungsrechtlichen Schrifttum gebraucht, um auszudrücken, dass nach materiellem Recht die Existenz eines (wirksamen) Verwaltungsaktes tatbestandliche Voraussetzung für den Eintritt von Rechtsfolgen ist.17 Hierfür wird vielfach auch der Begriff der Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes im engeren Sinne verwendet.18 In Parallele zu dem in der Zivilprozesslehre vorherrschenden Bedeutungsgehalt geht es also um (Neben-)Wirkungen, die sich nicht bereits aus dem Inhalt oder Wesen des Verwaltungsaktes ergeben, sondern aufgrund gesetzlicher Anordnung an den Verwaltungsakt geknüpft werden.19 Wenn etwa das öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnis eines Referendars aufgrund gesetzlicher Anordnung mit Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung über das Bestehen oder endgültige Nichtbestehen der zweiten juristischen Staatsprüfung endet,20 so handelt es sich hierbei um einen Fall der Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes im engeren Sinn.21 bb) Tatbestandswirkung im weiteren Sinn Die beschriebene enge Begriffsbedeutung hat sich im verwaltungsrechtlichen Sprachgebrauch überwiegend von ihrem zivilprozessualen Ursprung gelöst und in der Folge einen Bedeutungswandel erfahren.22 So wird heute unter Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230); Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (177 f.); Randak, JuS 1992, 33 (35); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 154; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 283 f.; Schroeder, DÖV 2009, 217 (224 f.); vgl. auch Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 24 f., unter Verwendung des Begriffes „erweiterte besondere Tatbestandswirkung“; aus dem verwaltungsprozessualen Schrifttum etwa Clausing, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 31. EL 2016, § 121 VwGO Rn. 38. 18 Siehe etwa Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 71 ff.; Randak, JuS 1992, 33 (35); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 161 f.; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 283 f.; Schroeder, DÖV 2009, 217 (224 f.); Bumke, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, 2. Aufl. 2012, § 35 Rn. 213 Fn. 668; Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, Stand April 2015, § 43 VwVfG Rn. 34. 19 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 72 f.; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 24 f.; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 283 f.; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 161 f. 20 Siehe etwa § 40 Abs. 1 S. 3 und 4 Hamburgisches Juristenausbildungsgesetz. 21 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 157; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 24; a. A. Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (229 Fn. 49). 22 Hierzu Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 73 ff.; Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, 1956, 61 ff.; Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (177 f.); Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 284; eine erste 17
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
dem Begriff der Tatbestandswirkung in der Verwaltungsrechtslehre ganz überwiegend die Bindung der Behörden bzw. Gerichte an die mit einem Verwaltungsakt getroffene Regelung verstanden.23 Im Gegensatz zur Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes im engeren Sinn, geht es hier also um eine Bindung anderer Behörden bzw. Gerichte an den Inhalt eines Verwaltungsaktes.24 Entsprechend beschreibt das Bundesverwaltungsgericht die Tatbestandswirkung (im weiteren Sinne) wie folgt: „Die Tatbestandswirkung hat zum Inhalt, dass die durch den Verwaltungsakt für einen bestimmten Rechtsbereich getroffene Regelung als gegeben hingenommen werden muss […], mithin dass der Bescheid mit dem von ihm in Anspruch genommenen Inhalt von allen rechtsanwendenden Stellen (Behörden und Gerichten, letztere soweit sie nicht zur Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen den Bescheid berufen sind) zu beachten und eigenen Entscheidungen zugrunde zu legen ist.“25
Die so verstandene Tatbestandswirkung bedeutet für die Gerichte, dass diese ungeachtet ihrer Unabhängigkeit die Akte der Exekutive zu beachten haben, soweit deren Regelung nicht selbst Gegenstand der richterlichen Überprüfung ist.26 Diese Bindung ist letztlich Ausfluss der staatlichen Kompetenzordnung, in der Hoheitsbefugnisse auf verschiedene Organe verteilt werden und die eine gegenseitige Berücksichtigung des Regelungsgehalts von Akten anderer Organe miteinschließt, vorbehaltlich freilich einer Kompetenz zur Prüfung des betreffenden Aktes, wie im Falle der Prüfung eines Verwaltungsaktes im
Erweiterung des Begriffsinhalts der „Tatbestandswirkung“ im verwaltungsrechtlichen Sprachgebrauch gegenüber dem ursprünglichen zivilprozessualen Verständnis lässt sich auf die Arbeiten Kormanns zurückführen, der die Tatbestandswirkung um die Gestaltungswirkung konstitutiver Akte erweiterte, vgl. Kormann, AöR 30 (1913), 253 (255 ff.); Kormann, JöR 7 (1913), 1 (14); dazu Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, 1956, 61 ff.; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 74 ff.; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 284 Fn. 120. 23 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 19; Bumke, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, 2. Aufl. 2012, § 35 Rn. 213; Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, Stand April 2015, § 43 VwVfG Rn. 28; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (189); Kirchhof, NJW 1985, 2977 (2983); Merten, NJW 1983, 1993 (1997); Löwer, JuS 1980, 805 (806); zu diesem Begriffsverständnis eingehend Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 73 ff. 24 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 73; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 284; Schroeder, DÖV 2009, 217 (224 f.); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 162. 25 BVerwG 9.3.2005, 8 B 103/04, ZOV 2005, 186 (187). 26 Dies folgt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts normativ aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG, BVerwG 30.1.2003, 4 CN 14/01, NVwZ 2003, 742 (743); vgl. ferner Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (537).
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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Rahmen von Amtshaftungsprozessen.27 Die Bindung bleibt hierbei auf die mit dem Verwaltungsakt getroffene Regelung beschränkt, also auf die Rechtsfolgenanordnung wie sie im verfügenden Teil des Verwaltungsaktes, dem Entscheidungstenor, zum Ausdruck kommt. Nicht erfasst von der Bindung sind also die tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen der Behörde in den Entscheidungsgründen.28 Auf die so verstandene Tatbestandswirkung beschränkt sich die den Verwaltungsakten immanente29 Verbindlichkeit gegenüber anderen Behörden und Gerichten, es sei denn aufgrund besonderer gesetzlicher Anordnung ist ausdrücklich eine weitergehende Bindung normiert.30 Aus der Tatbestandswirkung einer kartellbehördlichen Abstellungsverfügung folgt demnach, dass ein Gericht die mit ihr getroffene Regelung als gegeben hinnehmen muss.31 Hat etwa die zuständige Kartellbehörde einer Partei die Durchführung eines wettbewerbswidrigen Vertrages untersagt und klagt sie auf Erfüllung, so hat das angerufene Zivilgericht die behördliche Verfügung zu beachten und kann der Klage nicht stattgeben.32 Bei einer durch den Vertragspartner geltend gemachten Schadensersatzklage erlangt die Abstellungsverfügung im Wege der Tatbestandswirkung indes keine Bedeutung. Ein direkter Widerspruch in den Rechtsfolgen ist zwischen behördlich verfügter Abstellung und Nichtstattgabe oder Stattgabe der Schadensersatzklage nicht denkbar. Wird die Schadensersatzklage abgewiesen, etwa weil der Kläger einen durch den Verstoß verursachten Schaden nicht hat nachweiKnöpfle, BayVBl. 1982, 225 (225, 230); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (173); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (537). 28 BVerwG 22.4.1994, 8 C 29/92, NJW 1995, 542 (547); vgl. auch BVerwG 27.6.1984, 6 C 78/82, NVwZ 1985, 115 (116); aus dem Schrifttum Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (189); Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, Stand April 2015, § 43 VwVfG Rn. 28; Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 299; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (172); Meyer, GRUR 2006, 27 (30); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 162; vgl. dazu auch Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 73 f. 29 Vgl. statt vieler nur Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 23 („Die Tatbestandswirkung ist reguläre Folge der äußeren und inneren Wirksamkeit des VA und in gewissem Sinn ein wesentlicher Bestandteil davon“). 30 So die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, siehe nur BVerwG 28.11.1986, 8 C 122-125/84, NVwZ 1987, 496 (497); BVerwG 22.4.1994, 8 C 29/92, NJW 1995, 542 (547); BVerwG 24.10.2001, 8 C 32/00, VIZ 2002, 352 (354); BVerwG 9.3.2005, 8 B 103/04, ZOV 2005, 186 (187). 31 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (173); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 224. 32 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (173); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 224; vgl. auch Bornkamm, ZWeR 2003, 73 (80 ff.); Bornkamm / Becker, ZWeR 2005, 213 (219). 27
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sen können, ist dies keine Entscheidung, welche die kartellbehördlich verfügte Untersagung berührt oder konterkariert.33 b) Feststellungswirkung Auch dem Begriff der Feststellungswirkung werden – je nach Zusammenhang – unterschiedliche Begriffsinhalte beigelegt.34 Ebenso wie der zunächst in der Zivilprozesslehre eingeführte Begriff der Tatbestandswirkung hat auch der Begriff der Feststellungswirkung bei der Übertragung vom zivilprozessualen in den verwaltungsrechtlichen Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel erfahren.35 aa) Feststellungswirkung im Sinne der Zivilprozesslehre In der Zivilprozesslehre wird die Wirkung der materiellen Rechtskraft eines Urteils, also die Maßgeblichkeit des Entscheidungsinhalts in jedem Verfahren, in dem dieselbe Rechtsfolge in Frage steht, mitunter auch als Feststellungswirkung bezeichnet.36 Mit den Worten von Jesch: „Die Lehre vom Zivilprozess versteht unter Feststellungswirkung (des Urteils) nichts anderes als die materielle Rechtskraft.“37 Indem nur die Entscheidung über den unmittelbaren Streitgegenstand in materielle Rechtskraft erwächst – also das Ergebnis des richterlichen Subsumtionsschlusses, nicht indes die Begründungselemente, die der Richter benötigt, um zu diesem Schluss zu kommen38 –, beschränkt sich hierauf auch der gegenständliche Umfang der Feststellungswirkung im Sinne der Zivilprozesslehre.
Bornkamm, ZWeR 2003, 73 (83); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (173); Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 224. 34 Zur mehrdeutigen Verwendung des Begriffs der Feststellungswirkung siehe etwa Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 105, 160; Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227); Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 127 ff. 35 Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, 1956, 65; vgl. auch Ipsen, Verwaltung 1984, 169 (178), der sich dafür ausspricht, dass der Begriff der Feststellungswirkung nicht auf Verwaltungsakte übertragen werden sollte. 36 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 149 Rn. 2; Gaul, in: FS Zeuner, 1994, 317 (317); Nicklisch, Die Bindung der Gerichte an gestaltenden Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte, 1965, 42; Heim, Die Feststellungswirkung des Zivilurteils, 1912, passim; J. Goldschmidt, AcP 117 (1919), 1 (7 f., 13). 37 Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, 1956, 65. 38 Siehe nur Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 153 Rn. 1 ff.; Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 2014, 911; Lüke, JuS 2000, 1042 (1044 f.). 33
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bb) Feststellungswirkung im Sinne der Verwaltungsrechtslehre Innerhalb der Verwaltungsrechtslehre hat der Begriff der Feststellungswirkung keine durchgängig einheitliche Festlegung seines Inhalts erfahren.39 So ist die Feststellungswirkung – in Anlehnung an den zivilprozessualen Sprachgebrauch – vereinzelt mit der materiellen Bestandskraft von Verwaltungsakten gleichgesetzt worden.40 Ferner wird die Feststellungswirkung mitunter auch als besonderes Attribut allein der feststellenden Verwaltungsakte verstanden.41 Vorherrschend wird in der Verwaltungsrechtslehre unter dem Begriff der Feststellungswirkung indes die Bindung an die einem Verwaltungsakt zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen oder rechtlichen Beurteilungen verstanden.42 Aus der Feststellungswirkung eines Verwaltungsaktes folgt demnach, dass der von ihr betroffene Entscheidungsträger daran gehindert wird, von den bindenden tatsächlichen Feststellungen oder rechtlichen Beurteilungen abzuweichen, wie sie die feststellungsberechtigte Stelle getroffen hat. Sie bewirkt also einen partiellen Entzug der kompetentiellen Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des von ihr betroffenen Entscheidungsträgers.43 Die Feststellungswirkung geht über die zuvor beschriebene Tatbestandswirkung im weiteren Sinn hinaus und bedarf daher nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer besonderen gesetzlichen Anordnung.44 Sie 39 Statt vieler siehe nur Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 105, 160; Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227); Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 127 ff. 40 Siehe die Hinweise bei Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227) und Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 128. 41 Vgl. BVerwG 8.6.1979, 4 C 23/77, NJW 1980, 1010; BVerwG 26.3.1976, IV C 7/74, NJW 1976, 1987 (1989); vgl. dazu auch Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227); Schroeder, DÖV 2009, 217 (222 f.); Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 128 f. m. w. N. 42 Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227, 229 f.); Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 129 f.; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 26; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 160; Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, Stand April 2015, § 43 VwVfG Rn. 36; Erichsen / Knoke, NVwZ 1983, 185 (189); Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 299 f.; Schroeder, DÖV 2009, 217 (225); Randak, JuS 1992, 33 (35 f.). 43 Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (174). 44 BVerwG 28.11.1986, 8 C 122-125/84, NVwZ 1987, 496 (497); BVerwG 22.4.1994, 8 C 29/92, NJW 1995, 542 (547); BVerwG 24.10.2001, 8 C 32/00, VIZ 2002, 352 (354); BVerwG 9.3.2005, 8 B 103/04, ZOV 2005, 186 (187); aus dem Schrifttum Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230); Bumke, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, 2. Aufl. 2012, § 35 Rn. 219; Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 130; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 160; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 27; Clausing, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 31. EL 2016, § 121 VwGO Rn. 39; Schroeder, Bin-
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kann ferner nur bei eindeutigem Wortlaut der betreffenden Vorschrift angenommen werden.45 Inwieweit ein Entscheidungsträger im Wege der Feststellungswirkung gebunden wird, folgt ausschließlich aus der betreffenden gesetzlichen Anordnung.46 Dieser Begriffsinhalt der Feststellungswirkung hat sich in Bezug auf die Bindungswirkung von Verwaltungsakten weitgehend durchgesetzt und soll daher auch dieser Untersuchung zugrunde gelegt werden. 2. Auslegung des § 33b GWB im Lichte von Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie a) Kein Fall der Tatbestandswirkung im engeren Sinn Legt man die vorangegangenen Begriffsbestimmungen zugrunde, ist zunächst festzustellen, dass § 33b GWB i.V.m. Art. 9 Kartellschadensersatzrichtlinie ersichtlich keinen Fall der Tatbestandswirkung im engeren Sinn regelt.47 Der Erlass einer bestandskräftigen kartellbehördlichen Entscheidung ist nicht Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch, dies ist vielmehr der gegebenenfalls bindend festgestellte Kartellrechtsverstoß.48 Die bestandskräftige kartellbehördliche Entscheidung ist zwar Voraussetzung für eine Bindung des Zivilgerichtes, allerdings nicht im Sinne einer tatbestandlichen Voraussetzung für eine an die Entscheidung geknüpfte gesetzliche Nebenfolge, die keinen inhaltlichen Bezug zum Inhalt oder Wesen der Entscheidung aufweist. Es geht gerade um eine inhaltliche Bindung an die kartellbehördliche Entscheidung, nämlich um eine Bindung an den darin festgestellten Kartellrechtsverstoß. b) Kein Fall der Tatbestandswirkung im weiteren Sinn Die angeordnete Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen kann auch nicht als Tatbestandswirkung im weiteren Sinn verstanden werden. Hiergegen spricht bereits, dass die Gerichte an eine im verfügenden Teil eines dungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 300; Schroeder, DÖV 2009, 217 (225). 45 Vgl. BVerwG 27.6.1984, 6 C 78/82, NVwZ 1985, 115 (116); Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, 130; Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (227, 230); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 164. 46 Schroeder, Bindungswirkungen von Entscheidungen nach Art. 249 EG im Vergleich zu denen von Verwaltungsakten nach deutschem Recht, 2006, 301; Schroeder, DÖV 2009, 217 (225); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (537); Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 43 VwVfG Rn. 27; Schemmer, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, Stand April 2015, § 43 VwVfG Rn. 36. 47 Vgl. Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 168; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 133; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 255; Schütt, WuW 2004, 1124 (1131). 48 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 133; Weitbrecht, WuW 2017, 244 (245).
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Verwaltungsaktes getroffene Regelung bereits ohnehin gebunden sind,49 sodass sie an sich schon keiner besonderen gesetzlichen Anordnung bedürfte,50 zumindest was die Entscheidungen der eigenen Kartellbehörde anbelangt.51 Eine Beschränkung der Bindungswirkung auf Fälle, in denen die Feststellung eines Verstoßes in den Entscheidungstenor aufgenommen wurde, lässt sich darüber hinaus weder dem Wortlaut entnehmen noch entspräche eine derartige Beschränkung dem Zweck der angeordneten Bindungswirkung. So heißt es im Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften, dass das Gericht „an die Feststellung des Verstoßes gebunden“ ist, „wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung […] getroffen wurde“ (§ 33b GWB), bzw. dass die „in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde […] festgestellte Zuwiderhandlung“ vor einem nationalen Gericht als unwiderlegbar festgestellt gilt (Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie). Nach dem Wortlaut ist also schlicht erforderlich, dass die Feststellung des Verstoßes in einer „Entscheidung“ getroffen wurde. Für die Annahme, dass die Feststellung gerade im Tenor der Entscheidung aufgenommen sein müsste, lassen sich weder dem Wortlaut des § 33b GWB noch des Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie Anhaltspunkte entnehmen.52 Eine derartige Beschränkung widerspräche, wie der BGH in seiner Lottoblock II-Entscheidung in Bezug auf § 33 Abs. 4 GWB a.F. ausdrücklich festgestellt hat,53 vor allem aber dem Zweck der Bindungswirkung: Mit der Bindungswirkung soll der Kläger vom Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes im Zivilprozess befreit werden, wenn eine Kartellbehörde hierzu bereits bestandskräftig entschieden hat.54 Es ist nicht ersichtlich, warum es hierfür darauf ankommen sollte, dass die Feststellung des Verstoßes in den Tenor der Entscheidung aufgenommen wurde.55 Im Falle etwa einer Abstellungsverfügung nach Dazu supra Kapitel 3 A. I. a. bb). BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 14 – Lottoblock II; Dreher, ZWeR 2008, 325 (328 f.); Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (538). 51 Zur Frage einer Anerkennungspflicht in Bezug auf Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten infra Kapitel 3 A. V. 1. 52 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 132 (zu § 33 Abs. 4 GWB a. F.); vgl. auch Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 42: „Positiv wirkt dabei auch, dass sich die Bindungswirkung nach dem Gesetzesvorschlag offenbar unabhängig davon entfalten soll, ob die Feststellung des Kartellverstoßes Ziel der behördlichen Entscheidung ist oder inzidenter im Rahmen einer Untersagungs- oder sonstigen Verfügung erfolgt.“ Vgl. ferner Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 167, der die Bindungswirkung im Ergebnis gleichwohl auf den Tenor kartellbehördlicher Entscheidungen beschränkt wissen will. 53 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 13 – Lottoblock II. 54 Näher zum maßgeblichen Zweck der Bindungswirkung supra Kapitel 1 C. II. 2. 55 So auch G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 132. 49 50
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§ 32 Abs. 1 GWB würde die Bindungswirkung davon abhängen, ob neben der Verpflichtung des Delinquenten zur Abstellung des Kartellrechtsverstoßes auch die Feststellung des Verstoßes mit in den Tenor aufgenommen wurde,56 was zur Klarstellung möglich und üblich, aber keineswegs zwingend erforderlich ist.57 Es kann kaum bezweifelt werden, dass nach dem Zweck der Regelung eine Abstellungsverfügung in beiden Fällen Bindungswirkung entfalten soll. Wurde die Bindungswirkung nach § 33 Abs. 4 GWB a.F. vor Erlass der Kartellschadensersatzrichtlinie unter Hinweis auf die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, in der von der Einführung einer „Tatbestandswirkung“ für follow on-Klagen die Rede ist, 58 mitunter als Tatbestandswirkung im weiteren Sinn qualifiziert und auf den Entscheidungstenor beschränkt,59 so vermochte diese Auslegung bereits vor dem Hintergrund der mit der Bindungswirkung intendierten Förderung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen kaum zu überzeugen.60 Diese Auslegung hat der BGH in seiner Lottoblock IIEntscheidung für § 33 Abs. 4 GWB a.F. denn auch ausdrücklich abgelehnt und stattdessen eine umfassende Feststellungswirkung bejaht.61 Erst recht verbietet sich dieses Auslegungsergebnis im Zuge einer nunmehr gebotenen richtlinienkonformen Auslegung: Zwar fand eine dahingehende, noch in den Erwägungsgründen des Richtlinienvorschlags aus dem Jahre 2013 enthaltene Klarstellung62 keinen Eingang in die Kartellschadensersatzrichtlinie. Jedoch folgt bereits aus dem mit der Richtlinie verfolgten Regelungsziel, die Geltendmachung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 132. 57 Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 27a; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 43 Rn. 8; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 9; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 20; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 132. 58 Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 54. 59 Meyer, GRUR 2006, 27 (29 f.); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 168 ff. 60 Statt vieler nur Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 426 f.; selbst Meyer, der eine auf den Tenor beschränkte Bindungswirkung annimmt, räumt ein, dass eine Feststellungswirkung für den Kläger „bei weitem hilfreicher als die Anordnung einer bloßen Bindung an den Tenor“ wäre, Meyer, GRUR 2006, 27 (30). 61 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 12 ff. – Lottoblock II. 62 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, COM(2013) 404 final, Erwägungsgrund 25 S. 4: „Diese Wirkung von Entscheidungen einzelstaatlicher Wettbewerbsbehörden und Rechtsbehelfsgerichte, in denen eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften festgestellt wird, sollte für den verfügenden Teil und die Erwägungsgründe der Entscheidung gelten.“ (Hervorhebung nur hier). 56
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zu erleichtern, dass sowohl der verfügende Teil als auch die Gründe einer Entscheidung an der Bindungswirkung teilnehmen müssen. Eine Beschränkung auf Entscheidungen, in denen die Feststellung des Verstoßes in den Tenor aufgenommen wurde, widerspräche diesem Regelungsziel, würde doch die Bindungswirkung in ihrer Reichweite erheblich eingeschränkt, da detaillierte Feststellungen zum Verstoß erst in den Gründen der Entscheidung getroffen werden. Eine auf den Entscheidungstenor beschränkte Bindung würde damit selbst in Fällen, in denen der Verstoß tenoriert wurde, die intendierte Entlastung des follow on-Klägers beim Nachweis des Verstoßes erheblich schmälern. In der Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle ist denn nun auch ausdrücklich von einer Feststellungswirkung die Rede.63 c) Ergebnis: § 33b GWB als Anordnung einer Feststellungswirkung Mit § 33b GWB wird eine Feststellungswirkung angeordnet. Für eine Bindung des Gerichts kann es nach dem Vorgesagten nämlich nicht darauf ankommen, ob die Feststellung des Verstoßes in den Entscheidungstenor aufgenommen wurde oder ob sich der Verstoß erst aus den tragenden Gründen der Entscheidung ergibt. Maßgeblich ist allein, dass aus der Entscheidung unmissverständlich hervorgeht, dass das beanstandete Verhalten einen Kartellrechtsverstoß darstellt.64 Die Bindungswirkung erstreckt sich demzufolge auf die gesamte Entscheidung, wobei die bindende Feststellung des Verstoßes sowohl die tatsächlichen Feststellungen zum Verstoß als auch deren rechtliche Bewertung als Verstoß umfasst.65
63 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 82 (im Zusammenhang mit der Mitteilung von Bußgeldentscheidungen auf den Internet-Seiten des Bundeskartellamtes nach § 53 Abs. 5 GWB). 64 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 132; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 169; vgl. dahingehend bereits Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 42. 65 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 12, 14 – Lottoblock II; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541); Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 39; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeitsund Kartellrecht, 2010, 427; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 96; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 169; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (151); Möllers, Europa e Diritto Privato 2014, 821 (834); Schütt, WuW 2004, 1124 (1131); vgl. auch Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 145: „A rule providing that national courts in civil proceedings for damages will accept the findings in NCA decisions [… would avoid …] relitigation of legal and factual issues that were already decided in the proceedings before the NCA“ (Hervorhebung nur hier).
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3. Beschränkung der Feststellungswirkung auf den Kartellrechtsverstoß Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass mit der Bindungswirkung in der Sache eine Feststellungswirkung angeordnet wird. Damit ist noch nicht gesagt, wie weit die Feststellungswirkung inhaltlich reicht. Diese Frage ist – zumindest auf den ersten Blick66 – rasch beantwortet: Die Feststellungswirkung bezieht sich allein auf den Kartellrechtsverstoß.67 Sie erfasst damit alle im vorangegangenen Verfahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die den Lebenssachverhalt bilden, bezüglich dessen ein Verstoß bejaht wurde, und die seine rechtliche Einordnung als Verstoß tragen.68 Die tatsächlichen Ausführungen zum Verstoß, die an der Feststellungswirkung teilhaben, gilt es dabei präzise anhand der in der bindenden Entscheidung getroffenen Feststellungen zu ermitteln.69 Dies sind zunächst alle Feststellungen, welche die objektive Tatseite des Verstoßes betreffen, bei einem Verstoß gegen das Kartellverbot also die Vereinbarung bzw. aufeinander abgestimmte Verhaltensweise, die bezweckte bzw. bewirkte Wettbewerbsbeschränkung, deren Spürbarkeit und gegebenenfalls auch die Geeignetheit zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.70 Umgekehrt fallen aus der Feststel66 Siehe aber sogleich zur teils schwierigen Grenzziehung zwischen bindungsfähigen und nicht bindungsfähigen Entscheidungsinhalten infra Kapitel 3 A. I. 3. a). 67 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (399); Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 169; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 33 GWB Rn. 42; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 96; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (534); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 255 f.; Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 43; Dreher, ZWeR 2008, 325 (327); aus der Rechtsprechung etwa OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris, Rn. 90 – Fernsehwerbezeiten; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 61; LG Düsseldorf 19.11.2015, 14d O 4/14, juris, Rn. 190, 193 – AutoglasKartell; vgl. auch Enron Coal Services Ltd (in liquidation) v English Welsh & Scottish Railway Ltd, [2011] EWCA Civ 2, Rn. 50 ff.; darin betonte der Court of Appeal, dass sich Section 58A UK Competition Act (1998) allein auf den festgestellten Verstoß erstreckt; dazu Woodgate / Filippi, E.C.L.R. 2012, 175 (176 ff.); vgl. ferner EuGH 6.11.2012, Rs. C199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 65 f. (Entscheidungen der Kommission und deren Bindungswirkung betreffend). 68 BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 14 – Lottoblock II; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541). 69 Vgl. auch Enron Coal Services Ltd (in liquidation) v English Welsh & Scottish Railway Ltd, [2011] EWCA Civ 2, Rn. 56: „the party seeking to rely on a finding must be able to demonstrate that the regulator has made a clearly identifiable finding of fact to a given effect, and it is not enough to be able to point to passages in the decision from which a finding of fact might arguably be inferred“ (zu Section 58 UK Competition Act (1998)); dazu aus dem Schrifttum Woodgate / Filippi, E.C.L.R. 2012, 175 (176 ff.); Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 335. 70 Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 108; vgl. auch die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 56: „Von der Bin-
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lungswirkung solche Ausführungen heraus, die für die rechtliche Einordnung als Verstoß nicht konstitutiv sind.71 Neben dem Lebenssachverhalt, der für die rechtliche Einordnung als Verstoß maßgeblich ist, liegen etwa Ausführungen zur Vorgeschichte eines Verstoßes, zu Vorwürfen, deren Verfolgung eingestellt worden war, oder aber Ausführungen zu vorangegangenen Taten.72 Da sich die Feststellungswirkung allein auf den Kartellrechtsverstoß bezieht, unterliegen alle weiteren Voraussetzungen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs, insbesondere die Kausalität des Kartellrechtsverstoßes für den geltend gemachten Schaden und die Schadensbezifferung, weiterhin den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen.73 Der Kläger hat diese Voraussetzungen also darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. An etwaige Ausführungen der Kartellbehörde hierzu ist das Zivilgericht nicht gebunden. Für den Fall, dass tatsächliche Feststellungen zum Verstoß ausnahmsweise zugleich auch im Rahmen weiterer Fragen relevant werden, das heißt bei sog. doppelrelevanten Tatsachen,74 ist indes davon auszugehen, dass die Feststellungswirkung auch insoweit greift. Es wäre nämlich widersprüchlich, einmal davon auszugehen, dass eine bestimmte Tatsache bewiesen ist, in einem anderen Zusammenhang aber hinsichtlich derselben Tatsache einen Beweisantritt des Klägers zu verlangen. Gegen ein entsprechend enges Verständnis spricht schließlich das Bestreben einer möglichst effizienten Verzahnung von behördlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung, die auch und gerade dadurch erzielt wird, dass doppelte Verfahren bzw. Feststellungen vermieden werden.75
dungswirkung erfasst sind die Feststellungen zu sämtlichen Tatbestandsmerkmalen, deren Verwirklichung den Verstoß begründet und zu denen die Behörde oder das Gericht in seiner Entscheidung Feststellungen getroffen hat.“ 71 Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111. 72 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541). 73 OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris, Rn. 90 – Fernsehwerbezeiten; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 61; siehe auch die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 54: „Die Tatbestandswirkung [sic!] bezieht sich allein auf die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes. Alle weiteren Fragen, insbesondere zur Schadenskausalität und zur Schadensbezifferung, unterliegen der freien Beweiswürdigung des Gerichts“; aus dem Schrifttum statt vieler nur Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 108; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (534, 539 f.). 74 So sind etwa Feststellungen zur Marktabgrenzung nicht nur für das Vorliegen eines Verstoßes selbst relevant – dazu sogleich infra Kapitel 3 A. I. 3. a) aa) –, sondern können darüber hinaus auch Bedeutung für die Höhe möglicher Schäden erlangen, Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 108. 75 So zu Recht Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541 f.); dazu, dass der Feststellungswirkung (auch) Erwägungen der Prozessökonomie zugrunde liegen, bereits supra Kapitel 1 C. II.
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a) Grenzziehung zwischen bindungsfähigen und nicht bindungsfähigen Entscheidungsinhalten Auch wenn die Feststellungswirkung nach dem Vorgesagten ohne Zweifel auf den Kartellrechtsverstoß beschränkt bleibt, kann die Grenzziehung zwischen bindungsfähigen und nicht bindungsfähigen Entscheidungsinhalten im Einzelfall schwierig sein. Bei einigen Fragestellungen ist nicht ohne weiteres klar, ob sie von der auf den Kartellrechtsverstoß beschränkten Feststellungswirkung erfasst werden.76 Dies betrifft namentlich die Frage der Marktabgrenzung, die Betroffenheit des Klägers vom Verstoß, sowie etwaige Ausführungen zur subjektiven Tatseite, das heißt zum Verschulden. Die maßgebliche Frage lautet dabei stets, ob Feststellungen der Kartellbehörde hierzu noch zur „Feststellung des Verstoßes“ gehören. aa) Marktabgrenzung Die europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 und 102 AEUV wie auch die entsprechenden Verbotstatbestände des GWB weisen einen Marktbezug auf.77 Entsprechend enthalten die Entscheidungen, die zu ihrer Durchsetzung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden getroffen werden, in aller Regel Ausführungen zur Marktabgrenzung.78 Setzen die kartellrechtlichen Verbotstatbestände eine Marktabgrenzung voraus, bildet diese also eine für die Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes zu beantwortende Vorfrage,79 so müssen Ausführungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde hierzu im Wege der Eingehend dazu auch Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (534 f., 543 ff.). Siehe dazu nur Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 6 Rn. 756 ff.; Füller, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 1033 ff.; Jones / Sufrin, EU Competition Law, 5. Aufl. 2014, 62 ff.; Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (544); vgl. für die europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 und 102 AEUV auch die Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372, 5 Rn. 2, 11; dazu Baker / Wu, E.C.L.R. 1998, 273 (273 ff.). 78 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (544). 79 Vgl. im Hinblick auf die Art. 101 und 102 AEUV nur Füller, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. 1036, 1038, sowie die Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372, 5 Rn. 2, 11; vgl. allerdings dazu, dass die Abgrenzung des relvanten Marktes bei Art. 101 AEUV „nicht dieselbe Rolle spielt“ wie bei Art. 102 AEUV, bei dem „die angemessene Definition des relevanten Marktes notwendig jeder Beurteilung eines angeblich wettbewerbswidrigen Verhaltens vorauszugehen [hat]“, wohingegen bei Art. 101 AEUV der relevante Markt nur dann notwendig abzugrenzen ist, wenn ein Verstoß „ohne eine solche Abgrenzung nicht bestimmt werden kann“, EuG 6.7.2000, Rs. T62/98, Volkswagen, EU:T:2000:180, Rn. 230 f.; in der Praxis unterbleibt daher mitunter in unproblematischen Fällen bei Art. 101 AEUV eine Marktabgrenzung, Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 6 Rn. 757; vgl. auch EuG 16.6.2011, Rs. T-199/08, Ziegler, EU:T:2011:285, Rn. 41 ff. 76 77
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Feststellungswirkung auch das über eine kartellrechtliche Schadensersatzklage befindende Zivilgericht binden.80 Denn genauso wie ein Verstoß grundsätzlich nicht losgelöst von einem bestimmten Markt festgestellt werden kann, ergibt freilich auch die Feststellungswirkung nur Sinn, wenn der festgestellte Verstoß zu einem bestimmten Markt in Beziehung gesetzt werden kann.81 Dies trifft neben der Frage des räumlich relevanten Marktes, wie er bereits bei der Frage des Anwendungsbereichs der Bindungswirkung in räumlicher Hinsicht zu erörtern war,82 selbstverständlich auch auf den sachlich relevanten Markt zu. Dessen ungeachtet sah sich das OLG München in seiner Entscheidung über die kartellrechtliche Schadensersatzklage eines Fernsehsenders an die in einem vorausgegangenen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamtes festgestellte Abschottungswirkung von Rabattsystemen der beklagten Vermarktungsgesellschaften für Fernsehwerbezeiten zulasten kleinerer Sender nicht gebunden. Der sachlich relevante Markt, so das Gericht, sei falsch abgegrenzt worden, sodass der Kläger vom Verstoß nicht betroffen sei; an die durch das Bundeskartellamt vorgenommene Marktabgrenzung sei es nicht gebunden.83 Von einem einheitlichen Fernsehwerbemarkt, auf dem große und kleine Sender im Wettbewerb stehen, könne nämlich – entgegen den Feststellungen des Bundeskartellamtes – deshalb nicht ausgegangen werden, weil die angebotenen Produkte nicht austauschbar seien.84 Das Urteil des OLG München ist zu Recht auf erhebliche Kritik gestoßen:85 Eine derart einschränkende Auslegung untergräbt im Ergebnis die angeordnete Feststellungswirkung und ist daher abzulehnen. Wie ein Urteil des OLG Nürnberg86 verdeutlicht, ist bei einem Verstoß gegen das Kartellverbot anhand der behördlichen Feststellungen zum sachlich relevanten Markt jeweils präzise zu ermitteln, ob die im follow on-Schadensersatzprozess in Rede stehenden Waren oder Dienstleistungen auch dem in 80 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (544 f.); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111; Weitbrecht, WuW 2017, 244 (246); vgl. auch Scheffler, NZKart 2015, 223 (227); so ausdrücklich auch die Regierungsbegründung zur 9. GWBNovelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 56: „Von der Bindungswirkung erfasst sind die Feststellungen zu sämtlichen Tatbestandsmerkmalen, deren Verwirklichung den Verstoß begründet und zu denen die Behörde oder das Gericht in seiner Entscheidung Feststellungen getroffen hat. Dazu gehören insbesondere auch die räumliche und sachliche Marktabgrenzung […]“ (Hervorhebung nur hier). 81 Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 108 ff. 82 Zum Anwendungsbereich der Bindungswirkung in räunlicher Hinsicht supra Kapitel 2 E. 83 OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris, Rn. 91 ff. – Fernsehwerbezeiten. 84 OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris, Rn. 93 ff. – Fernsehwerbezeiten. 85 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (544 f.); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 109 ff.; Scheffler, NZKart 2015, 223 (227). 86 OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris – Gelenkleiterfahrzeuge.
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der Entscheidung spezifiziertem Produkt bzw. der spezifizierten Produktgruppe unterfallen: So war im vorausgegangenen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamtes zwar in Bezug auf den Markt für „Feuerwehrfahrzeuge mit Drehleitern“ ein Kartellverstoß bejaht worden. Damit war, so das Gericht, indes kein Verstoß in Bezug auf den Markt für (die streitgegenständlichen) „Feuerwehrfahrzeuge mit Gelenkleitern“ bindend festgestellt,87 sodass die Feststellungswirkung in diesem Fall ins Leere laufen musste. bb) Betroffenheit Um nach § 33a Abs. 1 GWB Schadensersatz verlangen zu können, muss ein Kläger durch den geltend gemachten Kartellrechtsverstoß betroffen,88 das heißt als Mitbewerber oder sonstiger Marktbeteiligter durch den Verstoß beeinträchtigt sein.89 Im Schrifttum wie auch in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wurde mitunter verneint, dass mit dem Vorliegen einer bindenden kartellbehördlichen Entscheidung, die Ausführungen zu den Wirkungen des festgestellten Kartellrechtsverstoßes enthält, zugleich auch die Betroffenheit des Schadensersatzklägers als bindend festgestellt gelten kann.90 Außer Frage steht, dass aus einem festgestellten Kartellrechtsverstoß nicht ohne weiteres auf die Betroffenheit gerade des Schadensersatz begehrenden Klägers geschlossen werden kann. Im Einzelfall kann ein festgestellter Kartellrechtsverstoß jedoch auch die Feststellung mitumfassen, dass gerade der Kläger vom Verstoß betroffen ist.91 Letzteres ist zunächst der Fall, wenn eine kartellbehördliche Entscheidung notwendigerweise bestimmte Betroffene individualisiert, wie etwa beim Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in Behinderungsfällen, bei denen sich die missbräuchliche Verhaltensweise gegen bestimmte andere OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris, Rn. 68 ff. – Gelenkleiterfahrzeuge. G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 46, 170 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 222 f.; Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1154); vgl. dagegen Bulst, Schadenersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006, 113. 89 Vgl. § 33a Abs. 1 GWB i. V. m. § 33 Abs. 1 und 3 GWB; näher dazu G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 172 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 225 ff.; Roth, in: FS Huber, 2006, 1133 (1154 f.). 90 Scheffler, NZKart 2015, 223 (225); Fritzsche / Klöppner / Schmidt, NZKart 2016, 412 (416); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111, 131; Weitbrecht, WuW 2017, 244 (245); vgl. hierzu aus der Rechtsprechung OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 50 – Feuerwehrfahrzeuge; OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris, Rn. 90 f. – Fernsehwerbezeiten; vgl. auch LG Dortmund 21.12.2016, 8 O 90/14 (Kart), juris, Rn. 85 ff., 99 ff.; LG Dortmund 28.6.2017, 8 O 25/16 (Kart), juris, Rn. 64 ff. – Schienenkartell. 91 Vgl. BGH 12.7.2016, KZR 25/14, juris, Rn. 47 – Lottoblock II; aus dem Schrifttum überzeugend dazu Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (543 f.). 87 88
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Unternehmen richtet.92 Die Individualisierung der Betroffenen bildet hier Teil des für die rechtliche Einordnung als Kartellrechtsverstoß relevanten Lebenssachverhalts und wird damit von der Feststellungswirkung erfasst.93 Schwieriger liegt der Fall, wenn die durch den Verstoß Betroffenen in der Entscheidung nicht individualisiert werden, wie in aller Regel bei Verstößen gegen das Kartellverbot.94 Hier kann sich die Betroffenheit bestimmter Personen aber zumindest mittelbar aus der Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes ergeben. Die seitens einer Wettbewerbsbehörde vorgenommene Marktabgrenzung nimmt, wie dargelegt wurde, an der Feststellungswirkung teil.95 In der Folge sollte auch eine über den Marktbezug „nur“ mittelbar zu bestimmende Betroffenheit ausreichen, um die auf dem jeweiligen Markt Tätigen als Betroffene in die Feststellungswirkung miteinzubeziehen.96 Hierzu muss allerdings festgestellt sein, dass es sich um ein lückenlos und flächendeckend praktiziertes Kartell gehandelt hat, da andernfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Marktteilnehmer von den Wirkungen des Verstoßes nicht erreicht wurden oder bestimmte Beschaffungsvorgänge nicht kartellbefangen waren.97 Werden bestimmte Marktteilnehmer hiernach von der Feststellungswirkung erfasst, heißt das auch nur, dass ihnen gegenüber ein Kartellverstoß begangen wurde, nicht aber, dass ihnen dadurch auch ein Schaden entstanden ist; Fragen der Schadenskausalität und -höhe werden von der Feststellungswirkung nämlich gerade nicht erfasst.98 Wenn nach den vorgenannten Voraussetzungen die Feststellungswirkung hinsichtlich der (Kartell-)Betroffenheit dagegen nicht eingreift, folgt daraus nicht zugleich, dass die Ausführungen in einer bindenden Entscheidung für die Frage der Betroffenheit gar nicht relevant sein könnten. Der bindend festgestellte Sachverhalt zum Kartellrechtsverstoß kann in einem solchen Fall nämlich immer noch Anknüpfungspunkt für einen Anscheinsbeweis der (Kartell-)Betroffenheit bilden.99 Vgl. Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014, § 11 Rn. 8. So zu Recht Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (543). 94 Bei den für Schadensersatzklagen besonders relevanten Hardcore-Kartellen ist angesichts der durch diese regelmäßig verursachten Streuschäden, bei denen sich der Gesamtschaden auf eine Vielzahl von Geschädigten verteilt, eine Individualisierung der Betroffenen in der behördlichen Entscheidung schon praktisch kaum möglich, Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (543 f.). 95 Supra Kapitel 3 A. I. 3. a) aa). 96 So überzeugend Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (543 f.); vgl. dagegen aus der Rechtsprechung OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 50 – Feuerwehrfahrzeuge. 97 Vgl. dazu auch LG Berlin 16.12.2014, 16 O 384/13 Kart, juris, Rn. 50. 98 Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (544); dazu, dass die Feststellungswirkung Ausführungen zur Kausalität des Kartellrechtsverstoßes für einen Schaden sowie zur Schadensbezifferung nicht erfasst, bereits supra Kapitel 3 A. I. 3. 92 93
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cc) Verschulden Die Frage, ob neben den Feststellungen zur objektiven Tatseite auch etwaige Feststellungen zur subjektiven Tatseite eines Kartellrechtsverstoßes, wie sie bei Bußgeldbescheiden zwingend zu treffen sind,100 an der Feststellungswirkung teilhaben, wird unterschiedlich beantwortet.101 Die Frage stellt sich freilich nur dann, wenn das anwendbare Kartelldeliktsrecht ein Verschulden für einen Schadensersatzanspruch überhaupt voraussetzt.102 Im Rahmen eines Vgl. aus der Rechtsprechung etwa OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 50, 53 ff. – Feuerwehrfahrzeuge; OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris, Rn. 64 – Grauzementkartell; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 68 f.; LG Dortmund 21.12.2016, 8 O 90/14 (Kart), juris, Rn. 99 ff.; LG Dortmund 28.6.2017, 8 O 25/16 (Kart), juris, Rn. 64 ff. – Schienenkartell; LG Berlin 16.12.2014, 16 O 384/13 Kart, juris, Rn. 51; siehe hierzu aus dem Schrifttum Fritzsche / Klöppner / Schmidt, NZKart 2016, 412 (416); Thiede / Träbing, NZKart 2016, 422 (426 f.); Galle, NZKart 2016, 214 (216). 100 Voraussetzung für die Verhängung von Bußgeldern ist nach den betreffenden Bußgeldtatbeständen, dass der zu ahndende Verstoß vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, siehe nur § 81 GWB, § 29 öKartG oder aber Art. 23 VO Nr. 1/2003. Dazu, dass Bußgeldbescheide und sonstige Sanktionsentscheidungen im Zivilprozess ohne weiteres Bindungswirkung entfalten supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (4). 101 Bejahend Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 39; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 427; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 169; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163, 179 f.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 191; Soyez, KommJur 2010, 41 (43); so offenbar auch OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 46 – Feuerwehrfahrzeuge: „Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass nach § 33 Abs. 4 GWB n. F. feststeht, dass die Beklagte zwischen Oktober 1998 und Mai 2009 gemeinschaftlich mit Vertretern von drei weiteren in dem Markt der Feuerwehrgroßfahrzeuge führenden Unternehmen ein Kartell gebildet und gemeinschaftlich mit diesen vorsätzlich gegen das Verbot des § 1 GWB verstoßen hat. Dies hat die Kartellbehörde mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid vom 28.01.2011 […] auch mit Wirkung für das vorliegende Zivilverfahren festgestellt.“ (Hervorhebungen nur hier); ferner LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris, Rn. 168; LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris, Rn. 152; ablehnend dagegen Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111; Thomas / Legner, NZKart 2016, 155 (158); Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, 162 f.; Weitbrecht, NJW 2012, 881 (883); Scheffler, NZKart 2015, 223 (225); Bürger, WuW 2011, 130 (138); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 185, dessen Verweis auf die Unschuldsvermutung allerdings für das Zivilverfahren kaum überzeugt; vgl. ferner OLG Düsseldorf 29.1.2014, VI-U (Kart) 7/13, juris, Rn. 50 ff. (Prüfung des Verschuldens, obgleich zuvor ein Geldbuße verhängt worden war); als „noch offen“ betrachtet die Frage Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 96. 102 Nach § 33a Abs. 1 GWB ist Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch, dass der Verstoß vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde; dagegen ist etwa das englische Kartelldeliktsrechts verschuldensunabhängig: Die insoweit einschlägige cause of action, die breach of statutory duty, setzt im Grundsatz kein Verschulden voraus, es sei denn die einschlägige statutory duty verlangt negligence, was bei den Art. 101 und 102 AEUV aber 99
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Bußgeldbescheides stellen Feststellungen zur subjektiven Tatseite zwar zweifellos tragende Gründe der Entscheidung dar. Die in § 33b GWB angeordnete Feststellungswirkung bezieht sich allerdings nun einmal nur auf den Kartellrechtsverstoß als solchen.103 Der bindend festgestellte Verstoß umfasst das objektiv kartellrechtswidrige Handeln, das unabhängig davon feststellbar ist, ob der Verstoß vorsätzlich, fahrlässig oder aber ohne ein Verschulden begangen wurde.104 Die Feststellungswirkung erfasst daher richtigerweise nicht auch Feststellungen zu einem Verschulden.105 Auch wenn insoweit keine rechtliche Bindung besteht, kann in der Regel doch davon ausgegangen werden, dass die Gerichte von der Feststellung eines Verschuldens durch die Kartellbehörde in aller Regel nicht abweichen werden, zumal Kartellrechtsverstöße in der Regel vorsätzlich begangen werden.106 b) Zusammenfassung Die Feststellungswirkung beschränkt sich auf den Kartellrechtsverstoß. Alle weiteren Voraussetzungen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs, insbesondere die Kausalität des Verstoßes für den geltend gemachten Schaden und die Bezifferung des Schadens, nehmen nicht an der Feststellungswirkung teil. Als grundsätzlich zu beantwortende Vorfrage für die Feststellung des Vernicht der Fall ist; dazu etwa G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 344 ff.; Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 328 ff.; Clough / McDougall, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules – United Kingdom report, 2004, 9 f.; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, 294 ff. 103 Anders noch ausdrücklich die frühere entsprechende Anordnung im österreichischen Recht, die sich ihrem Wortlaut nach auf die subjektive Tatseite bezog, siehe Art. 37a Abs. 3 öKartG a. F.: „Ein Zivilgericht ist an eine in einer rechtskräftigen Entscheidung […] getroffene Feststellung, dass ein Unternehmen die in der Entscheidung angeführte Rechtsverletzung rechtswidrig und schuldhaft begangen hat, gebunden.“ (Hervorhebung nur hier). 104 Bürger, WuW 2011, 130 (138); Scheffler, NZKart 2015, 223 (225); Weitbrecht, NJW 2012, 881 (883); Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, 162 f.; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 185. 105 Ebenso Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 111; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, 162 f.; Scheffler, NZKart 2015, 223 (225); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 185; a. A. Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 23 Rn. 39; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 427; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 169; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (163, 179); Soyez, KommJur 2010, 41 (43); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 191. 106 Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 2007, 124, 163 Fn. 495; Scheffler, NZKart 2015, 223 (225); jedenfalls bei Verstößen gegen das Kartellverbot wird ein Verschulden in aller Regel gegeben sein; ein nicht vorwerfbarer Rechtsirrtum kommt bei Hardcore-Verstößen in der Praxis nicht in Betracht, siehe dazu nur Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 22 Rn. 34 ff., § 23 Rn. 40.
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stoßes erfasst die Feststellungswirkung aber die von einer Wettbewerbsbehörde vorgenommene Marktabgrenzung. Feststellungen zur Betroffenheit nehmen an der Feststellungswirkung ebenfalls teil, falls in der Entscheidung notwendigerweise bestimmte Betroffene individualisiert werden oder wenn sich die Betroffenheit bestimmter Personen mittelbar aus der Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes ergibt. Nicht von der Feststellungswirkung erfasst werden dagegen etwaige Ausführungen zu einem Verschulden. II. Folgen für den Zivilprozess Die Folgen der angeordneten Feststellungswirkung für den Zivilprozess werden deutlich, wenn man sich dessen allgemeine Grundregeln in Erinnerung ruft. Wie dargelegt,107 hat hiernach die einen Kartellrechtsverstoß geltend machende Prozesspartei den Verstoß darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Das Gericht entscheidet über das Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung. Die Feststellungswirkung führt dazu, dass der in der vorangegangenen Entscheidung festgestellte Kartellrechtsverstoß im Zivilprozess als unwiderlegbar festgestellt gilt. Auf diese Weise entfällt die Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes im Zivilprozess. Ferner verliert das Gericht die Kompetenz, die Kartellrechtswidrigkeit abweichend von der Entscheidung rechtlich zu beurteilen. Dem vorgelagert stellt sich die Frage, ob sich eine Partei auf die Feststellungswirkung einer Entscheidung berufen muss oder ob das Gericht die Feststellungswirkung von Amts wegen zu berücksichtigen hat. 1. Berücksichtigung von Amts wegen Die materiell-rechtliche Verfügungsmacht des Einzelnen über privatrechtliche Ansprüche spiegelt sich auf prozessualer Ebene im Dispositionsgrundsatz wider, also in der weitgehenden Verfügungsfreiheit der Parteien über den Streitgegenstand, wie auch im Beibringungsgrundsatz, nach dem die Parteien den Prozessstoff zu beschaffen haben.108 Die zivilprozessuale Parteiherrschaft leuchtet vor dem Hintergrund ein, dass der gewöhnliche Zivilprozess primär den Parteiinteressen dient und die – zur Wahrheit verpflichteten (§ 138 Abs. 1 ZPO) – Parteien am besten geeignet erscheinen, den Prozessstoff vollständig zusammenzutragen und aufzuklären.109 Ungeachtet dessen hat das ZivilgeSiehe supra Kapitel 1 C. II. 2. a). Siehe hierzu etwa BVerfG 25.7.1979, 2 BvR 878/74, NJW 1979, 1925 (1927); Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 76 Rn. 1, § 77 Rn. 3; Rauscher, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, Einl. 312; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess, 1966, 24 ff.; Bötticher, ZZP 85 (1972), 1 (25). 109 Siehe nur Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 77 Rn. 3; Rauscher, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, Einl. Rn. 312 f.; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess, 1966, 25 f. 107 108
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richt einige Aspekte von Amts wegen zu prüfen,110 also ohne dass das Parteiverhalten hierbei eine bestimmende Rolle spielt. So ist allgemein anerkannt, dass die materielle Rechtskraft von Amts wegen zu berücksichtigen ist,111 und zwar nicht nur bei Identität des Streitgegenstandes, sondern auch im Falle der Präjudizialität, wenn also eine für den Prozess entscheidungserhebliche Vorfrage in einem Vorprozess entschieden wurde.112 Die Tatsache, dass ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, darf dabei neben den Parteien auch durch das Gericht selbst oder Drittbeteiligte eingeführt werden.113 Die Prüfung von Amts wegen rechtfertigt sich daraus, dass die materielle Rechtskraft nicht nur dem Schutz der durch sie begünstigten Parteien dient, sondern auch im öffentlichen Interesse liegt, insbesondere indem sie zur Entlastung der Gerichte beiträgt.114 Zwar lässt sich aufgrund des unterschiedlichen Bezugsobjektes und ihrer beschränkten Reichweite die amtswegige Prüfung der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen nicht ohne weiteres auf die angeordnete Feststellungswirkung übertragen.115 Für eine amtswegige Prüfung auch der hier in Rede stehenden Feststellungswirkung spricht jedoch, dass auch diese im öffentlichen Interesse liegt: So dient schließlich auch sie der Entlastung der Gerichte und der Prozessökonomie, indem sie die Gerichte von einer wiederholten Überprüfung des Kartellrechtsverstoßes befreit,116 sowie der Rechtssicherheit und der kohärenten Rechtsanwendung, indem sie widersprüchliche 110 Eine Berücksichtigung von Amts wegen bedeutet nicht, dass der Untersuchungsgrundsatz gilt, das Gericht trifft keine Amtsermittlungspflicht; die Prüfung von Amts wegen wird daher als zwischen dem Beibringungs- und dem Untersuchungsgrundsatz stehend eingeordnet; dazu etwa Rauscher, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, Einl. Rn. 350 f.; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2005, Vor § 128 ZPO Rn. 163, 168. 111 BGH 14.2.1962, IV ZR 156/61, NJW 1962, 1109; BGH 26.2.1991, XI ZR 331/89, NJW 1991, 2014 (2015); Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 152 Rn. 17; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 322 ZPO Rn. 211; Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 322 ZPO Rn. 58; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess, 1966, 14, 184 f. 112 Zur Präjudizialität BGH 24.6.1993, III ZR 43/92, NJW 1993, 3204 (3205); BGH 16.1.2008, XII ZR 216/05, NJW 2008, 1227; aus dem Schrifttum Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 322 ZPO Rn. 211; Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 322 ZPO Rn. 58. 113 Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 322 ZPO Rn. 58; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 322 ZPO Rn. 211. 114 Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 322 ZPO Rn. 58; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 322 ZPO Rn. 29, 211. 115 Vgl. zu den Unterschieden zwischen der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile (auch Feststellungswirkung im Sinne der Zivilprozesslehre) und der Feststellungswirkung im Sinne der Verwaltungsrechtslehre supra Kapitel 3 A. I. 1. b) aa) und bb). 116 Vgl. Erwägungsgrund 34 S. 4 Kartellschadensersatzrichtlinie; vgl. ferner bereits das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 146; aus dem Schrifttum Nothdurft, in: FS Tolksdorf, 2014, 533 (541 f.); Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247, 256; Meyer, GRUR 2006, 27 (28).
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Entscheidungen im System paralleler Zuständigkeiten zu vermeiden hilft.117 Schließlich dient sie der wirksamen Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV im Zivilprozess.118 Die der öffentlichen Ordnung zuzurechnenden europäischen Wettbewerbsregeln sind von Amts wegen von den nationalen Gerichten anzuwenden, falls auch nach nationalem Recht dem Gericht eine Anwendung zwingender Rechtsvorschriften gestattet ist, auf die sich die Parteien nicht berufen haben.119 Es liegt daher nahe, bezüglich der Feststellungswirkung, die sich auf Verstöße gegen eben diese Wettbewerbsregeln bezieht, ebenfalls eine Amtsprüfung zu bejahen.120 Entsprechend den Grundsätzen zur amtswegigen Prüfung der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile ist damit davon auszugehen, dass die Tatsache, dass eine bindende Entscheidung vorliegt, auch durch das Gericht oder Drittbeteiligte in den Prozess eingeführt werden kann.121 In der Praxis wird sich ein Kläger in der follow on-Situation freilich in aller Regel bereits aus eigenem Interesse auf die Feststellungswirkung berufen und die betreffende Entscheidung in den Prozess einführen, sodass die Frage nach der amtswegigen Berücksichtigung wohl kaum praktische Bedeutung erlangen wird.122 2. Entfallen der Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes Die Feststellungswirkung hat zur Folge, dass der in der vorangegangenen Entscheidung festgestellte Kartellrechtsverstoß im Zivilprozess als unwiderlegbar festgestellt gilt. Dies bedeutet zunächst, dass das Gericht nicht mehr nach freier Überzeugung im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO entscheiden kann, 117 Erwägungsgrund 34 S. 1 und 4 Kartellschadensersatzrichtlinie; vgl. ferner das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 144; aus dem Schrifttum statt vieler nur Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (184). 118 Vgl. dazu supra Kapitel 1 C. II. 2. 119 EuGH 14.12.1995, Rs. C-430/93, van Schijndel, EU:C:1995:441, Rn. 13 ff.; vgl. auch EuGH 1.6.1999, Rs. C-126/97, Eco Swiss, EU:C:1999:269, Rn. 36 ff.; siehe ferner die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, 54 Rn. 3. 120 Im Ergebnis ebenfalls eine Amtsprüfung bejahend Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 247; ferner Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 257 f., und Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 221 ff., die darüber hinausgehend auch eine Amtsermittlungspflicht bejahen. 121 Vgl. Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 258. 122 So auch die Einschätzung von Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 258 f., sowie Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 223 Fn. 1071.
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ob es die Tatsachen, die den für die Einordnung als Kartellrechtsverstoß maßgeblichen Lebenssachverhalt betreffen, für wahr erachtet oder nicht. Infolge der Feststellungswirkung gelten die hierzu in der vorangegangenen Entscheidung getroffenen Tatsachen als erwiesen. Damit entfällt die im Kartellschadensersatzprozess an sich dem Kläger obliegende Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes. Umgekehrt ist es dem Beklagten verwehrt, mittels Gegenvortrag und Beweis das Zivilgericht vom Nichtvorliegen des Verstoßes zu überzeugen. In der Sache handelt es sich bei der Feststellungswirkung insofern um eine gesetzliche Beweisregel im Sinne von § 286 Abs. 2 ZPO.123 Denn sie führt – ohne dass es auf die richterliche Überzeugung ankäme und damit in Abweichung vom Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung – zur Feststellung der Wahrheit der durch die Kartellbehörde getroffenen Tatsachenfeststellungen zum Verstoß.124 3. Entzug der richterlichen Kompetenz zur selbstständigen Beurteilung der Kartellrechtswidrigkeit Neben der Bindung an die tatsächlichen Feststellungen zum Kartellrechtsverstoß bewirkt die Feststellungswirkung, dass das Gericht an die rechtliche Beurteilung dieser Tatsachen als Kartellrechtsverstoß gebunden wird. Das Gericht sieht sich infolgedessen daran gehindert, über die Rechtsfrage, ob das beanstandete Verhalten einen Kartellrechtsverstoß darstellt, abweichend von der Beurteilung durch die Kartellbehörde zu befinden. Dies bedeutet in der Sache, dass dem Gericht die Kompetenz entzogen wird, die Kartellrechtswid-
123 Die Vorschrift bestimmt zwar, dass Gerichte an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch „dieses Gesetz“ – also die ZPO – bezeichneten Fällen gebunden sind. Es ist jedoch anerkannt, dass die Vorschrift in ihrem historischen Kontext auszulegen ist: Durch die Regelung sollten die bei Inkrafttreten der ZPO in Landesgesetzen aufgestellten Beweisregeln aufgehoben werden. Die in den Reichsgesetzen (heute Bundesgesetze) enthaltenen Beweisregeln sollten durch die Vorschrift hingegen nicht berührt werden, BGH 9.7.1985, VI ZR 214/83, NJW 1985, 2644 (2646); Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 27; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 286 ZPO Rn. 40 ff.; vgl. auch die Regelung in § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO, mit der Vorschriften über eine Bindung des Zivilgerichts an strafgerichtliche Urteile aufgehoben wurde. 124 Zur Einordnung der Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen als gesetzliche Beweisregel Dreher, ZWeR 2008, 325 (330); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (174); Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007, 138 f.; Inderst / Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2015, 105, 112; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 223; Scheffler, NZKart 2015, 223 (223); Scheffler, WRP 2007, 163 (166); mitunter wird zwischen den Folgen der Feststellungswirkung bezüglich der Tatsachenfeststellungen zum Verstoß und der rechtlichen Würdigung als Verstoß nicht hinreichend differenziert. Gegenstand einer Beweisregel können freilich nur Tatsachen sein. Allgemein zu gesetzlichen Beweisregeln nach § 286 Abs. 2 ZPO Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 7.
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rigkeit eigenständig zu beurteilen.125 Ist das Zivilgericht der Auffassung, dass die Wettbewerbsregeln falsch angewendet wurden, bleibt dem Gericht nur die Möglichkeit, gemäß Art. 267 AEUV den Europäischen Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.126 Im eigentlichen follow on-Schadensersatzprozess verbleibt dem Zivilgericht damit lediglich die Kompetenz über die weiteren Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs zu befinden, also insbesondere über die Kausalität des Kartellrechtsverstoßes für den geltend gemachten Schaden und die Schadensbezifferung.127 4. Zusammenfassung Die in § 33b GWB verankerte Feststellungswirkung ist durch das Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen. Sie hat zur Folge, dass der in einer vorangegangenen Entscheidung festgestellte Kartellrechtsverstoß im Zivilprozess als unwiderlegbar festgestellt gilt. Damit entfällt die Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Kartellrechtsverstoßes im Zivilprozess. Das von der Feststellungswirkung betroffene Gericht verliert zudem die Kompetenz, die Kartellrechtswidrigkeit des in Rede stehenden Verhaltens selbstständig zu beurteilen. III. Qualifikation Wird bei einer follow on-Schadensersatzklage vor deutschen Gerichten auf Grundlage der allseitigen Kollisionsregel in Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO ausländisches Recht als Kartelldeliktsstatut berufen, 128 stellt sich die Frage, ob das Gericht auch bezüglich der Frage der Feststellungswirkung das ausländische Recht heranzuziehen hat oder ob dessen ungeachtet die Regelung des § 33b GWB Anwendung findet. Nach dem tradierten lex fori-Grundsatz, wonach das anwendbare Verfahrensrecht dasjenige des mit der Sache befassten Gerichtes ist,129 wäre Letzteres der Fall, wenn die Frage der Feststellungswir125 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (174); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (138); Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (15); vgl. zum partiellen Kompetenzentzug als Folge einer Feststellungswirkung allgemein Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230). 126 Zur Möglichkeit der Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV infra Kapitel 3 A. VI. 127 Vgl. entsprechend zur Rolle des Gerichts bei follow on-Schadensersatzklagen das Competition Appeal Tribunal (CAT) in Albion Water Ltd v Dwr Cymru Cyfyngedig, [2013] CAT 6, Rn. 53: „The Tribunal’s jurisdiction in a follow-on claim is limited to questions of causation and quantum.“ 128 Zur Bestimmung des anwendbaren Kartelldeliktsrechts nach Maßgabe der Rom IIVO supra Kapitel 1 A. II. 3. b). 129 Vgl. BGH 27.4.1977, VIII ZR 184/75, WM 1977, 793 (794): „die deutschen Gerichte wenden in den vor ihnen anhängigen Verfahren nur deutsches Verfahrensrecht an“; BGH 27.6.1984, IVb ZR 2/83, NJW 1985, 552 (553); Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136); Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 6 Rn. 2 f.; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 45; Geimer, Internationa-
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kung dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist. Die Regelung des § 33b GWB käme hiernach zur Anwendung, selbst wenn das fragliche materielle Rechtsverhältnis ausländischem Recht unterliegt. Es stellt sich mithin das klassische Qualifikationsproblem einer Abgrenzung von materiellem Recht und Prozessrecht.130 Diesem Problem liegt die Trennung von materiellem Zivilrecht und Prozessrecht zugrunde, die nach einem gängigen Verständnis nach Maßgabe folgender Richtschnur erfolgt: Das materielle Zivilrecht lässt Rechtsverhältnisse entstehen und subjektive Rechte erwerben und regelt deren Inhalt, Reichweite und Wirksamkeit, und zwar vor jedem Richterspruch und losgelöst von ihm. 131 Dagegen regelt das Prozessrecht, unter welchen Voraussetzungen, auf welche Art und Weise, in welcher Form und mit welcher Wirkung subjektive Rechte gerichtlich geltend gemacht und durchgesetzt werden können. 132 Das Prozessrecht hat also dienende Funktion, es ist Mittel zum Zweck einer möglichst vollständigen und exakten Anwendung und Durchsetzung der materiellen Zivilrechtssätze.133 So einleuchtend diese Formel auch sein mag, so schwierig bleibt die Einordnung bestimmter Institute, die sich im Graubereich zwischen materiellem Zivilrecht und Prozessrecht bewegen. Mit Blick auf die Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen sahen sich die deutschen Gerichte bereits mehrfach, wie an anderer Stelle bereits erörtert,134 mit der Frage des intertemporalen Anwendungsbereichs und damit mit der Problematik der Rückwirkung von Gesetzen konfrontiert.135 Sie hatten zu entscheiden, ob es sich bei der in § 33 Abs. 4 GWB a.F. les Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 319; Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 83 ff.; G. Wagner, Prozessverträge, 1998, 348 f. 130 Zur Qualifikationsfrage der Abgrenzung von Prozessrecht und materiellem Recht etwa Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136 ff.); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 52 f. 131 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 1 Rn. 21; Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136); vgl. dazu auch Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 95. 132 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 1 Rn. 22; Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136); vgl. dazu auch Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 95. 133 Pointiert Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (136): „Zugespitzt formuliert ist das Recht der Zweck, das Verfahren ein Mittel.“ Vgl. auch Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 58; zum möglichen „Eigenwert des Prozesses“ siehe dagegen auch Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (139). 134 Zum intertemporalen Anwendungsbereich der Feststellungswirkung supra Kapitel 2 D. I. 135 Siehe aus der Rechtsprechung OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris, Rn. 33 ff. – Post-Konsolidierer; LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 (619), bestätigt durch OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 47 – Feuerwehrfahrzeuge; OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris, Rn. 61 – Grauzementkartell; OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris, Rn. 38; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 54; LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris, Rn. 161;
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
angeordneten Feststellungswirkung um eine materielle oder prozessuale Regelung handelt, da Rechtsänderungen prozessualer Art nicht den engen Grenzen einer Rückwirkung unterliegen wie Rechtsänderungen materieller Art.136 Die Gerichte folgten durchweg einer prozessualen Einordnung der Regelung und wandten diese in der Folge auf die zu beurteilenden Altfälle an, obgleich zum Zeitpunkt des jeweils streitigen Kartellrechtsverstoßes die Regelung des § 33 Abs. 4 GWB a.F. noch nicht existierte.137 Diese internrechtliche Abgrenzung kann freilich nicht ohne weiteres auf die kollisionsrechtliche Qualifikation übertragen werden; vielmehr ist der jeweilige Zweck der Unterteilung für die Abgrenzung entscheidend.138 Mit Blick auf die hier maßgebliche Rom II-VO gilt es ferner zu berücksichtigen, dass deren Systembegriffe europäisch-autonom, also ohne Rückgriff auf das nationale Recht auszulegen sind.139 Die Kartellschadensersatzrichtlinie unterscheidet in ihrem Art. 22 – die zeitliche Geltung ihrer Regelungen betreffend – zwar selbst zwischen LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris, Rn. 145; LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris, Rn. 45 – Fahrtreppen. 136 Vgl. BVerfG 22.3.1983, 2 BvR 475/78, NJW 1983, 2757 (2758 f.); Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20 GG Rn. 103; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 162; vgl. die durch die 7. GWB-Novelle bewirkten Rechtsänderungen betreffend OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris, Rn. 34 – Post-Konsolidierer: „[Das] schutzwürdige Vertrauen gebietet ein Verbot der Rückwirkung ungünstigeren neuen Rechts bzw. ein Gebot zur Anwendung günstigeren alten Rechts jedoch nur in Bezug auf das materielle Recht“; ferner Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (987); Scheffler, WRP 2007, 163 (164); auch Art. 22 der Kartellschadensersatzrichtlinie folgt diesem Grundsatz, wenn darin angeordnet wird, dass materiellrechtliche Vorschriften der Richtlinie nicht rückwirkend gelten sollen (Abs. 1), die übrigen, also verfahrensrechtlichen Regelungen indes lediglich nicht für Verfahren gelten sollen, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist bei einem nationalen Gericht erhoben wurden (Abs. 2). 137 OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris, Rn. 35 – Post-Konsolidierer; in ihren Entscheidungen schlossen sich dem OLG Düsseldorf an: LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 (619), bestätigt durch OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris, Rn. 47 – Feuerwehrfahrzeuge; OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris, Rn. 61 – Grauzementkartell; OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris, Rn. 38; OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris, Rn. 54; LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris, Rn. 161; LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris, Rn. 145; LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris, Rn. 45 – Fahrtreppen; siehe aus dem Schrifttum zur Frage Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (987 f.); Scheffler, WRP 2007, 163 (166); zweifelnd, aber mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen, OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris, Rn. 68 – Gelenkleiterfahrzeuge. 138 Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 84; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, 124; vgl. dazu auch bereits Rabel in seinem berühmten Aufsatz über das Problem der Qualifikation: „[N]icht die Sachnormen, sondern die Kollisionsnormen des Richters bestimmen die Qualifikation“, Rabel, RabelsZ 5 (1931), 241 (249). 139 Statt aller nur Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (243); Thole, IPRax 2010, 285 (287).
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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materiellen Vorschriften und ihren übrigen, also verfahrensrechtlichen Regelungen, führt allerdings nicht aus, welche Regelungen sie nun der einen oder der anderen Kategorie zuordnet. Im Rahmen der Rom II-VO ergibt sich das Erfordernis, zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht zu unterscheiden, da nach Art. 1 Abs. 3 Rom II-VO der „Beweis und das Verfahren“ nicht dem Anwendungsbereich der Verordnung und deren Verweisungen unterfallen.140 Der Ausschluss beweisrechtlicher Regeln vom Anwendungsbereich der Verordnung in Art. 1 Abs. 3 Rom II-VO unterliegt allerdings wiederum Ausnahmen („unbeschadet der Artikel 21 und 22“). Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, dass das Beweisrecht vielfach stark mit dem materiellen Recht verwoben ist. 141 Aus diesem Grund schlägt Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO gesetzliche Vermutungen und die Verteilung der Beweislast dem Anwendungsbereich des (Kartell-)Deliktsstatuts zu, weisen diese doch in der Sache regelmäßig einen materiellrechtlichen Kern auf.142 Unter gesetzlichen Vermutungen werden Regelungen verstanden, die aus dem Vorliegen einer bestimmten Tatsache unmittelbare (rechtliche) Folgerungen ziehen, ohne dass es eines weiteren Beweises bedarf.143 Erfasst werden insbesondere sog. Rechtsvermutungen, die vom Vorliegen einer bestimmten Tatsache auf eine bestimmte Rechtsfolge schließen lassen.144 Die Beweislastverteilung betrifft Rechtssätze, die bestimmen, welche Partei einen Umstand behaupten, darlegen und gegebenenfalls nachweisen muss und wen das Risiko der Nichterweislichkeit einer Tatsache trifft.145 Die Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen unterfällt weder dem einen noch dem anderen Systembegriff. Die Feststellungswirkung ist vielmehr als gesetzliche Beweisregel einzuordnen.146 Denn sie bewirkt, dass die in der vorangegangenen Entscheidung getroffenen Tatsachen, welche den Vgl. nur Halfmeier, in: Calliess, Rome Regulations, 2. Aufl. 2015, Art. 1 Rom II-VO Rn. 62; während der Umfang des kraft kollisionsrechtlicher Verweisung anzuwendenden Rechts in Art.15 Rom II-VO – nicht abschließend („insbesondere“) – aufgelistet wird, fehlt es bezüglich der nicht von der Verordnung erfassten Fragen des Beweis- und Verfahrensrechts an weiteren Konkretisierungen; siehe dazu etwa Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (242 f.). 141 Statt aller nur Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 734; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 2261. 142 Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (256): „Both issues are directly concerned with the decision on the merits“; in Bezug auf Beweislastregeln Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (140): „im Grunde materiell-rechtliche Vorschriften für non-liquet-Situationen“; Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 22 Rom II-VO Rn. 4. 143 Junker, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 22 Rom II-VO Rn. 5; Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 22 Rom II-VO Rn. 6; Giuliano / Lagarde, BT-Drucks. 10/503, 33 (68). 144 Junker, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 22 Rom II-VO Rn. 5. 145 Junker, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 22 Rom II-VO Rn. 10; Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 22 Rom II-VO Rn. 9. 146 Siehe dazu bereits supra Kapitel 3 A. II. 2. 140
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
festgestellten Kartellrechtsverstoß betreffen, im Prozess ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung als erwiesen gelten. Sie hat damit eine Abweichung vom Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zur Folge. Die freie Beweiswürdigung stellt eine Domäne der lex fori dar.147 Als Ausnahmen vom Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegen daher auch gesetzliche Beweisregeln der lex fori, sodass der inländische Richter an ausländische Beweisregeln nicht gebunden ist, auch wenn er in der Sache ausländisches Recht anwendet.148 Auch wenn die Feststellungswirkung zweifellos Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits haben kann149 und hierbei auch ein bestimmtes materielles Ergebnis bevorzugt,150 ist sie als gesetzliche Beweisregel doch der lex fori zuzuordnen und folglich bei einer Klage vor deutschen Gerichten ungeachtet des in der Sache anwendbaren Rechts stets der Regelung in § 33b GWB zu entnehmen.151 Für die verfahrensrechtliche Qualifikation spricht auch, dass der Feststellungswirkung eine Verfahrenskoordination zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern zugrunde liegt152 und diese
BGH 30.7.1954, VI ZR 32/53, JZ 1955, 702 (703): „Daß die Beweiswürdigung selbst sich nach der lex fori richtet, ist allgemein anerkannt“; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 2338; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 772; anderes gilt auch nicht im Rahmen der Rom II-VO, siehe nur Junker, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 22 Rom II-VO Rn. 4; Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 22 Rom II-VO Rn. 12; Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (257). 148 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 2338; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 772. 149 Vgl. Niederländer, RabelsZ 20 (1955), 1 (39 ff.), der alle Normen, die objektiv streitentscheidend sein können, der lex causae zuweisen möchte; indes können beinahe alle Normen Einfluss auf den Prozessausgang haben, sodass die Reichweite der lex causae bei einem solchen Verständnis ganz erheblich erweitert würde; dazu nur Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (246). 150 Dazu, dass die Feststellungswirkung maßgeblich darauf abzielt, Geschädigten die Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen im Schadensersatzprozess zu erleichtern, supra Kapitel 3 A. II. 2. 151 Vgl. im Ergebnis auch Illmer, in: Huber, Rome II Regulation, 2011, Art. 6 Rom IIVO Rn. 86; vgl. dagegen aber Augenhofer, in: Calliess, Rome Regulations, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rom II-VO Rn. 86, die davon auszugehen scheint, dass Regelungen über eine Feststellungswirkung von der Verweisung des Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO erfasst werden; widersprüchlich Imgrund, Bindung der deutschen Zivilgerichte an Beschlüsse von Kommission und Behörden der Europäischen Union, 2011, 217, 253 f., der zunächst davon ausgeht, dass § 33 Abs. 4 GWB a. F. nur zur Anwendung kommen kann, wenn nach den Regeln des Internationalen Privatrechts für den Schadensersatzanspruch auf das deutsche Recht verwiesen wird, später dagegen annimmt, dass § 33 Abs. 4 GWB a. F. als beweisrechtliche Verfahrensnorm von den deutschen Gerichten stets angewandt werden sollte. 152 Zimmer / Logemann, WuW 2006, 982 (988); vgl. auch Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (229): „die Feststellungswirkung [… ist …] geeignet und bestimmt, staatliches Handeln inhaltlich zu koordinieren.“ 147
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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Koordination abgestimmt zugunsten bzw. zulasten bestimmter Entscheidungsträger erfolgt, sodass ein enger Bezug zum Forumstaat besteht. Die verfahrensrechtliche Qualifikation der Feststellungswirkung wird schließlich auch dadurch bekräftigt, dass die in einigen Rechtsordnungen anerkannte Bindung des Zivilrichters an Erkenntnisse in strafrechtlichen Urteilen153 ebenfalls verfahrensrechtlich qualifiziert wird.154 So hat der österreichische OGH entschieden, dass „die Bestimmungen über die Bindung des Zivilrichters an Erkenntnisse der Strafgerichte dem Verfahrensrecht angehören.“155 Daher habe, so der OGH, ein österreichisches Zivilgericht die im ausländischen Recht vorgesehene Bindung des Zivilrichters an ein Strafurteil auch dann nicht zu berücksichtigen, wenn der Entscheidung materiell das ausländische Recht als Deliktsstatut zugrunde zu legen ist.156 Dass der österEine solche Bindung existiert etwa in Frankreich, Italien und Luxemburg; siehe dazu etwa Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 109; die einst in § 286 der österreichischen ZPO verankerte Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Urteile wurde durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben, ÖsterVerfGH 12.10.1990, G 73/89, JBl 1991, 104; in der Folge entschied der OGH allerdings, dass sich eine Bindung des Zivilrichters auch aus der materiellen Rechtskraft des Strafurteils ergebe, OGH 17.10.1995, 1 Ob 612/95, JBl 1996, 117; zu alledem Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, 2006, 77 ff.; Forgó-Feldner, ÖJZ 2005, 866 (866 ff.); Bollenberger, ÖJZ 2008, 515 (515 f.). In Deutschland wurden bereits im Jahre 1877 durch § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO „die Vorschriften über die bindende Kraft des strafgerichtlichen Urteils für den Zivilrichter“ aufgehoben; zur historischen Entwicklung Gaul, in: FS Fasching, 1988, 157 (157 ff.); in jüngerer Zeit wurde die Wiedereinführung einer Bindung des Zivilrichters an die Erkenntnisse des Strafgerichts erwogen, siehe den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (Justizmodernisierungsgesetz – JuMoG), BT-Drucks. 15/1508, Art. 1 Nr. 15: „§ 415a ZPOE Beweiskraft rechtskräftiger Strafurteile (1) Rechtskräftige Urteile über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begründen vollen Beweis der darin für erwiesen erachteten Tatsachen. (2) Auf begründeten Antrag einer Partei ist über diese Tatsachen erneut Beweis zu erheben.“ Die Regelung fand indes keinen Eingang in das 1. JuMoG v. 24.8.2004, BGBl. I 2004, 2198; eingehend dazu Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, 2006, 7 ff., 26 ff. 154 OGH 17.12.1976, 2 Ob 202/76, SZ 49/158; Fasching, ZVR 1983, 321 (323 f.); Mahrer, Österreichisches Anwaltsblatt 2005, 545 (555); vgl. auch Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 772 Fn. 1; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 110. 155 OGH 17.12.1976, 2 Ob 202/76, SZ 49/158; dazu Fasching, ZVR 1983, 321 (323 f.); Mahrer, Österreichisches Anwaltsblatt 2005, 545 (545). 156 OGH 17.12.1976, 2 Ob 202/76, SZ 49/158: „Dem Vorbringen des Klägers, es sei inkonsequent, im vorliegenden Fall zur rechtlichen Beurteilung auf Grund der Anknüpfung an den Unfallsort jugoslawisches Recht anzuwenden, die im jugoslawischen Recht vorgesehene Bindung des Zivilrichters an ein verurteilendes Straferkenntnis aber nicht zu beachten, ist zu erwidern, daß die Bestimmungen über die Bindung des Zivilrichters an Erkenntnisse der Strafgerichte dem Verfahrensrecht angehören. Das Verfahrensrecht ist aber öffentliches Recht. Für seinen Geltungsbereich hat ausschließlich das Prozeßrecht desjenigen Staates 153
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
reichische OGH später in Bezug auf ausländische Strafurteile eine Bindung des inländischen Zivilrichters bejaht hat,157 bedeutet keine Abkehr von der verfahrensrechtlichen Qualifikation der Bindung, denn der OGH gelangte zu dieser Lösung nicht etwa im Wege einer Anwendung der ausländischen Bindungsvorschrift kraft kollisionsrechtlicher Verweisung, sondern im Wege der Anerkennung des ausländischen Urteils über eine weite Auslegung des Art. 54 SDÜ.158 IV. Rechtsstaatliche Bedenken Gegenüber der Statuierung einer Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess wurden wiederholt rechtsstaatliche Bedenken geäußert. Diese Bedenken wurden zum einen auf den Gewaltenteilungsgrundsatz und auf den Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit gestützt. Zum anderen wurde bezweifelt, ob die Bindung an kartellbehördliche Entscheidungen, insbesondere an solche anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden, mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Anspruch auf rechtliches Gehör vereinbar ist. Angesichts der geltend gemachten Bedenken soll im Nachfolgenden untersucht werden, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die Feststellungswirkung mit den genannten Grundsätzen vereinbar ist. 1. Grundsatz der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit Die Feststellungswirkung begrenzt nicht nur die Wahrnehmungszuständigkeit des Richters im Kartellzivilprozess,159 sie geht zugleich mit einer gewissen Durchbrechung der gewaltenteiligen Zuständigkeitsordnung einher, verschiebt sich doch durch sie die kompetentielle Entscheidungsbefugnis von einer „Gewalt“, den (Zivil-)Gerichten (Judikative), auf eine „andere Gewalt“, die (Kartell-)Behörden (Exekutive).160 Unter diesem Blickwinkel nimmt es auf den ersten Blick nicht wunder, dass gegenüber der Feststellungswirkung Anwendung zu finden, dessen Gerichte den Streitfall entscheiden. Die inländischen Gerichte haben daher ausschließlich das inländische Prozeßrecht anzuwenden, auch wenn der Entscheidung materiell das Privatrecht eines anderen Staates zugrunde gelegt wird […].“ 157 OGH 19.5.1998, 1 Ob 73/98m, JBl 1998, 665. 158 Kritisch zu der auf Art. 54 SDÜ gestützten Anerkennungslösung des OGH etwa Oberhammer, ecolex 1998, 909 (910); Mahrer, Österreichisches Anwaltsblatt 2005, 545 (546 f.); Fuchs, ÖJZ 2001, 821 (836). 159 Vgl. dazu supra Kapitel 3 A. II. 2. und 3. 160 Vgl. Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 290: „It could […] be argued, that by placing administrative decisions above judgements of civil courts, such a ‘binding’ effect would infringe the principles […] of separation of powers and the independence of the judiciary“; allgemein zu den zuständigkeitsbeschränkenden Effekten der Feststellungswirkung im staatlichen Kompetenzgefüge Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230).
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kartellbehördlicher Entscheidungen unter Berufung auf den Grundsatz der Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit verschiedentlich Bedenken geäußert werden.161 Nachfolgend soll daher untersucht werden, ob die Bindung der Zivilgerichte an vorangegangene kartellbehördliche Entscheidungen tatsächlich die richterliche Unabhängigkeit und den Gewaltenteilungsgrundsatz beeinträchtigen kann. a) Grundlagen und Gewährleistungsgehalt In Europa wird die richterliche Unabhängigkeit als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip verbürgt.162 Der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit ist in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten anerkannt.163 In Deutschland wird er in Art. 97 GG verfassungsrechtlich verbürgt,164 wobei dessen Abs. 1 die sachliche Unabhängigkeit und Abs. 2 – als notwendige Ergänzung hierzu – die persönliche Unabhängigkeit der Richter garantiert.165 Der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit ist Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, sichert er doch die organisatorische Trennung der Rechtsprechung von Gesetzgebung und vollziehender Gewalt und damit das Rechtsprechungsmono161 Siehe etwa (jeweils ohne nähere Begründung) Komninos, Concurrences N° 2-2008, 84 (91); Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1422 ff.); Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (147 ff.); Cortese, EuZW 2012, 730 (731); Meyer, GRUR 2006, 27 (29); Lübbig / le Bell, WRP 2006, 1209 (1212); vgl. auch bereits Möschel, WuW 2001, 147 (148); vgl. ferner Association des Avocats Pratiquant le Droit de la Concurrence (APDC), Observations sur le « Livre Blanc sur les actions en dommages et intérêts pour infraction aux règles communautaires sur les ententes et les abus de position dominante », 2008, S. 11; Association of European Competition Law Judges, Comments on the Commission’s White Paper on damages actions for breach of the EC antitrust rules, 2008, Rn. 15 f.; Corte Suprema di Cassazione, Osservazioni a seguito dell’approvazione del White Paper in materia di azioni di risarcimento del danno per violazione delle norme antitrust comunitarie, 2008, S. 7 ff.; siehe zu den geäußerten Bedenken auch Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (19 f., 24 f.); die Kommission sah sich angesichts der geäußerten Bedenken veranlasst, rechtfertigend auf die Frage der Vereinbarkeit der Bindungswirkung mit der richterlichen Unabhängigkeit und dem Grundsatz der Gewaltenteilung einzugehen, vgl. Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 148 ff. 162 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 Rn. 12; Durner, EuR 2004, 547 (563 ff.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (191). 163 Durner, EuR 2004, 547 (566); siehe ferner die Nachweise bei Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 23a, und Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 Rn. 12. 164 Daneben ist der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit in Deutschland einfachgesetzlich in § 25 DRiG und § 1 GVG niedergelegt. 165 Papier, NJW 2001, 1089 (1089); Wolf, ZZP 99 (1986), 361 (377 ff.); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 19 ff., 48 ff.; Meyer, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 97 GG Rn. 38; Durner, EuR 2004, 547 (563).
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pol der Judikative.166 Daneben steht er in engem Zusammenhang mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, denn insbesondere gegen Akte der öffentlichen Gewalt ist nur der unabhängige Richter vollauf in der Lage wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten.167 Neben den nationalen (Verfassungs-)Rechtsordnungen ist die Garantie richterlicher Unabhängigkeit auch im Unionsrecht und in der EMRK verbürgt.168 Die institutionelle Unionsrechtsordnung beruht zwar auf keiner Gewaltenteilung im klassischen Sinn, sondern versucht durch das Vertragsgefüge zwischen Legislativ- und Exekutivfunktionen ein „institutionelles Gleichgewicht“ zu wahren.169 Rechtsprechungsfunktionen sind indes auch in der Unionsrechtsordnung klar von den übrigen Funktionen getrennt.170 Für die Richter am Europäischen Gerichtshof folgt das Erfordernis richterlicher Unabhängigkeit aus Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 EUV und Art. 253 Abs. 1 AEUV, der Gerichtshof hat die Notwendigkeit der richterlichen Unabhängigkeit selbst ausdrücklich betont.171 Aufgrund seiner Verankerung in den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten wie auch im Primärrecht, wird der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit zu den zentralen Rechtsgrundsätzen der Unionsrechtsordnung gezählt.172 Zudem ist die richterliche Unabhängigkeit auch in Verbindung mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV sowie in Art. 6 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 6 Abs. 3 EUV verankert.173 So heißt es etwa in Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRC, dass 166 Schilken, JZ 2006, 860 (860 f.); Papier, NJW 2001, 1089 (1089); Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 2; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 14; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 32. 167 Papier, NJW 2001, 1089 (1089 f.); Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 2; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 Rn. 14; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 32. 168 Eingehend dazu Durner, EuR 2004, 547 (563 ff.). 169 EuGH 29.10.1980, Rs. C-138/79, Roquette Frères, EU:C:1980:249, Rn. 33; EuGH 22.5.1990, Rs. C-70/88, Tschernobyl, EU:C:1990:217, Rn. 21 f., 26; aus dem Schrifttum Jacqué, CML Rev. 41 (2004), 383 (383 ff.); Huber, EuR 2003, 574 (576 f.); Zuleeg, NJW 1994, 545 (548); Bergmann, in: Bergmann, 5. Aufl. 2015, 535 (Stichwort: Institutionelles Gleichgewicht); Everling, in: Bogdandy / Bast, 2. Aufl. 2009, 961 (992); Durner, EuR 2004, 547 (565). 170 Zuleeg, NJW 1994, 545 (548); Durner, EuR 2004, 547 (565). 171 EuGH 14.12.1991, Gutachten 1/91, EU:C:1991:490, Rn. 52 ; vgl. auch jüngst EuGH 27.2.2018, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, EU:C:2018:117, Rn. 42. 172 Durner, EuR 2004, 547 (565 f.); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (191). 173 Durner, EuR 2004, 547 (566 ff.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 12; zum Erfodernis der richterlichen Unabhängigkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK siehe nur Matscher, ÖZöR 1980, 1 (14 ff.); zur Gewährleistung richterlicher Unabhängkeit in Art. 47 Abs. 2 GRC etwa Jarass, Charta der Grundrechte der Europäi-
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„[j]ede Person ein Recht darauf [hat], dass ihre Sache von einem unabhängigen […] Gericht […] verhandelt wird.“174 In der Sache bedeutet richterliche Unabhängigkeit Freiheit des Richters von Weisungen und anderen direkten oder indirekten Einflussnahmen rechtlicher oder faktischer Art bei seiner rechtsprechenden Tätigkeit.175 Die Unabhängigkeitsgarantie dient dazu, den Richter bei der eigenverantwortlichen Wahrnehmung der ihm zugewiesenen Rechtsprechungsaufgaben gegen sachfremde Einflussnahmen von außen abzusichern und dadurch seine Weisungs-, Handlungs- und Erkenntnisfreiheit zu gewährleisten, sodass das allein maßgebliche Gesetz durch ihn möglichst neutral angewendet werden kann.176 In ihrem historischen Ursprung richtete sich die Forderung nach Unabhängigkeit der Richter gegen Übergriffe der vollziehenden Gewalt und auch heute noch bildet diese Schutzrichtung wesentlichen Inhalt der Unabhängigkeitsgarantie.177 Daneben schützt sie aber auch vor unzulässigen Einflussnahmen der Legislative wie auch der Judikative selbst.178 b) Vereinbarkeit Die Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess begrenzt die richterliche Wahrnehmungszuständigkeit, indem das Gericht die schen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 19 ff.; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 20 ff.; Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 865. 174 Hervorhebung nur hier; vgl. jüngst dazu auch EuGH 27.2.2018, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, EU:C:2018:117, Rn. 41. 175 Schilken, JZ 2006, 860 (863); Meyer, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 97 GG Rn. 1; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 15; vgl. ferner Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 34 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 20; Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. 865; Wolf, ZZP 99 (1986), 361 (377); vgl. jüngst auch EuGH 27.2.2018, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, EU:C:2018:117, Rn. 44. 176 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 15; Meyer, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 97 GG Rn. 15. 177 Papier, NJW 2001, 1089 (1090); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 26; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 Rn. 75 ff. 178 Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1961 ausgeführt, dass die richterliche Unabhängigkeit nur das Verhältnis des Richters zu Trägern nichtrichterlicher Gewalt betreffe (BVerfG 17.1.1961, 2 BvL 25/60, NJW 1961, 655), später hat das Gericht diese Annahme jedoch dahingehend präzisiert, dass die richterliche Unabhängigkeit auch vor „internen Eingriffen“ schütze (BVerfG 29.2.1996, 2 BvR 136/96, NJW 1996, 2149 (2150)); dazu Papier, NJW 2001, 1089 (1090 f.); zur rechtsprechungsinternen Schutzrichtung der richterlichen Unabhängigkeit siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 41 ff.; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 94 ff.
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Tatsachen, die einen Kartellrechtsverstoß begründen, nicht mehr nach freier richterlicher Überzeugung würdigen und von der rechtlichen Beurteilung dieser Tatsachen als Kartellrechtsverstoß durch die Kartellbehörde nicht abweichen kann.179 Mit Blick zunächst auf das Verhältnis der Gerichte untereinander wird indes schnell ersichtlich, dass die Zuständigkeit zur Beurteilung bestimmter Aspekte eines Rechtsstreits vielfach durch eine Bindung an vorangegangene Entscheidungen entzogen ist: Man denke im deutschen Zivilprozess etwa an die (beschränkte) Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellungen des erstinstanzlichen Gerichts gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, an die Bindung des Berufungsgerichts an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts bei aufhebenden Entscheidungen nach § 563 Abs. 2 ZPO oder an die Wirkung der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile nach § 322 ZPO als Wiederholungs- und Abweichungsverbot.180 Zu denken ist ferner an bindende gerichtliche Entscheidungen aufgrund von Vorlagepflichten, etwa nach Art. 100 GG oder Art. 267 AEUV.181 Bindungen an fremde gerichtliche Urteile beschränken zweifellos die eigene Zuständigkeit des von ihr betroffenen Richters. Gleichwohl begründen sie – ungeachtet ihrer auch rechtsprechungsinternen Schutzrichtung – keinen Eingriff in die Garantie richterlicher Unabhängigkeit, sie aktualisieren vielmehr die richterliche Gesetzesunterworfenheit.182 Die richterliche Unabhängigkeit ist streng funktionsbezogen, soll sie doch die alleinige Maßgeblichkeit des Gesetzes bei Ausübung der Rechtsprechungstätigkeit sichern;183 sie begründet also kein „Standesprivileg“184 der Richter. Aus dem Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit kann daher auch kein Anspruch abgeleitet werden, bestimmte Entscheidungskompetenzen zugewiesen zu bekommen oder alle einen bestimmten Rechtsstreit betreffenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen selbst zu entscheiden.185 Der Gesetzgeber Siehe dazu supra Kapitel 3 A. II. 2. und 3. Schilken, JZ 2006, 860 (864), mit weiteren Beispielen. 181 Schilken, JZ 2006, 860 (864); Classen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 97 GG Rn. 22, 34; vgl. zur Vorabentscheidung durch den EuGH auch BVerfG 22.10.1986, 2 BvR 197/83, NJW 1987, 577 (579) – Solange II. 182 Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 96; Schilken, JZ 2006, 860 (864); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, 912. 183 Papier, NJW 2001, 1089 (1089); Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 4; Meyer, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 97 GG Rn. 3; Classen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 97 GG Rn. 6; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 17; vgl. auch Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (21). 184 BGH 27.9.1976, RiZ (R) 3/75, NJW 1977, 437; BGH 14.9.1990, RiZ (R) 1/90, NJW 1991, 421 (422). 185 Classen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 97 GG Rn. 21; Meyer, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 97 GG Rn. 15; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, 912; vgl. zur Unterscheidung von richterlicher 179 180
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hat es damit grundsätzlich in der Hand, per Gesetz auch eine zuständigkeitsbeschränkende Bindung an fremde Entscheidungen anzuordnen.186 Dies gilt im Grundsatz gleichermaßen in Bezug auf Entscheidungen der Exekutive.187 Auch in diesem Fall beeinflusst bzw. konkretisiert der für das Gericht bindende Einzelakt letztlich das anwendbare Recht, das der Richter aufgrund seiner Gesetzesunterworfenheit der gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen hat.188 Die Feststellungswirkung stellt sich damit als ein Aspekt der durch den Gesetzgeber angeordneten Aufgabenverteilung und Koordination zwischen verschiedenen Staatsorganen dar.189 Daher geht auch die Annahme fehl, dass eine durch Gesetz angeordnete Bindung des Richters an eine Verwaltungsentscheidung de facto einem behördlichen Weisungsrecht gleichkomme und damit einen sachfremden exekutiven Eingriff in die Art und Weise der rechtsprechenden Tätigkeit begründe.190 Insbesondere vermag es kaum zu überzeugen, insofern zwischen der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten (im weiteren Sinn)191 einerseits und einer Feststellungswirkung andererseits zu unterscheiden: So wird vereinzelt angenommen, dass erstere mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar sei,192 während letztere das Gericht aufgrund ihres Umfangs und den (geringen) Entscheidungsbefugnissen, die dem Gericht damit verbleiben, „über das mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbare Maß hinaus“ binde.193 So habe die FeststellungswirEntscheidungskompetenz (judicial competence) und richterlicher Unabhängigkeit (judicial autonomy) auch Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (19 ff.). 186 Schilken, JZ 2006, 860 (684); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 22; Classen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 97 Rn. 24. 187 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 22. 188 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 27; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (194); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 158. 189 Matscher, ÖZöR 1980, 1 (16); Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (229 f.). 190 So aber Meyer, GRUR 2006, 27 (30) und Durner, EuR 2004, 547 (569 ff.), Letzerer in Bezug auf die gerichtliche Bindung an Kommissionsentscheidungen nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003; dagegen zu Recht ablehnend gegenüber der Gleichstellung einer Bindung an Verwaltungsentscheidungen mit einer behördlichen Weisung Matscher, ÖZöR 1980, 1 (16) („enthält […] nicht die charakteristischen Elemente einer Weisung“) und Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (194). 191 Zum Begriff der Tatbestandswirkung im weiteren Sinn supra Kapitel 3 A. I. 1. a) bb). 192 Durner, EuR 2004, 547 (570); siehe zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der Tatbestandswirkung auch Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, 78. EL September 2016, Art. 97 GG Rn. 77; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 97 GG Rn. 22, 27; das Bundesverfassungsgericht hat eine Tatbestandswirkung als mit der Verfassung vereinbar eingestuft in BVerfG 9.1.1991, 1 BvR 207/87, NJW 1991, 1878 (1879); BVerfG 7.12.1999, 1 BvR 1281/95, VIZ 2000, 209, jeweils unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. 193 Durner, EuR 2004, 547 (570), in Bezug auf die gerichtliche Bindung an Kommissionsentscheidungen nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003.
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
kung kartellbehördlicher Entscheidungen zur Folge, dass das Gericht nur noch zusätzliche Sanktionen in Form von Schadensersatz verhängen könne.194 Ein solches Maß an behördlicher Einflussnahme substituiere die wesentlichen Inhalte der gerichtlichen Entscheidungsfindung, sodass ein derart gebundener Spruchkörper nicht mehr in richterlicher Unabhängigkeit handle.195 Diese Argumentation überdehnt den Gewährleistungsgehalt der Garantie richterlicher Unabhängigkeit nach dem Konventions- und Unionsrecht. Zwar garantiert nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Art. 6 Abs. 1 EMRK eine vollumfassende Überprüfung durch unabhängige Gerichte, sodass über alle erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen eines Rechtsstreits ein Gericht entscheiden können muss, das nicht auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränkt oder an letztverbindliche Feststellungen einer Behörde gebunden sein darf.196 Dies bedeutet indes nicht, dass die Vertragsstaaten gezwungen sind, zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen197 auf jeder Verfahrensebene durch Gerichte untersuchen zu lassen. Die vorherige Einschaltung von Verwaltungsbehörden kann aus Gründen der Zweckmäßigkeit und der Effektivität durchaus zulässig sein.198 Soll ein Zivilgericht an eine vorangegangene Verwaltungsentscheidung gebunden werden, die eine zivilrechtliche Vorfrage betrifft, ist mit Vgl. Durner, EuR 2004, 547 (570), in Bezug auf die gerichtliche Bindung an Kommissionsentscheidungen nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003; ähnlich auch Komninos, in: Lowe / Marquis, 2014, 141 (148): „[…] courts […] would be turned to mere assessors of damages“; Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1404); Nervi, Italian Law Journal 2 (2016), 131 (140 f.): „[…] the judge’s role has practically lost all purpose, save for that of ordering the payment of compensation for harms deriving from the infringement of competition law.“ 195 Vgl. Durner, EuR 2004, 547 (570), in Bezug auf die Bindung der Gerichte an Kommissionsentscheidungen nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003. 196 EGMR 23.6.1981, Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven and De Meyere . / . Belgien, EuGRZ 1981, 551, Rn. 51; EGMR 17.12.1996, Nr. 20641/92, Terra Woningen . / . Niederlande, ÖJZ 1998, 69, Rn. 52; EGMR 13.2.2003, Nr. 49636/99, Chevrol . / . Frankreich, Rn. 77, 81 f.; EGMR 28.7.2005, Nr. 43578/98, I.D. . / . Bulgarien, Rn. 45; vgl. auch EGMR 28.6.1990, Nr. 11761/85, Obermeier . / . Österreich, EuGRZ 1990, 209, Rn. 69 f.; aus dem Schrifttum dazu etwa Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 35. 197 Zum Begriff „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ (civil rights and obligations / droits et obligations de caractère civil) i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK siehe MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 8 ff.; Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 4 ff.; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 6 EMRK Rn. 6 ff. 198 EGMR 23.6.1981, Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven and De Meyere . / . Belgien, EuGRZ 1981, 551, Rn. 51; hierzu aus dem Schrifttum MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 35; Gundel, in: Merten / Papier, 2010, 349 (§ 146 Rn. 88); 194
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Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch sicherzustellen, dass die Verwaltungsentscheidung selbst einer den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK genügenden Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht zugänglich ist.199 Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten unter dem Aspekt des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG problematisiert.200 Die eigentlich maßgebliche Problematik bei der gerichtlichen Bindung an behördliche Entscheidungen liegt damit nicht in der richterlichen Unabhängigkeit und dem Grundsatz der Gewaltenteilung, sondern in der Wahrung des Gebots effektiven Rechtsschutzes. Insoweit kann es aber nicht entscheidend auf den Umfang der Bindungswirkung – Tatbestandsoder Feststellungswirkung – ankommen, sondern allein darauf, dass die Verwaltungsentscheidung einer umfassenden Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht zugeführt werden kann.201 Der Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit und der Gewaltenteilungsgrundsatz stehen der Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen damit nicht entgegen,202 sofern hinreichender Rechtsschutz gegen die kartellbehördliche Entscheidung offensteht, womit das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den Blick zu nehmen ist. 2. Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und Anspruch auf rechtliches Gehör Eine kartellbehördliche Entscheidung, der nach § 33b GWB Feststellungswirkung zukommt, unterliegt im Schadensersatzprozess grundsätzlich keiner KonGrabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 64; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (195). 199 EGMR 28.6.1990, Nr. 11761/85, Obermeier . / . Österreich, EuGRZ 1990, 209, Rn. 69 f.; EGMR 20.11.1995, Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd . / . Niederlande, Rn. 82 ff.; EGMR 28.7.2005, Nr. 43578/98, I.D. . / . Bulgarien, Rn. 48, 53; aus dem Schrifttum Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 40; Gundel, in: Merten / Papier, 2010, 349 (§ 146 Rn. 88); MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 35; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 6 EMRK Rn. 206; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (195); siehe ferner bereits Matscher, ÖZöR 1980, 1 (17). 200 BVerfG 9.1.1991, 1 BvR 207/87, NJW 1991, 1878 (1879); BVerfG 7.12.1999, 1 BvR 1281/95, VIZ 2000, 209. 201 So auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (195). 202 So auch im Ergebnis die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (191 ff.); Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 157 ff.; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 434; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz, 2009, 257; Milutinović, The ‘right to damages’ under EU competition law, 2010, 293 f.; Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (21); vgl. auch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (816) („concerns […] are to a degree overstated and are adequately answered […]“).
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trolle durch das angerufene Zivilgericht.203 Folgt die Bindung „unmittelbar“ aus der kartellbehördlichen Entscheidung, weil gegen die Entscheidung kein Rechtsbehelf eingelegt wurde,204 hat in Bezug auf diese Entscheidung keinerlei gerichtliche Kontrolle stattgefunden. Das Zivilgericht hat die kartellbehördliche Entscheidung selbst für den Fall, dass diese rechtswidrig sein sollte, der eigenen gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen, es sei denn die behördliche Entscheidung leidet unter einem derart gravierenden Fehler, dass sie nichtig ist.205 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die Feststellungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes vereinbar ist. a) Grundlagen und Gewährleistungsgehalt Das Justizgrundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ist im Unionsrecht gleich dreifach verankert: Es stellt zunächst nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den allgemeinen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt.206 Ferner wird es durch Art. 13 und Art. 6 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 6 Abs. 3 EUV gewährleistet und kommt schließlich in Art. 47 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV zum Ausdruck.207 An die Gewährleistungen 203 Vgl. aber zur Frage, ob ein Anerkennungsvorbehalt bei Entscheidungen, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind, erforderlich und rechtlich zulässig ist infra Kapitel 3 A. V. 2. 204 Zum Erfordernis der Bestandskraft für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess infra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 205 Zum Erfordernis der Wirksamkeit der Entscheidung für den Eintritt der Bindungswirkung im Zivilprozess infra Kapitel 2 B. II. 1. c) aa). 206 EuGH 15.5.1986, Rs. C-222/84, Johnston, EU:C:1986:206, Rn. 18; EuGH 15.10.1987, Rs. C-222/86, Heylens, EU:C:1987:442, Rn. 14: EuGH 25.7.2002, Rs. C50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores, EU:C:2002:462, Rn. 39; EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163, Rn. 37; EuGH 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat International Foundation, EU:C:2008:461, Rn. 335; EuGH 18.3.2010, Rs. C-317/08 bis C-320/08, Alassini u.a., EU:C:2010:146, Rn. 61; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 46. 207 Nach der Kongruenzklausel in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC haben die in der Charta niedergelegten Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Art. 47 Abs. 1 GRC stützt sich auf Art. 13 EMRK, wobei in der Charta jedoch ein umfassenderer Schutz gewährt wird, indem ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht garantiert wird. Art. 47 Abs. 2 GRC entspricht Art. 6 Abs. 1 EMRK, wobei allerdings in der Charta die Beschränkung auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen entfällt; siehe dazu die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, 17; ferner Jarass, NJW 2011, 1393 (1393); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 1; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014,
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der GRC sind nach Art. 51 Abs. 1 GRC neben den Organen der Union auch die Mitgliedstaaten gebunden, sofern diese das Unionsrecht durchführen.208 Bei der Durchführung der europäischen Wettbewerbsregeln sind neben den europäischen daher auch die nationalen Behörden und Gerichte an die Gewährleistungen der GRC gebunden.209 Von einer Durchführung des Unionsrechts ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits dann auszugehen, wenn eine nationale Maßnahme in den „Geltungs- bzw. Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fällt.210 In den „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ fällt dabei neben dem Erlass von Rechtsvorschriften, insbesondere zur Umsetzung von Richtlinienvorschriften (normative Durchführung), auch der administrative Vollzug von Verordnungen211 und umgesetztem Unionsrecht (administrative Durchführung).212 Die Grundrechte sind mithin auch bei der Auslegung und beim Vollzug von nationalem Recht zu beachten, jedenfalls soweit letzteres richtlinienrechtlich determiniert ist. 213 Die konventionsrechtlichen Pflichten der Art. 13 und Art. 6 Abs. 1 EMRK treffen die Mitgliedstaaten kraft ihrer völkerrechtlichen Bindung unmittelbar, wobei auch staatliches Art. 47 GRC Rn. 2 ff., Rn. 20 ff.; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 52 GRC Rn. 32. 208 Grundlegend EuGH 13.7.1989, Rs. C-5/88, Wachauf, EU:C:1989:321, Rn. 19. 209 Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 684, 772; Mestmäcker / Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 1 Rn. 11; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 71 f.; Weiß, EuZW 2006, 263 (266). 210 Vgl. grundlegend EuGH 18.6.1991, Rs. C-260/89, ERT, EU:C:1991:254, Rn. 42; aus jüngerer Zeit und grundlegend zu Art. 51 Abs. 1 GRC EuGH 26.2.2013, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 17 ff., insb. Rn. 19; in Reaktion auf die großzügige Lesart des Art. 51 Abs. 1 GRC durch den Gerichtshof eine restriktivere Anwendung der GRC anmahnend BVerfG 24.4.2013, 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499 (1501) – Antiterrordatei; aus dem Schrifttum dazu etwa Thym, NVwZ 2013, 889 (889 ff.); Franzius, ZaöRV 2015, 383 (389 ff.); Weiß, EuZW 2013, 287 (288 f.); Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 754a ff. 211 Erwägungsgrund 37 der Kartellverfahrensverordnung weist auf das Erfordernis der Auslegung und Anwendung in Übereinstimmung mit der GRC eigens hin. 212 Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 51 GRC Rn. 26 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 51 GRC Rn. 21 f.; zur zusätzlichen judikativen Durchführung Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 51 GRC Rn. 23. 213 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs handeln die Mitgliedstaaten auch dann im Anwendungsbereich des Unionsrechts, wenn dieses ihnen Ermessensspielräume eröffnet. Nationales Recht, das im Zusammenhang mit der Umsetzung von Richtlinien steht, ist hiernach also am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen, vgl. EuGH 12.12.2002, Rs. C-442/00, Caballero, EU:C:2002:752, Rn. 29 ff.; EuGH 27.6.2006, Rs. C-540/03, Parlament / Rat, EU:C:2006:429, Rn. 104 f.; a. A. indes das Bundesverfassungsgericht: BVerfG 13.3.2007, 1 BvF 1/05, NVwZ 2007, 937 (939) – Emissionshandel; BVerfG 11.3.2008, 1 BvR 256/08, NVwZ 2008, 543 – Vorratsdatenspeicherung; BVerfG 24.4.2013, 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499 (1500) – Antiterrordatei.
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Handeln in Vollzug bzw. Umsetzung des Unionsrechts grundsätzlich der EMRK unterliegt.214 Das Justizgrundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – wie es nun ausdrücklich in Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC niedergelegt ist215 – verlangt zunächst, dass der Zugang zu einem Gericht216 gewährleistet wird.217 Vermittelt wird ein Anspruch auf Überprüfung durch eine gerichtliche Instanz, ein Recht auf einen Instanzenzug wird nicht gewährleistet.218 Wenn und soweit allerdings Rechtsmittel durch das einschlägige nationale Recht gewährt werden, müssen die Vorgaben des Art. 47 GRC auch insoweit beachtet werden.219 Garantiert wird durch Art. 47 GRC jedoch kein absoluter bzw. unein214 Vgl. EGMR 18.2.1999, Nr. 24833/94, Matthews . / . Vereinigtes Königreich, EuZW 1999, 308 (309); EGMR 30.6.2005, Nr. 45036/98, Bosphorus . / . Irland, NJW 2006, 197 (202); EGMR 6.12.2012, Nr. 12323/11, Michaud . / . Frankreich, NJW 2013, 3423 (3425 f.); aus dem Schrifttum Janik, ZaöRV 2010, 127 (137 ff.); Lenz, EuZW 1999, 311 (311 f.); Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 2 f. 215 In systematischer Sicht ist unklar, ob Art. 47 GRC in seinen Abs. 1 und 2 verschiedene Grundrechte oder ein einheitliches Grundrecht gewährt; mit der wohl überwiegenden Auffassung im Schrifttum wird hier von einem gemeinsamen Grundrecht ausgegangen; so auch Jarass, NJW 2011, 1393 (1394 f.); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 2; Blanke, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 2; mitunter wird indes davon ausgegangen, dass Art. 47 GRC in seinen drei Absätzen verschiedene Rechte gewährt, so Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 1, der gleichzeitig einräumt, dass die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes gemeinsames Ziel ist und Abs. 1 und Abs. 2 inhaltlich zusammenhängen. 216 Siehe zu den Anforderungen an das Entscheidungsorgan „Gericht“ etwa Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 29 ff.; Heinze, EuR 2008, 654 (658), jeweils m. w. N. 217 EuGH 15.5.1986, Rs. C-222/84, Johnston, EU:C:1986:206, Rn. 18 f.; seitdem ständige Rechtsprechung, siehe nur EuGH 15.10.1987, Rs. C-222/86, Heylens, EU:C:1987: 442, Rn. 14; EuGH 25.7.2002, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores, EU:C:2002:462, Rn. 39; EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163, Rn. 61; EuGH 22.12.2010, Rs. C-279/09, DEB, EU:C:2010:811, Rn. 29 ff.; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 46 ff.; aus dem Schrifttum etwa Heinze, EuR 2008, 654 (658); Jarass, NJW 2011, 1393 (1395 f.); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 23; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 28. 218 EuGH 28.7.2011, Rs. C-69/10, Diouf, EU:C:2011:524, Rn. 69; Jarass, NJW 2011, 1393 (1396); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 23; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 28; Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 63. 219 Jarass, NJW 2011, 1393 (1396); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 23; vgl. auch Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 63; Gundel, in: Merten / Papier, 2010,
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geschränkter Zugang zu einem Gericht. Aus der Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens und der Bestimmung der Zuständigkeiten können sich durchaus Begrenzungen des gerichtlichen Rechtsschutzes ergeben. So sind etwa Verfahrensfristen und ihre strikte Beachtung zulässig, sofern der Zugang zu einem Gericht dadurch nicht unverhältnismäßig behindert wird.220 Neben dem Recht auf Zugang zum gerichtlichen Verfahren ergeben sich aus dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auch verschiedene Anforderungen im gerichtlichen Verfahren, die zusammenfassend mit dem Oberbegriff des fairen Verfahrens gekennzeichnet werden. Zu den Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren zählen etwa die Gewährung prozessualer Waffen- und Chancengleichheit sowie insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör.221 b) Vereinbarkeit Aus dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes folgt zunächst, dass der Adressat einer ihn belastenden kartellbehördlichen Entscheidung die Möglichkeit haben muss, gegen die Entscheidung einen Rechtsbehelf vor einem Gericht einzulegen. Die kartellbehördliche Entscheidung muss hierbei umfassend in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht durch das Gericht überprüft werden können,222 wobei der Umstand, dass seitens der Wettbewerbsbehörde komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind und ein Wertungsspielraum zusteht, nicht bedeutet, dass insoweit eine gerichtliche Kontrolle unterbleiben darf.223 349 (§ 146 Rn. 73); Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 6 EMRK Rn. 95. 220 Vgl. EuGH 17.5.2002, Rs. C-406/01, Deutschland / Parlament und Rat, EU:C:2002: 304, Rn. 20; EuGH 28.2.2013, Rs. C-334/12 RX, Arango Jaramillo u.a. / EIB, EU:C: 2013:134, Rn. 43; aus dem Schrifttum Heinze, EuR 2008, 654 (659 f.); Jarass, NJW 2011, 1393 (1396); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 29; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 39; Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 55. 221 Jarass, NJW 2011, 1393 (1396 f.); Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 31 ff.; Eser, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 47 GRC Rn. 34; Blanke, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 47 GRC Rn. 14 f.; Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 866 f.; Heinze, EuR 2008, 654 (668 f.); Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 66 ff. 222 EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 49; vgl. auch Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 783, 864; Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (19); Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (197). 223 Vgl. EuGH 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Chalkor, EU:C:2011:815, Rn. 54; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 59; Calliess, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Einl. Rn. 783, 864; skeptisch etwa mit Blick auf die einge-
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Aus dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes lässt sich für die follow on-Konstellation allerdings nicht ableiten, dass Rechtsschutz gegen die Entscheidung gerade vor dem Zivilgericht gewährt werden müsste, das über eine im Anschluss an ein kartellbehördliches Verfahren erhobene Schadensersatzklage entscheidet.224 So hat der Gerichtshof in der Sache Otis befunden, dass dem Recht auf Zugang zu einem Gericht im Sinne von Art. 47 GRC im Falle einer auf eine Kommissionsentscheidung gestützten follow on-Klage dadurch Genüge getan ist, dass die Entscheidung der Kommission im Wege der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV einer Rechtmäßigkeitskontrolle vor den Unionsgerichten unterzogen werden kann.225 Auch nach der Rechtsprechung des EGMR ist – wie bei der Frage der Vereinbarkeit der Feststellungswirkung mit der richterlichen Unabhängigkeit und dem Gewaltenteilungsgrundsatz bereits dargelegt wurde226 – die Bindung eines Gerichts an die Entscheidung einer Vorfrage durch eine Verwaltungsbehörde mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar, sofern die Verwaltungsentscheidung in einer den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechenden Weise gerichtlich überprüft werden kann.227 Entscheidend ist also, dass die Entscheidung, deren Feststellungswirkung in Rede steht, vor irgendeinem gerichtlichen Spruchkörper umfassend überprüft werden kann.228 Vor welchem Gericht die Überprüfung stattfindet, unterliegt mangels unions- bzw. konventionsrechtlicher Vorgaben der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.229 schränkte gerichtliche Überprüfbarkeit von Entscheidungen der italienischen Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato hinsichtlich der vorgenommenen Marktabgrenzung Association of European Competition Law Judges, Comments on the Commission’s White Paper on damages actions for breach of the EC antitrust rules, 2008, Rn. 16; dazu auch Truli, European Competition Journal 2009, 795 (814 Fn. 107); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 596 f. 224 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (197). 225 EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 54 ff.; im konkreten Fall kam hinzu, dass die Kommission, deren Entscheidung den Kartellverstoß für das über die Schadensersatzklage befindende Gericht bindend vorgab (Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003), selbst im Namen der Europäischen Union auf Schadensersatz geklagt hatte. 226 Siehe supra Kapitel 3 A. IV. 1. b). 227 EGMR 28.6.1990, Nr. 11761/85, Obermeier . / . Österreich, EuGRZ 1990, 209, Rn. 69 f.; EGMR 20.11.1995, Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd . / . Niederlande, Rn. 82 ff.; EGMR 28.7.2005, Nr. 43578/98, I.D. . / . Bulgarien, Rn. 48, 53; aus dem Schrifttum dazu Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 24 Rn. 40; Gundel, in: Merten / Papier, 2010, 349 (§ 146 Rn. 88); MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 35; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 6 EMRK Rn. 66, 206; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (194 f.); Matscher, ÖZöR 1980, 1 (17). 228 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (197); vgl. ferner EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 54 ff. 229 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (197).
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Dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes widerspricht es auch nicht, wenn die Feststellungswirkung „unmittelbar“ aus der kartellbehördlichen Entscheidung folgt und damit keinerlei gerichtlicher Rechtsschutz gegenüber der bestandskräftigen Entscheidung mehr offensteht, mit der Folge, dass das Gericht mitunter auch an rechtswidrige kartellbehördliche Entscheidungen gebunden sein kann. Der Umstand, dass der von der Feststellungswirkung nachteilig Betroffene die hinreichende Möglichkeit hatte, gegenüber der behördlichen Entscheidung Rechtsschutz vor einem Gericht zu erlangen, genügt für die Wahrung des Gebots effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.230 Die Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen dient dem Erfordernis der Rechtssicherheit, die ihrerseits zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählt.231 Letztere trägt zur Rechtssicherheit bei, indem sie verhindert, dass hoheitliches Handeln wieder und wieder in Frage gestellt werden kann.232 Voraussetzung für den Eintritt der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen ist, dass die maßgeblichen Klagefristen „angemessen“ bemessen sind.233 Während im Unionsrecht für Nichtigkeitsklagen gegen Kommissionentscheidungen gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV eine Klagefrist von zwei Monaten eingeräumt wird, dürften für Klagen gegen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden auch deutlich kürzere Klagefristen, in jedem Fall solche von einem Monat (vgl. im deutschen Recht § 66 Abs. 1 S. 1 GWB),234 angemessen sein.235 Für den Anwendungsbereich der Feststellungswirkung in persönlicher Hinsicht236 folgt aus dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes allerdings, dass eine kartellbehördliche Entscheidung nur gegenüber solchen Personen Feststellungswirkung entfalten kann, die auch die Möglichkeit hatten, die betreffende Entscheidung gerichtlich anzufechten. Schließlich gehen mit den Einschränkungen der gerichtlichen Prüfkompetenz, wie sie sich aus 230 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (198): „Effektiver Rechtsschutz ist nicht mit einem tatsächlich effektuierten Rechtsschutz gleichzusetzen“; vgl. auch Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 VwVfG Rn. 126. 231 EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rn. 24. 232 Vgl. EuGH 9.3.1994, Rs. C-188/92, TWD, EU:C:1994:90, Rn. 16. 233 Vgl. EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rn. 24. 234 Die Klagefristen bei der gerichtlichen Nachprüfung von Abstellungsentscheidungen variieren in den Mitgliedstaaten stark und reichen von 14 bis zu 90 Tagen, siehe dazu den Überblick bei ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, DecisionMaking Powers Report, 31 October 2012, 18 f.; zur gerichtlichen Kontrolle der Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden siehe auch Kommission, Weißbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endgültig, S. 6 Fn. 9. 235 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (199); vgl. auch Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 6 EMRK Rn. 63 (zu Rechtsmittelfristen). 236 Dazu supra Kapitel 2 C.
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
der Feststellungswirkung ergeben,237 auch verringerte prozessuale Verteidigungsmöglichkeiten des Beklagten im Zivilprozess einher, ist es diesem infolge der Feststellungswirkung doch verwehrt, mittels Gegenvortrag und Beweis das Zivilgericht vom Nichtvorliegen des Verstoßes zu überzeugen. Der Eintritt einer Feststellungswirkung gegenüber Beklagten, die keine Möglichkeit hatten, die Entscheidung gerichtlich anzufechten, wäre daher mit dem Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unvereinbar.238 Festzuhalten bleibt, dass die Anordnung einer Feststellungswirkung bestandskräftiger kartellbehördlicher Entscheidungen als solche den Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht zu verletzen vermag. Voraussetzung dafür, dass der Grundsatz im Einzelfall gewahrt wird, ist jedoch, dass die Entscheidung, die im follow on-Prozess Feststellungswirkung entfalten soll, durch den von ihr nachteilig betroffenen Beklagten in einem anderen gerichtlichen Verfahren in einer den oben skizzierten Anforderungen genügenden Weise umfassend überprüft werden konnte. Besondere Aufmerksamkeit verdient insoweit der Fall, dass – neben den Entscheidungen der eigenen Wettbewerbsbehörde – nach dem einzelstaatlichen Recht auch Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden Feststellungswirkung entfalten können, wie es das deutsche Recht in § 33b S. 1 GWB anordnet. V. Besonderheiten der Feststellungswirkung von Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden Während den Entscheidungen der eigenen Wettbewerbsbehörde nach Art. 9 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie im follow on-Schadensersatzprozess eine Feststellungswirkung beigelegt werden muss, ist nach Abs. 2 der Richtlinie in Bezug auf Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden lediglich erforderlich, dass diese als Anscheinsbeweis für einen Verstoß vorgelegt werden können. 239 Die im Zuge der 7. GWB-Novelle durch den deutschen Gesetzgeber einseitig – also unter Verzicht auf das bei der Anerkennung ausländischer Verwaltungsentscheidungen an sich übliche Gegenseitigkeitserfordernis240 – angeordnete Feststellungswirkung der Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden bleibt damit auch unter der KartellschadensersatzDazu supra Kapitel 3 A. II. 2. und 3. Dazu bereits supra Kapitel 2 C. I. 239 Näher dazu infra Kapitel 3 B. 240 Vgl. Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, 93; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 68; vgl. auch das Sondergutachten der Monopolkommission zum allgemeinen Wettbewerbsrecht in der 7. GWB-Novelle, Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWBNovelle, 2004, Rn. 49; anders im Internationalen Privat- und Prozessrecht, in dem das Gegenseitigkeitserfordernis im Kern sachfremd ist und sich in stetigem Rückzug befindet, dazu Basedow, in: FS Coester-Waltjen, 2015, 335 (335 ff.). 237 238
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richtlinie ohne verbürgte Gegenseitigkeit. Der zwingenden Regelungsauftrag des Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie wird inhaltlich übererfüllt.241 Auch wenn der Begriff der Anerkennung weder in § 33b GWB noch in der Kartellschadensersatzrichtlinie Verwendung findet, handelt es sich in der Sache um eine ebensolche, werden ausländischen Entscheidungen im Inland doch Rechtswirkungen zugeschrieben, also solche Wirkungen, die gemeinhin mit dem Begriff der Anerkennung ausländischer (Verwaltungs-)Entscheidungen gemeint sind.242 Der Unionsgesetzgeber ist bei Erlass der Kartellschadensersatzrichtlinie ersichtlich davon ausgegangen, dass eine Pflicht zur Anerkennung der Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden, jedenfalls mit dem Umfang einer Feststellungswirkung, nicht bereits aus dem unionalen Primär- oder Sekundärrecht folgt. Völlig unbestritten ist dies allerdings nicht. Zunächst ist daher nach einer Anerkennungspflicht nach dem gegenwärtigen acquis communautaire zu fragen. Sodann ist der Frage nachzugehen, ob bei der in § 33b S. 1 GWB angeordneten Bindung an die Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden ein impliziter Anerkennungsvorbehalt erforderlich und zulässig ist. 1. Anerkennungspflicht bereits nach dem acquis communautaire? Im Grundsatz gilt ein Verwaltungsakt nur in dem Staat, dessen Behörde diesen erlassen hat. Der Geltungsbereich243 eines Verwaltungsaktes deckt sich also
241 Kühne / Woitz, DB 2015, 1028 (1029); Stauber / Schaper, NZKart 2014, 346 (347 f.); zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung von Richtlinien unterscheiden etwa Habersack / Mayer, in: Riesenhuber, 3. Aufl. 2015, Rn. 11; Mittwoch, Vollharmonisierung und europäisches Privatrecht, 2013, 158; erstere unterschiedet sich von letzterer, indem das die Richtlinie inhaltlich übererfüllende Recht innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt, vgl. Habersack / Mayer, JZ 1999, 913 (914); Mayer / Schürnbrand, JZ 2004, 545 (545); beide Konstellationen werden auch häufig unter dem Begriff der überschießenden Umsetzung zusammengefasst, wobei auch dann weiter zu unterscheiden ist, ob eine Erweiterung des Anwendungsbereichs oder eine weitergehende inhaltliche Regelung innerhalb des Anwendugsbereichs vorliegt, vgl. nur Riehm, JZ 2006, 1035 (1036); Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, 2006, 61 ff. 242 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (397); zum Begriff (und der Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen) der Anerkennung ausländischer Verwaltungsentscheidungen Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 299; Schwarz, Die Anerkennung ausländischer Staatsakte, 1935, 2; König, Die Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte, 1965, 26 ff.; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 65 f.; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 29 ff.; Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 52 ff. 243 Von der Frage nach dem Geltungsbereich von Verwaltungsakten zu unterscheiden ist die Frage nach deren Regelungsbereich, also die Frage, ob sich ein Verwaltungsakt überhaupt selbst eine Regelung über die eigenen Staatsgrenzen hinaus beilegt; siehe dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc).
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
grundsätzlich mit dem Staatsgebiet.244 Auch wenn dieser Grundsatz gerade innerhalb der Europäischen Union durch immer mehr Ausnahmen durchbrochen wird,245 steht doch im Ausgangspunkt außer Frage, dass es zur Überwindung der territorial beschränkten Geltung eines Verwaltungsaktes der Anerkennung im Aufnahmestaat bedarf,246 sei es in Form einer konkreten Einzelfallentscheidung oder allgemein durch Gesetz für eine unbestimmte Anzahl von Fällen.247 Der Anerkennung liegen vielfach Anerkennungspflichten zugrunde, wie sie sich aus dem Völkerrecht oder aus dem Unionsrecht ergeben können. 248 Was die Entscheidungen anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden anbelangt, so könnte sich eine Anerkennungspflicht aus dem primären oder aber aus dem sekundären Unionsrecht herleiten lassen. a) Herleitung aus dem Primärrecht Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV folgt für sich genommen noch keine Pflicht zur Anerkennung von Verwal244 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (398); Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 151; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 29, 93 f.; K. M. Meessen, Völkerrechtliche Grundsätze des internationalen Kartellrechts, 1975, 15 ff.; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 299; Bleckmann, JZ 1985, 1072 (1073); Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 32: Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, 2002, Rn. 61 („Hauptprinzip des internationalen Verwaltungsrechts“); vgl. bereits O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Zweiter Band, 1. Aufl. 1896, 453: „Unsere Staatsgewalt beansprucht nicht die Staatsgewalt zu sein für die ganze Welt. […] Die Grundlage für die Ausscheidung dessen, was ihr zukommt gegenüber den anderen und was sie wieder als diesen zukommend anerkennt, bildet das Gebiet. […] Es ist eine besonders zu begründende Ausnahme, wenn das Wirken einer fremden Staatsgewalt als rechtlich bedeutsam behandelt wird auf unserem Gebiet […]“ (Hervorhebungen im Original). 245 Siehe dazu etwa Basedow, The Law of Open Societies, 2015, Rn. 500; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 206 ff.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (756 f.). 246 Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 152; Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 455 f.; Becker, DVBl. 2001, 855 (860); König, Die Anerkennung ausländischer Verwaltungsakte, 1965, 24; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, 173 f., 299; Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, 335; a. A. Tichý, RabelsZ 78 (2014), 193 (209 ff.). 247 Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 31; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 75; Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 455; Bast, Der Staat 46 (2007), 1 (12); bei einer auf allgemeinem Rechtssatz beruhenden Anerkennung ist insbesondere dann, wenn diese auf einer EU-Verordnung oder auf Richlinienrecht beruht, auch vom „transnationalen Verwaltungsakt“ die Rede, Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, 924 (935); Neßler, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht, 1994, 5 ff.; Neßler, NVwZ 1995, 863 (865 f.); Ruffert, Verwaltung 2001, 453 (453 ff.). 248 Siehe dazu nur Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, 94 f.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (762 ff.).
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tungsakten anderer Mitgliedstaaten, auch ein dahingehender allgemeiner Rechtsgrundsatz findet sich nicht.249 Auf primärrechtlicher Ebene können Anerkennungspflichten allerdings aus einer Anwendung der Grundfreiheiten folgen.250 In der Sache Cassis de Dijon hat der Gerichtshof bekanntlich den Grundsatz entwickelt, dass aufgrund der Warenverkehrsfreiheit in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Produkte grundsätzlich in alle anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen.251 Das darin bereits anklingende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde in einer Reihe von Entscheidungen auf die anderen Grundfreiheiten ausgedehnt.252 Es besagt, dass nationale Rechtsvorschriften und Einzelentscheidungen – und damit auch Verwaltungsakte – der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten im Grundsatz als gleichwertig von allen Mitgliedstaaten anzuerkennen sind.253 Eine aus den Grundfreiheiten folgende Anerkennungspflicht kann freilich immer nur zugunsten der Freiheitsträger wirken, zielen die Grundfreiheiten doch darauf ab, die Marktteilnehmer durch Einräumung subjektiver Rechte zu begünstigen.254 Die zur Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV ergangenen Entscheidungen und Sanktionen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden, die den Entscheidungsadressaten belasten, unterliegen auf dieser Grundlage dementsprechend keiner Anerkennung.
249 Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 215; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 215 ff., 227; Niehof, Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Gemeinschaftsrecht, 1994, 7 ff., 10 ff.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (770); a. A. Tichý, RabelsZ 78 (2014), 193 (212), nach dem der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit „jedenfalls im Rahmen des EWN“ eine hinreichende Grundlage für eine Anerkennungspflicht bilde; vgl. dahingehend auch Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 426 ff. 250 Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 215 ff.; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 210 f.; Wenander, ZaöRV 2011, 755 (770 f.). 251 EuGH 20.2.1979, Rs. C-120/78, Rewe / Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), EU:C:1979:42, Rn. 14. 252 Vgl. etwa die Rechtsprechung zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen; grundlegend EuGH 7.5.1991, Rs. C-340/89, Vlassopoulou, EU:C:1991:193, Rn. 16, 19; EuGH 14.9.2000, Rs. C-238/98, Hocsman, EU:C:2000:440, Rn. 36 (jeweils zur Niederlassungsfreiheit ergangen); einen Überblick zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten und zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bietet Janssens, The principle of mutual recognition in EU law, 2013, 11 ff. 253 Dutta, Die Durchsetzung öffentlichrechtlicher Forderungen ausländischer Staaten durch deutsche Gerichte, 2006, 262; Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 274 f.; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 227 f. 254 Dutta, Die Durchsetzung öffentlichrechtlicher Forderungen ausländischer Staaten durch deutsche Gerichte, 2006, 263; Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 211.
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Auch die in den Entscheidungen Delimitis sowie Masterfoods durch den Europäischen Gerichtshof bereits aus dem Primärrecht255 entwickelten Grundsätze zur Bindung der nationalen Gerichte an Kommissionsentscheidungen lassen sich nicht auf die Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden übertragen.256 Eine Übertragung scheitert schon daran, dass die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte hiernach nicht nur auf dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit257 und dem Grundsatz der Rechtssicherheit,258 sondern auch und gerade auf der zentralen Stellung der Europäischen Kommission für die Ausrichtung und Durchführung der europäischen Wettbewerbspolitik beruht,259 die den nationalen Wettbewerbsbehörden gerade nicht zukommt.260 b) Herleitung aus dem Sekundärrecht Auch wenn es an einer ausdrücklichen Anerkennungsregel fehlt, soll vereinzelten Stimmen zufolge eine unmittelbare unionsweite Geltung von Verwaltungsakten bestehen, die in Vollzug von Verordnungsrecht ergangen sind.261 Zur Begründung wird angeführt, dass der Geltungsbereich eines Verwaltungsaktes stets dem Geltungsbereich der zugrunde liegenden Rechtsgrundlage entspreche. Eine unionsrechtliche Rechtsgrundlage verleihe einem Verwaltungsakt daher unionsweite Geltung.262 Es werde nicht fremden Akten im Inland Rechtswirkung eingeräumt, es liege vielmehr eine „bundesstaatliche Lösung“ vor:263 Da die Gliedstaaten das Recht der Zentralgewalt ausführen, sei es selbstverständlich, dass Einzelakte der Gliedstaaten auch im gesamten Herrschaftsbereich der Zentralgewalt Geltung beanspruchen könnten.264 255 Siehe zur sekundärrechtliche Verankerung in Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 supra Kapitel 1 C. II. 1. 256 Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1396 f.); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 117 f.; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (188 f.); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 528 f. 257 EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 49. 258 EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91, Rn. 47; EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 51. 259 EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91, Rn. 44 ff.; EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 46 ff. 260 Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1396 f.); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 118; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 529. 261 Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 171 f.; vgl. auch Engel, Verwaltung 1993, 437 (453). 262 Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 172. 263 Vgl. dazu, dass in Deutschland die in Vollzug von Bundesgesetzen ergangenen Verwaltungsakte der Länder im ganzen Bundesgebiet Geltung beanspruchen, Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 157 ff.
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Mitunter wird auch spezifisch kartellrechtlich argumentiert und eine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung jedenfalls unter der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 angenommen.265 Angesichts paralleler Zuständigkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden unter der Kartellverfahrensverordnung und des erklärten Ziels, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird,266 müsse von einer impliziten Anerkennungspflicht ausgegangen werden.267 Die territorial aufgeteilte Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln widerspreche dem Ziel der Verordnung, eine dem Binnenmarkt entsprechende Rechtsanwendung zu ermöglichen.268 Schließlich sei angesichts der institutionalisierten Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes eine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Entscheidungen auch nur angemessen.269 So sehr auch die angeführten Gründe aus rechtspolitischer Sicht für ein System gegenseitiger Anerkennung sprechen, so wenig lässt sich ein solches bereits aus dem geltenden Recht ableiten. Die auf einer Analogie zum Bundesstaat beruhende Argumentation stößt schon angesichts der fehlenden Staatsqualität der Union auf grundlegende Bedenken.270 Sie geht auch in der Annahme fehl, dass der Geltungsbereich eines Verwaltungsaktes stets dem Geltungsbereich der zugrunde liegenden Rechtsgrundlage entsprechen müsste. Aus dem Umstand allein, dass die Kartellverfahrensverordnung und die Art. 101 und 102 AEUV unionsweit gelten, folgt noch nicht, dass auch die auf ihrer Grundlage ergangenen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden in der gesamten Union gelten.271 Dies zeigt schon ein Vergleich mit anderen Regelungsbereichen, bei denen trotz einer verordnungsrechtlichen Grundlage ausdrückliche Anerkennungsregeln verankert wur264 Engel, Verwaltung 1993, 437 (453); vgl. auch Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 172. 265 Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 426 ff.; Tichý, RabelsZ 78 (2014), 193 (211 ff.); vgl., vor Erlass der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 für die Verankerung eines Systems gegenseitiger Anerkennung plädierend, Basedow, EBOR 2001, 443 (454 ff.); Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (529); Deringer, EuZW 2000, 5 (8 f.). 266 Erwägungsgrund 18 S. 2 Kartellverfahrensverordnung: „Ziel ist es, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird.“ 267 Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 428 f., die gestützt auf den Grundsatz loyaler Zusammenarbeit aber nur eine Anerkennungspflicht im Einzelfall bejahen möchte, das heißt nur auf Antrag des Mitgliedstaates der erlassenden Behörde und mit Zustimmung der Wettbewerbsbehörde des Aufnahmestaats, die allerdings nur in Ausnahmefällen verweigert werden dürfe. 268 Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (529). 269 Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 428. 270 Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 210 f.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 526; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 267. 271 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 526.
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den,272 derer es sonst doch schon gar nicht bedurft hätte. 273 Mit der Kartellverfahrensverordnung sollte ersichtlich keine automatische gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden verankert werden, hätte man doch auch hier eine Anerkennungsregel treffen können.274 Die Kommission ging vielmehr sowohl im Weißbuch zur Modernisierung der Kartellrechtsanwendung von 1999275 wie auch in der Begründung zum Verordnungsvorschlag276 davon aus, dass Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden nur territorial beschränkt auf dem Gebiet des betreffenden Mitgliedstaates gelten. Es deutet nichts darauf hin, dass mit der Kartellverfahrensverordnung von diesem Grundsatz abgewichen werden sollte.277 Hierzu hätte es denn auch nach dem eben Gesagten einer expliziten Regelung bedurft.278 Eine Anerkennungsregel erscheint schließlich auch nur dann sinnvoll und sachgerecht, wenn auch die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden über reine InlandsauswirSiehe etwa Art. 26 Zollkodex (Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, ABl. 2013 L 269, 1) und Art. 9 Abs. 2 S. 3 Dual-Use-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 428/2009 vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, ABl. 2009 L 134, 1). 273 Vgl. dahingehend auch Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 426 f., die gleichwohl, gestützt auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, eine Anerkennungspflicht im Einzelfall bejahen möchte; vgl. dagegen Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 210, dem zufolge nichts dagegen spreche, ausdrückliche Anerkennungsregeln als rein deklaratorisch zu verstehen. 274 Eine solche Anerkennungsregel wurde seinerzeit auch für zulässig und möglich erachtet; dazu nur Ehlermann, CML Rev. 37 (2000), 537 (572); vgl. auch Lässig, Dezentrale Anwendung des europäischen Kartellrechts, 1997, 76. 275 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 81 und 82 des EG-Vertrags, ABl. 1999 C 132, 1, Rn. 60: „Entscheidungen der nationalen Behörden sind nämlich nur im eigenen Hoheitsgebiet vollstreckbar […].“ 276 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln, KOM(2000) 582 endg., ABl. 2000 C 365 E, 284, Begründung, Ausführungen zu Art. 5, S. 19: „Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden haben außerhalb des betreffenden Mitgliedstaats keine Rechtswirkung […]“; dazu Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 32: Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, 2002, Rn. 61; Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 9 Rn. 60; Wright, Legal Issues of Economic Integration 43 (2016), 15 (27 f.). 277 Dalheimer, in: Grabitz / Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 25; Paulis / Gauer, Concurrences N° 1-2005, 32 (33). 278 Basedow, EBOR 2001, 443 (457); allgemein zur gegenseitigen Anerkennung Schmidt-Aßmann, in: Axer / Grzeszick / Kahl, 2010, 263 (273): „Auch für das Unionsrecht gilt, dass Anerkennungspflichten nur existieren, soweit sie durch besondere Rechtssätze des primären oder des sekundären Unionsrechts festgelegt sind.“ 272
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kungen hinausreicht, was nach der gegenwärtigen Rechtslage aber gerade nicht der Fall ist.279 Schon mangels planwidriger Regelungslücke ist schließlich auch eine analoge Anwendung des Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 auf die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden, wie sie vereinzelt befürwortet wird,280 abzulehnen.281 Hierfür dürfte es auch an einer vergleichbaren Interessenlage fehlen, kommt den nationalen Wettbewerbsbehörden doch im Gegensatz zur Kommission für die Ausrichtung der europäischen Wettbewerbspolitik keine zentrale Stellung zu, worauf bei der (primärrechtlichen) Herleitung und Begründung der unionsweiten Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen maßgeblich abgestellt wurde.282 c) Zwischenergebnis Weder aus dem primären noch aus dem sekundären Unionsrecht lässt sich eine Pflicht zur Anerkennung der Entscheidungen anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden ableiten. Selbst wenn man mit vereinzelten Stimmen eine bereits aus dem unionalen Primär- oder Sekundärrecht folgende Pflicht zur Anerkennung annehmen wollte, so bestünde eine solche damit noch nicht mit dem Umfang einer Feststellungswirkung.283 Die in § 33b GWB den Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden zugeschriebene Feststellungswirkung geht daher in jedem Fall über den bisherigen acquis hinaus. 2. Erfordernis und Zulässigkeit eines immanenten Anerkennungsvorbehalts Gegen die Einräumung einer Feststellungswirkung zugunsten der Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden wurden früh Bedenken angemeldet,284 Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 32: Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, 2002, Rn. 62; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 527; näher dazu, dass die Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden unter der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 auf die Auswirkungen im eigenen Staatsgebiet beschränkt bleibt, supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). 280 Tichý, RabelsZ 78 (2014), 193 (214 f.); Röhling, GRUR 2003, 1019 (1023). 281 Ebenso Lenaerts / Gerard, World Competition 27 (2004), 313 (328); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 529 f.; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 268. 282 Siehe dazu schon supra Kapitel 3 A. V. 1. a). 283 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (189 f.); vgl. auch Tichý, RabelsZ 78 (2014), 193 (216); Michaels, Anerkennungspflichten, 2004, 212. 284 Bereits vor Einführung der Feststellungswirkung im Zuge der 7. GWB-Novelle in Deutschland Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 49 ff.; den Bedenken schlossen sich an Berrisch / Burianski, WuW 2005, 878 (883); Hempel, WuW 2005, 137 (144); Fuchs, WRP 2005, 1384 (1395); Wurmnest, German Law Journal 2005, 1173 (1185 f.). 279
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steht doch zu besorgen, dass über die Feststellungswirkung von Entscheidungen, bei deren Zustandekommen rechtsstaatliche Mindeststandards missachtet wurden, Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte im Zivilverfahren perpetuiert werden.285 Diese Bedenken hat die Kommission im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zwar aufgegriffen, indem sie erklärt hat, dass keine Einwände bestünden, wenn die Mitgliedstaaten die Anerkennung unter einen Vorbehalt stellen sollten, der dem Vorbehalt bei der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen entspricht.286 Weder in § 33b GWB (wie zuvor bereits in § 33 Abs. 4 GWB a.F.) noch in der Kartellschadensersatzrichtlinie findet sich aber ein Anhaltspunkt für einen solchen Anerkennungsvorbehalt. Folgt daraus, dass Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden vorbehaltlos vor den deutschen Zivilgerichten Feststellungswirkung entfalten? Wie bereits dargelegt, liegt in rechtsstaatlicher Hinsicht die entscheidende Herausforderung bei der Bindung der Zivilgerichte an (kartell-)behördliche Entscheidungen in der Wahrung des Gebots effektiven Rechtsschutzes.287 Den Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden im Inland vorbehaltlos Feststellungswirkung beizumessen, ist daher nur unbedenklich, wenn gewährleistet ist, dass der Betroffene im Erlassstaat effektiven Rechtsschutz erlangen konnte. Die Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen beruht maßgeblich auf dem Vertrauen in elementare Standards der Verwaltungs- und Gerichtspraxis des Erlassstaates.288 Alle Mitgliedstaaten – und damit auch alle Kartellbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz – sind an die EMRK und die Unionsgrundrechte gebunden. Mit dem Erfordernis der Bestandskraft wird zudem gewährleistet, dass der Eintritt der Feststellungswirkung noch durch Anfechtung im Erlassstaat verhindert werden kann,289 woraus gleichzeitig folgt, dass Einwände grundsätzlich im Erlassstaat und nicht erst im Anerkennungsstaat vorzutragen sind.290 Im Ausgangspunkt besteht damit für das vorausgesetzte Vertrauen durchaus eine Grundlage. Dennoch dürfte die mitunter postulierte Gleichwertigkeit der Rechtsstaatlichkeitsstandards im G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 137. 286 Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 162: „[…] The Commission would […] see no objection if Member States were to introduce an additional safeguard ensuring the protection of the rights of defence, and to make the binding effect of an NCA decision from another Member State subject to an exception analogous to that contained in Article 34(1) of Regulation 44/2001 as regards fair legal process.“ Vgl. bereits den entsprechenden Vorschlag der Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 51 ff. 287 Supra Kapitel 3 A. IV. 288 Schmidt-Aßmann, in: Axer / Grzeszick / Kahl, 2010, 263 (269 ff.). 289 Vgl. dazu und zum Erfordernis der Bestandskraft für den Eintritt der Bindungswirkung generell supra Kapitel 2 B. II. 1. c) bb). 290 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (400). 285
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Europäischen Wettbewerbsnetz eher einem europäischen Ideal als der Realität entsprechen.291 Aus diesem Idealbild kann jedenfalls nicht folgen, dass für den Fall, dass eine Entscheidung einmal doch unter Verletzung von Rechtsstaatlichkeitsstandards zustande gekommen ist, die Entscheidung gleichwohl vor den Zivilgerichten Feststellungswirkung entfalten sollte.292 In Einzelfällen kann für einen Anerkennungsvorbehalt sehr wohl ein Bedürfnis bestehen. Es leuchtet auch nicht ein, warum Gerichtsurteilen aus anderen Mitgliedstaaten bei Vorliegen bestimmter Gründe die Anerkennung versagt werden kann,293 Verwaltungsentscheidungen dagegen nicht.294 Aber ist ein immanenter Anerkennungsvorbehalt auch rechtlich zulässig? Aus dem Konventionsrecht könnte nicht nur eine Befugnis, sondern sogar eine Pflicht zur einschränkenden Auslegung des § 33b GWB im Sinne eines Anerkennungsvorbehaltes folgen. So hat der EGMR in der Entscheidung Pellegrini die Anerkennung eines Urteils für konventionswidrig erklärt, weil die Gerichte im Anerkennungsstaat nicht gebührend überprüft haben, ob im Ausgangsverfahren die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK eingehalten worden waren.295 Daraus lässt sich der Grundsatz ableiten, dass die Vertragsstaaten sicherstellen müssen, dass sie nur solchen Entscheidungen ausländischer Gerichte und Behörden im Inland Rechtswirkungen beimessen, die unter Einhaltung der Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK zustande gekommen sind.296 Nun erging die Entscheidung, deren Anerkennung in Pellegrini in Rede stand, in einem Nichtvertragsstaat. Demgegenüber wird eine nachträgliche Kontrolle im Anerkennungsstaat vielfach für entbehrlich erachtet, wenn der Erlassstaat selbst an die EMRK gebunden ist,297 wie es bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durchweg der Fall ist. Da in diesem 291 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 138; Stürner, in: Basedow, 2007, 163 (187 f.); Bruns, in: Basedow / Terhechte / Tichý, 2011, 127 (140); generell skeptisch gegenüber einer vorbehaltlosen gegenseitigen Anerkennung von mitgliedstaatlichen Verwaltungsentscheidungen SchmidtAßmann, in: Axer / Grzeszick / Kahl, 2010, 263 (270 ff.). 292 Vgl. G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 138. 293 Vgl. Art. 45 und 46 Brüssel Ia-VO. 294 Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (400). 295 EGMR 20.7.2001, Nr. 30882/96, Pellegrini . / . Italien, Rn. 33 ff.; siehe hierzu Basedow, in: FS Sonnenberger, 2004, 291 (311 ff.); Kinsch, in: Einhorn / Siehr, 2004, 197 (219 ff.); Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.53 f.; Spielmann, Cyprus Human Rights Law Review 1 (2012), 4 (7 f.). 296 Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.83; Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (201). 297 R. Wagner, IPRax 2002, 75 (87 f.); Kinsch, in: Einhorn / Siehr, 2004, 197 (227 f.); Stein, IPRax 2004, 182 (187 f.); Windolf / Zemmrich, JuS 2007, 803 (805 f.); Thöne, Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die EuGVVO, 2016, 125; vgl. auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (206).
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Fall bereits eine Beschwerdemöglichkeit zum EGMR im Erlassstaat eröffnet ist, sei eine doppelte Kontrolle im Anerkennungsstaat nicht zwingend notwendig.298 Der EGMR hat zwar angedeutet, dass er die Entscheidung überprüfen könnte, wenn der Erlassstaat an die EMRK gebunden ist;299 es ist jedoch nicht ohne weiteres ersichtlich, warum diese Möglichkeit den Anerkennungsstaat von seiner eigenen Verantwortung entheben soll.300 Ferner bildet der Umstand, dass der Erlassstaat an die EMRK gebunden ist, keine hinreichende Grundlage für die Vermutung, dass die Gewährleistungen der EMRK auch tatsächlich eingehalten wurden. Hiergegen spricht bereits, dass der EGMR in unzähligen Fällen einen Verstoß der Vertragsstaaten gegen Art. 6 EMRK hat feststellen müssen.301 Schließlich könnte auch umgekehrt argumentiert werden, dass Entscheidungen, die unter Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK zustande gekommen sind, obwohl der Erlassstaat an die EMRK gebunden ist, erst recht in keinem anderen Vertragsstaat anerkannt werden dürfen.302 Überdies hat der Europäische Gerichtshof in der Sache Krombach entschieden, dass die Gerichte im Anerkennungsstaat von der Anerkennung und Vollstreckung eines Urteils unter Berufung auf den ordre public-Vorbehalt nach dem Brüssel-Regime absehen können (und wohl auch müssen303), wenn das Verfahren den Garantien der EMRK nicht genügt hat.304 Es spricht damit viel dafür, dass auch Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nur anerkannt werden dürfen, wenn diese aus einem Verfahren hervorgegangen sind, das den Verfahrensgarantien der EMRK entsprochen hat.305 Eine entsprechende Verpflichtung könnte sich überdies auch aus Art. 47 GRC306 sowie aus dem deutschem Verfassungsrecht ergeben.307 298 R. Wagner, IPRax 2002, 75 (87 f.); Stein, IPRax 2004, 182 (188); Thöne, Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die EuGVVO, 2016, 125. 299 Vgl. EGMR 20.7.2001, Nr. 30882/96, Pellegrini . / . Italien, Rn. 40. 300 Schilling, IPRax 2011, 31 (34); vgl. auch Fawcett, ICLQ 56 (2007), 1 (5, 43); vgl. ferner Spielmann, Cyprus Human Rights Law Review 1 (2012), 4 (9): „Pellegrini quite simply leaves open the question whether the review should extend to decisions emanating from courts in States that have ratified the Convention“ (Hervorhebungen im Original). 301 Schilling, IPRax 2011, 31 (34); Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.77 f. 302 Cuniberti, ICLQ 57 (2008), 25 (31); Schilling, IPRax 2011, 31 (34); vgl. auch Fawcett, ICLQ 56 (2007), 1 (5, 43). 303 Dazu Basedow, in: FS Sonnenberger, 2004, 291 (315 ff.); Geimer, ZIP 2000, 863 (864); Matscher, IPRax 2001, 428 (436); vgl. auch Kohler, ZSR 2005 II, 263 (292). 304 EuGH 28.3.2000, Rs. C-7/98, Krombach, EU:C:2000:164 (zum EuGVÜ). 305 Dies bejahen Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.83; bejahend auch die Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 53, unter Berufung auf das Krombach-Urteil des EuGH; vgl. auch Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (400).
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Jedenfalls sind die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen eine Entscheidung unter Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK zustande gekommen ist, grundsätzlich befugt, von der Anerkennung abzusehen. Nimmt man die jüngeren Rechtsinstrumente im Europäischen Zivilprozessrecht zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in den Blick, so lässt sich zwar feststellen, dass neben dem Exequaturverfahren mitunter auch die Möglichkeit abgeschafft wurde, sich im Anerkennungsstaat auf Anerkennungs- und Vollstreckungsversagungsgründe, insbesondere auf den ordre public zu berufen.308 Letzteres ist der Fall beim Europäischen Vollstreckungstitel;309 hier wurde der Rechtsschutz vollständig in den Erlassstaat verschoben.310 Entsprechendes gilt bei Europäischen Zahlungsbefehlen, die infolge eines Europäischen Mahnverfahrens ergehen,311 sowie bei Titeln aus einem europäischen Verfahren für geringfügige Forderungen.312 Demgegenüber besteht unter der Brüssel Ia-VO die Möglichkeit fort, sich im Anerkennungsstaat auf Anerkennungs- und Vollstreckungsversagungsgründe zu berufen.313 Nun wurden bei den genannten Rechtsinstrumenten als „flankierende Maßnahmen“ Mindeststandards einge306 Vgl. dazu Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.100 ff.; die Frage gilt als bislang ungeklärt; vgl. die Schlussanträge von GA‘in Kokott 18.12.2008 – Rs. C-394/07, Gambazzi, EU:C:2008:748, Rn. 43: „Noch nicht abschließend geklärt ist, ob die Gerichte nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sind, die Vollstreckung eines ausländischen Urteils zu verweigern, das offensichtlich die Grundrechte verletzt. Für eine dahin gehende Pflicht spricht, dass die innerstaatlichen Gerichte nach ständiger Rechtsprechung an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, wenn sie mit einer Sachlage befasst sind, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt.“ 307 Vgl. BVerfG 22.3.1983, 2 BvR 475/78, NJW 1983, 2757 (2760), das auf „verfassungsrechtliche Grenzen für die Einführung der generellen Vollstreckungsmöglichkeit ausländischer Vollstreckungstitel“ hinweist und darauf, dass das ausländische Verfahrensrecht einem rechtsstaatlichen Mindeststandard genügen muss (in Bezug auf den deutschösterreichischen Rechtshilfevertrag); hierzu Kohler, ZSR 2005 II, 263 (292 f.). 308 Eingehend dazu etwa Sujecki, ZEuP 2008, 458 (458 ff.). 309 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 L 143, 15. 310 R. Wagner, NJW 2005, 1157 (1158); Windolf / Zemmrich, JuS 2007, 803 (804); Stein, IPRax 2004, 182 (183); Thöne, Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die EuGVVO, 2016, 26. 311 Vgl. Art. 19 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. 2006 L 399, 1; dazu Sujecki, ZEuP 2006, 124 (124 ff.). 312 Vgl. Art. 20 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. 2007 L 199, 1; dazu Jahn, NJW 2007, 2890 (2890 ff.). 313 Art. 45 und 46 Brüssel Ia-VO.
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führt, mit denen die Abschaffung der Exequatur und des ordre publicVorbehalts im Anerkennungsstaat ausgeglichen werden soll.314 Ferner ist, falls man die Ausgleichsmaßnahmen mit Blick auf das Konventionsrecht für unzureichend erachten sollte,315 jedenfalls die Bosphorus-Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen, wonach bei staatlichem Handeln, das lediglich einer aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtung nachkommt, vermutet wird, dass es in Einklang mit der EMRK steht, sofern der Schutz der Konventionsrechte nicht offensichtlich unzureichend ist.316 Der EGMR nimmt hier also, in ähnlicher Weise wie auch das Bundesverfassungsgericht,317 die eigene Kontrolle zurück, soweit die Europäische Union einen zumindest vergleichbaren Grundrechtschutz bietet.318 Im Unterschied dazu bestehen für die Verfahren, auf deren Grundlage die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden erlassen und gerichtlich überprüft werden, keine entsprechenden Mindeststandards, ist doch das Kartellverfahrensrecht der Mitgliedstaaten weder umfassend unionsrechtlich geregelt noch (bislang)319 harmonisiert.320 Darüber hinaus handelt es sich bei der eingeräumten Feststellungswirkung zugunsten der Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden nicht um staatliches Handeln, das unionsrechtlich (zwingend) determiniert ist. Die Mitgliedstaaten verfügen vielmehr über einen unionsrechtlichen Spielraum: Aus dem acquis communautaire folgt bislang keine Anerkennungspflicht321 und nach der Kartellschadensersatzrichtlinie steht es ihnen frei, ob sie den Entscheidungen anderer Wettbewerbsbehörden prima facie-Beweiswirkung oder Sujecki, ZEuP 2008, 458 (460, 465, 470 f.). Vgl. etwa Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, 2016, Rn. 5.260 ff., 5.280 f. 316 EGMR 30.6.2005, Nr. 45036/98, Bosphorus . / . Irland, NJW 2006, 197 (202), Rn. 155 f.; EGMR 6.12.2012, Nr. 12323/11, Michaud . / . Frankreich, NJW 2013, 3423 (3425 f.), Rn. 102 f.; aus dem Schrifttum dazu etwa Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 4; Janik, ZaöRV 2010, 127 (162 f.); Thöne, Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die EuGVVO, 2016, 126. 317 Vgl. BVerfG 22.10.1986, 2 BvR 197/83, NJW 1987, 577 (582) – Solange II; das Bundesverfassungsgericht verlangt indes, dass der Grundrechtsschutz generell unter das Schutzniveau der deutschen Grundrechte abgesunken ist, wohingegen nach der EGMRRechtsprechung ausreichend ist, dass der Beschwerdeführer im konkreten Fall einen unzureichenden Schutz darlegt; dazu Janik, ZaöRV 2010, 127 (163 f.). 318 Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 4 Rn. 4; Thöne, Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die EuGVVO, 2016, 126. 319 Vgl. aber Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final. 320 Dazu bereits supra Kapitel 1 A. I. 2.; dies wird auch betont von Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (204), der sich im Ergebnis gleichwohl gegen das Erfordernis eines Anerkennungsvorbehalts ausspricht. 321 Supra Kapitel 3 A. V. 1. 314 315
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darüber hinausgehend Feststellungswirkung zuschreiben.322 Einer einschränkenden Auslegung des § 33b GWB im Sinne eines Anerkennungsvorbehalts steht damit kein zwingender unionsrechtlicher Regelungsauftrag entgegen. Der hiernach im Wege einer konventions- bzw. grundrechtskonformen Auslegung des § 33b GWB zu gewinnende Anerkennungsvorbehalt wird nur in Ausnahmefällen eingreifen. Hierzu muss sich der Beklagte auf eine Verletzung rechtsstaatlicher Mindeststandards berufen können, die einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK begründen, also gerade solcher Gewährleistungen, welche an sich bereits alle mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden und Gerichte, die kartellbehördliche Entscheidungen überprüfen, zu wahren haben. Hinzu kommt, dass der Betroffene grundsätzlich alle im Erlassstaat eröffneten Rechtsbehelfe und Rechtsmittel ausgeschöpft haben muss, um mit der Rüge eines Verfahrensverstoßes im Anerkennungsstaat nicht präkludiert zu sein.323 Die Anwendung des Anerkennungsvorbehalts dürfte sich daher in der Regel auf Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte beschränken.324 Eine Nachprüfung der Entscheidung in der Sache scheidet von vornherein aus.325 Hat das Zivilgericht Zweifel daran, dass die europäischen Wettbewerbsregeln in der Sache richtig angewendet wurden, bleibt ihm daher allein der Weg zum Europäischen Gerichtshof über ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV. VI. Möglichkeit der Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV Die angeordnete Feststellungswirkung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Art. 267 AEUV, wie sowohl § 33b S. 3 GWB als auch Art. 9 Abs. 3 Kartellschadensersatzrichtlinie ausdrücklich klarstellen. Die Klarstellung entspricht derjenigen in Art. 16 Abs. 1 S. 3 VO Nr. 1/2003, die ihrerseits wiederum auf die Masterfoods-Rechtsprechung zurückgeht.326 § 33b S. 3 GWB und Art. 9 Abs. 3 der Kartellschadensersatzrichtlinie können nur als deklaratorischer Hinweis verstanden werden, folgt doch bereits aus Art. 267 AEUV und damit aus dem Primärrecht, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte befugt bzw. verpflichtet sind, den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anzurufen.327 Ob ein solches Ersuchen zulässig ist, bemisst sich allein nach Art. 267 AEUV. Vgl. Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie. Geimer, ZIP 2000, 863 (864); Matscher, IPRax 2001, 428 (436); vgl. auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (205). 324 Vgl. Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (205), der sich im Ergebnis aber gegen das Erfordernis eines Anerkennungsvorbehaltes ausspricht. 325 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (205); vgl. dazu, dass „nur“ rechtswidrige, nicht nichtige Entscheidungen Bindungswirkung entfalten können, supra Kapitel 2 B. II. 1. c) aa). 326 Vgl. EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689, Rn. 57. 322 323
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Ein Zivilgericht, das über eine follow on-Schadensersatzklage befindet und an eine vorangegangene Entscheidung gebunden ist, kann den Gerichtshof nicht über eine Vorlage veranlassen, die Gültigkeit der betreffenden nationalen Entscheidung zu überprüfen. Das Gericht kann dem Gerichtshof aber eine Frage nach der abstrakten Auslegung des Unionsrechts stellen. Legt der Gerichtshof das Unionsrecht, namentlich die Art. 101 und 102 AEUV, daraufhin abweichend von der Entscheidung aus, deren Feststellungswirkung in Rede steht, kann das Zivilgericht in der Folge unter Abweichung von der an sich bindenden nationalen Entscheidung urteilen. Die gerichtliche Vorlagekompetenz wird dabei auch nicht durch die Grundsätze der TWD-Rechtsprechung des Gerichtshofs eingeschränkt. 1. Keine Überprüfung der Gültigkeit der Entscheidung durch den Gerichtshof Einem Zivilgericht, das über eine follow on-Schadensersatzklage befindet, steht es ersichtlich nicht offen, über Art. 267 Abs. 1 lit. b Alt. 1 AEUV die Frage nach der Gültigkeit der nationalen Entscheidung, deren Feststellungswirkung im follow on-Schadensersatzprozess in Rede steht, durch den Gerichtshof überprüfen zu lassen.328 Der Gerichtshof entscheidet nach Art. 267 Abs. 1 lit. b Alt. 1 AEUV nur „über die Gültigkeit […] der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“329; die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden und Gerichte gehören nicht zu den Unionsorganen,330 sie werden auch nicht zu solchen, wenn sie die europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 und 102 AEUV anwenden.331 Schon mangels Unionsrechtsakt scheidet daher eine Überprüfung der Gültigkeit einer Entscheidung der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden oder Gerichte im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens aus.
G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 139. 328 Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1397); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 118; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EUKartellrechts, 2014, 569 f.; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 225 f. 329 Hervorhebung nur hier. 330 Zu diesen vgl. die Aufzählung in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 13 Fn. 54. 331 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 569; Komninos, CML Rev. 44 (2007), 1387 (1396); Komninos, EC Private Antitrust Enforcement, 2008, 117; vgl. auch, zur Bezeichnug juge communautaire de droit commun, die Schlussanträge von GA Léger 8.4.2003 – Rs. C-224/01, Köbler, EU:C:2003:207, Rn. 66: „Diese Bezeichnung ist nicht wörtlich, sondern eher symbolisch zu verstehen. Wenn ein nationales Gericht über das Gemeinschaftsrecht befindet, tut es dies nämlich als Organ eines Mitgliedstaats und nicht als Gemeinschaftsorgan […].“ 327
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2. Beschränkung der Vorabentscheidung auf die abstrakte Auslegung des Unionsrechts Dem mit einer follow on-Schadensersatzklage befassten Gericht verbleibt nach dem Vorgesagten die Möglichkeit, dem Gerichtshof Auslegungsfragen zu stellen. In Bezug auf das Primärrecht, und damit hinsichtlich der Art. 101 und 102 AEUV, folgt diese Möglichkeit aus Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV. In Bezug auf das Sekundärrecht, und damit in Bezug auf Auslegungsfragen die Kartellschadensersatzrichtlinie betreffend, ergibt sich diese Möglichkeit aus Art. 267 Abs. 1 lit. b Alt. 2 AEUV.332 Von der Auslegung des Unionsrechts zu unterscheiden ist die Anwendung des Unionsrechts im konkreten Fall, das heißt die Subsumtion des Sachverhalts unter das ausgelegte Unionsrecht.333 Diese Unterscheidung ergibt sich aus der strikten Aufgabenteilung im Vorabentscheidungsverfahren, nach der es dem Europäischen Gerichtshof obliegt, das Unionsrecht auszulegen, wohingegen es dem nationalen Richter vorbehalten bleibt, das ausgelegte Unionsrecht auf den konkreten Einzelfall anzuwenden. Der Gerichtshof geht denn auch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass er nicht befugt ist, im Vorabentscheidungsverfahren über den konkreten Einzelfall und die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Unionsrecht zu befinden.334 Es liegt auch nicht in seiner Kompetenz tatsächliche Fragen zu klären und den Sachverhalt zu würdigen.335 Der Gerichtshof hat lediglich das Unionsrecht abstrakt auszulegen.336 3. Abweichungsmöglichkeit infolge einer Vorabentscheidung durch den EuGH Auch wenn der Gerichtshof in seiner Antwort auf die abstrakte Auslegung des Unionsrechts beschränkt ist, kann er dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die es dem Gericht ermöglichen, die Vereinbarkeit der im konkreten Fall maßgeblichen nationalen Maß332 Vgl. statt aller Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 17 f. 333 Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 30; Broberg / Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, 145. 334 Vgl. nur EuGH 24.9.1987, Rs. C-37/86, Coenen, EU:C:1987:386, Rn. 8; EuGH 15.12.1993, Rs. C-292/92, Hünermund, EU:C:1993:932, Rn. 8; EuGH 12.2.1998, Rs. C366/96, Cordelle, EU:C:1998:57, Rn. 9; EuGH 30.4.1998, verb. Rs. C-37/96 und C-38/96, Sodiprem, EU:C:1998:179, Rn. 22; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 6; Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 30. 335 EuGH 23.1.1975, Rs. C-51/74, Van der Hulst, EU:C:1975:9, Rn. 11/12. 336 Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 30.
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nahme mit dem Unionsrecht selbst zu beurteilen.337 Die Antwort des Gerichtshofs bindet sodann die in derselben Sache im Ausgangsverfahren entscheidenden Gerichte, die den konkreten Streitfall also nach Maßgabe der Auffassung des Gerichtshofs zu entscheiden haben.338 Hieraus folgt, dass die Feststellungswirkung durch die erteilten Auslegungsrichtlinien des Gerichtshofs zu den Art. 101 und 102 AEUV durchbrochen werden kann, falls und soweit das Auslegungsergebnis des Gerichtshofs von dem der nationalen Behörde bzw. des nationalen Gerichts abweicht.339 Vereinzelt wird das Auslegungsersuchen eines Zivilgerichtes zu den Art. 101 und 102 AEUV, das über eine follow on-Schadensersatzklage befindet und an sich an eine nationale Entscheidung gebunden ist, indes für unzulässig erachtet.340 Das Zivilgericht sei infolge der Feststellungswirkung schon gar nicht befugt, die Art. 101 und 102 AEUV eigenständig anzuwenden. Wenn das Gericht aber schon nicht befugt sei, die europäischen Wettbewerbsregeln eigenständig anzuwenden, schließe dies auch eine entsprechende Auslegungsfrage an den Gerichtshof aus.341 Eine solche Argumentation verkennt allerdings, dass sich das Recht bzw. die Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte, dem Gerichtshof Auslegungsfragen zu stellen, bereits aus Art. 267 AEUV ergibt, also aus dem Primärrecht. Daraus folgt, dass dieses Recht bzw. diese Pflicht nicht durch eine Regelung des nationalen Rechts (oder aber des sekundären Unionsrechts) beschränkt werden kann.342 Der Gerichtshof hat dementsprechend auch festgestellt, dass Rechtsnormen, die nicht-letztinstanzliche Gerichte an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts binden, diesen Gerichten nicht das Recht nehmen können, dem Ge337 EuGH 15.12.1993, Rs. C-292/92, Hünermund, EU:C:1993:932, Rn. 8; EuGH 30.4.1998, verb. Rs. C-37/96 und C-38/96, Sodiprem, EU:C:1998:179, Rn. 22; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 6. 338 EuGH 24.6.1969, Rs. C-29/68, Milch-, Fett- und Eierkontor / Hauptzollamt Saarbrücken, EU:C:1969:27, Rn. 3; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 49; Gaitanides, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV Rn. 89; Broberg / Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, 382. 339 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 227 ff.; vgl. auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (184, 186); vgl. ferner das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 150. 340 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 571; vgl. auch die Zweifel bei Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 227 f., der die Zulässigkeit eines Auslegungsersuchens im Ergebnis aber bejaht. 341 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 571; vgl. auch Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 227. 342 EuGH 16.1.1974, Rs. C-166/73, Rheinmühlen Düsseldorf, EU:C:1974:3, Rn. 3 f.; EuGH 27.6.1991, Rs. C-348/89, Mecanarte-Metalurgica da Lagoa, EU:C:1991:278, Rn. 44 f.; G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 139; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 228.
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richtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen.343 Wenn also das Recht bzw. die Pflicht zur Vorlage nach Art. 267 AEUV nicht eingeschränkt werden kann, muss dem mitgliedstaatlichen Gericht notwendig auch die Befugnis zukommen, die Art. 101 und 102 AEUV ungeachtet einer bestehenden Feststellungswirkung im konkreten Fall rechtlich zu würdigen, um ein Auslegungsersuchen vorzubereiten.344 Einem Zivilgericht ist es infolge der Feststellungswirkung also lediglich versagt, die Art. 101 und 102 AEUV im konkreten Fall selbständig zu prüfen ohne zunächst den Gerichtshof um Auslegung zu ersuchen.345 Gegen eine Abweichungsmöglichkeit infolge einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof wird ferner eingewandt, dass die Bestands- bzw. Rechtskraft einer nationalen Entscheidung durch die erteilte Antwort des Gerichtshofs auf eine abstrakte Auslegungsfrage unberührt bleibt.346 Dies trifft zwar zu. Der Gerichtshof hat in der Sache Kühne & Heitz festgestellt, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine nationale Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, falls diese einer durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts widerspricht. Denn die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung trage, so der Gerichtshof, zur Rechtssicherheit bei, die zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts zählt.347 Die Bestands- bzw. Rechtskraft der Entscheidung steht hier aber auch gar nicht in Frage. Der nationale Rechtsakt bleibt als solcher unangetastet.348 Allein die Feststellungswirkung im Zivilprozess, die über die Wirkungen hinausreicht, die bereits aus der Bestands- bzw. Rechtskraft der Entscheidung folgen, wird 343 EuGH 16.1.1974, Rs. C-166/73, Rheinmühlen Düsseldorf, EU:C:1974:3, Rn. 4; dazu Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 25. 344 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 228. 345 Davon geht auch die Kommission aus, vgl. Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 150: „[…] a rule on the effect of NCA decisions in civil law suits for damages […] would not prevent a national court, in the event it has serious doubts as to the legal correctness of the interpretation of Article [101] or [102 TFEU] by the NCA, to make use of its right (and possibly obligation) to refer the question for preliminary ruling to the Court of Justice pursuant to Article [267 TFEU]. National civil courts would thus retain their judicial independence to hold a diverging view on the interpretation of the law; they would merely be prevented from applying Article [101] or [102 TFEU] in a manner that runs counter to the NCA decision without first having obtained clarification from the Court of Justice on this question.“ 346 Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 571. 347 EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rn. 24; der EuGH hat hierbei indes auch festgestellt, dass eine Verwaltungsbehörde nach dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit verpflichtet ist, eine solche Entscheidung auf Antrag hin zu überpfüen, falls die Behörde nach dem nationalen Recht befugt ist, die Entscheidung zurückzunehmen. 348 Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 230.
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
durchbrochen, und zwar bezogen auf die rechtliche Beurteilung, wie sie sich an sich bindend aus der nationalen Entscheidung ergibt.349 Denn aus der Antwort des Gerichtshofs folgt nur, dass das Zivilgericht unter Abweichung von der rechtlichen Beurteilung der nationalen Behörde oder des nationalen Gerichts urteilen kann und muss.350 Insofern überwiegt das Interesse an der kohärenten und materiell richtigen Auslegung der Art. 101 und 102 AEUV das Interesse an der fortbestehenden Feststellungswirkung im Zivilprozess.351 Dies bedeutet aber nicht zugleich, dass die bestands- bzw. rechtskräftige Entscheidung selbst aufgehoben werden müsste. Hat das Zivilgericht Zweifel, ob die europäischen Wettbewerbsregeln in der Entscheidung, deren Bindung im Zivilprozess in Rede steht, richtig angewandt wurden, so kann bzw. muss es also die Frage nach der richtigen Auslegung der Art. 101 und 102 AEUV dem Gerichtshof im Wege eines Auslegungsersuchens vorlegen. Die Gefahr einer inkohärenten Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV durch die nationalen Wettbewerbsbehörden dürfte durch die Schutzmechanismen der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003, insbesondere durch die Pflicht zur Unterrichtung der Kommission über Entscheidungsvorhaben nach Art. 11 Abs. 4 VO Nr. 1/2003 sowie das Evokationsrecht der Kommission gemäß Art. 11 Abs. 6 VO Nr. 1/2003,352 begrenzt sein.353 Für den Fall allerdings, dass diese Schutzmechanismen einmal doch versagt haben sollten, steht dem Zivilgericht als Notanker eine Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV offen. Durch diese Möglichkeit kann letztlich verhindert werden, dass eine materiell unrichtige Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 und 102 AEUV auf follow on-Schadensersatzprozesse durchschlägt.354 349 Eine Verwaltungsentscheidung wird vermöge einer Feststellungswirkung mit einer übergreifenden rechtlichen Außenwirkung ausgestattet, die einen partiellen Entzug der kompetentiellen Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des von ihr betroffenen Entscheidungsträgers bewirkt, Knöpfle, BayVBl. 1982, 225 (230). 350 Dies betrifft also allein den aus der Feststellungswirkung folgenden Entzug der richterlichen Kompetenz zur selbstständigen Beurteilung der Kartellrechtswidrigkeit, dazu supra Kapitel 3 A. II. 3. 351 Vgl. Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 229. 352 Vgl. auch den ausdrücklichen Hinweis in Erwägungsgrund 34 S. 2 der Kartellschadensersatzrichtlinie: „[…] Entscheidungen werden erst dann getroffen, wenn die Kommission zuvor über die in Aussicht genommene Entscheidung oder anderenfalls über jede sonstige Unterlage, der die geplante Vorgehensweise zu entnehmen ist, gemäß Artikel 11 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 unterrichtet wurde und wenn die Kommission die nationale Wettbewerbsbehörde nicht durch die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 11 Absatz 6 der genannten Verordnung von ihrer Zuständigkeit entbunden hat.“ 353 So auch die Einschätzung bei Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 230. 354 Generell zur Sicherstellung einer kohärenten Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten als Zweck der Vorabentscheidung EuGH 16.1.1974, Rs. C-166/73, Rheinmühlen Düsseldorf, EU:C:1974:3, Rn. 2; EuGH 24.5.1977, Rs. C-107/76, Hoffmann-La
A. Bindungswirkung nach § 33b GWB
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4. Keine Beschränkung der gerichtlichen Vorlagekompetenz durch die Grundsätze der TWD-Rechtsprechung Die Vorlagekompetenz der Zivilgerichte wird auch nicht durch die Grundsätze der TWD-Rechtsprechung des Gerichtshofs beschränkt.355 In der Sache TWD Textilwerke Deggendorf hat der Gerichtshof zum Verhältnis von Vorabentscheidungsverfahren und Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV entschieden, dass ein Betroffener, der eine Entscheidung der Kommission im Wege der Nichtigkeitsklage hätte anfechten können und die dafür vorgesehene Anfechtungsfrist in Art. 263 Abs. 6 AEUV hat verstreichen lassen, nicht die Möglichkeit haben kann, vor den nationalen Gerichten deren Rechtmäßigkeit erneut in Frage zu stellen, um ihm nicht die Möglichkeit zu bieten, die Bestandskraft der Entscheidung zu umgehen.356 Die Wahrung der Klagefrist soll nämlich der Rechtssicherheit dienen, indem sie verhindert, dass Rechtswirkungen entfaltendes Unionshandeln wieder und wieder in Frage gestellt wird.357 Diese Grundsätze werden vielfach, wenn auch nicht einhellig, auf die Bindungswirkung von Entscheidungen der Kommission nach Art. 16 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 übertragen.358 Nun liegt im vorliegenden Zusammenhang schon keine Entscheidung der Kommission vor, sodass von vornherein nicht die Gefahr besteht, dass die Klagefrist in Art. 263 Abs. 6 AEUV umgangen werden könnte.359 Der Gerichtshof hat sich aber ausdrücklich darauf gestützt, dass Rechtswirkungen entfaltendes Unionshandeln nicht wieder und wieder in Frage gestellt werden sollte.360 Die TWD-Rechtsprechung lässt sich also jedenfalls nicht direkt auf Roche, EU:C:1977:89, Rn. 5; aus dem Schrifttum dazu etwa Broberg / Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, 18. 355 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (181 f.); G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 140; Dohrn, Bindungswirkung, 2010, 230; zweifelnd dagegen Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 570. 356 EuGH 9.3.1994, Rs. C-188/92, TWD, EU:C:1994:90, Rn. 17 f.; näher dazu etwa Broberg / Fenger, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2014, 193 ff.; Kamann / Selmayr, NVwZ 1999, 1041 (1042 f.). 357 EuGH 9.3.1994, Rs. C-188/92, TWD, EU:C:1994:90, Rn. 16. 358 Kjølbye, CML Rev. 39 (2002), 175 (183); Berrisch / Burianski, WuW 2005, 878 (882); Meyer, GRUR 2006, 27 (33); Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 473, 476; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 33 GWB Rn. 100; Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 33 GWB Rn. 76; vgl. dagegen Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (182 f.); differenzierend G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EU-Kartellrecht, 2011, 126 f. 359 G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 140. 360 EuGH 9.3.1994, Rs. C-188/92, TWD, EU:C:1994:90, 16; vgl. dazu auch Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (184).
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
die Feststellungswirkung nationaler Entscheidungen übertragen. Allenfalls könnte sich der Rechtsgedanke übertragen lassen, dass eine bestandskräftige Entscheidung im Interesse der Rechtssicherheit nicht wieder und wieder in Frage gestellt werden soll.361 So könnte angeführt werden, dass ein Betroffener, der Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten hätte erlangen können, nicht mit der Vorlagefrage des Gerichts die Möglichkeit bekommen soll, die im nationalen Recht ihm gegenüber eingetretene Bestandskraft der Entscheidung zu umgehen, mit dem Ergebnis, dass eine Vorlage des Gerichts für den Fall, dass der Betroffene keinen Rechtsbehelf nach nationalem Recht gegen die Entscheidung eingelegt hat, unzulässig wäre.362 Hiergegen spricht allerdings bereits, dass bei einer gegenüber der nationalen Entscheidung abweichenden Antwort des Gerichtshofs die Bestands- bzw. Rechtskraft der Entscheidung unberührt bleibt. Wie bereits dargelegt, wird allein die Feststellungswirkung im Zivilprozess durchbrochen, und zwar bezogen auf die rechtliche Beurteilung, wie sie sich an sich bindend aus der nationalen Entscheidung ergibt.363 Vor allem aber wäre diese Auffassung mit der autonomen Entscheidungskompetenz der nationalen Gerichte unvereinbar: Die Zulässigkeit einer Vorlage kann generell nicht durch das nationale Recht beschränkt werden364 und damit richtigerweise auch nicht durch die Bestandskraft einer nationalen Entscheidung.365 Daher ist ein Auslegungsersuchen an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV auch dann zulässig, wenn der von der Feststellungswirkung Betroffene vor den nationalen Gerichten gegen die Entscheidung keinen Rechtsschutz ersucht hat.
B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen im Recht anderer Mitgliedstaaten B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen
Die Kartellschadensersatzrichtlinie verlangt bei Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, dass eine solche Entscheidung zumindest als Anscheinsbeweis dafür vorgelegt werden kann, dass ein Verstoß begangen wurde, und dass die Entscheidung gegebenenfalls zusammen mit allen anderen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln geprüft werden kann.366 Bei der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie wurde dann auch in den allermeisten Mitgliedstaaten davon abgesehen, Entscheidungen 361
570.
Vgl. Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014,
362 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (184), der die TWD-Grundsätze im Ergebnis allerdings nicht als auf nationale Entscheidungen übertragbar ansieht. 363 Dazu bereits supra Kapitel 3 A. VI. 3. 364 Dazu bereits supra Kapitel 3 A. VI. 3. 365 Vgl. G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 140.
B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen
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aus anderen Mitgliedstaaten eine Feststellungswirkung zuzuschreiben.367 Was genau Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie als Mindestvorgabe in Bezug auf die Wirkung von Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten verlangt, erschließt sich nicht ohne weiteres und ist daher klärungsbedürftig. Im Anschluss ist zu klären, wie die Anordnung einer solchen Wirkung kollisionsrechtlich zu qualifizieren ist. Schließlich wird der infolge der bloßen Mindestvorgabe nur eingeschränkte Harmonisierungseffekt problematisiert. I.
Mindestvorgabe des Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie
Was genau gemeint ist, wenn nach Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie zu gewährleisten ist, dass die Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat „zumindest als Anscheinsbeweis dafür vorgelegt werden kann, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde“, erschließt sich nicht ohne weiteres. Herkömmlich ist von einem Anscheinsbeweis die Rede, wenn Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung Berücksichtigung finden, die es dem Richter bei der Überzeugungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung erlauben, aus feststehenden Tatsachen Schlüsse auf das Vorliegen streitiger Tatsachenbehauptungen zu ziehen.368 Voraussetzung seiner Anwendung ist ein sog. typischer Geschehensablauf, das heißt ein sich aus der Lebenserfah366 Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie; siehe dazu auch Erwägungsgrund 35 Kartellschadensersatzrichtlinie. 367 Vgl. für Belgien Art. XVII.82. Code de droit économique; für Dänemark § 7 Abs. 2 Dänisches Wettbewerbsgesetz (Lov om behandling af erstatningssager vedrørende overtrædelser af konkurrenceretten); für Finnland § 3 Abs. 2 Gesetz über Kartellschadensersatz (1077/2016 Laki kilpailuoikeudellisista vahingonkorvauksista); für Frankreich Art. L. 4812 Code de commerce; für Irland § 8 Abs. 2 European Union (Actions for Damages for Infringements of Competition Law) Regulations 2017 (SI No 43 of 2017); für Italien Art. 7 Abs. 2 Decreto Legislativo vom 19. Januar 2017, Nr. 3; für Litauen Art. 51 Abs. 4 Wettbewerbsgesetz der Republik Litauen (Lietuvos Respublikos konkurencijos įstatymo); für Luxemburg Art. 6 Abs. 2 Loi du 5 décembre 2016 relative à certaines règles régissant les actions en dommages et intérêts pour les violations du droit de la concurrence; vgl. für die Niederlande Art. 161a Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering (der sich auf Entscheidungen der eigenen Wettbewerbsbehörde beschränkt); für die Slowakei § 4 Abs. 2 Gesetz 350/2016 vom 29. November 2016 über bestimmte Regeln für den Schadensersatz bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht (Zákon o niektorých pravidlách uplatňovania nárokov na náhradu škody spôsobenej porušením práva hospodárskej súťaže); für Spanien Art. 75 Abs. 2 Gesetz über den Wettbewerbsschutz (Ley 15/2007, de 3 de julio, de defensa de la competencia); für Ungarn Art. 88/R Abs. 2 Gesetz Nr. LVII/1996 über unlauteres Marktverhalten und das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen (1996. évi LVII. Törvény a tisztességtelen piaci magatartás és a versenykorlátozás tilalmáról); für das Vereinigte Königreich siehe Section 47F UK Competition Act (1998), Schedule 8A, para. 35(1). Ein Überblick zur Umsetzungsgesetzgebung bzw. zum Stand der Umsetzung in den Mitgliedstaaten findet sich auf den Internet-Seiten der Generaldirektion Wettbewerb, abrufbar unter: .
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
rung bestätigender gleichförmiger Vorgang, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen.369 Vorliegend ist es schon nicht ohne weiteres einleuchtend, von einem typischen Geschehensablauf zu sprechen, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Überdies legt es der Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie auf den ersten Blick nahe, dass aus dem Vorliegen der Entscheidung nicht (nur) ein Schluss auf eine streitige Tatsache gezogen werden soll, sondern (auch) auf die rechtliche Bewertung als Verstoß.370 Die Feststellungen in der Entscheidung einer anderen Behörde oder eines Gerichts können freilich keinen (Anscheins-)Beweis für die rechtliche Beurteilung als Verstoß liefern.371 Eine (Anscheins-)Beweiswirkung kann nur hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen bestehen. Die Entscheidung kann also nur Beweis dafür liefern, dass die seitens der Behörde festgestellten Tatsachen zum Verstoß zutreffen. Der Hinweis in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie, dass die Entscheidung „gegebenenfalls zusammen mit allen anderen von den Parteien vorgelegten Beweismitteln geprüft werden kann“372 legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Entscheidung ausschließlich auf Tatsachenebene Berücksichtigung finden muss. Man wird Art. 9 Abs. 2 daher so zu verstehen haben, dass dieser lediglich verlangt, dass eine Entscheidung als Beweismittel vorgelegt werden kann und die in der Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen zum Verstoß bei der freien Überzeugungsbildung des Richters als prima facie zutreffend angesehen werden können. Die eigentliche Beweislastverteilung bleibt hiervon unberührt.373 So hat etwa auch der niederländische 368 Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 16 ff.; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 48 f.; Thole, IPRax 2010, 285 (286); Galle, NZKart 2016, 214 (214); Thiede / Träbing, NZKart 2016, 422 (422). 369 Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, 95; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 48; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 17; Thole, IPRax 2010, 285 (286). 370 Vgl. Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie: „Anscheinsbeweis dafür […], dass eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begangen wurde […].“ 371 Kersting, Private Enforcement Richtlinie – kritische Anmerkungen zum Kompromissvorschlag des Rates, 2013, abrufbar unter: ; ferner Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 208 Fn. 728. 372 Hervorhebungen nur hier. 373 Nach ganz herrschender Auffassung zieht ein Anscheinsbeweis keine Beweislastumkehr nach sich, da die Überzeugung des Richters aus dem ersten Anschein nur im Wege eines einfachen Gegenbeweises erschüttert werden muss, der Gegner also nicht den Beweis des Gegenteils führen muss, Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 1965, 183 f.; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 36; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, 9 f.; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 51; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 286 ZPO Rn. 138; siehe auch BGH 4.10.1984, I ZR 112/82, NJW 1985, 554 f.
B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen
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Gesetzgeber mit Blick auf die Regelung in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie keinerlei Umsetzungsbedarf gesehen,374 da es dem niederländischen Richter bereits nach dem geltenden Prozessrecht frei stehe, eine ausländische Entscheidung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu berücksichtigen und als Grundlage für einen Anscheinsbeweis anzusehen.375 Mit der so verstandenen Mindestvorgabe des Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie nicht verbunden ist damit, dass von der Entscheidung einer anderen Behörde eine widerlegbare (Rechts-)Vermutung für das Vorliegen eines Verstoßes ausgehen muss, 376 was mit einer Umkehr der Beweislast verbunden wäre.377 Gleichzeitig schließt Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie, der nur eine Mindestvorgabe („zumindest“) trifft, eine solche Anordnung im nationalen Recht auch nicht aus. Im Grünbuch war – als Alternative zur Verankerung einer Bindungswirkung – die Anordnung einer Beweislastumkehr noch diskutiert worden.378 Für das deutsche Recht war in der Vergangenheit ebenfalls vorgeschlagen worden, Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten als Grundlage einer widerlegbaren Vermutung für das Vorliegen eines Verstoßes anzusehen.379 Kritisch hierzu Rusu / Looijestijn-Clearie, WuW 2017, 374 (377 f.). Siehe Memorie van toelichting Nr. 34490-3, vom 8. Juni 2016, S. 8: „[…] Die «(ten minste) kan-bepaling» behoeft geen omzetting. Het Nederlandse bewijsrecht kent een vrije bewijsleer. Op grond van artikel 152, eerste lid, Rv [Wetboek van burgerlijke Rechtsvordering] kan bewijs, tenzij de wet anders bepaalt, door alle middelen, dus ook een uit het buitenland afkomstige definitieve inbreuk-beslissing, worden geleverd. Uit het tweede lid volgt dat (tenzij de wet anders bepaalt) de waardering van het bewijs aan het oordeel van de rechter is overgelaten. Het staat de rechter dus reeds vrij een uit het buitenland afkomstige definitieve inbreukbeslissing (eventueel naast ander door partijen aangevoerd bewijsmateriaal) als prima facie bewijs voor een inbreuk op het mededingingsrecht te beschouwen.“ Die Regelung über die Bindungswirkung in Art. 161a Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering beschränkt sich auf Entscheidungen der eigenen Wettbewerbsbehörde. Vgl. auch die Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 56, wo es für den von § 33b GWB nicht erfassten Fall, dass ein Verstoß ausschließlich auf das nationale Wettbewerbsrecht gestützt wurde, heißt: „Einer gesetzlichen Regelung bedarf es dazu nicht.“ Vgl. dazu bereits supra Kapitel 2 B. II. 1. a) bb). 376 Vgl. dagegen Nazzini, Italian Antitrust Review 2 (2015), 68 (91): „[T]he effect of Article 9(2) of the Directive is to ensure that the courts of the Member States are allowed to consider the decision of a foreign NCA as giving rise to a rebuttable presumption of infringement“ (Hervorhebung nur hier). 377 Dazu, dass gesetzliche Vermutungen (im deutschen Prozessrecht) eine Beweislastregel beinhalten, vgl. § 292 ZPO; siehe aus dem Schrifttum Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, 48; Rosenberg, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl. 1965, 216 f.; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 112 Rn. 32 ff.; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 292 ZPO Rn. 8. 378 Grünbuch – Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672 endgültig, 7 (Option 8); vgl. auch das Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper, SEC(2008) 404 final, Rn. 147. 374 375
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
II. Qualifikation Wird auf Grundlage der allseitigen Kollisionsregel in Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO ausländisches Recht berufen,380 könnte fraglich sein, ob das berufene Recht auch insoweit maßgeblich ist, als es der Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat bloße prima facie-Beweiswirkung beilegt. Da die Feststellungswirkung verfahrensrechtlich zu qualifizieren ist und damit der lex fori unterliegt,381 käme es vor deutschen Gerichten im Fall einer materiellrechtlichen Qualifikation der prima facie-Beweiswirkung zu einem Normwiderspruch in Form der Normenhäufung:382 Neben der im deutschen (Verfahrens-)Recht verankerten Feststellungswirkung wäre parallel auch die im ausländischen Recht angeordnete bloße prima facie-Beweiswirkung berufen. Dieser denklogische Normwiderspruch bedürfte der Auflösung. So kontrovers die Rechtsnatur des Anscheinsbeweises im nationalen Recht diskutiert wird,383 so umstritten ist dessen kollisionsrechtliche Einordnung.384 Auch unter der Rom II-VO wird diskutiert, ob der Anscheinsbeweis der lex fori untersteht oder aber über Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO der lex causae unterworfen ist.385 Steht hinter dem Anscheinsbeweis – wie auch bei der von 379 Stürner, in: Basedow, 2007, 163 (188); Hempel, WuW 2005, 137 (145); Fuchs, WRP 2005, 1384 (1395); vgl. auch Roth, in: Basedow, 2007, 61 (77); vgl. ferner, zumindest für eine Übergangszeit für eine widerlegbare Vermutung plädierend, Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (405); Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41: Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004, Rn. 55. 380 Zur Bestimmung des anwendbaren Kartelldeliktsrechts nach Maßgabe der Rom IIVO supra Kapitel 1 A. II. 3. b). 381 Supra Kapitel 3 A. III. 382 Vgl. zum Phänomen allgemein Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, 236 f.; v. Hein, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Einl. IPR Rn. 245 ff.; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, 357 ff. 383 Der BGH und die überwiegende Auffassung im Schrifttum ordnet den Anscheinsbeweis der freien Beweiswürdigung zu BGH 4.10.1984, I ZR 112/82, NJW 1985, 554; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 50, 55; Rosenberg / Gottwald / Schwab, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 113 Rn. 32 ff.; andere verstehen den Anscheinsbeweis als gewohnheitsrechtlich begründete Beweismaßreduktion Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2008, § 286 ZPO Rn. 133 ff., 140 f.; wiederum andere sehen den Anscheinsbeweis dagegen als Ausfluss materiell-rechtlicher Wertungen, so etwa Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978, 177 ff.; siehe zu alledem auch Thole, IPRax 2010, 285 (286 f.). 384 Für die Maßgeblichkeit der lex fori etwa Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 746 f.; Prütting, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 ZPO Rn. 50; vgl. auch BGH 4.10.1984, I ZR 112/82, NJW 1985, 554 f.; für die Maßgeblichkeit der lex causae dagegen Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, Rn. 353; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 2291. 385 Für die Maßgeblichkeit der lex fori etwa Thole, IPRax 2010, 285 (286 f.); für die Maßgeblichkeit der lex causae etwa Wurmnest, ZVglRWiss 2016, 624 (636 ff.); auch die instanzgerichtliche Rechtsprechung liefert kein einheitliches Bild ab: Für die lex fori hat
B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen
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Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie geforderten prima facie-Beweiswirkung – die Wertung, dass einer bestimmten Partei die Durchsetzung ihrer Rechte erleichtert werden soll,386 sind Bezüge zum materiellen Recht nicht zu leugnen.387 Die Nähe zur freien Beweiswürdigung spricht allerdings für eine verfahrensrechtliche Qualifikation, wird die Beweiswürdigung doch gemeinhin als Domäne der lex fori verstanden.388 Den prima facie-Beweis als von den in Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO der lex causae zugewiesenen gesetzlichen Vermutungen erfasst anzusehen, stößt auch angesichts rechtsfolgenseitiger Unterschiede auf Bedenken: Anders als gesetzliche Vermutungen verlangt der Anscheinsbeweis nicht den Beweis des Gegenteils; er kehrt die Beweislast nicht um, sondern erfordert vom Gegner nur die Erschütterung des Anscheins.389 Die materiell-rechtlichen Auswirkungen sind damit deutlich schwächer als bei der Beweislastumkehr.390 Die Anordnung einer bloßen prima facie-Beweiswirkung von Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten ist mithin verfahrensrechtlich zu qualifizieren. Dadurch wird im Ergebnis auch vermieden, dass es vor den deutschen Gerichten zu einem Normwiderspruch in Form der Normenhäufung kommt.391 Umgekehrt wird ein Normenmangel für den Fall vermieden, dass
sich ausgesprochen das LG Saarbrücken 11.5.2015, 13 S 21/15, NJW 2015, 2823 (2824); für die lex causae dagegen das AG Geldern 27.10.2010, 4 C 356/10, NJW 2011, 686 (687). 386 Auch die prima facie-Beweiswirkung dient freilich dazu, den Geschädigten die Geltendmachung von Kartellrechtsverstößen im Schadensersatzprozess zu erleichtern, auch wenn sie in ihren Rechtsfolgen hinter der Feststellungswirkung zurückbliebt; vgl. zu typischen Anscheinsbeweisen (etwa im Straßenverkehrsunfall- und im Arzthaftungsrecht) und den zugrunde liegenden materiellen Wertungen Wurmnest, ZVglRWiss 2016, 624 (638). 387 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 746; Thole, IPRax 2010, 285 (287). 388 BGH 30.7.1954, VI ZR 32/53, JZ 1955, 702 (703): „Daß die Beweiswürdigung selbst sich nach der lex fori richtet, ist allgemein anerkannt“; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2015, Rn. 2338; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 772; anderes gilt auch nicht im Rahmen der Rom II-VO, siehe nur Junker, in: MüKo BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 22 Rom II-VO Rn. 4; Picht, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band III, 4. Aufl. 2016, Art. 22 Rom II-VO Rn. 12; Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (257). 389 Thole, IPRax 2010, 285 (286); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 743, 745; dazu schon supra Kapitel 3 B. I. 390 Thole, IPRax 2010, 285 (287); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 747; vgl. auch Basedow, in: Schlosser, 1992, 131 (140), der gegenüber einer materiell-rechtlichen Qualifikation von Beweisfragen (außer der Beweislastregeln) zur Zurückhaltung mahnt und Ausnahmen von der lex fori nur als statthaft ansieht, wenn der Bezug zum materiellen Recht eindeutig überwiegt. 391 Etwas anderes würde gelten, falls eine Entscheidung im ausländischen Recht als Grundlage einer widerlegbaren Vermutung angesehen wird und eine Beweislastumkehr zur Folge hätte; eine solche Regelung wäre nach Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO der lex causae
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, der Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten bloße prima facie-Beweiswirkung beilegt, über Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO deutsches Recht als Deliktsstatut berufen ist. Im Grundsatz gilt allerdings auch, dass je größer die Reichweite der lex fori ist, desto größer auch die Gefahr, dass der mittels europäisch vereinheitlichter Kollisionsregeln angestrebte Entscheidungseinklang nicht verwirklicht wird.392 Hieraus sich ergebender Spielraum für forum shopping393 wird, wie nachfolgend gezeigt werden soll, auch durch die nur eingeschränkt harmonisierte Wirkung ausländischer Entscheidungen im Kartellschadensersatzprozess eröffnet. III. Eingeschränkter Harmonisierungseffekt und forum shopping Da Art. 9 Abs. 2 der Kartellschadensersatzrichtlinie in Bezug auf die Wirkung von Entscheidungen, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind, lediglich eine Mindestvorgabe formuliert („zumindest“), bleibt der Harmonisierungseffekt der Richtlinie insoweit beschränkt. Als Folge bestehen sowohl mitgliedstaatliche Regelungen, nach denen im Ausland ergangenen Entscheidungen eine prima facie-Beweiswirkung zukommt,394 als auch solche, nach denen (auch) ausländische Entscheidungen Feststellungswirkung entfalten.395 Welche Wirkung eine nationale Entscheidung entfaltet, beantwortet, wie dargelegt, das Recht des jeweiligen Gerichtsstaates.396 Zugleich eröffnen die Zuständigkeitsregeln der Brüssel Ia-VO bei grenzüberschreitenden Kartellverstößen oftmals eine weit gefächerte Auswahl an Gerichtsständen, die zum forum shopping einlädt.397 Ein Faktor, der bei der Wahl des Gerichtsstaates eine Rolle spielen mag,398 kann auch die jeweilige Regelung über die Wirkung von Entscheidungen aus zugewiesen; im Wege der Anpassung sollte der Entscheidung in diesem Fall indes entsprechend der deutschen lex fori ebenfalls Feststellungswirkung zukommen. 392 Vgl. nur Illmer, Civ. Just. Q. 28 (2009), 237 (250 f.). 393 Da Geschädigte ihren Anspruch einheitlich dem Recht des Gerichtsstaates unterstellen können, wenn dessen Markt unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt ist (vgl. Art. 6 Abs. 3 lit. b Rom II-VO), können Spielräume für forum shopping bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten freilich nicht nur in Bezug auf das Verfahrensrecht bestehen, sondern auch hinsichtlich des materiellen Rechts; dazu Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (234); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (3). 394 Vgl. die Nachweise supra Kapitel 3 B. 395 Siehe – neben der Regelung in Deutschland (§ 33b GWB) – auch die Regelung in Österreich (Art. 37i Abs. 2 öKartG). 396 Dies gilt sowohl für die Anordnung einer Feststellungswirkung (supra Kapitel 3 A. III.) als auch für die Anordnung einer bloßen prima facie-Beweiswirkung (supra Kapitel 3 B. II.). 397 Zur internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten und den nach dem Urteil des EuGH in der Sache CDC weit gefächerten Zuständigkeitsoptionen für Kläger supra Kapitel 1 A. II. 3 a).
B. Bloße prima facie-Beweiswirkung ausländischer Entscheidungen
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anderen Mitgliedstaaten sein. So werden Kartellgeschädigte wohl kaum einen Gerichtsstaat ansteuern, in dem eine ergangene nationale Entscheidung keine Feststellungswirkung auslöst. Umgekehrt könnten die Kartellanten gezielt gerade einen solchen Gerichtsstaat aufsuchen, um dort auf Feststellung zu klagen, dass ihnen gegenüber keine Haftung besteht.399 Kommen die Kartellanten den Geschädigten mittels einer negativen Feststellungsklage zuvor, folgt aus dem in Art. 29 Brüssel Ia-VO verankerten Prioritätsgrundsatz und dem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs weit zu verstehenden Streitgegenstandsbegriff, dass eine später erhobene Leistungsklage der Kartellgeschädigten gesperrt ist.400 Dass ein entsprechendes Vorgehen nicht nur theoretisch denkbar ist, sondern auch praktisch vorkommen kann, zeigt die negative Feststellungsklage einiger Fluggesellschaften, die am Luftfracht-Kartell beteiligt waren, gegen die Deutsche Bahn und deren Tochtergesellschaften am Sitz eines Tochterunternehmens der Deutschen Bahn in den Niederlanden.401 Eine negative Feststellungsklage kann dabei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch am Deliktsgerichtsstand (Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO) erhoben werden.402 398 Zu weiteren wesentlichen Parametern, die bei der Wahl des Gerichtsstaates eine Rolle spielen können, Basedow, Basler Juristische Mitteilungen 2016, 217 (233 ff.); ferner Wurmnest, NZKart 2017, 2 (3). 399 Vereinzelt werden negative Feststellungsklagen indes als unzulässig angesehen, wenn die Kommission oder eine nationale Kartellbehörde einen Verstoß festgestellt hat, Brand, IPRax 2016, 314 (315 f.), unter Berufung auf die Schlussanträge von GA Jääskinen 11.12.2014 – Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2014:2443, Rn. 47 ff, 51, der (auch angesichts der Gefahr negativer Feststellungsklagen) dafür plädiert hat, den Deliktsgerichtsstand unangewendet zu lassen; dem ist der EuGH freilich nicht gefolgt, vgl. EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335, Rn. 34 ff.; vgl. dazu, dass negative Feststellungsklagen auch im Rahmen der kartellrechtlichen Schadensersatzhaftung zulässig sind, nur Rechtbank Amsterdam 22.7.2015, C-13-571990 – HA ZA 14875, ECLI:NL:RBAMS:2015:4408; Wurmnest, NZKart 2017, 2 (8); Beeston / Rutten, Competition Law Insight 13 October 2015, 14 (14 f.). 400 EuGH 6.12.1994, Rs. C-406/92, Tatry / Maciej Rataj, EU:C:1994:400, Rn. 45 (zum EuGVÜ); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (8); Thole, NJW 2013, 1192 (1194); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 846, 849, 851; Whish / Bailey, Competition Law, 8. Aufl. 2015, 330 f.; a. A. Brand, IPRax 2016, 314 (314 ff.); eine Ausnahme gilt nach Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO nunmehr indes bei ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen; in Durchbrechung des Prioritätsprinzips genießt eine Klage am vereinbarten Gerichtsstand hiernach nämlich Vorrang vor einer früher erhobenen Klage vor einem derogierten Gericht; näher dazu etwa Mankowski, RIW 2015, 17 (17 ff.); Stadler / Klöpfer, ZEuP 2015, 732 (756 f.). 401 Gestützt wurde die negative Feststellungsklage auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft; die angerufene Rechtbank Amsterdam erklärte sich für zuständig Rechtbank Amsterdam 22.7.2015, C-13-571990 – HA ZA 14-875, ECLI:NL:RBAMS:2015:4408; zum Verfahren Beeston / Rutten, Competition Law Insight 13 October 2015, 14 (14 f.); Wurmnest, NZKart 2017, 2 (8).
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Kapitel 3 – Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Zwar wird mitunter vorgetragen, dass die Feststellungswirkung gegenüber einer lediglich faktischen Berücksichtigung kartellbehördlicher Entscheidungen kaum tatsächlich greifbare praktische Verbesserungen für die Geschädigten mit sich bringe, da das Zivilgericht in aller Regel von einer ergangenen kartellbehördlichen Entscheidung nicht abweichen werde.403 Diese Auffassung unterschätzt indes die Prozessrisiken, die ohne Feststellungswirkung mit Blick auf den Nachweis des Verstoßes bestehen bleiben.404 Selbst wenn das Gericht im Ergebnis den Feststellungen der Wettbewerbsbehörde folgen sollte, geht mit der Feststellungswirkung jedenfalls ein beschleunigtes Verfahren einher. Ohne verankerte Feststellungswirkung steht es den (mutmaßlichen) Kartellanten schließlich offen, den behördlich festgestellten Tatsachenstoff – an den das Zivilgericht dann nicht gebunden ist – zu bestreiten und der Grundsatz rechtlichen Gehörs verlangt in einem solchen Fall, dass eine Beweisaufnahme unter Verwendung von Gegengutachten stattzufinden hat.405 Verschärft wird die Verfahrensverzögerung noch, wenn bewusst ein Gericht in einem Mitgliedstaat mit bekannt langer Verfahrensdauer angerufen wird.406 IV. Zusammenfassung Art. 9 Abs. 2 Kartellschadensersatzrichtlinie verlangt als Mindestvorgabe, dass Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten als Beweismittel vorgelegt werden und die darin getroffenen tatsächlichen Feststellungen bei der Überzeugungsbildung des Richters im Rahmen der freien Beweiswürdigung als prima facie zutreffend angesehen werden können. Diese prima facieBeweiswirkung ist verfahrensrechtlich zu qualifizieren und unterliegt damit der lex fori. Infolge der bloßen Mindestvorgabe hinsichtlich der Wirkung von Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, bleibt der Harmonisierungseffekt der Richtlinie beschränkt, woraus sich Anreize für ein forum shopping ergeben können.
402 EuGH 25.10.2012, Rs. C-133/11, Folien Fischer und Fofitec, EU:C:2012:664; siehe dazu etwa Gebauer, ZEuP 2013, 870 (870 ff.); Thole, NJW 2013, 1192 (1192 f.); in Bezug auf die kartellrechtliche Schadensersatzhaftung siehe auch die Schlussanträge von GA Jääskinen 11.12.2014 – Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2014:2443, Rn. 51. 403 So etwa G. Meessen, Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen EUKartellrecht, 2011, 140; Bien / Harke, ZWeR 2013, 312 (329 f.). 404 Näher dazu supra Kapitel 1 C. II. 2. b). 405 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (213), unter Hinweis auf EuGH 10.4.2003, Rs. C-276/01, Steffensen, EU:C:2003:228, Rn. 71 ff. 406 Grünberger, in: Möschel / Bien, 2010, 135 (213 f.); siehe näher zum Problem sog. „Torpedoklagen“ Sander / Bressler, ZZP 122 (2009), 157 (157 ff.).
Kapitel 4
Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, greift die Bindungswirkung tief in den Zivilprozess ein. Umgekehrt, so das Thema des vierten Kapitels, wirkt die Bindungswirkung im Zivilprozess aber ihrerseits auf die behördliche Durchsetzung zurück. Die Verzahnung von Kartellverwaltungs- und Kartellprivatrecht bleibt also, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht einseitig. Die Rückwirkungen auf die behördliche Durchsetzungsspur betreffen sowohl die Veröffentlichungspraxis als auch die Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden. Darüber hinaus sollten auch Schlussfolgerungen de lege ferenda gezogen werden: Zum einen sollte die territoriale Reichweite der Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden erweitert werden. Zum anderen sollte ein System gegenseitiger Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Behörden im Europäischen Wettbewerbsnetz etabliert werden.
A. Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden A. Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden
Es ist zuvörderst Aufgabe der Wettbewerbsbehörden, die Öffentlichkeit über Zuwiderhandlungen gegen das Kartellrecht zu unterrichten, damit Geschädigte ihre Ersatzansprüche überhaupt wahrnehmen können.1 Um follow onKlagen erheben und von der Bindungswirkung profitieren zu können, müssen die Geschädigten schließlich von der Existenz und dem Inhalt von Entscheidungen, die im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten können, zunächst Kenntnis erlangen. Die Veröffentlichung von Entscheidungen durch die Wettbewerbsbehörden ist für potentielle follow on-Schadensersatzkläger damit von ganz erheblicher Bedeutung.2 1 Vgl. OLG Düsseldorf 9.10.2014, VI-Kart 5/14 (V), juris, Rn. 51 – Pressemitteilung des Bundeskartellamtes; OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris, Rn. 121 – Preisvergleichsmaschinenverbot. 2 Dreher, ZWeR 2008, 325 (325 f., 330 ff.); Weitbrecht, EuZW 2016, 281 (281 f.); vgl. ferner die Stellungnahme der Gesellschaft CDC Cartel Damage Claims, Implementation of Directive 2014/104/EU on certain rules governing actions for damages under national law for infringements of the competition law provisions of the Member States and of the European Union into national law, 2016, S. 10 f., 19 f.
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
Im Zuge der Statuierung der Bindungswirkung im einzelstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten wurden die Bekanntmachungspflichten der Wettbewerbsbehörden daher auch mitunter ausgedehnt, so etwa im österreichischen Recht.3 Auch in Deutschland wurden die Bekanntmachungspflichten erweitert, zunächst im Zuge der 7. GWB-Novelle, also zeitgleich mit der erstmaligen Einführung der Bindungswirkung im deutschen Recht:4 Seitdem sind gemäß § 62 GWB die verfahrensbeendenden Entscheidungen der deutschen Kartellbehörden nach § 30 Abs. 3, § 31b Abs. 3, §§ 32 bis 32b und § 32d GWB im (elektronischen) Bundesanzeiger bekannt zu machen. Für Geschädigte hat sich die bisherige Veröffentlichungspraxis, wie mit Recht kritisiert wird,5 allerdings als nur wenig ergiebig erwiesen. So werden in der Praxis lediglich der (zusammengefasste) Tenor der bekanntzumachenden Entscheidung und die Namen der Verfahrensbeteiligten veröffentlicht.6 Ferner betrifft die Bekanntmachungspflicht nach § 62 GWB nur das Kartellverwaltungsverfahren und nicht das Bußgeldverfahren, sodass Bußgeldbescheide nicht einbezogen sind.7 Dabei sind es gerade Bußgeldbescheide, die vielfach die Grundlage von Folgeklagen bilden. Mangels einer Veröffentlichungsfrist8 ist auch nicht gewährleistet, dass die Angaben zeitnah erscheinen.9 Für potentielle follow on-Kläger dürfte Hauptinformationsquelle auch nicht der (elektronische) Bundesanzeiger, sondern die Internet-Seiten der Kartellbehörden sein.10 Von der Möglichkeit, über die in § 62 GWB angeordnete Bekanntmachungspflicht hinaus Entscheidungen auf der Internet-Seite zu veröffentlichen,11 machte das Bundeskartellamt bislang allerdings nur für „ausgewählte“ EntVgl. den mit der öWettbG-Novelle 2017 neu eingefügten § 10b Abs. 3 öWettbG, nach dem die Bundeswettbewerbsbehörde auf ihrer Website rechtskräftige Entscheidungen des Kartellgerichts, auch Bußgeldentscheidungen, unverzüglich zu veröffentlichen hat; näher dazu Hoffer / Raab, NZKart 2016, 522 (523). 4 Siehe dazu infra Kapitel 1 B. III. 1. 5 Dreher, ZWeR 2008, 325 (330 ff.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 416 f.; Dreher / Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 9. Aufl. 2016, § 15 Rn. 1786; vgl. auch die Reformvorschläge von Kersting / Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, Rn. 170 ff. 6 Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 62 GWB Rn. 6; vgl. auch Quellmalz, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 62 GWB Rn. 2. 7 Dreher, ZWeR 2008, 325 (331); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 416; siehe dazu auch Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 156. 8 Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 62 GWB Rn. 5. 9 Vgl. die dahingehende Kritik von Dreher, ZWeR 2008, 325 (330 f.). 10 Ost, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 62 GWB Rn. 1; Dreher, ZWeR 2008, 325 (331). 11 Vgl. die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 64: „Unberührt bleibt die Möglichkeit, die Verfügungen in geeigneter Form – z. B. auf der Internet-Seite der Kartellbehörde – im vollen Wortlaut oder in gekürzter Form zu veröffentlichen.“ 3
A. Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden
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scheidungen Gebrauch.12 Die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen entspricht dabei bei weitem nicht der Zahl der getroffenen Entscheidungen.13 Die Veröffentlichungspraxis des Bundeskartellamtes steht damit in „auffälligem Gegensatz“14 zur Veröffentlichung von Entscheidungen durch die Europäische Kommission, die gemäß Art. 30 VO Nr. 1/2003 alle Entscheidungen, die sie nach den Art. 7 bis 10 sowie Art. 23 und 24 VO Nr. 1/2003 erlässt, unter Angabe der Beteiligten und des wesentlichen Inhalts der Entscheidung einschließlich der verhängten Sanktionen zu veröffentlichen hat.15 Neben der Veröffentlichung von Zusammenfassungen im Amtsblatt der EU, die aufgrund der Übersetzung in sämtliche Amtssprachen teils mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erfolgt,16 sind die Entscheidungen auch auf den InternetSeiten der Generaldirektion Wettbewerb einsehbar.17 Die Kommission macht in ihren Entscheidungen und Pressemitteilungen überdies explizit auf das Recht der Geschädigten auf Schadensersatz und die Bindungswirkung ihrer Entscheidungen im Zivilprozess aufmerksam.18 Quellmalz, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 62 GWB Rn. 2; Dreher, ZWeR 2008, 325 (330). 13 Dreher, ZWeR 2008, 325 (330); das Bundeskartellamt hat laut Tätigkeitsbericht 2013/2014 im Jahr 2014 insgesamt neun Bußgeldbescheide erlassen und im Jahr 2013 insgesamt 11 Bußgeldbescheide, BKartA, Tätigkeitsbericht 2013/2014, 2015 (BT-Drucks. 18/5210), S. 138 f.; auf der Internet-Seite des Bundeskartellamtes () sind für das Jahr 2014 dagegen nur von zwei der Bußgeldentscheidungen und für das Jahr 2013 nur von sechs der ergangenen Bußgeldentscheidungen kurze Fallberichte abrufbar. 14 Dreher, ZWeR 2008, 325 (332); vgl. auch Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 152: „Die Veröffentlichungspraxis und der jeweilige rechtliche Rahmen von Europäischer Kommission und Bundeskartellamt unterscheiden sich deutlich. […].“ 15 Dies dient auch dem Interesse der Geschädigten daran, Einzelheiten zu erfahren, um die Delinquenten gegebenenfalls zivilrechtlich in Anspruch nehmen zu können, EuG 30.5.2006, Rs. T-198/03, Bank Austria Creditanstalt, EU:T:2006:136, Rn. 78 (zur Vorgängerregelung Art. 21 VO Nr. 17/62); vgl. ferner EuG 28.1.2015, Rs. T-345/12, Akzo Nobel, EU:T:2015:50, Rn. 123, 125; Kellerbauer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 30 VO 1/2003 Rn. 1; Möllers, Europa e Diritto Privato 2014, 821 (832); kritisch zur gewähreisteten Transparenz in Bezug auf Entscheidungen der Kommission dagegen de Bronett, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 30 VO 1/2003 Rn. 2; Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 415 f. 16 Kellerbauer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 30 VO 1/2003 Rn. 1. 17 Abrufbar unter: ; da die Kommission nach Art. 30 Abs. 2 S. 2 VO Nr. 1/2003 dem berechtigten Interesse der Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse Rechnung tragen muss, werden allerdings nur um Geschäftsgeheimnisse bereinigte, nicht vertrauliche Fassungen öffentlich zugänglich gemacht. 18 Siehe etwa die Pressemitteilung der Kommission vom 19.7.2016 zum LKW-Kartell (IP/16/2582): „Alle Personen und Unternehmen, die durch das beschriebene wettbewerbs12
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
Angesichts einer als defizitär zu bewertenden Veröffentlichungspraxis des Bundeskartellamtes hat Meinrad Dreher – zu Recht – die Notwendigkeit einer erweiterten Veröffentlichungspraxis angemahnt.19 Eine begrüßenswerte Verbesserung bringt insoweit der im Zuge der 9. GWB-Novelle neu eingefügte § 53 Abs. 5 GWB: Hiernach soll das Bundeskartellamt nunmehr jede Bußgeldentscheidung wegen eines Verstoßes gegen § 1 oder die §§ 19 bis 21 GWB oder Art. 101 oder 102 AEUV spätestens nach Abschluss des behördlichen Bußgeldverfahrens auf seiner Internet-Seite mitteilen. Positiv hervorzuheben ist, dass die Mitteilung sowohl zeitnah („spätestens nach Abschluss des behördlichen Bußgeldverfahrens“) als auch ausdrücklich auf der InternetSeite des Bundeskartellamtes erfolgen soll. In § 53 Abs. 5 S. 2 GWB ist der Mindestinhalt der Mitteilungen gerade „mit Blick auf das Informationsbedürfnis möglicher Geschädigter“20 festgelegt. So sollen Geschädigte durch die in § 53 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 bis 4 GWB genannten Informationen in die Lage versetzt werden, das Bestehen möglicher Schadensersatzansprüche zu prüfen.21 Zu begrüßen ist auch, dass Geschädigte durch die Hinweise gemäß § 53 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 und 6 GWB auf ihr Recht auf Schadensersatz und, wenn die Bußgeldentscheidung bereits bestands- bzw. rechtskräftig ist, auf die Feststellungswirkung nach § 33b GWB aufmerksam gemacht werden sollen.22 Bedauerlich ist allerdings, dass eine entsprechende, auf die Information potentieller follow on-Kläger zielende Regelung zur Veröffentlichung auf den Internet-Seiten des Bundeskartellamtes nicht auch für die das Kartellverwaltungsverfahren abschließenden Verfügungen getroffen wurde, etwa durch eine entsprechende Ergänzung des § 62 GWB.23 Zu beklagen ist überdies, dass die Vorgabe in § 53 Abs. 5 GWB als bloße Soll-Vorschrift verfasst wurde, sodass sie wohl nur als gesetzliche Aufforderung verstanden werden muss und die Mitteilungen damit nicht verpflichtend sind.24 Da nunmehr die Entscheidungen aller Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz – zumindest vor den Zivilgerichten des Mitgliedstaawidrige Verhalten geschädigt wurden, können vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf Schadensersatz klagen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Verordnung 1/2003 des Rates gelten Kommissionsbeschlüsse in Gerichtsverfahren vor einzelstaatlichen Gerichten als rechtskräftiger Nachweis dafür, dass das Verhalten stattgefunden hat und gegen geltendes Recht verstoßen hat. Selbst wenn die Kommission gegen die betreffenden Unternehmen Geldbußen verhängt hat, kann Schadensersatz gewährt werden. Die von der Kommission verhängte Geldbuße wird dabei nicht mindernd angerechnet.“ Zu diesen Hinweisen aus dem Schrifttum etwa Möllers, Europa e Diritto Privato 2014, 821 (832 f.); Sanner, Informationsgewinnung, 2014, 417. 19 Dreher, ZWeR 2008, 325 (344 f.). 20 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 82. 21 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 82. 22 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, S. 82. 23 Vgl. den Vorschlag von Kersting / Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, Rn. 170 ff.
B. Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden
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tes, dessen Behörde die Entscheidung erlassen hat – Bindungswirkung entfalten, sollten die Entscheidungen bzw. Fallberichte aller einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden zukünftig in einer zentralen Datenbank erfasst werden, möglichst samt einer Zusammenfassung in englischer Sprache.25 Dazu bieten sich die Internet-Seiten des Europäischen Wettbewerbsnetzes an.26 Dies würde es den Geschädigten im Europäischen Wettbewerbsnetz weiter erleichtern, die Fälle zu ermitteln, von denen sie betroffen sein könnten.
B. Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden B. Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden
Einsatz und Auswahl des behördlichen Durchsetzungsinstrumentariums entscheiden darüber, ob in nachfolgenden Schadensersatzprozessen eine Bindungswirkung eintritt oder nicht.27 Wird eine bindende Entscheidung erlassen, so hängt es weiter von den darin getroffenen Feststellungen – insbesondere zur sachlichen, persönlichen, zeitlichen und räumlichen Dimension des bejahten Verstoßes – ab, inwieweit die Geschädigten in die Lage versetzt werden, ihre Ersatzansprüche vor den Zivilgerichten effektiv durchzusetzen.28 Aus diesem Befund folgt eine besondere Verantwortung der Wettbewerbsbehörden, zumal kartellrechtliche Schadensersatzklagen bislang fast ausnahmslos als follow onKlagen geführt werden.29 Angesichts dessen ist bereits im behördlichen Kartellverfahren von den Wettbewerbsbehörden zu berücksichtigen, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen und die von ihnen getroffenen Feststellungen auf zivilrechtliche Folgeverfahren haben werden. Rückwirkungen auf die Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden ergeben sich dabei namentlich in Bezug auf den Erlass von Feststellungsentscheidungen und den Erlass von Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen. I.
Feststellungsentscheidungen
Neben der Europäischen Kommission30 sind auch die nationalen Wettbewerbsbehörden befugt, einen Verstoß „isoliert“ festzustellen, wenn das wett24 Siehe dazu auch die entsprechende Kritik der Monopolkommission, XXI. Hauptgutachten: Wettbewerb 2016, 2016, Rn. 165, die ausdrücklich eine gesetzliche Mitteilungspflicht empfohlen hatte. 25 Vgl. den Vorschlag der Gesellschaft CDC Cartel Damage Claims, Implementation of Directive 2014/104/EU on certain rules governing actions for damages under national law for infringements of the competition law provisions of the Member States and of the European Union into national law, 2016, S. 19 f. 26 Abrufbar unter: . 27 Näher zu den Entscheidungstypen der nationalen Wettbewerbsbehörden, denen im Zivilprozess Bindungswirkung zukommt supra Kapitel 2 B. II. 1. b). 28 Vgl. Hartmann-Rüppel / Ludewig, ZWeR 2012, 90 (105). 29 Vgl. dazu bereits supra Kapitel 1 A. II. 2. b) sowie Kapitel 1 C. II. 3.
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
bewerbswidrige Verhalten zum Entscheidungszeitpunkt bereits beendet ist.31 Voraussetzung für den Erlass solcher Entscheidungen ist in einigen Mitgliedstaaten – entsprechend der Kommissionsbefugnis aus Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO Nr. 1/2003 – ein berechtigtes (Feststellungs-)Interesse, so insbesondere im deutschen und im österreichischen Kartellverwaltungsrecht.32 Das im deutschen Kartellverwaltungsrecht in § 32 Abs. 3 GWB vorausgesetzte berechtigte Interesse wurde in der Vergangenheit vielfach lediglich bei Bestehen einer Wiederholungsgefahr uneingeschränkt bejaht sowie dann, wenn die Feststellung der Klärung einer unklaren Rechtslage diente. Das „bloße“ Interesse der Geschädigten an einer bindenden Feststellungsentscheidung zur erleichterten Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche sollte dagegen nach verbreiteter Auffassung im Schrifttum jedenfalls in der Regel nicht ausreichen.33 Nach dieser anfänglichen Zurückhaltung ist mittlerweile – auch und gerade vor dem Hintergrund der mit der nachträglichen Feststellungsentscheidung eintretenden Bindungswirkung – im ganz überwiegenden Schrifttum,34 in der Praxis des Bundeskartellamtes35 wie auch in der Rechtsprechung36 anerkannt, dass das berechtigte Interesse (auch) damit begründet werden kann, dass die Feststellungsentscheidung Geschädigten die Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche erleichtert. Vgl. Art. 7 Abs. 1 S. 4 VO 1/2003. Näher dazu supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb (1). 32 Vgl. § 32 Abs. 3 GWB und § 28 Abs. 1 öKartG; in den meisten Mitgliedstaaten ist ein berechtigtes Interesse als Voraussetzung einer isolierten Feststellung eines Verstoßes dagegen nicht gesetzlich festgeschrieben, vgl. ECN Working Group on Cooperation Issues and Due Process, Decision-Making Powers Report, 31 October 2012, 13. 33 Gänzlich ablehnend seinerzeit Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 1. Aufl. 2006, § 32 GWB Rn. 19; grundsätzlich ebenfalls ablehnend Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 1. Aufl. 2008, § 32 GWB Rn. 58 („[…] eine Feststellungsverfügung zu dem alleinigen Zweck, entsprechend § 33 Abs. 4 die Durchsetzung privater Schadensersatzklagen zu erleichtern, [kommt] grundsätzlich nicht in Betracht“); vgl. ferner Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 10. Aufl. 2006, § 32 GWB Rn. 37, nach dem das Interesse der Geschädigten nur „ausnahmsweise“ eine Feststellungsentscheidung rechtfertigen sollte; vgl. auch Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 4. Aufl. 2007, § 32 GWB Rn. 47 f.; ein Feststellungsinteresse wurde dagegen bereits von Anbeginn bejaht von Bechtold, Kartellgesetz, 4. Aufl. 2006, § 32 GWB Rn. 19. 34 Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 24; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 61; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 50; Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 430 ff.; zurückhaltend Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32 GWB Rn. 23 („die Erleichterung von privatem Rechtsschutz kann […] im Einzelfall im öffentlichen Interesse liegen“); im Grundsatz weiterhin ablehnend Keßler, in: MüKo KartellR, GWB, 2. Aufl. 2015, § 32 GWB Rn. 81. 35 Vgl. BKartA 26.8.2015, B2-98/11 – ASICS, S. 70 f.; bestätigt durch OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris, Rn. 120 f. – Preisvergleichsmaschinenverbot. 30 31
B. Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden
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Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im österreichischen Kartellverwaltungsrecht nachvollziehen. Dem justiziellen Vollzugsmodell folgend37 werden dort Entscheidungen zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln durch das Oberlandesgericht Wien als Kartellgericht erlassen,38 das als zuständige „Wettbewerbsbehörde“ im Sinne von Art. 35 Abs. 1 VO Nr. 1/2003 fungiert.39 Die Befugnis nach § 28 Abs. 1 öKartG, bereits beendete Zuwiderhandlungen festzustellen, ist – wie im europäischen und deutschen Kartellverwaltungsrecht – von einem berechtigten Interesse abhängig. Vor dem Hintergrund, dass Unternehmer und Unternehmervereinigungen beim Kartellgericht Anträge auf Erlass von Entscheidungen stellen können, wenn sie ein rechtliches oder wirtschaftliches Interesse an einer Entscheidung haben,40 werden dort mitunter Anträge auf nachträgliche Feststellung eines Verstoßes gestellt, um Schadensersatzklagen vorzubereiten. Das österreichische Kartell- und Kartellobergericht standen dieser Vorgehensweise in der Vergangenheit ablehnend gegenüber und verneinten – entgegen vieler Stimmen aus dem Schrifttum41 – ein berechtigtes Interesse, wenn die nachträgliche Feststellung „nur“ dazu diente, die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen zu erleichtern.42 In Reaktion darauf hat der österreichische Gesetzgeber im Zuge der öKartG-Novelle 2012, und damit parallel zur Einführung einer Bindungswirkung im österreichischen Recht,43 in § 28 Abs. 1a Nr. 2 öKartG ausdrücklich festgeschrieben, dass ein berechtigtes Interesse auch dann vorliegt, wenn die nachträgliche Feststellung begehrt wird, um Schadensersatz wegen der Zuwiderhandlung geltend zu machen.
36 OLG Düsseldorf 8.6.2007, VI-Kart 15/06 (V), WuW 2007, 777 – Deutscher Lottound Totoblock; OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris, Rn. 120 f. – Preisvergleichsmaschinenverbot. 37 Vgl. einführend zu den verschiedenen Grundmodellen bei der Organisation und Ausgestaltung der nationalen Wettbewerbsbehörden supra Kapitel 1 A. I. 2. sowie Kapitel 2 B. I. 1. 38 § 58 Abs. 1 öKartG. 39 § 83 Abs. 1 Nr. 1 öKartG; gegen die Entscheidungen des Kartellgerichts steht das Rechtsmittelverfahren in zweiter und letzter Instanz zum österreichischen Obersten Gerichtshof als Kartellobergericht offen (§ 58 Abs. 2 öKartG). 40 § 36 Abs. 4 Nr. 4 öKartG. 41 Vartian, in: Petsche / Urlesberger / Vartian, KartG, 2007, § 28 KartG Rn. 7, 24; Hoffer, KartG, 2007, 242; Thyri, Kartellrechtsvollzug in Österreich, 2007, Rn. 521 f.; Thyri, ecolex 2008, 657 (658). 42 Kartellobergericht (OGH) 8.10.2008, 16 Ok 8/08 – Aufzugskartell; Kartellgericht (OLG Wien) 31.8.2007, 25 Kt 108/06 – Radiusklausel; vgl. dazu aus dem Schrifttum etwa Thyri, ecolex 2008, 657 (657 f.); Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, 431. 43 Zu den durch die öKartG-Novelle 2012 herbeigeführten Neurungen etwa KoflerSenoner / Siebert, EuZW 2012, 650 (653 f.).
266
Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
II. Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen Während sich die Einsatzmöglichkeit von Feststellungsentscheidungen im Lichte der Bindungswirkung nach dem Vorgesagten also erweitert hat, ist der Einsatz von Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen richtigerweise einzuschränken. Denn, um es in den Worten Josef Drexls zu sagen, untergraben diese das Recht der Geschädigten auf Schadensersatz.44 Bei der Annahme von Verpflichtungszusagen bleibt letztlich im Dunkeln, ob das in Rede stehende Verhalten einen Kartellrechtsverstoß darstellt oder nicht. Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen entfalten dementsprechend auch keine Bindungswirkung im Zivilprozess.45 Die Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche wird durch den Einsatz von Verpflichtungszusagen damit erheblich erschwert.46 Es nimmt daher auch nicht wunder, dass den Delinquenten vonseiten der Anwaltschaft zur Vermeidung der Bindungswirkung im Zivilprozess der Weg der Verpflichtungszusage besonders empfohlen wird.47 Was für die Delinquenten von Vorteil ist, empfinden die Geschädigten zuweilen als „Vertrag zu Lasten Dritter“.48 Die negativen Folgen für die Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen sind keineswegs trivial, wenn man sich vor Augen führt, dass in vielen Mitgliedstaaten inzwischen eine große Zahl der Fälle, Hardcore-Kartelle ausgenommen, mittels Verpflichtungszusagen abgeschlossen wird.49 Die Bedeutung der Verpflichtungszusage als HandlungsinstruDrexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (148): („[commitment decisions] undermine the right of victims to compensation […]“). 45 Dazu supra Kapitel 2 B. II. 1. b) bb) (3). 46 Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (57); Podszun, ZWeR 2012, 48 (59); Kreße, WRP 2014, 1261 (1265); Kühne, WuW 2011, 577 (577); Wagner-von Papp, CML Rev. 49 (2012), 929 (962, 969); Drexl, in: Micklitz / Wechsler, 2016, 135 (148). 47 Vgl. Weidenbach / Saller, BB 2008, 1020 (1025): „PRAXISTIPP: […] bei nicht bußgeldrelevanten Verstößen [kommt] in Betracht, eine Einstellung des behördlichen Verfahrens durch Verpflichtungszusagen (§ 32b GWB bzw. Art. 9 VO 1/2003) zu erreichen. Die Behördenentscheidung enthält dann keine bindende Feststellung eines Kartellrechtsverstoßes.“ 48 Klees, EWS 2011, 14 (16); vgl. auch Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (57). 49 So hat das Bundeskartellamt im Jahr 2012 insgesamt sieben Entscheidungen über Verpflichtungszusagen bei 18 Bußgeldbescheiden und zwei Abstellungsverfügungen nach § 32 GWB erlassen; im Jahr 2011 waren es drei Verpflichtungszusagen bei 17 Bußgeldbescheiden und zwei Verfügungen nach § 32 GWB; im Jahr 2010 waren es 30 Entscheidungen über Verpflichtungszusagen bei gleichzeitig acht Bußgeldbescheiden und nur einer Abstellungsverfügung nach § 32 GWB, BKartA, Tätigkeitsbericht 2011/2012, 2013 (BTDrucks. 17/13675), S. 132 ff.; BKartA, Tätigkeitsbericht 2009/2010, 2011 (BT-Drucks. 17/6640), S. 164 f.; siehe hierzu aus dem Schrifttum etwa Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32b GWB Rn. 4; Podszun, ZWeR 2012, 48 (51 f.); ähnlich ist die Situation in anderen Mitgliedstaaten, siehe dazu Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 5 Fn. 18 m. w. N.; ferner 44
B. Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden
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ment ist gewaltig, sie ist zum „Lieblingskind der Behördenmitarbeiter“50 geworden. Verpflichtungszusagen ergehen dabei mitunter selbst in Fällen, in denen ein Kartellrechtsverstoß mit großer Wahrscheinlichkeit oder sogar sicher vorliegt.51 Der breite Einsatz von Verpflichtungszusagen zeugt nicht nur von einem Wandel der behördlichen Kartellrechtsdurchsetzung weg von der streng hoheitlichen Befugnisausübung mittels harter formeller Entscheidung hin zu konsensualen Beilegungsmaßnahmen, um in Kooperation mit den Rechtsverletzern passgenaue, zukunftsorientierte Abhilfemaßnahmen zu „designen“.52 Diese Entwicklung steht auch – wie auch die Ökonomisierung des Kartellrechts im Zuge des more economic approach53 – in einem auffälligen Spannungsverhältnis zum Ziel der Effektivierung kartellrechtlicher Schadensersatzklagen.54 Die praktische Wirksamkeit der Art. 101 und 102 AEUV zieht dem Einsatz von Verpflichtungszusagen durch die Wettbewerbsbehörden mit Blick auf das Recht der Geschädigten, wegen Zuwiderhandlungen Schadensersatz zu verlangen, indes richtigerweise gewisse Grenzen. Schließlich betont der Gerichtshof in mittlerweile ständiger Rechtsprechung, dass die praktische Wirksamkeit der Art. 101 und 102 AEUV ohne einen effektiven Anspruch auf Schadensersatz beeinträchtigt wäre.55 Infolgedessen haben auch die Wettbewerbsbehörden, Lianos, in: Lowe / Marquis / Monti, 2016, 105 (125); rund 25 % der gemäß Art. 11 Abs. 4 VO Nr. 1/2003 der Kommission mitzuteilenden Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden sind Zusagenentscheidungen, begleitendes Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung der Kommission, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, SWD(2014) 231, 2, Rn. 59. 50 Podszun, ZWeR 2012, 48 (52). 51 Vgl. etwa BKartA 22.1.2015, B3-164/14 – SodaStream, WuW 2015, 922. 52 Eingehend dazu Podszun, ZWeR 2012, 48 (48 ff.); ferner Schweitzer, Commitment Decisions in the EU and in the Member States: Functions and Risks of a New Instrument of Competition Law Enforcement within a Federal Enforcement Regime, 2012, 2; Gerard, in: Lowe / Marquis / Monti, 2016, 139 (139 ff.); siehe auch Waelbroeck, in: Gheur / Petit, 2009, 221 (221 ff.), der von einer neuen „settlement culture“ spricht; der allgemeine Wandel des Verwaltungshandelns hin zu einer modernisierten Ausrichtung wird in Politik- und Rechtswissenschaft unter Schlagwörten wie „New Public Management“ begleitet oder in der deutschen Rechtswissenschaft mit den Lehren der sog. Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft; zu Letzterer etwa Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, 2. Aufl. 2012, § 1. 53 Dazu supra Kapitel 1 C. II. 2. a) cc). 54 Ritter, WuW 2008, 762 (765); vgl. auch Kühne, WuW 2011, 577 (577); Kreße, WRP 2014, 1261 (1265); Brenner, EuR 2014, 671 (693 Fn. 108). 55 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465, Rn. 26; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461, Rn. 60, 90; EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389, Rn. 28; EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684, Rn. 41; EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366, Rn. 21; EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317, Rn. 21; siehe näher hierzu bereits supra Kapitel 1 A. II. 1. b) bb).
268
Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
wenn sie über die Annahme von Verpflichtungszusagen entscheiden, die negativen Folgen für die Durchsetzbarkeit von Schadensersatzansprüchen in ihre Abwägung miteinzustellen.56 Zwar dient das Instrument der Verpflichtungszusage in geeigneten Fällen ebenfalls der effektiven Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV.57 Zudem verfügen die Kartellbehörden im Ausgangspunkt über ein weites Ermessen, ob sie eine Verpflichtungszusage für bindend erklären oder aber das Verfahren mittels einer Abstellungsverfügung abschließen.58 Liegt ein Verstoß aus Sicht der Wettbewerbsbehörde aber sicher oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit vor und sind durch den Verstoß potentiell erhebliche Schäden verursacht worden, so ist eine Entscheidung über die Verbindlicherklärung einer Verpflichtungszusage als ermessensfehlerhaft zu werten. Denn eine solche Entscheidung erschwert in unverhältnismäßiger Weise die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und wäre daher mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar.59 Hiergegen spricht auch nicht, dass Dritte grundsätzlich keinen Anspruch auf ein Tätigwerden der Kartellbehörden haben. Ob eine Kartellbehörde tätig wird und das Verfahren mittels einer Abstellungsverfügung beendet, steht in der Regel in ihrem Ermessen; Dritte haben also in der Tat grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf ein Einschreiten.60 Dritten steht aber ein Anspruch 56
(818).
Vgl. Klees, WuW 2009, 374 (376); Truli, European Competition Journal 2009, 795
57 Kreße, WRP 2014, 1261 (1267); zweifelnd, ob durch den Einsatz von Verpflichtungszusagen optimale Ergebnisse im Sinne einer effektiven Durchsetzung des Wettbewerbsrechts erzielt werden Brenner, EuR 2014, 671 (693); vgl. auch Gerard, in: Lowe / Marquis / Monti, 2016, 139 (183 f.). 58 Vgl. zur Befugnis der deutschen Kartellbehörden aus § 32b GWB Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (53, 58); Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32b GWB Rn. 5; Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32b GWB Rn. 9; zur entsprechenden Kommissionbefugnis aus Art. 9 VO 1/2003 EuGH 29.6.2010, Rs. C-441/07 P, Alrosa, EU:C:2010:377, Rn. 94: „Gemäß Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 verfügt die Kommission über einen weiten Beurteilungsspielraum, eine Verpflichtungszusage für bindend zu erklären oder sie abzulehnen“; aus jüngerer Zeit EuG 15.9.2016, Rs. T-76/14, Morningstar, EU:T:2016:481, Rn. 40 ff.; aus dem Schrifttum Lianos, in: Lowe / Marquis / Monti, 2016, 105 (132); Wils, World Competition 29 (2006), 345 (351); kritisch zum weiten Ermessen der Kommission nach der Alrosa-Entscheidung Wagner-von Papp, CML Rev. 49 (2012), 929 (929 ff.). 59 Vgl. auch Kreße, WRP 2014, 1261 (1265 ff.), der im Ergebnis allerdings davon ausgeht, dass die praktische Wirksamkeit der Art. 101 und 102 AEUV durch das Instrument der Verpflichtungszusage grundsätzlich nicht beeinträchtigt wird. 60 So jedenfalls im deutschen Kartellverwaltungsrecht BGH 14.11.1968, KVR 1/68, BGHZ 51, 61 (67 f.) – Taxiflug; BGH 25.10.1983, KVR 8/82, NVwZ 1984, 265 (265 f.) – Internord; BGH 6.3.2001, KVZ 20/00, ZIP 2001, 807; Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 9; Emmerich, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 14; zum Kartellverwaltungsverfahren der Kommission, das ebenfalls durch den Opportunitätsgrundsatz bestimmt wird, supra Kapitel 1 A. I. 1.
C. Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung
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auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu.61 Im vorliegenden Zusammenhang geht es denn auch nicht darum, dass ein Einschreiten der Kartellbehörde durch Dritte begehrt wird, sondern vielmehr darum, eine Anfechtungsmöglichkeit zu gewähren, falls sich eine ergangene Verpflichtungszusage mit Rücksicht auf das Recht der Geschädigten, wegen Zuwiderhandlungen Schadensersatz zu verlangen, als unverhältnismäßig und damit ermessensfehlerhaft erweisen sollte. Zwar steht die noch überwiegende Auffassung einer Anfechtungsmöglichkeit Dritter zurückhaltend gegenüber,62 die dargelegten Gründe wie auch das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes streiten indes für eine solche Anfechtungsmöglichkeit.63
C. Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden C. Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung
Neben den dargelegten Rückwirkungen auf die behördliche Durchsetzungsspur, die sich bereits für das geltende Recht ergeben, gibt die Bindungswirkung auch Anlass zu Schlussfolgerungen de lege ferenda. Zum einen sollten die nationalen Wettbewerbsbehörden mit einer grenzüberschreitenden Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit ausgestattet werden. Zum anderen sollte ein System gegenseitiger Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz verankert werden. I.
Grenzüberschreitende Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit
Die nationalen Wettbewerbsbehörden sind nach geltender Rechtslage in ihren Entscheidungen und Sanktionen darauf beschränkt, Inlandswirkungen kartellrechtswidriger Vereinbarungen und Verhaltensweisen zu unterbinden und zu ahnden. Mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 wurde den nationalen Wettbewerbsbehörden keine exterritoriale Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit verliehen.64 Hieraus folgt für die Bindungswirkung im ZivilBGH 11.3.1997, KVZ 22/96, WuW/E BGH 3113, 3114 – Rechtsschutz gegen Berufsordnung; Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (58); Bornkamm, in: Langen / Bunte, Deutsches Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, § 32 GWB Rn. 9; Klose, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 51 Rn. 47. 62 Zum deutschen Kartellverwaltungsrecht Bornkamm, in: FS Bechtold, 2006, 45 (57 f.); Bach, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, § 32b GWB Rn. 37 f.; Bechtold / Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 32b GWB Rn. 8. 63 Ebenfalls für eine Drittanfechtungsmöglichkeit Wesselburg, Drittschutz bei Verstößen gegen das Kartellverbot, 2010, 156; vgl. auch Rehbinder, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, § 32b GWB Rn. 19; in Bezug auf die Drittanfechtung von Kommissionsentscheidungen gemäß Art. 9 VO 1/2003 ebenfalls großzügig Schwarze / Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 6 Rn. 87 f.; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 6 Rn. 151. 61
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
prozess, dass diese in räumlicher Hinsicht nicht über das Gebiet der erlassenden Wettbewerbsbehörde hinausreichen kann.65 Bei Verstößen, die sich über das Gebiet einer Wettbewerbsbehörde hinaus auf mehrere Mitgliedstaaten erstrecken, ist dies unbefriedigend, bleibt hier die Bindungswirkung doch unvollkommen, indem sie derartige Verstöße räumlich nicht vollständig abbilden kann. Hierdurch kann letzten Endes die einheitliche Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln beeinträchtigt sein.66 Die begrenzte räumliche Reichweite der Bindungswirkung steht schließlich in auffälligem Gegensatz zur Kognitionsbefugnis der Zivilgerichte, die bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten gerade keiner entsprechenden Beschränkung unterliegt.67 Auch unabhängig von den Folgen für die Reichweite der Bindungswirkung in räumlicher Hinsicht streiten für eine grenzüberschreitende Entscheidungsund Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden gewichtige Gründe: Die Übertragung grenzüberschreitender Befugnisse wird insbesondere durch das Bestreben nahegelegt, die nationalen Wettbewerbsbehörden zur effektiven dezentralen Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln zu befähigen,68 zumal nach der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 jeder Fall möglichst nur von einer Behörde bearbeitet werden soll.69 Nach den Kriterien über die Fallverteilung im Europäischen Wettbewerbsnetz, wie sie in der Netzwerkbekanntmachung dargelegt sind,70 soll das Vorgehen einer nationalen Wettbewerbsbehörde schließlich auch dann in Betracht kommen, wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise in mehreren Mitgliedstaaten wesentliche Auswirkungen entfaltet.71 Um in solchen Fällen eine effektive Durchsetzung zu gewährleisten, bedürfte es konsequenterweise auch grenzüberschreitender Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse.72 Schließlich könnte auch nur so das in der Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission gegebene Versprechen eingelöst werden, dass alle Mitglieder des Europäischen Wettbewerbsnetzes „in vollem Umfang“ und „ohne Einschränkung“ für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV parallel zuständig sein sollen.73 Dazu supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). Supra Kapitel 2 E. 66 Dazu supra Kapitel 2 E. 67 Dazu, dass die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte grundsätzlich umfassend kognitionsbefugt sind, (Kartell-)Beklagte also auch zum Ersatz solcher Schäden verurteilen können, die außerhalb des Forumstaats entstanden sind, supra Kapitel 1 A. II. 3. a). 68 Vgl. Erwägungsgrund 6 Kartellverfahrensverordnung. 69 Erwägungsgrund 18 S. 2 Kartellverfahrensverordnung. 70 Zur Fallaktion im Europäischen Wettbewerbsnetz nach Maßgabe der Netzwerkbekanntmachung supra Kapitel 1 A. I. 2. a) bb). 71 Vgl. Netzwerkbekanntmachung der Kommission (ABl. 2004 C 101, 43), Rn. 9 ff. 72 Vgl. Pignataro, Contratto e Impresa / Europa 8 (2003), 233 (264); Klees, WuW 2006, 1222 (1227), die entgegen der hier vertretenen Auffassung allerdings bereits eine exterritoriale Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit nach der lex lata bejahen möchten. 64 65
C. Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung
271
Sollte den nationalen Wettbewerbsbehörden, wie hier vorgeschlagen, eine grenzüberschreitende Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit verliehen werden, so würde dies die bestehenden Unterschiede der mitgliedstaatlichen Kartellverfahrens- und Sanktionsrechte freilich noch bedeutsamer machen. 74 Unterschiede in den Verfahrens- und Sanktionsrechten der Mitgliedstaaten können dazu führen, dass Verstöße gegen die europäischen Wettbewerbsregeln anders verfolgt und geahndet werden, je nachdem welche Wettbewerbsbehörde innerhalb des Europäischen Wettbewerbsnetzes den Fall aufgreift.75 In ihrer Mitteilung „Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“ hat die Europäische Kommission eine „größere Übereinstimmung der nationalen Verfahren und Sanktionen“ angeregt. 76 Nach einer im Anschluss durchgeführten öffentlichen Konsultation hat die Kommission im März 2017 eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten vorgeschlagen,77 mit der unter anderem grundlegende Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse,78 die Befugnisse zur Verhängung und 73 Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommission zur Arbeitsweise des Netzes der Wettbewerbsbehörden, 15435/02 ADD 1, Rn. 6, 11; vgl. auch Wils, Principles of European Antitrust Enforcement, 2005, 35 ff., Brammer, Co-operation between National Competition Agencies, 2009, 448, die bereits unter der lex lata exterritoriale Entscheidungsund Sanktionsbefugnisse der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden annehmen wollen. 74 Vgl. Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 153 ff.; zur (bislang) fehlenden Harmonisierung der mitgliedstaatichen Verfahrens- und Sanktionsrechte bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. sowie Kapitel 1 A. I. 2. b) bb). 75 Dazu etwa Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 5. Aufl. 2014, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 14 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 153; Harnos, ZWeR 2016, 284 (287); vgl. auch Schwarze, in: FS Bechtold, 2006, 483 (490 f.), der sich nicht zuletzt wegen der Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Verfahrens- und Sanktionsrechten für eine Anfechtbarkeit der Fallverteilung im Europäischen Wettbewerbsnetz ausspricht. 76 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final, Rn. 25: „Eine bessere Durchsetzung des EUWettbewerbsrechts erfordert […] eine größere Übereinstimmung der nationalen Verfahren und Sanktionen“; vgl. zu den erwogenen Maßnahmen etwa Laitenberger, EuZW 2016, 81 (81 f.); Parret / van der Wal, Markt en Mededinging 2015, 4 (4 ff.); Weitbrecht / Mühle, EuZW 2017, 165 (165, 170); zur Diskussion um eine weitere Harmonisierung der nationalen Kartellverfahrensrechte siehe auch Ost, Journal of European Competition Law & Practice 2014, 125 (125 ff.), sowie, zur Harmonisierung der nationalen Kartellsanktionsrechte, Dannecker / Biermann, in: Immenga / Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Vor Art. 23 VO 1/2003 Rn. 14 ff. 77 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final. 78 Siehe die Art. 6–11 des Richtlinienvorschlags.
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
Berechnung von Geldbußen und Zwangsgeldern79 sowie die Kronzeugenprogramme80 der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz harmonisiert werden sollen.81 Die von der Kommission vorgeschlagenen Harmonisierungsmaßnahmen – die über die bereits freiwillig erfolgte Angleichung der Kartellverfahrens- und Sanktionsrechte der Mitgliedstaaten an die Verfahrensvorschriften der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/2003 deutlich hinausreichen – würden auch der Verleihung exterritorialer Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse weiter den Boden bereiten. II. System gegenseitiger Anerkennung Wird den nationalen Wettbewerbsbehörden, wie hier befürwortet, die Befugnis eingeräumt, die Auswirkungen eines kartellrechtlich relevanten Verhaltens auch auf angrenzenden mitgliedstaatlichen Auslandsmärkten in ihre Beurteilung miteinzubeziehen und das Verhalten auch insoweit zu untersagen und zu ahnden, stellt sich im nächsten Schritt die Frage nach der unionsweiten Geltung dieser Entscheidungen. Dass sich eine nationale Entscheidung eine grenzüberschreitende Regelung beimisst, heißt nämlich noch nicht, dass diese im Ausland auch Geltung beanspruchen kann.82 Nach dem gegenwärtigen Stand des europäischen Primär- und Sekundärrechts besteht keine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden.83 Eine entsprechende Anerkennungsregel würde durch die Einräumung exterritorialer Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse indes nahegelegt. Denn nur so ist gewährleistet, dass die Entscheidung einer anderen Kartellbehörde im Inland – oder eine Entscheidung des Bundeskartellamtes im Ausland – beachtet werden muss und erforderlichenfalls dort auch mit Staatsgewalt durchgesetzt werden kann.84 Eine Anerkennungsregel sollte Siehe die Art. 12–15 des Richtlinienvorschlags. Siehe die Art. 16–22 des Richtlinienvorschlags. 81 Für einen Überblick der vorgeschlagenen Harmonisierungsmaßnahmen siehe etwa König, NZKart 2017, 397 (398 ff.); Sinclair, Journal of European Competition Law & Practice 2017, 625 (631 ff.). 82 Zur Unterscheidung von Regelungs- und Geltungsbereich von Verwaltungsakten bereits supra Kapitel 1 A. I. 2. a) cc). 83 Dazu supra Kapitel 3 A. V. 1. 84 Vgl. bereits Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (529); siehe nun auch die seitens der Kommission vorgeschlagene Regelung über eine grenzüberschreitende Vollstreckung von Entscheidungen zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern, Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 25; vgl. ferner bereits den Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. 2005 L 76, 16. 79 80
C. Territoriale Reichweite und gegenseitige Anerkennung
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dabei um einen Anerkennungsvorbehalt ergänzt werden, wie er auch für die Bindungswirkung von Entscheidungen anderer mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden im Zivilprozess hergeleitet wurde.85 Darüber hinaus erscheint es aber auch und gerade mit Blick auf die Bindungswirkung im Zivilprozess ungereimt, dass nach geltender Rechtslage die Entscheidung einer anderen Wettbewerbsbehörde die inländischen Zivilgerichte binden kann, aber nicht durch die inländischen Wettbewerbsbehörden – jedenfalls im Umfang einer Tatbestandswirkung86 – zu beachten ist. Dies kann zu widersprüchlichen Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden führen. Angenommen etwa ein kartellrechtlich relevantes Verhalten zeitigt in Deutschland wie auch in Frankreich hinreichend signifikante Auswirkungen, um die Zuständigkeit der jeweiligen Wettbewerbsbehörden zu begründen. Ferner sei unterstellt, dass die französische Autorité de la concurrence daraufhin eine Abstellungsverfügung erlässt, welche die Grundlage einer follow onSchadensersatzklage in Deutschland bildet. In dieser Situation wäre das deutsche Zivilgericht nach § 33b GWB an die französische Entscheidung gebunden. Gleichzeitig bliebe es dem Bundeskartellamt aber unbenommen zu entscheiden, dass es keinen Anlass sieht, tätig zu werden, wenn es das Verhalten für kartellrechtlich unbedenklich hält.87 Würde den nationalen Wettbewerbsbehörden eine exterritoriale Entscheidungszuständigkeit verliehen, so sollte die Entscheidung der erstentscheidenden Behörde ein Tätigwerden einer weiteren Wettbewerbsbehörde wegen desselben Verstoßes freilich am besten von vornherein ausschließen.88 Im Falle exterritorialer Sanktionsentscheidungen würde dies bereits der Grundsatz ne bis in idem gebieten.89 Ein System gegenseitiger Anerkennung ist letzten Endes auch im Hinblick auf die Zielsetzung naheliegend, mit der Kartellverfahrensverordnung Nr. 1/ Zum Erfordernis und zur Zulässigkeit eines immanenten Anerkennungsvorbehalts bei der Bindungswirkung von Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten supra Kapitel 3 A. V. 2.; auch die von der Kommission vorgeschlagene Regelung über eine grenzüberschreitende Vollstreckung von Entscheidungen zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern soll unter dem Vorbehalt stehen, dass die zu vollstreckende Entscheidung nicht dem ordre public des ersuchten Mitgliedstaates widerspricht, Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final, Art. 25 Abs. 5. 86 Zu Begriff und Umfang einer Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten (im weiteren Sinn) supra Kapitel 3 A. I. 1. a) bb). 87 Vgl. das entsprechende Beispiel bei Basedow, in: FS Spellenberg, 2010, 395 (398). 88 Vgl. Basedow, EBOR 2001, 443 (455 ff.); gegenwärtig steht es nach Art. 13 VO 1/2003 im Ermessen der Wettbewerbsbehörden, ob sie ihr Verfahren auszusetzen, falls bereits eine andere Wettbewerbsbehörde mit demselben Fall befasst ist. 89 Dies folgt im Umkehrschluss aus dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Toshiba, in dem der EuGH eine Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem abgelehnt hat, weil die 85
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Kapitel 4 – Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
2003 einen einheitlichen Rechtsraum für Unternehmen (level playing field) zu schaffen.90 Die Voraussetzungen für einen solchen einheitlichen Rechtsraum könnten in Zukunft durch die von der Europäischen Kommission in der Mitteilung „Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“91 zunächst angeregten und im Anschluss an eine öffentliche Konsultation sodann im März 2017 vorgeschlagenen Harmonisierungsmaßnahmen im Richtlinienvorschlag zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten92 noch umfassender als bisher hergestellt werden. Die darin empfohlene Harmonisierung der Kartellverfahrens- und Sanktionsrechte der Mitgliedstaaten93 würde damit auch den Weg für die Schaffung eines echten Systems gegenseitiger Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden im Europäischen Wettbewerbsnetz ebnen. Der Richtlinienvorschlag, der bereits Elemente eines Systems gegenseitiger Anerkennung aufweist,94 sollte daher um eine ausdrückliche Anerkennungsregel in Bezug auf alle verfahrensbeendenden Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden ergänzt werden. Erstentscheidung der Kommission auf die Auswirkungen im Binnenmarkt beschränkt war, wohingegen mit der Entscheidung der nationalen tschechischen Wettbewerbsbehörde nur die Auswirkungen des Kartells auf das Territorium der Tschechischen Republik vor dem Beitritt zur Europäischen Union geahndet wurden, vgl. EuGH 14.2.2012, Rs. C-17/10, Toshiba, EU:C:2012:72, Rn. 99, 101 f.; bei einer Sanktion, mit der Auswirkungen dasselbe Territorium (und denselben Zeitraum) betreffend geahndet würden, müsste der Grundsatz im Umkehrschluss also eingreifen; vgl. näher dazu etwa Bardong, in: MüKo KartellR, EuWettbR, 2. Aufl. 2015, Art. 11 VO 1/2003 Rn. 112 f.; Kallfaß, in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016, Art. 11 VO 1/2003 Rn. 10 ff.; Divivier, Reichweite der Befugnis zur Anwendung des EU-Kartellrechts, 2014, 284 ff.; vgl. ferner Dekeyser / Gauer, in: Hawk, 2005, 549 (584 f.). 90 Sura, in: Langen / Bunte, EU-Kartellrecht, 12. Aufl. 2014, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 2; vgl. ferner bereits Mestmäcker, EuZW 1999, 523 (529). 91 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM(2014) 453 final. 92 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final. 93 Zu den vorgeschlagenen Harmonisierungsmaßnahmen in Bezug auf das Kartellverfahrens- und Sanktionsrecht der Mitgliedstaaten im Überblick bereits supra Kapitel 4 C. I. 94 Siehe die vorgeschlagenen Regelungen über eine grenzüberschreitende Zustellung vorläufiger Beschwerdepunkte und Entscheidungen (Art. 24) und über die grenzüberschreitende Vollstreckung von Entscheidungen zur Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern (Art. 25), Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, COM(2017) 142 final.
Zusammenfassung Zusammenfassung A. Grundlagen
A. Grundlagen
Die Durchsetzung des Kartellrechts in Europa erfolgt zweispurig: Zum einen im Wege der behördlichen Durchsetzung durch die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden, zum anderen im Wege der privaten Durchsetzung mit den Mitteln des Zivilrechts. Die behördliche und die private Durchsetzung verlaufen im Grundsatz unabhängig nebeneinander. Dennoch stehen sich beide keineswegs isoliert gegenüber, es bestehen vielmehr diverse Wechselwirkungen. Durch die Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidungen im Zivilprozess werden die Durchsetzungsspuren miteinander verzahnt, die Unabhängigkeit der Durchsetzungsspuren wird durchbrochen. Dabei ist zwischen der Bindung an Kommissionsentscheidungen und der Bindung an Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden zu unterscheiden. Beiden liegt im Ausgangspunkt ein anderes Regelungskonzept zugrunde. Die Bindungswirkung von Entscheidungen der Kommission soll in einem System paralleler Zuständigkeiten eine kohärente Rechtsanwendung sichern. Dass mit ihr auch eine Erleichterung der privaten Durchsetzung einhergeht, ist dagegen mehr Reflex als intendierter Regelungszweck. Demgegenüber ist die Verankerung einer Bindungswirkung von Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden vor allem eine Reaktion auf die zivilprozessualen Hürden beim Nachweis eines Verstoßes im Kartellschadensersatzprozess. Tatsächlich erleichtert die Bindungswirkung Geschädigten die Geltendmachung von Verstößen erheblich und mildert zugleich die problematischen Folgen, welche die Hinwendung zum more economic approach für die private Kartellrechtsdurchsetzung mit sich bringt. Bei den in Europa klar dominierenden follow on-Klagen bewirkt die Bindungswirkung im Verhältnis der Durchsetzungsspuren eine Arbeitsteilung: Den Behörden obliegt die Aufdeckung und Feststellung von Verstößen, wohingegen die private Durchsetzung erst im Anschluss an das behördliche Verfahren wirksam wird. Angesichts der (faktischen) Abhängigkeit kartellrechtlicher Schadensersatzklagen von einer vorangegangenen behördlichen Verfolgung kommt den Behörden in diesem Verhältnis eine besondere Verantwortung zu. Denn von ihnen hängt es ab, ob die Geschädigten in die Lage versetzt werden, ihre Ersatzansprüche vor den Zivilgerichten effektiv durchzusetzen.
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Zusammenfassung
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
Adressaten der Bindungswirkung sind alle staatlichen Ausgangs- und Instanzgerichte, die über kartellrechtliche Schadensersatzklagen entscheiden. Private Schiedsgerichte scheiden als unmittelbare Adressaten der Bindungswirkung zwar aus, unterliegen aber de facto einem Beachtungsgebot. Stellen, deren Entscheidungen im Zivilprozess Bindungswirkung entfalten können, sind zum einen die nationalen Wettbewerbsbehörden und zum anderen die Gerichte, die nach nationalem Recht dazu berufen sind, Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden oder darüber ergehende gerichtliche Entscheidungen zu überprüfen. Voraussetzung dafür, dass der Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde im Zivilprozess Bindungswirkung zukommt, ist zunächst, dass in ihr ein Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV oder parallel anwendbares nationales Wettbewerbsrecht festgestellt wurde. Der Entscheidung der Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaates, in der das europäische und das nationale Wettbewerbsrecht parallel geprüft, der bejahte Verstoß aber allein auf das nationale Wettbewerbsrecht gestützt wurde, muss nach der Kartellschadensersatzrichtlinie zumindest eine prima facie-Beweiswirkung für einen Verstoß zukommen. Die Befugnis zum Erlass von Entscheidungen zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln folgt nicht schon aus Art. 5 VO Nr. 1/2003, sondern aus dem nationalen Kartellverfahrensrecht. Art. 5 VO Nr. 1/2003 begrenzt lediglich den Handlungsrahmen bei der Ausgestaltung der Entscheidungsbefugnisse und indiziert, über welche Typen von Entscheidungen die Wettbewerbsbehörden für eine wirksame Anwendung der Kartellverfahrensverordnung verfügen sollten. In den mitgliedstaatlichen Kartellverfahrensrechten sind mittlerweile allerdings alle oder zumindest die überwiegende Zahl der in Art. 5 VO Nr. 1/2003 aufgezählten Entscheidungstypen vorgesehen. Der Bindungswirkung im Zivilprozess fähig sind Abstellungsverfügungen, Feststellungsentscheidungen, Bußgeldentscheidungen und sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionsentscheidungen. Keine Bindungswirkung entfalten dagegen einstweilige Maßnahmen, Entscheidungen über die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, Einstellungsentscheidungen und Entscheidungen über den Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung. Damit die einer Entscheidung beigemessene Bindungswirkung im Einzelfall eintritt, muss die Entscheidung wirksam und bestandskräftig sein. Wirksamkeit und Eintritt der Bestandskraft bemessen sich nach dem Recht des Erlassstaates. Bevor eine Entscheidung unanfechtbar und damit bestandskräftig ist, ist das Zivilgericht an diese nicht gebunden. Im Falle einer bereits
B. Voraussetzungen und Anwendungsbereich der Bindungswirkung
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erlassenen, aber noch nicht bestandskräftigen Entscheidung kann es das Verfahren aber gegebenenfalls aussetzen (vgl. § 148 ZPO). Ein dem Gericht eingeräumtes Aussetzungsermessen wird sich dabei in der Regel nicht zu einer Aussetzungspflicht verdichten. Wird eine der Bindungswirkung fähige behördliche Entscheidung (erfolglos) angefochten, geht die Bindungswirkung auf die das gerichtliche Verfahren abschließende Entscheidung über. Von Art und Umfang der gerichtlichen Überprüfung hängt es dabei ab, ob die Bindungswirkung allein von der gerichtlichen Entscheidung ausgeht oder ob ergänzend auch die Entscheidung aus dem behördlichen Kartellverfahren heranzuziehen ist. Mit der Beschränkung auf Schadensersatzklagen erweist sich der sachliche Anwendungsbereich der Bindungswirkung als offenkundig zu eng. Eine analoge Anwendung in anderen Kartellzivilverfahren scheidet mangels einer planwidrigen Regelungslücke jedoch aus. In persönlicher Hinsicht ist für den Eintritt der Bindungswirkung maßgeblich, dass der Beklagte am Kartellverfahren, das zur bindenden Entscheidung geführt hat, beteiligt war und die Möglichkeit hatte, gegen die Entscheidung gerichtlich vorzugehen. Eine Bindungswirkung gegenüber Kronzeugen scheidet daher aus, wenn im Falle des vollständigen Bußgelderlasses keine förmliche Entscheidung gegenüber einem Kronzeugen ergangen ist, welche die Grundlage der Bindungswirkung bilden könnte. Ergeht gegenüber einem Kronzeugen dagegen eine Entscheidung, in der seine Kartellbeteiligung festgestellt wird, wie im Falle der bloßen Bußgeldreduzierung, kann ihm die Bindungswirkung ohne weiteres entgegengehalten werden. Wurde eine Konzernmuttergesellschaft für den Kartellrechtsverstoß einer Tochtergesellschaft mit einem Bußgeld belegt, so folgt aus der Bindungswirkung des Bußgeldbescheides nicht, dass auch für die Frage der zivilrechtlichen Haftung ein Verstoß der Muttergesellschaft angenommen werden muss. Die Bindungswirkung bezweckt eine (bloße) Beweiserleichterung, ihr kann indes keine mittelbare anspruchsbegründende Wirkung zukommen. Für die Frage, mit welcher zeitlichen Dimension der in einer Entscheidung bejahte Verstoß für den Zivilrichter bindend festgestellt ist, kommt es auf die in der Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen an. Für Zeiträume, die außerhalb der festgestellten Dauer des Verstoßes liegen, trägt der Kläger grundsätzlich die volle Darlegungs- und Beweislast. Allerdings kann im Einzelfall eine tatsächliche Vermutung für eine weiter andauernde Zuwiderhandlung auch für Zeiträume nach Erlass einer behördlichen Verfügung streiten. In räumlicher Hinsicht kann die Bindungswirkung nicht weiter reichen als die territorial beschränkte Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden. Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden können damit im Zivilprozess keine Bindungswirkung entfalten, die über die im Erlassstaat eingetretenen und festgestellten Auswirkungen hinausreicht.
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Zusammenfassung
C. Rechtsfolgen der Bindungswirkung C. Rechtsfolgen der Bindungswirkung
Bei der statuierten Bindungswirkung handelt es sich in der Sache um eine Feststellungswirkung. Als solche erfasst sie neben dem Tenor auch die tragenden Gründe der bindenden Entscheidung. Die Feststellungswirkung bezieht sich (allein) auf den Kartellrechtsverstoß. Sie erstreckt sich auf alle im vorangegangenen Verfahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die den Lebenssachverhalt bilden, bezüglich dessen ein Verstoß bejaht wurde, und die seine rechtliche Einordnung als Verstoß tragen. Zu den bindenden Feststellungen zum Verstoß gehören etwaige Ausführungen zur Marktabgrenzung. Zudem kann die Betroffenheit des Klägers von der Feststellungswirkung erfasst sein, so etwa in Missbrauchsfällen, wenn die Entscheidung notwendigerweise bestimmte Betroffene individualisiert. Bei Kartellverstößen kann sich die Betroffenheit im Einzelfall aus der Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes ergeben. Nicht erfasst werden von der Feststellungswirkung dagegen etwaige Ausführungen zur subjektiven Tatseite. Neben dem Verschulden unterliegen auch alle weiteren Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs, insbesondere die Kausalität des Kartellrechtsverstoßes für den geltend gemachten Schaden und die Schadensbezifferung weiterhin den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen. Diese Voraussetzungen sind vom Kläger daher darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Die Feststellungswirkung ist durch das Zivilgericht von Amts wegen zu berücksichtigen. Sie hat zur Folge, dass der in der vorangegangenen Entscheidung festgestellte Verstoß als unwiderlegbar festgestellt gilt. Dadurch entfällt die an sich dem Kläger obliegende Darlegungs- und Beweisbedürftigkeit des Verstoßes. Gleichzeitig verliert das Gericht die Kompetenz, die Kartellrechtswidrigkeit des in Rede stehenden Verhaltens selbstständig zu beurteilen. Die Feststellungswirkung ist verfahrensrechtlich zu qualifizieren und unterliegt damit der lex fori. Die in § 33b GWB angeordnete Feststellungswirkung findet daher vor deutschen Gerichten unabhängig von dem über Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO berufenen Kartelldeliktsstatut Anwendung. Der statuierten Feststellungswirkung stehen die richterliche Unabhängigkeit und der Gewaltenteilungsgrundsatz nicht entgegen. Die Feststellungswirkung begrenzt zwar die richterliche Entscheidungszuständigkeit; damit geht jedoch kein unzulässiger Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit einher, vielmehr wird das durch den Richter anzuwendende Recht konkretisiert. Die Feststellungswirkung verletzt als solche auch nicht den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes. Voraussetzung dafür, dass der Grundsatz im Einzelfall gewahrt ist, ist aber, dass die bindende Entscheidung durch den Beklagten in einem anderen gerichtlichen Verfahren in einer dem Gebot effektiven Rechtsschutzes genügenden Weise überprüft werden konnte.
D. Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
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Für den Fall, dass eine Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat unter Verletzung rechtsstaatlicher Mindeststandards zustande gekommen ist, kann über einen aus dem Konventionsrecht bzw. den (Unions-)Grundrechten zu gewinnenden Anerkennungsvorbehalt die Feststellungswirkung im Einzelfall versagt werden. Hat das Zivilgericht Zweifel, ob die europäischen Wettbewerbsregeln in der Sache richtig angewendet wurden, bleibt ihm dagegen allein der Weg zum EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen. Legt dieser die Wettbewerbsregeln abweichend von der Entscheidung aus, deren Feststellungswirkung in Rede steht, so kann das Zivilgericht unter Abweichung der an sich bindenden Entscheidung urteilen.
D. Rückwirkungen auf und Schlussfolgerungen für die behördliche Durchsetzungsspur D. Rückwirkungen und Schlussfolgerungen
Das Instrument der Bindungswirkung greift tief in den Zivilprozess ein, umgekehrt wirkt es aber seinerseits auch auf die behördliche Durchsetzungsspur zurück. Die Verzahnung von Kartellverwaltungs- und Kartellprivatrecht bleibt also nicht einseitig. Rückwirkungen bestehen zunächst bezüglich der Veröffentlichungspraxis der Wettbewerbsbehörden, die sich auch und gerade mit Blick auf die Bindungswirkung im Zivilprozess erweitert hat. Daneben ergeben sich auch Rückwirkungen auf die Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden, namentlich in Bezug auf den Erlass von Feststellungs- und Zusagenentscheidungen. Während sich die Einsatzmöglichkeit von Feststellungsentscheidungen im Lichte der Bindungswirkung erweitert hat, ist der Einsatz von Entscheidungen über die Annahme von Verpflichtungszusagen richtigerweise einzuschränken. Neben den Rückwirkungen, die sich bereits für das geltende Recht ergeben, gibt die Bindungswirkung auch Anlass zu Schlussfolgerungen de lege ferenda. Zum einen sollten die nationalen Wettbewerbsbehörden mit einer grenzüberschreitenden Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit ausgestattet werden. Zum anderen sollte ein System gegenseitiger Anerkennung der Entscheidungen im Europäischen Wettbewerbsnetz verankert werden. Die Voraussetzungen für die Verleihung grenzüberschreitender Entscheidungsund Sanktionsbefugnisse als auch für die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen im Europäischen Wettbewerbsnetz würden durch eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Kartellverfahrens- und Sanktionsrechte, wie sie von der Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten empfohlen wurde, noch umfassender als bisher geschaffen werden.
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Deutschland
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Bundesgerichtshof BGH 19.12.1953, II ZR 27/53, BGHZ 12, 49 ................................................................... 96 BGH 30.7.1954, VI ZR 32/53, JZ 1955, 702 .......................................................... 214, 255 BGH 14.2.1962, IV ZR 156/61, NJW 1962, 1109 .......................................................... 207 BGH 24.6.1965, KZR 7/64, NJW 1965, 2249 – Brotkrieg II ...................................... 75, 76 BGH 14.11.1968, KVR 1/68, BGHZ 51, 61 – Taxiflug .................................................. 268 BGH 17.2.1970, III ZR 139/67, BGHZ 53, 245 – Anastasia ............................................. 98 BGH 27.9.1976, RiZ (R) 3/75, NJW 1977, 437 .............................................................. 220 BGH 27.4.1977, VIII ZR 184/75, WM 1977, 793 .......................................................... 210 BGH 1.12.1982, VIII ZR 279/81, BGHZ 86, 23 ............................................................... 96 BGH 25.10.1983, KVR 8/82, NVwZ 1984, 265 – Internord........................................... 268 BGH 27.6.1984, IVb ZR 2/83, NJW 1985, 552 .............................................................. 210 BGH 12.7.1984, VII ZR 123/83, JZ 1985, 183 ................................................................. 95 BGH 4.10.1984, I ZR 112/82, NJW 1985, 554 ....................................................... 252, 254 BGH 9.7.1985, VI ZR 214/83, NJW 1985, 2644 ............................................................ 209 BGH 17.3.1987, VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190.............................................................. 96 BGH 11.6.1990, II ZR 159/89, NJW 1990, 3151 .............................................................. 94 BGH 14.9.1990, RiZ (R) 1/90, NJW 1991, 421 .............................................................. 220 BGH 26.2.1991, XI ZR 331/89, NJW 1991, 2014 .......................................................... 207 BGH 23.4.1991, X ZR 77/89, NJW 1991, 2707 ............................................................... 95 BGH 12.11.1991, KZR 18/90, NJW 1992, 1817 – Anzeigenblatt...................................... 97 BGH 14.1.1993, IX ZR 238/91, NJW 1993, 935 .............................................................. 98
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Rechtsprechungsverzeichnis
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Reichsgericht RG 19.6.1920, V 82/20, RGZ 99, 221 ............................................................................ 177
Bundesverwaltungsgericht BVerwG 26.3.1976, IV C 7/74, NJW 1976, 1987 ........................................................... 193 BVerwG 8.6.1979, 4 C 23/77, NJW 1980, 1010 ............................................................. 193 BVerwG 27.6.1984, 6 C 78/82, NVwZ 1985, 115 .................................................. 191, 194 BVerwG 28.11.1986, 8 C 122-125/84, NVwZ 1987, 496 ....................................... 191, 193 BVerwG 22.4.1994, 8 C 29/92, NJW 1995, 542 ..................................................... 191, 193 BVerwG 20.11.1997, 5 C 1/96, BVerwGE 105, 370 ...................................................... 152 BVerwG 24.10.2001, 8 C 32/00, VIZ 2002, 352 .................................................... 191, 193 BVerwG 30.1.2003, 4 CN 14/01, NVwZ 2003, 742 ....................................................... 190 BVerwG 9.3.2005, 8 B 103/04, ZOV 2005, 186 .............................................. 190, 191, 193
Oberlandesgerichte OLG Düsseldorf 6.5.1993, 5 U 160/92, OLGZ 1994, 80 ............................................ 75, 76 OLG Düsseldorf 25.4.2000, Kart 2/00 (V), WuW 2000, 894 – Tequila .......................... 120
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OLG Düsseldorf 22.1.2003, Kart 38/01 (V), juris .......................................................... 163 OLG Düsseldorf 29.10.2003, VI-Kart 9-11/03 OWi, juris ................................................ 86 OLG Düsseldorf 3.5.2006, VI-W (Kart) 6/06, WuW 2006, 913 ................................ 91, 158 OLG Düsseldorf 8.6.2007, VI-Kart 15/06 (V), WuW 2007, 777 – Deutscher Lotto- und Totoblock ........................................................................ 137, 265 OLG Düsseldorf 14.5.2008, VI-U (Kart) 14/07, WuW 2008, 845 ................................. 1, 73 OLG Düsseldorf 30.9.2009, VI-U (Kart) 17/08, juris – PostKonsolidierer.............................................................................................177, 211, 212 KG Berlin 1.10.2009, 2 U 10/03, WuW 2010, 189 – Berliner Transportbeton ....................................................................................... 2, 171 OLG Karlsruhe 11.6.2010, 6 U 118/05, juris ...................................................................... 1 OLG Düsseldorf 17.12.2012, V-1 (Kart) 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 – Silostellgebühren II .......................................................... 128, 129, 130, 131, 132 OLG München 21.2.2013, U 5006/11 Kart, juris – Fernsehwerbezeiten ........................................................................... 198, 199, 201, 202 OLG Karlsruhe 31.7.2013, 6 U 51/12 (Kart), juris – Feuerwehrfahrzeuge ....................................... 2, 147, 165, 177, 202, 203, 204, 211, 212 OLG Düsseldorf 29.1.2014, VI-U (Kart) 7/13, juris ........................................ 169, 170, 204 OLG Düsseldorf 9.4.2014, VI-U (Kart) 10/12, juris ........................................... 2, 169, 170 OLG Düsseldorf 9.10.2014,VI-Kart 5/14 (V) – Pressemitteilung des Bundeskartellamtes .................................................................. 259 OLG Düsseldorf 18.2.2015, VI-U (Kart) 3/14, NZKart 2015, 201 – Schadensersatz aus Zementkartell (CDC) ............................................................... 1, 73 OLG Frankfurt 17.11.2015, 11 U 73/11 (Kart), juris ............................... 177, 181, 211, 212 OLG Nürnberg 19.7.2016, 3 U 116/16, juris – Gelenkleiterfahrzeuge ................................................................ 171, 177, 201, 202, 212 OLG Karlsruhe 9.11.2016, 6 U 204/15 Kart, juris – Grauzementkartell ............................................................................. 177, 204, 211, 212 OLG Jena 22.2.2017, 2 U 583/15 Kart, juris ............................ 177, 198, 199, 204, 211, 212 OLG Düsseldorf 5.4.2017, VI-Kart 13/15 (V), juris – Preisvergleichsmaschinenverbot ........................................................ 137, 259, 264, 265
Landgerichte LG München I 23.8.2000, 21 O 16924/99, WuW/E DE-R 633 – Transportbeton Deggendorf ........................................................................................ 86 LG Berlin 23.5.2003, 102 O 129/02 Kart, juris .................................................................. 2 LG Mannheim 29.4.2005, 22 O 74/04 Kart, EWiR 2007, 659 ............................................ 1 LG Düsseldorf 21.2.2007, 34 O (Kart) 147/05, BB 2007, 847 ...................................... 1, 73 LG Dortmund 24.4.2012, 25 O 5/11, juris .......................................................................... 2 LG Mannheim 4.5.2012, 7 O 436/11 Kart, WuW 2012, 616 ........ 2, 146, 165, 177, 211, 212 LG Köln 17.1.2013, 88 O 1/11, juris ............................................................... 177, 204, 212 LG Köln 17.1.2013, 88 O 5/11, juris ....................................................... 177, 204, 211, 212 LG Dortmund 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int 2013, 842 ...................... 2, 73, 176 LG Berlin 6.8.2013, 16 O 193/11 Kart, juris – Fahrtreppen ............................ 175, 177, 212 LG Düsseldorf 17.12.2013, 37 O 200/09 (Kart), NZKart 2014, 75 ............................... 1, 73 LG Berlin 16.12.2014, 16 O 384/13 Kart, juris ...................................................... 203, 204 LG Saarbrücken 11.5.2015, 13 S 21/15, NJW 2015, 2823 .............................................. 255 LG Frankfurt 3.6.2015, 2-03 O 324-14, n.v .................................................................... 145
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Rechtsprechungsverzeichnis
LG Düsseldorf 19.11.2015, 14d O 4/14, juris – Autoglas-Kartell ................................... 198 LG Berlin 14.6.2016, 16 O 348/15 Kart, juris ................................................................ 178 LG Düsseldorf 8.9.2016, 37 O 27/11 (Kart), juris – Aufzugskartell ........................ 175, 176 LG Dortmund 21.12.2016, 8 O 90/14 (Kart), juris.................................................. 202, 204 LG Mannheim 24.1.2017, 2 O 195/15, juris ................................................................. 1, 73 LG Dortmund 28.6.2017, 8 O 25/16 (Kart), juris – Schienenkartell ........................ 202, 204 LG Dortmund 13.9.2017, 8 O 30/16 (Kart), juris ........................................................... 112 LG Hannover 18.12.2017, 18 O 8/17, juris ................................................................ 2, 178
Amtsgericht AG Geldern 27.10.2010, 4 C 356/10, NJW 2011, 686 .................................................... 255
Europäische Gerichte Europäischer Gerichtshof EuGH 6.4.1962, Rs. C-13/61, Bosch, EU:C:1962:11 ........................................................ 43 EuGH 5.2.1963, Rs. C-26/62, Van Gend & Loos, EU:C:1963:1 ........................... 42, 43, 72 EuGH 15.7.1964, Rs. C-6/64, Costa / E.N.E.L., EU:C:1964:66 ........................................ 42 EuGH 30.6.1966, Rs. C-56/65, Société Technique Minière / Maschinenbau Ulm, EU:C:1966:38 ........................................................................... 155 EuGH 19.12.1968, Rs. C-13/68, Salgoil, EU:C:1968:54 .................................................. 44 EuGH 13.2.1969, Rs. C-14/68, Walt Wilhelm, EU:C:1969:4 ............................................ 42 EuGH 24.6.1969, Rs. C-29/68, Milch-, Fett- und Eierkontor / Hauptzollamt Saarbrücken, EU:C:1969:27 ............................................................... 246 EuGH 15.7.1970, Rs. C-44/69, Buchler, EU:C:1970:72 ................................................... 20 EuGH 15.7.1970, Rs. C-41/69, Chemiefarma, EU:C:1970:71 .......................................... 20 EuGH 16.1.1974, Rs. C-166/73, Rheinmühlen Düsseldorf, EU:C:1974:3 .............................................................................................246, 247, 248 EuGH 30.1.1974, Rs. C-127/73, BRT und SABAM (BRT-I), EU:C:1974:6 .............................................................................................................. 43 EuGH 27.3.1974, Rs. C-127/73, BRT und SABAM (BRT-II), EU:C:1974:25............................................................................................................. 52 EuGH 23.1.1975, Rs. C-51/74, Van der Hulst, EU:C:1975:9 .......................................... 245 EuGH 30.11.1976, Rs. C-21/76, Mines de Potasse d’Alsace, EU:C:1976:166 ........................................................................................................... 59 EuGH 16.12.1976, Rs. C-45/76, Comet, EU:C:1976:191 ........................................... 44, 45 EuGH 16.12.1976, Rs. C-33/76, Rewe / Landwirtschaftskammer für das Saarland, EU:C:1976:188 .............................................................................. 44, 45 EuGH 24.5.1977, Rs. C-107/76, Hoffmann-La Roche, EU:C:1977:89 ............................ 248 EuGH 9.3.1978, Rs. C-106/77, Simmenthal, EU:C:1978:49 ............................................. 42 EuGH 20.2.1979, Rs. C-120/78, Rewe / Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), EU:C:1979:42 ........................................................... 233 EuGH 18.10.1979, Rs. C-125/78, GEMA/Kommission, EU:C:1979:237 ........................... 10 EuGH 17.1.1980, Rs. C-792/79, Camera Care, EU:C:1980:18 ................................ 15, 140 EuGH 10.7.1980, Rs. C-37/79, Marty, EU:C:1980:190 .................................................... 43 EuGH 29.10.1980, Rs. C-138/79, Roquette Frères, EU:C:1980:249 ............................... 218
Rechtsprechungsverzeichnis
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EuGH 7.7.1981, Rs. C-158/80, Rewe / Hauptzollamt Kiel, EU:C:1981:163 ........................................................................................................... 48 EuGH 23.3.1982, Rs. C-102/81, Nordsee / Reederei Mond, EU:C:1982:107 ......................................................................................................... 112 EuGH 2.3.1983, Rs. C-7/82, GVL, EU:C:1983:52 .............................................. 13, 14, 135 EuGH 7.6.1983, verb. Rs. C-100 bis 103/80, Musique Diffusion française, EU:C:1983:158 .......................................................................................... 21 EuGH 9.11.1983, Rs. C-199/82, San Giorgio, EU:C:1983:318................................... 45, 47 EuGH 10.4.1984, Rs. C-79/83, Harz, EU:C:1984:155 .............................................. 48, 109 EuGH 10.4.1984, Rs. C-14/83, von Colson und Kamann, EU:C:1984:153 ................................................................................................... 48, 109 EuGH 15.5.1986, Rs. C-222/84, Johnston, EU:C:1986:206...............................47, 224, 226 EuGH 24.9.1987, Rs. C-37/86, Coenen, EU:C:1987:386 ................................................ 245 EuGH 15.10.1987, Rs. C-222/86, Heylens, EU:C:1987:442 ..............................47, 224, 226 EuGH 27.9.1988, Rs. C-89/85, Ahlström Osakeyhtiö (Zellstoff I), EU:C:1988:447 ........................................................................................................... 12 EuGH 11.4.1989, Rs. C-66/86, Ahmed Saeed Flugreisen, EU:C:1989:140 ........................................................................................................... 52 EuGH 13.7.1989, Rs. C-5/88, Wachauf, EU:C:1989:321 ................................................ 225 EuGH 21.9.1989, Rs. C-68/88, Kommission / Griechenland, EU:C:1989:339 ........................................................................................................... 49 EuGH 11.1.1990, Rs. C-220/88, Dumez France, EU:C:1990:8 ................................... 59, 60 EuGH 22.5.1990, Rs. C-70/88, Tschernobyl, EU:C:1990:217 ........................................ 218 EuGH 19.6.1990, Rs. C-213/89, Factortame I, EU:C:1990:257 ....................................... 48 EuGH 8.11.1990, Rs. C-177/88, Dekker, EU:C:1990:383 ................................................ 48 EuGH 13.11.1990, Rs. C-106/89, Marleasing, EU:C:1990:395 ...................................... 109 EuGH 28.2.1991, Rs. C-234/89, Delimitis / Henninger Bräu, EU:C:1991:91..........................................................................................43, 71, 89, 234 EuGH 7.5.1991, Rs. C-340/89, Vlassopoulou, EU:C:1991:193....................................... 233 EuGH 18.6.1991, Rs. C-260/89, ERT, EU:C:1991:254 ................................................... 225 EuGH 27.6.1991, Rs. C-348/89, Mecanarte-Metalurgica da Lagoa, EU:C:1991:278 ......................................................................................................... 246 EuGH 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, EU:C:1991:428 ........................................................................................................... 50 EuGH 14.12.1991, Gutachten 1/91, EU:C:1991:490 ................................................ 42, 218 EuGH 2.8.1992, Rs. C-271/91, Marshall, EU:C:1993:335 ............................................... 48 EuGH 10.11.1993, Rs. C-60/92, Otto/Postbank, EU:C:1993:876 ..................................... 24 EuGH 15.12.1993, Rs. C-292/92, Hünermund, EU:C:1993:932 ............................. 245, 246 EuGH 9.3.1994, Rs. C-188/92, TWD, EU:C:1994:90 ............................................. 229, 249 EuGH 14.7.1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, EU:C:1994:292 ....................................... 109 EuGH 6.12.1994, Rs. C-406/92, Tatry / Maciej Rataj, EU:C:1994:400 .......................... 257 EuGH 7.3.1995, Rs. C-68/93, Shevill, EU:C:1995:61 ........................................... 59, 60, 63 EuGH 19.9.1995, Rs. C-364/93, Marinari, EU:C:1995:289 ............................................. 59 EuGH 14.12.1995, Rs. C-312/93, Peterbroeck, EU:C:1995:437 ....................................... 48 EuGH 14.12.1995, Rs. C-430/93, van Schijndel, EU:C:1995:441 ................................... 208 EuGH 24.10.1996, Rs. C-91/95, Tremblay u.a., EU:C:1996:407 ...................................... 10 EuGH 18.3.1997, Rs. C-282/95 P, Guérin automobiles/Kommission, EU:C:1997:159 ........................................................................................................... 43 EuGH 22.4.1997, Rs. C-180/95, Draehmpaehl, EU:C:1997:208 ...................................... 48
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EuGH 10.7.1997, Rs. C-261/95, Palmisani, EU:C:1997:351 ............................................ 44 EuGH 17.7.1997, Rs. C-242/95, GT-Link, EU:C:1997:376 .............................................. 24 EuGH 16.10.1997, Rs. C-69 bis 79/96, Garofalo, EU:C:1997:492 ................................. 110 EuGH 12.2.1998, Rs. C-366/96, Cordelle, EU:C:1998:57 .............................................. 245 EuGH 30.4.1998, verb. Rs. C-37/96 und C-38/96, Sodiprem, EU:C:1998:179 ................................................................................................. 245, 246 EuGH 15.9.1998, verb. Rs. C-279/96, C-280/96 und C-281/96, Ansaldo Energia u.a., EU:C:1998:403 ........................................................................ 46 EuGH 1.10.1998, Rs. C-279/95 P, Langnese-Iglo, EU:C:1997:536 ............................ 19, 20 EuGH 27.10.1998, Rs. C-51/97, Réunion européenne, EU:C:1998:509 ............................ 59 EuGH 1.12.1998, Rs. C-326/96, Levez, EU:C:1998:577 ................................................... 46 EuGH 9.2.1999, Rs. C-343/96, Dilexport, EU:C:1999:59........................................... 46, 47 EuGH 1.6.1999, Rs. C-126/97, Eco Swiss, EU:C:1999:269 ............................. 112, 113, 208 EuGH 8.7.1999, Rs. C-49/92 P, Anic Partecipazioni, EU:C:1999:356............................ 179 EuGH 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls / Kommission, EU:C:1999:358 ........................... 179 EuGH 28.3.2000, Rs. C-7/98, Krombach, EU:C:2000:164 ............................................. 240 EuGH 16.5.2000, Rs. C-78/98, Preston, EU:C:2000:247 ................................................. 46 EuGH 27.7.2000, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano Grupo, EU:C:2000:346 ......................................................................................................... 109 EuGH 14.9.2000, Rs. C-238/98, Hocsman, EU:C:2000:440 ........................................... 233 EuGH 30.11.2000, Rs. C-195/98, Österreichischer Gewerkschaftsbund, EU:C:2000:655......................................................................... 110 EuGH 14.12.2000, Rs. C-344/98, Masterfoods, EU:C:2000:689 ................................................................. 2, 89, 158, 164, 166, 234, 243 EuGH 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft u.a., EU:C:2001:134 ........................................................................................................... 48 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage und Crehan, EU:C:2001:465 ..................1, 14, 40, 43, 44, 45, 49, 53, 70, 72, 77,80, 99, 136, 145, 267 EuGH 17.5.2002, Rs. C-406/01, Deutschland / Parlament und Rat, EU:C:2002:304 ......................................................................................................... 227 EuGH 25.7.2002, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores, EU:C:2002:462 ............................................................................................47, 224, 226 EuGH 17.9.2002, Rs. C-253/00, Muñoz und Superior Fruiticola, EU:C:2002:497 ..................................................................................................... 47, 48 EuGH 21.11.2002, Rs. C-473/00, Cofidis, EU:C:2002:705 .............................................. 48 EuGH 12.12.2002, Rs. C-442/00, Caballero, EU:C:2002:752 ........................................ 225 EuGH 10.4.2003, Rs. C-276/01, Steffensen, EU:C:2003:228 .......................................... 258 EuGH 7.1.2004, Rs. C-204/00 P, Aalborg Portland, EU:C:2004:6 ................................. 180 EuGH 13.1.2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, EU:C:2004:17 ..................... 155, 229, 247 EuGH 10.6.2004, Rs. C-168/02, Kronhofer, EU:C:2004:364 ........................................... 60 EuGH 5.10.2004, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, EU:C:2004:584 ......................................................................................................... 109 EuGH 27.1.2005, Rs. C-125/04, Denuit und Cordenier, EU:C:2005:69.......................... 112 EuGH 31.5.2005, Rs. C-53/03, Syfait, EU:C:2005:333................................................... 110 EuGH 27.6.2006, Rs. C-540/03, Parlament / Rat, EU:C:2006:429 ................................. 225 EuGH 29.6.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko, EU:C:2006:431 ................................... 21 EuGH 4.7.2006, Rs. C-212/04, Adeneler, EU:C:2006:443 ............................................. 109 EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Manfredi, EU:C:2006:461 ............... 14, 40, 43, 44, 45, 46, 48, 51, 70, 72, 73, 80, 99, 136, 145, 267
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EuGH 13.3.2007, Rs. C-432/05, Unibet, EU:C:2007:163 ............................ 47, 48, 224, 226 EuGH 26.6.2007, Rs. C-305/05, Ordre des barreaux francophones, EU:C:2007:383 ........................................................................................................... 47 EuGH 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat International Foundation, EU:C:2008:461 .......................................... 47, 224 EuGH 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel, EU:C:2009:536 ....................................... 174 EuGH 29.10.2009, Rs. C-63/08, Pontin, EU:C:2009:666 ................................................. 46 EuGH 18.3.2010, Rs. C-317/08 bis C-320/08, Alassini u.a., EU:C:2010:146 ................................................................................................... 47, 224 EuGH 17.6.2010, Rs. C-413/08 P, Lafarge, EU:C:2010:346 ............................................ 21 EuGH 29.6.2010, Rs. C-441/07 P, Alrosa, EU:C:2010:377 ...................................... 16, 268 EuGH 8.7.2010, Rs. C-246/09, Bulicke, EU:C:2010:418 .................................................. 46 EuGH 7.12.2010, Rs. C-439/08, VEBIC, EU:C:2010:739 ................................... 22, 52, 134 EuGH 22.12.2010, Rs. C-279/09, DEB, EU:C:2010:811 ................................................ 226 EuGH 22.12.2010, Rs. C-118/09, Koller, EU:C:2010:805 .............................................. 110 EuGH 3.5.2011, Rs. C-375/09, Tele2 Polska, EU:C:2011:270 ............ 18, 37, 128, 129, 148 EuGH 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer, EU:C:2011:389 ...................................................... 14, 40, 52, 84, 86, 87, 145, 173, 267 EuGH 28.7.2011, Rs. C-69/10, Diouf, EU:C:2011:524................................................... 226 EuGH 8.9.2011, Rs. C-177/10, Rosado Santana, EU:C:2011:557 .................................... 46 EuGH 25.10.2011, Rs. C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising, EU:C:2011:685 ..................................................................................................... 60, 63 EuGH 24.11.2011, Rs. C-404/09, Kommission / Spanien, EU:C:2011:768 ......................................................................................................... 140 EuGH 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Chalkor, EU:C:2011:815 .......................................... 227 EuGH 24.1.2012, Rs. C-282/10, Dominguez, EU:C:2012:33 .......................................... 109 EuGH 14.2.2012, Rs. C-17/10, Toshiba, EU:C:2012:72 ................................................. 274 EuGH 5.9.2012, Rs. C-42/11, Lopes Da Silva Jorge, EU:C:2012:517 ............................ 109 EuGH 25.10.2012, Rs. C-133/11, Folien Fischer und Fofitec, EU:C:2012:664 ......................................................................................................... 258 EuGH 6.11.2012, Rs. C-199/11, Otis, EU:C:2012:684 .................................... 14, 40, 47, 58, 145, 198, 224, 226, 227, 228, 267 EuGH 13.12.2012, Rs. C-226/11, Expedia, EU:C:2012:795 ........................................... 101 EuGH 26.2.2013, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105 ............................ 225 EuGH 28.2.2013, Rs. C-334/12 RX, Arango Jaramillo u.a. / EIB, EU:C:2013:134 ......................................................................................................... 227 EuGH 6.6.2013, Rs. C-536/11, Donau Chemie, EU:C:2013:366 ............................................... 14, 40, 43, 44, 45, 51,52, 86, 87 145, 267 EuGH 18.6.2013, Rs. C-681/11, Schenker & Co., EU:C:2013:404 ............ 37, 135, 136, 148 EuGH 10.10.2013, Rs. C-306/12, Spedition Welter, EU:C:2013:650 .............................. 109 EuGH 27.2.2014, Rs. C-365/12 P, Kommission / EnBW, EU:C:2014:112 ..................................................................................................... 86, 87 EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, Kone, EU:C:2014:1317 ............ 14, 40, 43, 45, 52, 145, 267 EuGH 12.6.2014, Rs. C-377/13, Ascendi Beiras Litoral e Alta, Auto Estradas das Beiras Litoral e Alta, EU:C:2014:1754 ........................................ 110, 112 EuGH 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide, EU:C:2015:335 ............................................. 2, 58, 59, 60, 61, 63, 73, 74, 112, 176, 257 EuGH 20.1.2016, Rs. C-428/14, DHL Express (Italy) und DHL Global Forwarding (Italy), EU:C:2016:27............................................................................ 173
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Rechtsprechungsverzeichnis
EuGH 21.1.2016, Rs. C-74/14, Eturas, EU:C:2016:42 ................................................... 179 EuGH 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, Intel, EU:C:2017:632 ............................................. 12, 28 EuGH 27.2.2018, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, EU:C:2018:117 ............................................................................ 218, 219 EuGH 6.3.2018, Rs. C-284/16, Achmea, EU:C:2018:158 ............................................... 112
Gericht der Europäischen Union EuG 12.7.1991, Rs. T-23/90, Peugeot, EU:T:1991:45 ..................................... 139, 140, 141 EuG 24.1.1992, Rs. T-44/90, La Cinq, EU:T:1992:5 ................................. 15, 139, 140, 141 EuG 18.9.1992, Rs. T-24/90, Automec II, EU:T:1992:97 ................................................. 10 EuG 8.6.1995, Rs. T-7/93, Langnese-Iglo, EU:T:1995:98 ................................................ 19 EuG 15.1.1997, Rs. T-77/95, SFEI u.a., EU:T:1997:1 ...................................................... 14 EuG 6.7.2000, Rs. T-62/98, Volkswagen, EU:T:2000:180 .............................................. 200 EuG 28.2.2002, Rs. T-395/94, Atlantic Container Line, EU:T:2002:49 ............................ 50 EuG 22.12.2004, Rs. T-201/04 R, Microsoft, EU:T:2004:372 ........................................ 141 EuG 6.10.2005, verb. Rs. T-22/02 und T-23/02, Sumitomo Chemical, EU:T:2005:349 ..................................................................................................... 13, 14 EuG 30.5.2006, Rs. T-198/03, Bank Austria Creditanstalt, EU:T:2006:136 ......................................................................................................... 261 EuG 27.9.2006, Rs. T-59/02, Archer Midland v. Commission, EU:T:2006:272 ........................................................................................................... 88 EuG 16.6.2011, Rs. T-199/08, Ziegler, EU:T:2011:285 ................................................. 200 EuG 6.2.2014, Verb. Rs. T-23/10 und T-24/10, Arkema France, EU:T:2014:62 ............................................................................................................. 15 EuG 28.1.2015, Rs. T-345/12, Akzo Nobel, EU:T:2015:50 ............................................. 261 EuG 15.7.2015, Rs. T-393/10, Westfälische Drahtindustrie, EU:T:2015:515 ......................................................................................................... 180 EuG 15.9.2016, Rs. T-76/14, Morningstar, EU:T:2016:481 ........................................... 268
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR 23.6.1981, Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven and De Meyere ./. Belgien, EuGRZ 1981, 551........................................................... 222 EGMR 28.6.1990, Nr. 11761/85, Obermeier ./. Österreich, EuGRZ 1990, 209...................................................................................................222, 223, 228 EGMR 20.11.1995, Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd ./. Niederlande ............................................................................ 223, 228 EGMR 17.12.1996, Nr. 20641/92, Terra Woningen ./. Niederlande, ÖJZ 1998, 69 ............................................................................................................ 222 EGMR 18.2.1999, Nr. 24833/94, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, EuZW 1999, 308 ...................................................................................................... 226 EGMR 20.7.2001, Nr. 30882/96, Pellegrini ./. Italien ............................................ 239, 240 EGMR 13.2.2003, Nr. 49636/99, Chevrol ./. Frankreich ................................................ 222 EGMR 30.6.2005, Nr. 45036/98, Bosphorus ./. Irland, NJW 2006, 197 ................. 226, 242 EGMR 28.7.2005, Nr. 43578/98, I.D. ./. Bulgarien ......................................... 222, 223, 228 EGMR 6.12.2012, Nr. 12323/11, Michaud ./. Frankreich, NJW 2013, 3423 ............................................................................................... 226, 242
Rechtsprechungsverzeichnis
327
Ständiger Internationaler Gerichtshof StIGH 7.9.1927, The Case of the S.S. “Lotus” (France v. Turkey), PCIJ series A no. 10 ................................................................................................... 29
Frankreich Cass. com. 18.4.2000, n° 99-13.627, Bull. civ. IV, nº 75 – Numéricâble ............................................................................................................. 139 Cass. com. 8.11.2005, n° 04-16.857 – Neuf Télécom ...................................................... 139 Tribunal de commerce de Paris 30.3.2015, n° 2012000109 – DKT v. Eco-Emballages et Valorplast ....................................................................... 145
Italien Tribunale Amministrativo Regionale Lazio, sezione I, 3.3.2006, n. 341 – Merck ....................................................................................................................... 128
Niederlande Rechtbank Midden-Nederland 27.11.2013, C-16-338073 – HA ZA 13-117, ECLI:NL:RBMNE:2013:5978 .................................................................................... 61 Gerechtshof Amsterdam 21.7.2015, 200.156.295/01, ECLI:NL:GHAMS:2015:3006 .................................................................................... 61 Rechtbank Amsterdam 22.7.2015, C-13-571990 – HA ZA 14-875, ECLI:NL:RBAMS:2015:4408 .................................................................................. 257
Österreich ÖsterVerfGH 12.10.1990, G 73/89, JBl 1991, 104 ......................................................... 215 OGH 17.12.1976, 2 Ob 202/76, SZ 49/158 .................................................................... 215 OGH 17.10.1995, 1 Ob 612/95, JBl 1996, 117 ............................................................... 215 OGH 19.5.1998, 1 Ob 73/98m, JBl 1998, 665 ................................................................ 216 OGH 14.2.2012, 5 Ob 39/11p, WuW 2012, 1251 ............................................................. 61 Kartellgericht (OLG Wien) 31.8.2007, 25 Kt 108/06 – Radiusklausel ............................ 265 Kartellobergericht (OGH) 8.10.2008, 16 Ok 8/08 – Aufzugskartell ................................ 265
Vereinigtes Königreich Albion Water Ltd v Dwr Cymru Cyfyngedig, [2013] CAT 6 ........................................... 210 Cooper Tire & Rubber Company and others v Shell Chemicals UK Ltd and others, [2009] EWHC 2609 (Comm) .............................................................. 59, 61 Enron Coal Services Ltd (in liquidation) v English Welsh & Scottish Railway Ltd, [2011] EWCA Civ 2............................................................................. 198
328
Rechtsprechungsverzeichnis
National Grid Electricity Transmission Plc v ABB & Others, [2012] EWHC 1717 (Ch) ....................................................................................................... 86 Provimi Ltd v Roche Products and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm) .......................................................................................................... 58, 59, 61
Vereinigte Staaten von Amerika Associated Industries of New York State, Inc. v. Ickes, 134 F.2d 694 (2d Cir. 1943) ............................................................................................................. 40 Minnesota Mining & Manufacturing Company v. New Jersey Wood Finishing Company, 381 U.S. 311 (1965) ................................................................... 68
Sachverzeichnis
Sachverzeichnis Sachverzeichnis Abstellungsentscheidungen siehe unter Entscheidungstypen acquis communautaire 80, 231–237, 242 Adressaten 110–114, 157, 227 amtswegige Berücksichtigung 206–208, 210 analoge Anwendung der Regelung über die Bindungswirkung 167–168, 237 Anerkennung ausländischer Entscheidungen 153, 230–243, 272–274 – Anerkennungspflichten 231–237, 272 – primärrechtliche 232–234, 237, 272 – sekundärrechtliche 234–237, 272 – Anerkennungsvorbehalt 153–154, 237– 243, 272–273 Anscheinsbeweis – Anscheinsbeweiswirkung ausländischer Entscheidungen siehe prima facieBeweiswirkung – für die (Kartell-)Betroffenheit 203 – für die (Kartell-)Teilnahme 171 anwendbares Recht 64–67, 210–216, 254–256, siehe auch Qualifikation Anwendungsbereich der Bindungswirkung – in persönlicher Hinsicht 147, 168–176, 229–230 – in räumlicher Hinsicht 180–183, 201, 269–270 – in sachlicher Hinsicht 114–168 – in zeitlicher Hinsicht 150, 176–180 Äquivalenzgrundsatz 24, 41–42, 44–46, 72, 98, 99, 146 Arbeitsteilung – im Europäischen Wettbewerbsnetz siehe Europäisches Wettbewerbsnetz, Fallallokation – zwischen privater und behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung 105–106
Auswirkungsprinzip 12, 26–29, 31, 32, 35, 62, 63–64, 65, 181, 182, 183 Bekanntmachungspflichten 260–261, 262, siehe auch Veröffentlichung von Entscheidungen Berliner Transportbeton-Entscheidung 2, 170–171 Bestandskraft 88, 111, 154–159, 160, 176–177, 178, 193, 229, 238, 247–248, 249, 250 Betroffenheit 200, 202–203, 206 Beweislast 78, 92–93, 94, 97–100, 102– 103, 104, 178, 213, 252, 253, 255 BRT und SABAM (BRT I)-Entscheidung 43 Bußgeldentscheidungen siehe unter Entscheidungstypen Camera Care-Entscheidung 15, 140 Cassis de Dijon-Entscheidung 233 CDC-Entscheidung 2, 58, 59, 60–62, 63, 73, 74, 112, 176, 257 Chicago School of Antitrust 100 Courage-Entscheidung 1, 14, 40, 43, 44, 45, 49–50, 51, 53, 70, 72, 74, 77, 96, 99, 136, 145, 267 Darlegungslast 92–97, 102–103, 104, 178 defensive Geltendmachung des Kartellrechts 51–52, 68–69, 96, 111, 165, 166, 167 Delimitis-Entscheidung 71, 89, 234 Dezentralisierung der europäischen Kartellrechtsanwendung 9, 18, 37, 70–71, 74, 270 Donau Chemie-Entscheidung 51, 86–87 Dreher, Meinrad 262
330
Sachverzeichnis
Drexl, Josef 266
Durchführungsprinzip 12, 27 ECN, European Competition Network siehe Europäisches Wettbewerbsnetz effektiver gerichtlicher Rechtsschutz 47, 147, 156, 169–170, 216, 218, 223–230, 238–243, 269 Effektivitätsgrundsatz 24, 34, 38, 41–42, 44–45, 46, 47–51, 72, 98, 134, 146, 267–268, 270 Einseitigkeit des Internationalen Verwaltungsrechts 56 Einstellungsentscheidungen siehe unter Entscheidungstypen einstweilige Maßnahmen siehe unter Entscheidungstypen Entscheidungstypen – Abstellungsentscheidungen 12–13, 15, 19, 36, 134–135, 147, 150, 162, 178– 180, 191, 195–196, 268 – Bußgeldentscheidungen 20–21, 23, 38, 118, 120, 128, 145–147, 161, 171–176, 178, 182, 201, 202, 204–205, 260, 262 – Einstellungsentscheidungen 18, 37, 128– 129, 131, 148 – einstweilige Maßnahmen 15, 36, 127, 128, 133, 138–141 – Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung 11, 19, 37, 131, 149–150 – Feststellungsentscheidungen 13–15, 133–137, 173, 263–265 – Verpflichtungszusagen 15–16, 19, 37, 133, 141–145, 263, 266–269 Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit, Reichweite siehe unter Europäisches Wettbewerbsnetz Entzug des Rechtsvorteils einer Gruppenfreistellungsverordnung siehe unter Entscheidungstypen Erfolgsort bei Kartelldelikten 59–61, 62, 63, 65, 74 Ermächtigungsgrundlage 37–38, 127– 133, 149 Europäisches Wettbewerbsnetz 9, 11, 26, 29–32, 35, 115–116, 173, 181, 235, 238–239, 262–263, 269–274
– Entscheidungs- und Sanktionszuständigkeit, territoriale Reichweite 32, 33–36, 63, 181–183, 236–237, 269–272, 273 – Fallallokation 9, 26, 29–32 – Vollzugsmodelle 22–23, 114, 116–118, 134, 265 Feststellungsentscheidungen siehe unter Entscheidungstypen Feststellungsinteresse 13–15, 136, 137, 264–265 Feststellungswirkung 185–187, 192–194, 196, 197, 198–199, 200–231, 237, 242, 243, 246–248, 250, 254, 256, 257, 258 – Folgen für den Zivilprozess 206–210 – im Sinne der Verwaltungsrechtslehre 193–194 – im Sinne der Zivilprozesslehre 192 – Qualifikation 67, 210–216 – rechtsstaatliche Bedenken 216–230 Folgeklagen siehe follow on-Klagen follow on-Klagen 1, 53–56, 61, 63, 69, 85, 104–106, 120, 136, 144, 173, 201, 208, 210, 228, 244, 245, 246, 248, 259, 263 forum shopping 57, 62, 64, 74, 256–258 Francovich-Entscheidung 50 gegenseitige Anerkennung – Prinzip der gegenseitigen Anerkennung 233 – von Entscheidungen im Europäischen Wettbewerbsnetz 33, 230–243, 269, 272–274 Gewaltenteilung, Grundsatz der 216–223, 228 Gleichlaufprinzip 11, 27, 126 Handlungsort bei Kartelldelikten 59–60 Harmonisierung – der nationalen Kartellverfahrens- und Sanktionsrechte 24–25, 38, 133, 145– 146, 242, 271–272, 274 – der nationalen Kronzeugenprogramme 173, 271–272 Initiativklagen siehe stand alone-Klagen Intel-Entscheidung 12 Internationale Zuständigkeit – der Europäischen Kommission 11–12
Sachverzeichnis – der nationalen Wettbewerbsbehörden 25–29, 35, 181, 273 – der Zivilgerichte 56–64, 74, 182, 256 Intertemporaler Anwendungsbereich der Bindungswirkung 176–178, 211 Kartellbetroffenheit siehe Betroffenheit Kartellschadensersatzrichtlinie 1, 2, 39, 51, 62, 76, 77–82, 87, 107–109, 111, 124, 126, 155, 163, 167, 174, 194–197, 212–213, 230–231, 238, 242–243, 250– 253, 256, 258 Kausalität 60, 199, 203, 205, 210 Kokott, Juliane 136 Konzernmutterhaftung 169, 173–176 Krombach-Entscheidung 240 Kronzeugen – Bindung von 168, 171–173 – Einsichtnahme in Kronzeugenerklärungen 81–82, 85, 86–87 – Harmonisierung der nationalen Kronzeugenprogramme 173, 271–272 – Kronzeugenprogramme als Instrument zur Aufdeckung von Kartellen 92 Kühne & Heitz-Entscheidung 155, 229, 247 Lottoblock II-Entscheidung 147, 150, 162, 178, 179–180, 195–196, 197, 202 loyale Zusammenarbeit, Grundsatz der 35, 109, 158, 232–233, 234, 235, 236, 247 Manfredi-Entscheidung 14, 40, 46, 47– 48, 50–51, 70, 72, 74, 99, 136, 145, 267 Marktabgrenzung 180–181, 199, 200– 202, 203, 206, 228 Masterfoods-Entscheidung 2, 89, 158, 164, 166, 234, 243 more economic approach 100–103, 105, 267 Mosaikprinzip 60, 63, 65–66 negative Feststellungsklagen 257 offensive Geltendmachung des Kartellrechts 51–53, 69, 111, 165 öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung siehe public enforcement
331
Ökonomisierung des europäischen Kartellrechts siehe more economic approach ordre public-Vorbehalt 153–154, 237– 243, 272–273 siehe auch Anerkennung ausländischer Entscheidungen Otis-Entscheidung 58, 198, 227, 228 passing on defence 75, 80–81, 92 Pellegrini-Entscheidung 239–240 Pfleiderer-Entscheidung 84, 86–87 prima facie-Beweiswirkung 81, 107–108, 122–123, 126, 250–258 private attorney general 40 private enforcement 1, 38–40, 41, 49, 51, 54–56, 61, 62, 66, 67–69, 70–71, 72, 73, 74–93, 105–106, 165–166, 171, 199, 267 private Kartellrechtsdurchsetzung siehe private enforcement public enforcement 1, 8–11, 21–25, 38, 41, 54–55, 67–69, 70–71, 80–88, 105– 106, 119, 171, 199, 259, 267 Qualifikation 67, 210–216, 254–256 – der Feststellungswirkung 67, 210–216 – der prima facie-Beweiswirkung 67, 254–256 rechtliches Gehör 147, 169–170, 216, 223– 224, 227, 229–230, 258, siehe auch effektiver gerichtlicher Rechtsschutz Rechtskraft 88, 119, 156–157, 159, 163– 164, 176–177, 178, 188, 192, 207, 208, 220, 247–248, 250 Rechtsmittelgerichte 41, 111, 118–121, 159–164 Rechtsschutz siehe effektiver gerichtlicher Rechtsschutz Rückwirkungen auf die behördliche Durchsetzungsspur 54, 81, 85, 86, 145, 259–269 Sachverhaltsidentität 114, 164–165, 168 Schadensabwälzung, Einwand der siehe passing on defence Schenker-Entscheidung 37, 135–136, 148 Schiedsgerichte, Bindung von 111–114 Settlements siehe Vergleichsvereinbarungen
332
Sachverzeichnis
stand alone-Klagen 53–56, 105 strafrechtliche Urteile, Bindung des Zivilrichters an 209, 215–216 Tatbestandswirkung 185–192, 193, 194, 221, 223, 273 – im engeren Sinn 188–189, 194 – im weiteren Sinn 189–192, 193, 194– 197, 221 Tele2 Polska-Entscheidung 18, 37, 128– 129, 148 TWD-Entscheidung 229, 249–250
Verjährung 80, 88, 159, 188 Veröffentlichung von Entscheidungen 259–263, siehe auch Bekanntmachungspflichten Verpflichtungszusagen siehe unter Entscheidungstypen Verschulden 20, 175, 176, 200, 204–205, 206 Vollzugsmodelle siehe Europäisches Wettbewerbsnetz, Vollzugsmodelle Vorabentscheidungsverfahren 110, 210, 243–250
Unabhängigkeit – der Durchsetzungsspuren 82–85, 88 – richterliche 190, 216–223, 228 unmittelbare Wirkung der europäischen Wettbewerbsregeln 41, 42–43, 44, 49
Wechselwirkungen zwischen privater und behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung 82, 85–88 Wirksamkeit kartellbehördlicher Entscheidungen 151–154, 162, 224
van Gend & Loos-Entscheidung 42–43, 72 Verfahrensaussetzung 71, 157–159, 164 Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten 24, 36, 41–42, 44–45, 46, 119, 146, 228 Vergleichsvereinbarungen 81, 85, 87, 147
Zellstoff-Rechtsprechung 12 Zuständigkeit siehe internationale Zuständigkeit Zweispurigkeit der Kartellrechtsdurchsetzung 7–8, 67–89