Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung [1 ed.] 9783428586448, 9783428186440

Rechtsdienstleistungen werden digitalisiert und auch die Ziviljustiz arbeitet an der »Modernisierung des Zivilprozesses«

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Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung [1 ed.]
 9783428586448, 9783428186440

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Schriften zum Prozessrecht Band 284

Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung Herausgegeben von

Axel Adrian, Michael Kohlhase, Stephanie Evert und Martin Zwickel

Duncker & Humblot · Berlin

Axel Adrian, Michael Kohlhase, Stephanie Evert und Martin Zwickel (Hrsg.)

Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung

Schriften zum Prozessrecht Band 284

Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung Herausgegeben von

Axel Adrian, Michael Kohlhase, Stephanie Evert und Martin Zwickel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Ulm Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-18644-0 (Print) ISBN 978-3-428-58644-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Digitalisierung der Ziviljustiz ist derzeit in aller Munde. Im Januar 2021 hat die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ein Diskussionspapier vorgelegt, das seitdem vielfach Gegenstand von Diskussionen und Veranstaltungen war. Unsere Online-Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ am 1. und 2. Juli 2021 sollte diese Überlegungen in mehrfacher Hinsicht erweitern: • Die rechtlichen Fragen wurden um die Expertise von Informatikern ergänzt und aus gemeinsamer Perspektive diskutiert. • An geeigneten Stellen fand eine praktische/interdisziplinäre Betrachtung bzw. Erweiterung der Vorschläge der Arbeitsgruppe, z. B. durch Einbeziehung von Kommunikationspsychologen, Gerichtsvollziehern und Akteuren der einvernehmlichen Streitbeilegung, statt. • Es wurde ein Blick auf für die Justiz zu diskutierende ähnliche Systeme, wie die automatische Prüfung von Einkommenssteuererklärungen und die Online-GmbHGründung geworfen. • Ausländische Rechtsordnungen bieten oft reichhaltiges Anschauungsmaterial zu Einzelfragen der Digitalisierung des Zivilprozesses. Auch rechtsvergleichende Erfahrungsberichte waren daher Gegenstand der Tagung. Vor allem aber fand in sog. Expertendiskussionen ein tiefgehender Austausch zur „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ statt. Die Tagung hat deutlich gezeigt, dass in den Überlegungen zur Digitalisierung des Zivilprozesses ein ständiger, kleinschrittiger Abgleich der technischen mit der juristischen Diskussionsebene stattfinden muss. Auch der Stoff für rechtswissenschaftliche Diskussionen ist bei weitem noch nicht abgearbeitet. Rechtsvergleichende und straf- sowie verfassungsrechtliche Aspekte vermögen die Reformüberlegungen in vielfacher Hinsicht zu bereichern. Dieser Tagungsband dokumentiert die Einzelvorträge sowie die Stellungnahmen in den Expertendiskussionen und soll Denkanstöße für die weitere Digitalreform des Zivilprozesses und der Zwangsvollstreckung liefern. Eine Übersicht über die Links zu den Videomitschnitten der Tagungsbeiträge und Diskussionen finden Sie u. a. auf der Website https://www.str2.rw.fau.de/lehrstuhl/honorarprofessor/.

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Vorwort

Zur Entstehung dieses Werkes und zur Konzeption der Tagung haben Prof. Dr. Reinhard Greger, Prof. Dr. Franz Hofmann, Prof. Dr. Hans Kudlich und Prof. Dr. Jürgen Stamm maßgeblich beigetragen. Ihnen gilt unser herzlicher Dank! Erlangen, im Mai 2022

Axel Adrian Stephanie Evert Michael Kohlhase Martin Zwickel

Inhaltsverzeichnis Einleitung Martin Zwickel Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung: Struktur, Automatisierung, Kommunikation, Vollstreckungssystem … . . .

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Teil 1 Standortbestimmung: Digitalisierung und Rechtsdurchsetzung durch Justiz versus Private Thomas Dickert Justiz heute und morgen: Reformbedarf der Justiz und Reformen aus der Justiz

27

Franz Hofmann Gedanken zur digitalen Rechtsdurchsetzung durch Private . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Teil 2 Strukturen von Daten und Verfahren als Voraussetzungen digitalen Prozessierens Annedore Flüchter Justizportal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Josephine Odrig Bürgerportal als Konfliktanlaufstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Wiebke Voß Digitale Gerichtsportale: Wege zur Justiz – Wege zum Recht? . . . . . . . . . . . . . .

71

Liane Schmiedel Niederlande, ein Vorreiter im Bereich digitaler Bürger- und Justizportale . . . . .

87

Axel Adrian und Holger Barthel Expertensysteme im Bereich der Steuerverwaltung – Vorbild bei der Realisierung eines künftigen digitalen Justizportals? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Robert Korves Zum Vorschlag eines beschleunigten Online-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Elmar Streyl Was ist Struktur aus prozessrechtlicher Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

8

Inhaltsverzeichnis

Reinhard Greger Das elektronische Basisdokument als Garant eines effizienten, zukunftsfähigen Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Cord Brügmann Strukturierung von Texten im Gerichtsverfahren – Effizienzgewinn im Einzelfall und Erschließung der überindividuellen Bedeutung von Informationen aus einzelnen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Michael Kohlhase Wann ist ein juristischer Text strukturiert? Antworten aus der Sicht der Informatik, insbesondere der Künstlichen Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Teil 3 Automatisierung des Zivilprozesses Axel Adrian, Nathan Dykes, Stephanie Evert, Philipp Heinrich, Michael Keuchen und Thomas Proisl Manuelle und automatische Anonymisierung von Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen . . . . . . . . . . 199 Georg Gesk und Zhiyuan Guo Maschinelle Entscheidungen in China – Internet Court in Hangzhou und Social Credit System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Andreas Funke Ich bin dein Richter. Sind KI-basierte Gerichtsentscheidungen rechtlich denkbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Teil 4 Kommunikation im digitalen Zivilprozess der Zukunft Sabine Grommes Justiz goes online. Ein Praxisbericht zu Videoverhandlungen nach § 128a ZPO 253 Florian Nicolai Strafrechtliche Aspekte beim Einsatz von Videokonferenztechnik im (Zivil-) Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Klaus Harnack Der goldene Schnitt der Digitalisierung. Psychologische Lehren zur Steigerung der Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Inhaltsverzeichnis

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Teil 5 Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung Jürgen Stamm Die Modernisierung der Zwangsvollstreckung kraft Digitalisierung . . . . . . . . . . 281 Karlheinz Brunner Digitalisierung, ein Meilenstein für die Arbeit der Gerichtsvollzieher? . . . . . . . 301 Kevin Labner Das digitalisierte Exekutionsverfahren als Brücke zwischen Technik und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Schluss Axel Adrian Mein persönliches Résumé der Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Einleitung

Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung: Struktur, Automatisierung, Kommunikation, Vollstreckungssystem … Von Martin Zwickel Die Digitalisierung des Zivilprozesses und der Rechtsdurchsetzung ist in vielerlei Hinsicht aktuell. Seit 1. 1. 2022 sind Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zur digitalen Kommunikation mit der Justiz verpflichtet.1 Der Standardweg für den Zugang zu Gerichten, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), ist Gegenstand vieler Diskussionen.2 Im Januar 2021 hat eine Justiz-Arbeitsgruppe ein Diskussionspapier „Modernisierung des Zivilprozesses“3 vorgelegt und damit sehr weitrechende, innovative Vorschläge für einen künftigen digitalen Zivilprozess vorgelegt, die mittlerweile bereits vielfach Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung waren.4 Die Ampel-Koalition plant laut ihrem Koalitionsvertrag5 die Einführung von Online-Verhandlungen, die Ermöglichung einer audio-visuellen Dokumentation von Beweisaufnahmen und die einfachere Durchsetzbarkeit von Kleinforderungen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren. Gerichtsentscheidungen sollen künftig in anonymisierter Form öffentlich und maschinenlesbar zur Verfügung gestellt werden. 1

§ 130d ZPO. S. dazu statt vieler Cosack, ZAP 2022, 37; Jungbauer, DAR 2022, 52; Kallenbach/ Dahmen, AnwBl 2021, 675; Fritzsche, NZFam 2022, 1; Schafhausen, AnwBl 2021, 658; Schultzky, MDR 2022, 201; Siegmund, NJW 2021, 3617. 3 Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs, https://www.justiz.bayern.de/me dia/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_moder nisierung.pdf (Stand: 28. 04. 2022). 4 Beiträge zu Grundfragen der Digitalisierung des Zivilprozesses: Greger, NJW 2019, 3429 (3431); Müller/Gomm, jM 2021, 222 und 266; Rühl, JZ 2020, 809; Vogelgesang/Krüger, jM 2019, 398 und jM 2020, 90; Tagungen u. a.: „Digitalisierung und Zivilverfahren“ an der Universität Passau (Prof. Dr. Thomas Riehm); „Modernisierung des Zivilprozesses“ an der HU Berlin (Prof. Dr. Giesela Rühl/Prof. Dr. Reinhard Singer); „Prozessuales Denken und Künstliche Intelligenz“ an der Universität Regensburg (Prof. Dr. Christoph Althammer/Prof. Dr. Herbert Roth); „Mensch – Recht – Digitalisierung“ an der Universität Würzburg (Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf/PräsOLG Lothar Schmitt); Video-Roundtable „Digitalisierung des Zivilprozesses an der Universität Bonn (Prof. Dr. Philipp Reuß); Digital Justice: Brauchen wir ein deutsches Online-Gerichtsverfahren? (Recode Law). 5 Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom Dezember 2021: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-20211990800 (Stand: 28. 04. 2022), S. 106; s. dazu Bernhardt, jM 2022, 90 ff. 2

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Martin Zwickel

Die am 1.7. und 2. 7. 2021 an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg durchgeführte Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ sollte all diese Diskussionen um interdisziplinäre Aspekte, d. h. Beiträge aus der Informatik und der Kommunikationspsychologie ergänzen. Durch rechtsvergleichend gewonnene Ideen sollte der Blick erweitert werden und nach bereits vorhandenen Ideen der Digitalisierung, wie sie z. B. mit ELSTER in der Steuerverwaltung vorhanden sind, Ausschau gehalten werden. Die verschriftlichten Vorträge und Beiträge zu den Expertendiskussionen sind Gegenstand dieses Tagungsbandes.

I. Standortbestimmung Die Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung findet in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen statt: Auf der einen Seite steht die staatliche Justiz, die Innovationen mal mehr, mal weniger offen gegenübersteht und die in ein komplexes Gesamt-Regelungsgefüge eingebettet ist.6 Auf der anderen Seite stehen hochagile Anbieter und Mechanismen der privaten Rechtsdurchsetzung. Dies sind einerseits die unzähligen Legal-Tech-Anbieter,7 andererseits aber auch digitale Tools, die Recht automatisiert und teils sogar ohne rechtliche Fundierung durchsetzen, wie z. B. Uploadfilter oder so genannte smart contracts. Der Satz „Code is law.“8 bewahrheitet sich diesbezüglich, weil alleine der Programmcode das Vorgehen vorgibt. Zu Beginn der Tagung erschien es lohnenswert, die beiden Pole im Rahmen einer Standortbestimmung zu beleuchten, können sich doch private Rechtsdurchsetzung und staatliche Justiz wechselseitig mit Ideen befruchten. Zugleich kann das Klären von grundlegenden Unterschieden zwischen beiden Polen dazu beitragen, Missverständnisse in den Diskussionen um eine Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung frühzeitig zu vermeiden. Die Standortbestimmung für den Bereich der staatlichen Justiz übernahm Thomas Dickert.9 Er ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, die im Januar 2021 ein Diskussionspapier zur Digitalisierung des Zivilprozesses vorgelegt hat. In seinem Beitrag verdeutlicht er, dass vor allem auch aus der Binnensicht der Justiz eine Digitalisierung des Zivilprozesses äußerst wünschenswert ist. Die Arbeiten der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses, die er vorstellt, sind außerordentlich reich an verschiedensten Vorschlägen für Digitalisierungsmöglichkeiten im Bereich der Ziviljustiz. Franz Hofmann nimmt die Rechtsdurchsetzung durch 6 Zum „Boxendenken“ in Zusammenhang mit zivilprozessualen Reformen Risse/Gremminger, AnwBl 2022, 24 ff. 7 S. dazu die Übersicht unter www.tobschall.de/legaltech (Stand: 28. 04. 2022). 8 Lessig, Code: Version 2.0, 2006, S. 1. 9 S. 27 ff. in diesem Band.

Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess u. Rechtsdurchsetzung

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Private wie z. B. Legal Tech-Anbieter und Upload-Filter in den Blick und macht deutlich, dass die Veränderungen bei der Rechtsdurchsetzung nicht nur graduelle Auswirkungen haben werden, sondern letztlich eine Herausforderung für die Ausgestaltung der gesamten Rechtsordnung darstellen.10 Diese sei nämlich nicht darauf ausgelegt, dass das Recht in jedem Einzelfall – wie etwa im Rahmen von Legal Tech-Angeboten oder smart contracts – vollumfänglich durchgesetzt wird. Vielmehr sei das materielle Recht häufig so gestaltet, dass ein gewisser Spielraum für die Rechtsdurchsetzung verbleibt. Beide Beiträge im Rahmen der Standortbestimmung machen gleichermaßen deutlich, dass es keinesfalls ausreichend sein kann, die derzeitigen Arbeitsprozesse der Justiz eins zu eins im digitalen Raum abzubilden. Auch die unbesehene Übernahme von aus dem privaten Bereich bekannten Rechtsdurchsetzungsmechanismen stößt, wegen der oft fehlenden Passung für die Gesamtrechtsordnung, an klare Grenzen. Vielmehr ist das Zivilprozessrecht, will man mit der Digitalisierung einen eigenständigen Mehrwert schaffen, neu für den digitalen Zivilprozess der Zukunft zu denken.

II. Einführung in die Thematik: Struktur, Automatisierung, Kommunikation, Vollstreckungssystem durch Digitalisierung Die weiteren Beiträge dieses Tagungsbands sollen zu einem solchen „Neudenken des zivilprozessualen Verfahrens“ aus national-rechtlicher, rechtsvergleichender, technischer und psychologischer Perspektive beitragen. 1. Überblick Sie sind in vier verschiedene Themenblöcke eingegliedert, die im Vorfeld der Tagung als (nicht abschließende, aber besonders vordringliche) Herausforderungen der Digitalisierung des Zivilprozesses identifiziert wurden. • Die erste Herausforderung besteht in der Schaffung geeigneter Strukturen, an die digitale Instrumente anknüpfen können.11 • Die zweite Herausforderung ist die der Automatisierung juristischer Tätigkeit.12 • Gerade in der Corona-Pandemie ist besonders deutlich geworden, dass die Kommunikation im digitalen Raum anders funktioniert als wir es bisher gewohnt sind. Der Kommunikation im künftigen, digitalen Zivilprozess ist Teil 4 der Tagung und dieses Werkes gewidmet.13 10

S. 39 ff. in diesem Band. S. dazu Teil 2 der Tagung (II. 2.) und S. 47 – 170 dieses Bandes. 12 S. dazu Teil 3 der Tagung (II. 3.) und S. 171 – 250 dieses Bandes. 13 S. dazu Teil 4 der Tagung (II. 4.) und S. 251 – 278 dieses Bandes.

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Martin Zwickel

• Mit der Herausforderung der Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung und insbesondere der Zwangsvollstreckung schließlich sollte ein Gebiet bearbeitet werden, das in den bisherigen Diskussionen nicht im Fokus stand.14

2. Strukturen von Daten und Verfahren als Voraussetzungen digitalen Prozessierens Der Begriff Struktur geht auf den lateinischen Terminus stru¯ctu¯ra („Zusammenfügung, Bauart, Sinngefüge“) zurück. Ein solches Sinngefüge lässt sich nun im Zusammenhang der Digitalisierung der Ziviljustiz auf verschiedene Weise herstellen. Wir hatten bei der Programmplanung die Vorstellung, uns von groben Strukturen hin zu ganz feingliedrigen Strukturen weiterzuhangeln. Gemeinsam ist all diesen Strukturen, dass sie mittels digitaler Tools hergestellt werden können. Gegenstand einer relativ groben Strukturierung, die mit digitalen Instrumenten erreicht werden kann, können zunächst die verschiedenen Wege zum Recht sein (a)). Eine Mittelstellung nimmt die Strukturierung des Verfahrens selbst ein. In anderen Ländern, wie z. B. im kanadischen British Columbia mit seinem digital arbeitenden Civil Resolution Tribunal, ist das Verfahren so strukturiert, dass digitale Instrumente darin völlig unproblematisch Platz finden (b)). Die feinste Struktur ergibt sich schließlich durch eine Ordnung des Prozessstoffs, d. h. der Verfahrensinhalte wie sie das von der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ vorgeschlagene elektronische Basisdokument im Sinn hat (c)). a) Digitale Strukturierung der Wege zur Streitbeilegung Gegenstand einer relativ groben Strukturierung, die mit digitalen Instrumenten erreicht werden kann, können zunächst die verschiedenen Wege zum Recht sein, so dass sich die Rechtsuchenden leichter zurechtfinden. Digital strukturiert wird dann der Zugang zu Gericht bzw. dem vorgelagert der Zugang zur Konfliktlösung. Derartige digitale Strukturen wie sie die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ mit einem sog. Justizportal15 vorgeschlagen hat, wurden unter dem Titel „Justiz-/Bürgerportal als Strukturierung der Wege zum Recht?“ diskutiert. Der Beitrag von Annedore Flüchter zeigt die Ideen und Motivationen der Arbeitsgruppe zur Schaffung eines solchen „One-Stop-Shops“ auf.16 Deutlich werden aber die technischen und v. a. auch organisatorischen Herausforderungen, die ein solches Unterfangen mit sich bringt. Während die Justiz-Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ das Portal großenteils als Vorstufe eines gerichtlichen Verfahrens konzipieren wollte, weitet Josephine Odrig mit ihren Überlegungen zum Ausbau des Jus14

S. dazu Teil 5 der Tagung (II. 5.) und S. 279 – 323 dieses Bandes. Diskussionspapier (Fn. 3), S. 13 ff. 16 S. 49 ff. in diesem Band. 15

Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess u. Rechtsdurchsetzung

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tizportals zu einer Konfliktanlaufstelle17 das Spektrum der in ein solches Portal einzubeziehenden Streitbeilegungsmechanismen deutlich aus. So besehen stellt sich die digitale Information über gerichtliche und außergerichtliche Möglichkeiten der streitigen und insbesondere auch der einvernehmlichen Konfliktlösung lediglich als eine Vorstufe für einen auf den Einzelfall zugeschnittenen digitalen Konfliktlotsen dar.18 Auch aus einem rechtsvergleichenden Blickwinkel zeigt Wiebke Voß anhand zahlreicher Beispiele, wie z. B. dem des Civil Resolution Tribunal im kanadischen British Columbia, einen internationalen Trend zur Kanalisierung der Wege zum Recht und nicht nur des Weges zur Ziviljustiz mittels digitaler Gerichtsportale.19 Die „Integration von Analysesystemen und Verhandlungstools in ein justizielles Webportal“20 dränge sich auf. Besonders umfassende Erfahrungen mit digitalen und analogen Konfliktanlaufstellen konnten in den Niederlanden gesammelt werden. Die dort gemachten Erfahrungen nimmt Liane Schmiedel in den Blick.21 Deutlich zeigt sich am Beispiel der Niederlande, dass genau geprüft werden muss, ob sich US-amerikanische ODR-Lösungen wie Modria, Matterhorn usw. im deutschen, kontinentaler Rechtstradition verschriebenem Recht einsetzen lassen. b) Digitale Strukturierung des Verfahrens (digitale Verfahrensstrukturen) So wie digitaler Code – entsprechend der Einsicht „Code is law“22 – Lösungen zwingend vorgeben kann, lässt sich im Wege der Digitalisierung auch der Verlauf des Konfliktlösungsverfahrens selbst steuern. Digitale Tools führen dann, in ihrer Zusammenschaltung, zu einer Bindung der Verfahrensbeteiligten an einen bestimmten Verfahrensablauf. Das Verfahren wird dadurch selbst strukturiert.23 Im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ zeigt besonders das sog. „beschleunigte Online-Verfahren“ eine solche Struktur. Dabei handelt es sich um „ein Verfahren mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen, das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird. Die Verfahren sollen bei bestimmten Gerichten konzentriert werden können, so dass es möglich ist, zentrale Online-Gerichte einzurichten.“24 Angedacht ist dieses beschleunigte Online-Verfahren nur für Streitwerte bis 5.000 E, wobei der Anwendungsbereich zu17

S. 55 ff. in diesem Band. Für einen „interaktiven, laienfreundlichen Wegweiser zur alternativen Konfliktlösung“ s. das Projekt https://rechtohnestreit.de/ (Stand: 28. 04. 2022). 19 S. 71 ff. in diesem Band. 20 Für solche ODR-Lösungen in der gerichtlichen Sphäre s. auch Katsh/Rabinovich-Einy, Digital Justice, Oxford 2017, S. 149 ff. und die Liste mit Gerichten, die ODR einsetzen, unter https://odr.info/courts-using-odr/ (Stand: 28. 04. 2022). 21 S. 87 ff. in diesem Band. 22 Lessig, Code: Version 2.0, 2006, S. 1. 23 Zu Strukturierungsmöglichkeiten des zivilprozessualen Verfahrens bereits de lege lata Zwickel, MDR 2021, 716. 24 Diskussionspapier (Fn. 3), S. IV. 18

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Martin Zwickel

nächst auf massenhaft auftretende Streitigkeiten zwischen klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern und beklagten Unternehmen beschränkt werden soll.25 Neben ausländischen Konfliktmanagementsystemen26 lohnt sich auch ein Blick auf die „kundenorientierten“ IT-Portale der Verwaltung. Beispielgebend ist in diesem Zusammenhang v. a. das Expertensystem der Steuerverwaltung (s. den Beitrag von Axel Adrian/Holger Barthel), das in der Lage ist, formularmäßig strukturierte Eingaben so zu verarbeiten, dass auch der Entscheidungsprozess weitgehend automatisiert ablaufen kann.27 Eingabeformulare führen aber zu einer Art Rollentausch. Sie übertragen nämlich einen Teil der Parteiverantwortung der Sachverhaltsbeibringung in die gerichtliche Sphäre, in der das Formular entsprechend gestaltet werden muss.28 Demjenigen, der einen Schriftsatz verfasst, wird durch die Gestaltung etwas Last abgenommen. Derjenige, der das Formular konzipiert, muss hingegen genau auf die Formulargestaltung achten. Für die Justiz würde eine breitflächige Formularverwendung daher erfordern, dass Formulare den Bedürfnissen aller Rechtsuchender Rechnung tragen. Robert Korves regt, angesichts der Schwierigkeit dieses Unterfangens, in seinem Beitrag an, die Konzeption eines beschleunigten Online-Verfahrens nicht zu stark am Beispiel der Legal Tech-Branche auszurichten, sondern ein beschleunigtes Online-Verfahren als Probierstein des digitalen Zivilprozesses zuvörderst an den Bedürfnissen der Anwaltschaft auszurichten.29 Beide Beiträge zeigen, dass die digitale Verfahrensstrukturierung lohnenswert sein kann. Die Ziele und Komponenten einer solchen Struktur bedürfen aber weiterer Befassung.30 c) Strukturierung der Verfahrensinhalte und insbesondere der Schriftsätze Vielfach wird angeführt, strukturierte Daten seien die Basis für einen digitalisierten Zivilprozess.31 Die feingliedrigste Struktur, die im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses genannt wird, geht in diese Richtung. Sie begegnet uns mit dem elektronischen Basisdokument.

25

Ausführlich zum beschleunigten Online-Verfahren Voß, VuR 2021, 243; Zwickel, KD 2021, 169. 26 S. dazu den Beitrag von Voß auf S. 71 ff. in diesem Band. 27 Für den Vorbildcharakter der Systeme der Steuerverwaltung s. insbesondere Fries, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech 2021, S. 291 ff. und https://www.lto. de/recht/hintergruende/h/lto-podcast-martin-fries-legal-tech-dozent-jurastudium-entwicklun gen/ (Stand: 28. 04. 2022). 28 In Bezug auf die Verwaltung: Gantner, Theorie der juristischen Formulare, 2010, S. 4; in Bezug auf den Zivilprozess Korves MDR 2019, 396; Korves, GVRZ 2018, 7. 29 S. 117 ff. in diesem Band. 30 Für Alternativmodelle eines Online-Verfahrens s. v. a. die „Court architecture“ von Susskind, Online Courts and the Future of Justice, 2019, S. 111 ff. 31 Fries, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2021, S. 293: „Drehund Angelpunkt einer digitalen Prozessarchitektur sind strukturierte Daten“; für ein strukturiertes elektronisches Verfahren s. auch Heil, IT-Anwendung im Zivilprozess, 2020, S. 85 ff.

Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess u. Rechtsdurchsetzung

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Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ schlägt Folgendes vor:32 „Der Parteivortrag im Zivilprozess sollte unter den Bedingungen elektronischer Aktenführung in einem gemeinsamen elektronischen Dokument („Basisdokument“) abgebildet werden. Die Erstellung eines solchen Basisdokuments ist für die Parteien im Anwaltsprozess verbindlich, wobei das Gericht in ungeeigneten Fällen den bisher üblichen Austausch von Schriftsätzen anordnen kann. Die Gestaltung und die technischen Voraussetzungen für die Bearbeitung der Vorlage für das Basisdokument werden durch Gesetz oder Verordnung festgelegt.“

Das elektronische Basisdokument zielt darauf ab, juristische Informationen zum Sachverhalt zu strukturieren, um dadurch den Richterinnen und Richtern aber auch den Anwältinnen und Anwälten die Sachverhaltsarbeit zu erleichtern. Auf dieser Basis fragt Elmar Streyl, Mitglied der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, in seinem Beitrag danach, was unter einer derartigen Struktur aus prozessrechtlicher Sicht zu verstehen ist und präsentiert ein Beispiel für eine solche Strukturierung.33 Noch über diesen Vorschlag geht der ebenfalls die Strukturierung mittels eines elektronischen Basisdokuments befürwortende Ansatz von Reinhard Greger hinaus, indem er die kollaborative Arbeit an einem einzigen, einheitlichen Dokument vorschlägt.34 Insgesamt sind damit, lässt man mögliche Kombinationsansätze außer Acht,35 über die Tagung hinaus, drei Verfahren36 einer Strukturierung von Schriftsätzen zu diskutieren: • Die Nutzung von Formularen wie z. B. in den Expertensystemen der Steuerverwaltung, • eine Befüllung des elektronischen Basisdokuments auf Grundlage besonders formatierter/gekennzeichneter herkömmlicher Schriftsätze37 und • ein unter richterlicher Anleitung gemeinsam von den Parteien erstelltes Dokument, durch das sich die „Konfrontation“ im Schriftsatzwesen „in ein kooperatives Arbeitsklima“ verwandeln soll.38 Kritisch setzt sich Cord Brügmann mit dem elektronischen Basisdokument auseinander,39 denn die Justiz müsse auch Möglichkeiten der Strukturierung außerhalb 32

Diskussionspapier (Fn. 3), S. V. S. 133 ff. in diesem Band. 34 S. 141 ff. in diesem Band und Greger, NJW 2019, 3429 (3431). 35 Für einen solchen Ansatz einer Mischung aus formularmäßiger Strukturierung für den Parteiprozess und Arbeit mit Freitexten für den Anwaltsprozess Zwickel, in: Buschmann/Gläß/ Gonska et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018, S. 179 (199 ff.). 36 Zur Kritik am verwendeten Strukturierungskriterium der Chronologie s. Zwickel, MDR 2021, 716. 37 Zwickel, MDR 2021, 716 (722). 38 Greger, NJW 2019, 3429 (3431); wohl auch Köbler, DVBl. 2016, 1506 und Diskussionspapier (Fn. 3), S. 33 ff. 39 S. 149 ff. in diesem Band. 33

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von Anwaltsprozessen vorsehen. Die Strukturierung von Gerichtsentscheidungen biete mehr Potential als die Strukturierung von Schriftsätzen. Diesem juristischen Diskurs steht die Technik hinter einer Strukturierung des Prozessstoffs gegenüber: Begibt man sich in der Informatik auf die Suche nach dem Begriff Struktur, stellt man fest, dass dort strukturierte Daten nur vorliegen, wenn genau feststeht, an welcher Stelle welches Datum zu erwarten ist, so wie dies etwa in einer Tabelle der Fall ist. Lassen sich nun Strukturen im Sinne der Informatik und der Rechtswissenschaft in Einklang bringen? Wenn das der Fall wäre, könnten digitale Tools Inhalte von Schriftsätzen unproblematisch weiterverarbeiten? Dieser Frage widmet sich der Beitrag von Michael Kohlhase,40 der mit dem für uns Juristinnen und Juristen etwas beunruhigenden Fazit schließt, dass die einmal im Hinblick auf einen bestimmten Aspekt vorgenommene Strukturierung – oder wie es in der Informatik heißt – die Formalisierung keinesfalls alle Anwendungsszenarien einer digitalen Weiterverarbeitung von Schriftsätzen unterstützen kann. Will man eine Anknüpfbarkeit digitaler Tools (z. B. zur Entscheidungsunterstützung)41 an mit digitalen Mitteln geschaffene Strukturen perspektivisch sicherstellen, müssten die Diskussionen um eine Strukturierung von Schriftsätzen noch viel stärker aus einem technischen Blickwinkel geführt werden. Schriftsatzstrukturen wären dann auf ihre Eignung für einen bestimmten IT-Anwendungsvorgang zu evaluieren. 3. Automatisierung des Zivilprozesses Besonderes Potenzial weist moderne Informationstechnologie dort auf, wo sich bestimmte Tätigkeiten automatisiert durchführen lassen.42 Bei manchen, zumeist gleichförmig ablaufenden Tätigkeiten, kann der Rechner schon heute zum Teil den Menschen ersetzen. Noch vielversprechender als der heute gängige Einsatz von Expertensystemen dürfte perspektivisch der Rückgriff auf Künstliche Intelligenz (KI) sein. Im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ist von einem KI-Einsatz nur in Bezug auf das Kostenfestsetzungsverfahren die Rede. Dazu heißt es:43 „Wegen der klaren Struktur des Kostenfestsetzungsverfahrens bietet es sich an, in diesem Bereich (auch) eine automatisierte Bearbeitung einzuführen. Dies könnte ein geeignetes Testfeld sein, um automatisierten Entscheidungen und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Zivilverfahren zu erproben.“ 40

S. 155 ff. in diesem Band. Für eine solche Inhaltserschließung von Schriftsätzen Huber/Giesecke, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 19, Rn. 20, 45 und Zwickel, in: Buschmann/Gläß/Gonska et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018, S. 179 (195 ff.). 42 Zur „Industrialisierung“ s. Breidenbach/Glatz, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2021, S. 2. 43 Diskussionspapier (Fn. 3), S. 59. 41

Herausforderungen der Digitalisierung von Zivilprozess u. Rechtsdurchsetzung

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Teil 3 dieses Tagungsbandes geht darüber insofern deutlich hinaus als ein KI-Einsatz durchaus auch für die Schaffung von Entscheidungsassistenzsystemen diskussionswürdig erscheint.44 a) Datenbasis für maschinelle Assistenten Maschinelle (Entscheidungs-)Assistenten, die auf KI-Techniken beruhen, benötigen aber eine ausreichende Datenbasis, die sich zumindest teilweise über eine Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen schaffen lässt. Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ ist nicht den Weg gegangen, schon jetzt eine weitreichende Veröffentlichungspflicht vorgeben zu wollen,45 sondern hat hinsichtlich einer Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen vorgeschlagen, Urteile erst dann umfassend zu publizieren, sobald die Entscheidungstexte automatisch anonymisiert werden können.46 Mit technischen Voraussetzungen und Hürden einer derart automatisierten Anonymisierung befassen sich Axel Adrian/Nathan Dykes/Stephanie Evert/Philipp Heinrich/Michael Keuchen und Thomas Proisl.47 Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier sehen langfristig aus technischer wie auch aus rechtlicher Sicht große Potenziale eines Einsatzes von KI in der Ziviljustiz, dies allerdings nur zur Entscheidungsunterstützung, nicht hingegen zur Ersetzung von Richterinnen und Richtern.48 Besonderes Augenmerk sei auf die Entwicklung und insbesondere die Evaluation digitaler Assistenz-Prototypen zu legen, denn der Output der Justiz unterliege besonderen Qualitätsanforderungen. b) Online-Entscheidung ohne Richter Nach diesen Einblicken in die für eine potenzielle Automatisierung der Ziviljustiz erforderliche Datenbasis richtet sich der Blick sehr weit in die Zukunft. Es sollte nämlich der vielbeschworene „Robo-Judge“, in den Blick genommen werden. Rechtsvergleichende Beispiele für einen echten und breitflächigen KI-Einsatz in der Justiz sind rar gesät. Georg Gesk und Zhiyunn Guo zeigen in ihrem Beitrag zum Internet Court in Hangzhou und zum Social Credit System, dass in China die maschinelle Entscheidungsfindung durch Internet Courts zumindest teilweise mit einer Digitalisierung des Alltags verknüpft ist, die zu einer unmittelbar digitalen Verfügbarkeit großer Datenmengen führt. Auch in China ist aber ein sog. Robo-Judge noch Zukunftsmusik. Andreas Funke lotet anschließend den verfassungsrechtlichen 44

S. dazu ausführlich Huber/Giesecke, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 19, Rn. 46 ff. 45 Zum gegenläufigen Modell (Grundsatz der vollständigen Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen) in Frankreich s. Zwickel, RohR 2021, 132 ff. 46 Diskussionspapier (Fn. 3), S. 71. 47 S. 173 ff. in diesem Band. 48 S. 199 ff. in diesem Band.

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Rahmen automatisierter Gerichtsentscheidungen aus und kommt in seinem Beitrag zum Schluss, die historische Kritik am Richterautomaten habe ihre Berechtigung behalten.49 Die Suche nach Potenzialen digitaler Technik für den Zivilprozess stehe unter besonderem Rechtfertigungsdruck. In die Überlegungen sei zudem auch die Frage nach einer Ökonomisierung der Richter durch Computer, die billiger als Menschen seien, einzustellen. Als Schlussfolgerung zu Teil 3 der Tagung und den entsprechenden Beiträgen dieses Bandes lässt sich daher festhalten, dass v. a. KI viele Fortschritte auch im Bereich der Ziviljustiz ermöglichen könnte. Die technischen Potenziale sollten keinesfalls unterschätzt werden. Ein Ersatz menschlicher Richterinnen und Richter durch Computer erscheint aber nicht erstrebenswert.50 Vielmehr sollte ein Einsatz von IT und KI zur Qualitätssicherung und Entscheidungsassistenz erwogen werden. 4. Kommunikation im digitalen Zivilprozess der Zukunft Digitale Technik betrifft auch die Kommunikation im Zivilprozess. Nicht zuletzt ausgelöst durch die Corona-Pandemie wird intensiv über eine Verlagerung der Gerichtskommunikation in den digitalen Raum und über eine Ausweitung der nach § 128a ZPO in bestimmten Grenzen bereits heute möglichen Videoverhandlung diskutiert.51 Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat vorgeschlagen, § 128a ZPO so zu erweitern, dass eine vollständig virtuelle Verhandlung durchgeführt wird, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhalten muss.52 Sabine Grommes befürwortet aus richterlicher Sicht eine solche Ausweitung und stellt die positiven Erfahrungen aus der Praxis vor.53 Die umfassende Nutzung von Videokonferenzen im künftigen Zivilprozess erscheint aber nicht risikolos: • Ein digitales Kommunikationssetting bietet, neben vielen neuen Möglichkeiten, auch Angriffsszenarien. Florian Nicolai wirbt daher in seinem Beitrag darum, eine aus seiner Sicht notwendige strafrechtliche Nachjustierung der Digitalisierung von Gerichtsprozessen nicht aus den Augen zu verlieren.54 • Kommunikationspsychologisch müsste erst noch mit empirischen Methoden untersucht werden, wie sich gewohnte Kommunikationsprozesse durch eine Umstel-

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S. 235 ff. in diesem Band. S. den Beitrag von Adrian/Schröder/Maier auf S. 199 ff. in diesem Band und Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 260 ff. 51 Köbler, NJW 2021, 1072; Resch/Erden, jM 2022, 46 – 51; Windau, NJW 2020, 2753; Windau, jM 2021, 178. 52 Diskussionspapier (Fn. 3), S. 45 ff. 53 S. 253 ff. in diesem Band. 54 S. 261 ff. in diesem Band. 50

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lung auf Videoverhandlung verändern können.55 Besonders im Hinblick auf die auf persönlichem Kontakt basierenden Schnittstellen des Zivilprozesses zur einvernehmlichen Streitbeilegung (§§ 278 I, II, V ZPO) ist sicherlich Wachsamkeit im Digitalisierungsprozess geboten. Klaus Harnack weist, noch darüber hinausgehend, auf Basis psychologischer Erkenntnisse darauf hin, dass sich die Akzeptanzchancen digitaler Instrumente in der Justiz maßgeblich erhöhen lassen, wenn eine enge Anknüpfung an bekannte Abläufe und Mechanismen erkennbar ist. Vor diesem Hintergrund mag viel dafür sprechen, auch über Videoverhandlungen in eigens für die Justiz konzipierten digitalen Räumen, die Gerichtssälen oder menschlichen Akteuren (wie z. B. bei Videokonferenzen mit Avataren) nachgebildet sind, mittel-/langfristig nachzudenken.56

5. Digitalisierung der Zwangsvollstreckung Der letzte Teil der Tagung war der Digitalisierung der Zwangsvollstreckung gewidmet. Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat vorgeschlagen, die Papierbindung des geltenden Zwangsvollstreckungsverfahrens57 durch ein – idealerweise an das elektronische Urkundenarchiv der Notare anzubindendes – elektronisches Titelregister aufzulösen.58 Jürgen Stamm erweitert diesen Vorschlag um zahlreiche weitere Komponenten eines „digital gedachten“ Zwangsvollstreckungsverfahrens.59 Im Zentrum eines digitalen Zwangsvollstreckungsverfahrens sollte, wie Karlheinz Brunner unterstreicht, künftig der Gerichtsvollzieher als einziges Zwangsvollstreckungsorgan stehen.60 Für die genaue Ausgestaltung eines digitalen Zwangsvollstreckungsverfahrens mit digitalem Titelregister mögen Beispiele aus dem europäischen Ausland Pate stehen. Kevin Labner zufolge sind im österreichischen Exekutionsverfahren (de facto) titellose Anträge und ein Titelregister in Form der „Verfahrensautomation Justiz (VJ)“ bereits vorhanden.61 Es ist daher äußerst lohnenswert, in eine eventuelle Digitalisierung der Zwangsvollstreckung auch die Erfahrungen unserer österreichischen Nachbarn einfließen zu lassen. Über die Digitalisierung der staatlichen Zwangsvollstreckung hinaus gehen freilich die Überlegungen zu einer Privatisierung der digitalen Zwangsvollstreckung. So lassen sich Verträge im digitalen Raum so „programmieren“, dass sie sich selbst und 55

S. dazu Harnack, ZKM 2021, 97 ff.; für eine kommunikationspsychologische Sicht auf die klassische mündliche Verhandlung im Zivilprozess s. bereits Henkel, ZZP 110 (1997), 91 ff. 56 Mit diesem Ansatz auch Risse/Gremminger, AnwBl 2022, 24. 57 Die Vollstreckungsklausel gem. § 724 I ZPO wird auch von einem elektronischen Dokument nur in Papierform erteilt (§§ 130b S. 2, 298a II ZPO). 58 Diskussionspapier (Fn. 3), S. 106 ff. 59 S. 281 ff. in diesem Band und Stamm, NJW 2021, 2563. 60 S. 301 ff. in diesem Band. 61 S. 309 ff. in diesem Band.

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ohne dass der Gläubiger auf die Einschaltung staatlicher Organe angewiesen ist, vollstrecken.62 Ein neues Forschungsfeld wäre nun, ob sich derartige Mechanismen, wie wir sie von Smart Contracts kennen, freilich nur nach entsprechender Abbildung im Zwangsvollstreckungsrecht, auch in die staatliche Zwangsvollstreckung übernehmen ließen.

III. Fazit Die Erlanger Tagung vom 1. und 2. Juli 2021 hat ebenso viele neue Forschungsfragen aufgeworfen, wie sie beantwortet hat. Vor allem aber hat sie deutlich gemacht, dass der Zivilprozess – will man ihn nicht nur im digitalen Raum abbilden, sondern für das digitale Zeitalter wirklich ertüchtigen – mit Blick auf die Passung in das Rechtssystem, interdisziplinär und rechtsvergleichend zugleich neu zu denken ist.

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S. dazu umfassend Matzke, in: Fries/Paal, Smart Contracts, 2019, S. 100 ff.

Teil 1 Standortbestimmung: Digitalisierung und Rechtsdurchsetzung durch Justiz versus Private

Justiz heute und morgen: Reformbedarf der Justiz und Reformen aus der Justiz Von Thomas Dickert

I. Ausgangslage Der durchschnittliche Bürotag beginnt für die Richterinnen und Richter in Deutschland damit, dass sie sich am Computer einloggen und ihre Mails durchsehen. Sie diktieren mit Spracherkennung oder fertigen auf dem Rechner Verfügungen, Beschlüsse und Urteile. Justizsoftware unterstützt sie mit Vorlagen bei Routinearbeiten. In Datenbanken der juristischen Fachverlage recherchieren sie Gesetze, Urteile und Literatur. Seit die täglichen Infektionszahlen den Alltag auch bei den Gerichten bestimmt haben, nutzen viele Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeiten zur Videoverhandlung. Die Geschäftsstellen kommunizieren mit Parteivertretern über das besondere elektronische Anwaltspostfach – beA. In den kommenden Jahren wird die elektronische Verfahrensakte bei den Gerichten Einzug halten. Beispielsweise wurde im Lauf des Jahres 2021 die elektronische Akte in Zivilsachen 1. Instanz bei allen Landgerichten meines Bezirks regeleingeführt. Das klingt doch ziemlich modern! Ist also alles gut? Sind die Gerichte im digitalen Zeitalter angekommen? Meine Antwort ist: Ja und nein! Modern sind bei Gericht zum Teil die Arbeitsmittel. Modern ist aber nicht das Verfahren selbst. So läuft der Zivilprozess, um den es bei der Tagung der FAU in erster Linie ging, im Wesentlichen nach den Vorgaben der CPO aus dem Jahr 1877 ab. Damals gab es weder den elektronischen Rechtsverkehr noch die elektronische Verfahrensakte. Zwischenzeitlich ist der Rechtsverkehr digital, doch es werden Schriftsätze als PDFs ausgetauscht. Zustellungen erfolgen zwar elektronisch, doch werden die Empfangsbekenntnisse per Individualbefehl des Empfängers zum Gericht zurückgesandt. Die Verfahrensakte ist zwar elektronisch, doch zeigt sie den Akteninhalt als Abbildungen der Papierschriftsätze an. Das beliebteste Kommunikationsmittel im Rechtsleben ist häufig noch das Telefax, das aber bekanntermaßen alles andere als sicher ist. Möchten rechtsuchende Bürgerinnen und Bürger mit dem Gericht in Kontakt treten, haben sie verschiedene Möglichkeiten: Sie können den Rechtspfleger in der Rechtsantragsstelle persönlich aufsuchen, sie können zum Anwalt gehen, selbst können sie schriftlich oder per Fax ein Gesuch beim Gericht einreichen. Oder sie können

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sich bei DE-Mail registrieren und damit sicher mit dem Gericht kommunizieren. Aber wer macht das schon? Einen zeitgemäßen Zugang zum Zivilgericht und zu den Gerichten allgemein stelle ich mir anders vor. Die privaten Rechtsdienstleister machen uns vor, wie es geht: einfacher, niederschwelliger, nutzerfreundlicher Zugang zu Rechtsrat – natürlich online vom heimischen Sofa aus. Eines zur Klarstellung gleich vorneweg: Die Lösung liegt nicht, wie manche meinen, in der Eröffnung des E-Mail-Verkehrs zwischen Bürger und Gericht. Denn E-Mails sind wie Faxe unsicher und leicht korrumpierbar. Andere Lösungen müssen her! Zwischenfazit: Die wichtigen und richtigen Neuerungen bei der Verfahrensdigitalisierung bleiben auf halber Strecke stecken. Sicherlich ist dies auch der Erlangung von Akzeptanz bei den Richterinnen, Richtern, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten geschuldet. Man kann eben nur in kleinen überschaubaren Etappen vorangehen, wenn man möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auf der Reise mitnehmen will.

II. Diskussionspapier Genau an dieser Stelle setzt das Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ an, die ich leiten durfte. Bei ihrer 71. Jahrestagung in Bamberg vom 27. bis 29. Mai 2019 haben die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs folgenden Beschluss gefasst: Die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Bayerischen Obersten Landesgerichts, des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs stellen fest, dass es weiterer gesetzgeberischer Schritte bedarf, um neue technische Möglichkeiten im Zivilprozess sinnvoll nutzbar zu machen. Durch eine entsprechende Überarbeitung des Prozessrechts könnten Gerichtsverfahren bürgerfreundlicher, effizienter und ressourcenschonender gestaltet werden. Die aus gerichtlicher Sicht dazu erforderlichen Maßnahmen sollen in den politischen Prozess eingebracht und die zukünftige Gesetzgebung mit eigenen Überlegungen der Praxis begleitet werden. Aus diesem Grund werden die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Bayerischen Obersten Landesgerichts, des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs konkrete Vorschläge zur Anpassung der Zivilprozessordnung erarbeiten. Dabei sollen insbesondere Überlegungen angestellt werden zur Ausweitung des elektronischen Rechtsverkehrs, zur besseren Strukturierung von Verfahren, zu neuen Formen mündlicher Verhandlungen, zur Einführung eines elektronisch geführten Verfahrens in Bagatellsachen und im Urkundenprozess, zur Reform des Beweisrechts, zum elektronischen Mahnverfahren, zur Erleichterung der Zwangsvollstreckung und zum elektronischen Sitzungsaushang im Internet.

45 Richterinnen und Richter aus ganz Deutschland und von allen Gerichtsebenen wurden von meinen Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitsgruppe entsandt. Mit großer Begeisterung arbeiteten sie in dem Projekt mit. Es gab fünf Plenartreffen,

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vier Unterarbeitsgruppen kamen zu nicht gezählten Besprechungen zusammen. Wir wählten einen technikoffenen, ganzheitlichen und visionären Ansatz. Es sollten Vorschläge aus der gerichtlichen Praxis erarbeitet werden, weshalb weitere Stakeholder zunächst nicht eingebunden waren. Das von der Arbeitsgruppe erstellte Diskussionspapier umfasst 125 Seiten und enthält 25 Einzelvorschläge, die miteinander verzahnt und aufeinander bezogen sind. Die Langfassung des Diskussionspapiers ist auf der Homepage des Oberlandesgerichts Nürnberg veröffentlicht.1 Zusammengefasst geht es um folgende Weiterentwicklungen des Zivilprozessrechts:2 Erleichterter elektronischer Zugang der Bürgerinnen und Bürger zur Ziviljustiz Es soll ein sicherer, bundesweit einheitlicher elektronischer Bürgerzugang in Form eines Justizportals eingerichtet werden. Dieses soll den Bürgerinnen und Bürgern einen umfassenden Zugang zur Justiz eröffnen, indem es als sicherer Übermittlungsweg dient. Darüber hinaus soll es sämtliche digitalen Angebote der Justiz integrieren, wie insbesondere das Online-Mahnverfahren, das Beschleunigte Online-Verfahren, die „virtuellen Rechtsantragstellen“ und die Möglichkeit zur Teilnahme an einer „virtuellen Gerichtsverhandlung“. Durch Erläuterungen und intelligente Eingabehilfen sollen Rechtsuchende Unterstützung bei der Auswahl des geeigneten Rechtsbehelfs und der Fassung von Anträgen erhalten. Auch der Antragsgegner soll sich im Mahnverfahren über das Online-Portal beteiligen können, so dass ein echtes Online-Mahnverfahren durchgeführt werden kann. Daneben soll die Möglichkeit geschaffen werden, virtuelle Rechtsantragstellen einzurichten, die im Wege der Videokonferenz mit dem Rechtsuchenden kommunizieren. Die sicheren Übermittlungswege, auf denen eine elektronische Übermittlung von Dokumenten an oder durch das Gericht ohne qualifizierte elektronische Signatur möglich ist, sollen um das EGVP und die Verwaltungsportale im Sinne von § 2 Abs. 2 OZG erweitert werden. Optimierung des elektronischen Rechtsverkehrs Die Kommunikation mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten soll durch die Einführung eines Kanzleipostfachs im beA erleichtert werden. Der Teilnehmerkreis, der verpflichtend am elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten teilnimmt, soll zum 1. 1. 2026 um öffentlich bestellte Sachverständige, öffentlich bestellte Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer, Steuerberaterinnen und Steuerberater, Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer, Insolvenzverwalterinnen und -verwalter, Berufsbetreuerinnen und -betreuer sowie Vereinsbetreuerinnen und -betreuer erweitert werden. Die Zustellung gegen elektronisches Empfangsbekenntnis sollte so reformiert werden, dass zusätzlicher Aufwand bei den Gerichten vermieden wird. Hierzu kommen die Ersetzung des elektronischen Empfangsbekenntnisses durch eine automatisierte Eingangsbestätigung ebenso wie eine Zustellungsfiktion in Betracht. Perspektivisch muss das Telefax als Übermittlungsweg abgeschafft werden, auch wenn es derzeit noch nicht verzichtbar ist. Insbesondere zur Vermeidung von sog. Mehrfacheinrei1 https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/nuernberg/aktuel les.php. 2 Zusammenfassung entnommen aus dem Diskussionspapier der Arbeitsgruppe.

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chungen sollte bereits jetzt eine Auslagenpauschale eingeführt werden, die die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Kostenschuldner trifft. Für eine schnellere und zeitgemäße Kommunikation zwischen Gericht und von ihm einbezogenen Prozessbeteiligten soll ein Rechtsrahmen für einen elektronischen Nachrichtenraum geschaffen werden. Der Nachrichtenraum dient in erster Linie dem formlosen Austausch elektronischer Nachrichten mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sowie weiteren Verfahrensbeteiligten unabhängig von Schriftsätzen und gerichtlichen Entscheidungen, z. B. für Terminabsprachen und -verlegungen oder den Austausch von Vergleichsvorschlägen. Perspektivisch sollen in ihm auch elektronische Dokumente zuverlässig und schnell zwischen Parteien und Gericht ausgetauscht werden können. Der elektronische Rechtsverkehr macht Anpassungen der materiell-rechtlichen Formerfordernisse erforderlich, z. B. bei der Kündigung von Mietverträgen in gerichtlichen Schriftsätzen. Hier schlägt die Arbeitsgruppe vor, dass zur Wahrung der materiell-rechtlichen Schriftform auch im elektronischen Rechtsverkehr formgerecht eingereichte Schriftsätze genügen. Einführung eines Beschleunigten Online-Verfahrens Es soll ein effizientes Online-Verfahren eingeführt werden. Dabei handelt es sich um ein Verfahren mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen, das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird. Die Verfahren sollen bei bestimmten Gerichten konzentriert werden können, so dass es möglich ist, zentrale Online-Gerichte einzurichten. Das effiziente Online-Verfahren soll für Streitwerte bis 5.000 E eingeführt werden. Der Anwendungsbereich soll zunächst auf massenhaft auftretende Streitigkeiten zwischen klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern und beklagten Unternehmen beschränkt werden, jedoch in Zukunft auf andere Verfahren erweitert werden können. Die Teilnahme am effizienten Online-Verfahren soll für Klägerinnen und Kläger freiwillig sein. Für Unternehmen auf der Beklagtenseite soll ein Nutzungszwang eingeführt werden. Dem Gericht ist es möglich, das effiziente Online-Verfahren in ein Regelverfahren zu überführen, wenn ausnahmsweise online ausführbare Verfahrenshandlungen nicht ausreichen. Die gerichtlichen Fristen sollen kurz sein, um die gewünschte Beschleunigung zu erreichen. Eine mündliche Verhandlung soll nur ausnahmsweise und erforderlichenfalls als Video- bzw. Telefonkonferenz stattfinden. Auch Beweise sollen im Rahmen einer Videoverhandlung erhoben werden. Es soll der Freibeweis gelten. Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens Der Parteivortrag im Zivilprozess sollte unter den Bedingungen elektronischer Aktenführung in einem gemeinsamen elektronischen Dokument (Basisdokument) abgebildet werden. Die Erstellung eines solchen Basisdokuments ist für die Parteien im Anwaltsprozess verbindlich, wobei das Gericht in ungeeigneten Fällen den bisher üblichen Austausch von Schriftsätzen anordnen kann. Die Gestaltung und die technischen Voraussetzungen für die Bearbeitung der Vorlage für das Basisdokument werden durch Gesetz oder Verordnung festgelegt. Das Basisdokument umfasst das vollständige Parteivorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einschließlich der Sachanträge. Der Kläger- und Beklagtenvortrag zum Lebenssachverhalt wird im Sinne einer Relationstabelle nebeneinander dargestellt. Er ist nach einzelnen Lebenssachverhaltselementen – i. d. R. chronologisch – und nicht nach An-

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spruchsgrundlagen gegliedert. Ergänzungen des Vortrags durch die Parteien werden unter Kennzeichnung der Nachträglichkeit an der sachlich passenden Stelle eingefügt. Das Gericht überwacht die zutreffende Einordnung des Lebenssachverhalts in die Relationstabelle und gibt rechtzeitig Hinweise zur sachgerechten Strukturierung des Vortrags in Teilabschnitten; nur ausnahmsweise greift es selbst in die Struktur ein. Der im Basisdokument enthaltene wechselseitige Sachvortrag wird im Laufe des Verfahrens durch Erklärung der Parteien oder mit Schluss der mündlichen Verhandlung verbindlich. Er bildet die Entscheidungsgrundlage und übernimmt so die Funktion des Tatbestands im Urteil. An dessen Stelle kann deshalb eine knappe Zusammenfassung des wesentlichen Sachverhalts treten, die die Entscheidungsgründe verständlich macht. Die Regelungen in § 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO zu richterlichen Anordnungen einer zeitlichen Strukturierung des Prozessstoffes sollen durch die Möglichkeit, einen „Strukturierungstermin“ – auch im Wege der Videokonferenz – durchzuführen, und durch entsprechende Präklusionsvorschriften ergänzt werden. Videoverhandlungen und Protokollierung Es soll die Möglichkeit einer virtuellen Verhandlung per Videokonferenz geschaffen werden, bei der sich auch das Gericht nicht im Sitzungssaal aufhalten muss. Die Verhandlung soll für die Öffentlichkeit zeitgleich in einen vom Gericht bestimmten Raum in Bild und Ton übertragen werden. Videoverhandlungen auf europäischer Ebene sollen unabhängig vom Streitwert in allen Zivilprozessen durchgeführt werden können. In geeigneten Fällen soll es dem Gericht ermöglicht werden, Zeugen per Videoanruf zu vernehmen. Die schriftliche Zeugenvernehmung soll um die Möglichkeit ergänzt werden, eine Videoaufzeichnung der Aussage vom Zeugen anzufordern. Von Beweisaufnahmen soll – nach einer Übergangsfrist bis 2026 – zwingend ein schriftliches Wortprotokoll gefertigt werden. Grundlage für die (computergestützte) Verschriftlichung kann auch eine Videoaufzeichnung der Beweisaufnahme sein. Die Videoaufnahme dient nur der Herstellung des Protokolls, ersetzt dieses aber nicht. Effizientere Verfahren durch Einsatz technischer Möglichkeiten Nicht körperlich gespeicherte Daten könnten künftig ein eigenes Beweismittel der „elektronischen Datei“ mit besonderen Regelungen zur Beweiserhebung erforderlich machen. Im Elektronischen Urkundenarchiv niedergelegte Urkunden sollen im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden können. Rationalisierungseffekte kann die Verwertung von Beweiserhebungen aus anderen Verfahren erbringen. Eine Übernahme auch audiovisuell aufgezeichneter Zeugenaussagen aus Strafprozessen als Ersatz für eine Zeugeneinvernahme im Zivilprozess wird aber abgelehnt. Die Beiziehung von Gutachten aus Verwaltungsverfahren soll hingegen im Rahmen des § 411a ZPO zugelassen werden. Die klare Struktur des Kostenfestsetzungsverfahrens gibt die Möglichkeit, automatisierte Entscheidungen und den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Zivilprozess zu erproben. Die Schaffung eines entsprechenden Rechtsrahmens soll dies zunächst im Anwaltsprozess ermöglichen. Die Eintragungen der Anmeldungen zur Musterfeststellungsklage ins Klageregister erfolgen ohne Sachprüfung, was zu Streitigkeiten über deren Zulässigkeit führen kann. Das Verfahren der Musterfeststellungsklage soll daher um eine Art Vorverfahren und den Einsatz von

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elektronischen Anmeldeformularen erweitert werden, um durch eine sinnvolle Datenerfassung die tatsächlich Betroffenen zu erreichen. Das Elektronische Urkundenarchiv kann sinnvoll auch als gerichtliches Titelregister für die Zwangsvollstreckung genutzt werden. Ist eine entsprechende Zusammenarbeit mit der Bundesnotarkammer zu erreichen, sollte der entsprechende Rechtsrahmen für eine Nutzbarmachung geschaffen werden. Alternativ kommt ein justizielles Titelregister in Betracht. Stärkung des Vertrauens in die Justiz durch stärkere Transparenz Der uneinheitlichen Veröffentlichungspraxis der Gerichte soll durch eine Regelung, dass eine Veröffentlichung von Entscheidungen (Urteilen und Beschlüssen, auch Zwischenentscheidungen) bei grundsätzlicher Bedeutung erfolgen soll, entgegengewirkt werden. Zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem eine zuverlässige automatisierte Anonymisierung von gerichtlichen Entscheidungen möglich ist, sollen sämtliche Entscheidungen interessierten Außenstehenden zugänglich gemacht werden.

III. Zivilrichtertag Ein weiterer wichtiger Meilenstein unseres Projektes war der Zivilrichtertag am 2. Februar 2021. Diesen haben wir mit 110 offiziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als hybride Veranstaltung in Nürnberg durchgeführt. Am Zivilrichtertag haben auch einzelne Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Anwaltschaft und Politik mit aktiven Rollen teilgenommen. Weitere 2000 Zuhörerinnen und Zuhörer haben den Zivilrichtertag über einen YouTube-Livestream verfolgt. Die wichtigsten Vorschläge der Arbeitsgruppe wurden beim Zivilrichtertag vorgestellt und diskutiert. Bei den offiziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden jeweils hierzu Trends (Zustimmung – Ablehnung – Enthaltung) abgefragt. Die nicht repräsentativen Abstimmungen erbrachten folgende Ergebnisse:3 Die Einrichtung eines Justizportals mit Zugang zu umfassenden digitalen Angeboten der Justiz und gleichzeitiger Eröffnung als sicherer Übermittlungsweg befürworteten 91 % der abstimmenden Teilnehmer, 4 % enthielten sich, 5 % waren dagegen. Die Einführung eines effizienten Onlineverfahrens mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen und regelmäßig nur elektronischer Kommunikation befürworteten 66 %, 20 % enthielten sich, 14 % stimmten mit Nein. Die Möglichkeit einer virtuellen Verhandlung per Videokonferenz ohne zwingenden Aufenthalt des Gerichts im Sitzungssaal und unter Wahrung der Öffentlichkeit durch geeignete Maßnahmen befürworteten 67 % der abstimmenden Teilnehmer, 8 % enthielten sich, 25 % waren dagegen. Die Einführung eines schriftlichen Wortprotokolls auf Basis computergestützter Verschriftlichung vorläufiger digitaler Aufnahmen wurde überwiegend abgelehnt: 32 % Zustimmung, 10 % enthielten sich, 58 % stimmten mit Nein. 3

Entnommen aus dem Tagungsbericht von Dr. Uwe Frommhold.

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Die Sammlung des Parteivortrages in einem von den Parteivertretern bearbeiteten, gemeinsamen elektronischen Basisdokument gegliedert nach Lebenssachverhaltselementen befürworteten 51 % der abstimmenden Teilnehmer, 19 % enthielten sich, 30 % waren dagegen. Die Optimierung des elektronischen Rechtsverkehrs durch die Einrichtung von Kanzleipostfächern, die Erweiterung des Teilnehmerkreises, die Reformierung des elektronischen Empfangsbekenntnisses sowie die perspektivische Abschaffung des Telefaxes befürworteten 94 % der abstimmenden Teilnehmer, 3 % enthielten sich, 3 % waren dagegen. Auch die Schaffung des Rechtsrahmens für einen elektronischen Nachrichtenraum zwischen Gericht und den Prozessbeteiligten fand überwiegend Befürworter: 65 % Zustimmung, 24 % enthielten sich, 11 % stimmten mit Nein.

An der Schlussdebatte beteiligten sich der Bayerische Staatsminister der Justiz Georg Eisenreich, die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg, der Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt a. Main Professor Dr. Roman Poseck, die Professorin Giesela Rühl von der Humboldt-Universität Berlin und Frau Ministerialdirektorin Gabriele Nieradzik vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Die Diskussion wurde von mir moderiert.4 Frau Rühl betonte, sie halte das Diskussionspapier für einen wichtigen Schritt. Die Zeit sei reif für eine umfassende Digitalisierung des Zivilprozesses. Das Diskussionspapier enthalte nicht nur einen allgemeinen Ruf nach Digitalisierung, sondern auch sehr konkrete Vorschläge. Auch wenn man über Details diskutieren müsse, würde eine Umsetzung einen großen Schritt nach vorn bedeuten. Von außen betrachtet seien viele der Vorschläge überfällig. Deutschland hinke in den Bereichen Onlineverfahren und Onlinezugang für die Bürger international betrachtet weit hinterher. An manchen Stellen hätte sie sich sogar noch etwas mehr Mut gewünscht. Frau Limperg erklärte, dass das Thema nicht eindimensional sei. Ihre uneingeschränkte Zustimmung fänden Bestrebungen zur Modernisierung der Kommunikation. Im Übrigen stellte sie in Frage, ob wir wirklich genau wüssten, welche Probleme wir mit diesen Vorschlägen lösen wollten. Es gebe zu etlichen Themen noch kaum rechtstatsächliche Forschung. Es dürfe im Hinblick auf die Digitalisierung nicht aus dem Mangel an Ausstattung heraus argumentiert werden. Anzustreben sei der mit guten Tools ausgestattete Mensch als Entscheidungsträger. Herr Poseck lobte die offene, ehrliche und fundierte Debatte. Man müsse nun sehen, welche Punkte innerhalb eines breiten Konsenses kurz-, mittel- und langfristig umsetzbar seien und welche Punkte noch vertiefter Diskussion bedürften. Man brauche eine Modernisierung des Zivilverfahrensrechts, wobei Justiz und Anwaltschaft ein gemeinsames Interesse daran hätten. Deshalb müsse das hier vorliegende Angebot zur Diskussion aufgenommen und fortgeführt werden. Die Pandemie habe die Offenheit für neue technische Ansätze gefördert. Bereiche wie die weitere Digitalisierung der Verhandlung rund um § 128a ZPO und die Verbesserung des Zugangs der 4

Die folgende Darstellung ist dem Tagungsbericht von Dr. Uwe Frommhold entnommen.

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Bürger zum Gericht könnten jetzt schon kurzfristig umgesetzt werden. Bei den zunehmenden Massenverfahren bestehe zudem großer Handlungsdruck. Dagegen solle man schwierigere Themen wie den Einsatz künstlicher Intelligenz, den Übergang zum Wortprotokoll und die Strukturierung des Zivilverfahrens eher mittel- bis langfristig angehen. Ein Abschichten der Vorschläge wäre hilfreich. Am Ende brauche die Justiz einen Dreiklang aus modernem Recht, moderner technischer Ausstattung und genügenden personellen Ressourcen. Herr Eisenreich erklärte, die Justiz müsse in der digitalen Welt ankommen, um die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidungen zu sichern. Die Menschen erwarteten zurecht, dass die Justiz die Möglichkeiten der Digitalisierung nutze. Hierfür könne die Arbeitsgruppe aus der Richterschaft ein wichtiges Startsignal geben. Die Vorschläge müssten aufgegriffen und in einer vom BMJVeinzurichtenden Kommission zeitnah diskutiert werden. Deutschland verschlafe die digitale Welt, weshalb man jetzt Tempo machen müsse. Im BMJV, so Frau Nieradzik, seien die Vorschläge aus der Praxis mit großem Interesse aufgenommen worden. Denn das Diskussionspapier zeige, dass entsprechende Schritte in der Praxis gewollt und anerkannt seien. Man sei aber noch dabei herauszufinden, was der eigentliche Bedarf der Bürger sei. Ein entsprechendes Forschungsprojekt laufe. Das dürfe uns jedoch nicht davon abhalten, diejenigen Schritte zu gehen, die schon jetzt möglich sind. Die Diskussion beim Zivilrichtertag habe gezeigt, dass dies zu verschiedenen Geschwindigkeiten bei der Umsetzung führe. Sicher schnell umsetzen lasse sich eine Erweiterung der Kommunikation mit professionellen Beteiligten beim elektronischen Rechtsverkehr. So gebe es bereits einen Gesetzesentwurf inklusive Kanzleipostfach. Die Themen Strukturierung des Zivilprozesses und bürgernahe Ziviljustiz seien dem BMJV ebenfalls sehr wichtig. Aufgabe des BMJV sei es, die anderen Akteure in den Prozess einzubeziehen. Möglicherweise sei aber eine große Kommission nicht der richtige Weg. Man müsse themenbezogen schauen, was schneller umsetzbar ist und was nicht. Aus manchen Themen müsse man „Schnellboote“ machen und dürfe nicht nur den großen „Dampfer“ sehen. Zum Thema Öffentlichkeit der Justiz begrüßte Frau Limperg eine erweiterte Veröffentlichung von Entscheidungen, bezweifelte aber, ob dies allein die Verständlichkeit für die Bürger fördere. Man brauche generell Verbesserungen bei der Öffentlichkeitsarbeit auch im Sinne der Übertragung der juristischen Fachsprache aus den Entscheidungen heraus. Hier dürfe man auch kreativ sein, beispielsweise durch Erklärvideos. Man brauche Vermittlungsformate, um den Rechtsstaat besser zu erklären. Dafür genügten Bürgerportale allein nicht. Angesprochen auf weitere Perspektiven über die Vorschläge hinaus äußerte Frau Rühl, dass man sich Gedanken über die Nutzung echter Potenziale der Digitalisierung wie Algorithmen und Künstliche Intelligenz (KI) als Hilfsmittel bei der richterlichen Kerntätigkeit machen müsse. Die Justiz müsse die Anforderungen zur Nutzung von KI definieren. Es gehe um Fragen der Regulierung und Transparenz. Da-

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neben müssten die rechtlichen Fragen wie Justizgewährleistungsanspruch, rechtliches Gehör und richterliche Unabhängigkeit geklärt werden. Herr Eisenreich sprach sich dafür aus, auch an diese Themen offen heranzugehen und anschließend Wertentscheidungen zu treffen, beispielsweise, dass am Ende immer ein Mensch die Entscheidung trifft. Herr Poseck stimmte zu, wobei tragende Verfassungsprinzipien gewahrt werden müssten. Für die Akzeptanz bei den Bürgern sei es aus seiner Sicht wichtig, dass die Justiz Menschenwerk bleibe, was den Einsatz von KI limitiere. Kleine Schritte seien aber möglich, wie der Vorschlag der Arbeitsgruppe zur testweisen Nutzung von KI im Kostenfestsetzungsverfahren zeige. Auf Frage an Frau Nieradzik zur praktischen Erprobung einzelner Vorschläge erklärte diese, dass man auf die technische Umsetzbarkeit und Erprobung angewiesen sei und dies die Geschwindigkeit der Umsetzung insgesamt beeinflusse. Schließlich sei das auch eine Ressourcenfrage. Abschließend habe ich darauf hingewiesen, dass die Erfahrung zeigt, dass Versuche der Länderjustizen zur Umsetzung technischer Fragen oft langwierig, teuer und im Ergebnis nicht zu 100 % zufriedenstellend sind. Auf die Frage, ob sich Herr Eisenreich vorstellen könne, hier auch über externe Dienstleister vorzugehen, wurde dies bejaht. Letztlich gehe es darum, rasch voran zu kommen.

IV. Resonanz und Ausblick Eine weitere Debatte der aufgeworfenen Themen erfolgte bei einer digitalen Veranstaltung der Humboldt-Universität Berlin am 26. Februar 2021. Bei dieser Veranstaltung wurden die Vorschläge des Diskussionspapiers erstmals in breitem Umfang mit Vertreterinnen und Vertretern von Wissenschaft und Anwaltschaft diskutiert.5 Insgesamt war die Resonanz auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe umfangreich und weit überwiegend positiv. Mir sind wenigstens 10 Berichte in der Tagespresse, wenigstens weitere 10 Beiträge in den Fachpublikationen und 10 wissenschaftliche Tagungen zum Thema bekannt. Das Besondere an der Tagung der FAU ist der interdisziplinäre Ansatz, der Blick über das Fachgebiet der Juristerei hinaus in die Informatik und der Blick in die Welt. Die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister von 26. bis 27. November 2020 in Bremen hat sich mit den Vorschlägen Arbeitsgruppe befasst und einen unterstützenden Beschluss gefasst.6 Das BMJV hat zwischenzeitlich die Erweiterung der sicheren Übermittlungswege und die Ein-

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Vgl. Tagungsbericht und eine Zusammenfassung der Beiträge in AnwBl. 2021, 280 ff. https://www.justiz.bremen.de/detail.php?gsid=bremen51.c.15475.de.

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führung besonderer elektronischer Anwaltspostfächer für Berufsausübungsgesellschaften ganz im Sinne der Arbeitsgruppe auf den Weg gebracht.7 Bei einer digitalen Sondersitzung am 8. Juni 2021 haben sich die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs abschließend mit dem Diskussionspapier befasst. Nach einer durchaus kontroversen Debatte wurde Folgendes beschlossen: 1. Auf Basis des Beschlusses der 71. Jahrestagung sehen sie das Bedürfnis und die Chance, die Instrumente der Zivilprozessordnung im Sinne einer sachgerechten und effizienten Durchführung und Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zu erweitern, zu modernisieren und damit auch zur Verfahrensbeschleunigung beizutragen. Maßstab ist dabei die Sicherung der hohen Qualität der Rechtsprechung sowie der Erhalt und die Stärkung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Ziviljustiz unter Beibehaltung der bewährten zivilprozessualen Prinzipien, insbesondere des Mündlichkeits-, des Unmittelbarkeits- und des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Die Präsidentinnen und Präsidenten danken den Mitgliedern der von ihnen eingesetzten Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ unter Leitung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg für ihre umfassende Arbeit. Sie sehen im vorgelegten Diskussionspapier eine gute Grundlage für weitere Überlegungen auf dem Weg zu gesetzgeberischen Lösungen. 2. Die Präsidentinnen und Präsidenten begrüßen, dass der Gesetzgeber mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften (BR-Drs. 145/21) und dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe (BR-Drs. 55/21) noch in dieser Legislaturperiode die auch von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Erweiterung der sicheren Übermittlungswege und die Einführung besonderer elektronischer Anwaltspostfächer für Berufsausübungsgesellschaften ermöglichen will. Sie bitten um zügige Anpassung der materiell-rechtlichen Formerfordernisse an die Regelungen zu elektronischen Formen im gerichtlichen Verfahren. 3. Sie befürworten die Prüfung einer gesetzgeberischen Umsetzung insbesondere nachfolgender Punkte durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: – die Erleichterung des digitalen Zugangs zur Justiz für Bürgerinnen und Bürger, – die Einrichtung virtueller Rechtsantragstellen, – die Einführung eines effizienten Online-Verfahrens in Streitigkeiten, die standardisierbare, regelmäßig auftretende Ansprüche von Verbrauchern gegenüber Unternehmen zum Gegenstand haben (sog. Massenverfahren), – die weitere Digitalisierung des Mahnverfahrens, – eine Ausweitung der Möglichkeiten online geführter Verhandlungen, 7 Gesetz zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften v. 7. 7. 2021, BGBl. I 2021, 2363, sowie Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 5. 10. 2021, BGBl. I 2021, 4607.

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– die Reform des elektronischen Empfangsbekenntnisses. 4. Die Präsidentinnen und Präsidenten freuen sich auf die Fortsetzung der Diskussion auch zu den weiteren Vorschlägen der Arbeitsgruppe unter Einbeziehung der Wissenschaft, der Anwaltschaft und anderer Partnerinnen und Partner im Prozess der Justizgewährung.

Gedanken zur digitalen Rechtsdurchsetzung durch Private* Von Franz Hofmann

I. Einleitung Die Welt erfährt einen tiefgreifenden Wandel. Nicht nur die globalen politischen Rahmenbedingungen verändern sich (absehbares Ende des Ölzeitalters, wachsendes Bewusstsein für die Auswirkungen des Klimawandels, der Aufstieg Chinas zur Weltmacht etc.), sondern auch die digitale Revolution wirbelt weltweit die Gesellschaften auf. Eine Vielzahl von Schlagworten zur Beschreibung der neuen disruptiven Technologien lässt sich mühelos aufsagen: Künstliche Intelligenz, autonome Systeme wie selbstfahrende Autos, soziale Netzwerke, vernetzte Produkte, Plattformökonomie etc. Von Bildung über Mobilität und Einkaufsverhalten bis hin zu politischen Bewegungen im Guten wie im Schlechten – im Grunde wird jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsbereich durch die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung auf den Kopf gestellt. Die Dramatik der Veränderung kann wohl kaum unterschätzt werden! Wird nun aber ausgerechnet die Durchsetzung des materiellen Rechts, insbesondere des Privatrechts, von der Dynamik der Entwicklungen verschont bleiben? Der Beitrag will aufzeigen, dass sich die infolge des tiefgreifenden technologischen Wandels abzeichnenden Veränderungen bei der Rechtsdurchsetzung nicht nur graduell auswirken werden, sondern letztlich eine Herausforderung für die Ausgestaltung der Rechtsordnung schlechthin bedeuten. Pointiert gesagt: Es geht nicht um die Frage, ob die E-Mail das Fax ersetzen sollte, sondern darum, wie sich letztlich die materiellen Rechtsregeln an die abzusehenden Veränderungen bei der Rechtsdurchsetzung anpassen werden müssen. Anhand ausgewählter Beispiele wird illustriert, wie die digitale Rechtsdurchsetzung Druck auf die Rechtsordnung insgesamt ausübt (II.). Zugleich wird versucht, beispielhaft Lösungsstrategien vorzustellen (III.). Der Beitrag endet mit drei Thesen (IV.). Der Begriff der Rechtsdurchsetzung wird im Folgenden weit verstanden. Unter Rechtsdurchsetzung wird nicht nur das staatliche zivilprozessuale Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren verstanden, sondern bereits die außergerichtliche Geltendmachung privatrechtlicher Ansprüche.1 Auf dieser Ebene werden schließlich in der * Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. 1 Dazu näher F. Hofmann/Sprenger, UFITA 2021, 249.

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Praxis viele Interessenkonflikte abschließend verhandelt. Wie im Titel des Beitrags bereits sichtbar gemacht, wird zudem allein die Perspektive des Privatrechts eingenommen.

II. „Digitale Rechtsdurchsetzung“ als Herausforderung für die Rechtsordnung schlechthin Dass die digitalen Möglichkeiten die Rahmenbedingungen der Rechtsdurchsetzung grundlegend verändern, vor allem aber auch das eigentliche materielle Recht herausfordern, soll exemplarisch durch folgende Beispiele belegt werden. 1. Industrialisierung der Rechtsdurchsetzung Die klassische Aufgabe des Zivilprozesses liegt darin, dem Kläger die Verwirklichung seines subjektiven Rechts, genauer: eines ihm zustehenden Anspruchs gegen den Beklagten, zu ermöglichen. Der Prozess hat den Hauptzweck, das private Recht des Einzelnen festzustellen und durchzusetzen.2 In diesem Sinne ist die Zivilprozessordnung auf die Durchsetzung subjektiver Rechte im Zwei-Personen-Verhältnis zugeschnitten. Die Beteiligung Dritter ist nur am Rande vorgesehen (vgl. §§ 64 – 77 ZPO). Der kollektive Rechtsschutz wird ebenfalls stiefmütterlich behandelt, auch wenn er zuletzt (im Lichte von Durchsetzungsdefiziten namentlich bei Streuschäden) eine Aufwertung erfahren hat.3 Die Digitalisierung eröffnet nun neue Perspektiven:4 Statt der Streitbeilegung zwischen Anspruchssteller und Anspruchsgegner rückt die Möglichkeit der Wertschöpfung in den Fokus. Unter dem Schlagwort „Industrialisierung der Rechtsdurchsetzung“5 wird beschrieben, dass mit Hilfe digitaler Werkzeuge („Tools“) auch die Durchsetzung geringfügiger Forderungen Gewinne versprechen kann. Eine weitreichende Digitalisierung des Prozesses der außergerichtlichen Durchsetzung und die dadurch gewonnene Möglichkeit einer zunehmend automatisiert erfolgenden Rechtsdurchsetzung ermöglicht eine entsprechende Skalierung. Die Rechtsdurchsetzung wird zum skalierbaren Geschäftsmodell. Selbstverständlich erwarten auch herkömmliche Anwaltssozietäten die Erwirtschaftung lukrativer Renditen; gleichwohl besteht ein kategorialer Unterschied in der Mandantenbetreuung zur Lösung von 2 Musielak, in: Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, Einl. Rn. 5; zu weiteren Prozesszwecken vgl. Gaul, AcP 168 (1968), 27. 3 Zuletzt Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher; kritisch zur richterrechtlichen Ausdehnung über § 8 UWG GK/ F. Hofmann, 3. Aufl. 2021, § 8 Rn. 111. 4 Vgl. auch Buchholtz, JuS 2017, 955 (956 f.); zu „Legal Tech“ Schoss, DSRITB 2020, 543. 5 Breidenbach, in: Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 2018, S. 37; ders., FS Heussen, 2009, S. 39 (40 f.).

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Einzelfällen und der computergestützten Durchsetzung von zuvor käuflich erworbenen Schadensersatzforderungen etc., deren Wert sich weniger beim einzelnen Gläubiger als infolge von Skaleneffekten beim Anbieter der Rechtsdurchsetzungsdienstleistung zeigt. Beispielhaft sei auf das Unternehmen „flightright“ verwiesen, dessen Geschäftsmodell auf der (digitalisierten) Durchsetzung von Fluggastrechten im Falle von Flugverspätungen oder -ausfällen beruht.6 Neuartig sind auch die Werbemöglichkeiten im Internet. So können Anwaltskanzleien schadensereignis- oder themenbezogen bundesweit Mandanten akquirieren.7 Einerseits erweist sich dies als Vorteil: Erstens wird die erforderliche Spezialisierung im Rechtsberatungsmarkt namentlich im Hinblick auf bundesweit aktive „Themenkanzleien“8 weiter vereinfacht. Zweitens wird die Chance erhöht, dass auch an sich kaum rentable Streitigkeiten Rechtsschutz erhalten. Während sich die Durchsetzung von Entschädigungszahlungen – deren Streitwert regelmäßig überschaubar ist (z. B. 50 % eines DB-Tickets für eine einfache Fahrt) – für den Einzelanwalt kaum rechnet, bewirkt die massenhafte Durchsetzung durch (digital arbeitende) Dienstleister, dass sich theoretisch bestehende Rechte vermehrt auch praktisch bewähren.9 Rechtsdurchsetzungslücken bei Streuschäden können verkleinert werden. Andererseits dürfen potentielle Nachteile nicht aus dem Blick geraten: Erstens besteht die Gefahr, dass Rechtsschutz dort gesucht wird, wo er eigentlich mangels Konflikts eigentlich gar nicht erforderlich ist. So mag einem Verbraucher wegen einer fehlerhaften Formulierung der Widerrufsbelehrung ein „Widerrufsjoker“ zustehen.10 Wenn er nun (durch Online-Werbung) aktiv auf die Möglichkeit des Widerrufs hingewiesen wird und unter Hinweis auf die Chance eines finanziellen Gewinns einen einschlägigen digitalen Dienstleister beauftragt, seinen Vertrag zu widerrufen, kann es sein, dass sich hier nicht der telos des Widerrufsrechts verwirklicht, sondern einzig und allein der wirtschaftliche Wert einer brachliegenden Forderung gehoben wird. (Dieser „Wert“ wird dabei regelmäßig darüber hinaus zu einem verhältnismäßig hohen Anteil vom Rechtsdurchsetzer beansprucht.) Hat das Unternehmen die Widerrufsbelehrung seinerzeit ohne Verschulden fehlerhaft formuliert und ohnehin längst angepasst, tritt zudem keinerlei Steuerungswirkung ein. Zweitens droht die Gefahr eines „Overenforcement“. Bei genauer Betrachtung hat die Rechtsordnung eingepreist, dass materielle Rechte punktuell nicht durchgesetzt werden. Namentlich die soziale Akzeptanz des Urheberrechts lebt davon.11 Tatsächlich muss nicht jeder Bagatellverstoß in gleicher Weise sanktioniert werden, wie beispielsweise die wiederholte Hinwegsetzung über Regeln des Wettbewerbsrechts mit 6

https://www.flightright.de/ (alle Internetseiten zuletzt besucht am 13. 04. 2022). Vgl. z. B. https://www.facebook-sperre.de. 8 Vgl. z. B. https://teslaanwalt.de/. 9 Fries, NJW 2021, 2537 (2540); Hähnchen/Schrader/Weiler/Wischmeyer, JuS 2020, 625 (630 f., 632 f.). 10 Vgl. nur Poelzig, NJW 2019, 3293. 11 F. Hofmann, NJW-aktuell 2020, Heft 36, S. 15. 7

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Gewinnerzielungsabsicht.12 Die vorletzte Reform des UWG zur Eindämmung von Abmahnmissbrauch belegt, dass eine zu aggressive Durchsetzung von Rechtsregeln auch aus Sicht des Gesetzgebers kontraproduktiv sein kann.13 2. Plattformen als „Richter“ Während wir an anderer Stelle dargelegt haben, dass das Schlagwort von der „Privatisierung der Rechtsdurchsetzung“ ungenau ist,14 werden zunehmend Rechtsstreitigkeiten faktisch abschließend durch Plattformen entschieden. Plattformen bieten vielfach selbst eigene Streitbeilegungsmechanismen an, die wiederum auf dem Einsatz digitaler „Tools“ basieren.15 Hierfür steht exemplarisch das „Meldesystem“ von YouTube für potenziell rechtswidrige Inhalte.16 Zugleich werden die Voraussetzungen der Rechtsdurchsetzung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen detailliert reguliert. Beispielhaft kann auf den PayPal-Käuferschutz17 oder den eBay-Käuferschutz18 verwiesen werden. Diese Dreiecksbeziehungen sind typisch für die Plattformökonomie. Auch dies hat den Vorteil, dass die schiere Fülle an Konflikten auf Online-Plattformen überhaupt erst bewältigt werden kann. Müssten sämtliche Streitigkeiten durch die staatliche Gerichtsbarkeit (über einstweilige Verfügungen) entschieden werden, käme das Justizsystem schnell an seine Belastungsgrenzen. Im Lichte einer pragmatischen Betrachtung ist dies schlicht anzuerkennen. Gefahr droht, wenn die Plattformen ihre eigenen Standards an die Stelle der (in Europa) geltenden Rechtsregeln setzen. Vor allem aber können sich Veränderungen bei den „Aktionslasten“ geben.19 Wer muss aktiv werden, wer darf passiv bleiben, um sein Recht zu verwirklichen? Genau dies ist vielfach für die Durchsetzung materieller Berechtigungen entscheidend. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob ein Internetnutzer eine urheberrechtliche Schrankenregelung (z. B. Nutzungserlaubnis zum Zwecke der Parodie) selbst erst aktiv (gerichtlich) geltend machen muss oder ob ihm umgekehrt der Urheber auf Unterlassung in Anspruch nehmen muss, weil der Nutzer zunächst die Handlung vornehmen konnte.

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Zu „Rechtsfolgendifferenzierung“ im Lauterkeitsrecht GK/F. Hofmann, UWG, 3. Aufl. 2021, § 8 Rn. 84 f. 13 Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs, BT-Drs. 19/12084. 14 F. Hofmann/Sprenger, UFITA 2021, 249. 15 Der Gesetzgeber versucht dem entgegenzusteuern und verlangt mitunter die Entscheidung durch einen Menschen, vgl. § 14 Abs. 5 Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG). 16 https://support.google.com/youtube/answer/2802027?hl=de. 17 https://www.paypal.com/de/webapps/mpp/paypal-safety-and-security. 18 https://pages.ebay.de/einkaufen/ebay-kaeuferschutz.html. 19 Vgl. näher Specht, GRUR 2019, 253 (259).

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In diesem Lichte ist auch die BGH-Entscheidung zum PayPal-Käuferschutz zu lesen.20 Hätte der BGH dem Verkäufer nicht die Möglichkeit eingeräumt, trotz der eigentlich eingetretenen Erfüllungswirkung der Zahlung über den Zahlungsdienstleister PayPal, die Forderung infolge einer Neubegründung nochmals einzufordern,21 könnte es dazu kommen, dass sich der (jenseits von Verbraucherschutzvorschriften) agierende Verkäufer mit dem Dienstleister selbst (auf Basis dessen Regeln) auseinanderzusetzen hätte. Hier droht im Vergleich zur vom BGH gewählten, wenn auch dogmatisch nicht über jeden Zweifel erhabenen Konstruktion,22 faktisch ein Rechtsschutzdefizit, zumal wenn insoweit möglicherweise ausländische Gerichtsstände vereinbart werden. Ob letzteres für das in Streit stehende Dreiecksverhältnis insgesamt überzeugt, erscheint fraglich. Das verdeutlicht zugleich, dass es in der Plattformökonomie zu Machtverschiebungen kommt, die nicht nur auf die Rechtsdurchsetzung, sondern auch auf das materielle Recht selbst Auswirkungen haben. 3. Technische Rechtsdurchsetzung Besonders deutlich wird der Druck der digitalen Rechtsdurchsetzung auf das materielle Recht schließlich bei einem Blick auf die Möglichkeiten der technischen Rechtsdurchsetzung. Hierfür lohnt sich ein kurzer Blick auf die Debatte um so genannte Uploadfilter. Werden Upload-Plattformen wie YouTube für von Nutzern hochgeladene Inhalte haftbar gemacht (vgl. nunmehr auch § 1 UrhDaG),23 werden sie versuchen, sich der Haftung dadurch zu entziehen, möglichst viele rechtswidrige Inhalte von vornherein nicht anzuzeigen. Praktisch verlangt dies nach technischer Hilfe, die in Filtertechnologien gefunden wird.24 Wegen der Unzulänglichkeiten der technischen Möglichkeiten wird weithin kritisiert, dass die Filter dazu führen, auch rechtmäßige Nutzungen auszuhebeln.25 Ähnliche Kritik erfahren Internetangebotssperren.26 Erneut zeigt sich, dass digitale Rechtsdurchsetzung durch Private wegen der beobachtbaren „Nebenwirkungen“ mehr ist als nur die effektive Verwirklichung subjektiver Rechte.

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BGH NJW 2018, 537; s.a. Guggenberger, NJW 2018, 1057. BGH NJW 2018, 537 Rn. 28 ff. 22 Kritisch zur Entscheidung u. a. Omlor, JuS 2018, 379. 23 Zu einer Einführung in die Intermediärshaftung F. Hofmann, JuS 2017, 713; zur Haftung von Facebook für Hatespeech vgl. EuGH GRUR 2019, 1208 – Eva Glawischnig-Piesczek/ Facebook; zur Sonderregelung für Diensteanbieter zum Teilen von Online-Inhalten und dem neuen Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG) F. Hofmann, NJW 2021, 1905. 24 Benjamin/Steinebach, ZUM 2020, 355. 25 Beispielsweise Spindler, NJW 2019, 3274 (3275); Specht-Riemenschneider, MMR 2019, 801 (801 f.); Müller-Terpitz, ZUM 2020, 365. 26 Dazu grundlegend (und mit Darstellung des technischen Hintergrunds) Grisse, Internetangebotssperren, 2018. 21

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Auch wenn Rechtsverletzungen z. B. über den Einsatz digitaler Wasserzeichen oder die Ermittlung von IP-Adressen verstärkt aufgefunden werden können,27 stärkt dies auf den ersten Blick aus gutem Grund gewährte subjektive (Urheber-)Rechte. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass eine vollumfängliche Rechtsdurchsetzung bei genauerer Betrachtung aber gar nicht wünschenswert ist. Die fehlende Durchsetzung im Einzelfall ist Teil des vom Recht insgesamt gewährten Interessenausgleichs, der dadurch in Frage gestellt wird.28 Die Rechtsdurchsetzung wird in letzter Konsequenz gar obsolet, wenn das Recht sich gleichsam automatisch verwirklicht („code is law“)29.30 Rechtsdurchsetzung wird beispielsweise dann hinfällig, wenn ein Auto technisch nicht schneller fahren kann als die erlaubte absolute Höchstgeschwindigkeit oder über die Verknüpfung von Verkehrszeichen, Navigationsgeräten und Fahrassistenten Geschwindigkeitsüberschreitungen von vornherein nicht möglich sein werden.

III. Mögliche Anpassungsstrategien Welche Schlüsse lassen sich daraus nun ziehen? Hier sollen einzig exemplarisch kurz drei Gedanken geäußert werden. 1. Analog ist nicht digital Im Ausgangspunkt kommt es darauf an, ein richtiges Verständnis für die Digitalisierung zu gewinnen. Zentral ist dabei die Einsicht, dass es für die Entwicklung der digitalen Rechtsordnung eine echte Übersetzungsleistung braucht. Überkommene Regulierungsansätze können nicht immer ohne Weiteres übernommen werden. Zu beachten sind nicht nur Unterschiede zwischen körperlichen und unkörperlichen Gütern (ein digitaler Inhalt kann beispielsweise ganz andere Reichweiten erhalten als selbst eine auflagenstarke traditionelle Tageszeitung), sondern auch die Besonderheiten der „Webkultur“. Dies bedeutet z. B., dass Internetnutzer bei der Rechtsdurchsetzung nicht nur digitale Pfade erwarten, sondern auch Schnelligkeit als Standard vorausgesetzt wird. „Meldebuttons“ auf den Seiten sozialer Netzwerke für (vermeintlich) rechtsverletzende Inhalte können funktional an die Stelle des einstweiligen Rechtsschutzes treten, ohne zugleich aber seine Verfahrensgarantien abzubilden.

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Zur Haftung von Internetanschlussinhabern vgl. Schaub, GRUR 2016, 152. F. Hofmann, NJW-aktuell 2020, Heft 36, S. 15; ders., in: Fries/Paal (Hrsg.), Smart contracts, 2019, S. 125. 29 Lessig, Code and Other Laws of Cyberspace, 1999. 30 Zu smart contracts Paulus/Matzke, NJW 2018, 1905; Kaulartz/Heckmann, CR 2016, 618. 28

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2. Weiterentwicklung der materiellen Rechtsordnung Wichtig ist zudem, dass die materielle Rechtsordnung die Veränderungen infolge digitaler Rechtsdurchsetzung nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch adäquate Antworten bereithält. Dies lässt sich besonders gut an einem Beispiel außerhalb des Privatrechts veranschaulichen. Würde kraft technischer Möglichkeiten jeder Geschwindigkeitsverstoß hundertprozentig sanktioniert, müsste in einem Atemzug überlegt werden, ob die materiell-rechtlichen typisierten Geschwindigkeitsvorgaben interessengerecht sind. Überzeugenderweise müsste auch das materielle Recht „digitaler“ werden, im konkreten Beispiel etwa durch digitale Verkehrsschilder, die die Geschwindigkeit nicht pauschal begrenzen, sondern abhängig von der tatsächlich (und nicht typisiert) vorliegenden Gefährdungssituation.31 Nur dann bliebe der Interessenausgleich gewahrt. Dazu noch ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, jedwede Rechtsregel würde ohne Wenn und Aber einhundertprozentig durchgesetzt. Dass dies vielfach zu überschießender Rechtsdurchsetzung führt, dürfte auf der Hand liegen. Rechtsverstoß ist nicht gleich Rechtsverstoß. Wenn also die Rechtsdurchsetzung erweitert wird, muss zugleich das materielle Recht angepasst werden, um – wie erwähnt – den gebotenen Interessenausgleich zu wahren. Auch die oben angesprochenen „Aktionslasten“ müssen vom Gesetzgeber bewusst (neu) verteilt werden. Wegweisend ist dabei das Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz.32 Hier wird genau geregelt, ob ein Inhalt trotz Beschwerden im Hinblick auf seine Rechtmäßigkeit zunächst online zu stellen ist (vgl. § 9 UrhDaG)33 oder umgekehrt vorläufig sofort zu entfernen ist (vgl. § 14 Abs. 4 UrhDaG).34 Hilfreich ist auch der Ansatz eines „law by design“, wobei der Gesetzgeber klare Vorgaben zu machen hat. 3. Prozeduralisierung der Haftung Nicht zuletzt wird es auf die interessengerechte Regulierung der Dreiecksverhältnisse auf Plattformen ankommen.35 Besondere Relevanz hat dies auch bei der Rechtsdurchsetzung. Auch wenn es formal um die Geltendmachung von Ansprüchen von Rechtsinhabern gegen die Plattform im Zwei-Personen-Verhältnis geht, ist der mit31

Vgl. F. Hofmann, NJW-aktuell 2020, Heft 36, S. 15. Übersicht bei F. Hofmann, NJW 2021, 1905. 33 § 9 Abs. 1 UrhDaG: „Um unverhältnismäßige Blockierungen beim Einsatz automatisierter Verfahren zu vermeiden, sind mutmaßlich erlaubte Nutzungen bis zum Abschluss eines Beschwerdeverfahrens (§ 14 UrhDaG) öffentlich wiederzugeben.“ 34 „Erklärt ein vertrauenswürdiger Rechtsinhaber nach Prüfung durch eine natürliche Person, dass die Vermutung nach § 9 Abs. 2 UrhDaG zu widerlegen ist und die fortdauernde öffentliche Wiedergabe die wirtschaftliche Verwertung des Werkes erheblich beeinträchtigt, so ist der Diensteanbieter in Abweichung von § 9 Abs. 1 UrhDaG zur sofortigen Blockierung bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens verpflichtet.“ 35 Mit Blick auf das Vertragsrecht vgl. Grünberger, AcP 218 (2018), 213 (280 ff.). 32

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betroffene Internetnutzer (dessen Beitrag gelöscht wird oder der passive Nutzer, der den Beitrag fortan nicht mehr einsehen kann) mitzudenken. Hier hilft eine weitreichende Prozeduralisierung der Haftung.36 Dadurch kann sichergestellt werden, dass materielle Rechtspositionen durch die Rechtsdurchsetzung nicht faktisch entwertet werden.

IV. Zusammenfassende Thesen 1. Die Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung durch Private ist mehr als die Frage nach dem Einsatz diverser digitaler „Tools“. Vielmehr bewirken die neuen Möglichkeiten der digitalen Rechtsdurchsetzung dramatische Auswirkungen auf die materielle Rechtsordnung. Recht wird nicht nur vielfach rigoroser durchgesetzt (Gefahr des „Overenforcement“), sondern auch zu neuen Zwecken (Rechtsdurchsetzung als Wertschöpfung) verwirklicht. 2. Die staatliche Gerichtsbarkeit muss nicht deshalb schneller „digital“ werden, weil Private bei der Rechtsdurchsetzung schon breit von digitalen Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Es ist vielmehr Aufgabe der Rechtsordnung, unerwünschte Nebenwirkungen bei der Rechtsdurchsetzung, beispielsweise durch private Intermediäre, abzustellen. Denkbar sind dabei beispielsweise Modifikation bei den Haftungsregeln oder zwingende Vorgaben zur Einhaltung diverser „Verfahrensgarantien“. 3. Der Rechtsstaat wird dann an Bedeutung und Vertrauen verlieren, wenn es ihm nicht gelingt, in der Digitalgesellschaft den Rechtsgewährleistungsanspruch im weitesten Sinne durchzusetzen. Auch in der Plattformökonomie muss staatlicher Rechtsschutz gewährleistet sein. Es darf zu keiner Auslagerung der Rechtsdurchsetzung an Private kommen; stets ist die staatliche Letztentscheidungskompetenz zu gewährleisten. Eine Arbeitsteilung mit Privaten, allen voran bei der Durchsetzung von Rechtsverletzungen auf Onlineplattformen, ist dabei bei pragmatischer Betrachtung freilich unerlässlich.

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Vgl. F. Hofmann, ZUM 2017, 102.

Teil 2 Strukturen von Daten und Verfahren als Voraussetzungen digitalen Prozessierens

Justizportal Von Annedore Flüchter Heutzutage erledigen viele Menschen ihre Angelegenheit wie zum Beispiel Bankgeschäfte oder die Steuererklärung online von zuhause aus. Sie erwarten, dass sie im Internet gut verständliche Informationen erhalten und zumindest kleinere Angelegenheiten und erste Fragen direkt klären können. Diese Erwartungen sollten auch die Gerichte erfüllen und nicht nur privatwirtschaftliche LegalTech-Portale. Das ist nicht nur Service, es entspricht auch unserem Selbstverständnis als Gerichte, dass wir die erste Anlaufstelle für Menschen sind, die ihre Rechte geltend machen wollen. Auch deshalb haben die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ eingesetzt, um Wege zu erarbeiten, den Menschen durch den Einsatz moderner Technik den Zugang zu ihrem Recht zu erleichtern. Gegenstand dieses Betrags sind zwei aus Sicht der Arbeitsgruppe naheliegende Beispiele, wie der Einsatz von Informationstechnologie den Zugang der Menschen zu ihrem Recht erleichtern und verbessern kann, und zwar ein echtes Online-Mahnverfahren (unten zu I.) und eine Online-Rechtsantragsstelle (unten zu II.). Schließlich soll (unten zu III.) die Idee einer Bündelung der digitalen Angebote in einem Justizportal vorgestellt werden.

I. Echtes Online-Mahnverfahren Das Mahnverfahren ist sicherlich das bereits am stärksten automatisierte Verfahren im Zivilprozess. Es herrscht Formularzwang. Der Antrag ist grundsätzlich handschriftlich zu unterzeichnen. Alternativ kann ein online1 erstellter Datensatz qualifiziert elektronisch signiert oder auf einem sicheren Übermittlungsweg übermittelt werden. Privatpersonen haben regelmäßig nicht die Ausstattung zur Anbringung einer qualifizierten elektronischen Signatur und nutzen bislang kaum einen sicheren Übermittlungsweg. Der bislang für alle zugängliche sichere Übermittlungsweg „DeMail“ hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Es bleibt zu wünschen, dass sich 1

www.online-mahnantrag.de.

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Annedore Flüchter

das noch einzurichtende besondere elektronische Bürger- und Organisationenpostfach (kurz: eBO)2 durchsetzen wird. Damit verbleibt aktuell die Möglichkeit der Einreichung eines handschriftlich unterschriebenen Antrags. Praktisch besteht die Wahl, das offizielle Papierformular auszufüllen, zu unterschreiben und per Post an das Mahngericht zu senden oder das sogenannte Barcode-Verfahren zu nutzen. Beim Barcode-Verfahren gibt man die relevanten Daten online3 in ein Formular ein. Die Daten werden gespeichert. Das System generiert ein Schreiben, das einen Barcode enthält. Wenn das Mahngericht diesen Barcode einscannt, kann es auf die gespeicherten Daten zugreifen. Um auf diesem Weg einen wirksamen Mahnantrag einzureichen, muss das vom System generierte Schreiben unterschrieben und an das Mahngericht gesandt werden. Dieses Verfahren mit einem doppelten Medienbruch ist umständlich und wenig zeitgemäß. Hierdurch im Einzelfall entstehende Probleme, zum Beispiel fehlende Leserlichkeit des Barcodes, sind den Antragstellerinnen und Antragstellern nicht immer gut zu vermitteln. Aus Sicht der Arbeitsgruppe soll ermöglicht werden, das Mahnverfahren komplett online zu führen. Dies ist denkbar, wenn sich das eBO etabliert und auf diesem Weg der Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids wie auch Folgeanträge (Antrag auf Erlass eines Vollstreckungsbescheids, Neuzustellungsanträge etc.), aber auch Erklärungen des Antragsgegners wie ein Widerspruch gegen den Mahnbescheid sicher und schriftformersetzend übermittelt werden können. Alternativ könnte ein vollständiges Online-Mahnverfahren dadurch etabliert werden, dass eine online erfolgende Dateneingabe mit einer zweifelsfreien Identifizierung verbunden wird. Hierzu könnte das noch vorzustellende Justizportal genutzt werden.

II. Online-Rechtsantragsstelle Der früheste und zwingend unmittelbare Kontakt zwischen rechtsuchendem Publikum und Gericht erfolgt in der Rechtsantragsstelle. In der Rechtsantragsstelle werden gem. § 129a ZPO Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle aufgenommen. Dies ist zulässig, wenn für eine Erklärung kein Anwaltszwang besteht oder wenn die Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle ausdrücklich zugelassen ist.4 Die in der Rechtsantragstelle regelmäßig eingesetzten 2 Vgl. Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften, Entwurf vom 13. 04. 2021, BT-Drs. 19/ 28399. 3 Auch hier: www.online-mahnantrag.de. 4 Z. B. §§ 44 Abs. 1, 91a Abs. 1, 109 Abs. 3, 117 Abs. 11, 118 Abs. 1, 248 Abs. 1, 381 Abs. 2, 386 Abs. 4, 406 Abs. 2, 486 Abs. 4, 569 Abs. 3, 630 Abs. 2, 715 Abs. 2, 920 Abs. 3, 936 ZPO.

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Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger stellen sicher, dass das rechtliche Anliegen des rechtsuchenden Publikums den in der einschlägigen Prozessordnung vorgesehenen Erfordernissen entsprechend abgefasst wird, dass insbesondere sachgerechte Anträge und Erklärungen abgegeben werden. Über die dazu erforderlichen Hinweise hinaus erfolgt keine Rechtsberatung. Die Antragstellung gem. § 129a ZPO setzt nach geltendem Recht die körperliche Anwesenheit der zu beratenden Menschen bei der Protokollierung der Anträge voraus. Eine telefonische Antragstellung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs5 unzureichend: Die Anwesenheit sei zu Beweiszwecken erforderlich; das Mindestmaß an Form solle die Betroffenen auch von übereiltem Handeln abhalten. Zugleich dürfte das derzeitige Verfahren der Antragsaufnahme, das eine persönliche Vorsprache beim Amtsgericht erfordert, manche Menschen daran hindern, ihr Recht geltend zu machen. Und das steht der zentralen Intention des § 129a ZPO entgegen, Rechtsuchenden den Zugang zum Gericht zu erleichtern. Die Lösung sieht die Arbeitsgruppe in der Einrichtung einer Online-Rechtsantragsstelle. Hier sollten zunächst die erforderlichen Angaben über online zur Verfügung stehende Eingabemasken strukturiert abgefragt werden. Auch bietet es sich teilweise an, intelligente Eingabe- und Abfragesysteme zu etablieren, die den Rechtsuchenden helfen, die erforderlichen Angaben zu machen. Denkbar ist auch die automatisierte Überprüfung von Eingaben auf ihre Plausibilität. Diese Angaben können so dem Gericht in einer vorstrukturierten Form zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise dürften sich bereits einige Fragestellungen abschließend klären lassen. Vielfach wird aber auch in der Online-Rechtsantragsstelle ein intensiverer Kontakt der Rechtsuchenden mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter des Gerichts zielführend oder auch zwingend erforderlich sein. Hierzu kann audiovisuelle Kommunikationstechnik eingesetzt werden. In virtuellen Kommunikationsräumen können auch Unterlagen hochgeladen und gemeinsam eingesehen werden. Voraussetzung einer wirksamen Abgabe einer Erklärung mittels eines rein virtuellen Kontakts ist auch hier eine zweifelsfreie Identifizierung der Person, die die Erklärung abgibt. Das vorstehend skizzierte Verfahren kann ebenso gut für die erforderliche Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sorgen wie die zeitgleiche räumliche Anwesenheit in der Rechtsantragsstelle beim Amtsgericht: Die Identität des Gegenübers wird sicher festgestellt. Ebenso können Antragstellerinnen und Antragsteller von übereilten Anträgen abgehalten werden, kann die Ernsthaftigkeit ihres Ansinnens mit ihnen geprüft werden. Ebenso sollte eine rein virtuelle Kommunikation im Bereich der Beratungshilfe möglich sein, die regelmäßig auch in der Rechtsantragsstelle bearbeitet wird. Hier werden unter bestimmten Voraussetzungen Berechtigungsscheine erteilt, die die kos5

BGH NJW-RR 2009, 852 (853).

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tenfreie Rechtsberatung bei einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt der Wahl ermöglichen. Dabei kann der Antrag auf Beratungshilfe zwar gem. § 4 Abs. 2 S. 1 BerHG auch mündlich gestellt werden. Praktisch besteht nach geltendem Recht aber auch hier nur die Wahl zwischen der rein schriftlichen Kommunikation oder des persönlichen Aufsuchens des Amtsgerichts. Denn § 4 Abs. 3 BerHG verpflichtet die Antragstellerinnen und Antragsteller auch bei mündlicher Antragstellung, dem Antrag auf Beratungshilfe unter anderem eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beizufügen. Gem. § 4 Abs. 4 S. 1 BerHG kann das Gericht die Glaubhaftmachung der Angaben verlangen. Praktisch dürften daher immer Unterlagen zu den Einkünften und berücksichtigungsfähigen Ausgaben vorzulegen sein – sei es schriftlich oder persönlich. Auch hier könnte der Zugang zur Beratungshilfe durch den Einsatz moderner Technik erleichtert werden: Aufbauend auf dem bestehenden Vordruck sollte eine intelligente Eingabemaske entwickelt werden; eine Unterstützung durch Chatbots, die die Rechtsuchenden mittels gezielter und einfacher Fragen durch die Antragstellung leiten, wäre hilfreich. Weitere Beratung könnte nach zweifelsfreier Identifizierung telefonisch oder unter Verwendung audiovisueller Kommunikationstechnik erfolgen.

III. Justizportal Das echte Online-Mahnverfahren und die Online-Rechtsantragstelle sind nur zwei Beispiele dafür, wie den Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zum Recht durch eine verstärkte Digitalisierung erleichtert werden kann. Denkbar sind zudem spezielle reine Online-Verfahren wie das Beschleunigte Online-Verfahren, das die Arbeitsgruppe weiter konturiert hat. Ebenso ist an den aufgrund der Pandemie jüngst erfolgten praktischen Ausbau der Möglichkeiten von Online-Verhandlungen gem. § 128a ZPO zu denken. Die Arbeitsgruppe hat sich zunächst auf den Zivilprozess konzentriert, der aber nur einen Teil der Tätigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellt. Gerade bei den Amtsgerichten besteht im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit vielfach das Erfordernis, zur Antragstellung das Gericht aufzusuchen; hier könnten insbesondere die vorstehenden Gedanken zur Online-Rechtsantragsstelle fruchtbar gemacht werden. Aus Sicht der Arbeitsgruppe ist es wichtig, die digitalen Angebote zentral und gebündelt in einem Justizportal zur Verfügung zu stellen, also einen bundesweit einheitlichen digitalen Zugang zu den Gerichten zu schaffen. Ein solches Justizportal sollte leicht verständliche Informationen und Entscheidungshilfen enthalten, die direkte Kommunikation – als sicherer Übermittlungsweg gem. § 130a ZPO – mit den zuständigen Gerichten und in geeigneten Fällen auch eine unmittelbare und digitale Interaktion ermöglichen.

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Gerade für den Verfahrenseinstieg sollte es den rechtsuchenden Menschen auch die Verfahrenswahl erleichtern. Hierzu sollen zum Beispiel gut verständliche Erläuterungen erfolgen, welche Verfahrensformen es gibt (Mahnverfahren, „normales“ ZPO-Verfahren, Beschleunigtes Online-Verfahren) und welche Verfahrensform jeweils zielführend ist und wann jeweils welche Kosten entstehen. Zudem müssen Hinweise erfolgen, in welchen Fällen dem gerichtlichen Verfahren gem. § 15a EGZPO zwingend ein außergerichtliches Schlichtungsverfahren vorgeschaltet ist. In diesem Zusammenhang sind auch Hinweise auf weitere Konfliktlösungsansätze bei den Gerichten (Güterichter/innen, Prozessvergleich) und auch außerhalb (z. B. Schlichtungsstellen oder Mediation) denkbar. Das Justizportal sollte die digitalen Angebote der Gerichte bündeln und als einheitliche digitale Anlaufstelle für die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger dienen. Zwingend für den Erfolg eines solchen bundesweit einheitlichen Justizportals ist, dass es gelingt, durch die gemeinsame Pflege eines bundesweit einheitlichen Systems hohe Standards hinsichtlich der Richtigkeit und Aktualität, der Bedienungsfreundlichkeit, der Kompatibilität und des Datenschutzes zu gewährleisten.

IV. Ausblick Die Arbeitsgruppe hat sich damit beschäftigt, wie mit digitalen Mitteln der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht und zu den Gerichten erleichtert werden kann. Schon der Aufbau des vorgeschlagenen Justizportals, das allein die Angebote der Gerichte bündelt, ist eine große Herausforderung. Deren erfolgreiche Bewältigung wird nicht nur erhebliche Ressourcen, sondern auch viel Offenheit und Kompromissbereitschaft erfordern, denn: Die Justiz ist weitestgehend Ländersache. Auch im Zivilprozess, in dem die zentralen Regelungen Bundesnormen sind, bestehen viele regionale Unterschiede und Besonderheiten: Von teils unterschiedlichen Rechtsnormen (zum Beispiel zur obligatorischen Streitschlichtung gem. § 15a EGZPO) über Unterschiede in den etablierten (auch organisatorischen) Abläufen bis hin zur Mentalität, die auch Auswirkungen auf die favorisierte Art und Weise der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern hat. Natürlich ist es denkbar, ein funktionierendes Justizportal mit anderen Angeboten zu verknüpfen. Denkbar sind ohne Weiteres Schnittstellen für Fachverlage, die – vergleichbar mit Verbrauchersoftware für eine Steuererklärung – den einzelnen Rechtsuchenden eine noch komfortablere Befüllung der Online-Formate der Justiz ermöglichen. Auch eine Verknüpfung mit (nicht kommerziellen) außergerichtlichen Konfliktlösungsangeboten erscheint möglich. Voraussetzung für jede Erweiterung des Justizportals um Drittangebote ist, dass die Unabhängigkeit und Neutralität der Gerichte gewährleistet bleibt. Das wäre in jedem Einzelfall zu prüfen.

Bürgerportal als Konfliktanlaufstelle Von Josephine Odrig

I. Problemaufriss Im Diskussionspapier zur Modernisierung des Zivilprozesses schlägt die im Auftrag der PräsidentInnen der obersten Gerichte und des BGH eingesetzte Arbeitsgruppe die Einrichtung eines Justizportals vor.1 Mit Hilfe eines solchen Portals soll der Bürger von Zuhause aus mit wenigen Klicks die gerichtlichen Verfahren kennenlernen und sogar einleiten können. Die derzeit bestehenden Hürden zum gerichtlichen Rechtsschutz sollen damit abgebaut, der Zugang zum Recht verbessert werden.2 Es ist angedacht, dem Bürger alle gerichtlichen Verfahren ohne Anwaltszwang gut verständlich zu erläutern, um ihm so bei der Wahl des passenden Verfahrens zu helfen.3 Hat er sodann gewählt, soll direkt über das Portal dieses Verfahren unmittelbar eingeleitet werden können.4 Damit wird der Bürger direkt und einfach in ein gerichtliches Verfahren geleitet. Also in ein Verfahren, das regelmäßig mit einer verbindlichen Entscheidung endet, das formalisiert und an Gerichtskosten geknüpft ist und bei dem ein einfacher, kostenfreier Abbruch grundsätzlich nicht möglich ist. Für andere Verfahren außerhalb der Justiz bleibt damit kein Platz, sie werden sozusagen abgeschnitten. Der Bürger wird direkt zu den entsprechenden Informationen und darauf aufbauend zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gelenkt. Erhält er auf diesem Weg nicht die notwendigen und insbesondere vollständigen Informationen über alle bestehenden alternativen Konfliktlösungsmöglichkeiten, besteht die Gefahr, dass er in seinem Recht, eigene Konflikte selbständig, also privatautonom zu lösen,5 beschnitten wird. Selbst wenn das eingeleitete gerichtliche Verfahren im Einzelfall das passende Verfahren für den konkreten Konflikt darstellen sollte, so endet es dennoch regelmäßig mit 1 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs, Diskussionspapier, S. 10 ff., abrufbar unter: www.jus tiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussions papier_ag_modernisierung.pdf (zuletzt abgerufen: 13. 05. 2022). 2 Diskussionspapier (Fn. 1), A. 3 Diskussionspapier (Fn. 1), B.I.4.c. 4 Diskussionspapier (Fn. 1), B.I.4.a. 5 Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, 2001, S. 346 f.

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einer finalen Entscheidung. Das ist aber dann problematisch, wenn die Entscheidung des Bürgers für das gerichtliche Verfahren auf unvollständigen Informationen fußt. Insoweit könnte der einfache Zugang zum Recht ins Gegenteil verkehrt werden. Zu befürchten wäre eine Beschneidung des selbstbestimmten Zugangs zum Recht, also zum Recht auf selbständige Entscheidung über das Verfahren der Konfliktlösung, und eine gegenteilige Wirkung des Modernisierungszwecks könnte die Folge sein.

II. Zugang zum Recht 1. Begriffsklärung Fraglich ist, ob durch eine solche Ausgestaltung des Portals der justizielle Zugang tatsächlich einfacher wird. Dazu sollte zunächst der Terminus „Zugang zum Recht“ näher in den Blick genommen werden. Ausgehend von der US-amerikanischen Debatte zum „access to justice“6 ist deren Kern der einfache Zugang zum Gerichtsverfahren und zur Rechtsdurchsetzung.7 Mittlerweile wird der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen verwendet und mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen.8 Neben dem „Zugang zum Recht“ und „zur Justiz“ wird bisweilen der Terminus „Zugang zur ADR“ benutzt.9 Insbesondere hat aber eine Ausweitung des Begriffsverständnisses auf außergerichtliche Verfahren stattgefunden. Je nach Zielrichtung geht es vor allem um den Abbau von Hindernissen oder eine verfahrensunabhängige Betrachtung, die sich dann regelmäßig auf die Verfolgung der materiellen Rechte bezieht.10 Unterschieden wird ferner zwischen dem „Ob“ (Zugang) und dem „Wie“ (zum Recht).11 Diese verschiedenen Denkrichtungen, die sich zum einen auf das Gerichtsverfahren, zum anderen aber auch auf die alternativen Verfahren beziehen, werden bisweilen als widersprüchlich angesehen,12 scheinen sich doch die alternativen Konfliktlösungsverfahren und der Zugang zum Recht auszuschließen. Tatsächlich stellen diese Ansätze jedoch keinen Widerspruch, sondern eher eine inhaltliche Ergänzung dar. In der wissenschaftlichen Literatur wird dennoch stets das Augenmerk auf die Frage gelegt, welches Verfahren – der Gerichtsprozess oder die alternativen Verfahren – den „besseren“ Zugang zum Recht gewährleistet.13 Regelmäßig folgt darauf die Erkenntnis, dass die alternativen Konfliktlösungsverfahren zwar den einfacheren Zu6

Cappelletti/Garth/Trocker, RabelsZ 40 (1976), 669 (669 ff.). Vgl. Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (64 f.). 8 Hidding, Zugang zum Recht für Verbraucher, 2019, S. 52 f. 9 Fries, Verbraucherrechtsdurchsetzung, 2016, S. 4. 10 Lohr, Verbraucherstreitbeilegung und Verbraucherschutz, 2021, S. 41. 11 Hidding (Fn. 8), S. 54. 12 Lohr (Fn. 10), S. 43. 13 So z. B. Hidding (Fn. 8); Engel, NJW 2015, 1633 ff. 7

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gang bieten, dafür aber „weniger Recht“.14 Das ist wenig überraschend. Versteht man nämlich den Begriff „Recht“ im Ursprungssinn als Gesetzesrecht und weist ihm nicht die Gerechtigkeit15 oder eine andere Bedeutung zu, so zielt der „Zugang zum Recht“ auf den Zugang zur materiellen Rechtsdurchsetzung. Die außergerichtlichen Konfliktlösungsverfahren legen aber gerade nicht das Gesetzesrecht als (alleinigen) Maßstab zugrunde, sondern dienen dem Interessenausgleich und basieren daher auf den parteilichen Interessen.16 Demgegenüber dient das Gesetzesrecht dem Gericht als (alleiniger) Maßstab.17 Nach dieser Lesart würde sich der Terminus lediglich auf den Zugang zum gerichtlichen Verfahren beziehen, ist doch allein über die Justiz eine materielle Rechtsdurchsetzung möglich.18 Doch welche Rolle spielen dann die alternativen Verfahren beim Zugang zum Recht bzw. zur Justiz? Allen Verwendungen des Terminus ist gemein, dass sie den Zugang durch Reduzierung von Hindernissen vereinfachen wollen – entweder den Zugang zur Justiz oder zum alternativen Konfliktlösungsverfahren. Hierzu gibt es diverse Möglichkeiten: Beispielsweise die Einrichtung digitaler Plattformen zur Vereinfachung der Klageeinreichung, finanzielle Unterstützung, die Erhöhung der Bekanntheit einzelner Verfahrensmöglichkeiten oder auch eine Steigerung der Attraktivität.19 Soll das Gerichtsverfahren aber attraktiver werden, so muss es zugleich effektiver arbeiten. Dazu sind Personalaufstockungen möglich, aber auch Entlastungen denkbar.20 Und genau an diesem Punkt wird die alternative Konfliktlösung relevant. Besteht nämlich ein einfacher, kostengünstiger Zugang zu den alternativen Verfahren,21 werden vorrangig diese genutzt – vorausgesetzt, die Parteien haben (über das Justizportal) Kenntnis davon erhalten. Lediglich als ultima ratio dient das Gericht dann der Rechtsdurchsetzung,22 insbesondere für stark eskalierte Kon14

Daher auch der Titel „mehr Zugang zu weniger Recht“ von Engel (Fn. 13), 1633 ff. Würde das „Recht“ in diesem Sinne verstanden werden, wäre schon zweifelhaft, ob das Gerichtsverfahren in jedem Fall darunter zu fassen wäre. Können sich doch aufgrund von Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung gelegentlich im Einzelfall „ungerechte“ Entscheidungen ergeben. Auch wäre die Frage, welche Form der Gerechtigkeit hier gemeint sei. Ausgehend von der Ursprungsverwendung des Terminus ist aber unzweifelhaft, dass der Zugang zur Justiz zumindest einen Teil des Zugangs zum Recht darstellen muss. 16 Vgl. Berlin, Alternative Streitbeilegung in Verbraucherkonflikten, 2014, S. 141 ff. (Verbraucherschlichtung); Wendenburg, Der Schutz der schwächeren Partei in der Mediation, 2013, S. 39 (Mediation). Das materielle Recht kann dann für die Konfliktlösung maßgebend sein, wenn die parteilichen Interessen sich (ggf. allein) darauf beziehen. 17 Art. 97 I GG; § 1 GVG. 18 So letztlich auch Fries (Fn. 9), S. 256. 19 Vgl. dazu die Vergleichspunkte bei Hidding (Fn. 8), S. 64 ff. 20 Vgl. Borowski/Röthemeyer/Steike/Röthemeyer, VSBG-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Einf. Rn. 4 (Verbraucherstreitbeilegung als „dritter Weg“). 21 Der „Zugang zur alternativen Konfliktlösung“ bezieht sich daher nicht auf den „Zugang zum Recht“, sondern betrifft allein die Vss.en des Zugangs zu diesen Verfahren, vgl. z. Verw. Hirsch, NJW 2013, 2088 (2090 ff.); Rühl, ZZP (127) 2014, 61 (71 ff.). 22 So etwa auch Greger/Unberath/Steffek/Greger, AKL-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Teil A Rn. 4. 15

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flikte oder solche Verfahren, bei denen eine Präzedenzentscheidung auch im Interesse der Parteien dringend geboten ist. Durch diese vorrangige Inanspruchnahme der alternativen Verfahren wird zugleich eine Entlastung der Gerichte bewirkt, was wiederum zu einem effektiveren Verfahren führt. Damit wird das Hindernis der fehlenden Attraktivität (wegen geringer Effektivität) abgebaut und somit ein leichterer Zugang zu Gericht geschaffen. Zudem können die alternativen Verfahren eine Vorbereitungsfunktion übernehmen. Durch den Abbau von insbesondere psychischen Zugangsbarrieren, wie etwa Schwellenangst,23 erscheint der Weg zum Gericht nach Scheitern eines alternativen Verfahrens als logische Konsequenz. Dies wird umso mehr gefördert, wenn das außergerichtliche Konfliktlösungsverfahren auch noch eine Prognosewirkung übernimmt. Wurde etwa in einem Schlichtungsverfahren die eigene Rechtslage bereits positiv beurteilt, ist dann aber keine Lösung zustande gekommen, wird sich auch hier die Partei eher zu einer Klage entschließen.24 Wird der Zugang „zum Recht“ hingegen im Sinne des Rechtsschutzes ausgelegt, so würde sich für die Beurteilung nicht viel Anderes ergeben. Der Schutz aller (gesetzlichen, vertraglichen, verfassungsmäßigen und auch ungeschriebenen) Rechte kann denn nur umfassend gewährleistet werden, wenn sich alle Verfahren ergänzen und damit ein ganzheitliches Konfliktlösungssystem25 bilden.26 Auf einer Vorstufe schützen die alternativen Verfahren die (normierten und nicht normierten) Interessen der Parteien und die Gerichte übernehmen auf der zweiten Stufe die Durchsetzung des materiellen Rechts. Wie auch zuvor wird durch die Entlastungs-, Vorbereitungsund Prognosewirkung der alternativen Verfahren der Zugang zum Gericht erleichtert. Der Terminus „Zugang zum Recht“ kann sich also zum einen auf das auf Rechtsdurchsetzung gerichtete justizielle Verfahren beziehen, zum anderen aber auch auf den Rechtsschutz. Durch die genannten Wirkungen der alternativen Verfahren wird der Zugang zum Gericht bzw. zum Rechtsschutz erleichtert. So entsteht ein ganzheitliches Konfliktlösungssystem, in dem (auch) die alternativen Verfahren Instrumente des Rechtsschutzes, nicht aber der Rechtsdurchsetzung, darstellen. Lediglich durch das Zusammenspiel aller (gerichtlicher und außergerichtlicher) Konfliktlösungsverfahren ist ein optimaler Rechtsschutz möglich.

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Prütting, in: Breidenbach/Henssler (Hrsg.), Mediation für Juristen, S. 57 (S. 62). Roder/Röthemeyer/Braun/Braun, Verbraucherstreitbeilegungsgesetz, 2017, § 2 Rn. 135. 25 Ähnlich Greger, ZKM 2007, 130 („pluralistische[s] Rechtsschutzsystem“). 26 Zur Ergänzungsfunktion BT-Drs. 18/5089, S. 38 (zum VSBG); Greger/Unberath/Steffek/Greger (Fn. 22), Teil A Rn. 4; Berlin (Fn. 16), S. 59 ff. m. w. N. 24

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2. Einfacher Zugang zum Recht Die alternativen Verfahren zur Vereinfachung des Zugangs zum Recht zu nutzen, dafür haben sich der europäische27 und auch der deutsche Gesetzgeber28 ebenso wie die Rechtsprechung29 schon mehrfach ausgesprochen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Sinne entschieden: Indem das Gericht der einvernehmlichen Streitbeilegung einen Vorrang gegenüber der streitigen (Gerichts-)Entscheidung einräumt,30 hat es die alternativen Konfliktbeilegungsverfahren in ihrer Wirkung als Entlastungs-, Vorbereitungs- und Prognoseverfahren für das Gericht unterstützt. Aus diesem Beschluss aus dem Jahre 2007 wird aber zugleich ersichtlich, dass drei Komponenten erfüllt sein müssen, damit die entlastende Wirkung der alternativen Konfliktlösungsverfahren tatsächlich eintritt: Zum einen muss überhaupt die Option bestehen, dass der Konflikt einvernehmlich beigelegt werden kann. Eine tatsächliche Nutzung muss also möglich sein.31 Außerdem sollte in einer zweiten Stufe darauf hingewirkt werden, dass die einvernehmliche Konfliktlösung auch tatsächlich versucht wird. Und letztlich muss auf der dritten Stufe das Gerichtsverfahren als ultima ratio32 zur Verfügung stehen. Eine tatsächlich positive Wirkung und damit auch ein leichterer Zugang zum Gericht tritt also nur dann ein, wenn die Konfliktparteien zuvor auch tatsächlich die Option zur einvernehmlichen Streitbeilegung erhalten. Diese können sie aber nur wahrnehmen, wenn sie davon Kenntnis haben. Notwendig ist also eine umfassende Information der Parteien über die im konkreten Fall bestehenden Möglichkeiten. Nur so werden sie sich frei für ein alternatives Verfahren entscheiden33 und damit zu einem leichteren Zugang zum Recht beitragen. 3. Selbstbestimmter Zugang zum Recht Teil des Zugangs zum Recht ist aber auch, dass der Bürger selbst entscheiden kann, mit Hilfe welchen Verfahrens (bzw. Lösungsvorschlags) er letztlich seinen Konflikt lösen möchte.34 Ein solches Erfordernis ergibt sich direkt aus der Vertragsfreiheit, die Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit ist.35 Bereits die prominente Stel27

Insb. ErwGr 2, 5 RiLi 2008/52/EG über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen (Mediations-RiLi); s.a. ErwGr 4, 60 der RiLi 2013/11/EU über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten (ADR-RiLi). 28 Etwa BT-Drs. 14/980, S. 5 (G zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung); BT-Drs. 18/5089, S. 38 (VSBG). 29 BGHZ 161, 145; EuGH ZKM 2010, 92 ff. m. Anm. Wagner. 30 BVerfG ZKM 2007, 128 (129, Rn. 35) m. Anm. Greger. 31 S.a. Hidding (Fn. 8), S. 54. 32 Greger/Unberath/Steffek/Greger (Fn. 22), Teil E Rn. 3. 33 Zur „freien und wohlinformierten Entscheidung“ vgl. Fries (Fn. 9), S. 6. 34 Vgl. auch Fries (Fn. 9), S. 5 f. 35 BVerfGE 8, 274 (328); 95, 267 (303) und st. Rspr.

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lung dieser Freiheit in Art. 2 Abs. 1 GG, also gleich nach der Menschenwürde,36 zeigt deren grundlegende Bedeutung für die deutsche Gesellschaft und deren Rechtssystem.37 Ein Jeder soll selbstbestimmt Verträge schließen können. Übereinstimmende Interessen sollen mit Hilfe von Verträgen festgehalten und entgegenstehende Interessen über diese ausgeglichen werden können.38 Dem Einzelnen steht es also frei, seine Konflikte selbständig zu lösen – solange dies nicht in Selbstjustiz mündet.39 Die Konfliktparteien können folglich selbstbestimmt darüber entscheiden, ob und wie40 sie ihren Konflikt lösen (lassen).41 Zwar ist eine Verpflichtung zum Versuch eines unverbindlichen Konfliktlösungsverfahrens mit dem Justizgewährungsanspruch (nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip) vereinbar42 – die Parteien können jederzeit in ein anderes (z. B. ein Gerichts-)Verfahren wechseln. Hier besteht bis zum Abschluss eines Vergleichs stets die Möglichkeit, sich selbstbestimmt für ein anderes Verfahren zu entscheiden. Wird der Bürger jedoch in ein gerichtliches Verfahren geleitet, entfällt diese Option mit Einleitung des Verfahrens. Hier hat er gerade nicht die Möglichkeit, jederzeit unproblematisch zu entscheiden, ob er (wie etwa in der unverbindlichen Schlichtung) den Lösungsvorschlag annehmen oder die einvernehmliche Lösung (wie bspw. in der Mediation) vereinbaren will. In dem Zeitpunkt, in dem die Klage eingereicht wird, kann einer verbindlichen Entscheidung nur noch durch Kompromisse (gerichtlicher Vergleich zur Vermeidung der Entscheidung) oder finanziellen Verlust (Klageverzicht oder -rücknahme) entgangen werden. Damit ergibt sich aus dem Zugang zum Recht zugleich die Notwendigkeit, den Bürger umfassend über seine Alternativen zu informieren, bevor er diesen letzten Schritt geht. Je einfacher dabei der Zugang zum Gerichtsverfahren ausgestaltet wird, desto notwendiger ist diese Information. Nur so kann eine Bevormundung des Bürgers vermieden werden und sein Zugang zum Recht entsprechend des Justizgewährungsanspruchs (einfach) ausgestaltet werden.

III. Gegenteilige Wirkung Modernisierungszweck Neben einer möglichen Entmündigung des Bürgers könnte das so ausgestaltete Justizportal auch dazu führen, dass der Zweck der Modernisierung des Zivilprozes36

Tlw. wird die Handlungsfreiheit als Konkretisierung der (allgemeinen) Menschenwürde angesehen, vgl. Maunz/Dürig/Di Fabio, 94. EL 2021, Art. 2 I Rn. 2. 37 Grundentscheidung für eine staatsfreie Gesellschaft und Wirtschaft, Maunz/Dürig/Di Fabio (Fn. 36), Art. 2 I Rn. 87. 38 Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit, 1966, S. 5, 13. 39 Vgl. Bäuerle (Fn. 5), S. 346 f. 40 Das „wie“ bezieht sich dabei auf das Verfahren, nicht notwendig auf den Inhalt der Konfliktlösung. 41 So auch Borowski/Röthemeyer/Steike/Röthemeyer (Fn. 20), Einf. Rn. 4. 42 So BVerfG NJW-RR 2007, 1073 ff. = ZKM 2007, 128 ff. m. Anm. Greger.

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ses ins Gegenteil verkehrt wird. Durch die digitale Ausgestaltung sollen drei Ziele erreicht werden: Die Justiz soll bürgerfreundlicher, ressourcenschonender und effizienter werden.43 Erhält der Bürger aber vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens nicht die notwendigen Informationen zu seinen Alternativen, könnte das dazu führen, dass die angestrebten Wirkungen gerade nicht erreicht und mehr noch, sogar gegenteilige Wirkungen erzielt werden würden. 1. Keine bürgerfreundlichere Justiz Hat der Bürger sich nicht bewusst unter Einbeziehung aller bestehenden Möglichkeiten für das eingeleitete gerichtliche Verfahren entschieden, kann sich dies auf die Dauerhaftigkeit der Lösung des Konflikts, insbesondere auf eine anhaltende Akzeptanz des Verfahrens und dessen Ergebnis, auswirken.44 So besteht die Gefahr, dass der Einzelne noch während des gerichtlichen Verfahrens oder gar erst danach von anderen, konkret bestehenden Möglichkeiten, den Streit beizulegen, erfährt. „Hätte ich früher von meinen alternativen Möglichkeiten gewusst, hätte ich diese zunächst probiert! Aber jetzt ist es zu spät …“ – so könnte eine frustrierte Reaktion dann lauten. Der Bürger würde sich nicht hinreichend informiert, ja gar übergangen fühlen. Seine vormals ggf. bewusst getroffene Entscheidung für das gewählte Verfahren würde sich als Entscheidung auf der Basis nur unzureichender Informationen darstellen. Er könnte sich bevormundet und in seiner Privatautonomie, seinem Recht auf selbständige Entscheidung darüber, wie er seinen Konflikt lösen möchte – hier insbesondere die Wahl des Verfahrens – beeinträchtigt fühlen. Das wiederum hätte zur Folge, dass seine Akzeptanz gegenüber dem gerichtlichen Verfahren und auch dessen Ergebnis sinken würde. Jeder noch so kleine Misserfolg, zeitliche Verzögerungen, aber auch Beweisschwierigkeiten, wegen denen der Anspruch nicht vollständig durchgesetzt werden kann, würden die parteiliche Unzufriedenheit enorm steigern. Das Gefühl, übergangen worden zu sein, kann sogar dazu führen, dass ein Urteil, welches objektiv betrachtet für die Partei zufriedenstellend ausgegangen ist, subjektiv als enttäuschend oder gar ungerecht empfunden wird.45 Diese Unzufriedenheit ist natürlich auch nachteilig für einen dauerhaften Rechtsfrieden46 und die zukünftige Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe. Das würde der Justiz zum Nachteil gereichen. Das Justizportal könnte dann dazu führen, dass sich Bürger bevormundet fühlen und die Justiz damit weniger bürgerfreundlich empfinden.

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Diskussionspapier (Fn. 1), A. Vgl. Kracht, in: Haft/Schlieffen, Hb Mediation, 3. Aufl. 2016, § 13 Rn. 114; Schlieffen, in: ders., § 1 Rn. 91 für die Mediation. 45 Zum Einfluss eines fair empf. Verfahrens auf die subj. Ergebnisgerechtigkeit vgl. Klinger/Bierbrauer, ZKM 2006, 36 (38). 46 Zur Förderung dauerhaften Rechtsfriedens BT-Drs. 14/980, S. 5 (G zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung). 44

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2. Keine ressourcenschonendere Wirkung Werden Konflikte direkt in eines der gerichtlichen Verfahren geleitet, entsteht durch die Vereinfachung der Klageeinreichung, der Abwicklung des (Online-)Mahnverfahrens oder auch durch ein beschleunigtes Online-Verfahren möglicherweise eine Einsparung an Justizressourcen. Zugleich entfällt jedoch eine Filterung der Konflikte entsprechend ihrer Geeignetheit für die gerichtlichen Verfahren. Rechtsanwälte werden nicht oder erst nach einer Verfahrenseinleitung eingeschaltet, sodass diese die entsprechende Filterung nicht mehr vornehmen können.47 Das führt aber nicht zu einer Entlastung der Justiz, sondern bewirkt das Gegenteil. Der Justizalltag könnte von Fällen „gelähmt“ werden, die viel organisatorischen Aufwand bedeuten, aber wenig juristisches Fachwissen erfordern. Denn sind die in Rechtskenntnissen hochqualifizierten Richter überwiegend mit solchen Fällen beschäftigt, können kompliziertere rechtliche Probleme im allgemeinen Justizalltag nicht mehr die Aufmerksamkeit erhalten, die sie möglicherweise benötigen. Klärungsbedürftige Rechtsfragen werden dann ggf. übersehen. Ein mehrstufiges Konfliktlösungssystem wäre hierfür nötig,48 zumindest aber die Filterung entsprechender Streitigkeiten.49 Bereits in Form einer gut informierten und reflektierten Verfahrenswahl durch die Konfliktparteien könnte diese erfolgen.50 Die einfachere, wohl ressourcenschonendere Verfahrensgestaltung und insbesondere -einleitung würde bei einer Vielzahl an ungefilterten Streitigkeiten jedoch nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer Belastung der Justizressourcen führen. 3. Kein effizienteres Gerichtsverfahren Werden Konfliktparteien zu schnell in ein Verfahren geleitet, kann dies zur Folge haben, dass sie sich noch nicht so recht darüber im Klaren sind, was sie dort erwartet und insbesondere, was sie selbst davon erwarten. Entfällt eine Beratung durch Rechtsanwälte, Rechtspfleger oder andere Stellen, werden die Parteien nie wirklich gezwungen, sich über den Inhalt ihrer Forderung Gedanken zu machen. Folge davon könnte sein, dass sich die Parteien nicht bewusst für das gerichtliche Verfahren entscheiden. Außerdem bestünde die Gefahr, dass sie im Verfahren immer wieder neue Aspekte anbringen, die zu zeitlichen Verzögerungen führen. Sind die Parteien sich nicht im Klaren über den Inhalt ihrer Forderungen, kann ein zielgerichtetes Verfahren nur schwer stattfinden, da ihrer Meinung nach immer wieder neue Aspekte relevant 47

Krit. zur zusätzl. Inanspruchnahme richterl. Arbeitszeit auch Voß (Fn. 7), 62 (63 f.). So auch Voß, VuR 2021, 243 (245). Zur Mehrstufigkeit in and. Rechtsordnungen vgl. etwa Voß zum kanadischen und amerikanischen System oder Schmiedel zum niederländischen Modell, beide in diesem Band. 49 Vgl. dazu das „Erdsieb-Modell“ von Berlin (Fn. 16), S. 324 ff. im Zusammenhang mit Verbraucherstreitbeilegung. 50 Vorzugswürdig wäre natürlich eine persönliche Beratung durch einen Konfliktberater, vgl. dazu Odrig, ZKM 2019, 28 ff. 48

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erscheinen und noch zu prüfen oder Beweise aufzunehmen sind. Letztlich kann sogar die entsprechende Entscheidung des Gerichts nicht (im zulässigen Rahmen) auf die Bedürfnisse der Parteien zugeschnitten werden,51 wenn diese nicht bekannt sind. Wäre dem Gericht und den Parteien beispielsweise bewusst, dass der Patient neben der finanziellen Forderung vor allem eine Entschuldigung vom fehlerhaft handelnden Arzt erwartet,52 würde ein verfahrenstaktisches Zweit- oder gar Drittgutachten eher weniger den Prozessablauf verlängern, wenn sich der Arzt entsprechend entschuldigen würde. Vielmehr könnte insbesondere das Verfahren mit klärenden Worten auf diese Bedürfnisse ausgerichtet werden. Damit würde der Prozess zügiger abgewickelt und dessen Ergebnis in seiner Qualität möglicherweise noch gesteigert. Eine solche Steigerung von Qualität in relativ kurzer Zeit (Effizienz) könnte also durch eine unüberlegte bzw. zu rasche Entscheidung des Bürgers gerade nicht erzielt, sondern das Gegenteil würde bewirkt werden.

IV. Ausgestaltung Justizportal Natürlich ist ein digitaler Zugang zur Justiz dringend geboten.53 Dennoch müsste über die Integration von umfassenden und neutralen Informationen über bestehende Konfliktlösungsmöglichkeiten den aufgezeigten Problemen entgegengewirkt werden. Doch wie müssten diese Informationen auf dem Portal gestaltet sein?54 Dafür sollten wir uns zunächst in den einzelnen Bürger hineinversetzen. Aus seiner Sicht zählt allein der eigene Konflikt. Er will diesen Streit möglichst schnell beenden und wieder seine Ruhe haben. Der Konflikt stellt eine zusätzliche Belastung neben der täglichen Arbeit, der Familie und den Alltagssorgen dar.55 In den wenigen Minuten der Ruhe (meist am Abend) drängt sich der bestehende Konflikt wieder hervor und der ratlose Bürger56 will sich Klarheit verschaffen, wie er weiter vorgeht. Am besten noch vor dem Schlafengehen, möglichst schnell und unkompliziert. Wenigstens eine ungefähre Ahnung vom weiteren Vorgehen erhalten – soll ein Anwalt aufgesucht, zunächst ein klärendes Gespräch mit der anderen Partei angestrebt oder besser gleich die Forderung geltend gemacht werden? Dass für eine solche Suche die digitalen Medien intensiv in Anspruch genommen werden, ist kein Geheimnis.57 Informationen wer51

Vgl. dazu Niewisch-Lennartz, ZKM 2015, 136 (139). Beispiel nach Röthemeyer, Mediation, 2015, Rn. 1. 53 Zust. etwa auch Voß (Fn. 48), 243 (250). 54 Müller/Gomm, jM 2021, 222 (223) weisen dafür auf die Grundfrage der IT-Entwicklung in der Wirtschaft hin: „Löst das Produkt ein Problem, das viele Kunden haben?“ 55 Zu den „additiven“ Effekten von Rechtsproblemen Kilian, AnwBl 2008, 236 (238). 56 Vgl. Kilian, AnwBl 2008, 236 (238). Sehr eindringlich: Eberhardt, ZKM 2019, 107 (108). 57 So auch Dudek, JZ 2020, 884 (887). 52

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den bisweilen über Foren, Erfahrungsberichte und andere Internetseiten eingeholt – eben alles, was dem Bürger „über den (digitalen) Weg läuft“. Eine Filterung auf Richtigkeit dieser Auskünfte übersteigt dabei nicht selten seine Fähigkeiten.58 Diese ungefilterte Flut an Informationen kann aber auch dazu führen, dass er letztlich überlastet und noch frustrierter aufgibt. Dann wird entweder der bekannte Weg gewählt (in der Regel das Gerichtsverfahren bzw. zunächst der Anwalt).59 Denkbar und immer beliebter ist aber die Nutzung diverser Angebote kommerzieller Dienstleister („Legal Tech“, wie etwa flightright.de). Dabei werden die eigenen Ansprüche (nach grober Prüfung auf Erfolgsaussichten) gegen pauschale Erfolgshonorare abgetreten,60 die belastende Wirkung des Konflikts ist damit also für den Bürger „vom Tisch“. Dass andere Möglichkeiten bestehen, eine Konfliktlösung möglicherweise sogar ohne Kostenaufwand herbeizuführen,61 ist dabei regelmäßig nicht bekannt. Dieses Handeln zeigt, dass sich auch die auf dem Justizportal angeführten Informationen den Bedürfnissen des Bürgers anpassen müssen, damit sie wahrgenommen und genutzt werden, vor allem aber dazu führen, dass die erstrebten Wirkungen der digitalen Modernisierung der Ziviljustiz tatsächlich eintreten. Um zugleich Falschinformationen und unüberlegte Abtretungen der eigenen Ansprüche gegen pauschale Erfolgshonorare zu vermeiden, sollte das Justizportal eine Anlaufstelle werden, die jeder Bürger bei einem bestehenden Konflikt als erste ansteuert: eine digitale Konfliktanlaufstelle.

V. Ausgestaltung Konfliktanlaufstelle Eine solche Stelle muss natürlich vorrangig fundierte Informationen über bestehende Konfliktlösungsverfahren liefern. Darüberhinausgehend würde ein digitaler Konfliktlotse die Chance auf eine tatsächliche Gerichtsentlastung steigern. Und letztlich könnte über weiterführende Verlinkungen der Zugang zu den einzelnen Verfahren erleichtert werden.62 1. Umfassende Informationen Damit sich der Bürger nachhaltig für ein konkretes Konfliktlösungsverfahren entscheiden kann, benötigt er umfassende Informationen über die bestehenden Mög58

Vgl. Dudek, JZ 2020, 884 (888 f.). Wendenburg/Gendner/Zimdars u. a., ZKM 2019, 63. 60 Krit. zu diesen Angeboten Greger, MDR 2018, 897 ff. 61 Für Konflikte bei Flugreisen etwa die für den Verbraucher kostenfreie Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (söp) e.V., www.soep-online.de (zuletzt abgerufen am: 13. 05. 2022). 62 Ein sehr interessantes Konzept zur Ausgestaltung eines „Konfliktlösungsnetzes“ im Rahmen des ebenfalls im Diskussionspapier vorgeschlagenen beschleunigten Onlineverfahrens bei Zwickel, Konfliktdynamik 2021, 169 (175 ff.). 59

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lichkeiten. Das digitale Portal könnte hier eine bedürfnisorientierte erste Anlaufstelle bieten. Ein Portal, welches auf einfachem Weg Informationen zu den bestehenden Verfahrensmöglichkeiten bietet. Hier geht es um erste Infos, eine grobe Orientierung im Dickicht der bestehenden Möglichkeiten, den Konflikt beizulegen. Nicht nur alle Verfahren des Zivilprozesses und wie diese einzuleiten sind, sollten Teil des Portals sein, sondern auch über diejenigen Verfahren, die über einen anderen Weg zu einer Streitbeendigung führen können, müssten die BürgerInnen auf dem Portal informiert werden. So sollte der Konfliktpartei bewusstwerden, dass eine Lösung ihres Konfliktes auf vielen Wegen möglich ist. Die Informationen müssen so ausgestaltet sein, dass der Bürger sich gut und umfassend informiert fühlt. Sie müssen die Grundlage für eine selbstbestimmte Verfahrensentscheidung des Einzelnen darstellen (können). Nur durch eine qualitätsvolle Information würde das Portal an Beliebtheit und zugleich auch an Bekanntheit gewinnen. Neutral formulierte Informationen sind dafür wichtig. Der Kern und Ablauf, die Vor- und Nachteile und insbesondere auch die Bedeutung für die Konfliktpartei muss für jedes einzelne Verfahren beschrieben werden. Dazu gehört auch, dass der Maßstab aufgezeigt wird, an dem eine Konfliktlösung durch die Parteien selbst oder einen neutralen Dritten erarbeitet wird.63 Außerdem sind die verschiedenen Verfahren der Justiz anzuführen. Ebenso aber auch das mit einer verbindlichen Entscheidung eines Dritten schließende Schiedsverfahren und das einen Teilaspekt verbindlich klärende Schiedsgutachten. Die unverbindlichen, auf der Selbstbestimmung der Parteien aufbauenden Verfahren der alternativen Konfliktlösung müssen ebenso umfassend dargestellt werden, insbesondere die Schlichtung (unverbindliche Empfehlung eines neutralen Dritten) und die Mediation (autonome Lösungsfindung der Parteien mit Hilfe eines allparteilichen Dritten).64 Nur so erhält der Bürger einen umfassenden Überblick über die bestehende, recht unübersichtliche Landschaft der Konfliktlösungsverfahren.65 Das wiederum ist notwendige Voraussetzung für eine dauerhaft als selbstbestimmt empfundene Entscheidung des Einzelnen.66 Denn nur auf diesem Weg wird die Konfliktpartei nicht später von neuen Informationen überrascht, die sie an ihrer Entscheidung und damit am gesamten, gewählten Verfahren inklusive Ergebnis zweifeln lässt. Auch die Gegenpartei kann sich über diese Stelle zu dem von der anderen Partei angestrebten Verfahren informieren. Die Konfliktanlaufstelle wäre also eine allgemeine Informationsplattform zu den Konfliktlösungsverfahren.67

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Dazu s. o. Überblick über die genannten und weitere außergerichtliche Verfahren bei Greger/Unberath/Steffek/Greger (Fn. 22), Teil D 1 ff. 65 Wendenburg/Gendner/Zimdars u. a., ZKM 2019, 63. 66 Niewisch-Lennartz, ZKM 2015, 136 (139) nennt dies bezogen auf den Inhalt des Schlichtungsvorschlags das „Prinzip der informierten Autonomie“. 67 Eine Rechtsberatung erfolgt dadurch in keiner Weise, beziehen sich diese allgemeinen Informationen doch lediglich auf das geeignete Verfahren im konkreten Konflikt. 64

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2. Digitaler Konfliktlotse Über diese allgemeinen Informationen zu den bestehenden Verfahrensmöglichkeiten hinaus sollte eine solche digitale Konfliktanlaufstelle auch über die konkreten Möglichkeiten im einzelnen Konflikt informieren. Das heißt, die BürgerInnen sollten eine Entscheidungshilfe an die Hand bekommen, die zwei bis drei geeignete Verfahren mit ihren Besonderheiten für den konkreten Konflikt empfiehlt. Über ein interaktives Tool68 könnten gezielte Fragen zum Streit und zu den Interessen der Bürger geeignete Verfahren näher eingrenzen. Dabei müssen an die Qualität eines solchen digitalen Konfliktlotsen hohe Anforderungen gestellt werden. Fachliche Expertise, viel Feingefühl und eine akkurate Abstimmung mit den Bedürfnissen der Ratsuchenden sind für die Entwicklung notwendig, damit das Tool auch dauerhaft in Anspruch genommen wird.69 Hier ist eine umfassende Berücksichtigung der möglichen Konfliktfälle ebenso wie eine umfassende Integration der bestehenden Verfahren notwendig. Insbesondere über diese auf den Einzelfall zugeschnittene Filterung geeigneter Verfahren kann jedem Konflikt das passende Verfahren zugeleitet und die Justiz entlastet werden. Zugleich erfolgt aber auch eine Konzentration der richterlichen Kompetenzen auf diejenigen Fälle, die sichere juristische Fachkenntnis erfordern, damit ein qualitätsvolles Ergebnis den Konflikt beilegen kann.70 3. Weiterführende Verlinkungen Zu einer bürgerfreundlichen Empfehlung gehört außerdem eine weiterführende Verlinkung beim jeweiligen Verfahren. Der Bürger soll nicht mit Verfahrensinformationen und -empfehlungen alleingelassen werden, sondern muss darüber hinaus konkrete Handlungshilfen erhalten. So wie eine Antragstellung im Online-Mahnverfahren über das Justizportal möglich sein soll, so müssten auch die Hinweise zu den alternativen Verfahren weiterführende Möglichkeiten bieten, sich noch ausführlicher damit zu befassen und Ansprechpartner leicht zu finden. Über die zuvor bereits dargestellten Informationen hinaus sollten dem Einzelnen also weitere Vorgehensmöglichkeiten aufgezeigt und Ansprechpartner zum jeweiligen Verfahren oder auch zu kompetenten Verfahrensberatern genannt werden. Eine darüberhinausgehende di-

68 Verschiedene Internetseiten bieten solche Tools bereits an, z. B. DiReCT des Round Table Mediation und Konfliktmanagement der deutschen Wirtschaft (für Wirtschaftsunternehmen), abrufbar unter www.rtmkm.de/home/direct-2 oder justice.fr (des französischen Justizministeriums), abrufbar unter www.justice.fr (beide zuletzt abgerufen am: 13. 05. 2022). Ein umfassendes, den Vorstellungen der Verfasserin entsprechendes Tool für alle Konfliktbereiche ist unter www.rechtohnestreit.de im Entstehen. 69 Vgl. Wendenburg/Gendner/Zimdars u. a., ZKM 2019, 63 ff. 70 Ressourcenschonung auch, wenn Berufungen und Revisionen dann ggf. seltener nötig sind.

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rekte Einleitung der (Justiz-)Verfahren über das (Justiz-)Portal würde dabei die digitalen Möglichkeiten optimal nutzen.71

VI. Einheitliches Bürgerportal Für eine Nutzung dieser Angebote ist neben einer guten Qualität auch eine Bekanntheit dieses digitalen Portals notwendig. Was nützen zugangserleichternde digitale Verfahrensangebote, wenn die Konfliktparteien keine Kenntnis davon haben? Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe bereits eine Verknüpfung des Justizportals mit dem Bürgerportal angedacht.72 Soll der Bürger jedoch durch die Modernisierung einen einfacheren Zugang zum Recht erhalten und eine bürgerfreundlichere und ressourcenschonendere Justiz entstehen, müsste das Potential der Digitalisierung bestmöglich genutzt werden. Ein digitales Portal erzielt nur dann Mehrwert, wenn es eine hohe Qualität aufweist. Allein die Erstellung und Unterhaltung einer solchen Internetplattform erfordert daher enorme Fachkenntnis und ist bereits aus diesem Grund zeit- und kostenaufwendig. Im Interesse finanzieller und fachlicher Ressourcen sollte dementsprechend überlegt werden, bereits bestehende Portale zu nutzen.73 Nach § 1 OZG ist ein digitales Verwaltungsportal aller Verwaltungsbehörden im Sinne des § 2 Abs. 2 OZG einzurichten (Bürgerportal). Die Idee dahinter ist ähnlich der des Justizportals: Verwaltungsleistungen sollen digital zugänglich gemacht werden, möglichst auf einer einzigen Plattform.74 Wäre es nicht im Interesse des Bürgers, dieses – bis Ende 2022 einzurichtende – Portal auch für die Angebote der Justiz zu nutzen?75 Die IT-Ressourcen sowohl der Judikative als auch der Exekutive könnten gebündelt werden. Die Bürger würden eine ihnen dann bereits bekannte Plattform für jegliche Anliegen, die im Zusammenhang mit staatlichen Behörden stehen, aufrufen können. Durch diese Bekanntheit würde der Bürger einen noch besseren Zugang zu den Konfliktlösungsverfahren erhalten. Weniger bekannte Verfahren, wie etwa das Mahnverfahren oder die Verbraucherschlichtung, würden dadurch vertrauter und eher in Anspruch genommen. Das Portal würde aufgrund der gebündelten Expertise die Möglichkeit einer höheren Qualität bieten, was zugleich wieder im Interesse der Bürger wäre. Diese müssten sich nicht auf verschiedenen Portalen einarbeiten, sondern könnten bereits bekannte Strukturen derselben Plattform nutzen. Auch wenn inhaltlich und optisch eine Abgrenzung der verschiedenen Angebote schon allein der Transparenz wegen notwendig ist,76 so würden Erstellung und Unterhaltung des gesamten Portals den71

Für geeignete Justizverfahren vorgeschlagen, Diskussionspapier (Fn. 1), B.I.4.a. Diskussionspapier (Fn. 1), B.I.4.b. 73 Müller/Gomm (Fn. 54), 222 (223). 74 BT-Drs. 18/11135, S. 1. 75 So auch Müller/Gomm (Fn. 54), 222 (223 f.). 76 Vgl. Müller/Gomm (Fn. 54), 222 (223 f.).

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noch über eine gemeinsame Organisationseinheit laufen. Zu Einsparungen in den Ressourcen würde auch eine weitere dadurch erzielte Vereinfachung führen: Werden alle Angebote über eine Plattform geregelt, können gemeinsame Schnittstellen (z. B. zu universitären Bescheinigungen) einfacher eingerichtet und genutzt werden. Gemeinsame Daten könnten unkompliziert ausgetauscht werden. Es könnten sich so auch Vorteile für den Datenschutz ergeben.

VII. Fazit Es kann nur im staatlichen und allgemeinen Interesse sein, den Bürgern eine „helfende Hand“ zu reichen, die sie bei der Entscheidung unterstützt, wie ihr Konflikt gelöst werden kann. Zum Schutz seiner Bürger sollte ein Staat diese Aufgabe nicht unkontrolliert der Privatwirtschaft überlassen. Das könnte zu unüberlegten Abtretungen eigener Rechtsansprüche führen (sog. „Legal Tech“-Dienstleister mit kommerziellen Interessen), zu Desinformationen (etwa durch Foren im Internet) oder auch dazu, dass die Konfliktparteien auf eine Lösung des Konfliktes gänzlich verzichten,77 weil sie schlichtweg überfordert sind. Vielmehr kann die Justiz durch eine eigene Konfliktanlaufstelle wettbewerbsfähiger werden. Das Vertrauen und die Nähe zum Gericht würden gesteigert, die Bürger würden sich eher an die offene und vertrauenswürdige Justiz wenden. Eine digitale Konfliktanlaufstelle könnte so als Vorstufe für ein weiteres Handeln dienen. Die Bürger könnten sich zu dem Zeitpunkt, an dem der Konflikt am meisten belastet – abends im Bett oder auf der Couch – sofort nähere Informationen zu ihrem weiteren Vorgehen beschaffen, mit denen sie dann am nächsten Tag die entsprechende Stelle – etwa den Rechtsanwalt, den Schlichter, das Gericht oder auch die gegnerische Partei – aufsuchen und sich weiterführend informieren oder gar ein Verfahren durchführen. Sie hätten das Gefühl, einen guten ersten Überblick für das nachfolgende Vorgehen erhalten zu haben – durch den digitalen Konfliktlotsen sogar auf den eigenen Konflikt angepasst. Durch die Darstellung dieses Gesamtangebots der Justiz auf dem (dann) bereits existierenden Bürgerportal würde das Potential der Digitalisierung vollständig ausgenutzt, was wiederum die Ressourcen der Justiz schonen und die Bekanntheit der digitalen Angebote steigern würde. Insbesondere kann durch eine digitale Konfliktanlaufstelle über das Bürgerportal der Zugang des Bürgers zum Recht bestmöglich vereinfacht werden, ohne dabei zugleich andere, außergerichtliche Verfahren abzuschneiden und dem Bürger damit den selbstbestimmten Zugang zum Recht faktisch zu nehmen. Er würde sich umfassend informiert für ein Verfahren entscheiden können, ohne diese Entscheidung im Nachhinein zu bereuen und das gewählte Verfahren inklusive dessen Ergebnis anzuzweifeln. 77

Vgl. auch das „rationale Desinteresse“, dazu Berlin (Fn. 16), S. 53 f. m. w. N.

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Letztlich gibt es viele Möglichkeiten, den digitalen Auftritt der Justiz einzurichten. Je einfacher jedoch der Zugang zum gerichtlichen Verfahren ausgestaltet ist, desto umfassender muss der Bürger zuvor über bestehende Alternativen informiert werden. Die hier vorgeschlagene Form der Digitalisierung ist mit Sicherheit eine der aufwendigsten Formen der Digitalisierung. Sie wäre aber zugleich DIE Möglichkeit für die Justiz und ihr bürgerfreundliches, effizientes und ressourcenschonendes Erscheinungsbild.

Digitale Gerichtsportale: Wege zur Justiz – Wege zum Recht? Von Wiebke Voß

I. Einleitung: Justizportal nach dem Konzept der Arbeitsgruppe „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.“1 Schon Kafka beschreibt in seiner berühmten Parabel die Hürden, die einem „Mann vom Lande“ – einem Bürger ohne besondere juristische Kenntnisse – den Zugang zum Recht erschweren oder gar verwehren können. Es braucht nicht viel Fantasie, um in den kafkaesken Gatekeepern ein Sinnbild auch für die Zugangshürden zum Justizsystem im 21. Jahrhundert zu erblicken: Unverhältnismäßige Verfahrenskosten in kleineren Streitigkeiten, komplexe, laienunverständliche Prozessstrukturen und nicht zuletzt die bis dato unzureichende digitale Zugänglichkeit der Ziviljustiz für Naturalparteien drohen die Rechtsdurchsetzung des Einzelnen bisweilen empfindlich zu beeinträchtigen.2 Jedenfalls der letztgenannten Hürde nimmt sich die Arbeitsgruppe zur Modernisierung der Ziviljustiz mit ihren Vorschlägen zur Schaffung eines digitalen Justizportals nun aber an: Ein bundeseinheitliches Portal soll Bürgerinnen und Bürgern als „One-Stop-Shop“3 niederschwelligen Zugang zu allen digitalen Justizangeboten gewähren, vom anvisierten Beschleunigten Online-Verfahren über Online-Mahnverfahren und die geplante virtuelle Rechtsantragsstelle bis hin zu Videoverhandlungen in den – oder auch jenseits der4 – Grenzen des § 128a ZPO.5 Als neuer sicherer Übermittlungsweg i.S.d. § 130a Abs. 4 ZPO soll das Portal so die einfache Erreichbarkeit der Zivilgerichte im digitalen Zeitalter sicherstellen.6 1

Kafka, Vor dem Gesetz, 1915. Die elektronischen Zugangswege setzen entweder eine elektronische Signatur oder die Inanspruchnahme eines sicheren Übermittlungsweges (wie des beA) voraus (§ 130a Abs. 3, Abs. 4 ZPO) und laufen bislang für die Bürger deshalb weitgehend leer; krit. insoweit auch Rühl, in: FS Singer, 2021, S. 591 (595 f.). 3 So prägnant Rühl (Fn. 2), S. 591 (596). 4 Zum Vorschlag einer vollvirtuellen Verhandlung s. Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs, Diskussionspapier vom Dezember 2020, S. VI und S. 45 ff. 5 Diskussionspapier (Fn. 4), S. III und S. 10 ff. 6 Diskussionspapier (Fn. 4), S. III und S. 10. 2

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Mit diesem Vorschlag geht es der Arbeitsgruppe erklärtermaßen darum, eine „bürgerfreundliche […] Zugangsmöglichkeit zu gerichtlichen Verfahren und Dienstleistungen“ – mithin zur Justiz – zu schaffen. Das Portal soll insoweit nicht bloß als elektronisches Postfach fungieren, sondern auch Unterstützungsdienste zur Auswahl des geeigneten justiziellen Verfahrens – Mahnverfahren, Beschleunigtes Online-Verfahren oder streitiges Regelverfahren – und zur Abfassung von Anträgen vorhalten,7 augenscheinlich in der Tradition von Europäischem Justizportal8 und Hilfestellungen nach der EU-Bagatellverordnung.9 Zugleich aber präsentiert sich der Vorschlag, ein einheitliches Justizportal zu schaffen, als Teil einer breiter gefassten Gesamtagenda der Arbeitsgruppe: nämlich des Vorhabens, Effizienz, Bürgerfreundlichkeit und Zugang zum Recht durch den Einsatz von Informationstechnologie im Zivilprozess zu verbessern.10 Das drängt zu der Frage: Was soll und kann ein digitales Gerichtsportal letztlich eröffnen – Wege zum Recht oder doch bloß Wege zur Justiz? Angesichts verbreiteter terminologischer Unschärfen lotet der Beitrag zunächst Bedeutungsgehalt und Komponenten des in der Digitalisierungsdebatte mantraartig beschworenen „Zugangs zum Recht“ in Abgrenzung zum klassischen Zugang zur Justiz aus (II.), um anschließend Zielrichtung und Potenzial digitaler Gerichtsportale in dem so abgesteckten Rahmen zu verorten (III.): Im Kontrast zu der hierzulande avisierten justizzentrierten Portallösung soll ein rechtsvergleichender Seitenblick auf erfolgreiche Gerichtsportale der angloamerikanischen Welt erhellen, ob und inwieweit Justizplattformen umfassender dazu dienen können, Hürden beim Zugang zum Recht abzubauen. Es folgt ein Blick auf offene Fragen und etwaige Vorbehalte gegenüber derartigen digitalen Zugangsportalen (IV.), bevor der Vorschlag der Arbeitsgruppe auf dieser Basis einer resümierenden Würdigung unterzogen wird (V.).

II. Zugang zum Recht als bedeutungsambivalenter Begriff Während die Intention der Arbeitsgruppe, digitale Zugänge zur Ziviljustiz zu eröffnen, ersichtlich der heutigen digitalen Lebenswirklichkeit und den damit einhergehenden Bürgererwartungen Rechnung tragen will, bleibt ihr breiter gefasster Gesamtfokus auf der Verbesserung des Zugangs zum Recht nebelhaft. Denn die Wendung „Zugang zum Recht“, die in der Debatte um Online-Courts, Online-Streitbeilegung und virtuelle Konfliktanlaufstellen längst zur zentralen Parole avanciert ist, wird nicht einheitlich verwandt. An einem historisch gewachsenen Verständnis oder gar einer normativen Definition mangelt es schon deshalb, weil die geschriebe-

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Diskussionspapier (Fn. 4), S. 12. http://e-justice.europa.eu (alle Internetseiten zuletzt abgerufen am 20. April 2022). 9 S. Art. 11 EuGFVO. 10 Explizit zum Zugang zum Recht etwa Diskussionspapier (Fn. 4), S. 1 f. Vgl. auch a.a.O., S. 7, 97. 8

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ne deutsche Rechtsordnung die Phrase traditionell nicht kennt.11 Auch unter den klassischen Bausteinen des Zivilprozessrechts – den Prozessgrundrechten und Verfahrensmaximen – sucht der aufmerksame Leser die Wortgruppe vergeblich; in Standardkommentaren wie dem Zöller wird sie nicht einmal im Stichwortverzeichnis geführt.12 Entlehnt ist der Begriff vielmehr dem angloamerikanischen Terminus access to justice – der allerdings seinerseits als „inherently ambiguous“13 gebrandmarkt wird und an mangelnder Konturierung krankt.14 Dabei bezeichnete die Wendung in Common Law-Rechtsordnungen im Ausgangspunkt schlicht das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Zugangs zu den Gerichten, als integralen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.15 Insoweit fungiert sie als Pendant zum hierzulande aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. den materiellen Grundrechten hergeleiteten allgemeinen Justizgewährungsanspruch16 und wird, wie dieser, januskopfartig als verfassungsrechtlich verbrieftes Recht des Einzelnen sowie als korrespondierende staatliche Justizgewährungspflicht gefasst.17 Der Gewährleistungsgehalt von access to justice bzw. Justizgewährungsanspruch umfasst dabei nach internationalem Konsens18 nicht nur die streitwertunabhängige Eröffnung eines Rechtswegs vor staatlichen Gerichten, sondern trifft auch Vorgaben zur Wirksamkeit des dort gewährten Rechts-

11 Verwandt wird die Phrase allerdings auf europäischer Ebene in der Zielbestimmung des Art. 67 Abs. 4 AEUV, der die Union zur Vereinfachung des Zugangs zum Recht anhält – freilich ebenfalls ohne nähere Begriffsbestimmung. 12 Zöller (Hrsg.), ZPO, 34. Aufl. 2022. 13 KA v London Borough of Croydon [2017] EWHC 1723 (Admin) [40]. Ähnlich auch Christie v British Columbia (Attorney General), 2005 BCCA 631 [29]: „[T]he phrase ,access to justice‘ has been used to mean many different things.“ 14 S. etwa Christie v British Columbia (Attorney General), 2005 BCCA 631 [29]; Akin Ojelabi/Noone, Int. J.L.C. 16 (2020), 103 (103 f.); Sackville, UNSW Law Journal 41 (2018), 80 (88 ff.). 15 S. nur exempl. für das engl. Recht Bremer Vulkan Schiffbau und Maschinenfabrik v South India Shipping Corp Ltd [1981] AC 909; R v Lord Chancellor, ex parte Witham [1998] QB 575; R v Lord Chancellor, ex parte Lightfoot [1999] 2 WLR 1126; Children’s Rights Alliance for England [2013] EWCA Civ 34, [2013] WLR 3667. 16 Zur Basis des Justizgewährungsanspruchs nach dt. Recht s. nur exempl. BVerfGE 80, 103 (107); BVerfGE 97, 169 (185); BVerfGE 101, 103 (126); grundlegend Lorenz, AöR 105 (1980), 623 ff. 17 In letzterem Sinne etwa Children’s Rights Alliance for England [2013] EWCA Civ 34, [2013] WLR 3667 [34], [38]. Aus dt. Sicht Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG, 94. EL (Stand: Jan. 2021), Art. 19 Abs. 4 Rn. 16. 18 Vgl. auf internationaler Ebene insbes. Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie dazu Golder v United Kingdom (1975) Series A no. 18 [34] sowie erläuternd Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 23. Aufl. 2014, Einleitung Rn. 286. Vgl. auch Art. 14.1 UN-Zivilpakt sowie Art. 8 UN-Menschenrechtskonvention.

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schutzes,19 einschließlich der Höhe der Gerichtsgebühren,20 der Verfügbarkeit von Prozesskostenhilfe21 oder der Abwesenheit ungebührlichen Vergleichsdrucks.22 Dieser verfassungsrechtlich verbriefte Rechtsschutz steht indes in den gegenwärtigen Debatten um verbesserten Zugang zum Recht durch Nutzbarmachung informationstechnologischen Potenzials nicht im Fokus: Denn auch der Status quo der (Verbraucher-)Rechtsdurchsetzung verfehlt – trotz seiner rechtstatsächlichen Defizite, welche die Arbeitsgruppe so verdienstvoll in den Fokus rückt23 – den konstitutionell garantierten Mindeststandard effektiven Rechtsschutzes nicht.24 Wenn gleichwohl vereinfachter Zugang zum Recht gefordert wird, greift dies das rechtspolitische Desiderat möglichst niederschwelliger Rechtsdurchsetzung auf, das rechtssoziologische Forschungsprojekte in den 1970er Jahren erstmals mit dem Schlagwort access to justice betitelt haben.25 Diese access to justice-Bewegung, die in ihren Ursprüngen sozio-ökonomische Zugangshürden zu den Gerichten identifizieren und eine Reform des als zu liberal erachteten Prozesskostenhilferegimes anstoßen wollte,26 gab ihren anfänglichen Justizfokus bald zugunsten eines weiter gefassten Verständnisses vom Zugang zum Recht auf, das alternative Streitbeilegungsmöglichkeiten forcierte27 und Visionen vom multi-door courthouse aufkommen ließ.28 Bisweilen explizit als „access to justice in a broad sense“29 gehandelt, impliziert dieses Verständnis von Zugang zum Recht grundsätzlich auch Zugang zu außergerichtlicher Streitbeilegung30– 19 S. für das Common Law statt vieler Andrews, Andrews on civil processes, 2. Aufl. 2019, para 23.17. Aus der dt. st. Rspr. nur exempl. BVerfGE 67, 43 (58); BVerfGE 84, 34 (49); BVerfG NVwZ 2018, 318. 20 Zum sog. chilling effect unverhältnismäßiger Gerichtsgebühren Unison [2017] UKSC 51, [2020] AC 869 [97]–[98], [105]–[106]. 21 Gudanaviciene and others v Director of Legal Aid Casework and the Lord Chancellor [2014] EWCA Civ 1622, [2015] 3 All ER 827 [72]. 22 S. dazu etwa Halsey v Milton Keynes General NHS Trust et al. [2004] EWCA Civ 576, [2004] 4 All ER 920 [4]; Lomax v Lomax [2019] EWCA Civ 1467, [2019] 1 WLR 6527 [26], [27]; vgl. auch Prince, Int. J.L.C. 16 (2020), 181 (185 ff.). 23 Insbesondere im Zuge der Überlegungen zur Schaffung eines beschleunigten OnlineVerfahrens; Diskussionspapier (Fn. 4), S. 76 f. 24 Vgl. Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (69). 25 Vgl. insbes. das Florentiner Access to Justice Project Cappelletti/Garth, Access to justice, 1978/1979, Bände I–III, passim; Cappelletti/Garth/Trocker, RabelsZ 40 (1976), 669 ff.; s. aus der deutschen Debatte Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, 1976 sowie Bierbrauer, Zugang zum Recht, 1978. 26 Zum liberalen im Gegensatz zum sozialen Verständnis von access to justice s. Cappelletti/Garth/Trocker, RabelsZ 40 (1976), 669 (670 f.). 27 Dazu näher Menkel-Meadow, IJODR 3 (2016), 4. 28 Sander, F.R.D. 70 (1976), 111. 29 Katsh/Rabinovich-Einy, Digital Justice, 2017, S. 177. 30 Wie er auf europäischer Ebene insbes. mit der ADR-Richtlinie lanciert wurde; vgl. Art. 2 Abs. 3, Art. 5 sowie ErwGr 4, 6 RL 2013/11/EU. Dazu näher Fries, Verbraucherrechtsdurchsetzung, 2016, S. 4; Rühl, ZZP 127 (2014), 61 (71 ff.).

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ohne dass deren Verfügbarkeit als konstitutioneller Imperativ gedeutet würde.31 Dass die Defizite solcher alternativer Konfliktlösungsformen bei der individuellen Rechtsdurchsetzung ihre Kategorisierung als Mechanismen des Zugangs „zum Recht“ stricto sensu angreifbar erscheinen lassen – insbesondere wenn sie nicht auf Durchsetzung des fein austarierten materiellen Rechts zielen, sondern von vornherein nur mit approximativen Rechtsregeln operieren32 –, bleibt in der Debatte dabei in aller Regel unberücksichtigt. Mit der Erweiterung des access to justice-Verständnisses auf Rechtsschutzformen und -standards jenseits des verfassungsrechtlich garantierten Niveaus geht auch eine Verbreiterung der in den Fokus genommenen Zugangselemente und korrespondierenden Hemmnisse einher. Unter dem Ideal eines sozialen Zivilprozesses33 soll niederschwelliger Zugang zum Recht neben der Absenkung monetärer Hürden und der Beschleunigung des Verfahrens34 auch die Verfügbarkeit von Rechtsbeistand und die Fairness von Verhandlungen und gütlichen Einigungsprozessen35 implizieren. Auf die Agenda gerückt sind zudem der Abbau physischer Zugangsbarrieren, die insbesondere mobilitätseingeschränkte Bürger sowie Rechtsuchende in Flächenstaaten beeinträchtigen können,36 in Pandemiezeiten aber auch aus allgemeinen Kontaktbeschränkungen und Reiseverboten resultieren mögen. Schließlich werden auch Informationsdefizite, von der schlichten Unkenntnis der eigenen Rechtsposition bis hin zu fehlendem Verständnis des Justizsystems und der traditionell komplexen Verfahrensnormen, zunehmend als Zugangshürde problematisiert.37 In Orientierung am Fokus der Debatte folgt auch dieser Beitrag einem access to justice-Verständnis, das nicht den verfassungsrechtlich vorgezeichneten Rechtsschutzstandard in Bezug nimmt, sondern eine derartige allgemeine Programmatik reduzierter Zugangshürden.

31 Anders Odrig, ZKM 2019, 28 ff., die in das Gerichtssystem integrierte Konfliktanlaufstellen als Verfassungsgebot verstanden wissen will. 32 Krit. insoweit Engel, NJW 2015, 1633 (1636); Gaier, NJW 2016, 1367 (1371); Roth, JZ 2014, 801 (807); aus engl. Perspektive grundlegend Genn, Yale J.L. & Human. 24 (2012), 397 (411) mit der berühmten Feststellung: „The outcome of mediation […] is not about just settlement, it is just about settlement“. Vgl. auch Byrom, Developing the Detail: Evaluating the Impact of Court Reform in England and Wales on Access to Justice, para. 7.5. 33 Vgl. insbes. Cappelletti/Garth (Fn. 25), passim; Cappelletti/Garth/Trocker, RabelsZ 40 (1976), 669 ff.; vgl. aus deutscher Sicht auch Bender/Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, 1980, passim. 34 S. auch Sourdin/Meredith/Li, Digital Technology and Justice: Justice Apps, 2020, S. 22 f. 35 Byrom (Fn. 32), para. 7.2. 36 Vgl. Himonas, Dick. L. Rev. 122 (2018), 875 (880); Rabinovich-Einy/Katsh, IJODR 1 (2014), 1 (10). 37 Vgl. etwa den Justice Index des U.S.-am. National Center of Access to Justice (abrufbar unter https://ncaj.org/state-rankings/2021/justice-index); ähnlich auch Sourdin/Meredith/Li (Fn. 34), S. 23. Aufschlussreich aus afrikan. Perspektive Longe, in: de Souza/Spohr (Hrsg.), Technology, Innovation and Access to Justice, 2021, 54 ff.

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III. Wirkbereich digitaler Gerichtsportale zwischen „Justiz“ und „Recht“ 1. Justizzentriertheit des hierzulande avisierten Justizportals Den so abgesteckten Referenzbereich des „Zugangs zum Recht“ bedient das Justizportal nach derzeitigem Entwurf nur unvollständig. Neben einem eAccess to justice, der die physischen Zugangshürden ausräumt, soll das Portal zwar auch Unterstützungsangebote für juristische Laien bei der Auswahl des Rechtsschutzwegs bereitstellen.38 Es bleibt allerdings darauf beschränkt, die Wege zur justiziellen Streitentscheidung zu bündeln (und zu erläutern), insbesondere zum Mahnverfahren und zum streitigen Klageverfahren, auch in der Form des neu zu schaffenden Beschleunigten Online-Verfahrens. Den Bedürfnissen rechtsuchender Bürger dürfte diese Justizzentriertheit kaum gerecht werden: Denn auch wenn die Ergebnisse einer unmet legal needs-Studie hierzulande noch ausstehen,39 drängt sich doch die Beobachtung auf, dass dem Bürger in kleineren, alltäglichen Konflikten nicht zwingend an einer autoritativen Streitentscheidung durch den Richter gelegen sein dürfte, sondern schlicht an einer möglichst schnellen, kostengünstigen und unkomplizierten Lösung seines Rechtsproblems.40 Bereits der beachtliche Erfolg privater ODR-Systeme des E-Commerce legt diese Beobachtung nahe41 – gerade im Kontrast zu den bis in jüngste Zeit beständig rückläufigen Fallzahlen vor den Amts- und Landgerichten.42 Bisherige Bestrebungen zur Digitalisierung der Justiz, von EGVP über beA bis hin zur E-Akte, tragen den spezifischen Bedürfnissen von Verbrauchern in kleineren Streitigkeiten nach transparenter, verständlicher Problemlösung – auch jenseits des richterlichen Urteilsspruchs – kaum Rechnung.43

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Dazu sub I. mit Fn. 7. Zur vom Bundesjustizministerium veranlassten rechtstatsächlichen „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Fallzahlen in Zivilsachen“ s. die Ausschreibung 2019/S 179 – 436381 (abrufbar unter https://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:436381-2019:TEXT: DE:HTML) sowie die Projektbeschreibung von Nöhre, DRiZ 2021, 220 f. 40 Susskind, Online Courts and the Future of Justice, 2019, S. 47 ff.; Prince, Int. J.L.C. 16 (2020), 181 (182); s. auch Voß, VuR 2021, 243 (250). 41 Siehe insbes. zum erfolgreichen Geschäftsmodell des eBay Resolution Center Del Duca/ Rule/Rimpfel, ArbLR 6 (2014), 204 (205); Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (65 f.). 42 BMJV, Geschäftsentwicklung der Zivilsachen in der Eingangs- und Rechtsmittelinstanz, Stand Nov. 2020. In einzelnen Bereichen (Fluggastrechte, Reisevertragssachen und „Dieselklagen“) steigen die Eingangszahlen in Zivilsachen aber erstmals wieder an; dazu Nöhre, DRiZ 2021, 220. 43 So auch Fries (Fn. 30), S. 7. 39

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2. Internationaler Trend: Kanalisierung der Wege zum Recht Dabei vermögen Portallösungen, die sich der Vereinfachung der Wege zum Recht verschreiben, diese schlicht auf Konfliktlösung gerichteten Bürgerbedürfnisse44 durchaus abzubilden und auch Alternativen zur autoritativen Streitentscheidung durch den Richter aufzuzeigen. Paradebeispiel für eine solche Bündelung der Wege zum Recht in einem einheitlichen Zugangskanal ist das Webportal des kanadischen Civil Resolution Tribunal (CRT), dem vielzitierten Pionier in Sachen Digital Justice.45 Denn die Homepage des CRT bietet dem rechtsuchenden Bürger nicht bloß Zugang zum streitigen Verfahren, sondern sukzessive zu einem Portfolio von Konfliktlösungsmechanismen – und präsentiert sich damit als echtes digitales multi-door courthouse:46 Zunächst offeriert das Portal ein Expertensystem zur Analyse des Rechtsproblems, das den Rechtsuchenden durch dynamische Fragekataloge (Entscheidungsbäume) lenkt und fallspezifische, laienverständlich formulierte Rechtsinformationen sowie automatisch generierte Dokumentenvorlagen zur eigenständigen Beilegung des Disputs bereitstellt.47 Sofern der Konflikt mit Unterstützung dieses Analysetools noch nicht gelöst wird, leitet das CRT-Portal anschließend – nach nahtlos erfolgter Online-Klageerhebung – zu Phasen gütlicher Streitbeilegung über, erst per bilateraler Verhandlung, anschließend in Form eines moderierten Einigungsprozesses wie (Online-)Schlichtung, Mediation oder Early Neutral Evaluation.48 Ein streitiges Verfahren mit abschließendem richterlichen Urteilsspruch schließt sich nur bei Scheitern dieser gütlichen Einigungsprozesse an. Einem ähnlich integrativen Ansatz, der formelle und informelle Konfliktlösungssysteme unter dem Dach der Justiz kanalisiert, folgt der in England im Aufbau begriffene Online Solutions Court. Als Teil des ambitionierten 1-Milliarde-Pfund-Justizreformprojekts, das auf die Verbesserung von access to justice (auch) durch Digitalisierung der Gerichtslandschaft zielt,49 wird noch bis November 2023 die Plattform Online Civil Money Claims pilotiert.50 Neben einer automatisierten Erfassung des Streitstoffes – die freilich noch weit hinter dem kanadischen Vorbild 44

Susskind (Fn. 40), S. 47 fordert insoweit ein „outcome thinking“. https://civilresolutionbc.ca. 46 Näher dazu Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (81); für den engl. Online Solutions Court zuvor bereits Sorabji, C.J.Q. 36 (2017), 88 (96). 47 Näher dazu Susskind (Fn. 40), S. 168 ff.; Salter, Windsor Yb. Access Just. 34 (2017), 112 ff.; Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (72 ff.). 48 S. ebd. sowie s. 25 et seqq. CRT Act 2012. 49 Lord Chancellor et al., Transforming Our Justice System: Joint Vision Statement, 2016. Ähnlich auch bereits die Zielrichtung der Woolf reforms der 1990er Jahre, s. Woolf, Access to Justice: Interim Report, 1995, passim. 50 https://www.gov.uk/make-money-claim. Daneben existieren auch ein Pilotprojekt für den County Court (County Court Online, s. Civil Procedure Rules (CPR) Practice Direction (PD) 51S) sowie die auf Schadenersatzklagen ausgerichtete Pilotplattform Damages Claims Online (s. CPR PD 51ZB), die bislang allerdings nur für anwaltliche Parteivertreter zugänglich sind. 45

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zurückbleibt – stellt die Plattform mittlerweile auch ein Mediationssystem für Bagatellstreitigkeiten bereit und gestattet dem Richter, prozessleitende Verfügungen unmittelbar auf digitalem Wege zu treffen.51 Und auch jenseits von Kanada und England greift der Trend zum umfassenden Streitmanagement auf Gerichtsplattformen – durch Integration von ODR-Mechanismen und technologiegestützten Selbsthilfeangeboten – längst um sich. So haben etwa Gerichte in Illinois, Kalifornien oder New York in Kooperation mit legal aid-Organisationen umfangreiche Informationsseiten für rechtsuchende Laien entwickelt,52 wenn auch mit erheblich variierender Nutzerfreundlichkeit. Und Online-Streitbeilegungstools im Bereich geringwertiger Streitigkeiten werden auch in zahlreichen US-Bundesstaaten (insbesondere in New York, Utah, Ohio, Texas und Michigan) bereits pilotiert;53 gleiches gilt für die australischen Provinzen Victoria54 und New South Wales.55 a) Judicial ODR als echter Zugang zum Recht Solange derartige Portallösungen in ihrem Streben nach konsensbasierter Konfliktlösung nicht den Zugang zum klassischen richterlichen Urteilsspruch kompromittieren, büßen sie ihre Eignung zu effektiver Rechtsdurchsetzung – und damit ihr Charakteristikum als Weg zum Recht stricto sensu – nicht ein. Im Gegensatz zu privaten After-Sales-Services von eBay, Alibaba, PayPal & Co. eröffnen digitale Gerichtsportale, auch wenn sie anstelle autoritativer Entscheidungsfindung kompromissorientierte Einigungsprozesse forcieren, nicht „mehr Zugang zu weniger Recht“.56 Vielmehr finden die Verhandlungs- und Mediationsphasen dank des gerichtlichen Rahmens unter dem autoritativen „Schatten“ des materiellen Rechts 51 S. CPR PD 51R. Ausführlich zum sukzessiven Aufbau Reuters Practical Law Dispute Resolution, Online Dispute Resolution and the Development of an Online Court, July 2021. Eine gesetzliche Grundlage für den weiteren Aufbau des Online-Gerichtssystems fehlt allerdings noch immer, seit 2019 die Courts and Tribunals (Online Procedure) Bill an parlamentarischer Diskontinuität gescheitert ist. 52 So u. a. die Plattformen Illinois Legal Aid Online (https://www.illinoislegalaid.org), New York CourtHelp (https://www.nycourts.gov/courthelp) und California Courts’ Online SelfHelp Center (insbes. für small claims, s. https://selfhelp.courts.ca.gov/small-claims); s. dazu auch Cabral et al., Harv. J. L. & Tech. 26 (2012), 241 (247). 53 Überblick dazu bei Schmitz, Buff. L. Rev. 67 (2019), 89 (105 ff.); dies., Fordham L. Rev. 88 (2020), 2381 (2388 ff.); s. auch Himonas, Dick. L. Rev. 122 (2018), 875 ff.; Larson, J. Disp. Resol. 2019, 77 ff. 54 S. zum ODR-Piloten des Victorian Civil and Administrative Tribunal den Annual Report 2018 – 2019, S. 16 (abrufbar unter https://www.parliament.vic.gov.au/file_uploads/VCAT_An nual_Report_2018-19_zyMvRT0m.pdf); vgl. auch Tan, Deakin LR 24 (2019), 101 (122 ff.). 55 Zum ODR-Projekt des NSW Civil and Administrative Tribunal s. Cashman/Ginnivan, Macquarie L.J. 19 (2019), 39 (43). 56 So für ADR prägnant Engel, NJW 2015, 1633; für private ODR-Anbieter auch Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (66 f.).

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statt.57 Denn die Wertungen des geltenden Privatrechts strahlen auf eine etwaige Einigung der Parteien aus: zum einen durch die Rechtsorientierung moderierter Einigungsprozesse wie Early Neutral Evaluation und Mediation, zum anderen durch die Integration von Selbsthilfesystemen wie dem Solution Explorer, welche die Fallkonstellation streng nach Maßgabe des in Entscheidungsbäume übersetzten materiellen Rechts analysieren. Insbesondere soweit eine Überleitung ins streitige Verfahren mit richterlichem Urteilsspruch niederschwellig möglich bleibt, fungiert der Verweis auf eine solche hoheitliche Streitentscheidung als Drohkulisse, die zur Berücksichtigung der geltenden Rechtslage anhält und so auch die schwächere Partei zur effektiven Durchsetzung ihrer Rechtsposition im Verhandlungsweg befähigt.58 Und gerade diesen Weg zur richterlichen Entscheidungsfindung als klassischer Form der Rechtsdurchsetzung eröffnen Gerichtsportale – im Gegensatz zu nicht institutionalisierten ADR- und ODR-Prozessen – in niederschwelliger Weise. Vorgeschaltete Kompromissfindungsphasen etablieren jedenfalls insofern keine beachtlichen Barrieren, als sie als rein freiwilliges Angebot ausgestaltet sind.59 Und selbst ein zwangsweises Instituieren von Verhandlungs- oder auch Mediationsphasen im Rahmen von digitalen Gerichtsprozessen wird sich noch auf das Vorbild des § 15a EGZPO sowie insbesondere darauf stützen lassen, dass diese der Inanspruchnahme des gerichtlichen Rechtsschutzwegs lediglich temporär entgegenstehen; denn in einer bloß unwesentlichen Verzögerung liegt nach der Rechtsprechung des EuGH keine Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz nach Maßgabe von Art. 47 Abs. 2 EU-GR-Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK.60 b) Abbau von Informationshürden und Verfahrenscodierung Das Potenzial digitaler Gerichtsportale, den Zugang zum Recht zu verbessern, basiert dabei nach der Konzeption des kanadischen Pionierbeispiels und seiner Nachahmer nicht allein auf der Eröffnung digitaler Zugangswege zu diversen Konfliktlösungsmechanismen. Kernelement der Zugangsvereinfachung ist vielmehr das zum Schlagwort der Stunde avancierte Legal Design Thinking: die gestalterische Ausrichtung der digitalen Portale an den Bedürfnissen der Bürger, die zum eigenständigen

57 Vgl. zum Begriff „shadow of the law“ bereits Mnookin/Kornhauser, Yale L.J. 88 (1979), 950; s. auch Genn, Yale J.L. & Human. 24 (2012), 397; Blobel/Späth, ZeuP 2005, 784 (786); Eidenmüller/Engel, Ohio St.J. on Disp.Resol. 29 (2014), 261 (281). 58 S. Genn, Yale J.L. & Human. 24 (2012), 397; Prince, Int. J.L.C. 16 (2020), 181 (183), die zu Recht auch darauf hinweist, dass dieser Effekt ausbleibe, wenn ein niederschwelliger Zugang zur Justiz fehlt. 59 S. auch bereits Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (84). 60 EuGH, Urt. v. 18. 3. 2010 – Rs. C-317/08, Alassini v Telecom Italia Spa, ECLI:EU:C:2010:146, Rn. 55; vgl. auch EuGH, Urt. v. 14. 6. 2017 – Rs. C-75/16, Memimi v Banco Popolare, ECLI:EU:C:2017:457, Rn. 61.

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Navigieren des Onlinesystems befähigt und von der Notwendigkeit einer kostenträchtigen Anwaltsmandatierung befreit werden sollen.61 Das setzt nicht nur ausreichende Hilfestellungen zur Analyse der Rechtssituation und zu Handlungsoptionen von (potenziellem) Kläger und Beklagtem voraus, wie sie ein Expertensystem leisten kann. Laiengerechte Zugänglichkeit impliziert darüber hinaus auch, dass an die Stelle der hochtechnisierten Verfahrensvorschriften der analogen Welt, die in ihren Details auch für Rechtskundige oft nur unter Zuhilfenahme umfangreicher Kommentarliteratur beherrschbar sind, simplere, intuitiv bis automatisch befolgbare Regularien treten. Softwaresysteme und algorithmenbasierte Informationsverarbeitungstools, die Verhandlungs- und Streitbeilegungsprozesse eigenständig vorbereiten und administrieren, bis hin zu vollautomatisierter Vergleichsfindung,62 können hier Abhilfe schaffen und die Komplexität des Konfliktlösungsverfahrens im digitalen Raum erheblich reduzieren. Damit ist zwar nicht gesagt, dass sich ein Online-Konfliktlösungsverfahren auf eine einzige prozessuale Vorschrift beschränken lässt, wie es etwa Lord Briggs, dem Spiritus Rector des englischen Online Solutions Court, vorschwebt – nämlich schlicht darauf, den elektronischen Anweisungen Folge zu leisten.63 Einer derart radikalen Simplifizierung dürften die vielgestaltigen Funktionen prozessualer Vorschriften, die neben dem Prozessverhalten der Parteien etwa auch die richterliche Prozessleitung, Pflichten von Zeugen und Sachverständigen sowie die Kontrollbefugnisse oberinstanzlicher Gerichte zu regeln haben, wohl zwingend entgegenstehen.64 Gleichwohl wird sich ein per digitalem Portal gesteuertes Konfliktlösungsverfahren aber so konzipieren lassen, dass jedenfalls aus Sicht der Parteien die Einsicht code is process verfängt: Ebenso wie sich im Kontext selbstvollziehender Verträge die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Code Recht sei, da codierte Dispositionen vielfach eine endgültige Rechtslage schaffen,65 eignen sich Codierungen im Verfahrensbereich dazu, den Hergang von Konfliktlösungsprozessen zu strukturieren und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten vorzuzeichnen. Gerade im Hinblick auf Mindestinhalte der Klageschrift, auf die Wahrung von Formund Fristvorgaben oder auch hinsichtlich vorgelagerter Zuständigkeitsfragen werden digital prädeterminierte Strukturen die Komplexität des Verfahrens erheblich reduzieren können.

61 S. dazu Loebl, Designing Online Courts, 2019, S. 17; Prince, Int. J.L.C. 16 (2020), 181 (188 ff.) m. w. N. 62 Zu Methoden der assisted und automated negotiation im Einzelnen J. Hörnle, Crossborder Internet Dispute Resolution, 2009, S. 81 f. 63 Zitiert nach Cross, LS Gaz, 17. 3. 2021. 64 Das spiegelt auch die gesetzliche Grundlage des CRT, der CRT Act 2012, wider. 65 Grundlegend zur Einsicht code is law Lessig, Code and other Laws of Cyberspace, 1999, Kap. 1. Dazu jüngst auch Fries, AcP 221 (2021), 108 (136 f.) m. w. N.

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IV. Offene Fragen und mögliche Vorbehalte gegen Online-Gerichtsportale Bei allem Potenzial, das digitale Portallösungen für die Verbesserung des Zugangs zum Recht bieten, wirft ihre Einführung zugleich eine Reihe von Folgefragen auf und ruft deshalb auch Skeptiker auf den Plan. Während die Sicherstellung analoger Verfahrensgarantien, die sich bei der Digitalisierung von Gerichtsverfahren als neuralgischer Punkt herauskristallisiert,66 für den bloßen Zugang per Portallösung noch keine Relevanz entfaltet und der vieldiskutierte digital divide durch den einstweiligen Fortbestand paralleler Papierprozesse abgefedert werden kann,67 bleiben andere kritische Punkte bislang unterbeleuchtet: Kaum geklärt sind etwa die Implikationen der Portalgestaltung auf das Nutzerverhalten der rechtsuchenden Bürger, die andernorts unter dem Stichwort digital nudging thematisiert werden.68 Vor besondere Herausforderungen stellen zudem die Kompetenzen der Justiz – in rechtlicher (1.), aber auch in tatsächlicher Hinsicht (2.). Zudem erhebt sich die Frage, ob niederschwelliger Zugang zum Recht überhaupt uneingeschränkt wünschenswert ist – oder ob es korrigierender Restriktionen bedarf (3.). 1. Justizkompetenzen zwischen Föderalismus und Gewaltenteilung Schon das rechtliche Kompetenzprofil der Justiz sorgt beim Aufbau eines Justizportals in zweierlei Hinsicht für Komplikationen. Zum einen gilt es, der föderalen Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit Rechnung zu tragen – ohne dabei ein undurchsichtiges Nebeneinander von 16 Landes- und einem Bundesjustizportal (für die Bundesgerichtsbarkeit) zu kreieren. Schon gegenwärtig hat sich diese Gefahr indes mit dem Justizportal von Bund und Ländern umgehen lassen, das bislang freilich als reine Informationsplattform elektronische Bekanntmachungen sowie Links zu Online-Services versammelt.69 Zum anderen zwingt der Grundsatz der Gewaltenteilung nicht nur zu einem klaren Bekenntnis zur unabhängigen Stellung der Justiz, das sich auch in einem eigenständigen Design der Justizwebsite spiegeln sollte.70 Es ist insbesondere auch in Rechnung zu stellen, dass zwar die Förderung gütlicher Streitbeilegung anerkanntermaßen Justizaufgabe ist,71 nicht aber die Analyse der Rechtssitua66

S. dazu Rühl (Fn. 2), S. 591 (602 ff.); Meller-Hannich, AnwBl 2021, 288 (288 f.); Voß, VuR 2021, 243 (247 ff.). 67 Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (83). Zu Strategien, gleichwohl chancengleichen Zugang zu Digital Justice zu eröffnen, s. JUSTICE, Preventing Digital Exclusion from Online Justice – A Report, 2018, para. 3.1 ff. 68 Sela, J. Disp. Resol. 2019, 127 (141 f.). 69 www.justiz.de. 70 In diesem Sinne auch JUSTICE (Fn. 67), para. 3.38. 71 S. nur exempl. BGH NJW 1967, 2054 (2056); Koch, Verbraucherprozessrecht, 2. Aufl. 2019, S. 148 f.; Wendland, Mediation und Zivilprozess, 2017, S. 497 f.; Stürner, JR 1979, 133 (135 ff.); Wolf, ZZP 89 (1976), 260 (270).

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tion und die Bereitstellung automatisiert erzeugter Dokumentenvorlagen durch vorgeschaltete Expertensysteme.72 Die Konzeptionierung derartiger Expertensysteme hätte jedenfalls bei der Exekutive, in der Hand der Justizministerien, zu liegen.73 2. Risiko eines IT-Versagens Daneben gibt auch die technologische Realisierung des Justizportals de facto nicht unerhebliche Herausforderungen auf. Erfolgreiche Portallösungen ausländischer Justizsysteme machen indes vor, dass der vielbeschworenen Gefahr eines Technologieversagens der öffentlichen Hand durchaus beizukommen ist: etwa durch Ankauf und Adaption erprobter Privatsoftware, wie sie dem auf der Salesforce-Plattform aufgesetzten CRT74 oder auch der fernöstlichen Justiz-App China Mobile Mini Court zugrunde liegt, die auf Basis der Anwendung WeChat operiert.75 Aber auch die Ergebnisse von IT-Initiativen der öffentlichen Hand selbst, wie sie das BMJV im Sommer 2021 etwa hinsichtlich der prototypischen Entwicklung digitaler Klagewege betrieben hat,76 geben Anlass zur Zuversicht. 3. Zugang zum Recht im rechten Maß? Skepsis sieht sich schließlich auch die grundsätzliche Zielrichtung digitaler Gerichtsportale und niederschwelliger Online-Verfahren ausgesetzt: Die Vereinfachung des Zugangs zum Recht wird nicht uneingeschränkt befürwortet, sobald speziell die Zugangshürden zur staatlichen Gerichtsbarkeit ins Visier geraten. Unter Verweis darauf, dass Rechtsschutz ein knappes Gut sei77 und ein Mehr an Rechtsdurchsetzung leicht in einen „orwellschen Alptraum“ umschlagen könne,78 entspinnt sich eine De-

72 Hierzu näher Voß, VuR 2021, 243 (245); allg. zur Problematik auch Susskind (Fn. 40), S. 227 ff. 73 Auf Grundlage einer Ermächtigung durch den Gesetzgeber, etwa nach dem Vorbild von § 117 Abs. 3 ZPO (für die Bereitstellung von PKH-Formularen), § 130c ZPO (zur Einführung elektronischer Formulare) sowie §§ 703c Abs. 1, 1088 Abs. 2 ZPO (bzgl. der maschinellen Bearbeitung von Anträgen im Rahmen des dt. bzw. europ. Mahnverfahrens). 74 S. dazu Salter, Windsor Yb. Access Just. 34 (2017), 112 (127 f.). 75 Erläuternd Sourdin, Judges, Technology, and Artificial Intelligence, 2021, S. 102 f. 76 Im Rahmen des Tech4Germany-Programms „Digitale Klagewege“ (https://tech.4germa ny.org/project/digitale-klagewege-bmjv/). 77 So bereits Brenda, DRiZ 1979, 357 ff.; ähnlich G. Pfeiffer, ZRP 1981, 121 („knappe Ressource Recht“); vgl. auch Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 132 f. sowie – sehr weitgehend – Motsch, in: Köbler/Heinze/Hromadka (Hrsg.), FS Söllner, 1990, S. 403 (405); speziell im Kontext der Digitalisierungsdebatte auch Sehl, Ein Sommermärchen, https://www.lto.de/recht/justiz/j/hamburg-pilotprojekt-online-klage-gerichte-wollen-mehr-kla gen/. 78 So plakativ Laurence Friedman, Fordham Urb. L.J. 37 (2010), 3 (7) („Orwellian nightmare“); s. auch Katsh/Rabinovich-Einy (Fn. 29), S. 168.

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batte darüber, wie viel Zugang zum Recht – gemeint ist hier Zugang zur Justiz – überhaupt wünschenswert ist. Ihre argumentative Rechtfertigung finden Schranken, Hemmnisse und Rationierungen der Rechtsgewährung allerdings stets nur in den begrenzten Ressourcen der justiziellen Rechtsfindung. Im Kern geht es um die Notwendigkeit, einer Überlastung der Justiz vorzubeugen, die zentrale rechtsstaatliche Verfahrensgarantien – nicht zuletzt das Verbot überlanger Verfahrensdauer79 – auszuhöhlen drohte.80 Nicht grundlos sind denn auch gerade Alternativen zum staatlichen Rechtsschutz und damit zur Entlastung der Justiz in öffentlichen Initiativen – insbesondere auf europäischer Ebene mit ADR-Richtlinie und ODR-Verordnung – lanciert worden.81 Entfallen aber die Kapazitätsgrenzen des analogen Zivilverfahrens, so entfällt zugleich das Fundament für Bedenken gegenüber einem „Zuviel“ an Rechtsdurchsetzung, die immerhin schlicht der Umsetzung von Wertentscheidungen des materiellen Gesetzgebers dient. Insoweit ist in Rechnung zu stellen, dass technologiegestützte Triage und Ermutigung zur gütlichen Streitbeilegung als Filtersysteme erheblich zur Reduktion der streitigen Verfahren und damit der richterlichen Arbeitslast beitragen können – wie die Zahlen des kanadischen CRT überdeutlich belegen.82 Zugleich mögen Eingabemasken und Analysetools zielgerichtet aufbereitete, vorstrukturierte Sachverhalte generieren und den Richter damit von der undankbaren Aufgabe befreien, einen unvollständigen, konfusen oder repetitiven Parteivortrag relationstechnisch erfassen zu müssen.83 Und perspektivisch wird auch der behutsame Einsatz künstlicher Intelligenz im Bereich vorgelagerter Streitbeilegungsprozesse,84 aber auch zur Unterstützung der richterlichen Kerntätigkeit,85 als wirkmächtiges Instrument zur Schonung der knappen personellen Justizressourcen erwogen werden müssen. Wenn damit Ressourcenknappheit nicht länger die Rationierung gerichtlichen Rechtsschutzes diktiert, kann auch die Gefahr von Querulantentum und schikanösen Klagen ein Absehen von niederschwelligem digitalen Zugang zur Justiz kaum recht79 S. dazu nur exempl. BVerfGE 35, 382 (405); BVerfGE 55, 349 (369); BVerfGE 88, 118 (124); explizit auch Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 47 Abs. 2 EU-GR-Charta. 80 Vgl. in diesem Sinne auch bereits G. Pfeiffer, ZRP 1981, 121 (124). 81 Dazu näher Engel, NJW 2015, 1633; Rühl, ZZP (127) 2014, 61 ff. 82 So entfielen auf knapp 55.000 Nutzungen des Solution Explorer im Zeitraum 2019/2020 nicht einmal 6.000 neue Klageeingänge, von denen wiederum fast 40 % gütlich beigelegt wurden. Allg. zu solchen Effizienzgewinnen auch Loebl (Fn. 61), S. 18. 83 In ähnliche Richtung zielt auch die Debatte um verpflichtende Schriftsatzstrukturierung, s. dazu Zwickel, in: Buschmann/Gläß et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren, 2018, S. 179 ff.; Gaier, ZRP 2015, 101 ff.; Greger, NJW 2019, 3429 ff. 84 Insbesondere durch (double) blind bidding Techniken; s. dazu Loebl (Fn. 61), S. 139; Kreis, in: Kaulartz/Braegelmann (Hrsg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020, Kap. 14.2 Rn. 31. 85 Zu den Herausforderungen Loebl (Fn. 61), S. 66 ff., 87 ff.; Shackelford/Raymond, Wis. L. Rev. 2014, 615 ff.; aus dt. Sicht insbes. Rühl, in: Kaulartz/Braegelmann (Fn. 84), Kap. 14.1 Rn. 11 ff. sowie Heil, IT-Anwendung im Zivilprozess, 2020, passim.

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fertigen. Denn nicht nur entbehren derartige Befürchtungen bis dato jeder empirischen Grundlage – welche ausländische Erfahrungen in Kanada & Co. ausweislich ihrer Jahresberichte gerade nicht liefern. Auch fehlt die Begründung, warum digitale Justizportale ein Maß an Rechtssicherheit und Missbrauchsprävention leisten müssten – etwa durch strenge Registrierungs- und Identifizierungserfordernisse86 –, das auch dem tradierten analogen Justizsystem abgeht.87

V. Würdigung und Ausblick Dass nach der Vision der Arbeitsgruppe die digitale Zugänglichkeit der Gerichte per Justizportal auch für Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden soll, an denen die bisherigen elektronischen Übermittlungswege vorbeigehen, ist ein lange überfälliger Schritt in der Modernisierung der Ziviljustiz. Gleichwohl ist es mit der Digitalisierung von Zugangs- und Kommunikationswegen allein nicht getan. Will die Dritte Gewalt ihrer Strukturkrise entrinnen und ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung sicherstellen – auch jenseits einzelner Geschäftsfelder wie Diesel-Gate und Fluggastfällen, in denen die Eingangszahlen jüngst signifikant steigen88 –, so muss der Umgang gerade mit geringwertigen Streitigkeiten unter Nutzbarmachung des digitalen Potenzials neu gedacht werden. Online-Gerichtsportale dürfen sich insoweit nicht in der digitalen Vereinfachung der Wege zur Justiz – d. h. zur klassischen justiziellen Streitentscheidung – erschöpfen, ihr Serviceangebot darf nicht auf Hilfestellungen bei Klageeinreichung und Verfahrenswahl beschränkt bleiben. Vielmehr gilt es, die Hürden beim Zugang zum Recht mit seinen vielfältigen Parametern, von Informationsdefiziten und fehlender Navigierbarkeit des Justizsystems bis hin zum Zeitund Kostenaufwand der Konfliktlösung, umfassender zu adressieren. Insoweit drängt sich die Integration von Analysesystemen und Verhandlungstools in ein justizielles Webportal auf, um so insgesamt ein lösungsorientiertes, niederschwelliges Konfliktmanagementsystem unter dem Dach der Justiz zu schaffen – und damit „under the shadow of the law“, mit der Aussicht auf jederzeitige Überleitung zur autoritativen Streitentscheidung durch den Richter. Es steht zu hoffen, dass die anhaltende Pandemiesituation, die virtuelle Formen mündlicher Verhandlung89 und Kommunikation90 besonders in den Fokus gerückt 86

Krit. hins. des Identifizierungserfordernisses nach dem Vorschlag der Arbeitsgruppe deshalb Rühl (Fn. 2), S. 591 (596); vgl. auch Loebl (Fn. 61), S. 147. 87 Zur Herausforderung schon für das analoge Justizsystem Bockholdt, NZS 2020, 169; Caspar/Neubauer, LKV 2017, 1; Roller, NZS 2021, 508. 88 Dazu bereits sub III. mit Fn. 42. 89 Zu den Debatten um § 128a ZPO und mögliche Ausweitungen s. nur exempl. Köbler, NJW 2021, 1072 ff.; Mantz/Spoenle, MDR 2020, 637 ff.; Reuß, JZ 2020, 1135 ff.; M. Stürner, AnwBl 2021, 167 ff.; Windau, NJW 2020, 2753 ff.; vgl. auch Greger, MDR 2020, 957 ff. 90 S. insbes. die Agenda der Europäischen Kommission, Digitalisation of Justice in the European Union, COM(2020) 710 final.

Digitale Gerichtsportale: Wege zur Justiz – Wege zum Recht?

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hat, den Blick für diesen Bedarf nach weitreichenderen, transformativen Digitalisierungsoptionen und deren Potenzial für die Verbesserung des Zugangs zum Recht nicht verstellt. Denn das Recht sollte doch – ganz im Sinne von Kafkas Bürger vom Lande – „jedem und immer zugänglich sein.“91

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Kafka (Fn. 1).

Niederlande, ein Vorreiter im Bereich digitaler Bürger- und Justizportale Von Liane Schmiedel

I. Einleitung Die alternative bzw. außergerichtliche Streitbeilegung hat in den Niederlanden eine lange Tradition. Bei vergleichbarer Regelungsdichte werden deutlich weniger Gerichtsverfahren geführt als z. B. in Belgien, England und Deutschland.1 Die Prämisse ist, dass Zugang zum Recht nicht nur über Zugang zu den Gerichten erfolgt. Es stehen viele, gut etablierte informelle Streitschlichtungsmechanismen2 zur Verfügung. Das System ist darauf ausgerichtet, für alle Bürger ein möglichst niederschwelliges Angebot zur Konfliktbeilegung zur Verfügung zu stellen und sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen. Vorrangig wird eine einvernehmliche Streitbelegung angestrebt.3 Dies gilt insbesondere auch für die Beratungs- und Prozesskostenhilfe, die vom Grundsatz geprägt ist, Konflikte möglichst ohne Gerichtsverfahren bzw. der Einschaltung eines Anwalts einer Lösung zuzuführen und dabei wo immer möglich auf alternative Formen der Konfliktlösung zurückzugreifen.4 Das System teilt die Beratungsangebote in drei Stufen ein: nulde lijn rechtshulp (Basisinformationen ohne persönlichen Kontakt), eerste lijn rechtshulp (Beratung in Rechtshilfebüros) und tweede lijn rechtshulp (Beratung durch professionelle Rechtsdienstleister wie Anwälte, aber auch Mediatoren).5 Onlineangebote sind daher fest in das System eingebunden und spiegeln auch den Trend zur zunehmenden Nutzung digitaler Angebote wider.6 1 Siehe schon Velthoven/Ter Voert, Geschilbeslechtingsdelta, 2003, S. 52, 124 f.; Hoyningen-Huene, Außergerichtliche Konfliktbehandlung in den Niederlanden und Deutschland, Köln, 2000, S. 10 f. 2 Wie Geschillencommissies, Mediation, Bindend advies. 3 Siehe z. B. Smith/Paterson, Face to Face Legal Services and Their Alternatives: Global Lessons from the Digital Revolution, S. 62. 4 Vgl. Minister Dekker, Zesde voortgangsrapportage stelselvernieuwing rechtsbijstand, Kamerstuk 31753, nr. 248, S. 1 f. 5 Vgl. hierzu Schmiedel, Juridisch Loket – One-Stop-Shop für Streitbeilegung in den Niederlanden, ZKM 2019, S. 209. 6 Etwa 97 % der Niederländer haben Zugang zum Internet, 88 % nutzen es täglich, wobei dieser Prozentsatz bei den 12- bis 45-Jährigen bei 96 % liegt, von den über 75-Jährigen sind es immerhin noch 44 %, Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta 2019, S. 52.

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Es ist daher nicht verwunderlich, dass in den Niederlanden bereits seit längerer Zeit staatlich betriebene bzw. unterstützte Onlineportale für Rechtssuchende existieren, die Hilfe bei der Konfliktlösung bieten, indem sie Informationen zur Rechtslage, aber vor allem auch zu vorhandenen Möglichkeiten der Rechtsberatung und Streitschlichtungsmechanismen (einschließlich Gerichtsverfahren) geben sowie Tools für Onlinestreitschlichtung (ODR) und weitere Onlinedienste (wie digitale Antragseinreichung bis hin zu digitaler Prozessführung) zur Verfügung stellen. Auch beim Zugang zu Behörden und Gerichten gibt es eine klare Digitalisierungsstrategie, die durch die Corona-Krise noch einmal beschleunigt wurde.7 Rund 90 % aller Behördendienste sind bereits online verfügbar. Diese Angebote werden ebenfalls gut genutzt. 70 % aller Befragten einer repräsentativen Studie zur Streitbeilegung von 2019 gaben an Onlinedienste von Behörden zu nutzen, der größte Anteil entfiel dabei auf Angebote von Kommunen und Gemeinden sowie der Steuerbehörden.8

II. Akteure Für den Aufbau und den Betrieb der vorhandenen Rechtsportale und des Justizportals sind zwei staatliche Akteure, der Raad voor Rechtsbijstand und der Raad voor Rechtspraak sowie eine vom Justizministerium finanzierte Stiftung, das Jurdisch Loket, zentral. Beim Raad voor Rechtsbijstand handelt sich um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die neben anderen Aufgaben vor allem für die Durchführung des Wet op de rechtsbijstand (Gesetz über die Prozesskostenhilfe) und damit für das System der Beratungs- und Prozesskostenhilfe zuständig ist. Vom Raad voor Rechtsbijstand wurde das Rechtsportal www.rechtwijzer.nl entwickelt, welches auch heute noch von ihm betrieben und unterstützt wird. Das Juridisch Loket wurde 2004 im Zuge des umfassenden Umbaus der Beratungs- und Prozesskostenhilfe als Nachfolgeorganisation des Bureau voor Rechtshulp ins Leben gerufen9 und übernahm deren Aufgabe, juristische Beratung (für Beratungshilfeberechtigte) zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck existieren derzeit 30 Büros, in allen größeren Städten in den Niederlanden. Zudem gibt es dreizehn Servicestellen in Städten, in denen kein eigenes Büro existiert10. Auch eine telefonische Beratung wird über zwei Callcenter angeboten.11

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Siehe unter anderem Raad voor Rechtsbijstand, Visie Rechtwijzer 2017 – 2019; Raad voor de Rechtspraak, Jaarverslag 2021, S. 30 f.; College van Beroep, Jaarverslag 2020, S. 12 ff. 8 Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta, 2019, S. 52. 9 Vgl. hierzu auch Schmiedel, ZKM 2019, 209 ff. 10 Stand 2021, vgl. Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 7. 11 Zutphen und Den Haag.

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Ziel des Umbaus und nachfolgender Reformen12 war es wie eingangs erwähnt, niederschwellige Beratungsangebote zur Verfügung zu stellen, um so viele Streitigkeiten wie möglich bereits ohne die Einschaltung eines professionellen Rechtsdienstleisters bzw. des Gerichts abzufangen.13 Im Rahmen dieses Auftrages wurde die Internetpräsenz www.juridischloket.nl in den vergangenen Jahren hin zu einem allgemeinen Informationsportal für Rechtssuchende ausgebaut und interaktive Tools zur Unterstützung der Streitbeilegung integriert. Sie ist neben Rechtwijzer das zentrale Element der nulde lijn. Obwohl im Rahmen der Beratungs- und Prozesskostenhilfe entwickelt stehen diese Onlineangebote nicht nur Rechtssuchenden offen die beihilfeberechtigt sind, sondern grundsätzlich allen Bürgern. Es ist der Anspruch des Juridisch Loket, ein möglichst umfassendes Rechtsportal für alle Bürger zur Verfügung zu stellen. Verantwortlich für den Betrieb des Justizportals ist der Raad voor de Rechtspraak. Letzterer wurde im Zuge einer Justizreform 2002 als unabhängiges Leitungsgremium ins Leben gerufen und agiert zwischen Justizministerium und Gerichten. Er ist Teil der rechtsprechenden Gewalt, ohne jedoch selbst Recht zu sprechen. Er steht zum einen als Verwaltungsorgan allen Gerichten vor, zum anderen sind ihm Aufgaben im Bereich der Qualitätssicherung der Rechtsprechung, wie Förderung von kürzeren Prozesslaufzeiten, Förderung von Rechtseinheitlichkeit, Beratung der Gesetzgebung und Beauftragung von wissenschaftlichen Untersuchungen zugewiesen. Im Rahmen seiner Verwaltungsaufgaben obliegt ihm dabei auch die Unterstützung der Gerichte mit Informations- und Kommunikationstechnik und als Teil davon wird das Justizportal www.rechtspraak.nl betrieben.

III. Rechtsportale 1. Rechtwijzer Ein Pionier im Bereich von Rechtsportalen ist www.rechtwijzer.nl. Das Portal ging 2007 zum ersten Mal online. Es wurde vom Raad voor Rechtsbijstand in Zusammenarbeit mit der Universität Tilburg entwickelt.14 Basis für die Entwicklung waren empirische Studien zur Streitbeilegung und wissenschaftliche Forschung über den Zugang zum Recht.15 In Übereinstimmung mit den dort gewonnenen Erkenntnissen 12 U. a. die Einführung eines Eigenbeitrags bei der Inanspruchnahme von Beratungs- und Prozesskostenhilfe (Besluit eigen bijdrage rechtsbijstand) 2009. 13 Vgl. hierzu Schmiedel, ZKM 2019, 209 f. 14 Ausführlich hierzu u. a. Dijsterhuis, The Online Divorce Resolution Tool „Rechtwijzer uit Elkaar“ Examined, in: Maclean/Dijsterhuis, Digital Familiy Justice: From Alternative Dispute Resolution to Online Dispute Resolution, 2019, S. 193 ff. 15 U. a. Genn, Path to Justice, 1999; Van Velthoven/Ter Voert, Geschilbeslechtingsdelta, 2003; siehe auch Gramatikov/Tilburg Institute of Interdisciplinairy Studies of Civil Law and Conflict Resolution Systems, Handbook for measuring the costs and quality of access to justice, 2010.

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über Motive und Bedürfnisse von Personen, die in einen rechtlichen Konflikt verwickelt sind sowie den notwendigen Grundlagen für eine möglichst dauerhafte und befriedende Lösung eines solchen Konflikts, wollte Rechtwijzer einen Beitrag dazu leisten, die Eigenständigkeit von Rechtssuchenden zu fördern. Sie sollten in die Lage versetzt werden, ihren Rechtsstreit selbstbestimmt aufzuarbeiten und zu einer Lösung zu führen.16 Dazu sollten Ihnen in einfacher und verständlicher Weise Informationen zur Verfügung gestellt werden, die es ermöglichen würden den Konfliktprozess zu kontrollieren und den Weg zur Lösung, auch in Zusammenarbeit mit der anderen Partei, selbst zu finden. Der Zugang zum Recht sollte für alle, insbesondere auch für jene, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, einen professionellen Rechtsdienstleister einzuschalten, einfacher werden. Daher auch der Name der Seite, der sich mit „Wegweiser durch das Recht“ übersetzen lässt. Zentrales Element des Portals war ein interaktives Diagnose- und Triage-Tool (Dispute Roadmap – Rechtsleitfaden). Anhand von verschiedenen Fragen zum vorliegenden Konflikt wurde das zugrundeliegende Rechtsproblem zunächst Schritt für Schritt mit dem Nutzer aufgearbeitet. Im Laufe des Prozesses erhielt er dabei Hinweise zur Lösung seines Konflikts. Ihm wurden Checklisten für die zu unternehmenden Schritte an die Hand gegeben sowie Hinweise, welche Möglichkeiten für die Streitbeilegung zur Verfügung stehen. Gegebenenfalls wurde an externe Beratungsdienstleister, z. B. das Juridisch Loket weiterverwiesen. Das Diagnosetool umfasste dabei die gängigsten Rechtsbereiche für Verbraucher, wie Miete, Arbeit, Familie, Verbrauchsgüterkauf und Konflikte mit der Verwaltung. Von der Diagnose und Weiterverweisung (Rechtwijzer 1.0) wurde das Angebot danach schrittweise ausgebaut. Mit „MagOntslag“ wurde ein auf Kündigungen im Arbeitsrecht spezialisiertes Diagnosetool zur Verfügung gestellt. Ziel war es, direkt über die Plattform Online-Streitbeilegung zu ermöglichen. Daneben konnten ab 2010 die seit 2009 für die Einreichung einer Scheidung verpflichtend vorgesehenen Elternschaftspläne17 in einem interaktiven Prozess erstellt werden. 2015 wurde schließlich „Uitelkaar“ (Rechtwijzer 2.0) eingeführt, eine ODR für die Erarbeitung einer vollumfänglichen Scheidungsvereinbarung, die anschließend bei Gericht eingereicht werden konnte. Nach dem Diagnoseprozess, der sowohl den zugrundeliegenden Rechtskonflikt, als auch die Beziehung und Einstellungen der Parteien dazu erfasste,18 konnten diese in einem, durch das Tool begleiteten, Online-Dialog Schritt für Schritt die für den Abschluss der Vereinbarung notwendigen Punkte abarbeiten. Die erzielten Ergebnisse wurden dann in der Vereinbarung niedergelegt. 16 Vgl. Raad voor Rechtsbijstand, Visie Rechtwijzer 2017 – 2019, S. 22; Dijsterhuis (2019), S. 195. 17 Dieser umfasst Regelungen zum Sorge- und Umgangsrecht sowie zum Kindesunterhalt. 18 Um beurteilen zu können, ob eine selbstbestimmte Lösung möglich scheint, oder z. B. wegen besonderer rechtlicher Hintergründe (wie Auslandsbezug) oder Problemen in der Beziehung, wie Gewalt die Einschaltung eines externen (Rechts-)Dienstleister (Mediator oder Anwalt) notwendig ist.

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Das Portal stellte dazu Mustertexte zur Verfügung, es konnten jedoch auch eigene Texte eingefügt werden. Soweit zu bestimmten Punkten keine Einigkeit erzielt werden konnte, war die Einschaltung von Mediatoren oder Schlichtern in den Prozess möglich. Im letzten Schritt wurde die getroffene Vereinbarung von einem Familienrechtsanwalt vor der Unterzeichnung durch die Parteien überprüft und danach von ihm zusammen mit dem Scheidungsantrag für beide Parteien bei Gericht eingereicht.19 Für die Nutzung des Angebots wurde eine Pauschale, in Abhängigkeit von den ggf. zusätzlich in Anspruch genommenen Leistungen (z. B. Mediation) fällig. Diese konnte über Beratungshilfe bezuschusst werden. Dieses Angebot wurde später auf Mieter-/Vermieterkonflikte erweitert. Auch Onlinemediation konnte über die Plattform gestartet werden. Rechtsberatung an sich war dagegen nie Teil des Angebots. Im System der Beratungs- und Prozesskostenhilfe wurde diese bereits durch das Juridisch Loket gewährt.20 Eine Integration war daher von Anfang an nicht vorgesehen. Mit dem interaktiven Rechtsleitfaden gehörte Rechtwijzer 1.0 zu den innovativsten Angeboten seiner Zeit. Der Plattform wurde viel Potential im Hinblick auf die Zukunft der (digitalen) Konfliktresolution zugesprochen.21 Für die Entwicklung von Rechtwijzer 2.0 arbeitete der Raad voor Rechtsbijstand mit dem Hague Institute for Innovation of Law (HiiL)22 und der US-amerikanischen Firma Modria (die das technische Knowhow zur Verfügung stellte) zusammen. „Uitelkaar“ erfuhr international viel Aufmerksamkeit23 und wurde im Bereich der ODR auch aktiv von den Entwicklern vermarktet.24 Die in Zusammenarbeit mit HiiL und Modria entwickelte Software basierte auf der für Verbraucherkonflikte entwickelten ODR und übertrug dieses Konzept zum ersten Mal in den Bereich von beziehungsbasierten Konflikten.25 19 Siehe für eine ausführlichere Darstellung des Prozesses: van Zeeland, Online mediation: a square peg in a round hole?, ZKM 2019, S. 128 ff.; Dijsterhuis (2019), S. 201 ff. 20 Siehe unter III.2. 21 Bindman, Pioneering online dispute resolution service launches divorce package, 2014, www.legalfutures.co.uk/latest-news/pioneering-online-dispute-resolution-service-launches-div orce-package; Roger Smith bezeichnete sie als „game changer“, Smith/Paterson, Face to Face Legal Services and Their Alternatives: Global Lessons from the Digital Revolution, S. 66; siehe auch Sourdin, Judge v. Robot? Artificial Intelligence and Judicial Decision Making, UNSW Law Journal, 2018, S. 1114 (1121). 22 Ein Großteil der in der Universität Tilburg mit dem Projekt befassten Wissenschaftler war zwischenzeitlich dorthin gewechselt. 23 Bell, Family Law, Acess to Justice and Automation, Macquairie Law Journal 2019, S. 103 (129 f.); rund 60 nationale und internationale Medien, darunter der Economist, berichteten laut HiiL Annual Report 2016 darüber, siehe Smith, www.law-tech-a2j.org/advice/ goodbye-rechtwijzer-hello-justice-42. 24 Z. B. auf der 15. ODR Conference in Den Hague, „Can ODR really help courts and improve access to justice“, 2016 (HiiL ODR and the courts: the promise of 100 % access to justice, www.hiil.org/wp-content/uploads/2018/09/Hiil-Online-Dispute-Resolution-Trend-Re port); siehe auch Smith, www.legalvoice.org.uk/decline-fall-potential-resurge-rechtwijzer. 25 Law Society of England and Wales, Capturing Technological Innovation in the Legal Services, 2017, S. 63.

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Die für die Rechtwijzer erarbeitete Software wurde zum Modell für andere ähnlich gelagerte Tools weltweit, zum Beispiel für die Entwicklung von „Guided Pathways“ in British Columbia oder auch für entsprechende Angebote von Relate26 in Großbritannien. Bereits kurz nach seiner Einführung wurde Rechtwijzer 2.0 als solches jedoch im März 2017 bereits wieder beendet. Die bestehende Kooperation zwischen dem Raad voor Rechtsbijstand, HiiL und Modria wurde aufgekündigt. Die Ursachen hierfür waren vielfältig.27 Der Raad voor Rechtsbijstand wollte eine strategische Neuausrichtung von Rechtwijzer.28 Ein Grund dafür dürfte jedoch auch die geringe Reichweite von Uitelkaar gewesen sein, die wohl nicht den Erwartungen (auch im Hinblick auf mögliche Kosteneinsparungen von staatlicher Seite) der Beteiligten entsprach.29 Schätzungsweise wurden nur rund 700 Scheidungen jährlich über das Portal durchgeführt, was 1 % aller Scheidungen in den Niederlanden in diesem Zeitraum entsprechen würde.30 Allerdings hat ein externer Anbieter Uitelkaar übernommen,31 die Möglichkeit zu einer Scheidung mittels ODR zu kommen, besteht also weiterhin. Rechtwijzer blieb allerdings in der Version 1.0 bestehen. Auch nach der Neuausrichtung wird weiterhin das Ziel verfolgt, den Bürgen eine umfassende Rechtsplattform für die gängigsten Rechtsprobleme zu bieten, die ihnen einen Weg aufzeigt, wie sie diese selbstbestimmt lösen können.32 Es steht daher weiterhin ein Diagnose- und Triage-Tool (Eerste hulp bij oplossingen – EBHO – Erste Hilfe zur Konfliktlösung) zur Verfügung. Thematisch geordnet werden zudem zu den relevantesten Themen für Verbraucher: Scheidung, Verbrauchsgüterkauf, Arbeitsrecht, Mietrecht, Schulden und Insolvenz Hinweise gegeben, wie das Problem am besten selbst angegangen werden kann und welche Schritte für eine Lösung gegebenenfalls unternommen werden müssen. Zum anderen wird zu geeigneten (Rechts-)Dienstleistern und Schlichtungsstellen verlinkt.33 Das Angebot wird gut angenommen. 2021 verzeichnete die Seite 26 Eine gemeinnützige Einrichtung, die Unterstützung bei familienrechtlichen Konflikten anbietet. 27 Siehe HiiL, Rechtwijzer: Why online supported dispute resolution is hard to implement, www.hiil.org/new/rechtwijzer-why-online-supported-dispute-resolution-is-hard-to-imple ment, March 2017. 28 Vgl. Raad voor Rechtsbijstand, Visie Rechtwijzer 2017 – 2019, S. 2. 29 Bindman, Pioneering ODR platform to rein in ambitions after commercial setback, 2017, www.legalfutures.co.uk/latest-news/pioneering-odr-platform-to-rein-in-ambitions-after-com mercial-setback. 30 Bindman, 2017, hierbei sollte jedoch nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass dem Uitelkaar mit einer Laufzeit von unter zwei Jahren nur relativ wenig Zeit gegeben wurde, sich am Markt durchzusetzen. 31 (Unter der Leitung einer früher maßgeblich am Projekt beteiligten Entwicklerin) Justice42, www.uitelkaar.nl. 32 Vgl. Raad voor Rechtsbijstand, Jaarverslag 2021, vroegtijdig problemen oplossen met rechtwijzer. 33 Hierzu gehört auch das Juridisch Loket, mit dem die Zusammenarbeit im Rahmen des integralen Ansatzes, den Bürger zum einen Leitfaden für die Lösung seines Problems zur

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rund 606.000 Zugriffe, der überwiegende Anteil entfiel dabei auf die Angebote zum Arbeits- und Scheidungsrecht. Im Übrigen versteht der Raad voor Rechtsbijstand seine und die weitere Rolle von Rechtwijzer im Rahmen der Konfliktlösung vor allem unterstützend und fördernd. Er wird daher nicht mehr selbst ODR anbieten, aber entsprechende, geeignete Angebote werden, sofern sie bestimmten Kriterien entsprechen, auf Rechtwijzer ebenfalls verlinkt. Die Angebote müssen sich im Rahmen der Themenbereiche bewegen, für die auf Rechtwijzer „Routen“ bereitgestellt werden. Sie müssen zudem auf eine selbstbestimmte Lösung von Konflikten ausgerichtet sein, die darauf abzielt, Konflikte möglichst nicht eskalieren zu lassen, sondern sie so früh wie möglich (einvernehmlich) aufzulösen.34 Hierzu gehört derzeit neben Uitelkaar auch MagOntslag.35 Weitere Anbieter können sich bewerben und werden nach einem vom Raad aufgestellten Kriterienkatalog hin für eine Aufnahme in Rechtwijzer evaluiert.36 Der Raad wird zudem die Entwicklung innovativer Angebote, die geeignet sind, eine niedrigschwellige und kostengünstige Streitbeilegung zu fördern, finanziell unterstützen. Hierzu wurden 2020 10 Millionen Euro aus einem Sonderfond des Beratungshilfeetats zur Verfügung gestellt. 11 Projekte wurden ausgewählt und befinden sich in unterschiedlichen Pilotstadien.37 Im Hinblick auf die weitere Fortentwicklung hin zu einem integralen digitalen Rechtsportal ist dabei vor allem die angestrebte Entwicklung eines umfassenden digitalen Diagnose- und Triage-Tools interessant, das die Anlegung eines digitalen Dossiers zum Rechtsstreit ermöglicht. Ähnlich wie jetzt bei EBHO wird der Konflikt, aber auch die Einstellung des Rechtssuchenden dazu fragengestützt aufgearbeitet. Den Fragen liegen Entscheidungsbäume zugrunde, eingesetzt werden sollen aber auch KI-Elemente. Die im Analyseprozess gesammelten Informationen werden in einem Onlinedossier gespeichert, dass im Rahmen des Streitlösungsprozesses mit Rechtsdienstleistern geteilt werden kann. Am Ende des Diagnoseprozesses wird eine Einschätzung des Konflikts gegeben und dem Nutzer wird aufgezeigt, wie er die Lösung am besten angehen kann. Dabei wird er gegebenenfalls direkt an einen Rechtsdienstleister verwiesen. Dies kann z. B. ein Juridisch Loket oder eine andere Rechtsberatungsstelle in seiner Nähe sein. Aber auch die Zusammenarbeit mit Anwälten und Mediatoren und weiteren Dienstleistern ist geplant. Eine Betaversion ist Ende Juli 2021 unter www.rechtsbijstandsportaal.nl online gegangen. Derzeit kann bereits der Diagnoseprozess für eine Vielzahl Rechtsprobleme durchlaufen und ein Onlinedossier angelegt werden. Eine Verweisung an geeignete Rechtsdienstleister ist jedoch (noch) nur in eingeschränktem Maße möglich, da das entsprechende Verfügung zu stellen und ihm zum anderen, dort wo notwendig, weitere rechtliche Unterstützung durch Dienstleister anzubieten, noch intensiviert werden soll. 34 Raad voor Rechtsbijstand, Visie Rechtwijzer 2017 – 2019, S. 4. 35 Ein Diagnose- und Informationstool für Arbeitsrechtskonflikte, das von der Arbeidsmarktresearch der Universtät Amsterdam getragen wird. 36 Raad voor Rechtsbijstand, Visie Rechtwijzer 2017 – 2019, S. 7. 37 Eine Übersicht findet sich in: Minister Dekker, Zesde voortgangsrapportage stelselvernieuwing rechtsbijstand, Bijlage – Stand van zaken pilots – peildatum 1. Dezember 2021.

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Netz an Partnern noch im Aufbau ist. Die Seite vermittelt zudem Informationen zu den gängigsten Rechtsdienstleistern: Anwälten, Mediatoren, Rechtswinkel, Juridisch Loket und Sociaal Raadslieden (Rechtsberatungsstellen von Gemeinden). Neben der Schaffung einer zentralen Anlaufstelle, sollen mittels KI gestützter Datenanalyse im Projekt auch generell Erkenntnisse gewonnen werden, welcher Lösungsweg für ein bestimmtes Problem am geeignetsten ist und wie sich digitale Systeme insgesamt zur Streitbelegung am effizientesten und effektivsten einsetzen lassen. Gleichzeitig erhofft man sich auch weitere Erkenntnisse darüber, welche Rechtsstreitigkeiten sich nicht für eine Behandlung durch Onlinetools eignen. 2. Juridisch Loket Obwohl das Juridisch Loket nur eine von mehreren gemeinnützigen Rechtsberatungsstellen38 ist, kommt ihm aufgrund seiner Einbindung in das System der Rechtsund Prozesskostenhilfe eine besondere Stellung zu. Im Rahmen der eingangs erwähnten Reformen des Systems wurde ihm eine Filterfunktion zugewiesen. Es soll, wie bereits eingangs erwähnt, durch seine Arbeit dazu beitragen, dass der Rechtssuchende in die Lage versetzt wird, seinen Rechtsstreit möglichst schon durch Hilfe auf der ersten Stufe (nulde lijn) oder zweiten Stufe (eerste lijn) zu einer Lösung führen kann. Zudem wurde mit der Prozesskostenhilfereform 2009 eine Triage von Rechtsstreitigkeiten durch das Juridisch Loket eingeführt. Kann im Beratungsgespräch mit den Mitarbeitern des Juridisch Loket keine Lösung gefunden werden, wird dies durch einen Diagnose- und Triagebogen bestätigt. Mit diesem Dokument ermäßigt sich der seit 2009 zu leistende Eigenbeitrag für die Inanspruchnahme der Beratungshilfe. Für Rechtssuchende, die beratungshilfeberechtigt sind, wird damit ein Anreiz geschaffen, zuerst das Juridisch Loket zu konsultieren.39 Im Rahmen dieses Ziels wurde die Internetpräsenz seit 2017 mehrfach überarbeitet und so, neben Rechtwijzer, zu einer vollständigen und einfach zu konsultierenden Basisanlaufstelle für alle Bürger ausgebaut, die ihnen einen Weg durch das Rechtssystem hin zur Lösung ihres Rechtsproblems zeigt und ihnen das dazu notwendige Handwerkszeug zur Verfügung stellt. Rechtssuchende können sich auf den Internetseiten des Juridisch Loket zu den für Verbraucher wichtigsten Rechtsthemen – Miete und Nachbarschaft, Arbeit und Einkommen, Familie und Verwandtschaft, Polizei und Justiz, Verbrauchsgüterkauf sowie Schulden und Inkasso – informieren. Die Information zu den einzelnen Themenbereichen wird dabei in sehr strukturierter Weise dargeboten. Jeder Sachbereich ist hinsichtlich möglicher relevanter Probleme und Rechtsfragen, die sich stellen könnten aufgearbeitet. Der Nutzer muss so nur auf die jeweiligen Fragen klicken, um die notwendigen Informationen zu erhalten. 38 Z. B. Sociaal Verhaal (www.sociaalverhaal.nl) sowie sogenannte Rechtswinkel (www.platformrechtswinkel.nl). 39 Aufgrund der coronabedingt noch eingeschränkten Verfügbarkeit der persönlichen Sprechstunden ist die Verpflichtung zur Vorlage eines Diagnose- und Triage-Bogens für die Inanspruchnahme des ermäßigten Eigenbetrags derzeit allerdings ausgesetzt.

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Die sachlichen Informationen zur Rechtslage werden dabei durch konkrete Handlungsschritte, die im Hinblick auf die Lösung eines bestimmten Problems zunächst zu unternehmen sind, ergänzt. Sofern diese Informationen nicht ausreichen, kann telefonisch, per Email oder über eine der Niederlassung Kontakt mit den Rechtsberatern des Juridisch Loket aufgenommen werden. Infolge der coronabedingten Einschränkungen wurden 2020 zudem Pilotprojekte mit Videosprechstunden gestartet. Seit Ende 2020 bietet die Webseite des Juridisch Loket zudem die Möglichkeit, über einen regelbasierten Chat Bot (JuLo) rund um die Uhr interaktiv Auskünfte und Rechtsrat zu bestimmten, häufig vorkommenden, Rechtsfragen zu erhalten. Das Angebot umfasst derzeit die Rechtsbereiche Trennung und Scheidung, Kündigung, Miete sowie Inkasso und wird kontinuierlich ausgebaut. Es können auf diesem Weg auch Fragen zur Kostenbeihilfe gestellt werden. Für diesen digitalen Assistenten wurden in Zusammenarbeit mit der Rechtsanwaltschaft, Mediatoren, dem Raad voor Rechtsbijstand und Uitelkaar die wahrscheinlichsten Szenarien in einem solchen Konflikt erarbeitet und in Entscheidungsbäume eingepflegt. Basierend auf diesen stellt der Assistent im Chat dem Nutzer Fragen und gibt ihm verschiedene Antwortmöglichkeiten vor. So wird Schritt für Schritt ermittelt, welches Rechtsproblem genau vorliegt. Im Laufe des Chats erhält der Nutzer so weitere Informationen zu seinen Rechten in Bezug auf den vorliegenden Konflikt und ihm werden mögliche Lösungswege aufgezeigt. Am Ende wird ihm, basierend auf seinen Antworten, von JuLO eine erste Einschätzung seines Rechtsproblems gegeben und er wird zur Lösung entweder auf weitere Hilfs-und Informationsangebote der Seite verwiesen oder es wird ihm geraten, direkt Kontakt mit einem der Juristen des Juridisch Loket über die Telefonhotline oder zu den Sprechzeiten aufzunehmen, sofern sich bereits an diesem Punkt absehen lässt, dass aufgrund des Umfangs des Problems oder persönlicher Umstände eine intensivere rechtliche Beratung notwendig ist. Im April 2021 wurde das Angebot insgesamt 2.663 Mal aufgerufen, wobei allerdings nur rund die Hälfte der Nutzer (1392) den Chat bis zu Ende durchführten.40 Das Angebot von www.juridischloket.nl umfasst daneben auch Musterbriefe und Formulare zu gängigen Rechtsproblemen, wie Miete und Eigentum, Arbeitsverhältnis und Kündigung, Verbrauchsgüterkauf, Verkehrsunfall und weitere mehr. Diese können online ausgefüllt und heruntergeladen werden, um erste Schritte zur Lösung des Rechtsstreits selbst zu unternehmen. Auch außerhalb seiner Webseite wird versucht, Präsenz in der digitalen Welt aufzubauen. Das Juridisch Loket ist zu diesem Zweck intensiv in den sozialen Medien aktiv. Dieser Fokus steht im Einklang mit dem Ziel, ein niederschwelliges Rechtsberatungsangebot mit hohem Bekanntheitsgrad zu unterbreiten und damit die unterschiedlichsten Zielgruppen zu erreichen sowie möglichst viele Rechtsprobleme bereits vor einer persönlichen Kontaktaufnahme abzufangen. Das Juridisch Loket un-

40 Minister Dekker, Vijfde voortgangsrapportage stelselvernieuwing rechtsbijstand, Kamerstuk 31753, nr. 243.

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terhält neben einer Facebook-Seite einen eigenen YouTube Kanal.41 Auf diesen Kanälen wird in kurzen Beiträgen und Videos zu zentralen (Rechts-)Themen informiert. Zudem werden in regelmäßiger Frequenz Fragestunden zu vorher festgelegten Rechtsfragen angeboten, bei denen die Nutzer nach einer kurzen Präsentation die Möglichkeit haben, live Fragen an die Rechtsberater zu stellen. Auch im Übrigen ist Facebook ein möglicher Kontaktkanal für das Juridisch Loket. Fragen die hier gestellt werden, werden von speziell geschulten Mitarbeitern eines Internetbetreuungsteams beantwortet, dass unter anderem – abhängig vom Fragesteller – darauf achtet, dass eine möglichst leicht verständliche Sprache für die Beantwortung gewählt wird. Daneben wird über einen Twitter- und Instagram-Account42 zu Beratungsangeboten und Rechtsthemen informiert. Auch bei der beruflichen Kontaktplattform LinkedIn ist das Juridisch Loket präsent. Die Onlineangebote werden gut angenommen. Die Zugriffszahlen weisen in den letzten Jahren eine stetige Zunahme auf. So wurden in 2021 5,7 Millionen Zugriffe auf die www.juridischloket.nl registriert.43 Nach dem coronabedingten Hoch von rund 6,6 Millionen Zugriffen in 2020 bedeutet dies zwar einen leichten Rückgang, stellt jedoch im Vergleich zu 2019 (5,6 Mio. Zugriffe) eine weitere Steigerung dar. Rund 16,5 Millionen Seiten wurden http://www.juridischloket.nl abgerufen, also ca. 2,9 Seitenaufrufe pro Besuch. Bemerkenswert ist dabei, dass mehr als die Hälfte der Zugriffe, 57,8 % in 2021, über ein Smartphone erfolgte und nur 39,5 % über einen Desktop. Rund 493.000 Musterformulare wurden heruntergeladen, eine Steigerung von mehr als 66 % gegenüber 2020.44

IV. Justizportal – Rechtspraak.nl Mit www.rechtspraak.nl stellt der Raad voor de Rechtspraak ein zentrales Justizportal für die Niederlande zur Verfügung. Das Portal bietet zum einen Informationen über die Gerichtsstruktur, aber auch zum Prozess selbst. Rechtssuchende erfahren, sowohl in der Situation des Klägers, als auch in der Situation des Beklagten, was sie in einem Prozess erwartet. Allgemeine Informationen zum Ablauf eines Gerichtsverfahrens werden in einfacher und verständlicher Weise vermittelt, so kann sich der Besucher anhand von Grafiken z. B. einen Eindruck davon verschaffen, wie es im Gerichtssaal zugeht. Auch über die zu erwartenden Prozesskosten und über die Möglichkeiten der Beratungs- oder Prozesskostenhilfe zu bekommen können Informationen abgerufen werden.

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www.facebook.com/hetjuridischloket und www.youtube.com/hetjuridischloket. www.twitter.com/hetjuridischloket und www.instagram.com/herjuridischloket. 43 Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 12 f. 44 Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 12. 42

Niederlande, ein Vorreiter im Bereich digitaler Bürger- u. Justizportale

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Neben diesen allgemeinen Informationen bietet die Seite jedoch auch einen umfangreichen thematisch nach Prozessart geordneten Bereich. Hier werden zum einen Informationen zu den einzelnen Verfahren zur Verfügung gestellt, z. B. welche Verfahren für welche Rechtssachen zur Verfügung stehen, wie diese aufgebaut sind, welche Anträge jeweils gestellt werden müssen und ob dafür ein Anwalt notwendig ist. Bereits auf der Startseite findet sich dabei ein Menüpunkt „Häufig angesehen“, über den direkt ein Zugang zu Informationen über die Verfahren, Rechtsfragen oder Informationen, an denen im Regelfall ein besonders großes Interesse besteht (wie Familien- und Erbrechtsfragen), möglich ist. In einigen Bereichen, vor allem im Familien- und Verwaltungs- und Steuerrecht, können Anträge auch direkt online eingereicht werden. Notwendig ist hierfür eine sogenannte DiGiD (digitale Identitätsnummer). Diese kann von allen Personen mit einer niederländischen Bürgerservicenummer beantragt werden. Für andere Rechtsfragen und Prozesse werden zumindest Formulare zum Download zur Verfügung gestellt. Daneben bietet die Seite die Möglichkeit, Registerauskünfte anzufragen. Je nach Register (abhängig vor allem davon, ob dies zentral oder lokal bei den Gerichten geführt wird) kann die Anfrage direkt online gestellt werden oder die Anfrage läuft über das jeweilige Gericht (wo teilweise ebenfalls Onlineabfrage möglich ist). Veröffentlicht werden auf der Seite zudem wissenschaftliche Studien und es wird eine Entscheidungsdatenbank zur Verfügung gestellt. Das Portal gibt daneben aber auch Informationen dazu, wie Rechtssuchende sich juristischen Rat einholen können und enthält dazu Links u. a. zum Juridisch Loket sowie zur Rechtsanwaltsvereinigung.

V. Fazit Digitale Rechtsportale sind in den Niederlanden ein System eingebunden, das von jeher auf alternative und kommunikative, vermittelnde Konfliktlösung ausgerichtet ist. Zudem liegt insgesamt ein hohes Digitalisierungsniveau vor.45 Der Ausbau von Onlineangeboten die über Informationsvermittlung oder digitale Tools die Lösung von Rechtsstreitigkeiten auf niedrigschwelligem Niveau befördern liegt im Trend46 und greift eine vorhandene Neigung bzw. ein Bedürfnis auf, Rechtsprobleme selbst, ohne die Einschaltung von (Rechts-)Dienstleistern zu lösen. Dies wird durch empirische Untersuchungen untermauert. Die seit 2003 regelmäßig durchgeführten Befragungen zum Verhalten bei der Lösung eines Rechtsstreits zeigen eine stetige Zunahme von Rechtssuchenden, die ihr Problem selbst in die Hand nehmen. In 2019 überstieg diese Zahl zum ersten Mal die derjenigen, die einen Rechtsdienstleis45

Siehe I., 2019 lagen die Niederlande auf Platz 2 weltweit, was die Nutzung von Smartphones angeht (www.capital.de/wirtschaft-politik/in-diesen-laendern-gibt-es-die-meisten-smart phone-nutzer). 46 2010 – 2018 wurden rund 70 Start-ups in diesem Bereich gegründet.

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ter in Anspruch nahmen.47 Die Zahl der Rechtssuchenden, die das Internet nutzen, um eine Lösung für ihr Rechtsproblem zu finden, ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Waren es 2009 noch 12 %, stieg diese Zahl 2014 auf 19 %48 und in der jüngsten repräsentativen Befragung zur Streitbelegung gaben 21 % der Befragten an, das Internet hierfür zu nutzen.49 Die zunehmende Digitalisierung im Bereich der Justiz, die neue strategische Ausrichtung der Arbeit des Raad voor Rechtsbijstand, weg von der eigenständigen Entwicklung von digitalen Angeboten, hin zur gezielten Förderung von innovativen Start-ups in diesem Bereich,50 und des Systems der Prozesskostenhilfe insgesamt,51 lassen erwarten, dass weitere innovative Angebote in diesem Bereich auf den Markt gelangen. So wird derzeit z. B. an einer Digitalplattform für die Bearbeitung von verwaltungsrechtlichen Beschwerden gearbeitet.52 Von den aus dem Sondervermögen 2020 gestarteten Pilotprojekten sind rund die Hälfte auf digitale Angebote ausgerichtet.53 Neben den qualitativen Erwägungen für den Ausbau von Rechtsportalen, ist ein weiterer wesentlicher Motivator für solche Angebote jedoch auch der Kostendruck und die Suche nach Einsparungsmöglichkeiten im Bereich der Beratungs- und Prozesskostenhilfe. Diese haben in den letzten Jahren zu mehreren Reformen und Umbauten des Systems geführt, die wie oben dargestellt, dem Rechtssuchenden bereits auf den ersten Stufen ausreichend Mittel für die Lösung seines Problems in die Hand geben sollen.54 Anleitung zu Selbsthilfe, wie sie auf den dargestellten Rechtsportalen gegeben wird, wird als ein essentieller Baustein dieses Systems gesehen, in dem die Beratungshilfe für die Einschaltung eines professionellen Rechtsdienstleisters (Notar, Anwalt, Mediator), idealerweise nur noch als „Sicherheitsnetz“ dient, wenn andere, niedrigschwelligere Möglichkeiten nicht ausreichen.55 Digitale Angebote sind hierfür zentral.56 Eine solche Motivation kann jedoch auch die Effektivität und die Akzeptanz von Onlinetools und Rechtsplattformen gefährden, weil sie ggf. 47

49 % all derjenigen, die in dem Jahr ein Rechtsproblem hatten, gab an, es selbst gelöst zu haben, gegenüber 38 %, die dazu einen (Rechts-)Dienstleister einschaltete, Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta 2019, S. 9. 48 Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta 2019, S. 120. 49 Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta 2019, S. 123. 50 Raad voor Rechtsbijstand, Rechtwijzer Visie 2017 – 2019, S. 4 f. 51 Vgl. Minister Dekker, Zesde voortgangsrapportage stelselvernieuwing rechtsbijstand, Kamerstuk 31753, nr. 248. 52 Eine Übersicht vorhandener Angebote findet sich in Ter Voert/Hoekstra, Geschilbeslechtingsdelta 2019, S. 59. 53 Raad voor Rechtsbijstand, Jaarverslag 2021, innovatieve projecten bieden uitkomst bij oplossen juridische kwesties. 54 Wie unter III. dargestellt. 55 Siehe Memorie van Toelichting Wet stelselvernieuwing gesubsidieerde rechtsbijstand 2014, S. 4, Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 13 und 18. 56 Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 18.

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falsche Anreize im Hinblick auf die Qualität setzt oder bestimmte Gruppen ausschließt.57 So weisen empirische Untersuchungen auch auf die Grenzen von solchen Angeboten hin. Trotz einer erheblichen Steigerung der Nutzung des Internets für die Suche nach der Lösung für ein juristisches Problem,58 griff dennoch nur ein Fünftel der in 2019 befragten Rechtssuchenden darauf zurück. Das Angebot ist zudem auf bestimmte Rechtsgebiete fokussiert. Mit Steigerung des Angebots ist zwar auch eine gewisse Steigerung der Nachfrage zu erwarten. Ein wesentlicher Teil der Rechtssuchenden wird jedoch auch in Zukunft eher auf klassische Wege zurückgreifen, weil ihnen z. B. aufgrund ihrer persönlichen Situation oder ihren digitalen Fertigkeiten die Möglichkeit fehlt, ihren Rechtsstreit – unter Zuhilfenahme von Onlinetools – selbst anzugehen. Dies muss beim weiteren Ausbau solcher Systeme, hin zu einer umfassenden „Grundversorgung“, die persönliche Rechtsberatung nur noch als „Sicherungsnetz“ begreift, berücksichtigt werden, damit sichergestellt wird, dass kein Ausschluss vom Zugang zum Recht, gerade von besonders vulnerablen Gruppen59 erfolgt. Ein entsprechendes Problembewusstsein ist durchaus vorhanden. So versucht das Justizministerium diesem Umstand durch eine Begleitung des weiteren Umbaus des Prozesskostenhilfesystems mittels diesbezüglicher empirischer Studien Rechnung zu tragen.60 Der Raad voor Rechtsbijstand unternimmt Anstrengungen, um die digitale und die reale Welt zu verknüpfen, indem z. B. in Bibliotheken gezielt Schulungen zu den Onlineangeboten auf www.rechtwijzer.nl angeboten werden.61 Das Juridisch Loket gestaltet sein Angebot bewusst auf Sprachniveau B1 des Europäischen Referenzrahmens, um möglichst alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen.

57 Der Fokus des Systems auf Anleitung zur Selbsthilfe Hilfeleistungen auf der ersten und zweiten Stufe, inklusive des Fokus auf digitale Angebote (weg von der Unterstützung für direkte anwaltliche [juristische] Beratung) ist nicht unumstritten. Kritisiert wird z. B. dass so gerade auch für finanzschwache Parteien zusätzlich Zugangshürden, z. B. kostenpflichtige Hotlines, notwendige digitale Kenntnis, geschaffen werden, die diesen den Zugang zum Recht tatsächlich erschweren könnten, vgl. z. B. Brouwer, Toegang tot recht – strijd tussen toegankelijkheid en recht, 2016, S. 3 f. Auch der Umbau der Beratungs- und Prozesskostenhilfe hat aufgrund des Gefühls, es stehen allein die Kosten im Vordergrund und die Beratung könnte dadurch in ihrer Qualität leiden, Kritik erfahren, vgl. Schmiedel, ZKM 2019, 209 (213). 58 Siehe I. 59 Der Beratungs- und Prozesskostenhilfeberechtigte aufgrund der eingeschränkten finanziellen Mittel überproportional angehören. 60 Vgl. Minister Dekker, Zesde voortgangsrapportage stelselvernieuwing rechtsbijstand, Kamerstuk 31753, nr. 248, S. 3; Raad voor Rechtsbijstand, Jaarverslag 2021, diensten verlenen met een mensgerichte invalshoek. 61 Raad voor Rechtsbijstand, Jaarverslag, 2020, S. 26 – 27; Juridisch Loket, Jaarverslag 2021, S. 19.

Expertensysteme im Bereich der Steuerverwaltung – Vorbild bei der Realisierung eines künftigen digitalen Justizportals? Von Axel Adrian und Holger Barthel

I. Einleitung Die nachfolgende Darstellung ist das Ergebnis eines intensiven Austausches zwischen Wissenschaft und Praxis. Seit längerer Zeit schon stehen die Verfasser1 des Beitrages im konstruktiven Kontakt. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Steuerverwaltung ein gutes Anschauungsbeispiel für die Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung von rechtlichen Entscheidungsprozessen ist, was auch für die anstehende Digitalisierung des Zivilprozesses und der Rechtsdurchsetzung Vorbildfunktion haben kann. Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, ob von den Herausforderungen und „Requirements“, die sich bei der Digitalisierung der Steuerverwaltung gezeigt haben, auch entsprechende Hinweise für die Digitalisierung von zivilrechtlichen Anwendungen abgeleitet werden können. Von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen funktioniert Legal-Tech sogar schon seit geraumer Zeit sehr erfolgreich in der öffentlichen Steuerverwaltung. Rechtsakte (hier Verwaltungsakte) werden in der Steuerverwaltung bereits massenhaft sozusagen von „Anfang bis Ende“ digital verarbeitet und erzeugt, d. h. es wird der Sachverhalt digital geliefert, digital aufbereitet, digital subsumiert und anschließend der Verwaltungsakt produziert und elektronisch (oder auf Wunsch auf Papier) an den Steuerpflichtigen geliefert. Der Mensch muss nur dann eingreifen, wenn – ebenfalls digital – Risikomanagementstrukturen den Sachverhalt aussteuern und auf den Tisch der Finanzbeamtin bzw. des Finanzbeamten befördern. Geneigte Leser, die allerdings erwarten, nachfolgend Einblick in das Risikomanagement der Finanzverwaltung zu bekommen, um dann ihr Erklärungsverhalten steuern zu können, müssen leider enttäuscht werden. Alles Dargestellte ist aus öffentlich zugänglichen Quellen entnommen, dienstlich vertrauliche oder gar geheime In1 Axel Adrian befasst sich seit einigen Jahren mit Wissenschaftstheorie, Rechtstheorie, Juristischer Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Legal-Tech und insbesondere mit interdisziplinären Fragen von Recht und Struktur- bzw. Computerwissenschaft (Logik, Mathematik, Informatik). Holger Barthel beschäftigt sich im Bayerischen Landesamt für Steuern (BayLfSt), neben der Administration des Steuerrechts, auch mit der IT-technischen Umsetzung und Automatisierung der damit im Zusammenhang stehenden Prozesse.

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formationen sind selbstverständlich nicht enthalten (§ 88 Absatz 5 Satz 4 Abgabenordnung). Gleichwohl ist die Darstellung für hoffentlich immer noch geneigte Leserinnen und Leser als Schaubild dessen, was bereits praktiziert wird, lesenswert. Natürlich handelt es sich nur um eine aktuelle Situationsbeschreibung, die in sehr absehbarer Zeit bereits technisch überholt und entsprechend verbessert sein wird. Die „vollelektronische“ Produktion von Steuerbescheiden ist auch keineswegs die einzige Legal-Tech-Aktivität der Steuerverwaltung. Auch in anderen Bereichen, insbesondere der Steuerbetrugsbekämpfung, wird eifrig entwickelt, mit erstaunlichen Ergebnissen, die in durchaus spektakulären Strafverfahren münden. Auch mit Blockchain-Systemen wird bereits experimentiert, um ggf. fälschungssichere Verfahrensabläufe, etwa im Bereich der Umsatzsteuer, generieren zu können.

II. Erfahrungen der Steuerverwaltung und die Digitalisierung des Zivilprozesses Das Steuerrecht der Eingriffsverwaltung unterscheidet sich zugegebenermaßen sehr stark vom Zivilrecht, das in der verfassungsrechtlich verankerten Privatautonomie gegründet ist. Die Regelungsziele und die jeweils komplexen Verknüpfungen rechtlicher Argumente dieser Rechtsgebiete dürften daher fundamental verschieden sein. Dennoch gibt es wenigstens strukturelle Gemeinsamkeiten, wenn man an in diesen Rechtsgebieten ergehende hoheitliche rechtliche Entscheidungen denkt. So scheinen, nur strukturell vom Ablauf erforderlicher Prozesse und von der Verwendung erforderlicher Datenstrukturen aus betrachtet, durchaus der Erlass eines Steuerbescheides und z. B. der Erlass einer Kostenfestsetzungsentscheidung im Zivilprozess nicht ganz unähnlich zu sein. Gerade in Bezug auf Fragen der Digitalisierung und die Entwicklung von Ideen und Lösungsansätzen in diesem Bereich ergeben sich Erkenntnisgewinne oft aus der Bereitschaft, einen Blick über den Tellerrand zu wagen und die Perspektive zu wechseln. Aus diesem Grund erscheint es auch im Kontext der Digitalisierung des Zivilprozesses sinnvoll, in andere Disziplinen zu blicken und deren Umgang mit dem Thema „Legal-Tech“ vergleichend heranzuziehen. Beispielsweise werden im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs2 Vorschläge gemacht, wie man den Zugang des Bürgers und der Bürgerin zur Ziviljustiz verbessern kann. So findet sich dazu wörtlich: „Es soll ein sicherer, bundesweit einheitlicher elektronischer Bürgerzugang in Form eines Justizportals eingerichtet werden. Dieses soll den Bürgerinnen und Bürgern einen umfassenden Zugang zur Justiz eröffnen, indem es als sicherer Übermittlungs2 https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nu ernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf.

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weg dient. Darüber hinaus soll es sämtliche digitalen Angebote der Justiz integrieren, wie insbesondere das Online-Mahnverfahren, das Beschleunigte Online-Verfahren, die ,virtuellen Rechtsantragstellen‘ und die Möglichkeit zur Teilnahme an einer ,virtuellen Gerichtsverhandlung‘.“ Bereits aus diesem Zitat wird ersichtlich, wie umfangreich die verschiedenen Schritte eines einheitlichen rechtlichen Entscheidungsprozesses sind, die digital transformiert werden müssen.3 Es könnten sowohl die Eingabe von rechtlich relevanten Sachverhalten als auch deren Verarbeitung, also die möglichst automatische rechtliche Entscheidung über den eingegebenen Sachverhalt, als auch schließlich die Zustellung der rechtlichen Entscheidung an den Bürger bzw. die Bürgerin maschinell umzusetzen sein. Es handelt sich damit um eine hochkomplexe Digitalisierungsaufgabe, die in diesem Diskussionspapier der Arbeitsgruppe der Wissenschaft gestellt wurde, um komplexe zivilrechtliche Vorgänge zu automatisieren. Ein gutes Beispiel für einen Bereich, der eine hochkomplexe Rechtsmaterie schon seit vielen Jahren mit einem hohen Technisierungsgrad verarbeitet, ist die Steuerverwaltung. Bereits im Rahmen der Vorlesung „Künstliche Intelligenz und Juristisches Entscheiden“ der FAU Erlangen-Nürnberg im Sommersemester 2020 flossen hier Erkenntnisse und Erfahrungsberichte aus der bayerischen Steuerverwaltung ein, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen.4 Nur der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch bemerkt, dass der hier referierte Erfahrungsaustausch zwischen Steuerrechtlern, Zivilrechtlern, Praktikern dieser juristischen Domänen und Informatikern, die wiederum aus verschiedenen strukturwissenschaftlichen Teildisziplinen kommen, besonders vielversprechend erscheint, weil dadurch Blickrichtungen sowohl aus allgemeiner5 als auch aus spezieller Wissenschaftstheorie sowie Rechtswissenschaftstheorie6 ermöglicht werden. 3 Vergleiche zum sogenannten „unbundling“ in diesem Band: Adrian/Schröder/Maier, Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen, 2021, S. 199 ff. 4 Siehe z. B. das Video über den Vortrag von Herrn Hubertus Rust vom Bayerischen Landesamt für Steuern in Stunde 11 der Vorlesung KI und rechtliches Entscheiden aus dem Sommersemester 2020 auf YouTube https://www.youtube.com/watch?v=Bux_lgDFZMg &list=PLlAmFMfHr2U3Gs-VJxkV3jzvIj_lv2UGv&index=13. 5 Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, S. 15 ff. m. w. N. 6 Siehe hierzu z. B. Jestaedt/Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008 und dort Jestaedt auf S. 190 und den Hinweis auf die Interdisziplinarität und den Nutzen den Rechtswissenschaft von Nachbarwissenschaften ziehen kann; vgl. auch Jestaedt, in: Funke/Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S. 20: „Ist ,Recht‘ nur das Attribut der Wissenschaftstheorie, so handelt es sich bei der Rechtswissenschaftstheorie um nichts anderes als den juridischen Ableger der – allgemeinen – Wissenschaftstheorie, sozusagen um den Besonderen Teil der Wissenschaftstheorie für die Jurisprudenz. Im Fokus der Überlegungen stünden folglich die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, damit insbesondere die Fragen, ob und gegebenenfalls wie weit die Jurisprudenz Strukturkongruenzen mit anderen Wissenschaften – Natur-, Sozial-, Geisteswissenschaften – aufweist, ob überhaupt ein und gegebenenfalls welcher Platz der Rechtswissenschaft im Kreise der (anderen) Wissenschaften zukommt.“; allgemein zu einer strukturwissenschaftlich geprägten Allgemeinen Wissen-

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Mögen die juristischen Fragestellungen im Steuer- und Zivilrecht auch noch so unterschiedlich sein, weil ja verschiedene Rechtswissenschaften, nämlich das Öffentliche Recht und das Zivilrecht betroffen sind, so können doch im Sinne einer Allgemeinen Wissenschaftstheorie gerade in der beide Disziplinen verbindenden strukturwissenschaftlichen Dimension der Informatik Gemeinsamkeiten gefunden werden und so Lerneffekte entstehen.

III. Steuerverwaltung als Massenverwaltung Die Rechtsanwendung in der bayerischen Steuerverwaltung findet in einem Massenverfahren statt.7 Mit einem Mitarbeitereinsatz, der etwa 15.000 sog. VZÄ (Vollzeitäquivalenten) entspricht, werden in etwa 100 Finanzämtern (inkl. Außenstellen) jährlich über 5 Millionen Einkommensteuerfälle erledigt.8 Insgesamt wird in Bayern seit mehreren Jahren über alle Steuerarten ein Gesamtsteueraufkommen von deutlich über 100 Milliarden E erzielt.9

IV. Veranlagungsprozess und gesetzlicher Rahmen Der Kernauftrag der Steuerverwaltung ist in § 85 Abgabenordnung (AO) beschrieben. Danach haben die Finanzbehörden die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben, was die Grundsätze der Gesetz- und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ins Zentrum stellt. Nach § 88 Absatz 1 AO ermitteln die Finanzbehörden den Sachverhalt von Amts wegen und haben dabei alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Die Verarbeitung der o.g. über 5 Millionen Einkommensteuerfälle pro Jahr erfolgt in den sog. Veranlagungsstellen der Finanzämter (je nach Einkunftsart z. B. unterschieden zwischen Arbeitnehmerfällen und anderen Einkommensteuerfällen). Letztlich läuft dort ein Geschäftsprozess ab, der – in vereinfachter Darstellung – mit der Erklärung des Sachverhalts (bzw. der Sachverhalte) durch den Steuerpflichtigen beginnt, zusätzliche Sachverhaltsermittlungen und die Anwendung des (hochkompleschaftstheorie, an die auch Juristen anknüpfen können: Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014. 7 Vergleiche zum Thema der sogenannten „Skalierung“ im Bereich Legal-Tech in diesem Band: Adrian/Schröder/Maier, Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen, 2021, S. 199 ff. 8 Leistungsvergleich zwischen Finanzämtern, Jahresbericht 2020, S. 2, https://www.leis tungsvergleich.de/Ergebnisse/Jahresberichte/Jahresbericht_2020.pdf (30. 07. 2020, 18:00). 9 Bayerischer Oberster Rechnungshof, Jahresbericht 2021, Tz. 21.1, https://www.orh.bay ern.de/berichte/jahresberichte/aktuell/jahresbericht-2021/ausgewaehlte-aktuelle-entwicklungender-haushaltslage-und-ausblick/1172-tnr-21-steueraufkommen-und-steuereinnahmen.html (30. 07. 2021, 18:00).

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xen) Steuerrechts durch das Finanzamt beinhaltet und dann in einer Entscheidung durch Steuerfestsetzung (verkörpert im Steuerbescheid) endet.

V. Frühzeitige Standardisierung und früher EDV-Einsatz Die Besonderheit im Umfeld der Steuerverwaltung ist es, dass die Steuerverwaltung sehr früh auf eine starke Standardisierung und Formalisierung des Sachverhaltsvortrags durch den Steuerpflichtigen gesetzt hat. Der Sachvortrag wird von den Steuerpflichtigen in Form von Formularen, die die Komplexität des Steuerrechts widerspiegeln müssen, abgefragt. Während dabei über viele Jahre der Papiervordruck das Mittel der Wahl war, ist seit etlichen Jahren die elektronische Abgabe der Steuererklärung in den Fokus gerückt, in immer mehr Bereichen sogar die verpflichtende Form der Erklärungseinreichung. Diese Steuererklärungseinreichung erfolgt direkt über „ELSTER – Ihr Online-Finanzamt“10 bzw. über ELSTER-Schnittstellen in Softwareprogrammen zur Erstellung von Steuererklärungen. ELSTER (Akronym für Elektronische Steuererklärung) ist ein bereits 1996 (!) gestartetes Projekt der deutschen Steuerverwaltungen aller Länder und des Bundes (unter Federführung Bayerns) zur Abwicklung der Steuererklärungen und Steueranmeldungen über das Internet. Bereits seit 1999 sind elektronische Steuererklärungen möglich. Mittlerweile gehen vier Fünftel aller Einkommensteuerklärungen über ELSTER ein.11 Egal ob Papier oder Elektronik: beiden Erklärungswegen ist gemeinsam, dass der Sachverhaltsvortrag im Wesentlichen standardisiert erfolgen muss, Freitexteingaben sind die Ausnahme. Selbst komplexe Sachverhalte werden in verkennzifferten Feldern abgefragt und müssen mittels der Eingabe von stark formalisierten Antworten erklärt werden. Als Beispiel sei hier die Anlage V zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung genannt, die u. a. folgende Abfrage enthält: „Das […] Objekt wird ganz oder teilweise … als Ferienwohnung genutzt (Kennzahl 61: 1=Ja/2=Nein) … kurzfristig vermietet (Kennzahl 63: 1=Ja/2=Nein) … an Angehörige zu Wohnzwecken vermietet (Kennzahl 62: 1=Ja/2=Nein)“. Der durch derartige Sachverhaltsabfragen schon sehr frühzeitig vorliegende hohe Standardisierungsgrad der eingehenden Daten und die Notwendigkeit, Steuern schon immer berechnen zu müssen, hat dazu geführt, dass EDV im Bereich der bayerischen Steuerverwaltung schon seit vielen Jahrzehnten im Einsatz ist.12 Das betrifft aber bei 10

https://www.elster.de/ (30. 07. 2021, 18:00). Vgl. KONSENS – Die Steuer-IT, dort: ELSTER, https://www.steuer-it-konsens.de/dar um-gehts/auf-einen-blick-die-verfahren/ (30. 07. 2021, 18:00). 12 Wenn man rechtliche Entscheidungen durch Maschinen unterstützen will, könnte ein Vorteil des Steuerrechts im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten darin liegen, dass man es mit Zahlenverhältnissen und damit insoweit mit geordneten Daten zu tun hat und nicht nur mit 11

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Weitem nicht nur die Seite der Erklärungseinreichung, sondern gerade auch die folgenden Prozessschritte: Auch die Weiterverarbeitung der Daten im Finanzamt sowie die Produktion der Millionen von Steuerbescheiden, die heute zentral im Massenverfahren im Rechenzentrum gedruckt und von dort aus versandt werden oder in digitaler Form zum Abruf bereitgestellt werden, erfolgen mittels einer erheblichen ITUnterstützung.

VI. IT-Unterstützung bei Sachverhaltsaufklärung und rechtlicher Würdigung Von den vor der Bescheiderstellung innerhalb der Steuerverwaltung notwendigen Schritten der (weiteren) Sachverhaltsaufklärung und Rechtsanwendung kann der erste Schritt entweder im Innendienst des Finanzamtes (und damit innerhalb des dargestellten Veranlagungsprozesses) oder aber nachgelagert (durch die Prüfungsdienste der Steuerverwaltung) erfolgen. Wenn man den Fokus auf die Datenverarbeitungsschritte richtet, die tatsächlich im Prozess stattfinden, so erkennt man dort eine Vielzahl von IT-Bausteinen, die zum Ergebnis beitragen. Für die IT-Umsetzung haben sich, wie dargestellt, die Bundesländer schon seit vielen Jahren im Vorhaben KONSENS zusammengeschlossen.13 Von den dort realisierten großen Verfahren sollen hier vier herausgegriffen werden: Für den Eingang der Daten ist, wie schon erwähnt, „ELSTER – die elektronische Steuererklärung“ verantwortlich. ELSTER stellt durch das einheitliche Portal, elektronische Formulare, Schnittstellenbeschreibungen und Plausibilitätsprüfungen schon bei Übermittlung der Daten eine hohe Qualität der in der Steuerverwaltung eingehenden Daten sicher. Auch das für die Zuordnung und Weiterverarbeitung eingehender Daten entscheidende Vorhandensein von Metadaten wird durch ELSTER sichergestellt. Das Pendant für noch eingehende Papiererklärungen ist SESAM, mittels dessen „Steuererklärungen, die noch auf Papier eingehen, gescannt und abgelegt, die erklärten Daten ausgelesen“ werden.14 natürlicher Sprache. Natürliche Sprache, mag diese auch noch so strukturiert sein, stellt für eine Maschine zunächst nur ungeordnete Daten dar. Um natürliche Sprache in mathematische Repräsentationen, also in geordnete Daten, zu überführen, benötigt man z. B. die Disziplin des Natural Language Processing (NLP). Siehe dazu z. B. das Video über das Interview mit Prof. Dr. Stephanie Evert von der FAU https://www.youtube.com/watch?v=a_5U0orSEVs. 13 Die folgenden Informationen sind der offiziellen Website „KONSENS – Die Steuer-IT“, https://www.steuer-it-konsens.de/ (30. 07. 2021, 18:00), entnommen. 14 Das im Rahmen des Diskussionspapiers der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs genannte Justizportal könnte also analog zum Teilsystems ELSTER der Finanzverwaltung gesehen werden. Dann müssten die weiteren Teilsysteme KONSENS, GINSTER und RMS noch mit entsprechend analogen weiteren Teilsystemen hinzugedacht werden, um ein vergleichbares ganzheitliches Expertensystem zu erhalten.

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Die für jede Zuordnung und Weiterverarbeitung essenziellen Stammdaten werden in GINSTER als der „Schnittstelle des integrierten und automatisierten Besteuerungsverfahrens“ gepflegt und für Abgleiche vorgehalten. Wird eine Erklärung über ELSTER eingereicht, bei der der Abgleich mit gespeicherten Grunddaten zu Unstimmigkeiten führt, so werden die elektronischen Erklärungsdaten vorerst nicht automatisiert weiterverarbeitet, sondern zur Klärung der Unstimmigkeiten durch einen Bearbeiter/eine Bearbeiterin ausgesteuert. Erst wenn der Sachverhalt personell aufgeklärt und eventuell notwendige Änderungen gespeichert wurden, geht der Fall wieder zurück in den automatischen Workflow. Dort durchläuft er das RMS (Risikomanagementsystem), das „das Ziel [hat], das Risiko einer unzutreffenden Besteuerung in einem Steuerfall auf Basis der verfügbaren Daten automatisiert zu bewerten“. Das RMS führt dazu, dass „als risikoarm eingestufte Fälle […] vollautomatisch bearbeitet werden“ können. Zum Zweck des Abgleichs werden vermehrt auch Daten aus anderen Quellen, z. B. von „Arbeitgebern, Versicherungen und andere[n] Organisationen“ herangezogen. Vereinfacht dargestellt ist als RMS im Wesentlichen ein regelbasiertes Entscheidungssystem im Einsatz, das die Erklärungsdaten automatisch daraufhin überprüft, ob sie bestimmte Parameter über- oder unterschreiten. Das RMS steuert bei Treffern nicht nur den Fall aus, sondern gibt auch konkrete Risikohinweise für den Bearbeiter aus.15 Betrachtet man den Workflow, den eine Steuererklärung durchläuft, so befindet sich diese nach dem Grunddatenabgleich wieder in der vollautomatisierten Verarbeitung. Das RMS stellt die Weiche für die nächste mögliche Aussteuerung: Werden Risiken erkannt, wird der Fall zur personellen Bearbeitung ausgesteuert, erst nach Sachverhaltsaufklärung und rechtlicher Würdigung durch den Bearbeiter/die Bearbeiterin festgesetzt und mündet erst dann in einem Steuerbescheid. Werden allerdings keine Risiken erkannt, so läuft der Fall ohne personelle Eingriffe durch und wird maschinell festgesetzt. In diesen sogenannten Autofällen durchläuft die (in der Vielzahl der Fälle elektronisch) eingereichte Steuererklärung also ausschließlich den vollautomatisierten verwaltungsinternen Workflow bis zum zentralen Bescheiddruck und -versand im Rechenzentrum bzw. der digitalen Bereitstellung – dies, ohne dass personelle Eingriffe oder Bearbeitungsschritte gleich welcher Art erfolgen. Die Quote dieser Autofälle betrug im Jahr 2019 bereits bundesweit (ohne NordrheinWestfalen) 10 %, was einer absoluten Zahl von über 2,2 Millionen vollautomatisiert erstellten Einkommensteuerbescheiden entspricht16, Bescheiden, die sowohl Sachverhaltsaufklärung als auch Subsumtion und damit „echte“ Rechtsanwendung beinhalten. 15 Vgl. Kube, Steuer 4.0 – Die Digitalisierung der Finanzverwaltung in Trierer Gespräche zu Recht und Digitalisierung, 22. 06. 2021, Folie 22, https://www.jura.uni-heidelberg.de/md/jura/ news/fst/steuer_4.0_- die_digitalisierung_der_finanzverwaltung__22.6.2021.pdf (30. 07. 2021 18:00). 16 BT-Drs. 19/19733, Sachstand zur Digitalisierung der Steuerverwaltung, S. 9 Tz. 14.

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Gescannte Erklärung

ELSTER

Grunddatenabgleiche

Personelle Bearbeitung

Image Erklärung Risikomanagementsysteme

Personelle Bearbeitung

Festsetzung

Steuerbescheid

Archivierung

VII. Rechtsgrundlagen speziell für das Risikomanagement Die Rechtsgrundlagen der Fallverarbeitung durch ein solches maschinelles Risikomanagementsystem wurden mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. Juli 201617 geschaffen. Insbesondere sind dabei die Erweiterungen des § 88 AO von Bedeutung: § 88 Absatz 5 AO sieht ausdrücklich den Einsatz von „automationsgestützten Systeme[n] […] (Risikomanagementsysteme[n])“ u. a. bei der Steuerfestsetzung vor und ermöglicht in diesem Zusammenhang der Verwaltung auch, den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen. In § 88 Absatz 5 Satz 3 AO werden besondere Anforderungen formuliert, die die Risikomanagementsysteme erfüllen müssen. So muss neben den angewandten Aussteuerungstechniken eine Zufallsauswahl im Einsatz sein, prüfungswürdige Sachverhalte müssen durch einen Amtsträger geprüft werden, Amtsträger müssen die Möglichkeit haben, selbst Fälle für umfassende Prüfungen auswählen zu können, und die Risikomanagementsysteme müssen regelmäßig auf ihre Zielerfüllung überprüft werden. § 88 Absatz 5 Sätze 4 und 5 AO enthalten Regelungen zur Geheimhaltung von Einzelheiten des RMS und zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern. § 155 AO wurde so erweitert, dass er nun in § 155 Absatz 4 AO erlaubt, Steuerfestsetzungen ausschließlich automationsgestützt vorzunehmen, soweit kein Anlass besteht, den Einzelfall durch Amtsträger zu bearbeiten.

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BGBl. I S. 1679.

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VIII. Rückschlüsse aus Erfahrungen der Steuerverwaltung mit der Digitalisierung im Rechtsanwendungsumfeld Was sich im Umfeld der im Digitalisierungsgrad recht weit fortgeschrittenen Steuerverwaltung zeigt: Der Fokus ist auf alle Fälle auf den Eingang der Daten zu richten. Diese sollten für eine werthaltige Weiterverarbeitung einen möglichst hohen Standardisierungsgrad aufweisen, durch Prüfungen mit einer hohen Qualität versehen sein und Metadaten enthalten, die die richtige Weiterleitung und Zuordnung ermöglichen. Den Dateneingang alleine im Auge zu haben, reicht aber nicht aus. Denn in vielen Bereichen zeigt die Erfahrung, dass die Erwartungshaltung an die Geschwindigkeit und den Digitalisierungsgrad der nachgelagerten Verarbeitungsprozesse umso höher ist, je digitaler das Frontend zum Bürger erscheint. In der Steuerverwaltung entsteht Aufwand nicht nur bei ELSTER, sondern in ganz erheblichem Aufwand auch für die nachgelagerten Weiterverarbeitungssysteme, vom Grunddatenabgleich bis zum Risikomanagementsystem mit seinen Regelwerken und anderen methodischen Ansätzen sowie der anschließenden Rechtsanwendung im Rahmen der Festsetzung. Digitalisierung in diesem Zusammenhang bedeutet nicht nur die digitale Entgegennahme von Informationen, sondern vor allem auch deren digitale Weiterverarbeitung, bis zur Rückübermittlung an den Einreicher. Gerade in Bezug auf sich ähnelnde Massenfälle hat die Steuerverwaltung den Weg eingeschlagen, diese weitgehend vollelektronisch zu verarbeiten und personelle Ressourcen auf die Prüfung und korrekte Behandlung schwierigerer Fälle zu konzentrieren.

IX. Neun Hinweise zur Digitalisierung juristischer Entscheidungen Nach diesen hier nur relativ knapp darstellbaren Ergebnissen unseres Erfahrungsaustausches lassen sich unseres Erachtens wenigstens folgende neun Hinweise geben, die bei einer Realisierung einiger Vorschläge des Diskussionspapiers der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs“, wie insbesondere eines digitalen Justizportales, weiterhelfen könnten: 1. Symbolische KI – regelbasiertes Expertensystem: Die zusammenwirkenden Teilsysteme ELSTER (SESAM), GINSTER, KONSENS und RMS der Steuerverwaltung sind ein in großem Umfang eingesetztes und in der Praxis bewährtes sogenanntes Expertensystem. Bei diesem Expertensystem der Steuerverwaltung handelt es sich um ein, komplexe Zusammenhänge repräsentierendes regelbasiertes System und damit um sogenannte symbolische

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KI, auch GOFAI (Good Old-Fashioned Artificial Intelligence) genannt.18 Insbesondere werden für die damit erfüllten juristischen Aufgaben (noch) keine statistischen Verfahren, also subsymbolische KI, wie Mustererkennung (Machinelearning, Deeplearning) eingesetzt.19 2. Die Herausforderung der Zerlegung einheitlicher Prozesse: Es ist eine große Herausforderung und wissenschaftstheoretische Aufgabenstellung, Rechts- und Computerwissenschaft zusammenzudenken, indem man versucht juristische Entscheidungsprozesse ganzheitlich zu verstehen und dennoch zu erkennen, in welche einzelne kleinen Teilschritte diese Prozesse zerlegt werden können (sogenanntes „unbundling“), damit einzelne Teile des Gesamtvorgangs mit den verschiedenen, jeweils „passenden“, Teildisziplinen der Informatik bzw. der KI-Forschung, sachgerecht bearbeitet werden können. Wenn man Glück hat, findet man für jeden Teilschritt eine funktionierende technische Anwendung und kann dann auch noch alle Teilsysteme zu einem Gesamtsystem verbinden, um möglichst den gesamten juristischen Entscheidungsprozess insgesamt computerwissenschaftlich zu automatisieren.20 3. Assoziationsfähigkeit des Menschen vs. Regelhaftigkeit von Maschinen: Das stets erforderliche Unbundling fällt uns dabei wohl vermutlich auch deswegen so schwer, weil wir Menschen es gewohnt sind, assoziativ zu denken und zu entscheiden, d. h. wir verarbeiten sehr viel implizites Wissen. Wir Menschen verbinden Daten zu Informationen assoziativ, so dass nicht alles explizit offenliegt, während in Maschinen Daten zu Informationen logisch verknüpft sein müssen, denn in Expertensystemen muss Programmcode, Zeile für Zeile, abgearbeitet werden, so dass auch alles explizit im Code benannt sein muss, was für das Ergebnis relevant ist.21

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Die Bezeichnung GOFAI wurde von John Haugeland in seinem Buch von 1986 „Artificial Intelligence: The Very Idea, which explored the philosophical implications of artificial intelligence research“ als Bezeichnung für symbolische KI-Systeme eingeführt. 19 Vergleiche die verschiedenen Teildisziplinen der KI, die für rechtliche Aufgabenstellungen insbesondere relevant sind, in diesem Band: Adrian/Schröder/Maier, Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen, 2021, S. 199 ff. 20 Eine vereinfachte Darstellung der Zerlegung eines notariellen Beurkundungsvorganges in Teilschritte („unbundling“) findet sich im Video über Stunde 2 der Vorlesung KI und rechtliches Entscheiden aus dem Sommersemester 2020 auf youtube https://www.youtube. com/watch?v=seQvDKLEkGg&list=PLlAmFMfHr2U3Gs-VJxkV3jzvIj_lv2UGv&index= 2; dass KI derzeit immer noch praktisch nur spezielle Probleme, d. h. einzelne Teilschritte lösen kann, aber nicht ganzheitliche Prozesse, dürfte auch ein Grund dafür sein, dass wir bislang nur von sogenannter schwacher KI sprechen und sogenannte starke KI derzeit noch eine Utopie ist. 21 Siehe hier auch den Zusammenhang zu Daniel Kahnemanns schnelles und langsames Denken in Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (94 f.) und insbesondere dort Fn. 56.

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4. Entscheidungsdeterminierung und Rechtsstaat: Regelbasierte Expertensysteme „treffen“ dann aber auch nachvollziehbare Entscheidungen, da alle Schritte im System „determiniert“ sind. Damit eignen sich solche Systeme zur maschinellen Verarbeitung rechtlicher Aufgabenstellungen besonders gut, da diese rechtsstaatlichen Anforderungen genügen und also nachvollziehbar sein müssen.22 5. Assistenzsysteme statt Entscheidungsautomaten: Es kann vermutlich bei einem künftigen Justizportal mit weiteren Teilsystemen, insbesondere analog RMS, etc. der Steuerverwaltung, nicht um die Realisierung eines „Entscheidungsautomaten“, sondern vielmehr nur um ein Assistenzsystem gehen. Es scheint ein Expertensystem mit dem Teilsystem eines digitalen Justizportals realisierbar zu sein, über das Bürgerinnen und Bürger Sachverhalte eingeben können und dass dann über weitere Teilsysteme, wie insbesondere über ein dem RMS analoges Risikomanagementsystem, etc. „nur“ entscheiden kann, ob ein Fall „ausgeworfen“ wird, weil dieser doch von einem Menschen zu bearbeiten ist, oder ob ein Fall teilautomatisch vorbereitet und dann manuell fertiggestellt werden kann oder ob ein „Autofall“ vorliegt, der vermutlich kein Risiko birgt, und der daher „regelbasiert“ durch das System „läuft“, so dass eine (vorgefertigte) Entscheidung (rein) maschinell ergehen kann.23 6. Maschinenregeln umfassen mehr als logische juristische Methoden: Das System wird eher die Plausibilität der Eingaben der Bürgerinnen und Bürger prüfen können, d. h. insbesondere, ob Angaben widersprüchlich zueinander oder widersprüchlich zum sonstigen Wissen (inklusive zivilrechtlicher Regeln) in der Datenbank sind. Es wird also nicht so sehr um die computerwissenschaftliche Repräsentation klassischer Subsumtionen nach der klassischen juristischen Methodenlehre gehen können, denn es ist mehr nötig als logische juristische Methodenlehre, nämlich z. B. auch die Formalisierung impliziten praktischen Wissens erfahrener Juristinnen und Juristen.24 7. Formalisierung von Rechts-, Praxis-, Welt- und implizitem Wissen: Ein Schwerpunkt bei der Realisierung von symbolischen KI-Systemen zur Lösung juristischer Aufgabenstellungen ist dabei die Durchdringung des in der jeweiligen juristischen Domäne relevanten Wissens und der dort anzuwendenden 22 Siehe aber auch die Hinweise auf sogenannte nicht-triviale Maschinen nach der Definition von Heinz von Förster, die zwar „deterministisch“ funktionieren, aber deren Ergebnisse dennoch nicht vorhersehbar sind, bei Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (96 f.). 23 Es kann insbesondere beim Einsatz sog. KI verfassungsrechtlich stets nur um die Unterstützung der Entscheiderinnen und Entscheider, also nur um Assistenzsysteme gehen. Siehe bereits Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (81, 105). 24 Adrian, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer/Saarenpää (Hrsg.), Verantwortungsbewusste Digitalisierung, Tagungsband des 23. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2020, 2020, S. 41 ff.

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Regeln. Es liegt ein sehr großer Aufwand darin, Wissen und Regeln zu durchdringen und zu formalisieren, also „maschinenverarbeitbar“ im Computer zu repräsentieren. Dabei geht es nicht nur um Rechtsregeln und deren Auslegungen, sondern auch um Weltwissen und Wissen um die Rechtspraxis. Im Risikomanagementsystem der Finanzverwaltung ist tatsächlich auch die Berufserfahrung von langgedienten Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten repräsentiert und „wirksam“. Damit greifen übrigens Ideen unter dem Stichwort „Law as Code“ zu kurz. Weiterhin liegt ein sehr großer Aufwand darin, das Wissen und die Regeln immer aktuell zu halten, damit das Expertensystem stets nach der aktuell geltenden Rechtslage und der sich immer weiter entwickelnden Rechtsprechung „entscheidet“. Legal-Tech-Expertenteams sollten also nicht nur gute Rechts- und Technikkenntnisse, sondern auch praktische Erfahrung in der jeweiligen rechtlichen Domäne haben, weil nicht nur Recht, sondern auch implizites Praxiswissen in Programmcode überführt werden muss.25 8. Wechselwirkung von Teilsystemen (Frontend und Risikomanagementsystem): Der Schlüssel zum Erfolg, wie ein solches Justizportal realisiert werden könnte, dürfte schließlich darin liegen, dass man von innen nach außen und wieder zurück entwickelt. Man muss von dem explizit gemachten und formalisierten Wissen der jeweiligen juristischen Domäne und den hierzu benannten Regeln zurückschließen auf die dies alles repräsentierende intelligente Eingabehilfe, also das Frontend, welches für Bürgerinnen und Bürger einzig sichtbar wird. Es scheint nicht erfolgversprechend, allein von der Eingabehilfe her zu denken und dann dazu die weiter notwendigen Teilsysteme (analog GINSTER, RMS etc. in KONSENS) entwickeln zu wollen. Vielmehr hat die Eingabehilfe, will diese intelligent gestaltet sein, dem bereits verstandenen „inneren“ Systemen zu folgen und umgekehrt. Das Teilsystem Risikomanagement muss sozusagen verstanden sein, bevor das Teilsystem Justizportal gestaltet werden kann, wenn sich in der Realität wohl dann ein sich gegenseitiges „Hochschaukeln“ bei der Entwicklung der Systeme zeigen dürfte, die man nebeneinander implementiert, weil eben am Ende alles auf alles abgestimmt sein muss.26 Aber: Wenn ich anfangs nicht weiß, was ich intern verarbeiten kann, kann ich nicht wissen, was

25 Siehe z. B. das Video über Stunde 1 der Vorlesung KI und rechtliches Entscheiden aus dem Sommersemester 2020 auf youtube https://www.youtube.com/watch?v=OxQIDG5T40&list=PLlAmFMfHr2U3Gs-VJxkV3jzvIj_lv2UGv. 26 Die Notwendigkeit des „Hin- und Herwanderns des Blickes“ ist in der Juristerei seit Karl Engisch eine gesicherte Erkenntnis, wird dies auch verstanden als die Zusammenschau von Norm und Sachverhalt. Siehe zu Karl Engisch und der Juristischen Methodenlehre Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, S. 791 f. m. w. N. Im übertragenen Sinn dazu wird hier ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Rechtswissenschaft und Computerwissenschaft in Bezug auf alle für das angestrebte Expertensystem relevanten Teilsysteme postuliert.

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ich mittels des Justizportals über die Bürger und Bürgerinnen extern eingeben lassen soll.27 9. Interdisziplinär besetzte Teams: Zur Realisierung eines digitalen Justizportales als Teil eines einheitlichen Expertensystems mit weiteren Teilsystemen nach dem Vorbild von ELSTER, GINSTER, und RMS der Steuerverwaltung dürften zu guter Letzt stets interdisziplinär besetzte Teams, bestehend aus Juristen, Rechtspraktikern der jeweiligen rechtlichen Domäne und Computerwissenschaftlern aus den für eine Realisierung erforderlichen Teildisziplinen der KI-Forschung, erforderlich sein. Nur in gemeinsamen Arbeitsgruppen und in interdisziplinären Gesprächen gelingt es typischerweise Wissen und Regeln zu formalisieren und in den entsprechenden Teilsystemen zu implementieren.28

X. Zusammenfassung und Ausblick Als Zusammenfassung unserer bisherigen Erfahrungen kann man feststellen, dass das Gesamtsystem der Steuerverwaltung als Expertensystem, als Good Old-Fashioned Artificial Intelligence, damit durchaus als Vorbild für die Realisierung eines digitalen Justizportales und angeschlossener weiterer notwendiger Teilsysteme dienen können dürfte. Diese Vorbildfunktion kann dabei ganzheitlich gesehen werden, angefangen von der „Zerlegung“ des juristischen Gesamtvorganges in Teilschritte, der dazu passenden computerwissenschaftlichen Konzeption, der Implementierung der Teilsysteme, der dazu erforderlichen Prozesse, der aufeinander abgestimmten Entwicklung der Teilsysteme, der personellen Organisation und der Servicierung etc. Der Aufwand, ein solches System zu bauen, dürfte aber nicht unerheblich

27 Vergleiche zu den Problemen, die entstehen, wenn man nur das Frontend anbietet, dann aber den durch Bürgerinnen und Bürger skalierten Input für die Justiz nicht auch maschinell zu Output verarbeiten kann, in diesem Band: Adrian/Schröder/Maier, Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen, 2021, S. 199 ff. 28 Zur Möglichkeit der Formalisierung von Rechtsfragen in Logik siehe z.B. Rapp/Adrian/ Kohlhase, in: Gaggl/Thimm/Vallati (Hrsg.), Proceedings of the Third International Workshop on Systems and Algorithms for Formal Argumentation co-located with the 8th International Conference on Computational Models of Argument (COMMA), 2020, S. 56 – 67 (abrufbar unter: https://arxiv.org/); zu der spannenden Aufgabe der logischen Repräsentation von Rechtsfortbildung, d.h. von juristischen Analogie- und Subsumtionsschlüssen siehe z.B. Adrian/Kohlhase/Rapp, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer/Saarenpää/Eder/Hanke (Hrsg.), Cybergovernance, Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2021, 2021, Seite 169 ff., sowie Adrian/Kohlhase/Rapp, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer/Saarenpää/Eder/Hanke (Hrsg.), Cybergovernance, Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2021, 2021, Seite 231 ff.; zu einem Plädoyer für mehr Strukturwissenschaft in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung siehe z.B. Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, S. 121.

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sein, was sich daran zeigt, wie lange die Steuerverwaltung bereits in KONSENS (und davor) an ihren Teilsystemen ELSTER, GINSTER und RMS arbeitet. Als Ausblick bleibt zu wünschen, dass sich staatliche Institutionen, Forschung und Wissenschaft mit symbolischer KI und solchen Expertensystemen, wie dem der Steuerverwaltung, (wieder29) intensiv befassen. So könnte das beeindruckende System der Steuerverwaltung genauer analysiert und erforscht werden, um es weiter zu verbessern und auch, um vorhandene Systeme mit derzeit beforschten subsymbolischen KI-Systemen zu hybriden Systemen zu kombinieren. Erkenntnisse über die Analyse und Verbesserung des Expertensystems der Steuerverwaltung könnten parallel auf Fragestellungen zur Digitalisierung des Zivilprozesses und der Rechtsdurchsetzung übertragen und dafür fruchtbar gemacht werden. Das Zusammenspiel von Symbolischer und Subsymbolischer KI könnte vergleichend über Steuerrecht und Zivilrecht implementiert, erprobt und evaluiert werden. Dies könnte sogar zur Grundlage eines künftigen umfassenden Forschungsbereiches zum Thema Legal-Tech und Digitalisierung staatlicher Rechtsdienstleistungsprozesse werden. Ganz konkret könnte man zunächst wie folgt starten: Mit einem, vergleichbar zum beschrieben System der Steuerverwaltung zu entwickelndem Expertensystem, könnte man vermutlich die Aufgabe der Automatisierung des Kostenfestsetzungsverfahrens im Zivilprozess implementieren und erforschen, wie dies im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs auf Seite 59 ff. vorgeschlagen wird.30 Für diese Aufgabe hat nämlich eine Kostenfestsetzungsentscheidung, struk29

Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik, Wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Analyse einer Querschnittsdisziplin, 2011, zeigt auf, dass nach anfänglichen Hoffnungen, die logische Formalisierung juristischer Probleme würde große Fortschritte bringen, Ende der siebziger Jahre eine gewissen Ernüchterung eingetreten ist. Parallel dazu bekam man auch in der Informatik in den 1980ern Zweifel, ob Expertensysteme allein erfolgreich sein können. Wie bereits erwähnt wurde GOFAI von John Haugeland dann auch in seinem Buch von 1986 auch als Bezeichnung für symbolische KI-Systeme eingeführt. Heute jedoch sollte (wieder) mit den mittlerweile in der theoretischen Informatik entwickelten robusteren und mächtigeren Logiken gerade in der Rechtswissenschaft an neuen Expertensystemen intensiv geforscht werden. 30 Wörtlich: „Die Arbeitsgruppe hat sich mit der Frage befasst, ob und inwieweit die Kostenfestsetzung automatisiert durch Software erfolgen kann. (…) Nach dem Abschluss der Instanz erfolgt (auf Grundlage der Kostengrundentscheidung) durch den Rechtspfleger des erstinstanzlichen Gerichts die Kostenfestsetzung für die Parteien des Rechtsstreits. Dieses Verfahren wird mit dem Kostenfestsetzungsbeschluss beendet, gegen den das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft ist (§ 104 Abs. 3 ZPO). Eine Bearbeitung durch den Rechtspfleger schreibt das Gesetz zwingend vor. (…). Wegen der klaren Struktur des Kostenfestsetzungsverfahrens bietet es sich an, in diesem Bereich (auch) eine automatisierte Bearbeitung einzuführen. Dies könnte ein geeignetes Testfeld sein, um automatisierte Entscheidungen und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Zivilverfahren zu erproben. Die Grundlage des Einsatzes eines Programms zur automatisierten Akte ist die E-Akte, aus der sich die für die

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turell vergleichbar mit einem Steuerbescheid, auf Basis von Daten des Zivilprozesses, strukturell vergleichbar mit Daten eines Steuersachverhaltes, zu ergehen, so dass man versuchen könnte, ein Assistenzsystem, strukturell vergleichbar mit dem Risikomanagementsystem der Steuerverwaltung zu entwickeln, welches möglichst zahlreiche „Autofälle“ erzeugen kann. Damit wäre der Grundstein für weitere Assistenzsysteme gelegt. Lassen Sie uns diesen Grundstein gemeinsam legen.

Kostenfestsetzung notwendigen Daten (Art des Verfahrens, Streitwert, Art der Verfahrensbeendigung, Termine, Inhalt der Kostengrundentscheidung) für das Programm erkennen lassen. Auf dieser Grundlage könnte die Kostenerstattung mit einem automatisieren Verfahren berechnet und festgesetzt werden.“

Zum Vorschlag eines beschleunigten Online-Verfahrens Von Robert Korves Ein Eckpfeiler des Diskussionspapiers der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ (2021)1 ist die Einrichtung eines beschleunigten Online-Verfahrens für streitwertarme Verbraucherklagen. Angeknüpft wird an entsprechende Vorarbeiten aus den Reihen der Justizministerkonferenz (Hamburger Modell).2 Zudem wird auf ausländische Vorbilder3 verwiesen,4 wobei der Erkenntniswert gegriffener Vergleiche beschränkt ist,5 wie das Diskussionspapier selbst6 anmerkt. Aufgegriffen werden mit dem Vorschlag in der Sache die schon länger diskutierten und sich teilweise überschneidenden Fragen, inwieweit es eines Sonderprozessrechts für geringe

1 Im Folgenden „Diskussionspapier“; aufgegriffen im jüngsten Koalitionsvertrag unter „Justiz“: „Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.“ 2 Abschlussbericht Länderarbeitsgruppe Legal Tech, 2019, S. 74 ff.; dazu Nicolai/Wölber, ZRP 2018, 229 ff.; Steffen, DRiZ 2018, 334 f.; Balke, AnwBl Online 2020, 209 ff.; Voß, VuR 2021, 243 (244); Rühl, in: Benedict et al. (Hrsg.), FS Singer 2021, S. 591 (597 ff.); Christensen, AnwBl 2021, 286; Müller/Gomm, MDR 2021, 222 (226). 3 Instruktiv deren Systematisierung von Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 ff.; einen weiten Überblick verschaffen die Generalberichte der Weltkongresse von Fasching, Small Claim Courts, in: Storme/Casman (Hrsg.), Towards a Justice with a Human Face – The First International Congress on the Law of Civil Procedure, 1978, S. 343 ff., und Kramer/Kakiuchi, Relief in Small and Simple Matters in an Age of Austerity, in: Pekcanitez/Bolayir/Simil (Hrsg.), XVth International Association of Procedural Law World Congress, 2016, S. 121 ff.; kursorische Überblicke bei Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (69 f.), und Rühl, JZ 2020, 809 (813); näher zum französischen Modell Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz: Ideen für ein digitales Bagatellverfahren, in: Ferrand/Knetsch/ders. (Hrsg.), Die Digitalisierung des Zivilrechts und der Ziviljustiz in Deutschland und Frankreich, 2020, 181 (183 f.); zum kanadischen und englischen Modell Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (72 ff., 76 ff.); zum japanischen Bagatellgericht (kan’i saibansho) und dem Verfahren mit geringem Streitwert (sho¯gaku sosho¯) Sugiyama, Erasmus Law Review 2015, 201 ff.; Kakiuchi, ZZPInt 9 (2004), 267 (275, 289, 291); ders., in: Baum/Bälz (Hrsg.), Handbuch Japanisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 2011, § 27 Rn. 195 ff.; Nakamura, Die Reform der Japanischen Zivilprozessordnung, in: ders., Japan und das Deutsche Zivilprozessrecht, Bd. II, 2007, 22 (33, 37 f.). 4 Abschlussbericht (Fn. 2), S. 75 ff.; Diskussionspapier, S. 77. 5 Treffend H. Roth, in: A. Bruns/Münch/Stadler (Hrsg.), Die Zukunft des Zivilprozesses, S. 69 (74): „Der Hinweis auf abweichende ausländische Lösungen bleibt für sich gesehen farblos“; ähnlich Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (606). 6 Diskussionspapier, S. 77.

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Streitwerte7, Verbraucher8 sowie überschaubare und typisierbare Sachverhalte9 bedarf. Ein beschleunigtes Online-Verfahren für streitwertarme Verbraucherklagen soll dem „rationalen Desinteresse“ der Verbraucher an der (gerichtlichen) Durchsetzung ihrer behaupteten subjektiven Rechte abhelfen.10 Dieses Desinteresse führt man auf ein Missverhältnis zwischen den oft geringen Streitwerten einerseits und den vergleichsweise hohen gerichtlichen Durchsetzungskosten andererseits zurück. Inspiriert durch die aufstrebende Legal-Tech-Branche, die sich mit innovativen und vor allem benutzerfreundlichen Digitalkonzepten und nicht zuletzt unter Ausreizung der Ausnahmen vom anwaltlichen Beratungsmonopol seit geraumer Zeit erfolgreich den Verbrauchern zuwendet, möchte auch die Justiz die desinteressierten Verbraucher künftig dort abholen, wo man sie stehen gelassen hat. Unter dem Banner eines smarten Gerichtszugangs sollen aus ihnen (wieder) Rechtssuchende werden. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe sieht für Verbraucherklagen gegen Unternehmer mit einem Streitwert bis 5.000 E11 in bestimmten Bereichen (insb. Fluggastentschädigungen)12 ein volldigitalisiertes13 Erkenntnisverfahren vor. Für den Verbraucherkläger soll die Wahl dieses Verfahrens fakultativ sein, für den beklagten Unternehmer hingegen ein Einlassungszwang bestehen.14 Ortsungebunden könnte auf Grundlage von § 13a GVG eine Konzentration bei bestimmten (Amts-)Gerichten erfolgen.15 In

7 Zur neueren deutschen Reformgeschichte und -diskussion Rottleuthner, NJW 1996, 2473 (2474); Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014, S. 532 ff.; Gsell, in: Althammer/Weller (Hrsg.), Europäische Mindeststandards für Spruchkörper, 2015, S. 33 (40 ff.); Leipold, in: Brinkmann et al. (Hrsg.), FS Prütting 2018, S. 401 (402 f.). 8 Dazu vor allem Micklitz, Gutachten A zum 69. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages München 2012, Bd. I, 2012, A 19 ff., A 87 ff., A 104 ff., A 119, A 121 f.; H. Roth (Fn. 5), S. 69 ff.; Calliess, Gutachten A zum 70. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages Hannover 2014, Bd. I, 2014, A 97 f.; Nöhre, in: Höland/Meller-Hannich (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz, 2016, S. 34 (40 f.); Fries, Verbraucherrechtsdurchsetzung, 2016, S. 108 ff., jew. m.w.N. 9 H. Prütting, AnwBl 2013, 401 (403); M. Weller/Köbler (Hrsg.), Verfahrensgrundsätze und Modellregeln für die grundsätzlich elektronische Führung gerichtlicher Erkenntnisverfahren 2016, S. 93 ff. 10 Diskussionspapier, S. 76 ff. 11 Diskussionspapier, S. 84 f. 12 Diskussionspapier, S. 76 ff., 85, 93. 13 Diskussionspapier, S. 79 f.; anders das Hamburger Modell, das allein auf die Digitalisierung der Verfahrenseinleitung zielt, Abschlussbericht (Fn. 2), S. 83 ff.; Nicolai/Wölber, ZRP 2018, 229 (231 f.); Balke, AnwBl Online 2020, 209 (210). 14 Diskussionspapier, S. 87 f., 89 f. 15 Diskussionspapier, S. 84; dagegen Meller-Hannich, AnwBl 2021, 288 (289); kritisch mit Blick auf die unterschiedlichen Beweisaufnahmemodi Voß, VuR 2021, 243 (249 f.); kritisch zur Zuständigkeitskonzentration für das europäische Bagatellverfahren Althammer, ZVglRWiss 119 (2020), 197 (209 ff.).

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der Klassifikation von Hau16 geht es also um die Schaffung von small claims tracks. Als wichtiger Baustein für das Online-Verfahren sieht das Diskussionspapier digitale formularbasierte Eingabemasken vor, die insbesondere dem anwaltlich nicht vertretenen Verbraucherkläger die erforderlichen Hilfestellungen gewähren und den Prozessstoff für den Richter weitestgehend vorstrukturieren.17 Eine mündliche Verhandlung soll nicht zwingend und wenn dann ausschließlich digital stattfinden,18 womit eine Beschränkung der Beweismittel19 erforderlich wäre und als Modus der Freibeweis20 gelten soll. Die Verteidigungsmöglichkeiten sollen dergestalt eingeschränkt werden, dass zwar eine Aufrechnung, nicht aber eine Widerklage zulässig ist.21 Eine Rechtsmittelbeschränkung ist hingegen nicht vorgesehen.22 Im Fokus der folgenden Ausführungen sollen weniger die zahlreichen Einzelfragen hinsichtlich der möglichen Ausgestaltung des Verfahrens stehen als vielmehr die hinter dem Vorschlag stehende Grundidee, angeblich verlorene streitwertarme Verbrauchermandate für den Zivilprozess zurückzugewinnen. So steht die Grundidee selbst nicht nur auf ungewissen Prämissen (I.), sondern nimmt sich mit den LegalTech-Angeboten und der bürgernahen Verwaltung auch die falschen Vorbilder (II.) und stellt mit der anwaltlich nicht vertretenen Naturalpartei die falsche Person in den Fokus der Ausgestaltung (III.). Erfolgversprechender erscheint es, ein OnlineVerfahren für kleine Streitwerte als Probierstein eines digitalen Zivilprozesses zu verstehen und entsprechend auszugestalten (IV.).

I. Ungewisse Prämissen Der Vorschlag eines beschleunigten Online-Verfahrens gründet auf der Prämisse, dass „das Rechtsschutzangebot der Justiz […] durch […] niederschwellige Rückgabe- und Streitschlichtungsmechanismen des Online-Handels verdrängt“ wird und sich auf „bestimmten Geschäftsfeldern (z. B. bei Flugreiseverspätungen, Klagen gegen Mieterhöhungen) […] Angebote privater Dienstleister ausbreiten“. Trotz des rechtswissenschaftlichen Interesses und umfangreichen Zahlenmaterials aus

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Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (574 f.). Diskussionspapier, S. 80 ff. 18 Diskussionspapier, S. 80, 92 f.; kritisch dazu Voß, VuR 2021, 243 (247 f.); Rühl (Fn. 2), S. 501 (600 ff.). 19 Diskussionspapier, S. 80, 93 f. 20 Diskussionspapier, S. 94. 21 Diskussionspapier, S. 91; die Unzulässigkeit der Widerklage erscheint insbesondere problematisch im Hinblick auf (offene) Teilklagen, die wegen der Streitwertgrenze (dazu IV. 3.) erhoben werden könnten; zur Teilklageproblematik im Bagatellprozess auch Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (595). 22 Diskussionspapier, S. 95 f. 17

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den Justizstatistiken weiß man – in allen Gerichtszweigen23 – wenig über die Ursachen steigender und sinkender Fallzahlen.24 Die vom Gesetzgeber protegierte außergerichtliche Streitbeilegung25 könnte ebenso mitursächlich sein wie veränderte Erwartungen an einen smarten Gerichtszugang26, gesamtgesellschaftliche Prosperität27, eine Änderung der Konfliktkultur28 sowie die Ausgestaltung des Kostenrechts, die bei geringen Streitwerten einerseits ein grobes Missverhältnis zwischen Kostenrisiko und wirtschaftlichem Interesse erzeugt29 und andererseits es Anwälten nicht gerade attraktiv macht, sich um streitwertarme Verbrauchermandate zu bemühen30. Auf Wünschen und Hoffnungen gegründete Justizpolitik gleicht dem intuitiven Stochern im Nebel,31 führt aber allenfalls zufällig zum Erfolg. Es ist daher mehr Hoffnung als Wahrscheinlichkeit, dass selbst ein gut gestaltetes Online-Verfahren die Klageeingangszahlen signifikant erhöhen wird.32 Gerade die exponiert erwähnten Fluggastentschädigungsbegehren werden kaum zu einer Steigerung der Klageeingangszahlen führen, denn diese Fälle werden – seit einiger Zeit offenbar mithilfe entsprechender Legal-Tech-Anbieter – bereits massenhaft vor staatliche Gerichte gebracht.33 Problematisch ist vielmehr, dass diese Klagen sich auf einige wenige Gerichte („Flughafengerichte“) konzentrieren. Nur vordergründig ursächlich für die Konzentration ist die Rechtsprechung, die Entschädigungsklagen an jedem Abflugs- und Ankunftsort zulässt.34 Denn auch das Prinzip actor sequitur forum rei führt bei Massengeschäften wie etwa Pauschalreiseverträgen zu einer Konzentration in den Sprengeln, in dem die typischerweise beklagten Unternehmen ihren Sitz haben. Ein beschleunigtes Online-Verfahren, das den mit derartigen Klagen überfluteten Gerichten eine Ressourcen schonende Bearbeitung 23 Höland/Meller-Hannich, in: dies. (Hrsg.), Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz, 2016, S. 11 (12 ff.); Rottleuthner, ebenda, S. 100 (102). 24 Graf-Schlicker, AnwBl 2014, 573 (576 f.); Höland/Meller-Hannich (Fn. 23), S. 11 (13 f.); Meller-Hannich/Nöhre, NJW 2019, 2522; Dudek, JZ 2020, 884; Balke, AnwBl Online 2020, 209 (212); C. Paulus, in: Fest/Gomille (Hrsg.), FS Hager 2021, S. 483 ff. 25 H. Roth, JZ 2013, 637 ff.; Rottleuthner (Fn. 23), S. 100 (110 ff.). 26 Vgl. Calliess (Fn. 8), A 34 f.; Pickel, AnwBl Online 2018, 388 (390). 27 Rottleuthner (Fn. 23), S. 100 (102); Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (586 f.). 28 Braun, ZZP 131 (2018), 277 (313 ff.); Dudek, JZ 2020, 884 ff.; C. Paulus (Fn. 24), S. 483 f., der zudem noch das bisweilen mangelnde richterliche Ethos anführt (S. 492 f.). 29 Vgl. Wolf, ZZP 128 (2015), 69 (88 ff.). 30 Fasching (Fn. 3), S. 343 (353); Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (589 f.). 31 G. Wagner, ZEuP 2008, 6 (8 f.); Rottleuthner, NJW 1996, 2473 (2474); ders., in: FS E. Schneider 1997, S. 25 (30 ff.); Calliess (Fn. 8), A 22 ff. 32 Zur Resilienz der Justizstatistiken gegenüber Verfahrensreformen insb. im Hinblick auf die Klageeingangszahlen Greger, ZZP 131 (2018), 317 (318 ff.); allgemeiner Calliess (Fn. 8), A 18 f.; Gsell (Fn. 7), S. 33 (35); eine Mehr- oder gar Überbelastung befürchtet dagegen Rühl (Fn. 2), S. 591 (602 f.). 33 H. Prütting, AnwBl 2013, 401 (403); Pickel, AnwBl Online 2018, 388 (390); Rebehn, DRiZ 2020, 82 f. 34 BGHZ 188, 85 (94).

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erlaubt,35 erfordert eine gänzlich andere, nämlich an den Bedürfnissen des Gerichts orientierte Ausgestaltung als ein an den Nöten nicht anwaltlich vertretener Verbraucher orientiertes Verfahren. Insbesondere die Ausgestaltung und Handhabung digitaler Prozessformulare hat sich an den Zwecken des Verfahrens zu orientieren.36 Zudem ist ein konstant hohes Niveau an Klageeingängen in der Ziviljustiz kein Selbstzweck. Man kann es als Gefahr für die Entwicklung des (Zivil-)Rechts insgesamt betrachten, wenn über Streitigkeiten jedenfalls in bestimmten Segmenten nicht mehr vor Gericht gestritten und damit öffentlich verhandelt, entschieden und im Anschluss (wissenschaftlich) diskutiert wird.37 Wer Rechtsprechung in dieser Hinsicht als schützenswerte Fauna betrachtet, die teilweise auszusterben droht, weil Wilderer ihr die Nahrung streitig machen, wird eher für die Bekämpfung der Wilderer – sprich eine stärkere Regulierung des Legal-Tech-Marktes, eine Erschwerung des Inkassomodells (Zulässigkeit von Abtretungsverboten) und ein Zurückdrängen der außergerichtlichen Streitbeilegung – als das Prinzip Hilfe-zur-Selbsthilfe (Attraktivitätssteigerung der Ziviljustiz) votieren. Unausgesprochen im Raum steht wohl auch die Befürchtung der (Verwaltungs-) Spitzen der Zivilgerichtsbarkeit, dass auf den Rückgang der Klagezahlen ein Rückgang der Mittelzuweisungen aus den Justizhaushalten folgt. Selbst wenn man die (Rück-)Gewinnung streitwertarmer Verbraucherklagen für einen legitimen Zweck hält, erscheint das beschleunigte Online-Verfahren nicht geeignet, um die Zuweisung vor allem von Personalmitteln zu rechtfertigen. Das Personalbedarfsberechnungssystem für die Justiz (PEBB§Y) weist jeder Verfahrensart eine durchschnittliche Bearbeitungszeit zu („Basiszahl“).38 Gelänge es tatsächlich, ein gut funktionierendes Online-Verfahren für streitwertarme Verbraucherklagen zu entwickeln, das dem Richter im Vergleich zum Regelverfahren aufgrund der Strukturierung Arbeit erspart, müsste die Basiszahl zur Personalbedarfsberechnung entsprechend kleiner ausfallen als für das Regelverfahren. Die mittelfristig angedachte Überantwortung weiterer Materien in ein (beschleunigtes) Online-Verfahren39 könnte den rechnerischen Personalbedarf sogar stärker senken als der weitere Rückgang der Fallzahlen im Regelverfahren. Dabei darf die durch Strukturierung gewonnene (Richter-)Arbeitszeitersparnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Digitalisierung der Justiz auch zu einer unmerklichen Verlagerung ehedem nichtrichterlicher Tätigkeiten auf die Richterschaft führen kann.40 35

Vgl. den Beschluss TOP I. 21 der 92. Justizministerkonferenz vom 16. Juli 2021. Korves, GVRZ 2018, 7 insb. Rn. 12 ff., 24 ff., 33 ff., 42 ff.; ders., MDR 2019, 397 ff. 37 G. Wagner, ZEuP 2008, 6 (10 f.); Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (590 f.); Meller-Hannich/ Nöhre, NJW 2019, 2522; Rühl, JZ 2020, 809 (812 f.); C. Paulus (Fn. 24), S. 483 (491 f.). 38 PWC, Gutachten PEBB§Y-Fortschreibung, 2014, S. 27 ff. 39 Diskussionspapier, S. 82, 97 ff. 40 Gottwald, in: Greger/Gleußner/Heinemann (Hrsg.), FG Vollkommer 2006, S. 259 (268); Korves, in: Buschmann/Gläß/Gonska et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht 2018, S. 41 (44); Greger, NJW 2019, 3429 (3430); optimistisch dagegen Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (85). 36

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II. Falsche Vorbilder Selbst wenn man die Prämisse als richtig unterstellt, dass die außergerichtlichen Durchsetzungsmechanismen wenigstens mitverantwortlich sind für den Rückgang der Eingangszahlen, und man es für erstrebenswert hält, die so verlorenen Fälle für die Ziviljustiz zurückzugewinnen, erscheinen die genannten Legal-Tech-Angebote ebenso wie die digitale Finanzverwaltung (ELSTER) als falsche Vorbilder. Die Legal-Tech-Angebote insbesondere im Bereich der Flugreiseverspätungen41 basieren auf dem „Rundum-sorglos-Modell“42 (1.) und das elektronische Steuerverfahren ist ein „Service“ bürgernaher Verwaltung (2.). Beides hat mit einem kontradiktorischen Zivilprozess nichts zu tun. 1. Das „Rundum-sorglos-Modell“ der Legal-Tech-Branche Die von innovativen Legal-Tech-Unternehmen besetzten Geschäftsfelder zeigen eindrücklich, wie unter Einsatz digitaler Konzepte Verbraucherrechte im Bagatellbereich gewinnbringend durchgesetzt werden können. Ihre Konzepte können für die technische Ausgestaltung eines justizförmigen Verfahrens gewiss Anregungen bieten. Es ist aber trügerisch zu glauben, allein ein smarter Gerichtszugang würde die Verbraucher scharenweise in die Arme der Justiz treiben. Denn das Geschäftsmodell dieser Branche basiert nicht allein auf einem niedrigschwelligen Zugang, sondern mindestens gleichgewichtig auf dem „Rundum-sorglos-Prinzip“.43 Der niedrigschwellige Erstkontakt zum Anbieter ist für den Kunden dabei zugleich der vorerst letzte und aus seiner Sicht risikolose Akt. Danach geht das Verfahren ohne weiteres Zutun seinen Gang. Am Ende gibt es entweder den geforderten Betrag abzüglich der Provision oder die ärgerliche, aber sonst folgenlose Mitteilung, dass man nicht erfolgreich gewesen sei. Dieses Modell könnte selbst ein sehr verbraucherfreundlich ausgestaltetes Online-Verfahren nicht bieten. Jeder auch nur entfernte Vergleich mit den genannten Angeboten der Legal-Tech-Branche könnte für die anwaltlich nicht beratene Partei überhöhte Erwartungen wecken, die schnell enttäuscht werden, wenn wenige Wochen nach Verfahrenseinleitung der verklagte Unternehmer nicht einfach kapitulierend zahlt, sondern mit anwaltlichem Beistand alle Verteidigungsmöglichkeiten ausschöpft und die abverlangte Replik dem Kläger nicht mehr so smart vorkommt wie noch die Ersteingabe. Vor allem wenn das beschleunigte Online-Verfahren – und sei es nur in der Wahrnehmung der Unternehmer – allzu verbraucherfreundlich ausgestaltet sein wird, wird der beklagte Unternehmer durch sein Prozessverhalten das Verfahren für den Verbraucher so unangenehm wie möglich führen (zivilprozessuale Konfliktverteidigung) oder auf eine Überführung in das Regelverfahren44 hinwirken. 41

Zu weiteren erfolgreichen Anbietern Rühl, JZ 2020, 809 (812). Begriff nach Greger, AnwBl 2017, 932 ff.; ders., MDR 2018, 897 ff. 43 Näher Greger, MDR 2018, 897 ff.; vgl. auch Meller-Hannich/Nöhre, NJW 2019, 2522 (2525); Hartung, AnwBl 2021, 287 f. 44 Dazu Diskussionspapier, S. 85 ff. 42

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Verliert der Kläger schließlich den Prozess um das sicher geglaubte Recht und wird auf die kleineren Gerichts-45 und die größeren Anwaltskosten des Gegners in Anspruch genommen, hat die Justiz den „Kunden“ dauerhaft vergrault.46 2. Die bürgernahe Verwaltung Elektronische Formulare gelten seit langem als Instrument einer bürgernahen Verwaltung. Exemplarisch verweist das Diskussionspapier auf die elektronische Steuererklärung (ELSTER).47 Auch für die Rechtspflege wird seit langem das Prinzip der Bürgernähe hochgehalten. Doch zielt dieses Postulat mehr auf die Ausgestaltung der Gerichtsverwaltung, nicht die des Erkenntnisverfahrens. Ebenso wenig wie die Geschäftsfelder des Legal-Tech kann ein auf Bürgernähe abzielendes Verwaltungsverfahren mit einem kontradiktorischen Zivilprozess verglichen werden. Ein Verwaltungsverfahren ist typischerweise ein bipolares zwischen dem Bürger und der Behörde, wobei sich letztere nach dem Prinzip der Bürgernähe als Dienstleister des ersteren verstehen soll. Demgegenüber ist der kontradiktorische Zivilprozess ein dreiseitiges Verhältnis, in dem sich zwei Parteien mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen. Das Gericht als neutraler zur Streitentscheidung berufener dritter Akteur müsste unter dem Banner der Bürgernähe als Dienstleister beider Parteien gleichermaßen verstanden werden.

III. Falsche Adressaten Im Fokus des Vorschlags steht der anwaltlich nicht vertretene Verbraucher,48 für den das beschleunigte Online-Verfahren eine Alternative zu den außergerichtlichen Konfliktlösungsangeboten darstellen soll. Dieser Fokus ist aus unterschiedlichen Gründen bedenklich. Erstens bedroht es die Unabhängigkeit des erkennenden Gerichts, wenn diesem künftig die Aufgabe zufällt, den Unzulänglichkeiten digitaler Assistenzen abzuhelfen (1.). Zweitens ist ein auf spezifische Verbraucher- und Unternehmerinteressen zugeschnittenes Verfahren nicht offen für andere Typen von Streitgegenständen (2.) und drittens verkompliziert die Verbraucherrolle als besondere Prozessvoraussetzung die Zulässigkeitsprüfung (3.).

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Vgl. Diskussionspapier, S. 96. Zur Leuchtturmwirkung von geringwertigen Streitigkeiten gerade für die breite Bevölkerung, also auch den Verbraucher, Fasching (Fn. 3), S. 343 (347); Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (590). 47 Diskussionspapier, S. 83. 48 Diskussionspapier, S. 78, 80 f.; diesem Prinzip zustimmend Rühl (Fn. 2), S. 591 (604 f.). 46

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1. Der Chatbot als Gerichtsschreiber Seit jeher besteht im amtsgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit, zustellungsbedürftige Anträge und sonstige Erklärungen zu Protokoll des Gerichtsschreibers zu erklären (früher §§ 457, 462 CPO, sodann § 496 ZPO). Aus dem Gerichtsschreiber wurde später die Geschäftsstelle mit Rechtspflegern und Urkundsbeamten,49 wobei im Zivilprozess regelmäßig der Rechtspfleger zur Aufnahme von Anträgen und sonstigen Erklärungen berufen ist (vgl. § 24 Abs. 2 Nrn. 2 & 3 RPflG). Ihm kommt die Aufgabe und Befugnis zu, insbesondere der anwaltlich nicht vertretenen Partei Formulierungshilfe zu leisten.50 Dass diese Aufgabe nicht dem erkennenden Richter zufällt, hat nicht in erster Linie mit der Schonung seiner Arbeitskraft zu tun, sondern dient der Wahrung seiner Unabhängigkeit.51 Anders als das Gericht ist die Rechtsantragsstelle gerade nicht unparteiisch, sondern Beistand des Erklärenden,52 und nimmt damit eine Rolle ein, die mit der des erkennenden Gerichts unvereinbar ist. Im Regelverfahren vor den Amtsgerichten herrscht damit eine relativ klare Trennung53 zwischen der richterlichen Prozessleitung (§ 139 ZPO) einerseits und der nichtrichterlichen Formulierungshilfe (§ 496 ZPO) andererseits.54 Im beschleunigten Online-Verfahren soll diese Aufgabe der Formulierungshilfe durch „intelligente Eingabe- und Abfragesysteme […] mit Plausibilitätsprüfungen, Chatbots und anderen Hilfen“55 übernommen werden. Dort, wo diese technischen Assistenzen an ihre Grenzen kommen, „kann das Gericht im Rahmen seiner ordnenden Funktion“56 tätig werden. Diese Verwischung der Grenze zwischen Gerichts- und Geschäftsstellentätigkeit strapaziert das ohnehin schwierige Verhältnis von materieller Prozessleitung und richterlicher Neutralitätspflicht.57 Ersetzte man die Rechtsantragsstelle durch digitale Assistenzen in Gestalt von elektronischen Formularen 49 Bewer, ZZP 53 (1928), 64 ff.; E. Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 1965, § 23 A. (S. 172); Dumke, Vom Gerichtsschreiber zum Rechtspfleger, 1993, § 7 (S. 161 ff.); Kissel/ Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 153 Rn. 1. 50 MüKo ZPO/Deppenkemper, 6. Aufl. 2020, § 496 Rn. 1; Musielak/Voit/Wittschier, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 496 Rn. 1. 51 Vgl. Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1880, Bd. 2/1, S. 344 (= Motive, S. 291 f.); v. Wilmowski/Levy, CPO und GVG, 1878, § CPO 457 Rn. 2. 52 BGH 1957, 990 (991); OLG Hamm NJW 1966, 1519; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 153 Rn. 17; Wieczorek/Schütze/Reuschle, ZPO, 4. Aufl. 2014, § 496 Rn. 18; MüKo ZPO/Deppenkemper, 6. Aufl. 2020, § 496 Rn. 8; zurückhaltender RGZ 101, 426 (428); RG JW 1925, 2779 (2780); Stein/Jonas/C. Kern, 23. Aufl. 2016, § 129a Rn. 13. 53 Zur jedenfalls faktisch stärkeren Stellung der Gerichtsschreiber in der Zeit vor den Reichsjustizgesetzen Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 179 ff. 54 Vgl. R. Bruns, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1979, Rn. 260 (S. 401). 55 Diskussionspapier, S. 80 f. 56 Diskussionspapier, S. 81. 57 Vgl. nur Stein/Jonas/C. Kern, 23. Aufl. 2016, § 139 Rn. 20 f.; MüKo ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 139 Rn. 7 f.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 139 Rn. 5; Piekenbrock, NJW 1999, 1360 f.

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samt Eingabehilfen, überantwortet man die Grenzziehung zwischen Formulierungshilfe und Rechtsberatung dem Programm(ierer). Weil das beschleunigte Online-Verfahren nicht nur für die Klage, sondern für sämtliche prozessualen Anträge und Erklärungen formularbasiert ausgestaltet sein soll, wären für jede weitere Station des Verfahrens (Klageerwiderung, Replik, Duplik etc.)58 Formulare und Eingabehilfen nötig, die immer kleinteiliger werden, wenn sie alle prozessordnungsgemäßen Handlungsmöglichkeiten vollständig aufzeigen sollen. Das Aufzeigen sämtlicher prinzipiell möglicher Verfahrenshandlungen in jedem Prozessformular führte unweigerlich zu einer Überforderung der anwaltlich nicht vertretenen Partei. Diese wird sich vorkommen wie ein politisch uninformierter Erstwähler, der lange Wahllisten in den Händen hält, die auch die letzten Splitterparteien aufführen und zugleich die Hinweise, dass auf dieser Liste soundsoviele Kreuze, auf jener nur eines gemacht werden dürfe, andernfalls die Stimmabgabe ungültig sei. Bemerkenswert ist der Hinweis, die geringe praktische Bedeutung des europäischen Bagatellverfahrens hänge vor allem mit den Formularen zusammen, die von anwaltlich nicht vertretenen Parteien kaum so auszufüllen seien, dass den Gerichten eine effektive und schnelle Verfahrensführung möglich sei.59 Ebenso problematisch wäre es, eine Überforderung der Naturalpartei dadurch vermeiden zu wollen, die prozessordnungsmäßigen Handlungsmöglichkeiten in den Formularen nach bestimmten Relevanzkriterien zu ordnen. Das wäre ein schleichender Übergang zur Rechtsberatung. So würde etwa ein nach Relevanzkriterien geordnetes Formular für die Klageerwiderung die fast schon klassische Kontroverse um die richterliche Pflicht oder Befugnis zum Hinweis auf Einredetatsachen60 neu beleben. Schließlich droht ein formularbasiertes Online-Verfahren – ebenso wie die Digitalisierung der Rechtsantragsstellen – diejenigen Naturalparteien aus dem Blick zu verlieren, denen die notwendige digitale Affinität fehlt. Eine den Justizgewähransprüchen Rechnung tragende61 technische Ausstattung könnten Gerichte zwar weiterhin für digital Abgehängte und Verweigerer vorhalten (Videokonferenzraum, Spracherkennungsautomaten). Für wen aber schon eine normale Computer- oder Smartphone-Nutzeroberfläche Neuland ist, der könnte sich zwar im Rahmen einer Videoverhandlung oder mittels Spracherkennung in freier Rede mündlich äußern, sich aber kaum ohne menschliche Hilfe durch ausgeklügelte Eingabemasken klicken.62 Glei-

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Vgl. Diskussionspapier, S. 90 a.E. Sujecki, ZRP 2014, 84; für zu komplex hält diese auch Meller-Hannich, AnwBl 2021, 288 (290). 60 Statt aller Stein/Jonas/C. Kern, 23. Aufl. 2016, § 139 Rn. 52 ff. 61 Kodek, ZZP 111 (2002), 445 (487); Korves (Fn. 40), S. 41 (49 f.); Rühl, JZ 2020, 809 (814); Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (83). 62 Gegen einen formularbasierten Parteiprozess daher Effer-Uhe, MDR 2019, 69 (71 ff.); skeptisch auch Hähnchen, NJW 2005, 2257 (2259); Gottwald (Fn. 40), S. 259 (266); für Strukturformulare im Parteiprozess zur „groben Vorsortierung des Vortrags“ Zwickel, MDR 2021, 716 (721 a.E.); anders noch ders., MDR 2016, 988 (991 f.); ebenso Heil, IT-Anwendung 59

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ches gilt für diejenigen, die auch in einem klassischen schriftlichen Verfahren ihr Anliegen ohne (unterstützten) mündlichen Vortrag kaum artikulieren können (Ausländer, Analphabeten).63 In einem Verfahren ohne Gerichtssaal fällt die „Rückbindung der Rechtskommunikation an die Leiblichkeit“64 aus. 2. Das beschleunigte Online-Verfahren als Verbandsvertreterprozess Im beschleunigten Online-Verfahren würde allenfalls der Verbraucherkläger nicht anwaltlich vertreten sein. Der beklagte Unternehmer hingegen, vor allem wenn Massenansprüche im Raum stehen, wird auf professionellen Rechtsbeistand kaum verzichten. Damit drohte eine im Hinblick auf Hilfestellungen asymmetrische Ausgestaltung der Formulare einseitig zugunsten der Klägerseite. Zudem steht die Folgefrage im Raum, wer die Gestaltung der Formulare übernehmen soll. Die bisher bestehenden Regelungen über Formularzwänge überantworten die nähere Ausgestaltung jeweils Rechtsverordnungen des Bundesjustizministeriums im Einvernehmen mit dem Bundesrat.65 Doch handelt es sich in allen diesen Fällen um Formulare lediglich für verfahrenseinleitende Anträge. In einem volldigitalisierten Verfahren hätten Formulare eine ungleich größere Bedeutung, weil sie bei einem grundsätzlichen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung das einzige Mittel zur Abgabe verfahrenserheblicher Erklärungen wären. Bei einem wesentlichen Einfluss auf den Verfahrensablauf müsste ihre Ausgestaltung in der Hand des Parlaments liegen (Wesentlichkeitsdogma), was wiederum eine schnelle Veränderung, wie sie das Diskussionspapier wünscht,66 erschweren würde. Jedenfalls dürfte die demokratische Legitimation nicht hinter den bisherigen Stand zurückfallen. Bedenklich erscheint daher der Vorschlag, an der Ausgestaltung der Formulare Interessengruppen wie etwa die Verbraucherverbände zu beteiligen oder sich von diesen die Formulare gar bereitstellen zu lassen.67 Für die potentielle Beklagtenseite der Unternehmer müssten dann ebenso deren Interessenverbände beteiligt werden. im Zivilprozess, 2020, S. 126 f.; für ein Antragsrecht auf mündliche Verhandlung im beschleunigten Online-Verfahren Voß, VuR 2021, 243 (247 f.). 63 Zur Parallelproblematik im Verfahren nach § 495a ZPO Rottleuthner, NJW 1996, 2473 (2475); zum problematischen Zusammenspiel von Prozessformularen und dem Prinzip der Barrierefreiheit Korves, GVRZ 2018, 7 Rn. 54 ff. 64 K. F. Röhl, Über den Einfluß der elektronischen Medien auf das Recht und das juristische Denken, Vortrag für die Jahrestagung der Vereinigung für Rechtssoziologie in Bonn vom 2.–4. Mai 1996, S. 19 (abrufbar unter https://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/daten/pdf/ Roehl%20-%20Law%20in%20the%20Bytes.pdf – zuletzt abgerufen am 14. 4. 2022). 65 Näher Korves, GVRZ 2018, 7 Rn. 8 mit Fn. 25, sowie Rn. 10, 23, 29; ders., MDR 2019, 397 (397 sub I. mit Fn. 3, sub II., sub III. & sub. IV.). 66 Diskussionspapier, S. 82, 83 f. 67 Diskussionspapier, S. 83 f.; vom schlichten Ankauf von Privatsoftware in Kanada berichtet Voß, RabelsZ 84 (2020), 62 (86), die selbst jedenfalls für die Gestaltung vorprozessualer Eingabemasken die Justizministerien in der Verantwortung sieht, VuR 2021, 243 (245).

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Selbst wenn das bisherige Modell einer Ausgestaltung und Änderung durch Rechtsverordnung wenigstens formal gewahrt bliebe, stellte sich angesichts der berührten Interessengruppen die Frage, ob wie bisher das – früher den Verbraucherschutz umfassende – Bundesjustizministerium allein oder nur in Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsministerium und dem – momentan den Verbraucherschutz umfasenden – Bundesumweltministerium zuständig sein sollte. Selbst wenn die Verbraucherzentralen nicht unmittelbar an der Ausgestaltung des Verfahrens beteiligt werden, könnten diese als Klägervertreter auftreten (§ 79 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 ZPO). Diese Entwicklung würde zusätzlich befeuert, wenn man entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum formularbasierten Mahnverfahren68 wegen der für jedermann einfach zu handhabenden Formulare eine anwaltliche Beratung grundsätzlich nicht für erforderlich halten und daher keine Prozesskostenhilfe gewähren würde.69 Das Online-Verfahren drohte so, sich zu einem Verbandsvertreterprozess zu entwickeln,70 was wiederum die mittelfristig in Aussicht genommene Öffnung für andere Streitgegenstandstypen71 erschwerte.72 3. Die Verbraucher- und Unternehmerrolle als Zulässigkeitsvoraussetzung Der Vorschlag beschränkt den Anwendungsbereich des zu schaffenden OnlineVerfahrens ausdrücklich auf Verbraucher in der Kläger- und Unternehmer in der Beklagtenrolle.73 Nebensächlich erscheint, ob für den Verbraucher an § 13 BGB angeknüpft oder wie in § 29c Abs. 2 ZPO ein teilautonomer Begriff geschaffen wird. Sehr bedenklich ist hingegen der Unternehmerbegriff, den das Diskussionspapier implizit zugrunde legt. So ist die Rede davon, dass neben den Unternehmern auch „weitere Fallgruppen von Beklagten […] z. B. Selbständige, Freiberufler, Sachverständige, ggf. auch natürliche Personen […] durch eine Experimentier-/Länderöffnungsklausel ermittelt werden“ könnten.74 Jedenfalls der Unternehmerbegriff des § 14 BGB schließt nach Wortlaut und Systematik natürliche Personen ebenso ein wie nach allgemeiner Ansicht75 Selbständige und Freiberufler.

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Näher Korves, GVRZ 2018, 7 Rn. 51; ders., MDR 2019, 397 (401 a.E.). Anders das Diskussionspapier, S. 97, allerdings ohne die Prozesskostenhilfe versagende Rechtsprechung zum Mahnverfahren zu problematisieren. 70 Auf diese Gefahr hatte mit Blick auf den Arbeitsgerichtsprozess schon Pawlowski, JZ 1975, 197 (200), hingewiesen; für die Arbeitsgerichtsbarkeit wird der Nutzen eines OnlineVerfahrens bezweifelt vom Stein, NZA 2021, 1057 (1063). 71 Diskussionspapier, S. 82, 97 ff., insb. S. 98. 72 Zur Gefährdung des Prinzips vom „offenen Prozesszweck“ H. Roth, JZ 2016, 1134 (1139). 73 Zu entsprechenden ausländischen Modellen Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (593). 74 Diskussionspapier, S. 85. 75 Statt aller Staudinger/Fritzsche (2018), § 14 Rn. 59; MüKo BGB/Micklitz, 9. Aufl. 2021, § 14 Rn. 21, jew. m.w.N. 69

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Unabhängig von den Begriffen im Einzelnen erscheint es problematisch, die Rolle des Klägers zur Sachurteilsvoraussetzung machen zu wollen.76 Damit würde eine Voraussetzung geschaffen, die es im Regelverfahren nicht gibt und dem Streben nach rascher Streitbeilegung zuwiderliefe.77 Bestreitet der Beklagte die Verbraucherrolle des Klägers, müsste dieser zunächst qualifiziert vortragen und Beweis anbieten. Dies bedeutete eine erste große Hürde für den anwaltlich nicht vertretenen Kläger, zumal mit beschränkten Beweismitteln, und einen ersten Verzögerungsgrund. Die herrschende Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen hilft nicht weiter, denn bei den im Fokus stehenden Streitgegenständen (Flugreiseentschädigungen) mögen typischerweise gerade Verbraucher von einer gerichtlichen Durchsetzung absehen. Es handelt sich aber nicht ausschließlich um Verbraucherstreitigkeiten – so kann etwa auch ein Geschäftsreisender Entschädigungen wegen Flugverspätungen geltend machen78 –, so dass die Verbraucherrolle für das materielle Recht keine Rolle spielt und daher keine doppelrelevante Tatsache ist. Unabhängig davon erschiene es für doppelrelevante Tatsachen jenseits der örtlichen Zuständigkeit zweifelhaft, diese allein auf die klägerische Behauptung hin zu unterstellen, wenn die Ausgestaltung des Verfahrens zu einer signifikanten Einschränkung der Beklagtenrechte führt.79

IV. Alternative – das beschleunigte Online-Verfahren als Probierstein des digitalen Zivilprozesses Angesichts dieser Bedenken erscheint es vielversprechender, ein an den Bedürfnissen der Anwaltschaft ausgerichtetes Online-Verfahren zu schaffen.80 Die praktische Bedeutungslosigkeit des europäischen Bagatellverfahrens wird mit auf die intendierte Ausklammerung der Anwaltschaft zurückgeführt81 und auch sonst erscheint der (erzwungene)82 Parteiprozess im internationalen Vergleich83 nicht 76

Bedenken im Hinblick auf Art. 6 EMRK hegt Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (593). Eine umständliche Zulässigkeitsprüfung befürchtet auch Meller-Hannich, AnwBl 2021, 288 (289). 78 Vgl. Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (im Folgenden EU-Fluggastverordnung). 79 Zum Parallelproblem der Rechtswegprüfung bei einer Klage des behaupteten Arbeitnehmers in der für ihn günstigeren Arbeitsgerichtsbarkeit jüngst BAG AP § 2 ArbGG 1979 Nr. 108 Rn. 13 ff., mit Anm. Windel. 80 Für eine Einbeziehung der Anwaltschaft auch – freilich in eigener Sache – Balke, AnwBl Online 2020, 209 (211); im Hinblick auf das europäische Bagatellverfahren Hau, in: Adolphsen/Goebel/Haas et al. (Hrsg.), FS Gottwald 2014, S. 255 (265). 81 Hau (Fn. 80), S. 255 (264 f.); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 386 mit Fn. 8. 82 Vgl. Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (595 ff.). 77

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zwangsläufig als Garant für small claims procedures. Ein Online-Verfahren, das nicht nur das Gericht, sondern zuvörderst die Anwälte entlastet, könnte zusammen mit einer Reform des Gebührenrechts Anreize schaffen, diese Mandate über die Anwälte für den Zivilprozess (zurück) zu gewinnen. 1. Gestaltung der Eingabemasken Ein an den anwaltlichen Bedürfnissen orientiertes Verfahren erfordert eine gänzlich andere Ausgestaltung der digitalen Formulare. Während der nicht anwaltlich vertretene Naturalkläger in erster Linie zum rechtserheblichen Vortrag angeleitet werden muss, braucht der Anwalt Eingabemasken, die eine möglichst reibungslose Überführung der im Mandantengespräch ermittelten und auf das Rechtserhebliche gefilterten Tatsachen in das gerichtliche Verfahren erlauben. Die anvisierte Anlehnung an die ebenfalls im Diskussionspapier84 angedachte Strukturierung des anwaltlichen Vortrags in einem einheitlichen Basisdokument85 dürfte jedenfalls kaum möglich sein, wenn die Eingabemasken im beschleunigten Online-Verfahren am anwaltlich nicht vertretenen Kläger ausgerichtet werden.86 Die Orientierung an den Bedürfnissen professioneller Prozessgänger hätte zudem den Vorteil, das Verfahren über den beschränkten Bereich bestimmter Verbraucherklagen hinaus wie angedacht87 mittelfristig für andere Bereiche öffnen zu können. Das beschleunigte Online-Verfahren könnte so gewissermaßen als Probierstein für den künftigen digitalen Zivilprozess fungieren.88 2. Reform des Kostenrechts Die momentane Ausgestaltung des Kostenrechts erzeugt für Verfahren mit geringen Streitwerten – nicht nur hierzulande89 – ein grobes Missverhältnis zwischen Kostenrisiko und wirtschaftlichem Interesse.90 Dieses Missverhältnis verkleinert sich zwar, aber löst sich nicht auf, wenn der Verbraucherkläger aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens auf einen Anwalt verzichten kann. Es bleiben die Gerichtsgebüh83

Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (589 f.). Diskussionspapier, S. 81. 85 Dazu Greger, NJW 2019, 3429 (3431 f.) m.w.N.; Heil, IT-Anwendung im Zivilprozess, 2020, S. 88 ff.; ders., ZIP 2021, 502 (504 ff.); sowie die Beiträge in diesem Tagungsband. 86 Ebenfalls für untunlich halten die Nutzung von für den Anwaltsprozess entwickelten Prozessformularen im Parteiprozess Effer-Uhe, GVRZ 2018, 6 Rn. 15; ders., MDR 2019, 69 (71); Zwickel, MDR 2021, 716 (721). 87 Diskussionspapier, S. 82. 88 Gleichgesinnt Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (600) („Bagatellsachen als Experimentierfeld für das allgemeine Verfahrensrecht“); Balke, AnwBl Online 2020, 209 (211); Rühl (Fn. 2), S. 591 (599). 89 Fasching (Fn. 3), S. 343 (352 ff., 365 f., 367 f.); Hau, RabelsZ 81 (2017), 570 (588). 90 Vgl. Wolf, ZZP 128 (2015), 69 (88 ff.). 84

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ren und die Kosten des gegnerischen Anwalts. Ein an den anwaltlichen Interessen ausgerichtetes Online-Verfahren müsste mit einer Reform des anwaltlichen Gebührenrechts einhergehen, um eine ernsthafte Alternative zu den bestehenden LegalTech-Angeboten darzustellen. Ein erster Schritt91 ist die jüngst in Kraft getretene Möglichkeit, dass Anwälte bis zu einem Streitwert von 2.000,– E gerichtliche Erfolgshonorare werden vereinbaren können (§ 4a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RVG n.F.).92 Überschätzen darf man dessen Bedeutung aber nicht. Für den Anwalt dürfte es kaum einen Unterschied machen, ob er für ein „siegessicheres“ Mandat in den fraglichen Bereichen eine Erfolgs- oder eine Regelvergütung vereinbart. Gewährte man dem Anwalt im beschleunigten Online-Verfahren neben der Verfahrens- auch eine Terminsgebühr, obwohl nur schriftlich und mittels Freibeweises verhandelt wird – wie das heute auch im Rahmen des § 495a ZPO gilt93 –, so ergäbe das den üblichen Gebührensatz von 2,5 (zzgl. Auslagenpauschale). Bei einem Streitwert bis 1.000,– E betrüge das Honorar damit 220,– E, bei einem Streitwert bis 2.000,– E betrüge es 395,– E (jew. ohne MwSt.). Vergleicht man das mit der üblichen Inkassoprovision der Legal-Tech-Angebote von 20 bis 30 %, liegt die gesetzliche Anwaltsvergütung in diesem Rahmen. Für den Mandanten hängt die Attraktivität eines Erfolgshonorars auch von der Frage ab, ob und inwieweit dieses im Wege der innerprozessualen Kostenerstattung ausgleichsfähig wäre. Bejaht man die Erstattungsfähigkeit jedenfalls in dem Rahmen, in dem eine Regelvergütung hätte vereinbart werden können,94 bestünde im Obsiegensfalle kaum ein Unterschied: Wird für eine behauptete Forderung von 1.000,– E ein Erfolgshonorar von 25 % vereinbart, so stünden von der erstrittenen Hauptforderung dem Mandanten 750,– E und dem Anwalt 250,– E zu. Könnte der Mandant daneben im Wege der innerprozessualen Kostenerstattung die hypothetische Regelvergütung von 220,– E (ohne MwSt.) verlangen, käme er insgesamt auf einen Prozessertrag von 920,– E. Die Gerichtskosten können als durchlaufender Posten betrachtet werden, weil sie ebenfalls vom Beklagten zu tragen und nach dem Vorschlag des Diskussionspapiers95 vom Kläger nicht vorzuschießen wären.

91 Das Verbot des Erfolgshonorars gerade umgekehrt als eine Gelingensbedingung für small claims sieht Stein/Jonas/Schumann, 20. Aufl. 1979/1984, Einleitung Rn. 535. 92 Gesetz vom 10. 8. 2021, BGBl. I, S. 3415; vgl. BT-Drucks. 19/27673, S. 8, 16 ff., 33 ff.; BT-Drucks. 19/30495, S. 8, 10. 93 Vgl. Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 1 Anl. 1 RVG; anders beim europäischen Bagatellverfahren, vgl. Leipold (Fn. 7), S. 401 (408 f.). 94 So die Ansicht unter der bisherigen Gesetzeslage explizit zum Erfolgshonorar MüKo ZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020, § 91 Rn. 61; Zöller/Herget, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 91 Rn. 13.36; weitergehend Fölsch, MDR 2008, 728 (731); zur übergeordneten Frage der Erstattungsfähigkeit von Vergütungsvereinbarungen Stein/Jonas/Muthorst, 23. Aufl. 2016, § 91 Rn. 125; Hau, JZ 2011, 1047 (1049 ff.); Saenger/Uphoff, NJW 2014, 1412 (1413 ff.), jew. m. umf. Nachweisen. 95 Diskussionspapier, S. 96.

Zum Vorschlag eines beschleunigten Online-Verfahrens

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Im Unterliegensfalle hat der Kläger bei Vereinbarung eines Erfolgshonorars zwar keine eigenen Anwaltskosten zu tragen, aber diejenigen des gegnerischen Anwalts und allfällige Gerichtskosten. Ein den Legal-Tech-Anbietern gleichwertiges Modell könnten Anwälte nur flankierend mit einer Prozessfinanzierung für gerichtliche Verfahren anbieten oder wenn alternativ gänzlich auf innerprozessuale Kostenerstattung96 und Gerichtsgebühren für das beschleunigte Online-Verfahren verzichtet würde. 3. Streitwertgrenze Die nunmehr beschlossene Wertgrenze für Erfolgshonorare (2.000,– E) ist zudem Anlass, die für das beschleunigte Online-Verfahren vorgeschlagene Streitwertgrenze von 5.000,– E97 zu überdenken.98 Diese erscheint zu hoch99 angesichts des erklärten Ziels, jedenfalls vorerst allein für Verbraucherklagen aus Massengeschäften einen erleichterten Gerichtszugang zu schaffen. Die im Diskussionspapier immer wieder genannten Entschädigungsklagen wegen Flugverspätungen dürften in der Regel wesentlich darunter bleiben.100 Die pauschale Entschädigung ist bei 600,– E gedeckelt,101 darüber hinausgehender Schadensersatz dürfte die Gesamtforderung allenfalls in den unteren vierstelligen Bereich treiben. Kein tragfähiges Argument ist der Hinweis auf die Streitwertgrenze des europäischen Bagatellverfahrens.102 Diese betrug anfangs auch lediglich 2.000,– E und ist erst später angehoben103 worden, um das Verfahren für kleine und mittlere Unternehmen attraktiver zu machen.104 Für den hier im Fokus stehenden Verbraucherkläger dürfte eine Streitwertgrenze von 2.000,– E daher ausreichen.105 Unabhängig davon dürfte schon bei kleineren vierstelligen Be-

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So das Hamburger Modell, vgl. Abschlussbericht (Fn. 2), S. 91; Nicolai/Wölber, ZRP 2018, 229 (232 f.); Balke, AnwBl Online 2020, 209 (211). 97 Diskussionspapier, S. 84 f. 98 In die umgekehrte Richtung (Anhebung der Grenze für Erfolgshonorare auf den amtsgerichtlichen Zuständigkeitsstreitwert) Singer, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt, vorgelegt vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 2020, S. 3 f.; Henssler, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt für die Sachverständigenanhörung am 14. April 2021, BT-Drucks. 19/27670, S. 15; vgl. ferner BT-Drucks. 19/30495, S. 10. 99 Für eine noch höhere Grenze Meller-Hannich, AnwBl 2021, 288 (289). 100 Pickel, AnwBl Online 2018, 388 (390). 101 Art. 7 Abs. 1 EU-Fluggastverordnung. 102 Diskussionspapier, S. 84. 103 Dies übersieht Balke, AnwBl Online 2020, 209 (210). 104 Zur Reformdiskussion Hau (Fn. 80), S. 255 (260 f.). 105 So auch das Hamburger Modell, vgl. Abschlussbericht (Fn. 2), S. 80; Nicolai/Wölber, ZRP 2018, 229 (231); Balke, AnwBl Online 2020, 209 (210).

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trägen überhaupt ein „rationales Desinteresse“ kaum noch begründet sein.106 Wer davon absieht, eine behauptete Forderung in Höhe von 5.000,– E gerichtlich geltend zu machen oder auch nur eine anwaltliche Erstberatung in Anspruch zu nehmen, dürfte andere Motive als die damit verbundenen Kosten haben. Erkenntnisfördernd könnte eine justizinterne Erhebung bei den Amtsgerichten sein, wie hoch die Streitwerte von Parteiprozessen ohne Anwalt im Mittel – nicht im Durchschnitt107 – sind. Für eine noch geringere Streitwertgrenze in Höhe von 600,– E spräche der Gleichklang mit den – aufeinander bezogenen – Grenzen der §§ 511 Abs. 2 Nr. 1, 495a ZPO. Ein beschleunigtes Online-Verfahren bis zu dieser Wertgrenze sähe sich jedenfalls kaum grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt. Schon jetzt wird für das Verfahren nach § 495a ZPO grundsätzlich keine mündliche Verhandlung – und damit bis auf die Urteilsverkündung auch keine Öffentlichkeit – verlangt und streitige Tatsachen können nach herrschender Meinung108 faktisch im Wege des Freibeweises erhoben werden. Weil Urteile bis zu dieser Grenze grundsätzlich nicht berufungsfähig sind, gäbe es auch keinen Bruch mit den Beweisgrundsätzen im Instanzenzug.

106 So auch im Hinblick auf das europäische Bagatellverfahren C. Kern, JZ 2012, 389 (393); Leipold (Fn. 7), S. 401 (403). 107 Wie verzerrt ein Durchschnittswert sein kann, zeigt das Ergebnis einer vielzitierten Umfrage, nach der Bürger im Durchschnitt erst ab einem Wert von 1950,– E vor Gericht ziehen würden (Roland RECHTSREPORT 2014, S. 36 f.; abrufbar unter https://www.rolandrechtsschutz.de/media/roland-rechtsschutz/pdf-rr/042-presse-pressemitteilungen/roland-rechts report/roland_rechtsreport_2014.pdf), was stark für eine Wertgrenze in diesem Bereich zu sprechen scheint. Insgesamt 50 % der Befragten gaben jedoch an, bei unterschiedlichen Beträgen unter 2500,– E gerichtlich zu klagen und insgesamt nur 12 % würden dies erst bei höheren Beträgen erwägen; enthalten hatten sich 38 % und außerdem gaben 8 % an, dass sie gar nicht vor Gericht ziehen würden, was in der Summe 108 % (!) ergibt. 108 Statt aller Stein/Jonas/Berger, 23. Aufl. 2015, § 495a Rn. 37 ff.

Was ist Struktur aus prozessrechtlicher Sicht? Von Elmar Streyl1 Strukturfragen sind große Fragen, sie betreffen die Grundlagen unseres Tuns, unseres Organisiertseins. Dem kann ich hier natürlich nicht umfassend nachgehen, ich werde mich vielmehr mit einem kleinen, aber enorm wichtigen Teilausschnitt beschäftigen, nämlich dem Vorschlag der Strukturierung des Prozessstoffs durch kooperative Erarbeitung in einem sog. Basisdokument2.

I. Zeit für Reformen Warum lohnt die Beschäftigung mit dieser Frage und warum lohnt sie gerade jetzt? Die traditionelle Antwort auf die Frage nach dem Ziel eines Zivilprozesses lautet, es solle ein gerechtes Ergebnis erzielt werden. Das greift aber zu kurz. Wichtig ist auch, möglichst effektiv zu dem richtigen Ergebnis zu kommen, also schnell und ressourcenschonend. Für die Parteien hatte Effektivität schon immer einen hohen Wert, wir Juristen (insbesondere die Richterschaft) haben das aber zu oft hintangestellt – auch weil wir in dieser Beziehung nie ausgebildet wurden und das Gesetz dieses Ziel nicht propagiert, sondern eher der Monstranz der Unabhängigkeit opfert. Das Bedürfnis nach Effektivität ist in den vergangenen Jahren jedoch enorm gestiegen: Alles wird schneller, alles wird kostenoptimiert. Der Zivilprozess muss sich dem anpassen, auch durch strukturelle Änderungen. Jedenfalls aber sollte das Gesetz Vorstellungen über eine gute, effektive Führung eines Prozesses äußern. Nicht jedem (Richter oder Anwalt) ist diese Fähigkeit in gleichen Maß gegeben, Hilfestellungen des Gesetzes erscheinen über das in § 139 Abs. 1 S. 3 ZPO bereits Normierte hinaus notwendig. Ein anderer wichtiger, aber damit zusammenhängender Grund für die Beschäftigung mit Strukturfragen ist die Digitalisierung. Sie schreitet mächtig voran und 1 Der Autor war Mitglied der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ der Präsidenten der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs. Der Beitrag ist die leicht geänderte und erweiterte Fassung eines Aufsatzes, den der Autor in NZM 2021, 329 veröffentlicht hat. 2 S. weitergehend zu Strukturierungs- und Abschichtungsfragen im zivilgerichtlichen Verfahren Zwickel, MDR 2021, 716.

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durchdringt alle Lebensbereiche – nur nicht die Rechtsfindung, möchte man meinen. Ganz so ist es allerdings nicht. Jedenfalls in der Justiz ist das Ende der analogen Ära eingeläutet, spätestens 2026 wird die gute alte Papierakte von der elektronischen Akte abgelöst. Aber die elektronische Akte bildet in ihrer jetzigen Form nur die Arbeit mit der Papierakte in mehr oder weniger abgewandelter Form elektronisch ab. Das schöpft die Vorteile der Digitalisierung nicht annähernd aus. Vielmehr müssen alle justiziellen Praktiken aus dem 19. Jahrhundert in das 21. Jahrhundert überführt werden. Die Justiz ist zwar in vieler Beziehung eine Art Monopolist und deswegen nur einem eingeschränkten Modernisierungsdruck ausgesetzt. Aber sie ist auf Akzeptanz angewiesen. Wenn die Rechtsuchenden nicht mehr verstehen, welchen Sinn Verfahrensabläufe haben, weil sie langwierig und aus der Zeit gefallen sind, oder wenn sie nicht mehr verstehen, warum moderne, schnelle Kommunikationsformen nicht eingesetzt werden, dann sinkt die Akzeptanz. Hierauf reagiert der Rechtsuchende, indem er auf die Rechtsverfolgung verzichtet oder sich, soweit vorhanden, Alternativen zuwendet, etwa internetbasierten Rechtsdienstleistern. In dieser Umbruchsituation haben die Präsidenten aller deutschen Oberlandesgerichte eine Arbeitsgruppe von erst- und zweitinstanzlichen Richtern beauftragt, Reformvorschläge zur Modernisierung des Zivilprozesses zu entwickeln. Das Diskussionspapier ist abrufbar auf der Webseite des OLG Nürnberg unter Aktuelles. Ein wesentlicher Vorschlag der Arbeitsgruppe ist die Einführung des strukturierten Parteivortrags. Ich war Mitglied dieser Arbeitsgruppe und möchte dieses wesentliche Element des Diskussionspapiers hier an einem Beispiel erläutern.

II. Das Basisdokument Bei dem strukturierten Parteivortrag in der von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Form handelt sich um etwas völlig Neues im deutschen Zivilprozess, das man sich bei bloß abstrakter Schilderung kaum vorstellen kann, was wiederum instinktive Abwehr auslöst. Meinen Beispielsfall habe ich in ein Muster eingefügt, der demjenigen entspricht, das Grundlage für den Vorschlag der Arbeitsgruppe war. Ich muss aber betonen, dass ich es eigenständig an die gedruckte Form angepasst habe und weder im Auftrag noch im Namen der Arbeitsgruppe handele. Bisher ist die Erarbeitung des entscheidungserheblichen Sachverhalts davon geprägt, aus den Schriftsätzen der Parteien die relevanten Tatsachen herauszufiltern und das Streitige vom Unstreitigen zu trennen. Auch wenn die Anwälte hierbei unschätzbare Vorarbeit leisten, sind erhebliche Nachteile nicht zu verkennen: Es besteht die Gefahr, dass der Richter relevanten Vortrag unbeachtet lässt; diese Gefahr steigt mit der Komplexität des Geschehens, der Zahl der Schriftsätze und der Wiederholungsrate beim Parteivortrag. Hier setzt der Vorschlag der Arbeitsgruppe an. Aus (zeitlich) linear gehaltenem Vortrag wird eine Einheit. Anwälte reichen keine Schriftsätze mehr ein, sondern fül-

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len eine Art Relationstabelle, so dass sich Vortrag und Gegenvortrag unmittelbar gegenüberstehen. Die einzelnen Elemente der Tabelle enthalten – chronologisch geordnet – sinnvoll aufgeteilte Elemente des Sachverhalts. Späterer Vortrag wird nicht irgendwo angefügt, sondern ändernd oder ergänzend, aber historisch nachvollziehbar, in ein solches Element eingetragen. Alle Beteiligten erhalten sofort Nachricht von einer Änderung dieses sog. Basisdokuments, das später als Urteilstatbestand dient. Damit das so sein kann, muss der Richter bei jedem neuen Vortrag die Struktur auf eine sinnvolle Gliederung hin prüfen und ggf. (direkt im Basisdokument) Hinweise geben – wesentlich früher und weitergehender als jetzt, da eine sinnvolle Strukturierung sich an rechtlichen Aspekten ausrichtet.

III. Vorteile und Nachteile Hat das Vorteile? Brauchen wir das? Der ungläubige Thomas war erst im Angesicht der Wunden überzeugt. So mag es auch Manchem mit dem Basisdokument gehen. Der Blick nach unten auf das Beispiel eines Räumungsprozesses macht aber dessen Stärken und die Schwächen des jetzigen Arbeitens sofort deutlich: • Es ist unmittelbar ersichtlich, wo es Gegenvortrag gibt und wo nicht. Das erleichtert dem Richter das Auffinden des Streitigen bzw. Unstreitigen und dem Anwalt das Auffinden von Lücken im eigenen Vortrag. Die Fehlerquote sinkt. • Der Anwalt sieht sofort, ob er zu einem Sachverhaltselement schon vorgetragen hat. Redundanzen werden vermieden. Der Arbeitsaufwand sinkt. • Neuer Vortrag ist sofort als neu ersichtlich (hier durch Kursivschrift). Der oft mühselige Abgleich mit dem bisher Vorgetragenen entfällt. Der Arbeitsaufwand sinkt. • Die Übersichtlichkeit der tatsächlichen Grundlage des Prozesses wird durch die Struktur erheblich gesteigert. Vortrag findet sich nicht irgendwo, sondern an systematisch passender Stelle. Der Gegenvortrag steht unmittelbar daneben. Die Erfassung des Sachverhalts wird erleichtert. • Die Einarbeitung in den Sach- und Streitstand fällt nach einem Anwalts- oder Richterwechsel erheblich leichter. Das führt zu einer Beschleunigung. All diese Vorteile verbessern die Qualität der Rechtsfindung, weil Fehler beim Sachvortrag und bei der Aktenauswertung minimiert werden und weil die Tatbestandserstellung nicht mehr alleinige Aufgabe des Richters, sondern eine gemeinsame Aufgabe der Parteien und des Gerichts ist. Das steigert die Effektivität des rechtlichen Gehörs ungemein. Eigentliche Gewinner des strukturierten Parteivortrags sind damit die Parteien. Aber auch für Anwälte und Gericht wird die Arbeit leichter. Jeder Prozessbeteiligte kann sich das Basisdokument darstellen, wie es am besten zur eigenen Arbeitsweise oder Vorliebe passt. Nach der Vorstellung der Arbeitsgruppe ist es technikoffen, d. h., es kann auf allen möglichen Plattformen dargestellt werden. So ist es vor-

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stellbar, dass das Basisdokument mit all seinem Inhalt (dreispaltig) angezeigt wird oder dass nur der Vortrag einer Partei (einspaltig) zu lesen ist. Außerdem kann man wählen, ob nur der aktuelle Vortrag sichtbar ist oder auch seine historische Entwicklung, also frühere Versionen, wenn er sich geändert hat. Das untenstehende Beispiel sollte schließlich deutlich machen, dass der Anwalt nicht genötigt sein wird, das Notwendige in Kästchen (schon gar nicht in vorgegebene Kästchen) pressen zu müssen, wie mancher befürchtet, anstatt hergebrachte anwaltliche (Schriftsatz-)Kunst auszuüben. Für alles, was der Anwalt bisher zum Akteninhalt gemacht hat, wird es – wie das Beispiel zeigt – einen Platz geben, insbesondere für Vorgeschichte, Hintergründe und Interessen der Parteien, Rechtsausführungen und eine Art zusammenfassendes Plädoyer. Der Anwalt wird sich nur etwas mehr Gedanken zu einer sinnvollen Unterteilung des Tatsächlichen machen müssen. Es ist natürlich nicht zu verkennen, dass der Richter von einem Teil seiner Arbeit, der Sachverhaltserstellung, entlastet wird. Aber einmal wachsen ihm auch neue Aufgaben zu, nämlich an der richtigen Strukturierung durch frühzeitige Hinweise mitzuarbeiten. Zum anderen ist dieser Entlastungseffekt nicht Ziel des Vorschlags, sondern dessen Reflex. Schließlich werden die Anwälte nicht belastet, sie müssen „nur“ anders arbeiten. Dieses andere Arbeiten wird aber auch für sie zu einer zeitlichen Entlastung führen. Die Strukturierung des Parteivortrags durch Erstellung eines Basisdokuments ist eine tiefgreifende Änderung unserer Arbeitsweise. Es wird Umdenken, Übung und Gewöhnung erfordern. Aber es ist keine Verletzung des Beibringungsgrundsatzes oder der Berufsausübungsfreiheit. Und es wird sich lohnen.

IV. Beispielsfall Ein Beispiel findet sich auf den folgenden Seiten.

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Das elektronische Basisdokument als Garant eines effizienten, zukunftsfähigen Zivilprozesses Von Reinhard Greger

I. Die E-Akte als digitale Schimäre Bei den Zivilgerichten dreht sich alles um die Akte. Sie lagert in den Regalfächern der Geschäftsstellen, wird von dort auf den Schreibtisch des Richters und wieder zurück befördert, liegt in der Sitzung auf dem Richtertisch, wird an Anwälte, Sachverständige und Interessierte versandt, wandert mit dem Prozess durch die Instanzen, wächst dabei mitunter zu beträchtlichen Ausmaßen an und landet eines Tages, mehr oder weniger zerfleddert, in riesigen Speichern der Justizgebäude. Manchmal wird sie verzweifelt gesucht oder befindet sich jedenfalls nicht dort, wo sie benötigt wird, und für den, der sich mit Inhalt und Ablauf des Rechtsstreits – sei es als Richter, Rechtsanwalt oder Sachverständiger – vertraut machen muss, stellt ihr in vielen Einzeldokumenten verstreuter Inhalt eine große, zeitraubende Herausforderung dar. Es springt geradezu ins Auge, dass diese Anhäufung zu Papier gebrachter Informationen im Zeitalter der digitalen Informationstechnologie einen Anachronismus erster Klasse bildet, und es muss sehr verwundern, dass die Justiz immer noch mit diesem überkommenen Instrument arbeitet. Immerhin hat der Gesetzgeber bereits im Jahre 2005 geregelt, dass Prozessakten elektronisch geführt werden können,1 erst mit Gesetz vom 5. 7. 2017 hat er aber in § 298a ZPO angeordnet, dass sie ab 1. 1. 2026 in dieser Form zu führen sind.2 Bei einigen Modellgerichten wurde sie zwar bereits eingeführt, aber dass die Justiz damit wirklich in der digitalen Welt angekommen wäre, lässt sich nicht feststellen.3 Digitalisierung erfordert, originär digital zu denken.4 Analoge Abläufe in elektronischer Form zu konservieren, vergibt die Chancen, die die moderne Informationstechnologie bietet, und erschwert oftmals die Arbeit statt sie zu erleichtern.

1

Justizkommunikationsgesetz v. 22. 3. 2005 (BGBl. I, 837). Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs v. 5. 7. 2017 (BGBl. I, 2208). 3 Kritisch auch Ory/Weth/Köbler, jurisPK-ERV Band 1, 1. Auflage, Kapitel 7 Rn. 1. 4 Zu dieser „Übersetzungsleistung“ s. Hofmann, in diesem Band, S. 44. 2

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Die bisherigen Bemühungen der Justizpolitik sind zu stark vom analogen Denken beherrscht.5 Die E-Akte ist als Abbild der Papierakte konzipiert. Wie bisher werden die Schriftsätze der Anwälte – nunmehr in Form von PDF-Dateien – als gesonderte Dokumente abgespeichert. Zwar kann der Richter sie jetzt jederzeit von überall aus abrufen und der Rechtsanwalt oder Sachverständige ohne Anreise oder Postversand in sie Einsicht nehmen – an dem zentralen Problem des ungeordneten Inhalts hat sich jedoch nichts geändert. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Richter die Schriftsätze nicht mehr auf dem Schreibtisch vor sich liegen hat, sondern sich nach und nach auf den Bildschirm holt. Die E-Akte ist in ihrer bisher geplanten Form eine Schimäre, hinter deren digitaler Gestalt sich ein analoges Wesen verbirgt.

II. Digitalisierung – zu Ende gedacht Erst in allerletzter Zeit breitet sich die Erkenntnis aus, dass die Vorteile der Digitalisierung bei Weitem nicht ausgeschöpft werden, wenn man lediglich Schriftstücke durch Dateien ersetzt, die auf die Schriftform abgestellten Verfahrensabläufe aber unverändert lässt. Im Zeitalter der Papierakte war es unumgänglich, dass die Parteien ihr Vorbringen sukzessive in gesonderten Schriftsätzen übermittelten, die dann nacheinander abgeheftet wurden. Die heutige Informationstechnologie bietet hingegen die Möglichkeit, kollaborativ an einem einheitlichen Dokument zu arbeiten.6 Das Zusammentragen der Tatsachengrundlage des Rechtsstreits in einem solchen „gemeinsamen Verfahrensdokument“ oder „Basisdokument“ hätte folgende Vorteile: Richter und Parteivertreter gewönnen ein Bild des zu beurteilenden Sachverhalts, welches nicht wie ein Puzzle aus in mehreren Dokumenten verstreuten, teils widersprüchlichen, oft redundanten Informationen zusammengesetzt werden muss, sondern den Streitstand auf einen Blick wiedergibt. Es wäre auf einen Blick zu erkennen, welche Anträge aktuell gestellt, auf welche Behauptungen diese gestützt und welche Einwände dagegen erhoben werden. Die materielle Prozessleitung (§ 139 ZPO) würde effizienter, weil der Richter unmittelbar darauf hinwirken könnte, dass der Sachvortrag auf das Entscheidungsrelevante konzentriert wird, Lücken des Sachvortrags geschlossen werden, der Prozessstoff strukturiert und abgeschichtet wird. 5 Ebenso Rühl, JZ 2020, 809 (810). Kritisch zum bloßen Austausch der technischen Formen auch Haft, in: Geimer/Schütze/Garber (Hrsg.), FS Simotta 2012, S. 197 (201); Effer-Uhe, GVRZ 2018, 6; Kodek, ZZP 115 (2002), 445 (456); Socha, ZRP 2015, 91 f. 6 S. dazu schon Haft, in: Geimer/Schütze/Garber (Hrsg.), FS Simotta 2012, S. 197 (202: „One-Text-Approach“); Köbler, DVBl. 2016, 1506; eingeh. Zwickel, in: Buschmann/Gläß/ Gonska et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018, S. 179 (194 f.); ders., MDR 2021, 716 (720).

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Weil das Hin- und Herschicken der Schriftsätze entfiele, ließe sich die Prozessdauer erheblich verkürzen. Bei der gemeinsamen Arbeit am Sachverhalt können Missverständnisse aufgeklärt, im Konflikt verdeckte Gemeinsamkeiten erkannt und Kooperationsgewinne erzeugt werden. Der Richter könnte Hinweise auf seine rechtliche Würdigung sowie Vorschläge zur gütlichen Einigung (§ 278 Abs. 6 ZPO) unmittelbar in das Basisdokument eingeben und damit verhindern, dass die Parteien sich in Nebensächlichkeiten verlieren, aneinander vorbei schreiben oder Wesentliches übersehen. Es würde eine Art digitales Vorverfahren entstehen, auf dessen Grundlage in einer Verfahrenskonferenz (die ebenfalls per Telekommunikation geführt werden kann), geklärt wird, welche Beweise zu erheben sind, ob sich stattdessen eine Verhandlung vor dem Güterichter oder ein außergerichtliches Verfahren zur Konfliktbeilegung empfiehlt, ob ein richterlicher Vergleichsvorschlag unterbreitet werden soll, ob mündlich verhandelt oder gem. § 128 Abs. 2 ZPO schriftlich entschieden werden soll, ob eine vorgezogene Beweisaufnahme (§ 358a ZPO) sachgerecht ist u.v.m. In diese Vorklärung könnten bei Bedarf Sachverständige in beratender Funktion (§ 144 ZPO n.F.) einbezogen werden, die sich anhand des Basisdokuments ebenfalls sehr schnell ein Bild vom streitigen Sachverhalt machen könnten. Die problematische Zurückweisung verspäteten Vorbringens (§ 296 ZPO) entfiele, weil der Prozessstoff nicht mehr konsekutiv, sondern kooperativ beigebracht wird. Die Gefahr, dass Parteibehauptungen oder Beweisangeboten übersehen werden oder dass Vortrag wegen mangelnder Substantiierung unbeachtet bleibt, wird minimiert. Für das Berufungsgericht wäre auf einen Blick erkennbar, ob es sich bei Vortrag in der zweiten Instanz um neues Vorbringen i.S.v. § 531 Abs. 2 ZPO handelt. Das Basisdokument würde die Erstellung des Urteilstatbestands erleichtern, weil hierfür nicht nochmals der gesamte, u. U. in vielen Schriftsätzen verstreute, oftmals redundante, mit tatsächlichen und rechtlichen Würdigungen vermengte Parteivortrag gesichtet, gefiltert und wiedergegeben werden müsste.

III. Die Form des Basisdokuments Die justizinterne Arbeitsgruppe „Digitalisierung des Zivilprozesses“ hat erfreulicherweise die Idee des Basisdokuments übernommen, ist dabei aber, wiederum analogem Denken verhaftet, auf halbem Wege stehen geblieben. Ihren Vorstellungen nach soll das Basisdokument aus einer Tabelle bestehen, in deren Spalten die Rechts-

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anwälte ihren Vortrag einander gegenüberstellen; das Gericht soll in einer dritten Spalte Hinweise zur materiellen Prozessleitung geben können.7 Es fehlt bei diesem Konzept das kollaborative Element. Im Grunde bildet dieses Modell nur die sog. Relationstabelle ab, in der der Richter für den eigenen Gebrauch den beiderseitigen Vortrag zusammenstellt, sei es auf einem handgeschriebenen Arbeitsblatt oder auf seinem PC. Die Tabelle wird nach dem Vorschlag der Arbeitsgruppe zwar von den Anwälten erstellt und sie ist, anders als das interne Arbeitsblatt des Richters, für die Beteiligten einsehbar und ergänzbar; ungenutzt bleibt aber der große Vorteil der digitalen Technik, dass mehrere Beteiligte (nachverfolgbar) an einem einheitlichen Text arbeiten können – mit den vorstehend angeführten Vorteilen für den Ablauf des Prozesses.

IV. Einwände und Bedenken Von Anwaltsseite wird eingewandt, durch die Arbeit an einem Basisdokument werde den Parteivertretern die Möglichkeit genommen, durch die Art und Weise ihres schriftlichen Vortrags auf einen für ihre Mandanten günstigen Prozessverlauf hinzuwirken. Der Anwalt müsse die Möglichkeit haben, nicht nur Schablonen auszufüllen, sondern mit Leserführung, Einstimmung, harten Fakten, Dramaturgie arbeiten können; darin bestehe seine Kunst.8 Die Arbeit am Basisdokument werde zwangsläufig zu Zwischenstreitigkeiten über Struktur, Relevanz, Würdigung vorläufigen Vortrags und Schwerpunktsetzung führen; Richter würden sich infolge ihres Einflusses auf den Sachvortrag Befangenheitsanträgen aussetzen, formale Angriffsflächen für Rechtsmittel würden zunehmen.9 Die Erfassung des Prozessstoffs sei originäre Aufgabe der Gerichte, die sie mithilfe der §§ 139, 273 ZPO zu erfüllen hätten, statt sie auf die Anwaltschaft abzuwälzen; Anwältinnen und Anwälte seien keine Hilfsorgane der Justiz.10 Der Zivilprozess sei auch nicht dazu da, nach Art einer „mediativen Selbstfindungsgruppe“ gemeinsame Konfliktlösungen herbeizuführen, sondern er werde geprägt vom Streit, über den die Parteien eine rechtliche Klärung erheischen.11 In praktischer Hinsicht werden Bedenken geäußert, ob sich die Trennung von Sach- und Rechtsvortrag in einem Basisdokument überschneidungsfrei umsetzen lässt.12 7

Ausführlich Streyl, NZM 2021, 329 ff., sowie in diesem Band S. 133 ff. So Römermann, AnwBl 2021, 285. 9 Römermann, a.a.O. 10 Römermann, a.a.O. 11 Römermann, a.a.O. In diese Richtung auch Brügmann, in diesem Band S. 150. 12 Heil, ZIP 2021, 502 (505). 8

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V. Stellungnahme Dass unstrukturierte Schriftsatzrunden ein Grundübel des Zivilprozesses darstellen und alle Beteiligten, Richter wie Anwälte, erheblich belasten, dürfte unstreitig sein. Dass Richter ihm stärker als bisher weithin üblich auch mit analogen Mitteln (Hinweise nach § 139 ZPO, vorbereitende Anordnungen nach § 273 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) begegnen könnten, trifft zu, ist aber legislatorisch kaum beeinflussbar. Wenn es nunmehr technische Möglichkeiten gibt, die Ursache des Übels, das durch die Papiergebundenheit vorgegebene konsekutive Parteivorbringen, durch ein effizienteres Verfahren auszuräumen, sollten diese nicht ungenutzt bleiben. Die verständlichen Vorbehalte gegen ein so grundlegend in gewohnte Verfahrensabläufe eingreifendes Prozessmodell lassen sich bei dessen umsichtiger Ausgestaltung leicht ausräumen. Das vorgeschlagene Basisdokument soll die Arbeit des Rechtsanwalts mitnichten darauf beschränken, dem Richter die Fertigung des Urteilstatbestands (oder auch nur einer Relationstabelle) abzunehmen. Selbstverständlich soll der Anwalt wie bisher die Möglichkeit haben, dem Gericht und dem Gegner (last but not least auch dem eigenen Mandanten) in einem, gerne auch kunstvoll gestalteten, Argumentationspapier die Berechtigung des vertretenen Rechtsstandpunkts nahezubringen. Das Basisdokument soll den herkömmlichen Schriftsatz nicht ersetzen, sondern tritt neben ihn als von Richter und Anwälten gemeinsam zu erstellende Arbeitsgrundlage für den Rechtsstreit. Das Nebeneinander dieser Kommunikationsebenen wird dadurch verdeutlicht, dass die Schriftsätze sogleich Bestandteil der E-Akte werden, das Basisdokument außerhalb derselben erarbeitet und erst nach Abschluss des Vorverfahrens in sie aufgenommen wird. Richtig ist, dass der Richter dann, wenn in einem komplexen Rechtsstreit ein Endurteil abzufassen ist, von der oft mühsamen Abfassung des Tatbestands entlastet wird. Dafür arbeitet er aber intensiver an der Konzentration und Strukturierung des Parteivorbringens mit. Seine Arbeitskraft wird damit wesentlich sinnvoller und effizienter eingesetzt, die Verfahren können schneller und mit besserer Aussicht auf eine vollständige Berücksichtigung des Vorbringens abgewickelt werden. Dies liegt nicht zuletzt auch im Interesse des Anwalts und der von ihm vertretenen Partei. Wesentlich besser als beim Hin- und Herschreiben unstrukturierter Schriftsätze, in denen prozessual Relevantes nicht selten mit Begleitprosa unterschiedlichster Art und Güte vermengt wird, kann der Kern des Rechtsstreits herausgearbeitet und ein vollständiger Sachvortrag sichergestellt werden. Auch die Arbeit des Anwalts wird effizienter. Das Modell des gemeinsamen Verfahrensdokuments ändert nichts daran, dass es dem Parteivertreter unbenommen bleibt, was er vorträgt – selbstverständlich auch hier im Rahmen von Darlegungslast und Wahrheitspflicht. Der Verhandlungsgrundsatz bleibt unberührt.

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Die Mitwirkung des Richters geht nicht über das hinaus, was jetzt schon § 139 ZPO gebietet; die Gefahr von Verfahrensfehlern ist nicht größer als dort – im Gegenteil, es entfallen die häufigen Urteilsaufhebungen wegen unterlassener Hinweise oder unbeachteter Beweisangebote. Dass die gemeinsame Arbeit am Basisdokument dem Wesen des Zivilprozesses als kontradiktorischem Verfahren zur Durchsetzung des Rechts widersprechen soll, ist eine recht rückwärtsgewandte Betrachtungsweise. Mag die Civilprozessordnung von 1877 auch noch von der Vorstellung vom Kampf ums Recht geprägt worden sein,13 so ist diese Sichtweise durch die Reformen der letzten Jahrzehnte doch längst überwunden worden. Primäre Aufgabe des Richters ist heute die gütliche Beilegung des Rechtsstreits (s. § 278 ZPO), und die Realität entspricht dem auch, denn es werden wesentlich mehr Prozesse durch Vergleich oder auf andere unstreitige Weise erledigt als durch Urteil. Wenn das Basisdokument somit den Nebeneffekt hat, dass durch Aufklärung von Missverständnissen, Entdecken von Gemeinsamkeiten und realistischeres Einschätzen von Prozesschancen gütliche Lösungen in einem frühen Prozessstadium erleichtert werden, ist dies in keiner Weise rechtsstaatswidrig, sondern genau das, was eine moderne Zivilrechtspflege auszeichnet.14 Mit dem Basisdokument würde die aus dem 19. Jahrhundert stammende Zivilprozessordnung somit nicht nur für das digitale Zeitalter, sondern auch für eine zeitgemäße Prozesskultur fit gemacht.

VI. Weiteres Vorgehen Der Gedanke des Basisdokuments sollte daher auf jeden Fall weiterverfolgt werden. Wie er technisch umzusetzen ist, wird noch zu diskutieren sein. Ein gemeinsam zu bearbeitendes Dokument verdiente jedenfalls den Vorzug vor einer tabellarischen Zusammenstellung. Ob hierfür ein Word-Dokument (mit Speicherung der Bearbeitungsschritte in einer Metadatei) der Weisheit letzter Schluss ist,15 wird letztlich von IT-Experten zu beurteilen sein. Man könnte auch daran denken, jedenfalls in einem ersten Schritt für bestimmte, standardisierungsfreundliche Prozessarten Eingabeformulare zu entwickeln, die die dort einzugebenden Angaben der Parteien in einem

13 Grundlegend Jhering, Der Kampf ums Recht, 1872 (Nachdruck 2017); dazu Greger, JZ 1997, 1077. 14 S. auch BVerfG NJW-RR 2007, 1073 sowie die Begründung des ZPO-Reformgesetzes, BT-Drucks. 14/4722, S. 62. 15 Weitergehende Vorschläge bei Heil, IT-Anwendung im Zivilprozess, 2020, S. 88 ff., und ZIP 2021, 502 (506); auf möglichen Einsatz künstlicher Intelligenz weisen Müller/Gomm, jM 2021, 266 f. hin.

Das elektronische Basisdokument

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automatisierten Verfahren zusammenführen.16 Mit § 130c ZPO bestünde für solche Formulare sogar schon eine Rechtsgrundlage.17 Ohnehin müsste der Zivilprozess nicht zur Gänze auf das Konzept des Basisdokuments umgestellt werden; es könnte vielmehr dem Gericht überlassen bleiben, ob es nach Vorliegen von Klage und Klageerwiderung, je nach Bedeutung und Komplexität der Sache, auch nach Gegebenheiten der Parteien, die Erstellung eines solchen gemeinsamen Verfahrensdokuments für zielführend erachtet. Jedenfalls sollte der Vorschlag mit den beteiligten Kreisen, insbesondere der Anwaltschaft, und unter Hinzuziehung technischen Sachverstands weiter erörtert und eine Erprobung ermöglicht werden. Die in Gang gekommene Digitalisierung der Justiz bietet eine geradezu historische Chance, dem Ziel eines effizienteren, zukunftsfähigen Zivilprozesses näher zu kommen.

16

Zwickel, in: Buschmann/Gläß/Gonska et al. (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht 2018, S. 179 (202 ff.); ders., MDR 2021, 716 (721 ff.); EfferUhe, MDR 2019, 69. 17 Müller/Gomm, jM 2021, 266.

Strukturierung von Texten im Gerichtsverfahren – Effizienzgewinn im Einzelfall und Erschließung der überindividuellen Bedeutung von Informationen aus einzelnen Verfahren Von Cord Brügmann1 In der Diskussion um die Digitalisierung der Ziviljustiz stehen zu häufig die eigenen Bedürfnisse von Gerichten und Anwaltschaft im Vordergrund. Diese interessengeleitete Binnenperspektive kann zwar ein wichtiger Baustein für die Modernisierung sein, weil niemand den Zivilprozess so gut kennt wie die Akteur:innen der Rechtspflege; bei allen Reformüberlegungen sollte aber im Mittelpunkt die Frage stehen, wie für Individuen und Unternehmen der Zugang zum Recht verbessert werden kann. Das gilt besonders in einem Umfeld, in dem das gemessene Vertrauen der Bevölkerung in Justiz und Rechtsstaat zurückgeht.

I. Einleitung Die Debatte über die Modernisierung des Zivilprozesses der vergangenen Monate zeigt, dass das Papier der Arbeitsgruppe2 ein wertvoller Anstoß für eine überfällige Diskussion ist. Diese Diskussion sollte nicht nur aus dem Blickwinkel der Akteurinnen und Akteure in der Rechtspflege geführt werden; leuchtende Beispiele aus dem Ausland wie das British Columbia Civil Resolution Tribunal3, aber auch der Erfolg von digitalen Rechtsdurchsetzungstools4, zeigen, dass die Bedürfnisse des rechtsuchenden Publikums sich ändern und dass es sinnvoll ist, dies zu berücksichtigen, um eine technische Debatte um Digitalisierung zu einer rechtspolitischen um besseren Zugang zum Recht zu machen. Die folgenden 7 Thesen sollen einen Impuls für die Erweiterung der Perspektive geben. 1

Überarbeitete und um Nachweise ergänzte Fassung eines kurzen Eingangsstatements in der Expertendiskussion zum Panel 3. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. 2 Diskussionspaper „Modernisierung des Zivilprozesses”, zuletzt abgerufen am 27. September 2021. URL: https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/ober landesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf. 3 https://civilresolutionbc.ca; vgl. dazu Albrecht, „Modernisierung des Zivilprozesses“ – nicht an den Bürger:innen vorbei, ZPO-Blog, zuletzt abgerufen am 25. September 2021. URL: https://www.zpoblog.de/zivilrichtertag-modernisierung-des-zivilprozesses-julian-albrecht/. 4 Z. B. www.flightright.de; www.wenigermiete.de; www.helpcheck.de.

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Cord Brügmann

II. Sieben Thesen 1. Zugang zum Recht ist mehr als Zugang zur Justiz Der Zugang zum Recht wird bildlich häufig als Tor oder Tür dargestellt, mit einer mehr oder weniger hohen Schwelle. Richtigerweise allerdings ist der Zugang zum Recht ein Weg. Auf der Landkarte des Zugangs zum Recht findet sich die Justiz an zentraler Stelle. Sie steht nicht selten kurz vor dem Ende des Weges. Das Recht ist allerdings auch ohne Justiz erreichbar: In vielen Fällen genügt es schon, wenn Informationen bereitgestellt werden, auf die Rechtsuchende zugreifen können; dann kann Selbsthilfe möglich sein; wenn die nicht ausreicht, hilft Beratung und ggf. außergerichtliche Vertretung. Das allgemeine Verständnis vom Zugang zum Recht ist häufig verengt auf ein Bild vom Zugang zur Justiz. Dass das zu kurz greift, zeigt schon die Diskussion in dieser Tagung über das Justiz-Portal5, das eigentlich kein Portal der rechtsprechenden Gewalt sein kann, sondern sinnvollerweise viel früher ansetzt, nämlich dort, wo Bürgerinnen und Bürger einen Lotsen für ihr Rechtsproblem suchen. Zugang zum Recht ist im deutschen Recht nicht legaldefiniert. Europa- und völkerrechtliche (Legal-)Definitionen6 sind ebenfalls nicht ohne Einschränkung brauchbar und zeigen darüber hinaus, dass das Verständnis zwischen Zugang zur Kern-Justiz, einer umfassenderen Vorstellung von Rechtspflege und – am anderen Ende der Skala – einem sozialwissenschaftlich geprägten Begriff vom Zugang zu sozialer Gerechtigkeit nur mühevoll klare Schnittmengen erkennen lässt. Eine umfassende Definition des Zugangs zum Recht, die der Diskussion sinnvolle Konturen geben könnte, würde wohl die folgenden Merkmale enthalten: Zugang zum Recht bedeutet, (1) Rechte zu haben, (2) seine/ihre Rechte zu kennen und (3) fähig zu sein, diese Rechte wirksam zu verfolgen (4) im System der Rechtspflege. 2. Ein Rechtsstreit lebt vom Streit Zurück zur Durchsetzung von Ansprüchen innerhalb der Justiz: Die Idee der kooperativen Erarbeitung des Prozessstoffs im Anwaltsprozess, wie sie das Papier der Arbeitsgruppe leitet, ist eine romantische Vorstellung: schön, aber systemisch falsch, jedenfalls als Standard. Sie mag in vielen Fällen funktionieren. Aber genauso, wie am Ende eines Rechtsstreits häufig eine autoritative Entscheidung steht, lebt auch ein Rechtsstreit, der in Rechtsfrieden endet, erst einmal vom Streit. Und zum Streit gehört nicht nur der Kampf ums Recht, sondern auch die Auseinandersetzung um den Sachverhalt. 5

Panel 1: Justiz-/Bürgerportal als Strukturierung der Wege zum Recht? Art. 47 EU-GRC; Art. 13 UN-BRK; United Nations Development Programme, Programming for Justice: Access for All: A Practitioner’s Guide to a Human Rights-Based approach to Access to Justice, 2005, S. 5. 6

Strukturierung von Texten im Gerichtsverfahren

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3. Streiten ist gut Streit – nach Spielregeln wie denen der ZPO – ist nicht nur nötig. Streiten ist auch etwas Positives.7 In einer Gesellschaft, die zunehmend verunsichert ist, wie man gute Auseinandersetzungen führt, die sich scheinbar polarisiert, in Wirklichkeit aber nur gut zu streiten verlernt hat und damit langsam, aber sicher, Streitkultur verliert, ist die dritte Gewalt auch dazu da zu zeigen: Man erhält gute Ergebnisse, wenn man Raum für Streit hat. 4. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind nur den Interessen ihrer Mandant:innen verpflichtet; es ist Teil ihrer Rolle in der Rechtspflege, zu stören So bedeutsam es ist, dass Zivilgerichte während des gesamten Verfahrens Möglichkeiten für eine gütliche Einigung prüfen,8 darf das nicht dazu führen, dass im Prozess gemeinsam Konsenssauce über einen notwendigen Streit ausgegossen wird. Denn das bringt häufig keine nachhaltige Befriedung. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt: „Als unabhängige Organe der Rechtspflege und als berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden haben Anwälte die Aufgabe, sachgerechte Konfliktlösungen herbeizuführen, vor Gericht zugunsten ihrer Mandanten den Kampf um das Recht zu führen und dabei zugleich staatliche Stellen möglichst vor Fehlentscheidungen zu Lasten ihrer Mandanten zu bewahren (vgl. BVerfGE 76, 171 )9. Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus.“10

Das ist die Rolle von Rechtsanwält:innen in der Rechtspflege. Auch wenn es manchmal stört.11 5. Wichtiger als die Strukturierung anwaltlichen Vorbringens ist für die Rechtspflege die Strukturierung von Gerichtsentscheidungen Zunächst: Bei aller Skepsis gegenüber einem Zwang zur kooperativen Erarbeitung des Prozessstoffs im Anwaltsprozess: Die Digitalisierung wird Möglichkeiten der Strukturierung des Prozessstoffs schaffen. Das ist auch richtig so, denn die Struk7

Römermann, Die Anwaltschaft ist kein Hilfsorgan der Justiz, AnwBl 2021, 285. § 278 ZPO. 9 BVerfG v. 14. Juli 1987 (Az 1 BvR 537/81) (Standesrichtlinien) Rn. 55. 10 Sozietätswechslerentscheidung des BVerfG, BVerfGE 108, 150, Rn. 44. 11 Es mag hilfreich sein, diese Sätze des BVerfG einmal einzuordnen: Sie stammen aus der Feder von Renate Jaeger, einer Juristin, die Richterin am Bundessozialgericht war, Bundesverfassungsrichterin, EGMR-Richterin und die die Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft bei der BRAK aufgebaut hat. Das ist ein beruflicher Lebenslauf, der nicht für den Streit um des Streitens willen steht. 8

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turierung ist eine taugliche Voraussetzung dafür, Verfahren effizienter zu machen – und um die überindividuelle Bedeutung der Informationen aus einzelnen Verfahren überhaupt erst (digital) erschließen zu können. Es ist aber fraglich, ob die Strukturierung anwaltlichen Vorbringens der sinnvolle Ansatzpunkt ist, denn es ist wohl richtig, dass die kooperative Erarbeitung des Streitstoffs den Parteien wenig bringt.12 Im Prozess könnte man größere Effizienzgewinne erreichen, wenn die Justiz Möglichkeiten für Strukturierung außerhalb von Anwaltsprozessen schafft. Und das größte Potential der digitalen Aufbereitung dürfte wohl bei Gerichtsentscheidungen zu finden sein. Daher: Fangen wir mit nicht beim Basisdokument alleine an, sondern nehmen wir vorrangig die gerichtliche Entscheidung in den Blick. Ein Ziel der digitalen Transformation des Zivilverfahrens muss sein: Die Entscheidungen, die jeden Tag an deutschen Gerichten ergehen, werden digital erfasst und anonymisiert ausgewertet. Das wird Rechtsprechung transparenter machen, es wird erlauben, Entwicklungen und geographische Besonderheiten zu erkennen und zu verstehen, irrationale Unterschiede der Rechtsprechung nivellieren und Prozesse beschleunigen. Und in dem Maße, in dem Gerichte berechenbarer werden, können Anwältinnen und Anwälte helfen, Verfahren effizienter zu machen – sowohl in ihrer Funktion als Organe der Rechtspflege als auch konkret im Interesse ihrer Mandantinnen und Mandanten. 6. Das Basisdokument sollte nicht primär der kooperativen Erarbeitung des Prozessstoffs dienen, sondern helfen, das Streiten zu digitalisieren Wenden wir uns noch einmal dem eigentlichen Ziel der Reformen zu: Rechtspolitisches Ziel aller anstehenden Zivilprozessreformen muss es sein, die Ziviljustiz als Endpunkt der Streitlösungsmechanismen, für die der Staat Rahmenbedingungen schafft, attraktiver zu machen, damit Individuen und Unternehmen die Justiz gerne nutzen, um ihre Rechte wirksam zu verfolgen. Gerade angesichts des Rückgangs der Eingangszahlen um mittlerweile ca. 40 % in den letzten 15 Jahren ist es bedeutsam, dieses Ziel engagiert zu verfolgen. Wir sehen, dass der Rückgang nicht nur Streitigkeiten um geringfügige Werte betrifft, sondern auch die Rechtsstreite von kleinen und mittleren Unternehmen13. Die Digitalisierung (insbesondere digitale Kommunikation, Prozessautomatisierung und Algorithmus-unterstützte Analyse) kann Effizienz auch in komplexen Verfahren verbessern helfen. Neben der begrüßenswerten Idee der kooperativen Erarbeitung des Prozessstoffs werden in der Diskussion möglicherweise noch zielführendere Alternativen aufscheinen, die helfen können, den manchmal nötigen Streit zu digitalisieren.

12

So auch der Initiator dieser Tagung Zwickel kürzlich in der MDR 2021, 716. Wernicke/Mehmel, Privatisierung des Rechts als Folge der Digitalisierung der Wirtschaft, ZEuP 2020, 1. 13

Strukturierung von Texten im Gerichtsverfahren

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7. Die Reform des Zivilprozesses darf nicht alleine aus der Perspektive der Rechtspflege-Akteur:innen geführt werden Der Vorschlag der Arbeitsgruppe hat die Diskussion um die Modernisierung des Zivilverfahrens vorangetrieben, die ohne das Arbeitsgruppenpapier womöglich nicht über eine Debatte über das Für und Wider von § 128a ZPO hinausgegangen wäre. Es wäre wünschenswert, dass auch die weiteren wichtigen Akteurinnen und Akteure der Rechtspflege, insbesondere die Anwaltschaft, ein ähnlich umfassendes und zukunftsgewandtes Konzept vorlegen. Verständlicherweise können alle diese Papiere aber nicht mehr sein als interessengeleitete Forderungen aus der Binnenperspektive der jeweiligen Berufsgruppen. Es ist auch richtig, Vorschläge zu erarbeiten, die uns – die Akteurinnen und Akteure der Rechtspflege – die Arbeit erleichtern oder angenehmer machen können. Das darf aber nicht Selbstzweck sein.

III. Fazit Die Diskussion, die von den Interessen des rechtsuchenden Publikums ausgehen muss, kann nur geleitet werden von einer Moderatorin außerhalb der Rechtspflege. Und sie muss politisch geführt werden: mit politischen Zielen, die sich nicht in der Beschreibung eines Wegs erschöpfen dürfen, sondern die messbar und damit nachprüfbar sind. Es ist zu wünschen, dass eine neue Justizministerin, ein neuer Justizminister nach den Bundestagswahlen im September 2021 diese Aufgabe beherzt in Angriff nimmt.

Wann ist ein juristischer Text strukturiert? Antworten aus der Sicht der Informatik, insbesondere der Künstlichen Intelligenz Von Michael Kohlhase Zusammenfassung In der Diskussion zur Digitalisierung von Zivilprozessen wird oft das Konzept „strukturierter Dokumente“ als Lösung gehandelt. Hier gehen wir der Frage nach, wann aus der Sicht der Informatik und insbesondere der Künstlichen Intelligenz ein Dokument als „strukturiert“ angesehen werden sollte. Wir interpretieren strukturierte Dokumente als digitalisierte Dokumente in denen das darin enthaltene, sonst implizite Wissen durch Formalisierung explizit und dadurch maschinell verarbeitbar gemacht wurde und untersuchen den Zusammenhang zwischen Formalisierungsgrad und Ertrag der auf die Formalisierung/Strukturierung basierten Mehrwertdienste.

I. Einleitung Der Großteil der juristischen Arbeits- und Kommunikationsprozesse im Zivilprozess wird über spezielle Dokumente vollzogen: z. B. in Klageschrift, Klageerwiderung, Replik und Duplik. Daher wird die Digitalisierung des Zivilprozesses wohl vor allem über die Digitalisierung von Dokumenten aller Arten geschehen. Die Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“, die in diesem Band dokumentiert wird, wurde durch das Diskussionspapier „Modernisierung des Zivilprozesses“1 im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs motiviert. Dieses Papier untersucht wie durch eine Digitalisierung der Dokumente und Kommunikationsprozesse Zivilprozesse bürgerfreundlicher, effizienter und ressourcenschonender gestaltet werden können. So soll perspektivisch beispielsweise als Grundlage jedes Zivilprozesses ein gemeinsames Basisdokument entstehen, das Kläger- und Beklagtenvortrag zum Lebenssachverhalt

1 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses.“ Modernisierung des Zivilprozesses – Diskussionspapier. Im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs, 2021.

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festhält und durch seine inhaltliche Struktur (Relationentabelle) die Verhandlung abbildet und vereinfacht. Eine Studie des „Nationalen E-Government Kompetenzzentrums“ (NEGZ) geht sogar noch weiter: Rumpe u. a.2 schlägt vor, domänenspezifische Sprachen (DSL) und formale Domänenmodelle zu entwickeln, um Gesetzestexte maschinell umsetzbar zu machen und sie computerunterstützt handhaben, aktualisieren und auf konkrete Sachverhalte anwenden zu können. In vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes wird aus Sicht der juristischen Praxis diskutiert, wie die im Rahmen von Zivilprozessen verwandten Dokumente digitalisiert und strukturiert werden können, so dass sich Digitalisierungsgewinne in deren Nutzung und Verarbeitung gewinnen lassen. Komplementär dazu geht dieses Übersichts- und Positionspapier der Frage nach, wann aus der Sicht der Informatik und insbesondere ihrer Teildisziplin der Künstlichen Intelligenz, also der anderen wichtigen Disziplin in der Digitalisierung von Zivilprozessen, ein Dokument als „strukturiert“ angesehen werden sollte und will so einen Beitrag zur Diskussion in diesem Band liefern. Wir verwenden hier den Begriff „strukturiert“ statt des in der Informatik gebräuchlicheren Begriffs „formal“, da im Arbeitspapier „Modernisierung des Zivilprozesses“ (s. Fn. 1) von strukturierten Prozessen und strukturierten Dokumenten als Grundlage von Digitalisierung und Automatisierung von Zivilprozessen die Rede ist. Im Prinzip ist die Grundantwort auf die Frage im Titel dieses Artikels aus der Sicht der Informatik und KI – als Strukturwissenschaften der Automatisierung von Prozessen – sehr einfach: Antwort: Ein Dokument ist im Sinne der Informatik als formal oder strukturiert anzusehen, wenn die darin enthaltene Information so explizit gemacht wurde, dass sie maschinenverarbeitbar ist, so dass die Verarbeitungsprozesse, die auf dem Inhalt dieses Dokuments aufbauen, maschinell unterstützt oder sogar automatisiert werden können. Der Begriff „formal“ basiert auf der Erkenntnis der klassischen/griechischen Philosophie, dass manchmal die Gültigkeit einer Aussage oder eines Arguments alleine aus seiner Form abgeleitet werden kann. Wir nennen eine solche Aussage oder Argument dann formal; entsprechend bezeichnen wir den Prozess, eine Aussage oder Argument in eine formale Form zu bringen – normalerweise durch Explizierung (also explizit-Machung) impliziter Teile – als Formalisierung. Mit dem Aufkommen elektronischer Rechenmaschinen im 20. Jahrhundert wurde diese Erkenntnis dahingehend erweitert, dass formale Dokumente (also z. B. Programme und Datensätze) zur Automatisierung der Datenverarbeitung eingesetzt werden können. Dies ist die Grundlage der modernen Informatik; die Künstliche Intelligenz erweitert diesen

2 Rumpe u. a., Digitalisierung der Gesetzgebung zur Steigerung der Digitalen Souveränität des Staates. Techn. Ber. 19. Nationales E-Government Kompetenzzentrum.

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Ansatz auf das Rechnen mit Dokumenten-Inhalten, wie z. B. Wissen und Argumente. Die Antwort oben ist einfach eine Ausformulierung der Kombination dieser Ideen. Es soll in diesem Artikel primär um die natürliche Folgefrage gehen: Was bedeutet das für die juristischen Dokumente und Verarbeitungsprozesse? Dabei soll vor allem betrachtet werden, was die Voraussetzungen für eine maschinelle Verarbeitbarkeit von Dokumenten sind, und wie dieses mit der Natur der juristischen Verarbeitungsprozesse wechselwirkt. Insbesondere bemerken wir, dass in der Grundantwort oben der Grad der Explizierung sonst implizit in den Dokumenten enthaltenen Wissens von den intendierten Verarbeitungsprozessen abhängen kann. Auf diesen Zusammenhang wollen wir in diesem Artikel ein besonderes Augenmerk richten. Insbesondere wollen wir in der Diskussion nicht berücksichtigen, wie die Formalisierung juristischer Dokumente selbst automatisiert werden kann, obwohl das eine wichtige praktische Voraussetzung für die Skalierung der beschriebenen Dienste ist. Eine solche Diskussion würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. In Abschnitt II. legen wir die Basis für die Diskussion indem wir zwischen natürlichen und formalen Sprachen unterscheiden. In Abschnitt III. weichen wir diese Unterscheidung auf um zu einem realistischeren Begriff für „strukturierte Dokumente“ zu kommen um dann in Abschnitt IV. den Zusammenhang zwischen Formalisierungs-/Strukturierungsgrad und dem Ertrag von einigen einschlägigen Mehrwertdiensten zu untersuchen. Abschnitt VI. beschließt den Artikel mit einer Einordnung der Diskussion in den Legaltech-Diskurs.

II. Natürliche und Formale Sprachen Eine grundlegende Voraussetzung für die maschinelle Informationsverarbeitung – auch wenn diese Information aus Dokumenten kommt – ist die Verwendung von formalen Sprachen. Während juristische Dokumente in einer Fachsprache – einer Spielart der natürlichen Sprache, die durch Fachbegriffe, spezielle Idiome und Sonderbedeutungen angereichert ist – verfasst sind, müssen Dokumente für die maschinelle Verarbeitung zu Daten werden. Definitionsgemäß besteht eine formale Sprache aus einer Menge erlaubter Zeichenketten (die Syntax der Sprache; z. B. Sätze oder Texte), denen dann systematisch eine Bedeutung zugeordnet werden kann (die Semantik, z. B. in Form von Maschineninstruktionen). Die Informatik verwendet viele Tausende formaler Sprachen für verschiedenste Anwendungen, z. B. Programmiersprachen zur Beschreibung von Berechnungsprozessen, Dokumentenbeschreibungssprachen für die Struktur von Texten, Audio- und Video-Aufnahmen sowie Logiken für die Beschreibung und Automatisierung von wissens- und inferenzbasierten Denkprozessen. Am besten ist der Gegensatz zwischen formalen und natürlichen Sprachen vielleicht an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Die (natürlichsprachliche) An-

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Michael Kohlhase

frage (1) muss zur maschinellen Bearbeitung z. B. in eine Datenbankabfrage der Form (2) gebracht werden: (1) Wann geht der na ¨chste Zug nach Frankfurt? (2) SELECT * FROM Verbindung WHERE Ziel = ,Frankfurt‘ Bei (2) handelt es sich um einen Ausdruck der formalen Sprache SQL, die von einem relationalen Datenbanksystem verarbeitet werden kann. Dieses analysiert die syntaktische Struktur der Anfrage und übersetzt diese in eine Abfolge von Maschinenbefehlen (semantische Analyse), die auf dem Mikrochip eines Computers ausgeführt werden und aus einer Datenbanktabelle Verbindung alle Verbindungen mit Ziel Frankfurt heraussuchen. Ohne eine maschinenverarbeitbare Syntax und Semantik der (formalen) Sprache SQL wäre diese Verarbeitung unmöglich. Wir sehen also im Sinne der Definition oben, die SQL-Anfrage (2) als strukturiertes Dokument an, (1) dagegen aber nicht, da die natürlichsprachliche Anfrage (bisher3) nicht maschinell verarbeitet werden kann. Dieses einfache Beispiel zeigt schon zwei wichtige Unterschiede zwischen natürlichen und formalen Sprachen, die wir in Tabelle 1 zusammenfassen: Natürliche Sprachen haben sich über lange Zeiträume für die Kommunikation zwischen Menschen entwickelt. Sie nutzen zentral die kognitiven Fähigkeiten des Hörers/Lesers/ Sprechers um komplexe Bedeutungen effizient und flexibel zu vermitteln. Tabelle 1 Formale vs. natürliche Sprachen Paradigma

Formale Sprache

Natürliche Sprache

maschinenorientiert

menschenorientiert

Syntax

rigide

flexibel

Bedeutung

wohldefiniert, eindeutig

gebrauchsdefiniert, mehrdeutig

Im Gegensatz dazu sind formale Sprachen wie SQL von Menschen entworfen worden, um mit Computern zu kommunizieren. Der Computer hat (trotz der Bemühungen der Künstlichen Intelligenz in den letzten 70 Jahren) keine höheren kognitiven Fähigkeiten. Daher werden Syntax und Bedeutung (Semantik) formaler Sprachen in (mathematisch exakten) Spezifikationen definiert und dann in informationsverarbeitenden Systemen implementiert. Um die Implementation möglich zu machen müssen sowohl die syntaktische Wohlgeformtheit als auch die intendierte Bedeutung eines Ausdrucks so streng gefasst sein, dass (relativ einfache) Programme sie eindeutig erfassen können. 3 Dem Einwand „Aber meine Alexa versteht (1) doch ohne weiteres, also muss das doch auch formal sein.“ sei hier dadurch begegnet, dass ein einzelner maschinenverarbeitbarer Satz noch keine formale Sprache ausmacht, und dass Sprachassistenten wie Alexa die Bedeutung auch in allen Kontexten errechnen können müssten; in unserem Beispiel muss dafür aber Information über den Ausgangsbahnhof aus dem physischen oder Diskurs-Kontext erschlossen werden. Konsequenterweise werden Sprachassistenten zwar zur Licht-Steuerung in der Wohnung aber nicht zur Steuerung eines Atomkraftwerks eingesetzt.

Wann ist ein juristischer Text strukturiert?

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Für flexible Syntax – „… der Gersch, der wo in der Hauptstraß wohnt …“ – oder Mehrdeutigkeiten – bezieht sich das Wort „Bank“ in „Peter setzte sich auf die Bank“ auf ein Sitzmöbel oder ein Finanzinstitut? – ist in Computersprachen kein Platz. In natürlichen Sprachen wird die natürliche Intelligenz des Hörers/Lesers die intendierte Bedeutung entweder unter Einbeziehung von Kontext oder Weltwissen4 selbst ermitteln oder aber durch Rückfragen klären. Es ist wichtig zu bemerken: obwohl Fachsprachen oft – vor allem in ihren fachsprachlichen Anteilen – im Gebrauch strenger sind als natürliche (Umgangs-)Sprachen, so erben sie doch die Charakteristika der natürlichen Sprachen, auf denen sie basieren. Allerdings gilt die hier beschriebene Dichotomie zwischen natürlichen und formalen Sprachen nicht uneingeschränkt. Hier ist die Digitalisierung ein starker Motor für die Entwicklung von Zwischenkonzepten.

III. Teilstrukturierte Dokumente Der erste wichtige Aspekt ist die Abhängigkeit der Strukturiertheit eines Dokuments von den intendierten Verarbeitungsprozessen. Nicht immer brauchen wir eine vollständig formale Sprache als Grundlage für Mehrwertdienste. Ein gutes Beispiel sind (ausgefüllte) Formulare, wie z. B. das Kontaktformular einer Webseite in Abbildung 1. Hier sind einige Teile formal (die Namensbestandteile und E-Mail-Adresse) und andere (der Nachrichtentext) natürlichsprachlich. Die formalen Teile sind ausreichend für eine Automatisierung der unmittelbar folgenden Arbeitsschritte: Übermittlung der Nachricht und Erstellung der QuittungsE-Mail „Sehr geehrter Herr Michael Kohlhase, …“. Die Beantwortung der natürlichsprachlichen Anfrage selbst geschieht in der Regel durch einen Menschen. Das Kontaktformular aus Abbildung 1 ist also hinsichtlich des Nachrichtentransports durchaus strukturiert – immerhin kann die Nachricht dem Kundenservice zugestellt werden und eine Antwort automatisch adressiert werden – aber nicht hinsichtlich der Beantwortung; dafür müsste die Antwortnachricht automatisch erstellt werden. Zugegeben, die Strukturierung und mögliche Automatisierung sind bei diesem Dokument recht gering. Wir nennen Dokumente, die nur Teile der enthaltenen Information formalisieren, teilstrukturiert und weisen darauf hin, dass die Dokumente in der Digitalisierung von Zivilprozessen idealerweise teilstrukturiert sein werden, da sie von Menschen und Maschinen gleichermaßen verarbeitet werden müssen. 4

Unter Weltwissen verstehen wir das typische Allgemeinwissen der Gesprächsteilnehmer. Im Beispiel oben ergibt sich die Bedeutung „Sitzmöbel“ schon aus der Bedeutung des Verbs „setzen“ im Satz: Wie wir alle wissen kann man sich auf ein Sitzmöbel setzen, nicht aber auf ein Finanzinstitut. Eine metaphorische Verwendung im Sinne eines „Finanzinstituts“ ist zwar denkbar z. B. als „Peter setzt auf die Bank.“ Aber sehr unwahrscheinlich.

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Abbildung 1: Ein Kontaktformular als teilstrukturiertes Dokument

Ein weiteres Beispiel für teilstrukturierte Dokumente ist die wohlbekannte Praktik, in juristisch normativen Dokumenten Paragraphen, Abschnitte und Sätze systematisch zu nummerieren, und diese dann anhand der Nummern zu referenzieren. Diese Praktik ist so systematisch, dass sie von Computerprogrammen interpretiert werden kann. Juristische Dokumente sind daher für die Referenzierung normativer Textfragmente als strukturiert anzusehen. Am anderen Ende der Strukturiertheitsskala liegen die ausgefüllten Steuererklärungsformulare – als Papier oder in ELSTER. Diese sind hinsichtlich der Steuerfestsetzung als strukturiert zu sehen: das Steuerfestsetzungsprogramm der Finanzverwaltung kann 10 % der erklärten Steuerfälle – die sogenannten „Autofälle“ – vollautomatisch bearbeiten. Die restlichen Fälle werden größtenteils nur deswegen an menschliche Experten ausgesteuert, weil die Risikomanagementkomponente falsche Eingaben vermutet. Wir verweisen auf den Artikel von Adrian/Barthel5 in diesem Band. 5 Adrian/Barthel, „Expertensysteme im Bereich der Steuerverwaltung als Beispiel eines strukturierten digitalen Verfahrens – Ein Erfahrungsaustausch zum Nutzen eines künftigen digitalen Justizportals.“

Wann ist ein juristischer Text strukturiert?

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IV. Das Spannungsfeld zwischen Aufwand und Ertrag Die oben genannten Beispiele zeigen bereits, dass die Strukturierung von Dokumenten und die Formalisierung von Wissen zusätzlichen Aufwand bedeuten. Eine Investition, die sich durch die dadurch ermöglichten Mehrwertdienste allerdings wieder amortisieren kann. Insgesamt wird sich die Formalisierung nur dann durchsetzen, wenn der (erwartete) Nutzen größer ist als die Kosten. Abbildung 2 zeigt die „Gewinnschwelle“6 für einige bekannte Technologien der Informatik.

Ge w

in

ns

ch w el

le

Ertrag

Web 2.0

Formale Methoden

Strukturierte Juristische Dokumente

Web 1.0 Aufwand Abbildung 2: Wann lohnt sich Strukturierung?

Im World-Wide-Web (Web 1.0) müssen strukturelle Elemente in Dokumenten durch spezielle Annotationen explizit gemacht werden. Durch das (formale) Adressierungssystem (URLs) des WWW können Referenzen auf Textfragmente formalisiert werden und im Browser direkt abgerufen und angezeigt werden – damit wird das WWW zu einem großen Hypertext. Dass dieses System von strukturierten Dokumenten die Gewinnschwelle überschreitet, sehen wir schon an den geschätzten 1,7 Milliarden Dokumenten des WWW. Beim Web 2.0, in dem Webseiten weiter zu interaktiven Web-Applikationen formalisiert werden, können Nutzer Texte, Bilder oder Filme bereitstellen und ermöglichen so Portale/Dienste wie Youtube, Facebook oder GMail. Obwohl die Investition zur Programmierung solcher Portale wesentlich größer ist als beim Web 1.0 scheint der Nutzen der Technologie so riesig zu sein, dass das Web 2.0 boomt. 6

Wir verwenden diesen Ausdruck hier anaphorisch um ein Gespür für die Kosten/Nutzenverhältnisse bei der Digitalisierung und Automatisierung zu erzeugen. Dabei müssen weder die Kosten noch die Nutzen direkt monetär sein: der Nutzen einer Digitalisierung/ Automatisierung kann beispielsweise aus der Abwehr der Gefahr einer Überlastung des Justizwesen durch automatisierte Erstellung von Klageschriften bestehen.

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Wir bemerken, dass Programmierung auch eine Form der Strukturierung ist: hier werden Aktionen und Prozesse formalisiert und so der Abarbeitung durch den Computer zugänglich gemacht. Ein extremes Beispiel für dieses Phänomen sind die sogenannten „Formalen Methoden“ in der Informatik, wo – z.B. in der Programmverifikation die Bedeutung von Programmiersprachen so wie das intendierte Verhalten eines Programms in speziellen Logiksprachen spezifiziert werden. In solchen Logiken lassen sich sogar die Schlussweisen in (mathematischen) Korrektheitsbeweisen mittels spezieller Computerprogramme – sogenannten Beweisprüfern – nachvollziehen, und so die vollständige Abwesenheit von Programmierfehlern sicherstellen. Hierbei ist allerdings die notwendige Investition in Spezifikation und Erstellung des maschinell verifizierbaren Korrektheitsbeweises so riesig – die Kosten der Spezifikation und erst Recht einer Verifikation übersteigen die Kosten des ursprünglichen Programms bei weitem – dass von dieser Möglichkeit nur bei sicherheitskritischen Programmen Gebrauch gemacht wird. Dann allerdings können auch riesige Schäden vermieden werden (so hat Intel 1994 durch den bekannten FDIV Fehler im Pentium Chip einen Verlust von ca. 475.000.000$ erlitten und verifiziert seitdem alle Chips und systemnahe Software mit Formalen Methoden7). Die Formalen Methoden überschreiten in solchen Fällen die Gewinnschwelle, allerdings nicht so deutlich wie bei den Web-Technologien, Formale Methoden sind (immer noch) eine Nischentechnologie für Hochsicherheitsanwendungen. Der grüne Bereich in Abbildung 2 versucht das Potential von strukturierten Dokumenten im Zivilprozess abzuschätzen. Dieses reicht von der digitalen Dokumentenverwaltung in einem „Prozess-Hyperdokument“ bis zu einer logischen Modellierung der juristischen Subsumption und dadurch theoretisch denkbaren automatischen Verifikation oder sogar vollautomatischen Erstellung von Urteilen und deren Begründungen (siehe unten). In Abbildung 2 liegt der grüne Potentialbereich nur teilweise oberhalb der „Gewinnschwelle“. In der Tat werden nicht alle möglichen juristischen Dienste die dafür erforderlichen Strukturierungsinvestitionen wieder einspielen. Aber wie die Abbildung schon andeutet, scheint es plausibel, dass es durchaus eine große Klasse von Anwendungen für strukturierte juristische Dokumente und darauf basierende Dienste gibt, die die Produktivität der Justiz in Zivilprozessen signifikant erhöhen kann. Wir weisen darauf hin, dass die Diagramme in diesem Artikel alle nur qualitativ zu lesen sind. Aussagen wie „Die Investition für formale Methoden sind viermal so hoch wie die für das das Web 2.0“ oder „strukturierte juristische Dokumente lohnen sich im Schnitt“ sind nicht intendiert, obwohl sie strenggenommen aus dem Diagramm herausgelesen werden könnten, wenn man sie quantitativ läse.

7

Pentium-FDIV-Bug. Wikipedia.

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V. Produktivitätsprofile für strukturierte Dokumente Im Folgenden wollen wir die Kriterien untersuchen, nach denen Elemente der Dokumentenstrukturierung und die darauf aufbauenden Dienste bewertet werden können. Wir wollen dazu neun paradigmatische Fälle genauer betrachten. Wie wir bereits gesehen haben, ist es vorteilhaft, Strukturierung/Formalisierung nicht als eine absolute Eigenschaft zu sehen, sondern als graduell/flexibel8: in einem Dokument können verschiedene Aspekte verschieden weit formalisiert werden, und andere informell belassen werden. In Abbildung 3 tragen wir den Formalisierungsgrad gegen die dadurch erreichbare Funktionalität von verschiedenen (zum Teil noch hypothetischen) Diensten ab. Hierbei ist zu beachten, dass im Gegensatz zu Abbildung 2 nicht die Gesamtinvestition gegen den Gesamtertrag abgetragen wird, sondern das Verhältnis der Formalisierungs-Breite/Tiefe gegen das Verhältnis des damit realisierbaren Ertrags zum möglichen Gesamtertrag. Intuitiv: Abbildung 3 zeigt wie schnell die einzelnen Mehrwertdienste auf die Formalisierung ansprechen. Im Folgenden diskutieren wir die einzelnen Dienste und begründen die zugehörigen Kurvenverläufe: 1. Digitales Repositorium. Auf der untersten Ebene der Digitalisierung von Dokumenten ist die elektronische Bereitstellung aller Dokumente auf einem Dokumentenverwaltungssystem (Repositorium). Wichtig: In einem solchen Repositorium haben alle Dokumente und ihre Versionen eine eindeutige „Adresse“ mittels derer auf sie zugegriffen werden kann. Dadurch können die jeweils berechtigten Mitarbeiter ortsunabhängig und parallel auf die jeweils neueste Version der Dokumente zugreifen. Viele Repositorien gewähren auch Zugang zu vorherigen Dokumentenversionen und Entwicklungshistorien. Die „Dokumenten-Adresse“ (ggf. mit VersionsInformation und Metadaten) ist der einzige formale Anteil auf Repositoriums-Ebene. 2. OCR/Texterkennung. Bisher haben wir noch keine Annahmen über die Repräsentation der Dokumente selbst gemacht, es könnte sich hierbei also durchaus um gescannte Handschriften handeln. In einem weiteren Formalisierungsschritt könnten also durch optische Zeichen/Schrifterkennung (OCR) digitale Texte entstehen, die eine Textsuche möglich machen. Dabei ist wichtig darauf hinzuweisen, dass, obwohl die OCR automatisch abläuft, es sich hier um einen Formalisierungs-/Strukturierungsschritt handelt, der in der Regel fehlerbehaftet ist und im Extremfall durch manuelle Arbeit korrigiert und vervollständigt werden muss. Allerdings führen Qualitätsverbesserungen in der Texterkennung zu besserer Textsuche. Daher ist der Kurvenverlauf in Abbildung 3 aufsteigend. Wenn bei der Textsuche Vollständigkeit kri8 Kohlhase, „The Flexiformalist Manifesto.“ In: 14th International Workshop on Symbolic and Numeric Algorithms for Scientific Computing (SYNASC 2012). Hrsg. von Andrei Voronkov u. a., Timisoara, Romania: IEEE Press, 2013, S. 30 – 36 diskutiert flexible Formalisierung mathematischer Dokumente. Trotz der vordergründig anderen Domäne ist diese Diskussion hier relevant, da Mathematik und Jurisprudenz beide argumentations-/beweisorientiert arbeiten, und in der Argumentation eine sehr hohe Präzision voraussetzen, die – zumindest momentan – nur durch formale Methoden in irgendeiner Form geliefert werden kann.

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Formalit¨at Abbildung 3: Dienste und Strukturiertheit

tisch ist, z. B. um feststellen zu können, ob ein bestimmter Sachverhalt unerwähnt bleibt, kann sich der Mehraufwand der „Formalisierung durch manuelle Korrektur“ durchaus lohnen. Wenn wir die Kurven „1. Repository“ und „2. OCR/Textsuche“ in Abbildung 3 vergleichen sehen wir, dass die erstere oberhalb der zweiten verläuft. Das heißt, dass bei Formalisierung für das Repositorium bereits mit sehr wenig Formalisierungsaufwand eine hohe Wirkung erzielt werden kann. Im Vergleich dazu muss für die Textsuche noch zusätzlich formalisiert werden. Mehrwertdienste, die eine konvexe Kurve haben (bauchig nach oben) sind attraktiv, weil sie sich einfach realisieren lassen. Entsprechend finden wir diese Technologien auch tendenziell weiter unten im Diagramm in Abbildung 2. 3. Prozess-Hypertext. In einem weiteren Formalisierungsschritt könnten alle sinntragenden Dokumentfragmente gekennzeichnet und mit eindeutigen Kennungen versehen und alle Querverweise auf solche anhand dieser Kennung explizit gemacht werden. Dadurch bekommen wir einen Prozess-Hypertext, der in einem (hypothetischen) Prozessbrowser das manuelle Blättern in verschiedenen Papier-Akten unnötig macht. Damit haben wir die Gruppe der weitgehend syntaktischen Strukturierungen/ Dienste in Abbildung 3 erschöpft. Die nächste Gruppe in rot benötigt semantische Formalisierungen; hierunter verstehen wir eine formale/strukturierte Charakterisie-

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rung der Art der Querverweise. Im Prozess-Hypertext (und auf dem World-WideWeb) kann ein Querverweis von A nach B verschiedenste Relationen bedeuten: z. B. Siehe auch: Um A besser zu verstehen ist es auch interessant sich B anzugucken. Definition: A ist definiert durch/in B. Empfehlung: Personen, die A angeguckt haben, haben schließlich B gekauft. Kontrast: A ist das Gegenteil von B (in einem geeigneten Kontext) Offensichtlich ermöglicht eine nähere Spezifikation der Relation weitere Mehrwertdienste; Menschen können die Natur des Querverweises meist aus dem Kontext von A erschließen und darauf adäquat reagieren. 4. Guided Tours. Eine Formalisierung der Abhängigkeit zwischen sinntragenden Textfragmenten (Fragment A ist von Fragment B abhängig, wenn man B kennen muss um A voll zu verstehen) kann genutzt werden, um semantisch abgeschlossene Dokumente zu erzeugen – wir nennen diese auch Guided Tours9. Ein Prozessbeteiligter kann sich für jedes sinntragende Textfragment eine Guided Tour erzeugen lassen, das dem Leser alles nötige Vorwissen in der fachlich richtigen Reihenfolge darbietet. Damit entfällt nicht nur das Blättern nach im Text gegebenen Querverweisen, sondern es werden auch die nicht im Text gegebenen Abhängigkeiten im Fallwissen bereitgestellt. Erweitern wir den Dienst noch um ein „Gedächtnis“, was der Leser bereits gesehen hat, so können wir auch nutzeradaptiv die Duplikation bereits bekannter Sachverhalte vermeiden. 5. Änderungsmanagement. Die Umkehrung der Abhängigkeitsrelation kann dann zusätzlich zum Änderungsmanagement verwendet werden: Hängt A von B ab, und B ändert sich, so müssen wir A noch einmal prüfen, ob die Änderung von B eine Änderung von A notwendig macht. Annotieren wir zusätzlich zur Abhängigkeitsrelation auf Textfragmenten noch die Abhängigkeit von Werten (z. B. Zahlenwerten wie z. B. die Höhe des Streitwertes), so kann die Propagierung geänderter Werte in andere Dokumente (teil-)automatisiert werden. Dies könnte bei einer Textbaustein-basierten Verwaltung der Sachvorträge der Gerichte (z. B. wie im in Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ (s. Fn. 1) vorgeschlagenen gemeinsamen Basisdokument) eine große Rolle spielen. 6. Semantische Suche. Für eine semantische Suche im Prozess-Hypertext, um z. B. Fragen zu klären wie „Mit welcher Mehrheit wurde der Vorstand in der letzten Hauptversammlung entlastet?“ brauchen wir noch weitergehende Formalisierung des Texts: Wir können nicht einfach auf eine Textsuche vertrauen, da die „Hauptversammlung“ in den Dokumenten auch als „Aktionärsversammlung“ bezeichnet werden könnte (Synonyme) oder das Abstimmungsergebnis statt einer (expliziten) Pro9 Kohlhase u. a., „The Planetary System: Web 3.0 & Active Documents for STEM.“ In: Procedia Computer Science 4 (2011): Special issue: Proceedings of the International Conference on Computational Science (ICCS). Hrsg. von Mitsuhisa Sato u. a., Finalist at the Executable Paper Grand Challenge, S. 598 – 607.

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zentzahl durch Begriffe wie „einstimmig“ oder „mit großer/qualifizierter Mehrheit“ (Umschreibung) verbalisiert werden könnte (Schlüsse aus dem Weltwissen über Abstimmungen). Eine semantische Suche bezieht Relationen wie Synonyme, Hyper/ Hyponyme (Spezialisierung/Verallgemeinerung), und Umschreibungen mit ein und liefert so ein umfassenderes Ergebnis als reine Wortvorkommenssuche, wie sie traditionelle Suchmaschinen anbieten. Die letzte Gruppe von Diensten (in Abbildung 3 blau dargestellt) benötigt eine noch (sehr viel) höhere Formalisierung, so dass juristische Schlussweisen explizit gemacht werden oder sogar automatisiert werden können. 7. Juristische Schlussweisen. Dokumente im Zivilprozess enthalten außer Tatsachenfeststellungen auch juristische Argumentationen und Begründungen, die sich ihrerseits auf Schlussweisen wie - Subsumption, d. h. Anwendung einer juristischen Norm auf einen konkreten Sachverhalt10, - Priorisierung zwischen möglichen juristischen Argumentationen oder Begründungen oder - analoges Schließen, d. h. Ausnutzen einer Gleichartigkeit zur Übertragung von Rechtskonsequenzen11 stützen. Dabei handelt es sich aus der Dokumentenperspektive um komplexe Relationen zwischen Textfragmenten. Zu deren Explizierung können diese entweder manuell annotiert werden oder aus einer genaueren Analyse der Textfragmente – und vor allem den darin beschriebenen Fakten, dem juristischen Fachwissen und dem allgemeinen Hintergrundwissen – erschlossen werden (siehe unten). Für diese Wissensperspektive müssen wir allerdings die Granularität der Modellierung von der Textfragmentebene auf die Wort-Ebene verfeinern, da diese die atomaren Wissensträger sind. Dieses bedeutet natürlich eine viel größere Basisinvestition, bevor Dienste auf diese Relationen aufbauen können, so dass die Kurve in Abbildung 3 konkav (bauchig nach unten) dargestellt ist. 8. Urteilsverifikation und Richter-Automat. Bei der hier postulierten „Urteilsverifikation“ handelt es sich um einen Dienst wie der oben beschriebenen Programmverifikation, in dem Urteile so genau formalisiert werden, dass die zugrundeliegenden Argumentationen, Referenzen und Subsumptionsbeziehungen vom Computer geprüft werden können. Dadurch könnten Fehlschlüsse oder Argumentationslücken 10 Adrian/Kohlhase/Rapp, „A novel understanding of legal syllogism as a starting point for better legal symbolic AI systems.“ In: 24. Internationales Rechtsinformatik Symposium (IRIS 2021). Hrsg. von Erich Schweighofer, Walter Hötzendorfer, Franz Kummer, Ahti Saarenpää, Stefan Ede und Philip Hanke, 2021, 169 ff. 11 Kohlhase/Adrian/Rapp, „Context Graphs for Ampliative Analogical Legal Reasoning and Argumentation.“ In: 24. Internationales Rechtsinformatik Symposium (IRIS 2021). Hrsg. von Erich Schweighofer, Walter Hötzendorfer, Franz Kummer, Ahti Saarenpää, Stefan Eder und Philip Hanke, 2021, 231 ff.

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aufgedeckt werden oder das Vertrauen in deren Gültigkeit gestärkt werden und so Revisionsverfahren minimiert werden. Hierbei müssen nicht nur die Prozessdokumente selbst formalisiert werden, sondern auch die normativen Dokumente (BGB, StVO, etc.) sowie das fachliche Hintergrundwissen (im Wesentlichen der in einem Jurastudium vermittelte Wissensschatz) und sogar das Allgemeinwissen (z. B., dass PKWs Kraftfahrzeuge sind), also all dem Wissen das einem Urteil oder Vergleich zugrunde liegt. Der hier postulierte „Richter-Automat“12 geht noch eine Stufe weiter, hier werden Urteile durch den Computer automatisch erstellt13. In Abbildung 3 landet die Kurve für den Richterautomat paradoxerweise noch vor der Urteilsverifikation, da die erstere weniger Formalisierung (des Urteils selbst) erfordert beim gleichen Ertrag (ein formal verifiziertes Urteil). In der Praxis wird es – wenn diese Dienste wirklich realisierbar sein sollten – wie bereits für die Programmverifikation eine Mischung aus menschlicher Anleitung und maschineller Argumentations-Automatisierung in einer integrierten „Zivilprozessentwicklungsumgebung“ hinauslaufen, die alle hier beschriebenen Mehrwertdienste integriert. Abgrenzung Diese Diskussion gruppiert den Raum der möglichen Mehrwertdienste anders als die LegalTech Community14/15, die ihre Technologie in Anlehnung an die Phasen industrieller Disruptionen in drei „Phasen“ einteilen. Dort wird unter dem Stichwort 1. „LegalTech 1.0“ vor allem Büroautomatisierung und Kommunikationssoftware, unter 2. „LegalTech 2.0“ begrenzte, automatisierte Rechtsdienstleistungen und 3. „LegalTech 3.0“ Technologien verstanden, die das Berufsbild menschlicher Anwälte und Richter grundlegend verändern. Diese Unterscheidung ist rein phänomenologisch, die Klassifikation der Mehrwertdienste in diesem Artikel orientiert sich an Kosten-Nutzen-Verhältnissen bei der Formalisierung/Strukturierung und Automatisierung.

12 Adrian, „Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion.“ In: Rechtstheorie 48.1 (2017), S. 77 – 121. 13 Für diesen Artikel tun wir so, als ob die Erstellung von Urteilen und Vergleichen die Hauptaufgabe von Richtern ist und vernachlässigen wichtige Aufgaben wie die Tatsachenfeststellung und Verhandlungsführung, die weniger auf Dokumenten beruhen und sich möglicherweise noch schwieriger formalisieren lassen. 14 Legal Technology. Wikipedia. 15 Goodenough, Legal Technology 3.0. Blog post, 2015.

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VI. Fazit und Ausblick Motiviert durch den Ruf nach „strukturierten Prozessakten“ im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung Zivilprozesses“16 und den dadurch verursachten Diskussionen analysiert der vorliegende Artikel den Begriff des strukturierten/formalen Dokuments aus der Sicht der Informatik und der Künstlichen Intelligenz. Aus der Basisfeststellung: „Ein Dokument ist strukturiert, wenn auf dessen formalen Elementen geeignete Mehrwertdienste aufbauen können“ entwickeln wir eine Einordnung potentieller Digitalisierungsdienste für den Zivilprozess und der dafür jeweils notwendigen Formalisierungsinvestitionen. Diese Dienste reichen von einfacher Automatisierung des Dokumentenmanagements, das heute schon realisiert werden sollte, bis hin zu einem umfassenden „Richterautomat“, der in der hier suggerierten Allgemeinheit wahrscheinlich noch weit in Zukunft liegt, da hier Dokumente sehr tiefgehend formalisiert und sehr weitgehende weitere Wissensquellen formal erschlossen werden müssen. Für sehr eingeschränkte Bereiche hingegen scheint eine Automatisierung juristischer Verarbeitungsprozesse möglich, wie das Beispiel der Erstellung von Klageschriften bei Verletzungen von Fluggastrechten bei Flightright17 oder der automatischen Steuerfestsetzung18 schon zeigen. Der vorliegende Artikel will ein Bewusstsein dafür wecken, dass die Eigenschaft „formal/strukturiert“ nicht als absolut gesehen werden kann: Die FormalisierungsTiefe/Dichte hat einen großen Einfluss auf die späteren Mehrwertdienste. Je „intelligenter“ die Dienste sein sollen, so mehr Aufwand muss in die Formalisierung/ Strukturierung der Dokumente investiert werden. Insbesondere ist es ein Denkfehler zu glauben, dass mit einer Formalisierung/Strukturierung eines Aspektes („ein-fürallemal“) alle Anwendungen unterstützt werden können. Es scheint klar, dass die zur Digitalisierung notwendigen Entwicklungen nur gemeinsam von Rechtswissenschaften und Informatik durchgeführt werden können. Dabei wird eine sehr wichtige Voraussetzung sein, zwischen Informatik und Rechtswissenschaften eine gemeinsame Sprache und ein Verständnis für die jeweils anderen Anliegen und Vorgehensweisen zu entwickeln. Die dafür nötige Forschung und Entwicklung kann in kollaborativen Projekten durchgeführt werden.

16 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses.“ Modernisierung des Zivilprozesses – Diskussionspapier. Im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs, 2021 (siehe Fn. 1). 17 Flightright: Ihr Experte für Ticketerstattung und Flugentschädigung. 18 Adrian/Barthel, „Expertensysteme im Bereich der Steuerverwaltung als Beispiel eines strukturierten digitalen Verfahrens – Ein Erfahrungsaustausch zum Nutzen eines künftigen digitalen Justizportals“ (siehe Fn. 5).

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Literatur Adrian, Axel: „Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion.“ In: Rechtstheorie 48.1 (2017), S. 77 – 121. Adrian, Axel/Barthel, Holger: „Expertensysteme im Bereich der Steuerverwaltung als Beispiel eines strukturierten digitalen Verfahrens – Ein Erfahrungsaustausch zum Nutzen eines künftigen digitalen Justizportals.“ Im Tagungsband Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung, in Vorbereitung, 2021. Adrian, Axel/Kohlhase, Michael/Rapp, Max: „A novel understanding of legal syllogism as a starting point for better legal symbolic AI systems.“ In: 24. Internationales Rechtsinformatik Symposium (IRIS 2021). Hrsg. von Erich Schweighofer, Walter Hötzendorfer, Franz Kummer, Ahti Saarenpää, Stefan Eder und Philip Hanke, 2021, 169 ff. URL: https://jusletter-it. weblaw.ch/issues/2021/27-Mai-2021/05_rechtstheorie_01._863f4db39a.html__ONCE&log in=false. Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses.“ Modernisierung des Zivilprozesses – Diskussionspapier. Im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs, 2021. URL: https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandes gerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf. Flightright: Ihr Experte für Ticketerstattung und Flugentschädigung. URL: https://flightright. com (besucht am 10. 10. 2021). Goodenough, Oliver R.: Legal Technology 3.0. Blog post, 2015. URL: https://www.huffpost. com/entry/legal-technology-30_b_6603658. Kohlhase, Michael: „The Flexiformalist Manifesto.“ In: 14th International Workshop on Symbolic and Numeric Algorithms for Scientific Computing (SYNASC 2012). Hrsg. von Andrei Voronkov u. a., Timisoara, Romania: IEEE Press, 2013, S. 30 – 36. URL: https://kwarc.info/ kohlhase/papers/synasc13.pdf. Kohlhase, Michael u. a.: „The Planetary System: Web 3.0 & Active Documents for STEM.“ In: Procedia Computer Science 4 (2011): Special issue: Proceedings of the International Conference on Computational Science (ICCS). Hrsg. von Mitsuhisa Sato u. a., Finalist at the Executable Paper Grand Challenge, S. 598 – 607. doi: 10.1016/j.procs.2011.04.063. Kohlhase, Michael/Adrian, Axel/Rapp, Max: „Context Graphs for Ampliative Analogical Legal Reasoning and Argumentation.“ In: 24. Internationales Rechtsinformatik Symposium (IRIS 2021). Hrsg. von Erich Schweighofer, Walter Hötzendorfer, Franz Kummer, Ahti Saarenpää, Stefan Eder und Philip Hanke, 2021, 231 ff. URL: https://jusletter-it.weblaw.ch/is sues/2021/27-Mai-2021/05_rechtstheorie_03._3ed8681731.html_ONCE&login=false. Legal Technology. Wikipedia. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Legal_Technology (besucht am 01. 11. 2021). Pentium-FDIV-Bug. Wikipedia. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Pentium-FDIV-Bug (besucht am 06. 10. 2021). Rumpe, Bernhard u. a.: Digitalisierung der Gesetzgebung zur Steigerung der Digitalen Souveränität des Staates. Techn. Ber. 19. Nationales E-Government Kompetenzzentrum. URL: https://negz.org/wp-content/uploads/2021/06/NEGZ-Kurzstudie-19-Digitalisierung-der-Ge setzgebung-2021.pdf.

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Schweighofer, Erich/Hötzendorfer, Walter/Kummer, Franz/Saarenpää, Ahti/Eder, Stefan/ Hanke, Philip (Hrsg.): 24. Internationales Rechtsinformatik Symposium (IRIS 2021), 2021.

Teil 3 Automatisierung des Zivilprozesses

Manuelle und automatische Anonymisierung von Urteilen Von Axel Adrian, Nathan Dykes, Stephanie Evert, Philipp Heinrich, Michael Keuchen und Thomas Proisl

I. Einleitung 1. Forschungsprojekt zur automatischen Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen In Deutschland werden nach bisherigen Schätzungen wohl nicht einmal zwei Prozent aller Urteile veröffentlicht.1 Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungspraxis ist nicht nur für Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, sondern auch für die Öffentlichkeit wichtig, um das eigene rechtliche Verhalten anpassen zu können. Daneben ist die Verfügbarkeit von Entscheidungen ein zukünftiger wesentlicher Baustein für KI-Anwendungen im großen Spektrum von Legal-Tech. Ein Grund, weshalb die Veröffentlichung einer großen Zahl an Entscheidungen stockt, ist die aufwendige manuelle Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen. Wir arbeiten im Rahmen eines Forschungsprojektes mit dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz an rechtlichen und technischen Fragen zur Möglichkeit einer automatischen Anonymisierung von Urteilen mit Hilfe computerlinguistischer Verfahren.2 Die ersten Zwischenergebnisse des ersten Projektziels, nämlich die Entwicklung und detaillierte Evaluation eines Software-Prototypen für die automatische Erkennung sensitiver Textstellen, sollen in diesem Beitrag dargestellt werden. Es 1 So exemplarisch Coupette/Fleckner, JZ 2018, 379 (381); Hartung teilt mit, dass 99 Prozent aller Urteile nicht in digitaler Form verfügbar sind: www.netzpiloten.de/werkzeugedaten-gerichtsurteile. Kuntz, Quantität gerichtlicher Entscheidungen als Qualitätskriterium juristischer Datenbanken, JurPC Web-Dok. 12/2006, Abs. 34, spricht von 0,27 – 4,95 Prozent. Keuchen/Deuber, Veröffentlichungspraxis in den öffentlich zugänglichen Rechtsprechungsportalen von Bund und Ländern von 2011 bis 2020, 2022, http://doi.org/10.17176/20220404164930-0, haben jüngst eine Quote von 2,3 % festgestellt. 2 Eine erste Projektvorstellung findet sich bereits unter Adrian/Evert/Keuchen/Heinrich/ Dykes, in: Schweighofer/Kummer/Saarenpää et al. (Hrsg.), Cybergovernance – Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS, 2021, S. 137 ff. Weitere höchst unterschiedliche Initiativen in Europa im Zusammenhang mit der Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen finden sich beim „1st Webinar, 26 and 29 March 2021 – Anonymisation and pseudonymisation of judicial decisions“ der Europäischen Kommission, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/policies/justice-and-fundamental-rights/digitalisation-justice/conferen ces-and-events_en.

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existieren für den deutschsprachigen Bereich, soweit ersichtlich, derzeit noch keine flächendeckenden automatischen Lösungen, wenn auch bereits interessante Forschungsergebnisse zu einer automatischen Anonymisierung vorliegen. So gibt es einerseits Arbeiten auf Basis von bereits anonymisierten Daten, die kritische Textstellen rein anhand des umgebenden Textmaterials erkennen.3 Andere Ansätze beziehen Metadaten aus den Gerichtsverwaltungssystemen ein und nutzen diese als Grundlage für eine Anonymisierung.4 In unserem Forschungsprojekt wird hingegen mit unveränderten, also noch nicht anonymisierten, Urteilen und Schriftsätzen gearbeitet. In diesen Dokumenten sollen sämtliche potenziell identifizierende Merkmale detektiert werden. 2. Datengrundlage Da die Qualität computerlinguistischer Verfahren oft stark von der Menge verfügbarer Trainingsdaten abhängt und mit umfangreicheren Testdaten auch eine noch zuverlässigere Evaluation möglich ist, wird in einem ersten Schritt ein umfangreiches Korpus von Dokumenten erstellt, in denen die zu anonymisierenden Stellen manuell annotiert werden. Das uns zur Verfügung stehende Datenmaterial umfasst insgesamt ca. 5,8 Millionen Token5 Text. Davon entfallen ca. 1,3 Millionen Token auf ca. 600 Urteile – in etwa zu gleichen Teilen zu den Themen Wohnraummietrecht und Verkehrsrecht –, mit denen wir uns im vorliegenden Artikel beschäftigen (vgl. Tabelle 1). Zusätzlich stehen uns dann noch die verbleibenden ca. 4,5 Millionen Token der zu diesen Urteilen gehörenden Schriftsätze zur Verfügung, welche wir in der zweiten Projektphase für die Verbesserung unserer Algorithmen verwenden möchten (siehe Abschnitt V.). Für maschinelle Lernverfahren lassen sich nicht alle Teile des Korpus als Trainings- und Testdaten nutzen, weshalb der Datensatz bereinigt werden muss. Zum einen entfällt mit ca. 350.000 Token ein erheblicher Teil der Urteile auf sogenannte Nahduplikate, d. h. beinahe wortgleiche Urteile6, vgl. Tabelle 1. Diese sind für maschinelles Lernen nicht verwertbar, da sie durch den fast identischen Wortlaut Training und Evaluation verzerren würden.7 Die dazugehörigen Schriftsätze unterschei3 Glaser/Schamberger/Matthes, Anonymization of German Legal Court Rulings, Eighteenth International Conference for Artificial Intelligence and Law, 2021, S. 205 ff. 4 Dévaud/Kummer, in: Hürlimann/Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, 2021, S. 61 ff. 5 In der computerlinguistischen Verarbeitung werden Texte zunächst in Wörter und Satzzeichen als Grundeinheiten zerlegt, für die üblicherweise der Oberbegriff Token verwendet wird. 6 Im vorliegenden Fall handelt es sich um Urteile zu mehreren Klagen verschiedenster Kläger gegen denselben Vermieter. 7 Ein Problem, das im maschinellen Lernen unter dem Stichwort Überanpassung bekannt ist.

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den sich zwar zum Teil im Wortlaut, werden aber in der Tabelle separat ausgewiesen, da sie ebenso wenig direkt nutzbar sind. Zum anderen müssen die (immer gleichen) Rechtsbehelfsbelehrungen (ca. 450 Token pro Urteil) und andere sich identisch wiederholende Textbausteine (insbesondere aus dem Rubrum) von den Trainingsdaten abgezogen werden. Netto können daher ca. 650.000 Token in den Urteilen sowie ca. 3 Mio. Token in den zugehörigen Schriftsätzen für unsere Experimente genutzt werden. Während die Urteile in bereits digitalisierter Form zur Verfügung standen, mussten die Schriftsätze in einem ersten Verarbeitungsschritt sehr aufwendig digitalisiert werden. Dafür mussten die Akten vorbereitet und die erforderlichen Schriftsätze selektiert werden, bevor ein Scan und eine anschließende Texterkennung (OCR) erfolgte. Zur Digitalisierung vorgesehen wurden alle Klagen, Klageerwiderungen, sämtliche folgenden erstinstanzlichen Schriftsätze in der Sache bis zum Urteil, Einsprüche gegen Versäumnisurteile, Hinweisbeschlüsse und Mahnbescheide. Insgesamt wurden dadurch in Mietsachen 3.510 Dokumente mit 24.613 Seiten gescannt und digitalisiert. In Verkehrsunfallsachen waren es 2.720 Dokumente mit 12.804 Seiten. Bei den Zahlenwerten ist jedoch zu beachten, dass diese jeweils die Summe aus den eingescannten PDF-Dokumenten und den daraus durch Texterkennung erstellten Word-Dokumenten sind. Nach unseren Auswertungen entfallen auf die PDF-Dokumente 14.348 Seiten im Mietrecht und 6.371 Seiten im Verkehrsrecht. Diese Zahlen stellen somit die tatsächlich eingescannten Seiten aus den Akten dar. Tabelle 1 Übersicht über vorhandenes Datenmaterial, aufgeteilt nach Urteilen (oberer Teil) und zugehörigen Schriftsätzen (unterer Teil) Datensatz

Token

Dokumente

Urteile

Wohnraummietrecht – davon Nahduplikate Verkehrsrecht

762.393 346.819 575.559

281 32 323

Schriftsätze

Wohnraummietrecht – davon Nahduplikaten zugehörig Verkehrsrecht

2.930.189 1.640.007 1.487.701

1758 378 1353

II. Manuelle Anonymisierung 1. Evaluation der Veröffentlichungs- und Anonymisierungspraxis an ausgewählten Oberlandesgerichten Um der Frage nachzugehen, welche Textstellen zu anonymisieren sind, wurden in einem ersten Ansatz Erfahrungen aus der Rechtspraxis durch Gespräche mit den Praktiker:innen aus der Justiz gesammelt. Eine systematische Evaluation dieser

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Daten hat gezeigt, dass im Grundsatz keine flächendeckenden, niedergeschriebenen, standardisierten und einheitlichen Anonymisierungsleitlinien existieren, die relevante Merkmale sowie eine spezifische zu verwendende Anonymisierungstechnik festlegen.8 Solche Richtlinien finden sich nur teilweise bei einzelnen Gerichten und weisen sehr unterschiedlichen Umfang auf, der von umfassenden Handbüchern bis hin zu rein mündlichen Überlieferungen reichen kann. Betrachtet man weiter die funktionelle Zuständigkeit für die Durchführung der Anonymisierung, ist auch in dieser Hinsicht Uneinheitlichkeit festzustellen. Als zuständig für die Durchführung der Anonymisierung an unterschiedlichen Gerichten werden etwa zentrale Stellen, Geschäftsstellen, Pressestellen, Dokumentationsstellen oder Spruchkörper genannt. Ebenso ist in der Praxis ein Zusammenwirken mehrerer vorgenannter Stellen nicht selten. Die Vorgehensweise für die Durchführung der Anonymisierung reicht von einer rein manuellen Anonymisierung bis zu semi-automatisierten Tools, in die manuell Textstellen eingegeben werden, und die automatisiert alle anderen gleichlautenden Vorkommen suchen und ersetzen. Dieses Vorgehen spart Zeit, birgt allerdings die Gefahr, dass bereits bei nur kleinen Schreibfehlern (z. B. Zeugin Maier oder Meier) der zu anonymisierende Text nicht mehr gefunden wird, oder dass umgekehrt versehentlich unerwünschte Stellen bei zufälliger Übereinstimmung von Zeichenketten ersetzt werden (z. B. Zeuge Richter oder Richter am Amtsgericht). Die praktische Umsetzung der Anonymisierung zeigt sich zusätzlich anhand eines fiktiven, von uns konstruierten Beispiels, welches von den Oberlandesgerichten Nürnberg, Bamberg, München und Frankfurt am Main anonymisiert wurde. So konnten wir die gängige Anonymisierungspraxis exemplarisch, ohne ein De-Anonymisierungsrisiko eines echten Urteils, evaluieren; insbesondere im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Verfahren zwischen den Gerichten – d. h. ob bestimmte Textregionen anonymisiert werden und wie die Anonymisierung erfolgt (Ersetzung durch Pseudonyme, Initialen oder Löschungen) – sowie wie viele zu anonymisierende Textstellen die Praxis, im Vergleich mit unseren eigenen Verfahren, bearbeitet. Insgesamt sind nach unseren eigenen Vorgaben 96 potenziell sensitive Textstellen in dem Urteil enthalten. Die vier Gerichte anonymisierten davon 34, 36, 49 oder 50 Textstellen, wobei hier offen bleiben soll, welches Ergebnis welchem Gericht zuzuordnen ist. Die vier Gerichte stimmten relativ gut in den hochriskanten Kategorien (Namen und Adressen) sowohl untereinander als auch mit unserer Version überein. Nur selten wurden hoch sensitive Textstellen übersehen oder inkonsistent anonymisiert. Solche Unsicherheiten einer manuellen und doch fehleranfälligen Anonymisierung lassen sich mit semi-automatischen Verfahren relativ gut kompensieren. Bei den sonstigen indirekt identifizierenden Merkmalen, aber auch bei Aktenzeichen und Datumsangaben bestehen hingegen erhebliche Unterschiede. So wurden beschreibende Informationen zur Identifikation des Ortes, Aktenzeichen zu einem ein8 Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangen Glaser/Schamberger/Matthes, Anonymization of German Legal Court Rulings, Eighteenth International Conference for Artificial Intelligence and Law, 2021, S. 205, 206.

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bezogenen Strafverfahren oder Datumsangaben kaum von den Gerichten anonymisiert. Betrachtet man schließlich noch die verwendeten Anonymisierungstechniken, so zeigen sich gleichermaßen Unterschiede. Über alle vier Gerichte summiert, werden Pseudonyme selten (46/197), Initialen häufiger (64/197) und eine Löschung überwiegend (87/197) genutzt. Alle Gerichte nutzen mindestens zwei verschiedene Anonymisierungstechniken. Dieser Blick in die Praxis zeigt eine derzeit noch vorhandene große Uneinheitlichkeit im Hinblick auf das „Was“ und das „Wie“ der Anonymisierung von Gerichtsurteilen. 2. Anonymisierung aus dem Blickwinkel der Gefahren einer De-Anonymisierung Risiken einer De-Anonymisierung mit der Folge einer Re-Identifikation ergeben sich nicht nur aus einer unzureichenden Anonymisierung von indirekten Identifikatoren9. Auch durch informationserhaltende Anonymisierungstechniken, welche sowohl die abstrakte Merkmalsklasse als auch (möglicherweise in einem zu großen Umfang) Teile der individuellen Information (Merkmalsausprägung) erhalten, werden solche Risiken erhöht. In aller Regel haben direkte Identifikatoren über die Urteile hinweg eine charakteristische Struktur. So ist der personenbezogene oder individuelle Informationsgehalt in eine abstrakte Merkmalsklasse oder durch einen generellen Bezeichner eingebettet. Beispiele sind B a u s a c h v e r s t ä n d i g e r Müller, G e s c h ä f t s f ü h r e r Müller, Friedrich-Alexander-U n i v e r s i t ä t Erlangen-Nürnberg, S t a d t Erlangen oder Schloßp l a t z 4. Wird bei einer informationserhaltenden Anonymisierung dieser Bezeichner nicht entfernt oder nicht generalisiert, so eröffnet sich dadurch die Möglichkeit mithilfe von frei zugänglichem Zusatzwissen Angriffe auf die anonymisierte Textstelle vorzunehmen. In den vorgenannten Beispielen sind etwa Suchanfragen in öffentlich zugänglichen Listen zu Bausachverständigen, Geschäftsführern, Universitäten, Städten oder Plätzen möglich. Im Fall von Berufsbezeichnungen wie Geschäftsführern oder Bausachverständigen dürfte eine solche Suche sehr umfangreiche und zugleich unvollständige Ergebnisse hervorbringen. Dagegen gibt es von Universitäten, Städten oder Plätzen jeweils eine relativ klar begrenzte Anzahl, und es lassen sich verlässliche und abschließende Auflistungen finden. In einem nächsten Schritt lassen sich häufig die verschiedenen Mengen an abstrakten Merkmalskategorien vergleichen, um so möglichst einmalige Überschneidungen festzustellen.10 Aus dem o.g. Beispiel könnte 9 Allard/Béziaud/Gambs, Online publication of court records: circumventing the privacytransparency trade-off, 1st International Workshop on Law and Machine Learning, 2020, S. 4; Riedl, in: Hürlimann/Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, 2021, S. 31, 43. 10 Sweeney, Simple Demographics Often Identify People Uniquely, 2000, abrufbar unter: https://dataprivacylab.org/projects/identifiability/paper1.pdf, hat beispielsweise gezeigt, dass 87 Prozent der amerikanischen Bevölkerung allein durch die drei Merkmale Postleitzahl, Geburtsdatum und Geschlecht in einem Datensatz einmalig identifizierbar sind.

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sich etwa ergeben, dass der Sachverhalt von einer Universität handelt, die in einer bestimmten Stadt ihren Sitz an einer mit …platz bezeichneten Adresse hat. Dadurch wird die potenzielle Auswahl bereits deutlich eingeschränkt, ohne dass über eine individuelle Ausprägung der Universität, Stadt oder des Platzes etwas im Urteil bekannt sein muss. Durch Vergleich dieser abstrakten Informationen zur Merkmalskategorie und deren Kombinationen kann es möglich sein, dass sich die Zahl der möglicherweise betroffenen Individuen bereits auf ein einziges Individuum reduzieren lässt. Bei Gerichtsentscheidungen handelt es sich um sog. hochdimensionale Datensätze, d. h. es liegen eine Vielzahl von Merkmalen und damit schnell einzigartige Kombinationsmöglichkeiten vor, die Individuen identifizieren können.11 In einem weiteren Angriffszug können individuelle Restinformationen aus der anonymisierten Textstelle herangezogen werden, um aus den gefundenen abstrakten Schnittmengen auf einzelne Individuen zu schließen. Dies ist insbesondere gut möglich, wenn die Anonymisierungstechnik die Namen lediglich auf die Anfangsbuchstaben reduziert. Im Beispiel könnte eine Veränderung zu F…-A…-Universität E…N…12, Stadt E. und S.Platz erfolgen. Anhand dieser Restinformationen kann in Summe mit ziemlicher Sicherheit auf eine bestimmte Person geschlossen werden. In der Anonymisierungspraxis wird sehr häufig nur eine derartige Reduktion auf die Anfangsbuchstaben vorgenommen.13 Diese Technik ist, wie am Beispiel gezeigt, im Hinblick auf die Gefahren einer De-Anonymisierung und Re-Identifikationen als Anonymisierungstechnik unzureichend.14 Wohlgemerkt liefern die hierbei verbleibenden Restinformationen keinen nennenswerten Vorteil zum Nachvollziehen der Entscheidung, sondern dienen lediglich zur Unterscheidung von Personen. Dies kann aber mit einer deutlich höheren Sicherheit für die Anonymisierung erfolgen, wenn die Buchstabenbezeichnung statt mit den Initialen, also den Anfangsbuchstaben der zu anonymisierenden Namen, durch randomisierte oder neutrale Buchstaben und/oder Zahlen umgesetzt wird. 3. Annotationsrichtlinien Aufbauend auf den bisherigen Erkenntnissen und einer umfassenden rechtlichen Bewertung konnten nun Richtlinien dafür erarbeitet werden, wie festzustellen ist, 11

Csányi/Nagy/Vági/Vadász/Orosz, Symmetry 2021, 13 (8), Nr. 1490, S. 10 f. Wie sich in OLG München NStZ 2021, 631 (632) zeigt, ist das aufgeführte Beispiel keine Phantasie, sondern es wird tatsächlich in der Praxis in dieser Art anonymisiert. Bezeichnend ist in diesem Fall, dass zwar die Universität „anonymisiert“ wurde, aber nicht der Lehrstuhl oder das dort geförderte Projekt der DFG. Über diese weiteren Informationen lassen sich dann kaskadenartig leicht die weiteren Stellen de-anonymisieren. 13 van Opijnen/Peruginelli/Kefali/Palmirani, On-Line Publication of Court Decisions in the EU, 2017, S. 25. 14 So bereits Kötz, RabelsZ 1973, 245 (260); Endemann, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), FS Wolfgang Zeidler, Bd. 1 1987, S. 409, 426 f.; a.A. VG Berlin ZD 2020, 324 (325); VGH Baden-Württemberg Beschluss vom 23. 7. 2010, 1 S 501/10, Rn. 24. 12

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welche Textstellen mit welchen Merkmalen in Urteilen als sensibel erachtet werden sollten. Diese für die Anonymisierung relevanten Textstellen wurden danach von den Hilfskräften in den vorliegenden Urteilen gekennzeichnet und klassifiziert. Durch eine solche manuelle Annotation werden sie maschinell verarbeitbar gemacht und sind insbesondere als Trainings- und Evaluationsdaten für maschinelle Lernverfahren nutzbar. Aus computerlinguistischer Perspektive zeigen sich bei der Anonymisierung von Fließtext im Vergleich zu strukturierten Mikrodaten besondere Schwierigkeiten, da nicht nur potenziell überall im Text sensible Informationen auftreten können und diesbezüglich ein angemessener Schutz vor De-Anonymisierung bestehen muss, sondern auch die Syntax und Semantik des Textes sowie die Relationen zwischen Personen und andere juristisch relevante Informationen hinreichend erhalten bleiben müssen.15 Auch wenn die Lesbarkeit und Verständlichkeit einer Entscheidung typischerweise abnimmt, je mehr Textstellen anonymisiert werden, ist es für die vorgelagerte Annotation dennoch wichtig, zunächst gleichmäßig alle sensitiven Textstellen entsprechend den Annotationsrichtlinien zu erfassen. Erst später wird dann im Rahmen einer Risikoabschätzung zu entscheiden sein, welche annotierten Textstellen tatsächlich zu anonymisieren sind. Die eigens für das Projekt ausgearbeiteten Annotationsrichtlinien beruhen auf den rechtsdogmatischen Grundlagen der Anonymisierung. Sie bestimmen zum einen das „Was“ der Anonymisierung und sorgen zum anderen für eine gleichförmige Anwendung durch die Annotator:innen bei allen zu annotierenden Texten. Um eine hohe Qualität der Daten sicherzustellen, mussten die Annotationsrichtlinien in mehreren Durchgängen und unter Berücksichtigung der Rückmeldungen aller Annotator:innen – aus deren Erfahrungen mit der Umsetzung der Richtlinien während der laufenden Annotation der Urteile – immer wieder iterativ überarbeitet und verbessert werden. Die Rechtgrundlagen einer Anonymisierungsdogmatik sind weder einheitlich noch abschließend kodifiziert.16 Vielmehr ergeben sich die Anforderungen, welche Merkmale zu anonymisieren sind und welcher Anonymisierungsmaßstab sowie welcher Anonymisierungsumfang an eine Gerichtsentscheidung anzulegen ist, aus einer Vielzahl an Gesetzen und Gerichtsentscheidungen. Einen ersten Ausgangspunkt zur Notwendigkeit der Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen liefert die Judikatur im Zusammenhang mit der verfassungsunmittelbaren Veröffentlichungspflicht von Gerichtsentscheidungen aus dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Justizgewährungsanspruch.17 Die 15 Adrian/Evert/Keuchen/Heinrich/Dykes, in: Schweighofer/Kummer/Saarenpää et al. (Hrsg.), Cybergovernance – Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS, 2021, S. 137, 140; Winter/Battis/Halvani, ZD 2019, 489 (490). 16 van Opijnen/Peruginelli/Kefali/Palmirani, On-Line Publication of Court Decisions in the EU, 2017, S. 73. 17 BVerwG NJW 1997, 2694 (2695); BVerfG NJW 2015, 3708 (3710); BGH NJW 2017, 1819.

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berechtigten Interessen der Beteiligten und Betroffenen, insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)18, Unternehmenspersönlichkeitsrecht, die Betriebs-, Geschäfts-, Steuer-19 und Sozialgeheimnisse (§ 30 AO und § 35 SGB I) und der allgemeine Datenschutz müssen zumindest durch eine effektive Anonymisierung geschützt werden.20 Demnach sind nicht nur natürliche Personen, sondern auch juristische Personen vom Schutzbereich grundsätzlich umfasst.21 Allerdings ergeben sich die Persönlichkeit und besonders die Personenbeziehbarkeit nicht nur aus direkten Identifikatoren wie Name, Geburtsdatum oder Adresse, sondern auch aus indirekten sowie kombinierten Identifikatoren, die insgesamt ein Individuum prägen. Diese Identifikatoren können aus zahlreichen unterschiedlichen statischen wie wandelbaren Merkmalen bestehen, wie Beruf oder Gesundheitszustand, aber auch aus wesentlich fernerliegenden Informationen.22 So kann beispielsweise ein Wohnort nicht nur über die Adresse dargestellt werden, sondern über deskriptive Merkmale, z. B. wenn ein Fall von dem einzigen roten Haus in einem bestimmten kleinen Dorf handelt. Hierin liegt eine häufig unterschätzte Gefahr bei der Anonymisierung von Urteilen, da es mittlerweile technisch möglich ist, ohne großen Aufwand verschiedene Informationen zu verknüpfen23, um eine De-Anonymisierung herbeizuführen. Sogenanntes Cross-Referencing oder Linkage von Informationen aus Urteilen mit öffentlich zugänglichen Informationenquellen (Zusatzwissen) ist eine zunehmende Gefahr mit steigender Digitalisierung und Strukturierung von Informationen im Internet. So zeigen Vokinger/Mühlematter in einem Re-Identifikationsexperiment mit 25 Entscheidungen, dass österreichische Bundesgerichtsbeschwerden gegen (Preisfestsetzungs-)Verfügungen von Arzneimitteln mit einer Datenbank des Bundesamtes für Gesundheit verknüpft werden können, wodurch mit nicht unverhältnismäßigem Aufwand von nur einer Stunde eine Re-Identifikation von 84 Prozent der dort inkludierten Arzneimittel und Zulassungsinhaber:innen möglich war.24

18

BVerfG Beschluss vom 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83, Rn. 147. Dazu Haupt, DStR 2014, 1025 (1029). 20 Dazu im Ansatz OLG Karlsruhe Beschluss vom 22. 12. 2020, 6 VA 24/20 = GRUR-RS 2020, 37423, Rn. 36 – 39; zur besonderen Schutzwürdigkeit von Jugendlichen OLG München FamRZ 2020, 1852 f.; Nöhre, MDR 2019, 136 mit vier differenzierten Anonymisierungsstufen gebildet an Hand des Anonymisierungsaufwands orientiert an der Schutzbedürftigkeit der Personen. 21 Nöhre, MDR 2019, 136 (137). 22 Stellungnahme 4/2007 vom 20. Juni 2007 der nach Art. 29 der Richtlinie 95/46/EG eingesetzten Datenschutzgruppe, 01248/07/DE WP 136, S. 15. 23 BeckOK DatenSR/Schild, 37. Edition 01. 08. 2021, Grundlagen und bereichsspezifischer Datenschutz, Syst. E., Rn. 58; Bieri, in: Hürlimann/Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, 2021, S. 1, 13. 24 Vokinger/Mühlematter, Re-Identifikation von Gerichtsurteilen durch „Linkage“ von Daten(banken), Jusletter 2. September 2019, S. 16. 19

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4. Digitale Annotationsumgebung Die Annotation der zu anonymisierenden Textstellen in den Urteilen wird unter Einhaltung strengster Datenschutzbedingungen von studentischen Hilfskräften durchgeführt. Zugriff und Annotation erfolgt über das Webbrowser-basierte Interface „brat rapid annotation tool“25, wobei Browser und Server lokal auf vom Internet isolierten Rechnern in einem separaten Raum laufen. Um die Folgen eines möglichen Datenlecks zu begrenzen, stellt der lokale Server dabei jeder Hilfskraft nur diejenigen Daten zur Verfügung, die sie bearbeiten muss. Die vollen Textdaten sind auf einem verschlüsselten Laufwerk gespeichert, auf das nur der Server Zugriff hat. Die Hilfskräfte markieren im Web-Interface mit der Maus alle potentiell zu anonymisierenden Textstellen nach den Annotationsrichtlinien und annotieren, um welche Kategorie zu anonymisierender Information es sich handelt (z. B. Name einer natürlichen Person). Das im Toolkit hinterlegte Tagset entspricht hierbei den in den Richtlinien ausgearbeiteten Kategorien. Zusätzlich erfassen die Hilfskräfte das jeweilige De-Anonymisierungs-Risiko (hoch, mittel, niedrig), das teils durch die Guidelines vorgegeben ist (Namen natürlicher Personen tragen immer ein hohes Risiko) und teils eine subjektive Einschätzung darstellt (insbesondere bei sonstigen identifizierenden Merkmalen). Daneben können die Annotator:innen vermerken, ob die annotierte Stelle zum Verständnis der Entscheidung notwendig ist und somit bei der Anonymisierung neben der Merkmalskategorie auch die Merkmalsausprägung in geeignet abstrahierter Form (z. B. Zeuge A, Wohnort der Beklagten) erhalten bleiben sollte. 5. Inter-Annotator-Agreement Da zu Projektbeginn unklar war, (a) wie schwierig das Auffinden aller zu anonymisierenden Stellen ist, (b) wie konsistent Annotator:innen in ihren Entscheidungen sind und (c) wie gut sie untereinander übereinstimmen, wurde zunächst jedes Urteil von fünf Hilfskräften unabhängig voneinander annotiert. Gängige Maßzahlen zur Evaluation der Übereinstimmung, des sogenannten InterAnnotator-Agreements, sind Krippendorff 3 und Cohen *. Diese Maße können hier allerdings nicht angewandt werden, da es sich nicht um eine einfache Klassifikation vorgegebener Objekte handelt. Die Anzahl der zu annotierenden Textstellen ist, anders als bei klassischen Anwendungen wie der Zuweisung von z. B. einer Wortart zu jedem einzelnen Wort, nicht von vornherein bekannt. Stattdessen evaluieren wir jede:n Annotator:in A durch einen Vergleich mit dem finalen adjudizierten Goldstandard (siehe Abschnitt II.6. unten). Dazu verwenden wir die in der Computerlinguistik üblichen gerichteten Evaluationsmaße Precision (Welcher Anteil der von A identifizierten Textstellen ist korrekt?) und – wichtiger – Recall (Welcher Anteil aller zu

25

http://brat.nlplab.org.

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identifizierenden Textstellen im Goldstandard wurde von A gefunden?), sowie dem harmonischen Mittel von Precision und Recall (F-Score).26 Bei der quantitativen Auswertung zeigt sich, dass erhebliche Performance-Unterschiede zwischen den Annotator:innen bestehen. Ebenfalls zeigt sich, dass Annotator:innen eine typische Lernkurve aufweisen, d. h. dass ihre Performance mit der Zeit schnell ansteigt und bald ein für jede:n Annotator:in spezifisches Plateau erreicht, vgl. Abbildung 1.

Abbildung 1: Recall unterschiedlicher Annotator:innen über die Zeit (jeder Datenpunkt entspricht einem Urteil). Ann-1 & Ann-2 zeigen die erwünschte Lernkurve (Recall zum Ende knapp 100 %); Ann-3 zeigt kaum Veränderung, doch ein von vornherein relativ hohes Niveau (Recall über 90 %); Ann-4 zeigt eine typische Lernkurve, die jedoch auf niedrigem Niveau abflacht (Recall bei ca. 80 %).

Erfreulicherweise bestehen die meisten Meinungsverschiedenheiten in den weniger risikobehafteten bzw. – wie zu erwarten – weniger genau spezifizierten Kategorien, d. h. insbesondere bei sonstigen identifizierenden Merkmalen (von Adressen, Personen, Fahrzeugen, …) und bei der subjektiven Einschätzung des zugehörigen Risikoniveaus. Bei den extrem risikoreichen Kategorien liegt der Recall typischerweise für alle Annotator:innen bei fast 100 %, vgl. Abbildung 2. Aufgrund dieser Evaluationsergebnisse und einer mathematischen Modellierung der Vollständigkeit des adjudizierten Goldstandards (vgl. Abschnitt II.7.) wurde dazu übergegangen, jedes Dokument mindestens vierfach zu annotieren.

26 Paarweise Vergleiche von Annotator:innen A und B sind zwar ebenfalls möglich (hier wird z. B. B anstelle des Goldstandards eingesetzt), der direkte Vergleich mit dem Goldstandard ist jedoch sinnvoller.

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Abbildung 2: Recall unterschiedlicher Annotator:innen pro annotiertem Urteil für die hochriskanten Kategorien. Median und unteres Quartil der hier dargestellten Boxplots liegen jeweils auf 100 %, einzelne Ausreißer sind als Punkte dargestellt.

6. Adjudizierter Goldstandard Die voneinander unabhängigen Annotationen werden schließlich für jedes Urteil automatisch zu einem einzelnen Datensatz verbunden. Bei diesem Prozess werden kleinere und offensichtlich zu korrigierende Unstimmigkeiten – bspw. Abweichungen unterhalb der Token-Ebene, die nur einzelne Zeichen umfassen (vergessene Buchstaben, zusätzlich markierte Interpunktion) – automatisch aufgelöst. Das Resultat ist ein Datensatz, der trotzdem noch konfligierende Annotationen enthält, insbesondere auf Grund von Flüchtigkeitsfehlern sowie von Meinungsverschiedenheiten darüber, ob und aus welchem Grund (Kategorie) eine Stelle annotiert und welches Risiko ihr zugewiesen werden muss. Um die Abweichungen aufzulösen, folgt auf den Annotationsprozess daher ein Adjudikationsprozess. Die Adjudikation hat das Ziel, sich ggf. widersprechende Annotationen aufzulösen, um ein einheitliches Annotationsergebnis zu erzeugen und sicherzustellen, dass zu annotierende Textstellen nicht übersehen werden. Hierbei erhält ein:e Adjudikator:in den kompletten Datensatz mit den Annotationen aller Annotator:innen und bekommt die Aufgabe, die konfligierenden Stellen aufzulösen – sich also jeweils für eine finale Annotation zu entscheiden. Das Ergebnis ist eine konfliktfreie Annotation, die alle nach unseren Richtlinien zu annotierenden Stellen im Urteil enthält und die wir als Goldstandard bezeichnen. Um sicherzustellen, dass die bei der Adjudikation des Goldstandards getroffenen Entscheidungen nicht ebenfalls subjektiv und fehlerbehaftet sind, wurde jedes Urteil mehrfach, d. h. von mindestens zwei Adjudikator:innen adjudiziert. In den wenigen Fällen, in denen die beiden adjudizierten Urteile in wesentlichen Punkten voneinander abwichen, wurden in einer dritten Runde die übrigen Konfliktfälle durch Diskussion unter den Adjudikator:innen aufgelöst. Der auf diese Weise adjudizierte Goldstandard umfasst insgesamt 572 Urteile (ohne Nahduplikate).

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7. Statistische Abschätzung des Recalls Die vierfache Annotation der Urteile ist in erster Linie eine Vorsichtsmaßnahme, um sicherzustellen, dass alle zu annotierenden Textstellen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefunden werden. Dennoch bleibt natürlich die Frage bestehen, ob weitere Annotator:innen nicht doch noch mehr sensible Textstellen finden würden. Wir zeigen im Folgenden anhand eines einfachen statistischen Modells für die Anzahl der verbleibenden False Negatives (Textstellen, die fälschlicherweise nicht markiert wurden) im Goldstandard,27 dass vier Annotator:innen für unser Korpus im Umfang von ca. 1 Mio. Token Fließtext ausreichen. Das Modell basiert auf der Annahme, dass alle Annotator:innen zufällig und unabhängig voneinander manche zu annotierenden Textstellen mit Ausfallwahrscheinlichkeit q übersehen.28 Das Modell trifft zudem die vereinfachende Annahme, dass alle Textstellen gleich schwierig zu erkennen sind; es geht also insgesamt von reinen Flüchtigkeitsfehlern der Annotator:innen aus. Aus diesen Modellannahmen folgt, dass die Anzahl der Annotator:innen N, die benötigt wird, um eine gegebene Textstelle zum ersten Mal zu finden, geometrisch verteilt ist mit Erfolgswahrscheinlichkeitsparameter p ¼ 1 @ q. Die Anzahl I k der Textstellen, für die N ¼ k gilt (die also bei der k-ten Annotation zum ersten Mal gefunden werden), ist für gegebenes k ¼ 1; 2; 3; . . . demnach binomial verteilt mit Parametern n0 und pqk@1 , wobei n0 die tatsächliche (unbekannte) Gesamtanzahl der zu anonymisierenden Stellen ist: I k ' Binðn0 ; pqk@1 Þ Daher gilt für den Erwartungswert von I k E½I k A ¼ n0 pqk@1 ; d. h. der Logarithmus des Erwartungswerts von I k ist eine lineare Funktion in k: logðE½I k AÞ ¼ ½logðn0 Þ þ logðpÞ @ logðqÞA þ ½logðqÞA ? k Anhand dieser Gleichung können die Parameter des Modells aus den empirischen Daten geschätzt werden. Für die vorliegenden Daten liefert die Schätzung, dass ein:e fünfte:r Annotator:in im Schnitt weniger als eine weitere zu anonymisierende Stelle finden würde (in ca. 1 Million Token Text): ^ ½I 5 A & 0,48 E Wir schließen hieraus, dass eine vierfache Annotation der Daten die untere Grenze für einen nahezu perfekten Goldstandard darstellt. 27

Heinrich/Evert/Dykes, Annotator agreement in the anonymization of court decisions, Proceedings of Corpus Linguistics Conference, 2021, abrufbar unter: https://corpora.linguistik. uni-erlangen.de/data/cl2021_377_heinrich.html. 28 q ¼ :02 bedeutet bspw., dass jede:r Annotator:in 2 % aller Textstellen übersieht. Das Modell vernachlässigt damit, dass unterschiedliche Annotator:innen unterschiedliche Performance aufweisen.

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8. Pseudonymisierung Nach der Annotation und Adjudikation der Urteile, wurde eine realistische Pseudonymisierung durch Einsetzen von Phantasienamen und weiteren frei erfundenen Angaben umgesetzt. Die Pseudonymisierung der Urteile dient der Erstellung eines realistischen Goldstandards, der nicht mehr dem Datenschutz unterliegt. Dieser Datensatz kann daher (a) für korpuslinguistische Untersuchungen mit Hilfe von Standardwerkzeugen und webbasierten Plattformen, sowie (b) als Trainingskorpus für maschinelle Lernverfahren und Deep-Learning-Ansätze auf leistungsfähigen Servern außerhalb des geschützten Bereichs genutzt werden. Die realistische Pseudonymisierung ist daher eine entscheidende Voraussetzung für die nachfolgenden Experimente. In einem ersten Schritt wurden dazu Pseudonymisierungsrichtlinien erstellt und Listen mit Pseudonymen für die jeweiligen annotierten Merkmalskategorien erarbeitet. Höchstes Ziel ist es dabei, die annotierten und damit sensiblen Textstellen so zu pseudonymisieren, dass eine De-Anonymisierung nahezu ausgeschlossen ist. Gleichzeitig sollen jedoch auch die typischen Formulierungen sowie die sprachliche Realisierung sensibler Merkmale erhalten bleiben. Dies ist Voraussetzung dafür, dass das Training auf den pseudonymisierten Daten ähnliche Ergebnisse liefert wie auf den ursprünglichen Urteilen.29 Um die manuelle Pseudonymisierung der Daten effizient umsetzen zu können, wurde ein webbasiertes Toolkit entwickelt, mit dem die Annotator:innen die Textstellen halbautomatisch ersetzen können. Das Backend des Toolkits, welches in Python/Flask implementiert wurde, erzeugt – teils anhand der o.g. vorgefertigten Listen von Pseudonymen – automatische Vorschläge für die annotierten Stellen. Dabei ist es offensichtlich für manche Kategorien einfacher, sinnvolle Vorschläge zu generieren (bspw. Datumsangaben), während für andere Kategorien (insbesondere die identifizierenden Merkmale) keine automatischen Vorschläge geliefert werden können. In der Mitte zwischen diesen Schwierigkeitsstufen finden sich Namen und Adressen, denen bei der Implementierung besondere Aufmerksamkeit zukam: für Namen wurde ein Algorithmus implementiert, der ähnlich klingende Pseudonyme generiert; bei den Adressen wurde darauf geachtet, dass Städte durch andere Städte mit vergleichbarer Größe ersetzt werden. Das Frontend besteht größtenteils aus HTML-Templates und einer einfachen Übersichtstabelle für jedes Urteil. Zusätzlich wurden mittels CSS und JavaScript entsprechende Farbkodierungen sowie Pop-Up-Hilfen umgesetzt. Die Nutzereingaben werden in einer lokalen SQLite-Datenbank zwischengespeichert.

29 Würde z. B. bei der Pseudonymisierung einfach jeder Personenname durch Max Mustermann ersetzt, so könnte ein maschinelles Lernverfahren leicht 100 % Precision und Recall auf den pseudonymisierten Daten erzielen, indem es nur Max Mustermann als Person erkennt, würde auf den ursprünglichen Texten aber sehr schlechte Ergebnisse liefern.

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Die Entwicklung des Toolkits erfolgte teils parallel zur tatsächlichen Pseudonymisierung, so dass Rückmeldungen bzgl. der Bedürfnisse der Annotator:innen direkt in die Entwicklung eingeflossen sind. Nach Ablauf unseres Projekts wird der Quellcode unter einer Open-Source-Lizenz veröffentlicht werden.

III. Automatische Verfahren zur Anonymisierung 1. Korpuslinguistische Analyse des Goldstandards Nach der manuellen Pseudonymisierung des Goldstandards konnten die bereits vollständig pseudonymisierten und abschließend geprüften Urteile quantitativ ausgewertet und mit korpuslinguistischen Methoden untersucht werden. Insgesamt handelt es sich dabei um eine Teilmenge von 209 Urteilen mit einem Gesamtumfang von 352.118 Token. Der Begriff „Goldstandard“ bezieht sich im Folgenden stets auf diesen vollständig pseudonymisierten Goldstandard. Der Goldstandard wurde mit Hilfe der IMS Open Corpus Workbench (CWB)30 zur linguistischen Auswertung indexiert und in die webbasierte Analyseplattform CQPweb31 eingestellt, die eine interaktive Suche und quantitative Auswertung der annotierten Urteile ermöglicht. Abbildung 3 zeigt die Darstellung eines annotierten und pseudonymisierten Urteils32 in CQPweb. Alle von den Annotator:innen markierten Textstellen sind farblich hervorgehoben: rot steht für Textstellen mit hohem, orange für solche mit mittlerem und gelb für solche mit niedrigem De-Anonymisierungsrisiko. Es ist wenig überraschend, dass sich potentiell identifizierende Textstellen im Rubrum des Urteils häufen, das mit einem blauen Balken markiert ist. Aber auch im folgenden Text (hier: Tenor) finden sich kritische Informationen mit hohem oder mittlerem Risiko. Im unteren Teil der Abbildung ist ein sonstiges identifizierendes Merkmal hervorgehoben (Kellerabteil Nr. 44), das nach Ansicht der Annotator:innen ein mittleres Risiko trägt, da es in Kombination mit weiteren Merkmalen zur Identifikation der fraglichen Wohnung beitragen könnte. Hier wird auch unsere Strategie deutlich, möglichst kurze Textstellen zu annotieren (hier also nur die Zahl 44), wodurch das Urteil auch bei einer Anonymisierung durch einfache Schwärzung gut lesbar bleibt.

30 Evert/Hardie, Twenty-first century corpus workbench: Updating a query architecture for the new millennium, Proceedings of the Corpus Linguistics, 2011. 31 Hardie, International Journal of Corpus Linguistics 2012, 380. 32 D. h. alle Angaben in den markierten Textstellen sind frei erfunden (vgl. Abschnitt II.8.).

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Abbildung 3: Darstellung eines annotierten und pseudonymisierten Urteils aus dem Goldstandard in der Korpusanalyseplattform CQPweb. Ein sonstiges identifizierendes Merkmal mit mittlerem De-Anonymisierungsrisiko bzgl. einer Ortsangabe (address-idx) ist hervorgehoben. Das Rubrum ist durch einen blauen Balken am linken Rand markiert.

Die Länge der einzelnen Urteilstexte schwankt erheblich um den Medianwert von 1.459 Token (vgl. Abbildung 4) und damit natürlich auch die Anzahl zu anonymisierender Textstellen. Daher setzen wir für die folgenden quantitativen Auswertungen ein fiktives Urteil einer durchschnittlichen Länge von 1.500 Token an. Tabelle 2 zeigt die mittlere Anzahl zu anonymisierender Textstellen in einem solchen Durchschnittsurteil, aufgeschlüsselt nach Informationskategorie und dem von den Annotator:innen zugewiesenen Risikoniveau. Insgesamt finden sich im Mittel 12,35 Textstellen mit hohem Risiko (Summe der ersten Spalte), 2,16 Stellen mit mittlerem Risiko und 31,01 Stellen mit niedrigem Risiko.

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Abbildung 4: Längenverteilung der Urteile im pseudonymisierten Goldstandard. Der Medianwert von 1.459 Token ist durch eine blaue Linie markiert. Tabelle 2 Erwartete Anzahl zu anonymisierender Textstellen in einem Urteil durchschnittlicher Länge (1.500 Token), aufgeteilt nach Informationskategorie und Risikoniveau hoch

mittel

niedrig

Name: natürliche Person Name: juristische Person Name: juristische Funktionsträger Adresse

4.95 0.13 2.47 4.80

0.00 0.77 0.00 0.64

0.00 0.02 0.79 1.70

Datum: Fakten Datum: Prozessablauf

0.00 0.00

0.02 0.00

10.99 7.15

Aktenzeichen usw. Gerichtsort

0.00 0.00

0.03 0.00

2.79 3.63

Merkmal: natürliche Person Merkmal: Ortsangabe

0.00 0.00

0.06 0.64

0.35 3.58

Tabelle 3 Durchschnittliche Anzahl zu anonymisierender Textstellen im Rubrum eines Urteils, aufgeteilt nach Informationskategorie und Risikoniveau Name: natürliche Person Name: juristische Person Name: juristische Funktionsträger Adresse

hoch

mittel

niedrig

2.60 0.04 2.22 4.10

0.00 0.31 0.00 0.22

0.00 0.00 0.44 0.00

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Tabelle 3 (Fortsetzung) hoch

mittel

niedrig

Datum: Fakten Datum: Prozessablauf

0.00 0.00

0.00 0.00

0.00 1.47

Aktenzeichen usw. Gerichtsort

0.00 0.00

0.03 0.00

2.90 2.00

Merkmal: natürliche Person Merkmal: Ortsangabe

0.00 0.00

0.00 0.00

0.00 0.00

Grundsätzlich können die annotierten Textstellen in vier Gruppen eingeteilt werden: 1. Namen natürlicher und juristischer Personen sowie Adressangaben, die überwiegend ein hohes De-Anonymisierungsrisiko bergen und besonders zuverlässig anonymisiert werden müssen; 2. Datumsangaben, die leicht automatisch identifiziert werden können, aber nach der bisherigen Einschätzung der Annotator:innen weitgehend unkritisch sind; 3. Formalia wie Aktenzeichen, Gerichtsort usw., die ebenfalls als unkritisch eingeschätzt werden; sowie 4. sonstige potentiell identifizierender Merkmale, die zwar oft unkritisch sind, aber in manchen Fällen zusammen mit anderen Informationen zur De-Anonymisierung beitragen können und daher ein mittleres Risiko bergen. Für unsere Machbarkeitsstudie zu einer vollautomatischen Anonymisierung der Urteile sind damit die Gruppen 1 und 4 von besonderer Bedeutung. Bei Textstellen der Gruppe 1 muss ein sehr hoher Recall von deutlich über 99 % erzielt werden, da schon eine einzige „übersehene“ Textstelle eine Identifizierung ermöglichen kann. Textstellen der Gruppe 4 sind besonders schwierig zu erkennen, dürfen für eine großflächige Veröffentlichung automatisch anonymisierter Urteile aber nicht ignoriert werden, da sonst in zahlreichen Fällen eine De-Anonymisierung durch Kombination mehrerer solcher Daten gelingen könnte. Insbesondere stehen die automatischen Verfahren vor der Herausforderung, die relativ wenigen Merkmale auf mittlerem Risikoniveau mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Textstellen der Gruppe 1 finden sich wie bereits angesprochen häufig im Rubrum der Urteile. Tabelle 3 zeigt daher die durchschnittliche Anzahl annotierter Textstellen im Rubrum. Ein Vergleich mit Tabelle 2 lässt erkennen, dass ein Großteil der Adressangaben mit hohem Risiko im Rubrum steht (4,10 von 4,80 Textstellen), sowie mehr als die Hälfte der Namen natürlicher Personen (2,60 von 4,95 Textstellen). Umgekehrt wird aber auch deutlich, dass im restlichen Urteilstext, insbesondere im Tatbestand und den Entscheidungsgründen immer noch eine erhebliche Anzahl kritischer Textstellen zu erwarten sind (z. B. 2,35 Namen natürlicher Personen) und dass sonstige identifizierende Merkmale der Gruppe 4 ausschließlich dort vorkommen.

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2. Explorative Korpusanalyse Im Rahmen einer explorativen Studie wurden mit Hilfe von sogenannten Corpus Queries (d. h. in einer formalen Notation ausgedrückten Suchanfragen) in CQPweb die wichtigsten Kategorien zu anonymisierender Textstellen untersucht. Im Vordergrund standen dabei folgende Fragen: (A) Wie divers fällt die sprachliche Realisierung solcher Textstellen aus? (B) Gibt es klare Indikatoren, anhand derer eine automatische Erkennung der Textstellen plausibel scheint? (C) Ist sogar eine regelbasierte Erkennung möglich? Eine positive Antwort auf Frage C stellen Datumsangaben dar, die zudem als weitgehend unkritisch eingeschätzt wurden. Von insgesamt 4.268 annotierten Datumsangaben im pseudonymisierten Goldstandard haben 2.805 die Form 01. 07. 2021 und weitere 463 die Form Juli 2021; zusätzlich bestehen 408 lediglich aus einer Jahreszahl (2021) und 175 lediglich aus einem Monatsnamen (Juli). Die ersten beiden Typen machen zusammen 76,5 % aller Datumsangaben aus und lassen sich mit einer einfachen Corpus Query, also regelbasiert, mit hoher Präzision (97,9 %) erkennen. Bei Adressangaben, die oft ein hohes Risiko tragen, lässt sich zumindest ein wesentlicher Teil regelbasiert erkennen. Im Goldstandard finden sich insgesamt 1.675 vollständige Adressangaben (d. h. nicht lediglich identifizierende Merkmale), darunter 1.276 mit mittlerem oder hohem Risiko. Dabei handelt es sich größtenteils um Adressen der Form Saarbrücker Straße 46, 83259 Schleching Jacques-Offenbach-Straße 31 in 92548 Schwarzach bei Nabburg die sich mit dem abstrakten Muster [Prep] [A] [N] N Zahl ( , j in) Zahl N [Prep [A] N] auf Basis einer automatischen Wortartenannotation beschreiben lassen, wobei eckige Klammern für optionale Elemente stehen, Prep für eine Präposition, A für ein Adjektiv und N für ein Nomen (Substantiv oder Eigenname). Eine etwas verfeinerte Corpus Query33 findet 973 der kritischen Adressangaben (was einem Recall von 76,3 % entspricht), sowie 182 weitere mit niedrigem Risiko. Dabei treten nur 15 False Positives auf, so dass die Precision bei nahezu 99 % liegt. Am schwierigsten zu erkennen sind die kritischen Kategorien der Namen juristischer und insbesondere natürlicher Personen. Im pseudonymisierten Goldstandard finden sich 216 Textstellen mit Namen juristischer Personen. Diese enthalten oft relativ eindeutige Indikatoren wie Firma, Fa., GmbH, Ges. mbH, AG, KG, GbR, e.V., …gesellschaft oder …genossenschaft. Insgesamt können so 143 von 216 Textstellen (= 66,2 %) identifiziert werden; ca. 20 % False Positives gehen v. a. auf AG für Amts33 Insbesondere werden dabei einige False Positives wie fristlose Kündigung §§ 543, 569 BGB oder Nr. 11, 713 ZPO durch heuristische Filters ausgeschlossen.

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gericht und KG für Kellergeschoss zurück. Damit liegt ein plausibler erster Ansatz für die Erkennung juristischer Personen vor, so dass Frage B vorsichtig positiv bewertet werden kann. Allerdings stellt sich in einem zweiten Schritt noch das Problem, die volle Ausdehnung der Textstellen korrekt zu erkennen (also z. B. Missionswerk Bruckberg e.V. und nicht nur den Indikator e.V.). Namen natürlicher Personen werden im Goldstandard insgesamt 1.162 Mal genannt, davon 545 im Rubrum und 132 in der Rechtsbehelfsbelehrung (dort die zeichnenden Urkundsbeamten). Diese 677 Namen dürften weitgehend in den bereits elektronisch vorliegenden Verfahrensmetadaten verzeichnet sein und können dann relativ leicht durch einen direkten Textabgleich identifiziert werden.34 Unter den 485 Namensnennungen im Haupttext des Urteils finden sich aber zahlreiche Zeug:innen, Sachverständige und Dritte am Sachverhalte beteiligte Personen, die nicht in den Metadaten genannt werden. Eine konservative Abschätzung ermöglicht uns dabei eine Liste von Namensbestandteilen (z. B. Diethelm, Juliette, Winkelmann), die im gesamten Korpus nur ein einziges Mal vorkommen (sog. Hapax Legomena). Immerhin 86 Namensnennungen im Haupttext (= 17,5 % von 485 Textstellen) enthalten einen solchen Hapax; daraus folgt, dass der entsprechende Name nicht im Rubrum genannt wird und damit mutmaßlich auch nicht in den Metadaten verzeichnet ist. Eine manuelle Überprüfung der Konkordanz bestätigt, dass es sich meist um Zeug:innen und Sachverständige, seltener um andere am Sachverhalt beteiligte Personen handelt. Wir gehen davon aus, dass die Erkennung dieser Personen in den Urteilen wesentlich verbessert werden kann, wenn für die automatische Anonymisierung auch die zugehörigen Schriftsätze herangezogen werden, in denen die jeweiligen Personen mutmaßlich oft bereits namentlich genannt werden und damit kein Hapax mehr sind (vgl. Abschnitt V.). 3. Evaluationsmaße Zur Evaluation der automatischen Anonymisierung wurden zwei in der Computerlinguistik übliche Methoden angewendet: Zum einen eine strenge Evaluation auf Ebene der Textstellen, zum anderen eine weniger strenge Evaluation auf Tokenebene. Bei der strengen Evaluation (Tabelle 4) muss eine zu anonymisierende Textstelle exakt gefunden werden, d. h. mit ihrem genauen Anfang und Ende. Wird auch nur ein Token zu viel oder zu wenig erkannt, wird die Textstelle nicht als korrekt gewertet. Bei der Evaluation auf Tokenebene (Tabelle 5) wird dagegen für jedes Token eines Textes überprüft, ob es korrekt als zu anonymisierende Information erkannt wurde oder nicht. Anschaulich dargestellt wird hier also gemessen, welcher Anteil des gesamten Textmaterials korrekt anonymisiert ist. Diese weniger strenge Evaluationsmethode liefert erheblich bessere Werte (siehe Tabelle 5), ist aber für die Zwecke 34 Vgl. hierzu Dévaud/Kummer, in: Hürlimann/Kettiger (Hrsg.), Anonymisierung von Urteilen, 2021, S. 61 ff. Schwierigkeiten stellen sich hier durch Schreibfehler (Maier statt Meier) und Familiennamen wie Richter.

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des Projekts nicht realistisch: so wird eine relativ leicht zu erkennende Adressangabe wie Bismarckstr. 6, 91054 Erlangen als 5 korrekte Token gewertet, während ein einzelnes nicht erkanntes Token z. B. den Nachnamen eines Zeugen preisgeben könnte. Deshalb sind für uns primär die strengen Evaluationsergebnisse in Tabelle 4 ausschlaggebend. Wir verwenden die bei Klassifikationsaufgaben üblichen Evaluationsmaße Precision und Recall (vgl. auch Abschnitt II.5.). Der Recall quantifiziert die „Trefferquote“ des Systems, d. h. den Anteil der zu anonymisierenden Textstellen im Goldstandard, der vom automatischen System gefunden wurde. Ein hoher Recall bedeutet, dass das System den Großteil der zu anonymisierenden Textstellen gefunden hat, ein niedriger Recall bedeutet, dass viele relevante Textstellen vom System übersehen werden. Die Precision quantifiziert die „Genauigkeit“ des Systems, d. h. welcher Anteil der vom System gefundenen Textstellen tatsächlich zu anonymisieren ist. Eine hohe Precision bedeutet, dass ein Großteil dieser Textstellen zurecht vom System vorgeschlagen wurde, eine niedrige Precision bedeutet, dass das System viele irrelevante Textstellen zur Anonymisierung auswählt (und damit bspw. zu viele Textstellen geschwärzt werden). Recall und Precision hängen voneinander ab: Eine hohe Precision wird in der Regel durch niedrigeren Recall erkauft und umgekehrt. In unserem Fall ist v. a. ein hoher Recall wichtig. Das System soll idealerweise alle zu anonymisierenden Textstellen finden. Dafür können niedrigere Precision-Werte, d. h. unnötigerweise zur Anonymisierung vorgeschlagene Textstellen, in Kauf genommen werden. Der sogenannte F1-Wert kombiniert Precision und Recall in ein globales Maß (nämlich das harmonische Mittel aus Precision und Recall). 4. Computerlinguistische Standardwerkzeuge Da Adressangaben sowie Namen von natürlichen und juristischen Personen einen großen Teil der zu anonymisierenden Textstellen mit hohem (oder mittlerem) Risiko ausmachen (siehe Tabelle 2), erprobten wir zunächst die Verwendung von allgemeinen „Off-the-shelf“-Modellen zur Eigennamenerkennung (Named Entity Recognition, NER) – ein Ansatz, auf dem bspw. auch das Anonymisierungswerkzeug von Glaser/Schamberger/Matthes35 basiert. Allerdings entspricht nur eine Teilmenge der zu anonymisierenden Textstellen den von solchen Modellen annotierten Named Entities. Ein weiteres Problem ist, dass Off-the-shelf-Modelle die Grenzen der annotierten Textstellen oft enger fassen als unsere Annotationsrichtlinien. In der Folge erzielt selbst das ner-german-large-Modell von Flair36, das aktuell zu den besten verfügbaren NER-Modellen für deutsche Texte gehört, nur enttäuschende Ergebnisse auf den pseudonymisierten Mietrechturteilen (erste Zeile in Tabellen 4 35

Glaser/Schamberger/Matthes, Anonymization of German Legal Court Rulings, Eighteenth International Conference for Artificial Intelligence and Law, 2021, S. 205 ff. 36 Schweter/Akbik, FLERT: Document-Level Features for Named Entity Recognition, 2021, abrufbar unter: https://github.com/flairNLP/flair.

Manuelle und automatische Anonymisierung von Urteilen

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und 5): Nur 12 % der zu anonymisierenden Textstellen werden vollständig korrekt erkannt. Auf Tokenebene sind die Ergebnisse zwar etwas besser (27 % der relevanten Tokens werden erkannt), aber immer noch völlig unzureichend. Off-the-shelf-NER-Modelle sind in der Regel auf annotierten Zeitungstexten trainiert, was möglicherweise ihre Anwendbarkeit auf juristische Texte einschränkt. Eine Alternative sind NER-Systeme, die speziell auf juristischen Texten trainiert wurden. Für Flair existiert mit ner-german-legal ein solches Modell, das auf dem Goldstandard von Leitner et al.37 trainiert wurde. Das auf juristischen Texten trainierte Modell erzielt zwar insbesondere auf der Tokenebene einen deutlich höheren Recall als das Standardmodell (36 % statt 27 %), bewegt sich aber trotzdem noch auf völlig unzureichendem Niveau. Auf der Ebene der Textstellen leiden beide Modelle darunter, dass die Grenzen der erkannten Named Entities nicht genau mit den Grenzen der zu anonymisierenden Textstellen übereinstimmen. 5. Speziell trainierte Modelle In neuerer Zeit sind einige computerlinguistische Publikationen erschienen, in denen maschinelle Lernverfahren, insbesondere auf Basis vortrainierter neuronaler Sprachmodelle, auch dann erfolgreich für komplexe Tagging-Aufgaben eingesetzt werden konnten, wenn für die Zielaufgabe nur relativ kleine Mengen an Trainingsdaten verfügbar waren. Angesichts dieser aktuellen Entwicklung und der sehr schwachen Ergebnisse von Standardwerkzeugen wurde beschlossen, bei unseren weiteren Experimenten maschinelle Lernverfahren direkt für die Anonymisierung zu trainieren, statt auf NER-Modelle und andere Standardwerkzeuge zu setzen. In der Folge nutzten wir daher die pseudonymisierten Urteile, um eigene Modelle zur Identifikation der zu anonymisierenden Textstellen zu trainieren. Dabei evaluierten wir Werkzeuge, die auf traditionellem maschinellem Lernen (OpenNLP) und auf Deep Learning (Sequenztagger von Riedl/Padó)38 aufbauen. OpenNLP setzt auf Feature Engineering, d. h. es verwendet bestimmte, konfigurierbare Merkmale des Eingabetexts, anhand derer gelernt werden soll, ob ein Token anonymisiert werden soll. Beispiele für solche Merkmale sind etwa, welche Tokens unmittelbar vor oder nach dem betreffenden Token stehen, welche Tokens in der näheren Umgebung vorkommen, oder ob sich das Token in der Nähe einer Satzgrenze befindet. Die aus einem Eingabetext extrahierten Merkmale fließen in ein maschinelles Lernverfahren (Conditional Random Field), das auf dieser Basis die Anonymisierungsentscheidung für jedes Token trifft. Das eingesetzte Lernverfahren trifft die Anonymisierungsentscheidung dabei nicht für jedes Token unabhängig, sondern kann jeweils auf die 37 Leitner/Rehm/Schneider/Moreno, in: Acosta/Cudré-Mauroux/Maleshkova et al. (Hrsg.), Semantic Systems. The Power of AI and Knowledge Graphs – 15th International Conference, SEMANTiCS, 2019, S. 272 – 287. 38 Riedl/Padó, in: Gurevych/Miyao (Hrsg.): Proceedings of the 56th Annual Meeting of the Association for Computational Linguistics, Volume 2: Short Papers, 2019, S. 120 ff.

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komplette Eingabeinformation zugreifen und Abhängigkeiten zwischen den Entscheidungen modellieren. Während OpenNLP auf einer rein symbolischen Ebene operiert und keinerlei Wissen über die Bedeutung einzelner Wörter mitbringt, basiert der Sequenztagger von Riedl/Padó auf vortrainierten neuronalen Word Embeddings, die unter anderem Aspekte der Wortbedeutung kodieren. Bei diesen Word Embeddings, die auf sehr großen Textmengen trainiert werden, handelt es sich um Vektorrepräsentationen in hochdimensionalen Räumen, die distributionelle Ähnlichkeit zwischen Tokens fassen. D. h. Tokens, die in ähnlichen Kontexten verwendet werden, haben ähnliche Vektoren, während Tokens, die in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet werden, sehr unähnliche Vektoren haben. Um besser mit Tokens umgehen zu können, für die es keine vortrainierten Word Embeddings gibt, verwenden Riedl/ Padó zusätzlich Character Embeddings, d. h. Vektorrepräsentationen auf Buchstabenebene, aus denen Repräsentationen für unbekannte Tokens gebildet werden. Der Sequenztagger verwendet ein bidirektionales Long Short Term Memory (LSTM), um die Repräsentationen für die einzelnen Tokens zu kontextualisieren, d. h. die Vektorrepräsentation eines Tokens hängt davon ab, in welchem Kontext es steht. Die Anonymisierungsentscheidung wird dann auf Basis dieser Vektorrepräsentationen von einem Conditional Random Field getroffen. Tabelle 4 Evaluation der korrekten Erkennung von Textstellen (Testset: pseudonymisierte Urteile zum Mietrecht) alle Textstellen System Standard-NER (Flair) Legal-NER (Flair) OpenNLP Riedl & Padó

Recall nach Risiko

Precision

Recall

F1

hoch

mittel

niedrig

0.14 0.25 0.88 0.80

0.12 0.15 0.80 0.83

0.13 0.19 0.84 0.82

0.39 0.42 0.85 0.90

0.31 0.30 0.45 0.52

0.01 0.05 0.83 0.85

Tabelle 5 Evaluation auf Tokenebene (Testset: pseudonymisierte Urteile zum Mietrecht) alle Textstellen System Standard-NER (Flair) Legal-NER (Flair) OpenNLP Riedl & Padó

Recall nach Risiko

Precision

Recall

F1

hoch

mittel

niedrig

0.64 0.42 0.95 0.91

0.27 0.36 0.90 0.94

0.38 0.39 0.93 0.93

0.60 0.69 0.94 0.96

0.61 0.58 0.68 0.76

0.09 0.19 0.92 0.96

Zur Diskussion der Evaluationsergebnisse konzentrieren wir uns auf Tabelle 4 und den wichtigen Recall-Wert. Der Vergleich mit den NLP-Standardwerkzeugen zur Eigennamenerkennung (NER) zeigt, dass sich das Trainieren von maschinellen Lernverfahren direkt für die Anonymisierungsaufgabe auszahlt. Das klassische CRF (OpenNLP) erreicht bereits 80 % Recall, das neuere Deep-Learning-Verfahren

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(Riedl/Padó) sogar 83 %. Dieser höhere Recall wird allerdings durch Abstriche bei der Precision erkauft, die lediglich 80 % beträgt. Das CRF-Modell (OpenNLP) wählt hier eine andere Balance mit 88 % Precision, so dass beide Ansätze insgesamt einen ähnlichen F1-Score von 82 % bzw. 84 % erzielen. Da für die Zwecke des Projekts aber Recall eine wesentlich wichtigere Rolle spielt, ist das Deep-Learning-Modell vorzuziehen. Für die Interpretation der Precision-Werte kann auch Tabelle 5 herangezogen werden. Sie zeigt, dass z. B. bei einer vollautomatischen Anonymisierung durch das Deep-Learning-Modell nur etwa 9 % der bearbeiteten Token unnötigerweise anonymisiert wurden, was für viele Anwendungsszenarien durchaus vertretbar sein dürfte. Die Evaluation wurde hier für alle zu anonymisierenden Textstellen durchgeführt, unabhängig vom jeweiligen Risikoniveau. Insbesondere sonstige identifizierende Merkmale mit niedrigem De-Anonymisierungsrisiko stellen aber oft subjektive Entscheidungen dar, bei der auch menschliche Annotator:innen häufig nicht genau übereinstimmen. Berücksichtigt man nur Textstellen mit hohem Risikoniveau, so erreicht das Deep-Learning-Modell sogar 90 % Recall, was allerdings immer noch bedeutet, dass jede zehnte der gemäß Goldstandard unbedingt zu anonymisierenden Textstellen nicht vollständig korrekt erkannt wurde. Dieses vielversprechende Ergebnis ist ein guter Ausgangspunkt für weitere Optimierungen in der zweiten Projektphase. Der Sequenztagger von Riedl/Padó erzielte in der Evaluation die besten Ergebnisse, die eine vollautomatische Anonymisierung in den Bereich des Möglichen rücken. Allerdings sind dazu noch erhebliche Verbesserungen notwendig. Als besonders vielversprechend betrachten wir dabei die Möglichkeit, die bidirektionale LSTM-Architektur durch ein vortrainiertes neuronales Sprachmodell auszutauschen.

IV. Zusammenfassung Die Evaluation des aktuellen Softwareprototyps in Abschnitt III. zeigt, dass auf Basis vortrainierter neuronaler Sprachmodelle bereits sehr vielversprechende Ergebnisse erzielt werden können (vgl. Tabelle 5). Insbesondere der Recall von 94 – 96 % auf Tokenebene für Textstellen mit hohem De-Anonymisierungsrisiko lässt eine vollautomatische Anonymisierung durchaus im Bereich des Möglichen erscheinen. Allerdings sind dafür noch einige große Herausforderungen zu meistern: Besonders bei hohem Risiko muss der Recall auf deutlich über 99 % gesteigert werden, sodass Anonymisierungslücken mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können. Aus der computerlinguistischen Forschung und dem maschinellen Lernen ist seit Langem bekannt, dass diese letzten Prozentpunkte sehr schwer zu erreichen sind und oft einen Großteil des Entwicklungsaufwands automatischer Systeme ausmachen.

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Zugleich soll die Precision der Erkennung (derzeit 90 % bei Evaluation auf Tokenebene) erhöht werden, um eine vollautomatische Anonymisierung zu ermöglichen; ansonsten wäre eine manuelle Überprüfung der vom System vorgeschlagenen Textstellen erforderlich. Ziel ist hier, dass weniger als 5 % der Token irrtümlich geschwärzt werden, also eine Precision von 95 % auf Tokenebene. Während automatische Algorithmen für Eigennamen und Adressen bereits sehr gute Ergebnisse liefern, ist die Erkennung sonstiger potentiell identifizierender Merkmale erwartungsgemäß wesentlich schwieriger. Vor allem für die Merkmale mit mittlerem Risiko wird bisher nur ein Recall von bis zu 76 % erzielt. Für eine zuverlässige vollautomatische Anonymisierung der Urteile müssen auch hier RecallWerte von deutlich über 90 % angestrebt werden. Neben einem allgemeinen FineTuning der Lernverfahren auf Basis einer detaillierten Fehleranalyse erwarten wir insbesondere von der Nutzung der vollständigen Schriftsätze entscheidende Vorteile. Identifizierende Merkmale von Personen und Ortsangaben können nämlich daran erkannt – und von ähnlichen „harmlosen“ Informationen unterschieden – werden, dass sie in Schriftsätzen und Urteil wiederholt vorkommen. Zusätzlich zur zeitaufwändigen manuellen Annotation der Schriftsätze müssen die neuronalen Lernverfahren so weiterentwickelt werden, dass sie nicht jede Textstelle einzeln beurteilen, sondern mehrfache Vorkommen über die einzelnen Texte hinweg miteinander in Verbindung bringen können.

V. Ausblick Die bisherigen Experimente zeigen bereits einige erfreuliche Ergebnisse, insbesondere im Detektieren von Merkmalen mit hohem Risiko auf. Hingegen erhoffen wir uns noch Verbesserungen beim zuverlässigen Auffinden der sonstigen identifizierenden Merkmale. Dafür werden in der verbleibenden Projektphase die dem Urteil zugehörigen und vorangegangenen Schriftsätze (siehe I.2. mit Tabelle 1) einbezogen. Dem liegt ein hermeneutischer Ansatz39 zu Grunde, dass die Gerichte die sonstigen identifizierenden Merkmale im Urteil vielfach aus den Schriftsätzen übernehmen. Wird nun über die Schriftsätze hinweg mehrfach über solche Merkmale gestritten, so könnte sich daraus einerseits eine erhöhte Chance ergeben, dieses Merkmal auch im Urteil zu finden und zu anonymisieren. Andererseits könnte ein ausgiebiger Streit über bestimmte Merkmale auch darauf hindeuten, dass es sich um entscheidungserhebliche Tatsachen handelt, die im Hinblick auf die Verständlichkeit der Entscheidung erhaltungsbedürftig sind. Des Weiteren soll untersucht werden, ob eine zuverlässige Erkennung spezifischer Informationskategorien (z. B. natürliche Person, juristische Person, identifizierendes Merkmal einer Ortsangabe) sowie eine automatische Klassifikation des Risikoniveaus möglich ist. Auf dieser Basis könnte dann ein vollautomatisches System 39

Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (102, 105, 109).

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den Nutzer:innen Einstellmöglichkeiten bieten, um je nach Anwendungsszenario verschiedene Kategorien und Risikostufen zu anonymisieren (z. B. eine Schwärzung auch von Textstellen mit niedrigem Risiko bei besonders sensiblen Urteilen). Schließlich sind für die letzten Projektmonate Experimente zur Machbarkeit einer automatischen informationserhaltenden Pseudonymisierung vorgesehen. Dafür ist insbesondere eine Koreferenzerkennung notwendig, die alle Nennungen der gleichen Person oder des gleichen Ortes miteinander verbindet. Die oben skizzierte Erweiterung der neuronalen Lernverfahren unter Nutzung der vollständigen Schriftsätze bietet hierfür ebenfalls einen vielversprechenden Ausgangspunkt.

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen Von Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier

I. Einleitung Die Digitalisierung hat längst auch die Tätigkeit der Juristen erreicht, so dass wir heute über die Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung diskutieren. Dabei kann sowohl die Gefahr bestehen, dass unterschätzt wird, in welchem Maß die Digitalisierung die Rechtspraxis1 aber auch die Rechtswissenschaft2 verändern wird, als auch, dass zu viele im Computer ablaufende Prozesse schon für künstliche Intelligenz (KI) gehalten und dadurch die Möglichkeiten von Computeranwendungen überschätzt werden. So soll am Anfang Amara’s Law in Erinnerung gerufen werden, um dann nach einigen Vorbemerkungen ein paar Gedanken zur Einordnung des Nutzens von KI für Juristen vorzustellen, insbesondere unter dem besonderen Aspekt der Digitalisierung von Abläufen in der Ziviljustiz: „We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run.“3 Aus wissenschaftstheoretischer Sicht4 ist es wichtig vorab zu betonen, dass man sich bei der Digitalisierung der (bzw. bei der digitalen Transformation von) Aufgaben stets um Querschnittstechnologien bemühen muss. Das heißt z. B. für die Justiz, es ist 1

Siehe z. B. Beiträge, die diesen Einfluss der Digitalisierung auf die Rechtspraxis nicht unterschätzen: Nink, Justiz und Algorithmen, 2021; Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal-Tech, 2021; Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020; Kaulartz/Braegelmann (Hrsg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020; Hartung/ Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018; Wagner, Legal-Tech und Legal Robots, 2018. 2 Siehe z. B. Beiträge, die diesen Einfluss der Digitalisierung auf die Rechtswissenschaft und auch auf die rechtswissenschaftliche Ausbildung nicht unterschätzen: Ashley, Artificial Intelligence and Legal Analytics, 2017 und für die Ausbildung insbesondere die gute Analyse in der Studie Legal-Tech in der juristischen Ausbildung vom Mai 2020 von Heribert Anzinger, die von der Friedrich Naumann Stiftung in Auftrag gegeben wurde (abrufbar unter https:// www.freiheit.org/de/deutschland/gutachten-legal-tech-spielt-deutscher-juristenausbildung-kei ne-rolle), und auch z. B. das Digital Study Magazin vom Januar 2021, das über www.digitalstudy.de abrufbar ist. 3 Roy Amara (1925 – 2007), ehemaliger Präsident des Institute for the Future, zitiert nach Quade, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 167 m. w. N. 4 Adrian, Rechtstheorie 2017, 77.

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nicht zielführend, einfach eine Abteilung Digitalisierung zu installieren, die dann diese Aufgaben erledigen soll, sondern es müssen unseres Erachtens in jedem einzelnen sachlichen Fachbereich interdisziplinäre Teams gebildet werden, die die jeweilige ganz konkrete juristische Domäne (z. B. Vereinsregisteranmeldungen von Vorstandswechseln im Recht der eingetragenen Vereine, etc.) in mehreren Schritten digital transformieren und eine entsprechende Computeranwendung implementieren. Dabei muss man sich schrittweise, von anfangs sehr kleinen Anwendungsbereichen, für ganz spezielle juristische Frage-, bzw. Aufgabenstellungen, zu immer breiteren Anwendungsbereichen, für am Ende ganze Rechtsgebiete (z. B. alle möglichen Vereinsregisteranmeldungen für eingetragenen Vereine, bis hin zu Verschmelzungen, etc.) vorarbeiten. Als weitere Vorbemerkung ist darauf hinzuweisen, dass man dahingehend unterscheiden muss, was genau digital transformiert werden soll. Einerseits kann man büroorganisatorische „Handgriffe“ über komplexe „Office-Tech-Anwendungen“ digitalisieren5 und z. B. Stammdaten von Mandanten, wie Name, Vorname, Adresse etc. über Datenbanken verwalten, um diese dann in die durch den Notar zu führenden Bücher, wie die Urkundenrolle, das Namensverzeichnis und die Kostenrolle etc. „einspielen“ zu können.6 Andererseits kann man versuchen, möglichst viele Prozessschritte eines komplexen Rechtsdienstleistungsprozesses digital zu transformieren, wie z. B. bei „Zug-erstattung.de“. Bei dieser Anwendung werden allerdings „nur“ die Schritte zur Übermittlung der rechtlich relevanten Informationen digitalisiert und mit einem sog. „Frontend claim check“ (Rechtsfeststellung in der Nutzersphäre) kombiniert. Es wird also eigentlich noch keine rechtliche Prüfung vorgenommen.7 Schließlich kann man juristische Subsumtionsvorgänge oder bestimmte juristische Ansprüche maschinell verarbeiten, wie z. B. bei „Flightright“. Hier sind die Gewinnung des Mandanten, die Sammlung des rechtlich relevanten Sachverhaltes über eine Online-Maske, die Subsumtion des Falles unter die Norm, die Berechnung eines Flugverspätungsschadens, gegebenenfalls die statistische Prüfung einer Klageerfolgsaussicht und die (vollautomatische) Erstellung eines Anwaltsschriftsatzes digital transformiert.8 Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten „unbundling“9. Üblicherweise muss man bei der Digitalisierung so vorgehen, dass man die verschiedenen Schritte, die durchlaufen werden, differenziert betrachtet, um einen Rechtsdienstleistungsprozess abzubilden. Dies beginnt bei der Kundengewinnung bzw. 5

Hartung, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 8; Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 101 ff. 6 Buchbesprechung zu Büttner/Frohn/Seebach (Hrsg.), Elektronischer Rechtsverkehr und Informationstechnologie im Notariat, 2019: Adrian, MittBayNot 5 2020, 423. 7 Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 128 ff. und S. 172. 8 Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 170 ff. 9 Hartung, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 10.

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

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beim Zugang des Bürgers zum Recht, z. B. über ein Portal und endet mit der Abrechnung der Leistung und der Archivierung des Vorganges. Jeder einzelne Schritt ist dabei zunächst zu isolieren, um zu prüfen, ob man diesen jeweils digital transformieren und gegebenenfalls maschinell repräsentieren kann. Erst ganz am Ende besteht dann manchmal die Möglichkeit, vielleicht sogar den gesamten Prozess zu digitalisieren. Die Kunst besteht bereits darin, zu ermitteln, welche Schritte isolierbar sind. Viele Dinge setzten wir, oft bereits aufgrund unserer Aus- und Vorbildung, bei einem komplexen Prozess so selbstverständlich implizit voraus, dass es uns schwerfällt, zu erkennen, was explizit gemacht werden muss, damit eine an sich „dumme“ Maschine alle (gedanklichen) einzelnen Schritte und alle dazu nötigen Informationen von uns geliefert erhält, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Aus diesen Vorüberlegungen kann man unseres Erachtens übrigens auch bereits abzuleiten versuchen, welche Fähigkeiten jemand mitbringen muss, um Legal-TechExperte zu werden.10 zu werden. Man sollte sich unseres Erachtens für drei Themenbereiche interessieren. Erstens sollte man sich in den Rechtswissenschaften grundsätzlich gut auskennen, so dass hier Volljuristen mit zwei Staatsexamen gut aufgestellt sein dürften. Zweitens ist sehr hilfreich, wenn man sich auch für die Praxis von Rechtsdienstleistungsprozessen interessiert, weil, wie gezeigt, meist nicht etwa Rechtsbegriffe, also gedankliche Vorstellungen von Rechtsinstituten und juristischen Methoden formalisiert und digitalisiert werden, sondern die einzelnen organisatorischen und praktischen Schritte und Hangriffe eines Dienstleistungsprozesses. Schließlich sollte man sich drittens für die Technologie interessieren, also für Strukturwissenschaften, wie Logik, Mathematik und Informatik.11 Es ist hilfreich, wenn man als Jurist eine grobe Vorstellung davon hat, was KI ist, wie der „Rechner“ praktisch arbeitet, womit man den Computer „füttern“ muss und was man dann als Ergebnis bekommt, auch wenn man wohl nicht selbst programmieren können muss. Wir bilden junge JuristInnen dennoch schwerpunktartig dadurch aus, dass wir ihnen Rechtswissenschaften „im Wesentlichen“ dogmatisch in Rechtsbegriffen beibringen, geordnet nach Öffentlichem Recht, Strafrecht und Privatrecht, wobei eine Ausbildung in Rechtsdienstleistungsprozessen nicht so sehr im Vordergrund steht und eine Beschäftigung mit der Computerwissenschaft bislang an Universitäten wohl nur freiwillig erfolgt.12 10

Wagner, Legal-Tech und Legal Robots, 2017, S. 5 f. Vogl, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 53 ff.; O’Neill, Weapons of Math Destruction, 2016, S. 21: „predictive models are nothing more than opinions embedded in mathematics“. 12 Ein Vorschlag ist, Legal-Tech mit Grundlagenfächern zu kombinieren, siehe z. B. das Interview unter https://mkg-jura-studis.de/legal-tech-professor-axel-adrian-im-interview-meinvorschlag-ist-legal-tech-mit-grundlagenfaechern-zu-kombinieren/; dies korrespondiert auch mit dem obigen Hinweis, dass unseres Erachtens die Digitalisierung im Recht mit Hilfe der Strukturwissenschaften im Sinne einer Querschnittstechnologie gesehen werden sollte. Da Rechtsdienstleistungsprozesse sozusagen quer zu den Rechtsgebieten liegen und verschiedene 11

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II. Legal-Tech, Skalierung und die Digitalisierung des Zivilprozesses Legal-Tech ist ein zusammengesetztes Wort aus legal services und technology. Bereits dadurch ist erkennbar, dass es um die digitale Transformation von einzelnen Schritten eines konkreten Dienstleistungsprozesses geht, auch wenn es verschiedene Definitionen dieses Wortes in der Literatur gibt, denn das Thema ist zu neu, als dass man sich bereits auf eine allgemeingültige Definition geeinigt haben könnte.13 Unabhängig von Diskussionen über eine zutreffende Definition und über eine begriffliche Einordnung des Themas Legal-Tech14, dürfte es jedoch in aller Regel um das Ziel der Digitalisierung von möglichst vielen Einzelschritten bestimmter ausgewählter Rechtsdienstleistungsprozesse gehen, um sozusagen von der „Manufaktur“ zur skalierbaren, „industriellen Rechtsdienstleistung“15 zu kommen. Man will durch Automation skalierbare16 (industrielle) Rechtsdienstleistungen erzeugen, weil man damit viele Rechtsdienstleistungsprozesse mit wenig PersonalkosRechtsbegriffe und Prozessschritte bzw. Handgriffe kombiniert auftreten, dürfte die Ausbildung zur Digitalisierung des Rechts am besten mit bestimmten Grundlagenfächern, insbesondere mit Rechtstheorie und juristischer Methodenlehre kombiniert werden können. Obwohl man beim Notar typischerweise Zivilrecht vermutet, kommt aber auch öffentliches Recht vor. Wenn man z. B. einen öffentlich-rechtlichen Vertrag vereinbart, verweist zwar das VwVfG ins Zivilrecht, aber man gestaltet etwas Öffentlich-Rechtliches mit zivilrechtlichen Mitteln. Wenn man einen gängigen Grundstückskaufvertrag beurkundet, hat man nach § 24 BauGB immer auch ein gemeindliches Vorkaufsrecht zu prüfen. Das heißt, obwohl man sich im Zivilrecht befindet, muss man sich dennoch mit öffentlich-rechtlichen Fragestellungen befassen. Daran sieht man, dass der Prozess bzw. die Praxis der Rechtsdienstleistung die dogmatischen Unterscheidungen zwischen den Rechtsgebieten nicht ganz durchhält. Gleichzeitig ist es einfacher möglich einzelne Schritte eines Rechtsdienstleistungsprozesses digital zu transformieren, als vollständig alle miteinander im Zusammenhang stehenden Rechtsbegriffe eines ganzen Rechtsgebietes. 13 Micha-Manuel Bues: „Legal-Tech beschreibt den Einsatz von modernen, computergestützten, digitalen Technologien, um Rechtsfindung, -anwendung, -zugang und -verwaltung durch Innovationen zu automatisieren, zu vereinfachen und – so die Hoffnung – zu verbessern.“ (http://legal-tech-blog.de/was-ist-legal-tech); Fiedler/Grupp, DB 2017, 1071 (1072): „Legal-Tech meint weitgehend undifferenziert den Technologieeinsatz mit juristischem Bezug. Anwendungen wie Marktplätze für Anwälte, VoIP-gestützte Rechtsberatungsplattformen, einfache Gerichtskostenrechner oder Software zur automatischen Dokumentenanalyse sowie Rechtsinformationssysteme werden als Legal-Tech bezeichnet.“; Wagner, BB 2017, 898: „Software und Onlinedienste, die juristische Arbeitsprozesse unterstützen oder gänzlich automatisiert durchführen.“ 14 Northoff/Gresbrand, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 111 ff. 15 Breidenbach/Glatz, in: Breidenbach/Glatz (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal-Tech, 2021, S. 2. 16 Unter dem Stichwort Skalierbarkeit findet sich bei https://de.wikipedia.org/wiki/Skalier barkeit, 24. 09. 2021) folgendes: „In der Betriebswirtschaftslehre dient der Begriff ganz allgemein zur Bezeichnung der Expansionsfähigkeit eines Geschäftsmodells durch Kapazitätsausweitung zur Erreichung höherer Effizienz und Profitabilität. Interessant für Investoren ist insbesondere die Skalierbarkeit von Geschäftsmodellen ohne (hohe) zusätzliche Investitionen

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teneinsatz bearbeiten und für jeden einzelnen Prozess ein Entgelt verdienen kann. So skaliert man seinen juristischen „Output“ und damit skaliert man den möglichen Umsatz. Dies gelingt typischerweise bei Vorgängen, denen juristisch wenig komplexe Rechtsfragen zu Grunde liegen, was zwar möglicherweise auch mit nur sehr geringen und an sich uninteressant niedrigen Streitwerten einhergeht. Durch die hohen Fallzahlen „lohnt“ sich aber der Digitalisierungsaufwand dann doch.17 Wird nun in der Anwaltschaft bzw. der Legal-Tech-Communitiy „industriell“ Output produziert, dürfte dies bedeuten, dass damit zugleich auch automatisch der Input für die Ziviljustiz industriell skaliert wird.18 Versucht nun die Justiz den massenhaften Input des Legal-Tech-Marktes mit klassischen Mitteln, im Sinne einer Manufaktur, wie bisher, z. B. zu Gerichtsentscheidungen zu verarbeiten, dann droht die Überlastung der in der Justiz beschäftigten Menschen. Die Justiz ist daher gut beraten, technische Möglichkeiten einer maschinellen Input-Verarbeitung und der Output-Skalierung durch technische Assistenzsysteme zu erforschen.19 und Fixkosten. Dies ist insbesondere in der Internet-Ökonomie möglich. Von Skalierbarkeit spricht man auch in Bezug auf Kapitalmärkte, sofern die Effizienz bei steigendem Handelsvolumen ebenfalls steigt.“ Vorweg wird der Begriff aber im Zusammenhang mit der Computerwissenschaft, wie folgt, definiert: „Unter Skalierbarkeit versteht man die Fähigkeit eines Systems, Netzwerks oder Prozesses zur Größenveränderung. Meist wird dabei die Fähigkeit des Systems zum Wachstum bezeichnet. In der Elektronischen Datenverarbeitung bedeutet Skalierbarkeit die Fähigkeit eines Systems aus Hard- und Software, die Leistung durch das Hinzufügen von Ressourcen – z. B. weiterer Hardware – in einem definierten Bereich proportional (bzw. linear) zu steigern. Eine allgemein gültige Definition dieses Begriffs ist allerdings nicht trivial. Es ist erforderlich, für den jeweiligen speziellen Fall stets einen Bereich anzugeben (z. B. muss ein System bei 100 gleichzeitigen Zugriffen nicht zwangsläufig gleich gut skalieren wie bei 100.000 Zugriffen). Ressourcen können z. B. CPU, RAM, Festplatten oder Netzwerk-Bandbreite sein. Die Skalierbarkeit eines Systems wird mit dem Skalierungsfaktor – auch SpeedUp genannt – angegeben.“ Es geht unseres Erachtens bei der in der LegalTech-Literatur verwendeten Wortwahl der Skalierbarkeit damit einfach darum, mit möglichst wenig menschlichem Arbeitseinsatz mittels Computeranwendungen möglichst viele Fälle zu bearbeiten. Vgl. Halbleib, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 39; Stiemerling, in: Kaulartz/Braegelmann (Hrsg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020, S. 29 ff. 17 Nach Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 170 hat die Flightright GmbH, seit ihrer Gründung bis November 2019, also innerhalb von ca. 10 Jahren, nach eigener Information ca. 5 Millionen Ausgleichsansprüche nach der Fluggastrechteverordnung geltend gemacht. 18 In der Literatur finden sich Hinweise darauf, dass das, was Legal-Tech (in den USA) den kleineren Kanzleien bzw. (Einzel-)Anwälten abnimmt, bei diesen schon zu Umsatzrückgängen von ca. 30 % geführt hat. Scheinbar wollen die großen law firms (wegen des Preisdrucks?) nun mittels Legal-Tech in den Markt der kleinen Anwälte vorstoßen. Die Ausführungen bei Vogl, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 53 ff. zeigen, dass es beim Einsatz von Legal-Tech auch um einen Verdrängungswettbewerb innerhalb der Anwaltschaft gehen dürfte. Klock, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 149, weist schließlich auch darauf hin, dass Rechtsdienstleistungsunternehmen künftig Rechtsanwaltskanzleien ebenfalls unter Druck setzen werden. 19 Wenn man technisch versucht, juristische Lösungen zu skalieren, ist besondere Vorsicht geboten, weil unter allen Umständen zu verhindern ist, dass sich dadurch Serienfehler erge-

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Ein wichtiges Anliegen des vorliegenden Beitrages ist in diesem Zusammenhang deutlich zu machen, dass die Digitalisierung von anwaltlicher Dienstleistung und die digitale Transformation richterlicher Entscheidungen in der Justiz unseres Erachtens durchaus verschiedenen Herausforderungen unterliegen. So sind z. B. folgende nur beispielhaft genannte Aspekt zu bedenken: Fälle, bei denen es der Legal-Tech Community bereits möglich war, eine Schriftsatzerstellung weitgehend zu automatisieren, weil diese Fälle sich für entsprechende Legal-Tech-Anwendungen eignen und die gerade deswegen von der Legal-TechCommunity für Legal-Tech-Anwendungen ausgewählt wurden, können gänzlich untauglich sein für die Aufgabe einer digitalen Transformation der insoweit zu erlassenden gerichtlichen Entscheidungen. Wie bereits oben geschildert, muss man sich bei der Digitalisierung auch stets schrittweise von anfangs sehr kleinen Anwendungsbereichen, für ganz spezielle juristische Frage-, bzw. Aufgabenstellungen, zu immer breiteren Anwendungsbereichen vorarbeiten. Die Auswahl nun, welche Fälle und welche Rechtsprobleme digital und damit skaliert auf die Justiz zurollen werden, trifft dabei nun aber nicht die Justiz selbst, sondern die Legal-Tech Community. Damit kann die Justiz nur sehr eingeschränkt entscheiden, welche rechtlichen Domänen für die Digitalisierung als geeignet ausgewählt werden sollen und sieht sich vielmehr einem Digitalisierungsdruck eines Legal-Tech-Marktes gegenüber, auf den man zielführend reagieren sollte. Die Justiz dürfte noch folgende weitere Besonderheit im Unterschied zur LegalTech-Community treffen. Während Legal-Tech-Anwender sich nicht nur auf bestimmte geeignete Fälle, sondern auch auf die Digitalisierung nur einzelner Dienstleistungsprozessschritte („unbundling“) fokussieren können, um wenigstens in Teilbereichen eine Arbeitsentlastung, z. B. bei der Mandantenakquise, der Sachverhaltserfassung, der Schriftsatzerstellung, der Abrechnung etc. zu erreichen und dabei ein eigenes unternehmerisches Risiko tragen, wenn der Schriftsatz dann zwar automatisch erstellt wurde aber rechtlich vielleicht nicht perfekt gelungen sein sollte, dürfte das nicht auch für die Justiz gelten. Es scheint, der gerichtliche Entscheidungsprozess ist nur deutlich schwerer in einzelne Schritte, im Sinne eines unbundling, zu zerlegen, ben. Wenn wir falsche Lösungen skalieren, dann skalieren wir auch Probleme. Z. B. wäre es im Notariat sehr problematisch, wenn durch die serienmäßige Erstellung von Urkundsentwürfen mittels Legal-Tech-Anwendungen auch Fehler in Urkunden bzw. Haftungsfälle skaliert würden. Wenn man als Notar mehrere tausend Urkunden im Jahr errichtet, kann ein Serienfehler zu erheblichen Schadensersatzforderungen führen. Selbst wenn man eine ordentliche Vermögensschadenshaftpflichtversicherung unterhält und über mehrere Millionen Euro pro Schadensfall versichert ist, sehen die Versicherungsbedingungen typischerweise vor, dass man doch für jeden Fall bis zu 2.500 Euro Selbstbehalt aufzubringen hat. Skalieren kann in der juristischen Welt also auch große finanzielle Schwierigkeiten auslösen. Gemäß § 67 BNotO sind Notare zur persönlichen Amtsausübung verpflichtet, so dass man gezwungen ist im Beurkundungsverfahren und auch durch die Pflicht zum Verlesen der Urkunde, seinen Entwurf nochmal persönlich zu durchdenken. Es zeigt sich, dass das bisweilen als antiquiert empfundene Verlesen bei der Beurkundung in Zeiten zunehmender Digitalisierung zu einer immer wichtiger werdenden modernen Qualitätsendkontrolle beiträgt.

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sowie man sich aus rechtsstaatlichen Gründen keine Beschränkung auf bestimmte Fälle erlauben oder auch nicht auf eine hohe Qualität bei der Beurteilung von Fällen verzichten kann. Dies zeigt sich z. B. an der stets erforderlichen Aktualisierung der Datenbasis. Sollte eine Legal-Tech-Anwendung etwa relevante Gesetzesänderungen nicht nachvollziehen, wird der Kunde im schlimmsten Fall Schadensersatzansprüche gegen das Legal-Tech-Unternehmen geltend machen, weil die Qualität der Dienstleistung zu schlecht war. Dies kann bei einer gerichtlichen Entscheidung nicht akzeptiert werden. Das Gericht kennt das Recht und hat das jeweils geltende Recht zu kennen. Schließlich sind bei der Digitalisierung des Zivilprozesses auch noch einige organisatorisch-technische Probleme zu berücksichtigen, die nicht in vergleichbarer Art auch die Legal-Tech-Community betreffen dürften. Nicht nur dass es 16 verschiedene Bundesländer und eine Bundesebene mit eigener Organisation, spezifischen Datenstrukturen etc. gibt.20 Sondern es ist fraglich, ob sich z. B. staatliche Institutionen an gewerbliche IT-Dienstleister binden sollten, um die Mammutaufgabe der digitalen Transformation von staatlichen Verfahren, insbesondere von gerichtlichen Verfahren, zu bewältigen. Was ist im Falle eines Qualitätsabfalles des Dienstleisters, einer Überalterung der eingesetzten Software, einer Insolvenz? Möglicherweise sollte versucht werden, juristisches Domänenwissen in Logik zu repräsentieren,21 um diese Wissensrepräsentationen22 unabhängig von spezifischen Computersprachen und Software zu managen und auch in andere Computerprogramme überführen zu können. Die Implementation von juristischem Wissen in Softwareprogrammen durch private IT-Dienstleister kann ja faktisch ansonsten wie die Verschlüsselung der „eigenen“ Daten wirken, an die der Staat, dem diese Daten zustehen, dann nicht mehr ohne den IT-Dienstleister herankommt. Auch stellt sich die Frage, ob man die Nutzung der Daten der Justiz zu Forschungszwecken der Privatwirtschaft überlassen kann, oder ob hier die Missbrauchsgefahr im Wettbewerb stehender Marktteilnehmer mit Gewinnerzielungsabsicht zu groß wird. Möglicherweise bietet sich daher für die Beforschung der sensiblen Daten von Justiz und Finanzverwaltung vor allem die Beteiligung von (staatlichen) Universitäten und Hochschulen an.

20 Büttner, in: Büttner/Frohn/Seebach (Hrsg.), Elektronischer Rechtsverkehr und Informationstechnologie im Notariat, 2019; Büttner, S. 352 und 542. 21 Siehe z. B. Kohlhase/Adrian/Rapp, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer et al. (Hrsg.), Cybergovernance: Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2021, 2021, 231 ff. 22 Siehe z. B. Rapp/Adrian/Kohlhase, in: Gaggl/Thimm/Vallati (Hrsg.), Proceedings of the Third International Workshop on Systems and Algorithms for Formal Argumentation colocated with the 8th International Conference on Computational Models of Argument (COMMA), 2020, S. 56 – 67.

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III. Digitalisierungsdruck der Justiz und Herrschaft des Rechts Die Justiz ist also durch die Skalierung des die Justiz treffenden Inputs unter Digitalisierungsdruck geraten. So sind z. B. insgesamt ca. 30.000 bis 40.000 Klagen im Jahr wegen Dieselschadsoftware an einigen, wenigen Gerichtsstandorten zu bearbeiten.23 Dabei gilt es zu bedenken, dass der Regulierung des Rechtsmarktes § 2 Abs. 1 RDG in der Auslegung BGH24 derzeit noch einer „automatischen Skalierung“ von Input, insbesondere auch durch Nichtberufsträger, entgegensteht. Im skandinavischen Rechtskreis, in den Niederlanden, in Belgien, und damit in wichtigen Mitgliedstaaten der Europäische Union, sowie in der Schweiz dürfen dagegen Nichtjuristen bereits heute schon Rechtsrat erteilen.25 Spätestens, wenn die derzeitige Eingrenzung von Legal-Tech auch in Deutschland rechtspolitisch nicht mehr aufrechterhalten werden kann, muss die Justiz ihrerseits in die Lage versetzt worden sein, von Anwaltschaft und dann auch von Nichtjuristen bzw. Legal-Tech-Unternehmen skaliert erzeugten Input, ebenso automatisch, zu skaliertem Output verarbeiten zu können.26 Auch werden im Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs bereits im ersten Kapitel Vorschläge gemacht, wie man den Zugang des 23

Siehe nur Nürnberger Nachrichten vom 14. 6. 2021. § 2 RDG (Rechtsdienstleistungsgesetz): „(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.“; BGH NJW 2016, 3441; Plog/Lose, in: Kaulartz/Braegelmann (Hrsg.), Rechtshandbuch Artificial Intelligence und Machine Learning, 2020, S. 663 ff.; Hartung, in: Hartung/ Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 246; nach weiter Auslegung des BGH gemäß § 2 Abs. 1 RDG ist jede konkrete Subsumtion eines Sachverhaltes unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über eine bloß schematische Anwendung von Normen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht, unabhängig davon, ob es einfache oder schwierige Rechtsfrage ist, eine Rechtsdienstleistung. Siehe z. B. auch die Hinweise Hartung, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 245 ff. Viele Legal-Tech-Anwendungen werden daher als Inkassodienstleistung konzipiert, um einen Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz zu vermeiden. Vgl. z. B. die Entscheidung BGH NJW 2020, 208 zu „Lexfox“, in der die GmbH, die den Rechtsdienstleistungsservice „www.wenigermiete.de“ mit einem Mietpreisrechner betreibt, als Inkassodienstleister qualifiziert wurde. Aus der Pressemitteilung des BGH: „Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die hier zu beurteilende Tätigkeit der als Inkassodienstleisterin nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG registrierten Klägerin (noch) von der Befugnis gedeckt ist, Inkassodienstleistungen gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG – nämlich Forderungen einzuziehen – zu erbringen. Dies folgt in erster Linie bereits aus dem – eher weiten – Verständnis des Begriffs der Inkassodienstleistung, von dem der Gesetzgeber im Rahmen des Rechtsdienstleistungsgesetzes – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 2002, 1190; BVerfG NJW-RR 2004, 1570) – ausgegangen ist.“ 25 Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 650 ff. 26 Siehe z. B. sogar die Hinweise bei Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit, 2017, S. 262 f. 24

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Bürgers und der Bürgerin zur Ziviljustiz verbessern kann. So findet sich in der den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zusammenfassung dazu wörtlich: „Es soll ein sicherer, bundesweit einheitlicher elektronischer Bürgerzugang in Form eines Justizportals eingerichtet werden. Dieses soll den Bürgerinnen und Bürgern einen umfassenden Zugang zur Justiz eröffnen, indem es als sicherer Übermittlungsweg dient. Darüber hinaus soll es sämtliche digitalen Angebote der Justiz integrieren, wie insbesondere das Online-Mahnverfahren, das Beschleunigte Online-Verfahren, die ,virtuellen Rechtsantragstellen‘ und die Möglichkeit zur Teilnahme an einer ,virtuellen Gerichtsverhandlung‘. Durch Erläuterungen und intelligente Eingabehilfen sollen Rechtsuchende Unterstützung bei der Auswahl des geeigneten Rechtsbehelfs und der Fassung von Anträgen erhalten.“27 Mit der technischen Umsetzung dieser Überlegungen trägt die Justiz in Zukunft auch selbst dazu bei, den Input für die Justiz technisch zu skalieren. Zum Teil gehen aber auch umgekehrt große und interessante Fälle nicht mehr vor staatliche Gerichte, sondern z. B. vor Schiedsgerichte, die dann nach staatlichen Rechtsregeln entscheiden und bereits heute prüfen, inwieweit Legal-Tech-Anwendungen zur Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung eingesetzt werden können. Sollten Schiedsgerichte hier schnellere und effizientere Prozesse implementieren, als staatliche Gerichte, könnte die Abwanderung von kostendeckenden Fällen aus Sicht der Justiz sich noch verstärken.28

27 https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/ nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf. 28 Nicht verkannt werden soll, dass es gerade im Interesse der staatlichen Ziviljustiz liegen kann, dass Private ihre privaten Rechtsstreitigkeiten einfach „ohne die Hilfe des Staates“ untereinander klären. So grenzt z. B. auch Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 710 bei der Zusammenfassung seiner wesentlichen Ergebnisse Rechtssuchende, die sich an staatliche Institutionen wenden, von Bürgern und Bürgerinnen ab, die „die faktische Paralleljustiz in Gestalt von Online Dispute Resolution Plattformen (…) vorziehen.“ Dennoch fordert Timmermann dann für letztgenannte Personen, die staatliche Schutzpflicht in der Gewährung hinreichender Transparenz der Geschäftsmodelle sicherzustellen. Dies müsste dann ja gerichtlich überprüfbar sein, so dass doch wieder staatliche Gerichte berufen sind, zu entscheiden. Auch im Standardkommentar Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020 findet sich, kommentiert von Geimer, Vor § 1025 ZPO Rn. 3 f. [Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, Vor § 1025 Rn. 3 f.], dass die private Streitbeilegung durch Schiedsgerichte Ausfluss aus der Privatautonomie ist und der Staat, solange keine staatlichen Interessen tangiert sind, keine Veranlassung habe, die private Schiedsgerichtsbarkeit einzuschränken. Dann aber wörtlich: „Aufgabe des Rechtsstaates ist es aber, dafür zu sorgen, dass niemand vergewaltigt wird, d. h. niemand darf gegen seinen Willen dem staatlichen Rechtsschutzsystem entzogen werden.“ Es ist davon auszugehen, dass es nicht immer freiwillig geschieht, wenn ein Nutzer sich den Nutzungsbedingungen einer großen Plattform unterwirft, sondern, dass dies auch aus einer Zwangslage resultiert, insbesondere wenn der Dienst von keiner anderen Plattform (zu besseren oder wenigstens gleichen Bedingungen) angeboten wird und für berufliche oder private Zwecke genutzt werden muss.

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Große Plattformen, wie Amazon und eBay etc., organisieren bereits selbst eigene Streitbeilegungsstrukturen, so dass viele kleine Rechtsfälle gerade nicht vor staatliche Gerichte kommen. Zu beachten ist, dass die Regeln nach denen diese Fälle entschieden werden, nicht die Rechtsregeln unseres staatlichen Zivilrechts sind, sondern eigene Regelungen der Plattformen. Allein z. B. eBay entscheidet im Jahr ca. 60 Millionen Konflikte in den USA, was dem Dreifachen an Fällen entspricht, welche die staatliche Justiz in den USA entscheidet.29 Wenn die großen Player wie Amazon, Microsoft, Google und Facebook etc. dann noch Teilnahme- bzw. Nutzungsbedingungen faktisch so durchsetzen, dass Dienste nicht mehr von allen genutzt werden können, sondern nurmehr von Beteiligten, die sich den Regeln dieser Player unterwerfen, ist die Wirkungsweise dem des staatlichen sog. Social Credit Systems in China nicht mehr ganz unähnlich. Es wird dann nämlich in beiden Systemen einfach durch faktische Regeln, die in Computern implementiert sind und die bestimmte Sanktionen bei Fehlverhalten erzeugen, das Zusammenleben der Menschen jenseits einer klassischen Vorstellung von Recht „geordnet“, nur eben einmal durch private Großunternehmen und das andere Mal durch den Chinesischen Staat.30 In der nachfolgenden Abbildung 1 soll symbolisch dargestellt werden, welche Herausforderungen die Digitalisierung für die Ziviljustiz mit sich bringen dürfte. In der Mitte der Grafik steht das große Wort der „Herrschaft des Rechts“, so wie auch auf das „Gewaltmonopol des Staates“, hier der Justiz, abgestellt wird. Dies soll symbolisieren, dass der Bereich indem staatlich garantiertes Recht angewendet und durchgesetzt wird, also für die Bürger und Bürgerinnen „gilt“, möglicherweise kleiner zu werden droht. Dem gilt es unseres Erachtens durch die Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung entgegenzuwirken. Daher sollen nun in einfachen Worten einige Zusammenhänge zum Thema sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI) vorgestellt werden, um eine Einschätzung des möglichen Nutzens von KI für die erforderliche Skalierung des Outputs durch die Justiz, zu ermöglichen.

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Braegelmann, in: Hartung/Bues/Halbleib (Hrsg.), Legal-Tech, 2018, S. 216. Gesk, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer/Saarenpää (Hrsg.), Verantwortungsbewusste Digitalisierung: Tagungsband des 23. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2020, 2020, S. 413 ff.; und Gesk in diesem Band S. 207 ff. 30

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„große Fälle“, die vor Schiedsgerichte gehen

Bürgerportale skalieren Input

Herrschaft des Rechts Gewaltmonopol des Staates (Justiz)

Plattformen, die „kleine“ Fälle nach eigenen Regeln entscheiden, welche nicht (mehr) vor Gericht gehen z.B. eBay jährlich ca. 60 Mio. Konflikte ca. dreimal so viele, wie durch die gesamte USGerichtsbarkeit, Braegelmann in Breitenbach u.a.,Legal Tech, 2018, S. 215 ff.

Kraft des Faktischen (schon ähnliche Wirkungen wie Social Credit System in China?), die „großen Player“ setzen Teilnahmebedingungen technisch durch

Abb: Eigene Darstellung

Abbildung 1: Symbolische Darstellung der Herausforderungen durch die Digitalisierung für die Ziviljustiz

IV. Einige für die Rechtswissenschaft interessante Teildisziplinen der sog. KI Nach der klassischen juristischen Methodenlehre31 erfolgt die juristische Prüfung eines Rechtsfalles in der Form des Justizsyllogismus.32 Ein Sachverhalt wird unter 31 Siehe dazu z. B. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, S. 745 ff. (775). Aus philosophischen Gründen lassen sich verschiedene (gleichberechtigte) folgerichtige Konzepte von „Subsumtion“, „Auslegung“ und „Rechtsfortbildung“ etc. modellieren. Dies führt schließlich zu der These, ein Gericht müsse erst aus der Menge möglicher Methoden die für richtig gehaltene Methode auswählen, in Anlehnung an Ludwig J. J. Wittgenstein (1889 – 1951), ein „Sprach- und Methodenspiel“ spielen, um sich so eine bindende Methodenlehre überhaupt selbst erst zu (er)schaffen. In Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, sollte darüber hinaus dann deutlich gemacht werden, dass diese These nicht nur nach einer bestimmten Philosophie, z. B. des sog. (radikalen) Konstruktivismus, sondern bei konsequenter Zugrundelegung wohl jeder zeitgenössischen philosophischen Richtung, sofern diese die Zweifel postmoderner Philosophie ernst nimmt, zu bejahen, mindestens jedoch zu beachten ist. Wie bereits in Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (117) dargelegt, ist „wrdlbrmpfd“ nicht sinnlos – es wurde von Karl Valentin im Dialog „Der Radfahrer“ als Name für den vom Schutzmann angehaltenen Radfahrer verwendet. Vgl. Valentin, Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, 1996, S. 13 f. – Google kommt übrigens bei der („falschen“) Eingabe von „wrzlbrmpft“ statt „wrdlbrmpfd“ – wohl aufgrund der Ähnlichkeit der Buchstabenketten – auch auf Karl Valentin. 32 Adrian, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer/Saarenpää (Hrsg.), Verantwortungsbewusste Digitalisierung: Tagungsband des 23. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2020, 2020, S. 41 ff.

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eine Norm subsumiert, um daraus logisch den Schluss zu ziehen, dass die Rechtsfolge auf den zu beurteilenden Einzelfall anzuwenden ist.33 Dabei wird z. B. z. T. noch keine deontische oder auch keine nichtmonotone (z. B. ampliative) Logik verwendet, was aber erforderlich ist, um viele wichtige weitere Aspekte der juristischen Argumentation modellieren zu können.34 Dass solche aussagekräftigen Logiken früher noch nicht verfügbar waren, die viel mehr relevante Aspekte des juristischen Denkens abbilden können, mag einer der Gründe gewesen sein, warum nach einer anfänglichen Euphorie bis in die siebziger Jahre hinein, die Möglichkeiten der Rechtslogik und der Rechtsinformatik betreffend, die Hoffnungen insoweit wieder abgeebbt sind.35 In nachfolgender Abbildung 2 wird das Schema des klassischen Justizsyllogismus gezeigt und in dieses sozusagen „hineingezoomed“, um darzustellen, dass die Prüfung des Sachverhaltes im Lichte der Tatbestandsmerkmale der ausgelegten Norm aus „verschachtelten Subsumtionsschlüssen im engeren Sinn“ besteht. Gleichzeitig soll – allerdings nur im übertragenen Sinne – erkennbar werden, welche Teildisziplinen der Informatik für welche Teile einer juristischen Entscheidung „zuständig“ sein können. So sollen die Farben symbolisieren, wo welche Teildisziplin der Informatik im juristischen Prozess „arbeitet“: Rot steht für Natural Language Processing (NLP), Blau steht für Wissensrepräsentation und Grün steht für logische Schlüsse, beides zusammen steht für symbolische KI und schließlich steht Hellblau für die Mustererkennung, z. B. mit Deep Learning, also für subsymbolische KI.36 Dabei ist zu beachten, dass die verschiedenen, für die Rechtswissenschaft interessanten Teildisziplinen der Informatik unterschiedliche Stärken haben. So ist Logik (symbolische KI) z. B. dann erfolgreich, wenn auf einem zwar relativ begrenzten Anwendungsbereich aber hohe Präzision gefordert ist. Statistische Verfahren (subsym33 Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, zu Subsumtion allgemein S. 534, 758, 777 ff., als Gleichsetzung S. 604, 794 ff., 797 ff., 801, 803 f., formallogisch S. 575, 586, 606 ff., 612, 619, 781, 785 ff., fuzzy-logisch S. 772 ff., 808, 862 und zur Subsumtion der Naturerscheinungen unter (mathematische) Modelle S. 578; siehe aber insbesondere auch die Hinweise auf die Unterschiede von Begriffs- und Wertungsjurisprudenz sowie auf die damit einhergehende Unterscheidung zwischen „kausaler“ und „normativer“ Subsumtion bei Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 75 ff. und insbesondere S. 79 ff. So kommt Timmermann zu dem Schluss, dass der Mensch Semantik beherrscht und die Maschine (nur) Syntax. Zu der etwas provokativen – insbesondere sprachphilosophisch begründeten – These, dass auch Menschen keine Semantik „verstehen“, siehe Adrian, Rechtstheorie 2017, 77; dazu wiederum z. B. Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 142 f. und S. 218 f. m. w. N. 34 Siehe z. B. Adrian/Kohlhase/Rapp, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer et al. (Hrsg.), Cybergovernance: Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2021, 2021, Seite 169 ff. 35 Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik, 2011, dort auch viele Hinweise auf die Bezüge zwischen Wissenschaftstheorie und Rechtsinformatik. 36 Siehe auch die Hinweise auf die Unterschiede von symbolischer und subsymbolischer KI z. B. bei Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 56 ff. und Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 409 ff.

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

Theoretische Informatik (Schröder) Legal Reasoner, „Inferenzmaschine“: Automatisierung der zur Feststellung der Regelkonformität notwendigen Subsumtionsbeziehungen in JLang.

Wissenschaftstheoretische Konzeption und Recht (Adrian) Wissensrepräsentation (Kohlhase) Formalisierung und Repräsentation des Wissens über das Recht, den Sachverhalt und die Welt in Logik, als Grundlage regelbasierter Verfahren mit JLang. Mustererkennung (Maier/Nöth) Neuronale Netze erkennen (Deeplearning) aus großen Datenmengen in Texten ursprünglicher Rechtsfälle (Big Data), Muster als Datengrundlagen zur Vorprüfung von neuen Rechtsfällen.

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Korpuslinguistik NLP (Evert) regelbasierte und statistische (ML) Verfahren zur Übersetzung (hin, wie her) natürlicher Sprache bei Rechtsfällen in maschinenverarbeitbare formale Sprache = Jlang. Abb. Adrian, Grundprobleme einer juristischen Methodenlehre, Berlin, 2009, S. 787

Abbildung 2: Symbolische Darstellung, welche Teildisziplinen der Informatik im System des klassischen Justizsyllogismus eine Rolle spielen können

bolische KI) sind dann vielversprechend, wenn Aussagen über einen relativ umfassenden Anwendungsbereich gesucht werden und man dabei auch mit, relativ betrachtet, weniger Präzision auskommen kann. Gerade für juristische Fachanwendungen können daher hybride Verfahren, also präzise symbolische KI Systeme neben statistischen Verfahren besonders interessant sein. Um gute Ergebnisse mit Natural Language Processing zu bekommen, muss entweder ein passendes regelbasiertes System der Spracherkennung erstellt oder eine Vielzahl von Sprachdaten annotiert werden, um mit Machine Learningverfahren oder einer Kombination aus regelbasierten und statistischen Verfahren natürliche Sprache maschinell (mittels Inferenzmaschinen und Neuronalen Netzen) verarbeiten zu können. Es soll mit NLP sozusagen erforscht werden, welche Verfahren des NLP sich wie gut für die juristische Fachsprache und für juristische Fragestellungen eignen. Je „formalistischer“ die Sprache bereits in einer juristischen Domäne ist, desto besser dürfte man diese maschinell erfassen und verarbeiten können. Um gute Ergebnisse mittels Wissensrepräsentation und logischem Schließen zu bekommen, muss zunächst eine Vielzahl logischer Voraussetzungen für die in Rede stehenden Rechtsfolgen und die Vielzahl von deren möglichen Kombinationen durchdrungen und maschinenlesbar formalisiert werden. Es muss bei jeder juristischen Aufgabenstellung jeweils konkret erforscht werden, wie gut das möglich ist, ob das in einem vertretbaren Aufwand erfolgen kann und ob der Vorgang der Formalisierung u. U. (teil-)automatisiert werden könnte. Je besser und je detaillierter das Wissen der spezifischen Rechtsdogmatik der jeweiligen Aufgabenstellung und die

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Vielzahl an Kombinationen durch Inferenzen maschinell repräsentiert werden kann, desto zuverlässiger kann eine Inferenzmaschine arbeiten. Logik ist also dann stark, wenn auf einem durch den Formalisierungsaufwand zwar relativ begrenzten Anwendungsbereich hohe Präzision gefordert ist. Um gute Ergebnisse mit Mustererkennung und Deep Learning durch Neuronale Netze zu bekommen, muss eine große Vielzahl bisheriger entschiedener Rechtsfälle als Vergleichsgrundlage (Big Data) verarbeitet werden können.37 Es wird dabei oft miterforscht, wie viele Daten überhaupt für eine bestimmte juristische Aufgabenstellung vorliegen und wie „gut“ sich diese Daten als Trainingsdaten für Mustererkennung eignen. Je mehr Daten vorliegen und je besser diese mathematisch/statistisch genutzt werden können, desto zuverlässiger ist Mustererkennung, d. h. Deep Learning mit Neuronalen Netzen. Statistische Verfahren sind dann stark, wenn auf einem relativ umfassenden Anwendungsbereich, aufgrund vieler vorhandener Daten, Ergebnisse gefordert sind und nicht auch die Präzision einer Inferenzmaschine erforderlich ist. Denn bei den erkannten Mustern handelt es sich nicht um logische Zusammenhänge und logische Inferenzen, sondern „nur“ um (zufällige?) statistische Korrelationen von Informationen. Inwieweit diese statistischen Korrelationen mit logischen bzw. wenigstens gedanklichen Zusammenhängen, die juristisch Sinn ergeben, korrelieren, kann nur über eine professionelle Interpretation erörtert werden. Wieder zeigt sich, wie wichtig interdisziplinär besetzte Teams sind,38 um juristische Gedanken, die in natürlicher Sprache ausgedrückt sind, in eine durch Maschinen verarbeitbare formale Sprache zu überführen und die Ergebnisse der Maschine, die in formaler Sprache erzeugt werden, mittels verständiger Interpretation zurück in natürliche Sprache zu übersetzen. Sehr wichtig ist es schließlich, den Output der Maschine zu evaluieren, um zu entscheiden, ob es sich um juristisch sinnvolle Ergebnisse handelt.

V. Vereinfachte Darstellung: Computer und natürliche Sprache der Juristen Maschinen können keine semantische Bedeutung der natürlichen Sprache verstehen. Wie soll daher eine Maschine feststellen können, ob ein Wort richtig geschrieben ist, ein Satz richtig formuliert wurde oder eine „Argumentation“ überhaupt 37

Bereits im Beitrag Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 wurde gefordert nicht nur Urteile als solche, sondern grundsätzlich auch alle Schriftsätze, die historisch zum Erlass des jeweiligen Urteils führten, in die Datenbasis von Legal-Tech-Tools miteinzubeziehen, um stabile Ergebnisse zu erhalten. Dies ist auch mit Überlegungen aus der Methodenlehre, der Wissenschaftstheorie und der Rechtsphilosophie zu begründen, was in ders., Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009; ders., Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014; ders., Rechtstheorie 2010, 521 ausführlich dargelegt wurde. 38 Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (78 f.).

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

213

schlüssig ist? Wie sollen dann aber mit Computern Assistenten möglich sein, die juristische Entscheidungen in natürlicher Sprache unterstützen können? In der nachfolgenden Abbildung 3 soll eine einfache Darstellung dieses Problem im übertragenen Sinne veranschaulichen. Wir Menschen erkennen an den links aufgeführten Textbeispielen, dass semantisch etwas nicht ganz passt. Wir Menschen erkennen dies mit unserer Assoziationsmaschine „Gehirn“39, in der viele implizite Zusammenhänge verfügbar sind, relativ schnell. Dabei bestehen eben auch assoziative gedankliche Zusammenhänge zwischen Zeichen und Zeichen, aber eben auch zwischen Zeichen und der „Welt da draußen“.40 Maschinen können aber z. B. nur prüfen, ob eine Zeichenkette/ein Wort in der Datenbank (als in der Maschine bekanntes Wissen) vorhanden ist, ob es wahrscheinlich ist, dass bestimmte Buchstabenkombinationen als Wörter, oder bestimmte Wörter in einer bestimmten Reihenfolge gebraucht werden, ob bestimmte, in der Wissensdatenbank vorhandene und daher der Maschine bekannte Zeichen in einem logischen Zusammenhang stehen oder in welchem Maß Texte mit anderen Texten, die die Maschine als übliche Muster aus anderen Texten, die als Trainingsdaten verwendet wurden, „gelernt“ hat, vergleichbar sind, etc. Mit Computern kann man sozusagen nur „leere Zeichen“, die (ohne Zwischenschaltung unserer Assoziationsmaschine „Gehirn“) keinen (eigenen) Bezug zur realen „Welt da draußen“ haben, kombinatorisch und statistisch verarbeiten. Es erfordert daher eine intensive Zusammenarbeit der juristischen und technischen Disziplinen, um juristisches und tatsächliches Wissen mit formalen Zeichen oder auch mathematischen Zeichen/Größen so zu repräsentieren und zu verarbeiten, dass solche Zeichen am Ende für Menschen wieder eine „Bedeutung“ in der realen „Welt da draußen“ bekommen. Die Farben in der nachfolgenden Abbildung 3 symbolisieren wieder, welche Teildisziplinen der Informatik „zuständig“ sein könnten, um die entsprechende Frage zu klären. Natural Language Processing (NLP) ist dabei sowohl rot als auch grün eingefärbt, da in dieser Teildisziplin regelbasierte und statistische Verfahren eingesetzt werden.

39 Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, S. 822 f. und S. 940 je m. w. N.; Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, S. 106 m. w. N.; Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (88 ff.) m. w. N. 40 Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, S. 649 ff. m. w. N.; Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, S. 61 f. und S. 74 f. je m. w. N.

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Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier

Sinnlose Zeichenketten? wrzlbrmpft

Statt Semantik nur Wissen, Logik und Wahrscheinlichkeit also: NLP

(„wrdlbrmpfd“ ist nicht sinnlos - es wurde von Karl Valentin im Dialog „Der Radfahrer“ als Name für den vom Schutzmann angehaltenen Radfahrer verwendet. Vgl. Karl Valentin, Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, München Zürich 1996, S. 13 f. - Google kommt bei Eingabe „wrzlbrmpft“ auch auf Karl Valentin)

Sinnvolle Zeichenketten? Wurzelgemüse

LOGIK

(„ wrdlbrmpfd“ ist nicht sinnlos - es wurde von Karl Valentin (WISSEN + INFERENZ) im Dialog „er Radfahrer“ als Name für den vom Schutzmann angehaltenen Radfahrer verwendet. Vgl. Karl Valentin, DEEPLEARNINGSämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, München Zürich 1996, S. 13 f. - Google kommt bei Eingabauch auf Karl Valentin)

Nachts ist es kälter als draußen.

Nachts ist es draußen kalt.

Reiche mir bitte mal den

Reiche mir bitte mal das Salz.

Berg.

Der Mord geschah am 15.2.2018 um 12:13 Uhr MEZ in Fürth.

Der Mord geschah am 15.2.2018 um 12:13 Uhr MEZ in Fürth.

Der Angeklagte X war am 15.2.2018 von 11:30 Uhr bis 13:45 Uhr MEZ in Nürnberg beim Notar in einer Beurkundung.

Der Angeklagte X war am 15.2.2018 von 11:30 Uhr bis 13:45 Uhr MEZ in Nürnberg beim Notar in einer Beurkundung.

X ist als Mörder zu verurteilen.

X ist als Mörder freizusprechen.

Abbildung 3: Symbolhafte Darstellung der Möglichkeit mit Maschinen sinnvolle von sinnlosen Sätzen zu unterscheiden

VI. Logisches Schließen über juristische und lebenspraktische Sachverhalte Moderne wissensbasierte Systeme für die juristische Entscheidungsunterstützung verwenden oft wesentlich ausdrucksstärkere Formalismen als die ursprünglichen rein aussagenlogischen Systeme, etwa die Web Ontology Language OWL oder ihre Erweiterung um Regeln, die Semantic Web Rule Language SWRL (z. B. in einer Modellierung von Bauvorschriften). Solche Formalismen erlauben die Modellierung eben nicht nur atomarer Aussagen, sondern auch die von Individuen, ihren Eigenschaften und ihrer gegenseitigen Verhältnisse. Neben dem relativ offensichtlichen Aspekt der Ausdrucksstärke erhebt sich aber gerade bei der logischen Abbildung juristischer und erst recht allgemein lebenspraktischer Sachverhalte ein weiteres vielleicht weniger unmittelbar ersichtliches Problem, das der Überinferenz bei unmoderierter Verwendung klassischer Logik. Wir diskutieren dieses Problem anhand des fiktiven Anwendungsbeispiels einer (sehr unvollständigen) logischen Modellierung der Frage des Widerspruchsrechts bei Onlinegeschäften kurz an. Wir erheben hierbei weder hinsichtlich juristischer Expertensysteme noch hinsichtlich der sich ergebenden formallogischen Fragestellungen einen Anspruch auf einen vollständigen Literaturüberblick, und zielen vielmehr auf eine für den Nichtfachmann verständliche Einführung in die allgemeine Problematik ab. Das technische Funktionieren der erwähnten klassischen Aussagenlogik stellt sich im Groben wie folgt dar. Die Logik befasst sich zunächst mit atomaren Aussa-

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

215

d

gen, in unserem Anwendungsbeispiel etwa ,Online‘ (für ,es liegt ein Onlinegeschäft vor‘), ,Widerrufsrecht‘ (für ,es besteht ein Widerrufsrecht‘), ,Widerruf‘ (für ,das Geschäft wird widerrufen‘) u. ä. Solche atomaren Aussagen können, auch in geschachtelter Form, durch logische Junktoren wie ,^‘ (,und‘), ,!‘ (,impliziert‘ / ,wenn – dann‘), , ‘ (,nicht‘) u. ä. verbunden werden. In diesem Formalismus können wir z. B. zwei Grundsätze Online ! Widerrufsrecht Widerrufsrecht ^ Widerruf ! Rueckabwicklung ausdrücken, ausformuliert: Wenn ein Onlinegeschäft vorliegt, dann besteht ein Widerrufsrecht, und wenn ein Widerrufsrecht besteht und tatsächlich ausgeübt wird, dann wird das Geschäft rückabgewickelt. Der Nutzen einer solchen Modellierung liegt in den durch sie ermöglichten Inferenzen. Diese erfolgen typischerweise in geeigneten formalen Systemen von Axiomen und Regeln, die idealerweise korrekt gegenüber einer mathematischen Semantik, also einer rigide definierten Bedeutung von Formeln, sind. Im Falle der klassischen Aussagenlogik findet die Auswertung von Formeln in ,Situationen‘ statt, die einfach in einer Festlegung der Wahrheit oder Falschheit der atomaren Aussagen bestehen (wie z. B. ,es liegt ein Onlinegeschäft vor, es besteht ein Widerrufsrecht, es ist kein Widerruf ausgeübt worden, etc.‘). Die Bedeutung der Junktoren ist hierbei größtenteils selbsterklärend, bis auf die der Implikation ,!‘: Diese wird als sogenannte materielle Implikation verstanden, d. h. A ! B ist immer wahr, außer wenn Awahr ist und B falsch. Z. B. kann Online ! Widerrufsrecht auch dann wahr sein, wenn kein Widerrufsrecht besteht, nämlich dann, wenn kein Onlinegeschäft vorliegt. Es muss insbesondere für die Wahrheit von A ! B kein tatsächlicher Zusammenhang zwischen A und B bestehen; allein diese Tatsache führt zu einer weitverzweigten Analyse alternativer Formen der Implikation. Eine besondere Rolle spielt die logische Konstante ,?‘ (,Falsum‘), aus der gemäß dem Prinzip des ex falso quodlibet Beliebiges folgt. Allgemein ist eine Formel dann eine logische Folgerung aus anderen Formeln, den Axiomen, wenn in allen Situationen, in denen die Axiome wahr sind, auch die Folgerung wahr ist. Wenn wir nun unsere Modellierung um detailliertere, nun eher der Lebenspraxis entnommene Aussagen darüber erweitern, worin denn nun die Rückabwicklung eines Geschäfts gegebenenfalls besteht, so ergeben sich vielleicht folgende zusätzliche Axiome: bezahlt ^ Rueckabwicklung ! Erstattung bezahlt ! Haendler_hat_Betrag Erstattung ! Kunde_hat_Betrag Haendler_hat_Betrag ^ Kunde_hat_Betrag ! ? Ausformuliert: Wenn der Kunde (bereits) bezahlt hat und eine Rückabwicklung erfolgt, dann erfolgt eine Erstattung des Kaufbetrags; wenn der Kunde bezahlt hat,

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Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier

hat der Händler den Kaufbetrag; wenn eine Erstattung erfolgt ist, hat der Kunde den Kaufbetrag; und der Kaufbetrag kann nicht gleichzeitig beim Händler und beim Kunden liegen (wir verwenden hier die vereinfachende Annahme, dass Geldbeträge eindeutig identifizierbar sind; man stelle sich also gewissermaßen den Kaufbetrag als ein bestimmtes Objekt vor, dass bei einem Kaufvorgang durch die Parteien übergeben wird). Man ahnt, dass in dieser Axiomatisierung der zeitliche Ablauf der Rückabwicklung nicht hinreichend berücksichtigt ist, und in der Tat stellt sich heraus, dass in der obigen Axiomatisierung die Formel bezahlt ^ Rueckabwicklung widersprüchlich ist, d. h. die Herleitung einer Absurdität, also ,?‘, erlaubt; denn: Aus ,bezahlt ^ Rueckabwicklung‘ folgt zunächst ,Erstattung‘, damit sodann ,Kunde_hat_Betrag‘; andererseits folgt aus ,bezahlt ^ Rueckabwicklung‘ insbesondere ,bezahlt‘ und damit ,Haendler_hat_Betrag‘, somit ,Haendler_hat_Betrag ^ Kunde_hat_Betrag‘ und damit schließlich ,?‘. Dies ist ein erstes Beispiel einer durch mangelnde Feingranularität der Modellierung verursachte Überinferenz. Diese Überinferenz kann durch Aufnahme von temporalen Aspekten in die Modellierung blockiert werden. Wenn wir z. B. einen logischen Operator ,F‘ (für ,finally‘, also ,letztendlich‘) einführen, können wir das erste der obigen Axiome zu bezahlt ^ Rueckabwicklung ! F Erstattung präzisieren (,wenn der Kunde bezahlt hat und eine Rückabwicklung eingeleitet wird, dann erfolgt letztlich eine Erstattung‘), womit dann die Inferenz von ,Kunde_hat_Betrag‘ aus ,bezahlt ^ Rueckabwicklung‘ verhindert wird (mit geeigeten Mitteln inferierbar ist jetzt nur noch ,F Kunde_hat_Betrag‘, d. h. der Betrag landet letztlich wieder beim Kunden, was durchaus konsistent mit der Situation ist, dass der Betrag im Moment noch beim Händler liegt). Eine weitere Ungenauigkeit der Modellierung liegt darin, dass sie zunächst ausblendet, dass die Erstattung des Kaufbetrags ggf. zwar eine Verpflichtung des Händlers ist, hieraus aber im Allgemeinen nicht folgt, dass er dieser Verpflichtung auch nachkommt; hieraus ergibt sich, dass unter der naheliegenden axiomatischen Ergänzung d

Haendler flieht nach Rio !

F Erstattung

(,wenn der Händler sich ins Ausland absetzt, findet keine Erstattung statt‘) die durchaus denkbare Formel bezahlt ^ Rueckabwicklung ^ Haendler flieht nach Rio widersprüchlich wird, da aus ,bezahlt ^ Rueckabwicklung‘ weiterhin ,F Erstattung‘ folgt. Logisches Mittel der Wahl zur Blockade dieser neuen Überinferenz ist wiederum eine Verfeinerung der Modellierung, in diesem Fall mittels Operatoren aus der deontischen Logik, also der Logik des Sollens, die naheliegenderweise an der Schnittstelle zwischen Logik und juristischem Wissen sowohl traditionell als auch aktuell eine zentrale Rolle spielt. Der Obligationsoperator ,O‘ der deontischen

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

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Logik drückt Verpflichtungen aus, d. h. liest sich ,es ist obligatorisch, dass‘; z. B. liest sich die deontische Verfeinerung des den obigen Widerspruch verursachenden Axioms, bezahlt ^ Rueckabwicklung ! O F Erstattung,

d

als ,wenn der Kunde bezahlt hat und eine Rückabwicklung eingeleitet wird, dann soll der Betrag letztlich erstattet werden‘; der Widerspruch wird dann eine logisch deutlich harmlosere Verletzung eines Sollenssatzes (, F Erstattung ^ O F Erstattung‘, d. h. es findet letztlich keine Erstattung statt, obwohl dies geschuldet wäre). Man will natürlich nicht nur unbeabsichtigte Inferenzen blockieren, sondern auch beabsichtigte Inferenzen ermöglichen. Hier entsteht dann ein erheblicher Grad an axiomatischer Verzweigung. Ein besonders umstrittenes Axiom ist das Prinzip ,OA ^ OB ! O(A^B)‘ (,wenn sowohl A als auch B verpflichtend sind, dann auch A^B‘), das trotz seiner intuitiven Plausibilität zu erheblichen Problemen führt, indem es die sogenannte deontische Explosion verursacht: Aus – in der Realität erwartbar häufig vorkommenden – Dilemmata, also konfligierenden Obligationen ,OA ^ O A‘ (,sowohl A als auch A sind obligatorisch‘) folgt unter dem besagten Axiom mittels des oben erwähnten Prinzips des ex falso quodlibet, dass alles obligatorisch ist, wiederum ein Beispiel einer Überinferenz, in deren Vermeidung erheblicher Forschungsaufwand fließt. d

d

Als letztes Beispiel einer Überinferenz betrachten wir den Fall, in dem als Implikationen formulierte Regeln in Wirklichkeit – zunächst unerwähnt bleibende – Ausnahmen haben. Die tatsächliche Rechtslage beim Widerruf von Onlinegeschäften z. B. stellt sich etwas vollständiger dar als Online ! Widerrufsrecht d

Online ^ Kundenspezifikation !

Widerrufsrecht

Online ^ Kundenspezifikation ^ geringer Aufwand ! Widerrufsrecht – ausformuliert: Wenn auf eine Onlinebestellung hin der Gegenstand nach Kundespezifikation erst hergestellt oder verändert wird, dann besteht kein Widerrufsrecht; wenn aber wiederum der für diese Herstellung oder Veränderung beim Händler entstehende Aufwand nur gering ist, dann greift diese Ausnahme nicht, und das Widerrufsrecht besteht doch. In diesem Fall ist schon die einfache und sicher als Möglichkeit vorgesehene Aussagen Online ^ Kundenspezifikation widersprüchlich, da aus ihr gemäß dem ersten Axiom das Vorliegen eines Widerrufsrechts und gemäß dem zweiten Axiom die Abwesenheit desselben folgt. In diesem Fall liegt die technische Lösung im Ersetzen der materiellen Implikation ,!‘ durch skeptischere Konditionale der Lesart ,wenn – dann normalerweise‘ aus der defeasible logic; bei Verwendung solcher Konditionale wird aus dem obigen Widerspruch grob gesagt ein Überschreiben von Inferenzen unter weniger spezifischen Annahmen (,es liegt ein Onlinegeschäft vor‘) durch solche aus spezifischeren Annahmen (,es liegt

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Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier

ein Onlinegeschäft nach Kundenspezifikation vor‘). Wiederum ergibt sich neben dem Ziel, Überinferenzen zu blockieren, hier andererseits die Notwendigkeit, bestimmte gewünschte Inferenzen weiterhin zuzulassen, was wiederum auf ein weitverzweigtes Forschungsgebiet führt. Insgesamt spielt in der obigen Entwicklung der Begriff der Modalität eine zentrale Rolle, wobei Modalitäten verstanden werden als logische Operatoren, die ausdrücken, dass Dinge auf bestimmte Weise gelten. Die Urform der Modalität ist die Notwendigkeit; in den obigen Beispielen finden wir Modalitäten ,obligatorischerweise‘, ,letztlich‘, ,wenn – dann normalerweise‘. Einen vereinheitlichenden Rahmen für solche in ihrem semantischen und inferenziellen Charakter sehr breit gefächerte Modalitäten bietet die sich aktuell entwickelnde koalgebraische Logik, die insbesondere auch generische Werkzeuge für das automatisierte Schließen zur Verfügung stellt und sich damit für die Modellierung realweltlich orientierten Wissens besonders anbietet.

VII. Mustererkennung Grundlage der Mustererkennung ist die direkte Bestimmung einer gewünschten Klasse oder Kategorie anhand von beliebigen Eingangsdaten.41 Allgemein werden Daten aus einem abstrakten Sensor so verarbeitet, dass er am Ende einer Kategorie zugeordnet werden kann. In unserem Fall könnte also ein Sensor ein Flachbettscanner für Dokumente sein. Das Konzept kann aber auch so abstrakt interpretiert werden, dass beispielsweise auch Text in elektronischer Form verarbeitet werden kann.

Abbildung 4: Die klassische Mustererkennung setzt auf die Verarbeitungsschritte „Vorverarbeitung“, „Merkmalsextraktion“ und „Klassifikation“. Tiefes Lernen erlaubt alle drei Schritte durch einen einzigen zu ersetzen.

Ziel der klassischen Mustererkennung (vgl. Abbildung 4) ist es nun zunächst die Daten zu verbessern. Dies geschieht in der Vorverarbeitung. Bei Scans kann zum Beispiel störendes Rauschen vermindert werden. Bei Text ist es üblich Methoden des NLP zu verwenden und Wörter auf ihre Grundformen zu reduzieren. Danach werden Merkmale identifiziert, die für die jeweilige Fragestellung grundlegend sind. Hierzu 41

Eingehend dazu Niemann, Klassifikation von Mustern, 2013.

Sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) und ihr Nutzen für Juristen

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wären beispielsweise die Identifikation von juristischen Fachbegriffen, wie „Käufer“, „Verkäufer“, „Versandschaden“ usw. zu nennen. Basierend auf den Merkmalen wird dann die Entscheidung im Schritt „Klassifikation“ ermittelt, beispielsweise, ob eine Rückerstattung erfolgen soll oder nicht. Um ein entsprechendes System zu konstruieren, war es in der Vergangenheit immer notwendig Spezialwissen aus der jeweiligen Fragestellung – hier der Juristerei – zu nutzen, um aussagekräftige Merkmale und Vorverarbeitungsschritte zu spezifizieren. Das sogenannte „tiefe Lernen“ oder „Deep Learning“ braucht dieses Fachwissen nicht mehr.42 Hier werden alle Schritte vom Sensor zur Klassifikation automatisch ermittelt. Für das Training eines solchen Systems ist es allerdings erforderlich große Datenmengen vorzuhalten, beispielsweise tausende bis hunderttausende an juristischen Entscheidungen. Liegen diese vor, ist davon auszugehen, dass entsprechende juristische Prozesse zu einem hohen Grad automatisch entschieden werden können. Allerdings ist an dieser Stelle zu sagen, dass solche Entscheidungen nur schwierig nachvollziehbar sind. Im Gegensatz zur Aussagenlogik, sind solche Systeme nur bedingt dazu in der Lage ihre Entscheidungen zu erklären. Daher ist es wahrscheinlich, dass erste Anwendungen Vorgänge betreffen werden, die täglich zu tausenden entschieden werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass die Fälle bei ebay, die oben bereits Erwähnung finden zu wesentlichen Teilen von solchen Systemen entschieden werden. Insofern wäre bei einem Einsatz eines solchen Systems ein Revisionsmechanismus grundlegend, um potentielle Fehler wieder korrigieren zu können. Neben dem überwachten Lernen, dass wie oben beschrieben große Zahlen an Trainingsdaten benötigt, gibt es noch andere Lernverfahren. Das unüberwachte Lernen43 erlaubt es Häufungsgebiete zu identifizieren. Damit können beispielsweise „Ausreißer“ also deutliche Abweichungen und Spezialfälle gefunden werden. Auch das sog. Verstärkungslernen44 könnte in der Justiz Anwendung finden. Hierzu müssten aber komplette Prozesse als eine Art „Spiel“ simuliert werden, um ein System zu trainieren. Da dazu alle juristischen Abläufe digital modelliert werden müssten, werden solche Ansätze vermutlich noch länger auf sich warten lassen.

VIII. Ergebnis Nach der hier vertretenen Auffassung sollte dem Digitalisierungsdruck, dem sich die Justiz gegenüber sieht, durch die Erforschung der technischen Möglichkeiten der derzeit wichtigsten KI-Verfahren zur Entwicklung juristischer Assistenzsysteme be42

Maier/Syben/Lasser/Riess, Zeitschrift für Medizinische Physik 29. 2. 2019, 86. Barlow, Neural computation 1. 3. 1989, 295. 44 Eingehend dazu Sutton/Barto, Reinforcement learning, 2018. 43

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Axel Adrian, Lutz Schröder und Andreas Maier

gegnet werden. Dabei ist auf die Entwicklung und insbesondere die Evaluation digitaler Assistenz-Prototypen besonderes Augenmerk zu legen, da skalierter Output der Justiz besonderen Qualitätsanforderungen unterliegt, um das Vertrauen der rechtssuchenden Bevölkerung zu bewahren. Es scheint, dass trotz aller Herausforderungen die Idee der Digitalisierung und weitgehenden Automatisierung von Entscheidungsprozessen vielversprechend ist. Besonders erfolgversprechend, wenn auch besonders aufwändig, erscheint die Idee, dass ein und dieselbe juristische Aufgabenstellung gleichzeitig mit verschiedenen Teilgebieten der Informatik (bzw. der sog. KI) in Kombination erforscht wird. Spezifische, aufgrund ihrer Geeignetheit erst besonders auszuwählende, juristische Aufgabenstellungen sollten in Kombination von Korpuslinguistik, Wissensrepräsentation- und Verarbeitung, automatisierten Schlussverfahren und auch von Machine Lerning und Deep Learning mit Maschinen bearbeitet werden. Der Erfolg bei der Umsetzung dieser Idee dürfte davon abhängen, dass Menschen in vielen kleinen Schritten, das zur Lösung der spezifischen juristischen Aufgabe erforderliche Wissen in maschinenlesbare Repräsentationen formalisieren und zusätzlich möglichst viele Daten für die spezifische Aufgabenstellung aufbereiten. Auch deswegen ist die Erforschung der Möglichkeit einer maschinellen Anonymisierung so wichtig, damit insbesondere anonymisierte Urteile in großer Zahl als Datenbasis überhaupt verfügbar gemacht werden.45 Der verfassungsrechtliche Rahmen in Deutschland46 und wohl auch in allen anderen Demokratien der westlichen Welt, ist dabei unseres Erachtens übrigens so zu lesen, dass vollständig automatisierte Gerichtsentscheidungen, und zwar nicht nur im Zivilrecht, nicht zulässig und auch nicht gewünscht sind. Es kann insbesondere beim Einsatz sog. KI stets nur um die Unterstützung der Richterinnen und Richter, also nur um Assistenzsysteme gehen. Substitutionssysteme sind abzulehnen.47 KI kann und sollte also den Nutzen für uns Juristen haben, die Justiz bei der Digitalisierung zu unterstützen und damit den Rechtsstaat und die Herrschaft des Rechts gegen unerwünschte Entwicklungen abzuschirmen.

45

Adrian/Evert/Keuchen/Heinrich/Dykes, in: Schweighofer/Hötzendorfer/Kummer et al. (Hrsg.), Cybergovernance: Tagungsband des 24. Internationalen Rechtsinformatik Symposiums IRIS 2021, 2021, 137 ff.; sowie in diesem Band dies., S. 159 ff. 46 Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 260 ff. 47 Adrian, Rechtstheorie 2017, 77 (81, 105).

Maschinelle Entscheidungen in China – Internet Court in Hangzhou und Social Credit System Von Georg Gesk und Zhiyuan Guo*

I. Einführung Auch wenn die VR China in den letzten Jahren versucht hat, sich im Ausland zu profilieren und dabei nicht immer eine glückliche Hand bewies, so gibt es in China durchaus Entwicklungen, die sich lohnen, genauer betrachtet zu werden, da sie Entwicklungen vorwegnehmen, die bei uns in Europa oder spezifisch bei uns in Deutschland gerade erst begonnen haben. Die erste SARS-Epidemie im Jahr 2003 hat in China zu Lockdowns geführt und war die Initialzündung für den Aufstieg von Unternehmen wie Tencent oder Alibaba. In der Folge hat der Staat erkannt, welches große Potential in Daten und der Verarbeitung von Daten durch KI verborgen liegt. Er hat daher in sehr stringenter Weise die digitale Infrastruktur vorangebracht und damit begonnen, auch den Staat und seine Institutionen in das Digitalzeitalter zu entwickeln. Diese Bemühungen wurden durch die COVID19-Pandemie nochmals verstärkt, so dass China die Investitionen in Hardware (5G etc.) und Software (KI-Systeme und andere Anwendungen) bereits über die kommenden Jahre verpflichtend festgelegt hat. In Bezug auf die Justiz blieb es nicht beim Anspruch, eine digitalisierte und digitale Justiz aufzubauen, sondern der Ansatz hat konkret dazu geführt, dass mehrere Modellversuche an Gerichten entstanden und dass ein Teil der digitalen Anwendun* Der Autor Gesk ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für chinesisches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Osnabrück. Weiterhin versieht er Lehraufträge im Nebenamt u. a. an der School of Criminal Justice der China University of Political Science and Law, Peking, und der Law School der National University of Kaohsiung, Taiwan. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen rechtliche Systembildung und Institutionenbildung, Justizund Strafrechtsreform, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftsrecht, sowie den Rechtsvergleich insbesondere des chinesischen und deutschen Rechts, aber auch des chinesischen Rechts mit ) ist Dekan des Fachbereichs anderen Rechtssystemen Ostasiens. Der Autor Guo ( Rechtswissenschaften der Universität Anhui ( ) und Professor für Prozess- und Beweisrecht, Schiedsgerichtsbarkeit und Justizwesen. 2008 hat er seine Promotion an der China University for Political Science and Law abgeschlossen und daran anschließend Forschungsaufenthalte in den USA und Japan absolviert. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen in Fachjournals und Verfasser relevanter Lehrbücher. An der Universität Anhui ist er u. a. zuständig für Internationalisierung und Graduiertenkolleg. Er hatte zahlreiche Engagements in der Bildungsplanung und in der Beratung insbesondere von Organen der Strafjustiz.

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Georg Gesk und Zhiyuan Guo

gen während der Lockdowns der COVID19-Pandemie bereits verallgemeinert wurde, so dass alle Volksgerichte mittlerweile zumindest über ein bestimmtes Repertoire digitaler Anwendungen verfügen. Insbesondere sind an dieser Stelle onlineVerhandlungen zu erwähnen, die es den Institutionen und den Prozessparteien erlauben, mit rein digitalem Kontakt insbesondere Zivilfälle zu lösen. Wenn wir hier aber nicht nur eine digitalisierte Justiz betrachten, sondern der Frage nachgehen, inwieweit die chinesische Justiz bereits maschinelle Entscheidungen trifft, dann geht dies über den Rahmen der digitalisierten Verhandlung weit hinaus. In dem Zusammenhang wird allerdings ebenfalls deutlich, dass die Vorreiter dieser Entwicklung sich über die vergangenen Jahre multipliziert haben. War der erste Prototyp eines Gerichts, das sich mit der Anwendung maschineller Entscheidungsfindung befasst hat, der Internet Court in Hangzhou, so sind inzwischen andere Internet Courts in Beijing, Shanghai und Guangzhou (Kanton) entstanden; der Oberste Volksgerichtshof hat ein Urteilsassistenz-System entwickelt, das Richtern generell die Entscheidungsfindung durch Urteilsvorschläge erleichtert, welche vom System auf der Grundlage eines erstaunlich großen Datenpools und unter Berücksichtigung der Gesetzeslage erstellt werden. Parallel zu dieser Einbindung maschineller Entscheidung in die Justiz können wir einen vollkommen anderen Ansatz beobachten, der zwar auch zum Ziel hat, Menschen durch maschinelle Entscheidungen zu normgerechtem Verhalten anzuleiten, der sich aber relativ unabhängig von der Justiz entwickelt, so dass nur Fälle, deren Konsequenzen gravierend sind, oder deren Datenbasis bzw. deren Datenanalyse offensichtliche Fehler aufweist, dem Gericht zur Bestätigung bzw. zur Revidierung vorgelegt werden. Es ist dies das Social Credit System (SCS), das durch ein KIbasiertes Ranking in einem allgemein festgelegten Punktesystem Bonus- und MalusPunkte vergibt, auf Grund derer man dann Vorteile und Nachteile beim Umgang mit staatlichen Stellen (Priorisierung bei Antragsverfahren) oder im Alltag (wie etwa der priorisierte oder unmögliche Ticketkauf für Bahn und Flug) – je nachdem – entweder genießt oder erduldet. Dabei ist interessant, dass die meisten Fälle, in denen sich die Gerichtspraxis ausdrücklich auf Sanktionen des SCS berufen, im Verwaltungsrecht angesiedelt sind. Eine direkte Vernetzung des SCS mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgt allerdings meist nur auf der Beweisebene, während die Sanktionsebene betont, dass beide Systeme eine relative gegenseitige Unabhängigkeit bewahren. Wie sich an Beispielen aus dem Zivilrecht zeigt, ist die Digitalisierung der Justiz zumindest teilweise mit einer Digitalisierung des Alltags und der Einführung maschineller Entscheidungsfindung direkt verknüpft. Wenn etwa der Internet Court in Hangzhou große Mengen an Verbraucherkrediten bearbeitet, deren Ausfall dazu führt, dass Alipay in Hangzhou gegen die betroffenen Schuldner klagt, dann ist die Tatsache, dass alle Beweismittel in digitalisierter, kategorisierter, authentifizierter und standardisierter Form vorliegen, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Gericht diese Fälle zumindest teilweise maschinell auch in der Entscheidungsfindung abarbeiten kann.

Maschinelle Entscheidungen in China

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Nach dieser eher allgemeinen Einführung soll im Folgenden genauer auf Planungsgrundlagen, gesetzliche und weitere normative Grundlagen, sowie auf faktische Grundlagen dieser Entwicklungen eingegangen werden.

II. Planungsgrundlagen Damit es überhaupt innerhalb der Justiz zu diesen Entwicklungen kommen konnte, bedurfte es (zum einen) zunächst einer politischen Entscheidung, welche den Institutionen die Freiheit zur Entwicklung eröffnete. Erst diese politisch-strategische Entscheidung hat es den Akteuren ermöglicht, weitere faktische und normative Grundlagen zu erarbeiten. Die politische Initialentscheidung, welche den Aufbau der ersten Pilotprojekte ermöglichte, war doppelt abgesichert: Bereits im Februar 2015 veröffentlichte der Oberste Volksgerichtshof die Vierte Fünfjahresplanung zur Justizreform1 und forderte darin explizit, dass die vormals als Fachgerichte gegründeten Eisenbahngerichte sich auf interregionale Fälle spezialisieren sollen, was inhaltlich mit der Möglichkeit zur Öffnung hin zu neuen Tätigkeitsbereichen verknüpft war. Auch auf der Grundlage dieser Reformagenda bestimmte das Obervolksgericht der Provinz Zhejiang am 27. 4. 2015, dass mehrere Gerichte der Stadt Hangzhou „E-Commerce-Kammern“2 gründen sollten, welche in der Folge am bis dato als Eisenbahngericht, welches bereits über interregionale Erfahrungen verfügte, konzentriert wurden. Somit konnte man erst Erfahrungen sammeln und diese dann am Eisenbahngericht konzentrieren, welches in der Folge offiziell in einen „Internet Court“ umgewandelt wurde. Parallel dazu verkündete der Staatsrat als oberstes Organ der Exekutive wenig später am 4. 7. 2015 die Initiative „Internet+“3. Das zeigt, wie sich die Gründung dieser Pilotprojekte in einem Klima vollzog, wo unterschiedliche Ebenen und unterschiedliche staatliche Gewalten konzertiert versuchten, Institutionen digital auszurüsten, ohne dass damit wirkliche inhaltliche Beschränkungen versehen waren. Diese politisch geschaffenen Freiräume existieren nach wie vor, sind aber seither in sehr viel stärkerem Maße in den Prozess einer Skalierung einbezogen. Um diese Skalierung – also die landesweite Anwendung einer digitalisierten Justiz, die selbstverständlich Zugriff auf maschinelle Entscheidungsfindung hat – zu ermöglichen, hat der Oberste Volksgerichtshof den Aufbau von relevanten Standards und die Normierung entsprechender Rahmenbedingungen zu einem Fokus der aktuellen Fünf1

Siehe Meinung des OVG zur umfassenden Vertiefung der Reform der Volksgerichte ( ), III (1) 2. Satz 3, https://www.chinacourt.org/law/detail/2015/02/id/148096.shtml, zuletzt aufgerufen am 6. 12. 2021. 2 Siehe https://www.yuncourt.com/portal/main/domain/lassenNewsNoticeInfo.htm?securityId=yMdxWuBf 62lvShjDbHE0kA, zuletzt aufgerufen am 6. 12. 2021. 3 Aktenzeichen: Staatsrat, Kommission für Entwicklung und Reform (2015) Nr. 40 ( (2015)40 ), Beschluss vom 1. 7. 2015, veröffentlicht am 4. 7. 2015, http://www.gov.cn/zheng ce/content/2015-07/04/content_10002.htm, zuletzt aufgerufen am 6. 12. 2021.

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Georg Gesk und Zhiyuan Guo

Jahresplanung zur Justizreform gemacht. Die Rechtsetzung geschieht also nicht mehr – wie in der Anfangsphase – überwiegend durch die in Pilotprojekten eingebundenen Institutionen (sprich: Gerichte) selber, sondern vollzieht sich eingebunden in einen nationalen Rahmen und wird von übergeordneten Gerichten, insbesondere vom Obersten Volksgerichtshof vorangetrieben. So wurde unter dem Dach der „Grundlinien der 5. Fünfjahresplanung zur Justizreform“4 eine „Fünfjahresplanung für den Aufbau der Digitalisierung der Volksgerichte (2019 – 2023)“5 erarbeitet. Weitere Konkretisierungen der Rahmenbedingungen waren dann Schwerpunkte z. B. der 2. Konferenz der Kommission für Informationssicherheit am OVG6. Auf dieser Konferenz wurden dann die Punkte *

Rechenschaftsbericht,

*

Arbeitsplanung,

*

Standardsetzung,

*

Abstimmung mit KI-Konzernen

adressiert und als Arbeitsaufträge an entsprechende Arbeitsgruppen vergeben. Da eine Standardsetzung ohne die Expertise der involvierten Unternehmen bei der Umsetzung nicht einfach ist, da aber der OVG sich zumindest einen Teil der für juristische Zwecke und Anwendungen notwendigen Standards nicht von Unternehmen, denen es an juristischem Hintergrund mangelt, vorschreiben lassen möchte, sind die Felder Standardsetzung und Abstimmung mit KI-Konzernen bewusst getrennt gestaltet, werden faktisch jedoch aufeinander bezogen. Die Umsetzung dieser Vorgaben lässt sich an der Auflistung erfolgter Arbeitsschritte deutlich ablesen. Der Bereich „Internetsicherheit und Digitalisierungsarbeit“ wird in Halbjahresschritten vorangebracht, wobei der Bericht über das vergangene Halbjahr jeweils mit der weiteren Planung für das kommende Halbjahr kombiniert wird.7 Ein weiterer Schritt, der Digitalisierung mit neuen Anwendungen verknüpft, ), welche es Nutzern erist der Aufbau von sogenannten „MicroGerichten“ ( 4

Grundlinien der 5. Fünfjahresplanung zur Justizreform“ . Fünfjahresplanung für den Aufbau der Digitalisierung der Volksgerichte (2019 – 2023) ( (2019 – 2023)), https://www.waizi.org.cn/doc/83446. html, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 6 2. Konferenz der Kommission für Informationssicherheit am OVG ( 2019 ), https://www.google.com/url?sa=t&rct= j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjRtpyupL z0AhX7hP0HHaDiAh0QFnoECAYQAQ&url=http%3A%2F%2Fwww.court.gov.cn%2Fzi xun-xiangqing-197871.html&usg=AOvVaw35lJgSJIVpxMOlNiHNaVcC, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 7 Halbjahresbericht über Internetsicherheit und Digitalisierungsarbeit sowie Ausblick auf die Planungen des nächsten halben Jahres 2019 (2019 ), siehe https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&sour ce=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwirtejIpLz0AhXAiv0HHYaLDikQFnoE CAMQAQ&url=http%3A%2F%2Fwww.court.gov.cn%2Fzixun-xiangqing-197871. html&usg=AOvVaw35lJgSJIVpxMOlNiHNaVcC, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 5

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möglichen, sich mit einem Tastendruck vom Smartphone aus mit einem Gericht in Verbindung zu setzen8 und sich auf diesem – von der Örtlichkeit des Gerichts in großem Maße unabhängigen – Weg für die Durchsetzung der eigenen Rechte einzusetzen. Bereits im Nutzerhandbuch werden dann unterschiedliche Verfahrensarten und Beteiligte aufgelistet, so können Betroffene zwischen Mediation, Klage und Vollstre) einzuckung wählen. Dazu gibt es die Möglichkeit, einen „MicroAnwalt“ ( schalten, der sich dann ebenfalls online zuschaltet. Damit diese und ähnliche Apps Wirklichkeit werden konnten, bedurfte es einer engen Kooperation zwischen der chinesischen Justiz, Netzanbietern und Technologiekonzernen. Alle drei Ebenen tauchen auch regelmäßig in relevanten Quellen auf: Der Bericht zur Arbeit der Justizreform spricht von einem „Bericht von China Mobile über die Fortschritte von MicroGerichten“9, womit sich eines der global größten Telekommunikationsunternehmen aktiv in die Entwicklung dieses Projekts eingeschaltet hat. Parallel dazu sehen wir bereits im Jahr 2018, wie das Obervolksgericht ) und Tencent ( ) gemeinsam die erste der Provinz Jiangsu ( voll funktionsfähige Plattform für ein MicroGericht entwickelt haben. Obwohl Tencent im Westen eher für online-Spiele oder für seinen Messenger-Dienst WeChat bekannt ist, hat es als anwendungsorientiertes Technologieunternehmen in diesem Fall auf Unternehmensseite die Entwicklung eines Internet-basierten „government ser) federführend voran getrieben.10 Mittlerweile haben Internet-basierte vice“ ( MicroGerichte allgemein ihre Arbeit aufgenommen, so dass mit Datum vom 20. 2. 2020 offiziell erklärt wird, wie ein potentieller Kläger sich in die Tencent-App des MicroGerichts einloggen kann und wie es von dort bis zur Klage weitergeht.11 Wenn der Kommunikationsweg zwischen Gericht, Prozessparteien und Anwaltschaft vollkommen digitalisiert ist, dann sind die Voraussetzungen für ein KI-Gericht ebenso vollkommen gegeben: Alle Informationen sind in digitalisierter Form erhältlich, so dass diese Informationen durch künstliche Intelligenz mit vergleichsweise geringen Transformationsprozessen weiterverarbeitet werden können. Eben hierzu

8

Siehe z. B. das „Nutzerhandbuch – Prozessparteien für das MicroGericht Beijing“ ( ), https://www.bjcourt.gov.cn/file/ydwfyczsc.pdf, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 9 Bericht von China Mobile über die Fortschritte von MicroGerichten ( ). 10 Siehe z. B. die Nachricht auf der Infopage von Tencent: MicroGericht Jiangsu ( ), 2018 – 02 – 02, Tencent Internet+ ( +), https://plus.tencent.com/detailnews/ 964, zuletzt aufgerufen am 27. 11. 2021; siehe auch China Court, Meldung vom 17. 3. 2018, http://rmfyb.chinacourt.org/paper/html/2018-03/17/content_136825.htm?div=2, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2018. 11 Siehe Kompass für internetbasierte Klagen am MicroGericht ( ), http://www.360doc.com/content/20/0220/19/56332975_893471531.shtml, zuletzt aufgerufen am 27. 11. 2021.

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hat der Oberste Volksgerichtshof ein Versuchslabor12 eingerichtet, das auf nationaler Ebene an der Realisierung von KI-Gerichten arbeitet. Parallel dazu gibt es aber Initiativen an lokalen Gerichten, welche als Pilotprojekte den Einsatz von KI im Richterspruch getestet und statistisch ausgewertet haben.13 Interessant dabei ist, dass die offene Kommunikation über Berufungswahrscheinlichkeit (sprich: die Akzeptanz des Urteils durch die Prozessparteien) von KI-Urteilen im Vergleich zu Urteilen durch menschliche Richter mittlerweile nicht mehr stattfindet. Spätestens seit 2019 berichteten Kollegen aus der VR China, dass die Maxime des menschlichen Richters und damit die letztendliche Beherrschbarkeit des Algorithmus durch den menschlichen Richter in den Planungsmittelpunkt gestellt wurden. Es kann also nicht die Tatsache, dass einfache Fälle, die durch KI entschieden werden und die auf Grund der Eindeutigkeit der Beweislage den Erfolg einer Berufung nicht wirklich wahrscheinlich wirken lassen, die Glaubwürdigkeit menschlicher Richter, die über komplizierte und komplexe Fälle mit weniger eindeutiger Beweislage zu entscheiden haben, in Zweifel ziehen. Es nimmt vor diesem Hintergrund nicht Wunder, dass der Oberste Volksgerichtshof eine eigene Arbeitsgruppe gebildet hat, um eine Gesamtstrategie für den Aufbau juristischer KI-Anwendungen14 zu entwickeln und an die jeweiligen Gegebenheiten und Fortschritte anzupassen. Es ist also eine Tatsache, dass innerhalb Chinas sehr viele verschiedene Akteure von unterschiedlichen Seiten an dem Aufbau einer digitalisierten Justiz beteiligt sind, und dass diese Akteure in unterschiedlichen Zusammensetzungen und Clustern neben der Digitalisierung auch noch KI-Anwendungen implementieren. Um also eine Kompatibilität dieser unterschiedlichen Entwicklungsansätze und -tempi zu gewährleisten, bedarf es gemeinsamer Standards, die eben diese Kompatibilität gewährleisten. Allein im Jahr 2019 hat der Oberste Volksgerichtshof hierfür ein „System von Beurteilungsstandards für den Aufbau von KI-Gerichten“15 eingerichtet, das bis Mitte 2020 mindestens 14 unterschiedliche Digitalstandards für die chinesische Justiz gezeitigt hat.16 Standardisierung und algorithmische Wertungen im Rahmen

12 Auch wenn der Bericht als solcher nicht wirklich veröffentlicht ist, so ist im Rahmen der Realisierung der Fünf-Jahres-Planung zur Justizreform doch zumindest erwähnt, dass ein Versuchslabor für den Aufbau von KI-Gerichten eingerichtet wurde (Bericht über den Aufbau )). eines Versuchslabors für KI-Gerichte ( 13 Siehe Gesk/Schmid, Preconditions and Opportunities of the ,Internet Court‘ in Hangzhou/China – a Model? (Voraussetzungen und Chancen des ,Internet Court‘ in Hangzhou/ China – ein Modell?), in: Schwaighofer, Internet of Things, Proceedings of the 22nd International Law Informatics Symposium IRIS 2019, Bern: Weblaw, 2019, S. 425 – 430. 14 Arbeitsgruppe für einen „Masterplan für das Voranbringen des Aufbaus der KI in der gesamten Justiz“ ( ). 15 System von Beurteilungsstandards für den Aufbau von KI-Gerichten (Stand: 2019) ( 2019 ). 16 14 digitalisierte Standards für Volksgerichte (14 ).

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von Urteilen sind mittlerweile so weit fortgeschritten, dass von Seiten der Justiz bereits eigene Buchpublikationen zu dem Thema erschienen sind.17 Die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen hat auch in den Jahren 2020 und 2021 unvermindert angehalten. Durch die Kompatibilität der Systeme und den großen Datenpool (seit 2013 liegen durchschnittlich mehr als 80 % aller Urteile aus ganz China in digitalisierter Form vor) ergeben sich einzigartige Anwendungsmöglichkeiten für den Einsatz der KI im Gerichtsalltag. Neben den einzelnen Urteilen, die notwendigerweise viele Details enthalten, die für eine KI-Anwendung in der Summe zu einem starken „Hintergrundrauschen“ führen, werden seit 2020 nach Möglichkeit zu jedem Urteil in einer passenden Maske vom Gericht selber Urteilsanalysen angefertigt, durch welche die im Urteil tatsächlich wichtigen Tatsachen des Sachverhalts und die für das Urteil bestimmenden Faktoren herausgestellt werden.18 Auf dieser Grundlage – so wird zumindest glaubhaft von Kollegen vor Ort berichtet – entsteht ein Expertensystem, was den Richtern für jeden behandelten Fall nach Möglichkeit ein Referenzmuster für ein mögliches Urteil anbietet. Durch die Datenmenge und durch die zuvor erfolgte Strukturierung ist zu erwarten, dass die relevanten KI-Systeme die Einheit der Justiz in ganz China erheblich voranbringen, da jeder menschliche Richter, der von dem Vorschlag des Systems abweicht, nicht nur im Urteil selber einen größeren Begründungsdruck hat, sondern dass er seine Abweichung vom Vorschlag des KI-Systems in der Folge auch intern begründen muss. Inwieweit diese Interaktion von menschlichem Richter und Urteilsalgorithmen zu einem Problem wird, als der Richter sich an das System anpasst, statt dass er das System mit neuen Kriterien bereichert und auf einen besseren Standard trainiert, wird zwar diskutiert19, hindert aber nicht die Entwicklung, in Richtung einer hybriden Justiz weiterzugehen. Die Verbindung von KI-Urteilen und menschlichen Urteilen wird als Möglichkeit der Objektivierung und als Effizienzgewinn betrachtet und ist damit eindeutig positiv belegt.

17

), Standardsystem und Wertungssystem des KI-Gerichts ( ), China court ( ), April 2021. 18 Für Beispiele von Analysemasken siehe z. B. Modell einer Fallanalyse (vollständige Version) ( ( )), https://wenku.baidu.com/view/afad17e45afafab 069dc5022aaea998fcd22406c.html, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 19 Für eine eher an der Soziologie der Technik orientierte Retrospektive und Perspektive des Aufbaus von KI-Anwendungen in der chinesischen Justiz und deren Einbettung in einen rechtstheoretischen Rahmen, siehe Zheng Ge ( ), Zwischen Recht und Technik – KIGericht und die Justiz von morgen ( —— ), China Social Science Review ( ) 2021 Vol. 1, http://www.socio-legal.sjtu.edu.cn/ wxzy/info.aspx?itemid=3872, zuletzt aufgerufen am 28. 7. 2021. Siehe SUN Fuhui (

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III. Gesetzlich-normative Grundlagen Dass diese Entwicklung hin zu einer KI-informierten Justiz, ja teilweise bis hin zu durch KI-Systeme erstellten Urteilen möglich ist, beruht nicht nur auf Policy-Vorgaben von Partei und Staat (insbesondere dem Obersten Volksgerichtshof), sondern auch auf Besonderheiten der legislativen und normativen Strukturen. )20, dass das Gericht „unabhängig Zunächst gilt nach Art. 131 Verfassung ( nach Lage des Gesetzes“ urteilt. Es ist hier nicht von einem persönlichen Richter die Rede, so dass die Forderung, ein Urteil dürfe nicht von einem entpersonifizierten KI-System erstellt werden, ins Leere läuft. In der Verfassung ist die Eingrenzung auf einen persönlich individualisierten Richter nicht vorgesehen. Das hat die Richter in der Vergangenheit als Kollektiv gegen äußere Einflussnahme schützen können, hat aber zur Folge, dass ein KI-System als Entscheidungsinstanz vollkommen verfassungskonform ist, solange es einen organisatorischen Teil des jeweiligen Gerichts darstellt. ), Weiter bestimmt etwa § 3 cZPO (chinesisches Zivilprozessgesetz ( dass das erkennende Gericht an die cZPO gebunden ist. Gleichzeitig findet sich aber keine Rechtsfolge für den Fall, dass das Gericht weitergehende Bestimmungen zu Rate zieht. Es können daher für die digitalisierte Justiz von einzelnen Gerichten oder Pilotprojekten rechtliche Normen durch das betreffende Gericht erarbeitet werden, die dann bis zu dem Moment rechtliche Gültigkeit besitzen, bis zu dem sie durch höherrangige Normen ersetzt oder verdrängt werden. Was der direkten Anwendung von KI-Systemen als gerichtliche Entscheidungsinstanz eine effektive Grenze setzt, ist § 12 cZPO, wonach die Parteien ein Recht auf mündliche Verhandlung haben. Wenn das Verfahren also keine rein schriftliche Fallprüfung vorsieht, gestaltet sich eine „reine KI-Lösung“ für die Urteilsfindung als Randphänomen, was nur in sehr einfachen Verfahren zulässig ist, wo die Prozessordnung auch bis dato keine mündliche Verhandlung vorsieht. ) dem Obersten Volksgerichtshof Da es nach § 104 Gesetzgebungsgesetz ( möglich ist, „Interpretationen“ ( ) zu Gesetzen, Staatsratsverordnungen etc. zu erarbeiten, können unter Einverständnis des Obersten Volksgerichtshofs Normen entstehen, welche Gesetze „ergänzen“, ohne dass dies im Gesetz ursprünglich so bestimmt war. In diesem Sinne hat das oben bereits zitierte „Nutzerhandbuch – Prozessparteien für das MicroGericht Beijing“ durchaus eine die jeweiligen Prozessordnungen ergänzende Funktion, denn es bestimmt in abstrakter Weise, wie eine Partei eine Klage vor Gericht erheben kann. Solange Prozessgesetze des Zivil- bzw. des Strafrechts nicht ausdrücklich geregelt haben, wie eine Prozesspartei vor einem digitalisierten MicroGericht Klage erheben kann, solange ist das entsprechende Nutzerhandbuch der prozessrechtliche Referenzrahmen. Da aber unterschiedliche Gerichte in Teilen anders lautende Bestimmungen für dieselben Verfahrensfragen erarbeitet 20 Die derzeit geltende Verfassung stammt von 1982 und wurde zuletzt am 11. 3. 2018 geändert.

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haben, hat sich für den Moment ein verfahrensrechtlicher Pluralismus eingestellt. Es steht jedoch zu erwarten, dass die einschlägigen Bestimmungen in absehbarer Zukunft vereinheitlicht werden, um dann sehr wahrscheinlich in die Prozessordnungen integriert zu werden. Ein konkretes Normbeispiel, an dem ersichtlich ist, wie ein Pilotprojekt den Einsatz von ganz oder teilweise KI-generierten Urteilen innerhalb des Gerichts regelt und damit eine niederschwellige normative Grundlage zur Verfügung stellt, sind die Verfahrensbestimmungen für die Prozessplattform des Internet-Court Hangzhou.21 Obwohl die URL, über die sich Kläger einwählen müssen, die zentrale Internetadresse der chinesischen Internetjustiz ist (www.netcourt.gov.cn), gelten für das weitere Verfahren die Bestimmungen, die das Gericht zu diesem Zweck selber erlassen hat. In Kapitel X Erstellung des Urteils § 36 dieser Verfahrensbestimmungen wird ausdrücklich festgehalten, „das (Urteils-)Dokument wird automatisch erstellt. Der erkennende Richter kann KI-Technik auf der Prozessplattform nutzen, um das Urteilsdokument online zu erstellen; die Prozessplattform erstellt Teile oder das gesamte Dokument automatisch; der erkennende Richter kann es vervollkommnen oder verändern.“22

Somit ist der Richter autorisiert, sowohl hybride Formen der Urteilserstellung, als auch rein KI-dominierte Formen der Urteilserstellung anzuwenden. Gleichzeitig wird an dieser Bestimmung deutlich, dass sich der Richter der KI-Lösung gegenüber in einer übergeordneten Position befindet. Der erkennende Richter hat in jedem Fall die Kompetenz, das Urteil zu „vervollkommnen“ oder zu ergänzen. Bei den „(experimentellen) Verfahrensvorgaben zur quantitativ großen Lösung von Finanz- und Mikrokrediten durch das Internet Gericht Guangzhou (Kanton)“23 finden sich zwar ebenfalls Bestimmungen zur Anwendung von KI-Systemen im Gericht, diese sind allerdings in ihrer Formulierung wesentlich weniger konkret. So bestimmt § 3 dieser experimentellen Verfahrensvorgaben, dass das Gericht im Rahmen der Lösung von Streitigkeiten bezüglich Finanz- und Mikrokrediten „Big Data, Cloud Computing, KI, Blockchain und andere Techniken anwenden kann, dass es sich auf vertrauenswürdige Beweisplattformen verlassen kann, …, dass große Mengen ähnlicher Fälle durch intelligente Untersuchungssysteme gelöst werden sollen …“.24 Was in dieser Bestimmung fehlt, ist der Hinweis auf das Primat des 21

Verfahrensbestimmungen für die Prozessplattform des Internet-Court Hangzhou ( ), http://www.zjsfgkw.cn/attach/0/1708181620272944730.pdf, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 22

23

(Experimentelle) Verfahrensvorgaben zur quantitativ großen Lösung von Finanz- und Mikrokrediten durch das Internet Gericht Guangzhou ( ), https://www.docin.com/p-2285956887. html, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 24

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menschlichen Richters, denn es wird auf eine reine KI-Anwendung bei der Falllösung und der Erstellung von Urteilen in ähnlichen Fällen, die in großen Mengen vorkommen. Wir sehen also, dass unterschiedliche Pilotprojekte – je nach Fallstruktur der Gerichtsbezirke – unterschiedliche Wege gehen und dass auf diese Weise tatsächlich eine pluralistische Entwicklung stattfindet. Um die Beschränkung durch § 12 cZPO aufzulösen und somit die Anwendungsmöglichkeiten von KI-Entscheidungen über einfache Verfahren hinweg auszuweiten, bestimmen die experimentellen Verfahrensbestimmungen, dass Prozessparteien online an der Verhandlung parallel gelagerter Fälle teilnehmen können. Auf Grund der direkten Erfahrung aus diesen Musterprozessen können die Parteien dann entscheiden, ob sie sich auf einen eigenen Prozess einlassen wollen, dessen Verfahrenskosten sie dann sehr wahrscheinlich zusätzlich aufbringen müssen. Eine weitere Verhandlung findet also nur auf ausdrücklichen Wunsch der Prozessparteien statt, wobei der Verzicht auf eine Verhandlung insbesondere für diejenige Partei, die absehbar unterliegen wird, einen ökonomischen Anreiz darstellt. Ob dann allerdings die Verhandlung bei Verzicht auf direkte Verhandlung vor einem menschlichen Gericht an ein KI-System übertragen wird, das dann „ähnliche Fälle ähnlich entscheidet“, das wird nicht offen angesprochen, kann also vom Gericht je nach Sachlage entschieden werden. Eine andere Variante der Verfahrenserledigung liegt in einem Vorschlag zu einem gerichtlichen Vergleich, der per KI unter Auswertung analoger Fälle erstellt wird und der durch die Tatsache, dass die Parteien den Vergleich ablehnen können, um sich in eine mündliche Verhandlung zu begeben, einen direkten Gradmesser für die Akzeptanz und damit den Erfolg der durch KI-Systeme erstellten Lösungsvorschläge bietet. Es handelt sich also um eine weitere Zwischenform algorithmischer Entscheidungsfindung, die das Primat des Richters hinter dem Transparenzgedanken und der Akzeptanz durch die Prozessparteien versteckt.

IV. Social Credit System als algorithmisch dominiertes Sanktionssystem Die ersten Planungen zum Social Credit System (SCS) waren bereits vor Beitritt der VR China zur WTO geplant und wurden über die Jahre ständig ausgeweitet25, so dass am Ende nicht nur einfach ein System entstand, das parallel zur in Deutschland bekannten Schufa agiert, sondern dass unter staatlicher Ägide und unter Anwendung

25 Genauer in Raphael/Ling Xi, Discipline and Punish: the Birth of China’s Social Credit System, https://www.thenation.com/article/china-social-credit-system/, zuletzt aufgerufen am 29. 11. 2021.

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von sämtlichen verfügbaren Daten mehrere Systeme entstanden, die sich in ihrer Funktionalität und in ihrer Zielsetzung sehr ähnlich sind.26 Schlechte Zahlungsmoral und schamloses Ausnutzen der Gutgläubigkeit anderer brachten skrupellosen Menschen große Profite, während sich Ehrlichkeit oft als Wettbewerbsnachteil erwies. Das führte in einer Gesellschaft, die ohnehin wenig Vertrauen besaß, zu einem weiteren Vertrauensverlust.27 Das aber wurde zu einem ernsthaften Hindernis auf dem Weg der weiteren ökonomischen Entwicklung. Ein wichtiges Element, das zu diesem Zustand führte, war die Anonymität der „schwarzen Schafe“, die sich in einer dynamisch wachsenden Gesellschaft, welche dazu durch ein hohes Maß an Mobilität gekennzeichnet war, immer wieder an anderer Stelle illegal bereichern konnten. Sei es, dass sie Gelder liehen und nicht zurückzahlten oder Ware erwarben und nicht bezahlten oder Kredite aufnahmen, um dann die Kreditunterlage zu verkaufen und den Kredit nicht zurückzuzahlen, etc. Solche und ähnliche Handlungsweisen schädigten den Markt und die Marktteilnehmer, während das Risiko für diejenigen, die sich hierdurch bereicherten, überschaubar blieb. Genau an dieser Stelle sollte das SCS Abhilfe schaffen. Es sollte zunächst Marktverhalten von unverantwortlichen Akteuren transparent machen, wurde aber in Planung und Realisierung mit Anreizen für solche Marktteilnehmer angereichert, die sich vorbildlich verhalten. Ziel war also zunächst, staatliche Stellen, Unternehmen und Privatpersonen zu einem verantwortungsvollen Umgang miteinander zu bewegen. Ob es sich dabei um ein Projekt der Disziplinierung im Sinne der Aufklärung handelt (Unterdrückung von Verhalten, dass von einem paternalistischen Staat als Schädigung des „common good“ typisiert wird), oder ob es sich um den Versuch einer Wiederherstellung von Umgangsformen handelt, die in der Kulturrevolution abhanden gekommen waren28, sei an dieser Stelle dahingestellt. Faktum ist, dass mittlerweile mehrere Systeme entstanden sind, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie große Mengen von Daten erfassen und diese mit Algorithmen in ein Punktesystem umwandeln, was auf die einzelnen Teilnehmer innerhalb der Gesellschaft individualisierbar ist.29 Weiter haben die Teilnehmer eines jeden spezifischen Systems die 26

Siehe hierzu näher Gesk, in: Schwaighofer/Kummer/Saarenpää (Hrsg.), IRIS 2020 – Verantwortungsbewußte Digitalisierung, Bern: Editions Weblaw, 2020, S. 413 – 418. 27 ), Yang Yiyin ( ), Stratifikatorische und lokale Hierzu genauer Jing Shijie ( Merkmale des sozialen Vertrauens in Zeiten der Veränderung ( ), Social Science ( ), 2013, Nr. 6, S. 77 – 85. 28 Zum Problem des mangelnden zwischenmenschlichen Vertrauens, siehe Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften, Blaubuch über den psychischen Zustand der Gesellschaft: die Kennwerte der chinesischen Gesellschaft bezüglich des Vertrauens sind mangelhaft ( hh ii ), http://scholarsupdate.hi2net. com/news.asp?NewsID=1000, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021. 29 Zu den Bemühungen einer digitalen Modularisierung von Daten, die es erlaubt, individuelle Daten einheitlich miteinander zu verknüpfen, siehe Zhou Ye ( ), Angewandte Forschung zur allgemeinen SCS-Nummer von juristischen Personen und anderen Organisationen im Rahmen der Digitalisierung der macro-ökonomischen Marktregulierungsdaten ( ), Technical Trends ( ), 2019, September, S. 265 f.

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Möglichkeit, durch systemkonformes Verhalten Bonus-Punkte zu erwerben, während sie sich durch systemschädigendes Verhalten Malus-Punkte einhandeln.30 Faktum ist, dass das SCS den Versuch unternimmt, über die algorithmische Auswertung von Big Data zu Aussagen über die Zuverlässigkeit einzelner Rechtssubjekte zu gelangen. Auf Grund dieser Aussagen werden die einzelnen Subjekte „quersanktioniert“, so dass ein Versagen in einem Bereich direkte Auswirkungen auf mehrere andere Bereiche haben kann. Wenn also jemand schwarzfährt und dabei erwischt wird, dann hat er nicht nur eine Sperre für den Erwerb von Zugtickets, sondern gleichzeitig von Flugtickets. Dabei stellt sich das Problem, dass es kein unitäres SCS gibt, sondern dass mehrere parallele SCS existieren.31 So ist z. B. das SCS für den Finanzmarkt unter der Aufsicht der obersten staatlichen Finanzinstitutionen, das SCS für den Massenverkehr wird dagegen von vollständig anderen Behörden unterhalten. Es wird also in jedem System nicht nur einen blinden Fleck geben, denn sobald jemand nicht direkt am anderen System beteiligt ist, werden wichtige Informationen u. U. übersehen. Wenn sich jemand als Bürger über einen potentiellen Mieter oder als Unternehmen über potentielle Geschäftspartner informieren möchte, dann ist das Problem vollends so, dass zwar die eigenen Daten in das System einfließen, dass aber die Daten des Systems von Außenstehenden nicht in vollem Umfang einsehbar sind. Aus diesem Grund gibt es mittlerweile zu verschiedenen SCS Informationsportale, auf dem jeder ein jedes Unternehmen und einen jeden Bürger, die im betreffenden SCS einen negativen Score haben, abrufen kann.32 Wir sehen also einen Sanktionskreislauf, der entweder indirekt (gesetzlich abgesicherte, vertragliche Forderungen) oder direkt auf gesetzlich-normativen Bestimmungen beruht, der positive oder negative Abweichungen im Verhalten von Behörden, Unternehmen, und Bürgern aus diversen Registern zusammenführt, algorithmisch auswertet, und darauf aufbauend positive Anreize bzw. negative Sanktionen verhängt. Da diese allgemein abrufbar sind, haben sie nicht nur einen individuell sanktionierenden Charakter und ziehen damit eine spezielle Prävention nach sich, sondern erfüllen sie auch die Kriterien der Generalprävention. Dadurch, dass der Bürger sieht, dass normwidriges bzw. vertragswidriges Verhalten in einem Maße sanktioniert wird, das früher kaum vorstellbar gewesen wäre, gewinnt er Vertrauen in die Gültigkeit der Norm. Eine Intervention von Seiten der Justiz ist nicht vorgesehen. Ein (potentieller) Input eines menschlichen Richters gilt als systemfremd. 30 Siehe hierzu konkret die Social Credit Ordnung der Stadt Shanghai ( ) vom 23. 6. 2017, zuletzt aufgerufen am 29. 11. 2021. 31 Vgl. Lu Yu/Ahl, China’s Evolving Data Protection Law and the Financial Credit Information System: Court Practice and Suggestions for Legislative Reform, Hong Kong Law Journal, Vol. 51, 2021, S. 287 – 308, insbesondere S. 301 f. 32 Am Beispiel von Personen bzw. Unternehmen, gegen die ein gerichtlicher Vollstreckungsbefehl vorliegt, sei hier genannt: Nationales Veröffentlichungsportal der Justiz bezüglich Personen, gegen die ein Vollstreckungsverfahren durchgeführt wird ( ), http://zxgk.court.gov.cn/, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021.

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V. Ausblick Wir sehen an den hier geschilderten Phänomenen, dass sowohl die traditionelle Justiz als auch das neue, überwiegend über Inklusion und Exklusion von gesellschaftlicher Teilhabe sanktionierende System des SCS, zumindest zunehmend mehr, manchmal aber sogar bereits überwiegend KI-gesteuert sind. Der Aufbau dieser KI-gesteuerten Entscheidungssysteme befindet sich im Rahmen der traditionellen Justiz nicht nur in den Händen des Obersten Volksgerichtshofs, sondern auch in den Händen der mit Pilotprojekten betrauten Gerichte. Der Aufbau dieser Systeme muss aber notwendigerweise unter Zuhilfenahme technischer Expertise erfolgen, welche die Justiz von sich aus nicht hat. Das führt zu einem Geflecht, in dem der Oberste Volksgerichtshof die strategische Planung in Händen hält, während die Normen, welche die Prozessordnungen ergänzen, überwiegend von den Gerichten, welche die Pilotprojekte durchführen, selbst erarbeitet werden. Somit zeigt sich ein pluralistischer Ansatz bei der Durchführung. Dieser Ansatz ist nur deshalb durchführbar, weil Justiz, Unternehmen des Kommunikationssektors und Unternehmen der IT-Branche eng zusammenarbeiten, so dass sich juristische Fragestellungen und Verfahren mit digitalen Lösungen ergänzen, ohne dass die Möglichkeit der Skalierung oder der gegenseitigen Zusammenarbeit mehrerer Systeme durch die Pluralität der Entwicklungen torpediert werden. In Bezug auf das SCS ist festzuhalten, dass es sich zunächst nur in einigen wenigen Bereichen tatsächlich um ein System handelt, das von der Justiz mitgetragen und mit durchgesetzt wird. Dennoch ist es ein algorithmisch bestimmtes und durch Algorithmen entschiedenes Sanktionssystem, in dessen Rahmen der Richter maximal bei einem erkennbaren Systemfehler zur Korrektur des Systems eingesetzt wird. Inwieweit sich traditionelle Gerichte und SCS in Zukunft ergänzen oder ob sich die Tendenz dahingehend verstärkt, dass niederschwellige Sanktionen im SCS konzentriert werden, während die Gerichte für höherschwelliges Fehlverhalten zuständig sind, lässt sich im Augenblick nicht wirklich beurteilen. Dennoch gibt es eindeutige Bestimmungen, die zumindest im Verwaltungsrecht prinzipiell eine Entkopplung von SCS-Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen vorsehen, die aber bei schweren SCS-Verstößen dennoch eine Interferenz zwischen SCS-Sanktion und verwaltungsgerichtlicher Sanktion zulassen.33 Es scheint jedoch Hoffnung zu geben, dass sich in Zukunft niederschwellige Sanktionen im SCS finden, während Sanktionen mit höherer Intensität (also insbesondere Strafrecht und öffentliches Recht) durch die Justiz aufgearbeitet werden. Dabei kann 33 Siehe die Anhörung zum Entwurf der Novellierung des Verwaltungsbußgesetzes der VR China und zur Novellierung des Abfallregulierungsgesetzes der Stadt Beijing durch die Juhh ristische Vereinigung der Stadt Beijing ( ii hh ii ), Bericht vom 4. 11. 2019, http://www.bj148.org/wq/szfdw/201911/t20191113_1540609.html, zuletzt aufgerufen am 28. 11. 2021.

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letztere durch das Abgeben von leichten Fällen an das SCS, für die verbleibenden Fälle relativ mehr Ressourcen einsetzen.

Ich bin dein Richter Sind KI-basierte Gerichtsentscheidungen rechtlich denkbar? Von Andreas Funke Die Leitfrage dieses Beitrages ist bewusst doppeldeutig gehalten. Zum einen verweist sie natürlich auf den rechtlichen Rahmen des mittlerweile durchaus vorstellbaren Projekts, gerichtliche Urteile nicht einem Menschen, sondern einer vielleicht sogar humanoiden Maschine zu übertragen, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Derzeit stehen die deutschen Prozessordnungen und das Gerichtsverfassungsrecht einem solchen Projekt entgegen; auch Art. 22 EU-DSGVO schließt es im Grundsatz aus. § 9 DRiG macht die Berufung in das Richteramt davon abhängig, dass bestimmte menschliche Eigenschaften gegeben sind. Angesichts dieser einfach-rechtlichen Lage kommt es vor allem darauf an, den verfassungsrechtlichen Rahmen denkbarer gesetzlicher Änderungen aufzuzeigen. Nicht zu schnell lässt sich aber die Routine verfassungsrechtlicher Begutachtung in Gang setzen. Die Problemstellung bedarf der Präzisierung (näher unter I). Dass das Grundgesetz die Etablierung von „Roboterrichtern“ (und „-richterinnen“?) nicht zulässt, scheint im Ergebnis eigentlich klar zu sein. Interessanter ist vielmehr, warum das so ist. Dabei zeigt sich, und das ist die andere Zielrichtung der Leitfrage dieses Beitrages, dass die verfassungsrechtliche Beurteilung auf bestimmten Annahmen über die Natur der Rechtsanwendung ruht, die herauszuarbeiten sind. In meinen Überlegungen entwickele ich hierzu drei Thesen, deren Exposition und Erörterung auf entsprechende thematische Blöcke verteilt ist (unter II. bis IV.).

I. Problemstellung Künstliche Intelligenz (im Folgenden: KI) besteht aus einer bestimmten Kombination von Daten, Software und Computerkapazität. Sie basiert auf Algorithmen, deren Verknüpfung dem System Lernfähigkeit ermöglicht (maschinelles Lernen).1 Das System beruht also nicht allein auf deterministischen Algorithmen, bei denen der jeweils nächste Schritt im Programmablauf eindeutig festgelegt ist. Das Szenario, das im Folgenden untersucht werden soll, besteht im Kern darin, ein Computersystem so mit rechtlich relevanten Daten zu füttern, dass es lernt, auf intelligente Weise 1 Vgl. nur Niedereé/Nejdl, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 2 Rn. 20 ff.

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Rechtsfragen zu beantworten und eventuell auch zu entscheiden. Es würde sich dabei um die Simulation eines echten menschlichen, richterlichen Vorgehens handeln, die irgendwann so perfekt sein könnte, dass es keinen Unterschied mehr zum vermeintlich echten, menschlichen Handeln gäbe. Aus dem breiten Spektrum denkbarer Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz, die sich im Bereich des Gerichtssystems bieten,2 soll dabei nur die weitestgehende herausgegriffen werden, dass nämlich gerichtliche Entscheidungen durch ein bzw. von einem KI-System getroffen werden. Praktisch interessant dürfte das vor allem für einfache, einer Standardisierung zugängliche, massenhaft auftauchende Fallgestaltungen sein. Aber ebenso kommt in Betracht, auch die Lösung eines schwierigen rechtlichen Problems durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz zu unterstützen oder sogar zu ersetzen. Ein solches System müsste dann im Übrigen sogar in der Lage sein, seinerseits die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Einsatzes von KI einer KI zu beantworten. Reizvoll wäre dies vor allem für den Fall, dass die KI zu dem paradoxen Ergebnis gelangen würde, der Einsatz sei unzulässig. Die KI würde also behaupten, KIs dürfen Rechtsfragen nicht verbindlich beantworten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Paradoxien aufzulösen – die beste ist, die Paradoxie gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Frage nach den juristischen Potentialen maschinellen Lernens ist auch deshalb interessant, weil sich dabei Parallelen zur universitären juristischen Ausbildung anbieten. KI muss auf der Grundlage vorhandener Daten neue Daten generieren, wobei neu generierte Daten in die zukünftigen Operationen des Systems eingespeist werden, so dass die bestehende Datenarchitektur modifiziert wird. Nichts anderes passiert doch eigentlich im juristischen Studium. Es ist ganz maßgeblich daran orientiert zu erläutern, wie praktische Fälle entschieden werden. Die Studierenden sollen befähigt werden, selbst Fälle einer vernünftigen Lösung zuzuführen. Was heißt es eigentlich, juristisches Denken zu lernen? Was genau lernt man in der juristischen Ausbildung? Diese Fragen sind nicht unmittelbar das Thema der folgenden Überlegungen, aber sie haben sicherlich Implikationen hierfür. Der Zugang zum Problembereich automatisierter Entscheidungen ist ganz maßgeblich von Zurechnungsfragen geprägt: Wer handelt, und wer ist demgemäß für eine Entscheidung verantwortlich, wenn sie automatisiert getroffen wird? Formal lässt sich diese Verantwortlichkeit im Rechtssystem natürlich immer dadurch herstellen, dass darauf abgestellt wird, in wessen Namen und auf wessen Veranlassung die Entscheidung ergeht.3 Das Paradebeispiel ist in diesem Zusammenhang wohl die 2 Jüngere Überblicke umfassenderen Ausmaßes: Nink, Justiz und Algorithmen, 2021; Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020; Wahedi, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Automatisierung der Justiz, 2021. Generell kritische Perspektiven: Deakin/Markou (Hrsg.), Is law computable?, 2020. 3 Vgl. im Kontext des § 35a VwVfG Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 35a Rn. 28. Ähnliche Fragen stellen sich bei der vieldiskutieren rechtlichen Verantwortlichkeit für das automatisierte Fahren im Straßenverkehr (Überblick: Beck, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz

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Ampelschaltung im Straßenverkehr. Zwar ist jede einzelne Signalstellung verwaltungsverfahrensrechtlich als neue Allgemeinverfügung greifbar, aber deren Erlass geht auf die Programmierung und die Inbetriebnahme der Ampel zurück. Das Zeichen ist lediglich die Bekanntgabe des Verwaltungsakts.4 Die Anlage läuft vollautomatisiert (auf der Grundlage eines deterministischen Algorithmus), was unter anderem gerade bedeutet, dass die Ampel jeweils keine Entscheidungen trifft, die in irgendeinem Sinne als „eigene“ vorstellbar wären. Die Ampel ist also nicht etwa der Verwaltungshelfer, der selbst rechtlich relevante Handlungen vornimmt (als Beamter im haftungsrechtlichen Sinn), die dem beauftragenden Verwaltungsträger zuzurechnen wären. Die menschliche Programmierung ist bereits die rechtlich relevante Handlung. Aber der damit verbundene Mechanismus der formalen Zurechnung wird brüchig, wenn die Entscheidung nicht mehr vollständig determiniert ist, sondern von einem lernfähigen, sich selbst korrigierenden System getroffen wird. Der Sinn eines Einsatzes von KI im Gerichtswesen wäre es in letzter Konsequenz gerade, sich von einem deterministischen Algorithmus zu lösen und ein solches „intelligentes“ System operieren zu lassen.

II. Phänomenologie des Untersuchungsgegenstandes These 1: Die gerichtliche Fallentscheidung ist mehr als die rechtliche Beurteilung eines abgeschlossenen Weltgeschehens, sondern ein Wechselspiel von Sachverhaltskonstruktion und rechtlicher Würdigung. Rechtsanwendung ist durch die Interdependenz von Sachverhalt und Recht gekennzeichnet. In einem berühmten Bild spricht Karl Engisch vom Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Sachverhalt und Norm.5 Diese Interdependenz muss von der KI bewältigt werden können.6 Sie stellt sich im Einzelnen wie folgt dar: Ein bestimmtes Geschehen – das zunächst noch gar nicht „Sachverhalt“ oder „Tatbestand“ ist – wird anhand rechtlicher Normen durchleuchtet, und zwar solcher Normen, die gerade kraft dieses Geschehens als einschlägig erscheinen. Im weiteren Verlauf der rechtlichen Bewertung wird dieser rechtliche Maßstab konkretisiert, was auch bedeuten kann, dass Aspekte des Geschehens rechtlich relevant werden, die zunächst nicht Teil der Beschreibung waren. Am Ende stehen Sachverhalt und Norm idealerweise in einer perfekten Balance. Alle Umstände, die für die Anwendung – oder die Befolgung – der Normen und Robotik, 2020, § 7 Rn. 16 ff.): Handelt es sich um eine Handlung des Programmierers oder der Frau, die das Fahrzeug steuert? 4 Vgl. BGHZ 99, 249 (252) – Feindliches Grün. 5 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 15. 6 In diesem Sinne auch Gless/Wohlers, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.), FS Kindhäuser, 2019, S. 147 (157).

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relevant sind, müssen vorliegen; nur dann ist die Anwendung der Norm richtig. Diese Art der Verknüpfung von Sachverhalt und Norm bleibt bis zum Ende eines gerichtlichen Verfahrens erhalten. In dessen Verlauf kann sich jederzeit noch herausstellen, dass Umstände rechtlich relevant sind, die bislang nicht relevant erschienen. Um die Verknüpfung von Sachverhalt und Norm im Kontext des KI-Einsatzes phänomenologisch zu erfassen, lassen sich eine Assistenzlösung und eine Substitutionslösung unterscheiden. Bei der Assistenzlösung setzen Gerichte KI unterstützend ein, verantworten aber die letztlich getroffene Entscheidung.7 Sie können insbesondere rechtliche Beurteilungen korrigieren. Bei der Substitutionslösung hingegen wird ein Richter gar nicht mehr oder nur äußerlich tätig. Das System trifft die Entscheidung; es ist dem Richter nicht mehr möglich, Korrekturen am Inhalt, so wie der von der KI produziert wurde, vorzunehmen. Dabei ist zu beachten, dass die Sachverhaltsverfertigung mit nicht unerheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden ist. Zum einen sind die unterschiedlichen prozessualen Prinzipien der Sachverhaltsermittlung in Rechnung zu stellen. Weniger problematisch für eine KI dürfte die im Zivilprozess geltende Dispositionsmaxime sein. Hier kommt es nur – und dies ist schwer genug – auf eine richterliche Beweiswürdigung an. Im Strafprozess und im Verwaltungsprozess gilt hingegen der Amtsermittlungsgrundsatz. Der Richter ist nicht an das tatsächliche Vorbringen der Parteien gebunden. Die Verfertigung des Sachverhalts macht demnach, praktisch gesehen, mehr Arbeit. Dies bedeutet zugleich, dass der Umfang der zu verantwortenden staatlichen Tätigkeit größer ist als im Zivilprozess. Aus der Perspektive der Verknüpfung von Sachverhalt und Norm ist die Substitutionslösung nicht per se problematischer als die Assistenzlösung. Die Assistenzlösung wie auch die Substitutionslösung sind insofern bedenklich, als sie die Verknüpfung von Sachverhaltsfeststellung und rechtlicher Beurteilung lösen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Richter den Sachverhalt feststellt und der Maschine die rechtliche Beurteilung überlassen wird. Es muss aus der rechtlichen Beurteilung heraus stets möglich sein, wieder in die Sachverhaltsaufarbeitung einzutreten. Sollte die Substitutionslösung dies gewährleisten können, würde sie ein zentrales Charakteristikum richterlichen Entscheidens erfüllen.

III. Das rechtstheoretische Modell: Theorie(n) der Rechtsanwendung Zweite These: Richterliche Rechtsanwendung ist nicht Informationsaufnahme und -verarbeitung. Gerichte müssen Aussagen über Recht rechtfertigen können. Hierzu müssen sie die hinter den Gesetzestexten stehenden Gründe heranziehen.

7 Die Assistenzlösungen können weiter differenziert werden: automatisationsgeleitet oder automatisationsgestützt (Mund, in: Greve (Hrsg.), Der digitalisierte Staat, 2020, S. 177 (192)).

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Diese These führt tief in die Methodenlehre und letztlich in die Rechtsphilosophie. Ohne eine klare Vorstellung davon, was das Recht ist, wozu es da ist und wie es operiert, lässt sich über den Einsatz technischer Systeme im Recht nicht nachdenken. Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen liegt dabei auf der rechtsmethodischen Seite. Insofern lassen sich zwei grundlegende Vorstellungen davon, was Rechtsanwendung ausmacht, unterscheiden: das Ableitungsdenken (dazu unter 1.) und das Eigenständigkeitsdenken (unter 2.).8 Sie führen zu unterschiedlichen Beurteilungen des Einsatzes von KI (unter 3.). 1. Das Ableitungsdenken Das Ableitungsdenken beruht in seiner konsequentesten Form auf der Annahme, die richterliche Entscheidung sei vollständig durch das Gesetz determiniert. Es gibt dann keinen schöpferischen, produktiven oder kreativen Anteil des Entscheiders bzw. der Entscheiderin. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass eigentlich nie jemand diese Auffassung in Reinform vertreten hat, und sie wird auch heute nicht vertreten. Die Vorstellung einer vollständigen Determination schimmert vielleicht in der Montesquieu’schen Vorstellung vom Richter als dem Mund des Gesetzes durch.9 Ansonsten ist das pure Ableitungsdenken in erster Linie stets nur als Karikatur präsent gewesen. Substantielle Ausarbeitungen sind eigentlich nicht zu finden. Das Ableitungsdenken diente und dient vor allem als Zielscheibe polemischer Abgrenzungen. Ein Beispiel ist die Vorstellung, die Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts habe als Begriffsjurisprudenz an die Ableitung von Rechtsfolgen aus Rechtsbegriffen geglaubt. Das ist vor allem die Polemik Philipp Hecks und anderer.10 Das Bild vom Subsumtionsautomaten, das für die Beschreibung der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts gerne verwendet wird,11 diente dementsprechend schon zu jener Zeit nur als Kontrastfolie. Eine „Degradierung des Richters zu einem maschinenmäßigen ,Subsumtions‘-Automaten“ sollte gerade nicht erfolgen, wie

8 Beide Denkweisen eint noch ein bestimmtes Paradigma: Sie teilen die Annahme, Konkretisierung des Rechts sei überhaupt aus der Perspektive der Gerichte zu beschreiben. Dies ist voraussetzungsvoll und keineswegs zwingend, weil die Rolle der Rechtsbefolgung (dazu Funke, in: Hilbert/Rauber (Hrsg.), Warum befolgen wir Recht?, 2019, S. 201) bzw. der Handlungsgründe (Raz, Praktische Gründe und Normen, 2006; Sourlas, Rechtsprinzipien als Handlungsgründe, 2011) nicht abgebildet wird. Darauf gehe ich im Folgenden nicht ein. 9 „Aber die Richter sind […] nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenlose Wesen, die weder seine Schärfe, noch seine Strenge zu mildern vermögen.“ (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Bd. 1, 2. Aufl. 1992, 11. Buch, 6. Kap. (S. 225)). 10 Eingängig: Rückert, in: Rückert/Seinecke (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017, S. 541; im Kontext des KI-Einsatzes ähnlich Meder, Rechtsmaschinen, 2020. 11 Prägend Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986.

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Bruno Schmidt, wohl der Erfinder des Begriffs des Subsumtionsautomaten, betonte.12 Tatsächlich ist das Ableitungsdenken praktisch stets nur in einer abgeschwächten Variante vorfindbar. Man kann sie den Halbe/Halbe-Typus des Ableitungsdenkens nennen. Hier wird Rechtsanwendung als Kombination von nachvollziehendem Erkennen vorgegebenen Rechts und willenhaftem Erzeugen neuen Rechts gedacht. Das Gesetz liefert einen Rahmen, innerhalb dessen aber manchmal oder häufig Spielräume bestehen. Der Richter füllt diesen Spielraum aus. In der Theorie ist dieser Typus etwa von Hans Kelsen ausgearbeitet worden.13 Er findet sich aber auch in der Praxis. Das BVerfG geht in der Soraya-Entscheidung davon aus, dass auch „willenhafte Elemente“ die richterliche Entscheidung prägen können.14 Der HalbeHalbe-Typus des Ableitungsdenkens tritt immer dann zutage, wenn Juristen mit scheinbar aufklärerischer Geste – „Seien wir doch mal ehrlich!“ – offenbaren, dass natürlich heute niemand mehr daran glaube, dass die gerichtliche Entscheidung hundertprozentig durch das Gesetz determiniert sei. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat in diesem Zusammenhang einmal von einer „juristischen Lebenslüge“ gesprochen, nämlich derjenigen des unabhängigen Richters.15 Voßkuhle meint damit ganz im Sinne des Halbe-Halbe-Typus, dass die Gesetzesauslegung doch gar nicht so objektiv sei, wie die Richter vorgeben (würden). Solche Stellungnahmen sind in der methodologischen Literatur Legion. Wer aber diejenigen sind, die sich früher im Irrglauben oder in der Selbsttäuschung einer irgendwie objektiven, spielraumfreien Rechtsanwendung befunden haben sollen, das bleibt offen. Die diskursive Funktion solcher Enthüllungsrhetorik ist auf der Sachebene womöglich gar nicht greifbar. Aber dies bleibe an dieser Stelle dahingestellt. Festzuhalten ist, dass das Halbe-Halbe-Modell davon ausgeht, zumindest der Rahmen eines Gesetzes könne kraft Auslegung sicher ermittelt und damit das Recht in gewisser Hinsicht „erkannt“ werden. Zumindest in einfachen Fällen seien Ableitungen aus dem Gesetz mehr oder weniger auf „logische“ Weise möglich.

12

Schmidt, Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens, 1899, S. 15. Zur Begriffsgeschichte Günzl, JZ 2019, 180; mit Korrekturen bei Meder, Rechtsmaschinen, 2020, 4. Kap. Fn. 13 u. 6. Kap. Fn. 18. 13 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960 (Nachdruck 1976), S. 242 ff. Siehe hingegen die Anknüpfung an Kelsen, die dem Eigenständigkeitsdenken nahekommt, bei Kotsoglou, JZ 2014, 451. 14 BVerfGE 34, 269 (287). 15 So der Bericht über ein Kolloquium der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Schauer, „Mögen Sie Gadamer? Hermeneutik heute“, FAZ v. 16. 12. 2020. Erläuterung und Einordnung einer solchen Position bei Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 68 ff., 104 ff.

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2. Das Eigenständigkeitsdenken Dem Ableitungsdenken lässt sich das Eigenständigkeitsdenken gegenüberstellen, nicht als Alternative, sondern als Erweiterung. Es löst sich nicht von der Idee der Gesetzesbindung, aber von der Vorstellung, dass die Verwirklichung der Gesetzesbindung in irgendeiner Hinsicht davon abhängt, etwas Vorgegebenes zu erkennen. Das Eigenständigkeitsdenken ist in vielen Varianten präsent. Nach einer skeptischen Variante können gerichtliche Entscheidungen nie aus dem Gesetz begründet werden. Ein Beispiel hierfür sind bestimmte Spielarten der Rechtsrhetorik, deren Theorie der Rechtsanwendung konträre Ergebnisse zulässt.16 Die Systemtheorie sieht in der Vorstellung einer durch Recht determinierten Entscheidung eine Paradoxie am Werk.17 Eine nicht-skeptische Variante des Eigenständigkeitsdenkens rückt den gesunden Menschenverstand in den Vordergrund. Hier ist es die aristotelische phronesis, die Handlungsklugheit, die sich in einen gewissen Gegensatz zur reinen Überlegung bringen lässt.18 Es zählen dann Kapazitäten wie die Urteilskraft oder das iudicium. Eine weitere nicht-skeptische Variante des Eigenständigkeitsdenkens betont die Potentiale rationaler Rechtsbegründung. Sie sieht im Recht ein komplexes Gefüge von Ideen und Praktiken, das zum Gegenstand hat, was wir tun dürfen und welche Rechte wir haben, und das rational strukturiert ist. Nach den Prämissen der Aufklärung erkennt das moderne Recht den Einzelnen als vernünftiges Wesen an. Die Verbindlichkeit des Rechts wurzelt in der Autonomie des Einzelnen. Deshalb müssen die autoritativen Festlegungen von Rechten und Pflichten stets einen Bezug auf die autonomen Handlungsgründe der Einzelnen wahren.19 Rechtsfragen sind damit, zugespitzt, nicht Wissensfragen, sondern Handlungsfragen. Die Probleme, die vor Gericht ausgetragen werden, dienen der Koordination und Kooperation von menschlichen Handlungen. Die rationale Struktur dieser Variante des Eigenständigkeitsdenkens hat wichtige rechtsmethodische Konsequenzen für die Rolle des Gesetzestextes, die Auslegung des Gesetzestextes und die Art und Weise, wie Gesetzestexte zum Inhalt unserer rechtlichen Rechte und Pflichten beitragen. Natürlich bildet die Auslegung von Gesetzestexten häufig den Ausgangpunkt juristischer Überlegung, und oft reicht es auch aus, sich auf eine Auslegung nach den üblichen canones zu beschränken. Aber die Anwendung von Gesetzestexten erfolgt stets vor dem Hintergrund elementarer Prinzipien, die Gründe für das Handeln der Einzelnen enthalten. Prinzipien 16

Gast, Juristische Rhetorik, 5. Aufl. 2015, Rn. 33. Vesting, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2015, Rn. 226. 18 Dazu Radke-Uhlmann (Hrsg.), Phronesis – Die Tugend der Geisteswissenschaften, 2012; Nierhauve, Rechtsklugheit, 2016; Günther, in: Maaser/Walther (Hrsg.), Bildung, 2011, S. 102. 19 Auf den Punkt gebracht bei Sourlas, Rechtsprinzipien als Handlungsgründe, 2011, der sich seinerseits v. a. auf die (mittlere) Rechtsphilosophie Ronald Dworkins stützt, siehe Dworkin, Law’s Empire, 1986. Ähnliche Motive finden sich im Verständnis von „Rechtsarbeit als öffentlicher Prozess“ bei Rinken, Einführung in das juristische Studium, 3. Aufl. 1996, S. 216. 17

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in diesem Verständnis sind, so ein Ausdruck von Habermas, „höherstufige Normen“.20 Sie dienen der Rechtfertigung von Normen und ihrer Anwendung, und dies (nicht nur in streitigen, sondern) auch in einfachen Fällen. Juristische Interpretation ist insofern konstruktive Interpretation, verstanden als bestmögliche Rechtfertigung des überlieferten Rechtskorpus‘, der aus der Verfassung, Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen besteht.21 Die Lösung einfacher wie auch schwieriger Fälle ist dann aber in einer gewissen Hinsicht stets schöpferisch, weil die zu erbringende Rechtfertigung sich von vorneherein gerade nicht als irgendwie „logische“ Ableitung aus dem Gesetz denken lässt. Denn eine prinzipienorientierte Rechtfertigung beruht auf der Durchführung einer rechtfertigenden Prozedur. Aus der Perspektive eines rationalen Eigenständigkeitsdenkens unterliegt das Ableitungsdenken häufig einem Missverständnis, das sich als linguistischer Fehlschluss bezeichnen lässt. Dieser Fehlschluss besteht darin anzunehmen, dass nur deshalb, weil die Sprache konstitutiv für das Recht (als eine soziale Praxis) ist, sprachliche Eigenschaften von Gesetzestexten den Kern des Rechts ausmachen.22 Das Ableitungsdenken unterstellt, dass die juristische Interpretation allein auf die Bedeutung von in Gesetzestexten verwendeten Begriffen gerichtet ist.23 Es konzipiert damit Rechtsanwendung als Kommunikation: Der Gesetzgeber wolle über den Gesetzestext mit dem Rechtsanwender kommunizieren.24 Natürlich ist sprachliche Bedeutungsermittlung unverzichtbar. Aber wer sich darauf beschränkt, vernachlässigt die Einbettung des Rechts in das Gefüge der moralischen Gründe, das das Handeln der Einzelnen umgibt. Jede noch so einfache Auslegung einer Norm rechtfertigt sich aus einem komplexen Hintergrund von Prinzipien, die erst die Anwendung der Norm tragen. Die Garantie der Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bilden die Mitte dieser Prinzipien. In einfachen Fällen ist es ein Gebot der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung, den klaren Wortlaut einer Norm zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen. Es kann aber auch ein Gebot der Rechtsordnung sein, den klaren Wortlaut beiseite zu schieben. Ist die semantische Ebene der Normwürdigung weniger ergiebig – so oft in den schwierigen Fällen –, tritt der rechtfertigungsorientierte Charakter der Rechtsanwendung deutlicher hervor.

20

Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 5. Aufl. 1997, S. 256. Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass sich dieses Verständnis der Rolle von Prinzipien nicht mit der „Prinzipientheorie“ Robert Alexys und seiner Schule deckt (siehe nur Alexy, in: Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 177). 21 Dworkin, Law’s Empire, 1986. 22 Aus diesem Grund beurteile ich den Nutzen der Bemühungen, auf der Grundlage korpuslinguistischer Untersuchungen rechtstheoretisch bzw. innerhalb der KI weiterzukommen, skeptisch. Die damit verbundenen Textanalysen bleiben an der Oberfläche. Vgl. auch Schuhr, in: Funke/Lachmayer (Hrsg.), Formate der Rechtswissenschaft, 2017, S. 161. 23 Als semantic assumption bei Stavropoulos, Objectivity in Law, 1996, S. 3. 24 Greenberg, in: Marmor/Soames (Hrsg.), Philosophical Foundations of Language in the Law, 2013, S. 217.

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3. Ableitungs- und Eigenständigkeitsdenken im Kontext von KI Für das Ableitungsdenken könnte der Einsatz von KI im Gerichtswesen sich in gewisser Hinsicht nicht nur als möglich, sondern sogar als zwingend notwendig erweisen. Denn dieses Denken muss in der rechtlichen Praxis vielfältige Bedrohungen der reinen Logik juristischen Entscheidens registrieren, die aus den Schwächen menschlicher Entscheidungsfindung resultieren: Voreingenommenheit, Emotionalität, Verzerrungen der Wahrnehmung, intellektuelle Grenzen etc. Richter, die schlecht gefrühstückt haben, oder Richterinnen, die aus einer Akademikerfamilie stammen, sind gefährlich für das Recht. Dann müsste doch die technisch unterstützte, angeleitete oder gar bestimmte Entscheidung der rein menschlichen Entscheidung strukturell überlegen sein. Eine solche Sichtweise ist in der Debatte um Recht und KI in der Tat präsent.25 Theoretisch wären für die skeptischen Varianten des Eigenständigkeitsdenkens ähnliche Schlussfolgerungen ebenfalls durchaus konsequent. Aber solche Argumentationen können aus zwei Gründen nicht überzeugen. Zum einen sind die etablierten rechtsstaatlichen Grundsätze effektive und bewährte Instrumente, um die Wirkungen menschlicher Schwächen zu begrenzen. Zum anderen, darauf ist noch genauer einzugehen, ist die Schwäche des Menschen, das „Menschliche“, gerade seine Stärke. Die KI-Debatte ist vom Halbe-Halbe-Typus des Ableitungsdenkens, von dessen inneren Inkonsistenzen und vom erläuterten linguistischen Fehlschluss geprägt. Subsumtion erfordert Auslegung, und Auslegung bedeutet semantische Interpretation, so lesen wir in den Vorüberlegungen zur juristischen Methodik in einer jüngeren Arbeit über „Algorithmen in der Justiz“.26 Von hier aus wird dann als Problem der Digitalisierung im Recht der Spielraum gesehen, den Rechtsnormen einräumen; Rechtsanwendung sei doch nicht nur Auslegung und Subsumtion, sondern auch Wertung.27 An einer anderen Stelle wird behauptet, eine der Hauptaufgaben juristischen Denkens bestehe darin, Rechtstexte in einer bestimmten Art und Weise zu interpretieren, um deren Bedeutung korrekt zu ermitteln.28 Semantische Bedeutung sei aber eine Illusion.29

25 Für die Arbeit von Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, sind die menschlichen Schwächen (von Richtern) gerade der Ausgangspunkt der Untersuchung – um dann gleichwohl an entscheidender Stelle gerade die Notwendigkeit „des Empathischen, des Menschlichen, des sozial Kompetenten“ zu betonen (S. 282). 26 Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020, S. 60; ähnlich Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 37 ff. 27 Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020, S. 69; Hähnchen/Schrader/Weiler/Wischmeyer, JuS 2020, 625 (626); Gless/Wohlers, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.), FS Kindhäuser, 2019, S. 147 (155). 28 Adrian, Rechtstheorie 48 (2017), 77 (83). 29 Adrian, Rechtstheorie 48 (2017), 77 (93).

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Demgegenüber ist darauf noch einmal hinzuweisen, dass schon die Auslegung, und dies auch in einfachen Fällen, auf Wertungen beruht. Der elementare rechtliche Anspruch auf Gleichbehandlung bildet nicht etwa einen besonderen Argumentationsgang, der nur dann zum Einsatz kommen würde, wenn Rechtsfortbildungen nötig sind. Wenn gängige Darstellungen der Methodenlehre die Rechtsfortbildung als eine besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahme der alltäglichen Auslegung gegenüberstellen, so ist dies in gewisser Hinsicht eine Verkehrung der Verhältnisse. Sofern sich eine rechtliche Aussage allein auf die Auslegung eines Gesetzestextes stützt, so speist sie ihre Rechtfertigung letztlich daraus, dass die Auslegung hinreicht, um die vom Recht geforderte Gleichbehandlung zu garantieren. Das Verbleiben im Bereich der Auslegung erweist sich insofern als – nicht selbstverständlicher, rechtfertigungsbedürftiger – Verzicht auf die Rechtsfortbildung. Kennzeichnend für das Ableitungsdenken ist es, wenn im Zusammenhang mit KI nicht schon die Auslegung und Subsumtion, weil wertungsabhängig, als problematisch präsentiert werden, sondern erst die Bewältigung des rechtsinternen oder rechtsextern verursachten Wandels des Rechts, der mit der Notwendigkeit von Rechtsfortbildungen verknüpft sei. Hierbei seien Wertentscheidungen erforderlich, die von Computern nicht geleistet werden könnten.30 Auch könnten stets atypische Fälle auftauchen, deren Identifikation und Neubewertung problematisch sei.31 Ein zu starker Formalismus könnte dazu führen, dass die Besonderheiten des Einzelfalls verkannt werden.32 Diese Argumentation trifft im Grundsatz natürlich vollkommen zu. Aber sie geht an dem eben herausgestellten methodischen Befund vorbei, dass schon die Kontinuität des Rechts, die sich in der „bloßen“ Auslegung manifestiert, von Wertungen abhängt. Die Frage ist, ob für das Eigenständigkeitsdenken der Einsatz von KI überhaupt möglich ist. Manche Autoren sind der Auffassung, juristisches Werten könne einer Maschine beigebracht werden, manche nicht.33 Vermutlich werden dabei auch die technischen Potentiale der KI unterschiedlich beurteilt. Die Rechenoperationen müssten in der Lage sein, die Oberfläche von Wissen, Information und Sprachstruktur zu durchstoßen. Aber was genau dann zu leisten ist, lässt sich nur schwer sagen. Jede KI-basierte Entscheidung ist das Ergebnis einer Rechenoperation, die vollständig vom eingespeisten Datenmaterial abhängig ist. Die KI kann also, und sei sie noch so leistungsfähig, nur Variationen des Vorhandenen liefern; sie ist insofern nie schöpferisch. Wegen des Grundsatzes der Gesetzesbindung darf dies allerdings in gewisser Hinsicht bei richterlichen Wertungen nicht anders sein. Eine rationale Begründung 30 Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020, S. 132; Gless/Wohlers, in: Böse/Schumann/ Toepel (Hrsg.), FS Kindhäuser, 2019, S. 147 (160). 31 Gless/Wohlers, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.), FS Kindhäuser, 2019, S. 147 (160). 32 Kube, VVDStRL 78 (2019), 289 (308); Wischmeyer, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 20 Rn. 48. 33 Bejahend Greco, in: Dederer/Shin (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und juristische Herausforderungen, 2021, S. 103 (107); Gowder, in: Whalen (Hrsg.), Computational legal studies, 2020, S. 215; verneinend Meder, Rechtsmaschinen, 2020, S. 136.

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von Wertungen muss also so gedacht werden können, dass sie den Raum des Vorhandenen nicht verlässt.

IV. Verfassungsrechtliche Bewertung Dritte These: Es gibt ein Recht auf ein gerichtliches Entscheiden durch menschliche Amtsträger. 1. Vorab: automatisierte Entscheidungen der Verwaltung Dass Computer für den Staat Entscheidungen treffen, ist im Verwaltungs- und Steuerrecht seit längerem ausdrücklich rechtlich geregelt. Die Grundlage bilden § 35a VwVfG, § 155 Abs. 4 AO und § 31a SGB X.34 Diese Normen erlauben den vollautomatisierten Erlass eines Bescheides. Mit dem Einsatz von KI hat das freilich nichts zu tun. Die jeweiligen Ergebnisse werden auf der Grundlage deterministischer Algorithmen (siehe unter I) getroffen. Die einschlägigen Normen lassen die Annahme erkennen, gesetzlich begründete Spielräume des Entscheidens, insbesondere das Ermessen, würden den Bereich des eigentlichen Menschlichen ausmachen und seien deshalb der Automatisierung nicht zugänglich. So heißt es in der gesetzgeberischen Begründung des § 31a SGB X: „Eine Bearbeitung durch einen Amtsträger ist beispielsweise zwingend, wenn das anzuwendende materielle Recht eine Ermessensentscheidung oder einen Beurteilungsspielraum vorsieht oder wenn die Subsumtion unter einen konkreten Tatbestand nicht durch automatische Einrichtungen erfolgen kann.“35 Wertende Entscheidungen sind also von der Automatisierung gerade nicht erfasst.36 Einwände gegen Automatisierung werden, ganz im Sinne des Ableitungsdenkens, im Bereich der Verwaltung nicht erhoben, sofern gesetzliche Spielräume der Automatisierung verschlossen bleiben.37 Aus der Perspektive des Eigenständigkeitsdenkens (nicht-skeptische, rationale Variante) sind die vollautomatisierten Verwaltungsentscheidungen dadurch erklärbar, dass die zentralen Wertungen der Gleichbehandlung durch die gesetzgeberische Entscheidung, die Vollautomatisierung zu ermöglichen, vorweggenommen werden und sich dann durch die Determination der Verfahrensschritte realisieren bzw. manifestieren.

34 Näher Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 (275 ff.); Djeffal, Künstliche Intelligenz in der öffentlichen Verwaltung, 2018 (Berichte des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums, Nr. 3, unter https://www.hiig.de/publication/kuenstliche-intelligenz-in-der-oeffentli chen-verwaltung-2, letzter Abruf: 24. 8. 2021). 35 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs. 18/8434, S. 121. 36 Vgl. Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 (265). 37 Vgl. Mund, in: Greve (Hrsg.), Der digitalisierte Staat, 2020, S. 177 (189).

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2. Verfassungsrechtliche Maßstäbe Für die verfassungsrechtliche Bewertung einer KI-basierten gerichtlichen Entscheidung sind verschiedene Maßstäbe einschlägig. So ist es vorstellbar, schon aus der Idee der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG (in ihrer rechtsstaatlichen und demokratischen Bedeutung) Einwände gegen den KI-Einsatz zu entwickeln.38 Die derzeitige Debatte sucht aber andere Anknüpfungspunkte. Eine verbreitete Argumentation für ein Recht auf menschliches Entscheiden stellt auf die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG ab.39 Der oder die Einzelne habe ein Recht darauf, in amtlichen Verfahren „seinesgleichen“ als Gegenüber zu haben. Ansonsten werde er bzw. sie als bloßes Objekt staatlichen Handelns behandelt. KI-basierte Gerichtsentscheidungen würden demnach die Subjektqualität des Menschen grundsätzlich in Frage stellen. Der Mensch wäre bloßes Objekt algorithmischer Datenverarbeitung. Aber ein unmittelbarer Rückgriff auf die Menschenwürde in diesen Kontexten überzeugt mich nicht. Das Rechtsstaatsprinzip steht in einem engen Zusammenhang mit der Menschenwürde und spezifiziert erst noch deren Anforderungen für den rechtlichen Modus des staatlichen Herrschens. Die rechtsstaatlichen Grundsätze sind insofern sachnäher und sachhaltiger.40 Man kann sich nicht vorstellen, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze einen KI-Einsatz zulassen, dass aber die Menschenwürde entgegensteht. Das Profil der Rechtsstaatlichkeit enthält seinerseits eine Reihe von spezifischen Anforderungen. Einschlägig ist etwa das (im deutschen Recht ungeschriebene, im Rechtsstaatsprinzip verankerte) Recht auf ein faires Verfahren. Es garantiert prozessuale Fairness und damit die Erwartbarkeit sowie Voraussehbarkeit der gerichtlichen Entscheidung. Für KI-basierte Gerichtsentscheidungen folgt hieraus die bereits erörterte Notwendigkeit, die Beurteilung von Sachverhalt und Recht eng zu verkoppeln (unter II.). Das wohl gewichtigste Argument gegen den Einsatz von KI in der gerichtlichen Entscheidungsfindung bildet die Maßgabe, dass die Rechtsprechung den Richtern übertragen ist, Art. 92 GG, die ihrerseits in enger Verbindung zu dem Erfordernis – oder besser: begrifflichen Explikation – steht, dass Richter unabhängig sind, Art. 97 GG. Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut. Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass hiermit menschliche Richterinnen und Richter gemeint sind. Dies

38 Zum Demokratieprinzip in diesem Zusammenhang Unger, in: ders./von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 113 ff. 39 Vgl. Golla, DÖV 2019, 673. Zurückhaltend Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 348 ff. 40 Kritisch zum undifferenzierten Rückgriff auf die Menschenwürde in der KI-Diskussion etwa Wischmeyer, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und Robotik, 2020, § 20 Rn. 45 f.; Weber-Guskar, „Was ist wirklich unter aller Menschenwürde?“, FAZ v. 29. 4. 2020.

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ist innerhalb der aktuellen KI-Diskussion auch der Meinungsstand.41 Zum Teil wird das Erfordernis des menschlichen Richters auch aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (Recht auf den gesetzlichen Richter) abgeleitet.42 Die mit Art. 92, Art. 97 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bezogene Argumentation stützt sich teilweise primär auf den Wortlaut dieser Normen: Es könnten nur menschliche Richter gemeint sein. Wirkliche Überzeugungskraft gewinnt die Argumentation aber erst, wenn sie grundsätzlicher ansetzt. Insofern scheint Art. 92 GG zunächst gar nicht sonderlich zwingend zu einer Beschränkung auf menschliche Richter zu führen. Die Norm dient in erster Linie der Abgrenzung der Rechtsprechung zu den beiden anderen staatlichen Gewalten, der Gesetzgebung und der Verwaltung. Deren Organe dürfen nicht rechtsprechende Gewalt ausüben. Aber über diese negative Seite geht Art. 92 GG hinaus. Die Norm statuiert ein bestimmtes Richterbild, dem die Personen, die die Rechtsprechung ausüben, entsprechen müssen. Kennzeichen sind etwa organisatorische Selbstständigkeit, Unabhängigkeit (Art. 97 GG) und Neutralität. Denkbar ist es, an die Rechtsgelehrtheit anzuknüpfen.43 Aber dabei kommt es wiederum darauf an, was insofern die menschliche juristische Kapazität von der computerbasierten unterscheidet. Insbesondere ist mit diesem Richterbild die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidungsfindung verbunden.44 Die Ausübung von Staatsgewalt setzt voraus, dass die Entscheidenden bzw. Handelnden für ihr Entscheiden bzw. Handeln verantwortlich sind. In gewisser Hinsicht ist das eine begriffliche Verknüpfung von Entscheiden und Verantworten. Man kann nicht eine Entscheidung treffen, ohne sie zu verantworten. Die Ersetzung der menschlichen durch die automatisierte Gerichtsentscheidung, wie sie die Substitutionslösung vorsieht, ist damit begrifflich gar keine Entscheidung durch Richter im Sinne des Grundgesetzes.45 Was es heißt, eine gerichtliche Entscheidung zu verantworten, erfahren die Parteien eines Rechtsstreits dann, wenn jemand mit echtem menschlichen Antlitz zu ihnen sagt, „das überzeugt mich“, oder „das überzeugt mich nicht“. Richterliches Urteilen besteht also nicht nur darin, eine unabhängige, rechtlich gebundene Streitentscheidung zu treffen, sondern

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Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 261 ff.; Rollberg, Algorithmen in der Justiz, 2020, S. 88. 42 Wahedi, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Automatisierung der Justiz, 2021, S. 204; Enders, JA 2018, 721 (723); Greco, in: Dederer/Shin (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und juristische Herausforderungen, 2021, S. 103 (116). 43 Ausführlich, mit zahlreichen Nachweisen: Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 276 ff. 44 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III: Art. 83 – 146, 2. Aufl. 2008, Art. 92 Rn. 53; daran anknüpfend Nink, Justiz und Algorithmen, 2021, S. 282. In gleichem Sinne auch Adrian, Rechtstheorie 48 (2017), 77 (105); Greco, in: Dederer/Shin (Hrsg.), Künstliche Intelligenz und juristische Herausforderungen, 2021, S. 103 (113). 45 In diesem Sinne Kotsoglou, JZ 2014, 451. Das Begriffsverständnis ist, dies ist anzumerken, die Konsequenz der Überlegungen und nicht ein selbstständiges Argument.

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drückt notwendigerweise ein menschliches Urteil aus.46 Das Befremden, das jeder schon einmal erlebt hat, der in einer Telefon-Hotline die „Fragen“ eines automatisch operierenden Systems „beantwortet“ hat, muss man ernst nehmen. Im Rahmen eines rational orientierten Eigenständigkeitsdenkens bekommt diese Verantwortlichkeit einen spezifischen Sinn: Gerichtliche Entscheidungen gehen ihrerseits in die institutionelle Geschichte des Rechts ein, die für Begründung bzw. Rechtfertigung zukünftiger Entscheidungen relevant ist. Die Entscheidungen wandeln insofern ihre Natur: Von dem, was begründet wird, werden sie zu dem, was begründet.47 Keineswegs ist diese Funktion deshalb irrelevant, weil es nach deutschem Rechtsverständnis keine Präjudizienbindung gibt. Auch als (bloße) „Rechtserkenntnisquellen“48 müssen Gerichtsentscheidungen verantwortet werden. Der Geltungsanspruch von Urteilen „über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts“, so hat das BVerfG treffend die bindende Kraft höchstrichterlicher Urteile beschrieben.49 Freilich trifft diese Überlegung auf Urteile jeder Instanz zu. Verantwortet werden muss schließlich noch ein weiterer Umstand. Er betrifft ein in jedem Entscheiden enthaltenes, aber oft übersehenes Element. Wer entscheidet, beschließt zugleich, nicht weiter nachzudenken, zu überlegen, zu ermitteln. Der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung muss festgelegt und damit verantwortet werden. Diese Verantwortung umschließt sowohl den Abbruch der Sachverhaltsaufarbeitung als auch den der rechtlichen Würdigung. Im Prozess muss abgewogen werden, mit welchem Aufwand insbesondere in zeitlicher Hinsicht die Entscheidungsfindung betrieben wird. Diese Abwägung betrifft die Erforschung des Sachverhalts ebenso wie Rechtsfragen.50 Der Richter wird insofern bei der Würdigung einer schwierigen rechtlichen Frage an einer Stelle stehen bleiben, an der vielleicht eine Wissenschaftlerin noch einen Schritt weitergeht. Die zeitlichen Ressourcen des Richters sind beschränkt. Die Abwägung, an welcher Stelle der Richter abbricht, muss er verantworten können. Aus Art. 92 GG folgt also eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, gerichtliche Entscheidungen nur Menschen zu überlassen. Unmittelbar ist mit dieser Pflicht keine Berechtigung verbunden. Da der allgemeine Justizgewährungsanspruch aber die An46 Vgl. Spaulding, in: Dubber/Pasquale/Das (Hrsg.), The Oxford Handbook of Ethics of AI, Oxford Handbooks Online, 2020. Was genau das echt Menschliche der Kommunikation ausmacht und welche Verwirrung die Konfrontation mit humanoiden Robotern stiftet, dem spürt anschaulich der Film „Ich bin Dein Mensch“ (2021, Regie: Maria Schrader) nach. 47 Unter dem Aspekt, dass das Urteil Teil der rechtlichen Datenbasis wird, so auch Adrian, Rechtstheorie 48 (2017), 77 (105). 48 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 432. 49 BVerfGE 84, 212 (227). 50 Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 31. Nach einer schönen Formulierung von Rödig ist deshalb die Lehre vom Prozess „eine Menge von Variationen über das Thema der Beschränktheit menschlicher Erkenntnis“ (S. 31).

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forderungen der Art. 92 und 97 GG einschließt,51 ist es gerechtfertigt, von einem Recht auf menschliche Entscheidung zu sprechen. 3. Das Black Box-Problem Ein weiterer, gravierender Einwand gegen den Einsatz von KI im Gerichtswesen ergibt sich daraus, dass jedenfalls nach dem aktuellen Stand der Entwicklung die Rechenoperationen des Systems nicht transparent sind. Beim Deep learning kann nicht erklärt werden, wie Ergebnisse zustande kommen. Das verträgt sich nicht mit der Pflicht zur Begründung staatlicher Entscheidungen.52 Aber welche Fortschritte insofern die Zukunft bringen mag, ist Spekulation. Offenbar ist es mittlerweile technisch möglich, autonom argumentierende Systeme zu errichten.53 Insofern ist nicht auszuschließen, dass das Black Box-Problem in Zukunft an Bedeutung verliert.

V. Fazit Ronald Dworkin hat einmal versucht, mit dem Bild des übermenschlichen Richters Herkules zu veranschaulichen, worauf die bestmögliche Rechtfertigung gerichtlicher Entscheidungen gerichtet ist.54 Man könnte vermuten, dies sei nur die Vorwegnahme dessen gewesen, was heute im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Rechts diskutiert wird. Kann KI denn nicht gerade jene Erwartungen des Übermenschlichen erfüllen? Aber die Unvermeidlichkeit des menschlichen Entscheidens war Dworkin vollauf bewusst: Es ist für ihn der Richter Herbert, der mit den Unzulänglichkeiten alltäglichen Entscheidens zurecht kommen muss. Der imaginierte Herkules dient nur dazu, die Präsuppositionen juristischen Denkens aufzeigen. Dass es gerade Menschen sein müssen, die im Recht entscheiden, wurde im Vorstehenden herausgestellt. Die KI-Forschung weiß, dass die Grenzen des menschlichen Verstandes der technischen Entwicklung eine natürliche Grenze ziehen.55 Ihr Ziel kann es nicht sein, Maschinen zu entwerfen, die klüger sind als der Mensch. Der 51 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 71; Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 1/2021, Art. 92 Rn. 17 (der die Subjektivierung des Art. 92 über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bevorzugt). 52 Dazu Wischmeyer, in: Eifert (Hrsg.), Digitale Disruption und Recht, 2020, S. 73; Wischmeyer, in: Wischmeyer/Rademacher (Hrsg.), Regulating Artificial Intelligence, 2020, S. 75; Surden, in: Dubber/Pasquale/Das (Hrsg.), The Oxford Handbook of Ethics of AI, Oxford Handbooks Online, 2020, S. 12 ff. 53 Slonim, Nature 591 (2021), 379. Die Autoren haben das Project Debater entwickelt, ein KI-basiertes System, das mit Menschen debattieren können soll. 54 Siehe Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 238 ff. 55 „[…] it seems implausible to win a debate using a strategy that humans can fail to follow, especially if it is the human audience which determines the winner.“ (Slonim, Nature 591 (2021), 379 (384)).

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Grund dafür ist eigentlich ganz einfach: Die „Rechtsklugheit“56 ist eine menschliche Angelegenheit. Schon im 19. Jahrhundert wurde die Vorstellung kritisiert, Rechtsanwendung könne Maschinen übertragen werden, d. h. einem Automaten, „in welchen man auf der einen Seite das Zehnpfennigstück des konkreten Thatbestandes hineinwirft, um dann auf der anderen vermöge des geräuschlos in ihm arbeitenden Gesetzesapparates das Urteil, vollendet bis ins einzelste, herausfallen zu sehen.“57 Bei allem technischen Fortschritt, der seitdem erreicht wurde: Die Kritik hat ihre Berechtigung behalten. Wenn die Suche nach den Potentialen technologischer Innovation in der Justiz derzeit wieder forciert wird, so steht dies deshalb unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Eine Forschung, die dem Vernehmen nach schlicht auf der Suche nach Anwendungs- und Experimentierfeldern ist, sollte sich bewusst sein, woraus sich jedenfalls auch ihre Attraktivität für staatliche Stellen speist: Computer sind billiger als Menschen. Nicht über die Chancen und Gefahren der „Digitalisierung“, sondern der „Ökonomisierung“58 wäre zu diskutieren.

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Begriff nach Nierhauve, Rechtsklugheit, 2016. Schmidt, Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens, 1899, S. 15 (siehe oben, Fn. 12). 58 Vgl. Schütz, Der ökonomisierte Richter, 2015. 57

Teil 4 Kommunikation im digitalen Zivilprozess der Zukunft

Justiz goes online Ein Praxisbericht zu Videoverhandlungen nach § 128a ZPO Von Sabine Grommes* Mit Ausbruch der Pandemie stellte sich für die Justiz die Frage, wie man trotz des Infektionsgeschehens sichere Verhandlungen gewährleisten kann. Im Zivilrecht wurde daraufhin eine bereits 2002 durch das ZPO-RG 2001 eingeführte Norm, die bis 2020 jedoch ein absolutes Schattendasein geführt hatte,1 ausgegraben: der § 128a ZPO. Dieser erfreut sich seitdem wachsender Beliebtheit. Am Amtsgericht München führen mittlerweile (Stand Juli 2021) rund 60 Richterinnen und Richter aus den verschiedenen Zivilabteilungen (allgemeines Zivilrecht, Mietrecht, Familienrecht und Verkehrszivilrecht) Videoverhandlungen, vorrangig mit sog. Hotspots aus den Sitzungssälen heraus, durch, und es gibt sogar eine Warteliste. Der vorliegende Beitrag soll einen kleinen Einblick in diese Form der Verhandlung geben und Vor- und Nachteile dieses Formats beleuchten.

I. Einzelne Verfahrensbeteiligte Nach § 128a Abs. 1 ZPO kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Ein Einverständnis der Parteien ist somit nach der neuen, seit 1. 11. 2013 geltenden Gesetzesfassung,2 nicht mehr erforderlich, um eine Videoverhandlung durchzuführen. Der Wortlaut des § 128a ZPO ermöglicht auch sog. Hybrid-Sitzungen, bei denen sich einzelne Beteiligte im Sitzungssaal aufhalten und andere online zugeschaltet sind. Zu beachten ist bei solchen Hybrid-Verhandlungen jedoch stets, dass alle Beteiligten auch durchgehend im Bildwege sichtbar sein müssen. Im Sitzungssaal muss daher ggf. mit gesonderten Kame* Der Beitrag stellt die persönliche Auffassung der Verfasserin dar und ist nicht im dienstlichen Auftrag erstellt. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag vom 2. Juli 2021 im Rahmen der Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ und gibt die damals geltende Sach- und Rechtslage wieder. 1 So auch Windau, NJW 2020, 2753; Schmidt/Saam, DRiZ 2020, 216 (217). 2 Art. 2 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren, BGBl. I S. 935.

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ras gearbeitet werden. Ein bloßes Hin- und Herdrehen des richterlichen Laptops genügt den Anforderungen des § 128a Abs. 1 ZPO nicht. Nach § 128a Abs. 2 ZPO kann das Gericht ferner auf Antrag Zeugen, Sachverständigen oder einer Partei gestatten, sich während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufzuhalten. Auch in diesem Fall muss eine zeitgleiche Übermittlung in Bild und Ton sichergestellt sein, § 128a Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO. Insbesondere das Zuschalten von Sachverständigen bietet sich an, da diese durch Teilen ihres Bildschirms auch online ihre Ergebnisse veranschaulichen können. Dolmetschern kann schließlich nach § 185 Abs. 1a GVG gestattet werden, sich an einem anderen Ort aufzuhalten und sich online der Verhandlung zuzuschalten. Auch dies funktioniert in der Praxis recht gut, erfordert jedoch von allen Beteiligten ein erhöhtes Maß an Disziplin, da nicht nur der Dolmetscher streng konsekutiv übersetzen muss, sondern – wie stets in diesem Format – niemand dem anderen ins Wort fallen darf. Diese Höflichkeitsregel wird im Sitzungssaal gelegentlich im Eifer des Gefechts außer Acht gelassen. Im Onlineformat ist ihre Einhaltung jedoch zwingend erforderlich, um sinnvoll kommunizieren zu können. Bei einer reinen Online-Sitzung befindet sich demnach nur der Richter im Sitzungssaal und gewährleistet dort die Öffentlichkeit der Verhandlung, § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG.

II. An einem anderen Ort Das Gericht kann anderen Beteiligten nach § 128a Abs. 1, 2 ZPO gestatten, sich „an einem anderen Ort“ aufzuhalten. Das kann in Zeiten von Notebook und Smartphone nahezu jeder Ort in Deutschland sein. So nehmen Parteien und Zeugen regelmäßig von ihrem Wohnsitz oder Arbeitsplatz aus teil, Rechtsanwälte schalten sich aus dem Homeoffice oder gar der Quarantäne zu. Selbst ein Lkw-Fahrer, der seine Tour nicht unterbrechen möchte, kann so ohne große Zeitverluste von einem Rastplatz aus über sein Smartphone zugeschaltet und vernommen werden. Der andere Ort muss nach § 160 Abs. 1 Nr. 4 ZPO protokolliert werden. Der Richter sollte im Vorfeld sicherstellen, dass sich die Parteien und Zeugen möglichst allein in einem Raum aufhalten. Insbesondere, wenn mehrere Angehörige eines Hausstands als Zeugen vernommen werden sollen, ist darauf zu achten, dass die später vernommenen Zeugen nicht bei der Aussage des zunächst vernommenen Zeugen zuhören, sondern sich ggf. in derselben Wohnung außer Hörweite aufhalten, bis sie an der Reihe sind. Da dies nur notdürftig (durch unangekündigte, plötzlich während der Vernehmung erbetene Kameraschwenks in den Raum z. B.) überprüfbar ist, begegnen einige Prozessbeteiligte dem Format mit Skepsis. Auch sei ein Ablesen einer vorbereiteten Aussage möglich. Dies lässt sich natürlich nicht vollständig von der Hand weisen. Auf der anderen Seite darf man sich bzgl. Absprachen auch bei Präsenzterminen wenig Illusionen hingeben: Wenn die Beteiligten sich abspre-

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chen möchten, tun sie dies auch im Vorfeld einer Präsenzsitzung. Ferner sollte nicht unterschätzt werden, wieviel man durch entsprechende Blickzuwendung oder Mimik auch online von einer direkten Einflussnahme mitbekommt. Wenn ein Zeuge ständig hilfesuchend hinter den Bildschirm blickt oder vor sich etwas abliest, ist dies oftmals auch online für den aufmerksamen Richter erkennbar. Der „andere Ort“ sollte sich bei einer Videoverhandlung nach § 128a ZPO jedoch im Inland befinden, da andernfalls eine Verletzung der territorialen Hoheitsrechte anderer Staaten droht. Für grenzüberschreitendes Verhandeln fehlt es außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EUGFVO) an einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage. § 128a ZPO gilt nur für Prozesse innerhalb Deutschlands. Die Zulässigkeit sog. grenzüberschreitender Verhandlungen, bei denen sich also eine Partei oder ein Prozessbevollmächtigter im Ausland aufhält, ist daher richtigerweise derzeit nicht gegeben.3 Anders verhält es sich, wenn sich sowohl das Gericht als auch Klage- und Beklagtenseite im Inland aufhalten und lediglich eine grenzüberschreitende Beweisaufnahme im Wege der Bild-Ton-Übertragung durchgeführt werden soll. Insofern existieren ausdrückliche Rechtsgrundlagen wie das HBÜ und die EuBVO, so dass z. B. die Zuschaltung eines Zeugen aus dem Ausland unter Beachtung der jeweiligen Voraussetzungen über ein reguläres Rechtshilfeersuchen beantragt werden kann. Letzteres ist jedoch stets erforderlich, wenn ein deutsches Gericht auf fremdem Hoheitsgebiet hoheitlich tätig wird, wie dies z. B. bei einer Zeugeneinvernahme, bei der der Zeuge sich im Ausland aufhält, der Fall ist. Insofern ergibt sich auch nichts anderes aus der BagatellVO, da die Möglichkeiten und Grenzen einer grenzüberschreitenden Beweisaufnahme sich nicht nach Art. 9 der BagatellVO, sondern für den innereuropäischen Rechtsverkehr nach der EG-BeweisVO, insbesondere Art. 17 zur unmittelbaren Beweisaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat, und im Verhältnis zu Drittstaaten nach dem einschlägigen multi-bzw. bilateralen Konventionsrecht richten. Dies gilt auch und gerade für die Durchführung einer Beweisaufnahme mittels Videokonferenz.4 Aufgrund des Übereinkommens über die Zustellung von Schriftstücken und die Beweisaufnahme vom 11. 6. 2018 ist so jedoch z. B. die Vernehmung eines sich in den USA aufhaltenden Zeugen, der freiwillig an der Videoverhandlung teilnimmt, möglich. Zu beachten ist insofern nur ggf. die Zeitverschiebung.

3 4

Anders Windau, NJW 2020, 2753 (2754 f.). MüKo-ZPO/Hau, 5. Aufl. 2017, Art. 9 EG-BagatellVO Rn. 8.

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III. Übertragung zeitgleich in Bild und Ton § 128a ZPO verlangt eine kontinuierliche Übertragung von Bild und Ton. Reine Telefonkonferenzen sind damit von § 128a ZPO nicht erfasst.5 Vielmehr muss bei sog. Hybrid-Verhandlungen sichergestellt sein, dass alle im Sitzungssaal anwesenden Prozessbeteiligten auch stets im Bild sind.6 Nicht übertragen werden muss dagegen nach § 128a ZPO der Zuschauerraum, denn dieser ist nicht Teil der Verhandlung.7 Ferner ist es für die Gewährleistung von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG auch nicht erforderlich, dass das in den Sitzungssaal übertragene Bild für die Zuschauer sichtbar ist. So reicht es aus, dass die Öffentlichkeit im Sitzungssaal den Ton der Verhandlung verfolgen kann, jedoch nicht das Bild.8 Ob eine Übertragung ins Netz, wie sie z. B. in Norwegen oder dem Vereinigten Königreich z. T. praktiziert wird, zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Sitzung vorzugswürdig wäre, ist eher fraglich, da zu befürchten wäre, dass Parteien und Zeugen sich in ihrem Aussageverhalten beeinflusst sehen und neben einer erhöhten Hemmung in der Aussage auch die Gefahr von sich profilierenden Selbstdarstellern bei einer Übertragung ins Netz nicht unterschätzt werden darf. Verstöße gegen die Anforderungen des § 128a ZPO sind nach § 295 ZPO heilbar, so dass z. B. ein zeitweiser Kameraausfall bei einem Beteiligten bei allseitigem Einverständnis später nicht mehr gerügt werden kann.

IV. Keine Aufzeichnung der Übertragung Nach § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO wird die Übertragung nicht aufgezeichnet. Auf diese Vorschrift sollte das Gericht vorab hinweisen, um auch der Geltendmachung eines Verbotsirrtums bei einer möglichen Strafbarkeit, z. B. nach §§ 22, 33 KunstUrhG, vorzubeugen. § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO schließt auch Aufzeichnungen mit Einverständnis der Beteiligten aus, da die Regelung nur aus Gründen der Prozessökonomie die Pflicht zur Anwesenheit am Gerichtsort aufhebt, jedoch nicht der Perpetuierung eines Beweismittels dienen soll. Eine Aufzeichnung der Aussage dürfte in der Präsenzsitzung jedoch auch nicht stattfinden.9

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So auch Windau, NJW 2020, 2753 (2754). MüKo-ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 128a Rn. 6; Schultzky, NJW 2003, 313 (315). 7 Vgl. Windau, NJW 2020, 2753 (2754). 8 MüKo-ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 128a Rn. 4; a.A. BeckOK-ZPO/von Selle, 40. Ed. 2021, § 128a Rn. 9. 9 Vgl. MüKo-ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 128a Rn. 16; Schultzky, NJW 2003, 313 (317); a.A. Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 42. Aufl. 2021, § 128a Rn. 8. 6

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V. Ermessensentscheidung Das Gericht entscheidet im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens, ob es eine Videoverhandlung durchführen möchte oder nicht.10 Gerade wenn es um rein wirtschaftliche Interessen geht, und die Beteiligten dies wünschen, spricht viel dafür, eine Videoverhandlung durchzuführen. Gegen den Willen von Beteiligten erscheint eine Videoverhandlung dagegen nicht sinnvoll. Zwar sind die Entscheidungen nach § 128a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht anfechtbar, § 128a Abs. 3 Satz 2 ZPO. Jedoch kann der Richter die Teilnahme über eine Bild-Ton-Übertragung nach § 128a ZPO nur gestatten, nicht vorschreiben und ist der Richter auf ein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft der übrigen Beteiligten angewiesen. So müssen die Parteivertreter, Parteien und Zeugen z. B. ihre Email-Adresse mitteilen und sich auch im Übrigen willig zeigen, sich mit dem Format auseinanderzusetzen und ggf. vorab einen Probelauf mit dem Gericht durchzuführen. Der Gesetzgeber hat mit Einführung des § 128a ZPO deutlich gemacht, dass er den Verlust an Unmittelbarkeit der Verhandlung durch eine Bild-Ton-Übertragung für hinnehmbar erachtet.11 Anders als bei einer schriftlichen Einvernahme oder dem Einschalten des ersuchten Richters kann sich das Gericht bei einer Videoverhandlung einen unmittelbaren Eindruck von der Person verschaffen. Ein erhöhter finanzieller Aufwand sollte ohnehin kein Argument gegen eine Videoverhandlung sein, erscheint zumindest bei der Durchführung mit Hotspots aus den Gerichtssälen oder aus der Dockingstation heraus ohne zusätzliches Personal jedoch m. E. auch nicht gegeben zu sein. Hohe Kosten entstehen vorrangig für die extra eingerichteten Videoverhandlungssäle mit ihrem entsprechenden Equipment. Nach KV 9019 sind 15 Euro für jede angefangene halbe Stunde der Videoverhandlung zu erheben.12 Anwälten, die daher höhere Verfahrenskosten fürchten, ist jedoch entgegenzuhalten, dass bei Videoverhandlungen in aller Regel keine Fahrtkosten und selten Verdienstausfall seitens der einvernommenen Zeugen geltend gemacht wird. Videoverhandlungen stellen einen erhöhten Arbeitsaufwand für den Richter dar. Dieser muss im Vorfeld der Sitzung nicht nur abklären, ob die Beteiligten zu diesem Format bereit sind, sondern auch noch Email-Adressen und Telefonnummern in Erfahrung bringen, ggf. Testläufe durchführen und das nötige Equipment im Gericht reservieren und aufbauen. Wie in jeder anderen Bevölkerungsschicht gibt es schließlich auch bei Richtern Personen, die Berührungsängste mit einem solchen Format haben und es daher eher scheuen.

10 So auch MüKo-ZPO/Fritsche, 6. Aufl. 2020, § 128a Rn. 7; Mantz/Spoenle, MDR 2020, 637 (641); Reichold spricht dagegen vom „freien Ermessen“, Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 42. Aufl. 2021, § 128a Rn. 2. 11 Vgl. BT-Drs. 17/1224, 10. 12 Aus diesem Grund sollte im Protokoll stets die Uhrzeit des Beginns sowie des Endes der Sitzung aufgenommen werden.

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VI. Vor- und Nachteile von Videoverhandlungen Dieser soeben aufgezeigte erhöhte Arbeitsaufwand stellt für den Richter in seinem ohnehin schon vollgepackten Arbeitstag sicher einen Nachteil dar. Des Weiteren ist der Richter bei der Videositzung stärker auf die Mitwirkung der übrigen Verfahrensbeteiligten angewiesen, die bereit sein müssen, sich in diesem Wege der Verhandlung zuzuschalten. Auch hat man als Richter den Zeugen oder die Partei nicht unmittelbar vor sich sitzen, was zum Teil als Problem bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit angesehen wird, zumindest aber sicher einen gewissen Verlust an nonverbaler Kommunikation bedeutet. Jedoch kann der Richter mittels Videoverhandlungen in der Pandemiezeit Sitzungen abhalten, ohne sich Sorgen um die gesundheitliche Gefährdung der Verfahrensbeteiligten machen zu müssen. Kein noch so gutes Lüftungskonzept und die Einhaltung der AHA-Regeln kann eine Ansteckung im Sitzungssaal sicher ausschließen. Eine Videoverhandlung, bei der nur der Richter im Sitzungssaal anwesend ist, kann dies. Ferner stellt sich das Format bei Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten als sehr flexibel dar und kommen z. T. auch kurzfristig Termine zustande. Zeugen und auch Rechtsanwälte können in aller Regel ein Zuschalten zur Vernehmung sehr viel leichter einrichten als eine (z. T. zeitaufwendige) Anreise zu Gericht, die bei weiten Anreisewegen sogar eine Übernachtung erfordern kann. Der Ablauf der Videositzung unterscheidet sich schließlich nach Protokollierung der Formalitäten nicht von dem einer Präsenzsitzung. Vielmehr kann das Lichtbild, das der Zeuge gern mal im Sitzungssaal auf seinem Handy vorzeigt, nun direkt durch Teilen des Bildschirms für alle gut sichtbar in Augenschein und per Email an alle versandt werden, so dass sich das Problem bei derartigen Konstellationen in Präsenzsitzungen, ob der Zeuge auch wirklich dasselbe Lichtbild später versendet, das er in der Sitzung vorgezeigt hat, nicht stellt. Der offensichtlichste Vorteil für die Verfahrensbeteiligten ist, dass man diesen die (evtl. weite) Anreise zu Gericht ersparen und einen teilweise erheblichen Zeitaufwand verkürzen kann. Neben Zeugen mit körperlichen Einschränkungen oder weiten Anreisewegen sind einem daher auch häufig Zeugen, die sich durch das bloße Zuschalten zu ihrer eigenen Einvernahme nicht länger vom Arbeitsplatz entfernen müssen, dankbar für diese Möglichkeit. Verdienstausfall wird dementsprechend deutlich seltener geltend gemacht als bei Präsenzsitzungen. Auch die Abwicklung von Reisekosten mittels der entsprechenden Formulare entfällt für die Zeugen. Ein Ansteckungsrisiko durch die Sitzung ist ferner in Pandemiezeiten durch Videoverhandlungen quasi ausgeschlossen, wenn jeder Verfahrensbeteiligte an seinem Wohnsitz/Arbeitsplatz verbleibt. Viele Bürger haben durch Homeschooling oder Homeoffice bereits Bekanntschaft mit Formaten wie Microsoft Teams oder Zoom gemacht, so dass die Berührungsängste eher gering sind. Nachteilig für die Verfahrensbeteiligten ist, dass sie zunächst einmal allein mit den technischen Herausforderungen und der Situation einer Gerichtsverhandlung sind. Selbst wenn sie anwaltlich vertreten sind, halten sie sich in aller Regel nicht

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in den Kanzleiräumen ihres Rechtsanwalts auf (was der Idee, Ansteckungsmöglichkeiten zu reduzieren, in Pandemiezeiten ja auch zuwiderlaufen würde). Zwar ist auch bei Videoverhandlungen jederzeit eine Unterbrechung möglich, in der sich der Mandant sodann mit seinem Rechtsanwalt besprechen kann. Dies ist dann jedoch – unter Stummschaltung der Videoverhandlung – auch nur über Telefon oder ein anderes elektronisches Medium möglich.

VII. Fazit Gerade in Pandemiehochzeiten erscheint es in Verfahren, in denen es nicht um höchstpersönliche Themen geht oder es entscheidend auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen ankommt, vorzugswürdig, Videoverhandlungen als Alternative zu Präsenzverhandlungen anzubieten. Da das Gericht – anders als bei Maskenpflicht im Sitzungssaal – zumindest die gesamte Mimik der vernommenen Person sieht, erscheint die Tatsache, dass die Person sich nicht im selben Raum befindet, in vielen Verfahren hinnehmbar. Videoverhandlungen stellen eine zeitgemäße Erweiterung der Verhandlungsmöglichkeiten bei Gericht dar, die neben der Senkung des Infektionsrisikos enorme weitere Vorteile beinhaltet. Die Justiz kann Zeugen so z. B. auch lange Anreisewege und erheblichen Zeitaufwand ersparen. Der durch Corona aus seinem Dornröschenschlaf erweckte § 128a ZPO sollte daher auch in einer Post-Pandemie-Zeit nicht wieder völlig in Vergessenheit geraten. Die Erfahrungen in der Praxis sind positiv.13 Auch sollte eine Erweiterung auf Strafrechtsverhandlungen seitens des Gesetzgebers in Erwägung gezogen werden. Im Strafrecht wird sich zwar sicher nicht jede Sitzung für dieses Format eignen und wird dies vom zuständigen Richter kritisch geprüft werden müssen. Gründe dafür, warum z. B. ein Sachverständiger oder der den Ermittlungsgang schildernde Polizeibeamte im Strafprozess nicht online zugeschaltet werden sollten, sind aber nicht ersichtlich.

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Vgl. auch Lamsfuß/Werner, DRiZ 2021, 50 (51).

Strafrechtliche Aspekte beim Einsatz von Videokonferenztechnik im (Zivil-)Prozess Von Florian Nicolai*

I. Hinführung Der Einsatz von Videokonferenztechnik als moderne Art der Prozessführung kann vieles vereinfachen, zu Zeitersparnis führen und – nicht zu vernachlässigen – auch die Umwelt schonen, wenn Reisen quer durch die Bundesrepublik für bisweilen sehr kurze Zeugenaussagen durch digitale Möglichkeiten vermieden werden. Doch wie bei anderen Bereichen der Digitalisierung, bspw. i.R.d. immer weiter im Ausbau befindlichen Vernetzung von Geräten (Internet der Dinge), die den Nutzern mehr Komfort, Sicherheit und Erleichterungen der alltäglichen Tätigkeiten bieten sollen, ist auch im Rahmen der „digitalen Prozessführung“ den damit einhergehenden Gefahren zu begegnen, die möglicherweise die genannten Zwecke der Erhöhung von Komfort und Sicherheit ins Gegenteil verkehren können. Ziel ist es jedoch nicht, als Spielverderber aufzutreten. Vielmehr soll eine Betrachtung möglicher Angriffsszenarien erfolgen und diese kursorisch auf ihre Strafbarkeit untersucht werden. Dabei erheben die angestellten Überlegungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen sie einen kasuistisch geprägten Denkanstoß dazu geben, die notwendige strafrechtliche Nachjustierung der Digitalisierung von Gerichtsprozessen nicht aus den Augen zu verlieren. In Frage stehen kann dabei nicht nur, ob für ein bestimmtes Verhalten bereits eine Strafnorm existiert oder trotz potenzieller Strafwürdigkeit nicht existiert. Darüber hinaus lässt sich auch die Frage stellen, ob bereits existierende und einschlägige Strafnormen adäquate Reaktionsmöglichkeiten bieten, eine Frage, die i.R.v. Cyberkriminalität immer wieder zu stellen ist. Selbstverständlich wird das Strafrecht nicht im Stande sein, alle Risiken zu beseitigen. Hervorgehoben werden soll aber, dass mit Blick auf die Weiterentwicklung der

* Der Beitrag basiert auf einem Einführungsstatement und Wortbeiträgen des Autors im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Themenblock „Videokonferenztechnik im Zivilprozess“ der Tagung. Die hier dokumentierten Arbeiten wurden gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Teil des Graduiertenkollegs 2475 „Cyberkriminalität und Forensische Informatik“ (Projektnummer 393541319/GRK2475/1 – 2019).

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Technik, auf den Bedeutungsgewinn der Videokonferenztechnik in der Justiz1 und die damit einhergehenden Risiken zu verhindern ist, dass der Strafrechtsschutz hinterherhinkt und erst dann angepasst wird, wenn die (z. T. vorhersehbaren) Phänomene eingetreten sind. Beispielhaft für die Schwierigkeiten der Subsumtion soll der Blick im Rahmen des Schutzes von Persönlichkeitsrechten etwas tiefergehend erfolgen.

II. Mögliche Angriffsszenarien und deren strafrechtliche Beurteilung Die möglichen Angriffsszenarien können verschiedene Rechtsgüter betreffen. Für die rechtliche Einordnung sind bisweilen die technischen Einzelheiten der betroffenen Systeme sowie des Vorgehens der Täter von zentraler Bedeutung, in diesem Zusammenhang stellen sich immer wieder Beweisprobleme.2 Gleichwohl soll die Betrachtung hier nicht umfassend auf die technischen Einzelheiten und detailliert unterschiedlichen Begehungsweisen eingehen. Vielmehr soll dargestellt werden, welche groben Angriffsrichtungen die Täter einschlagen können und wie diese – rein phänomenlogisch – von Statten gehen könnten. Bei der strafrechtlichen Betrachtung können sich selbstverständlich je nach konkretem modus operandi Unterschiede ergeben, deren vollumfängliche Darstellung jedoch die Grenzen dieses Podiumsbeitrags sprengen würden. 1. Zugang zur Verhandlung durch Unbefugte Wenn Unbefugte sich Zugriff auf das System der Videokonferenztechnik verschaffen, kann insbesondere die Strafbarkeit nach § 202a StGB (Ausspähen von Daten) oder § 202b StGB (Abfangen von Daten) von Bedeutung sein, wobei die Verwirklichung der Straftatbestände im Einzelnen sowohl vom Vorgehen der Täter als auch von den Gegebenheiten des Systems abhängt. So könnten diese Delikte beim Einhacken Dritter in die Systeme, möglicherweise um als unbemerkter Zuschauer an einem nichtöffentlichen Verfahren teilzunehmen, verwirklicht sein. Hierbei ist wohl zumindest davon auszugehen, dass die Systeme so ausgestaltet sind, dass die für §§ 202a StGB notwendige „besondere Sicherung“ vorliegt. Dies wäre bei der Nutzung von Videokonferenzplattformen wie bspw. Microsoft Teams, Zoom oder anderen Tools bereits dann der Fall, wenn der Zugang passwortgeschützt ist oder 1 Erst kürzlich (nach Abschluss der Tagung, jedoch vor Fertigstellung dieses Beitrags) trafen sich die baden-württembergische Justizministerin Gentges und der bayerische Justizminister Eisenreich zu einem länderübergreifenden Fachgipfel, bei dem u. a. über die technische Freigabe eines Konferenz-Tools in Bayern berichtet wurde, https://rsw.beck.de/aktuell/ daily/meldung/detail/baden-wuerttemberg-und-bayern-treiben-digitalisierung-in-der-justiz-vor an (zuletzt abgerufen am 06. 08. 2021). 2 Vgl. BGH NStZ 2022, 43 m. Anm. Nicolai; BGH NStZ 2018, 401 m. Anm. Safferling.

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die Übertragung – so die h. M.3 – verschlüsselt erfolgt. Je nach technischer Umsetzung und dem konkreten modus operandi ist auch eine Strafbarkeit gem. § 27 I TTDSG (bis 30. 11. 2021 § 148 I TKG) i. V. m. § 5 TTDSG (bis 30. 11. 2021 § 89 TKG) denkbar.4 2. Angriff auf die Systeme selbst/Ransomwareangriffe Möglich sind auch Szenarien, in denen Systeme gezielt „lahmgelegt“ werden. Die Motivlage hierfür kann unterschiedlich sein und reicht von bloßem „digitalen Vandalismus“ zum möglichen Ausbremsen eines Verfahrens bis hin zu Ransomwareangriffen, bei denen Nutzer aus ihrem eigenen System, mit dem Versprechen bei Zahlung einer Lösegeldsumme wieder Zugang zu erhalten, ausgesperrt werden. Bei diesen Szenarien steht zunächst eine Strafbarkeit gem. § 303a (Datenveränderung) sowie § 303b (Computersabotage) StGB im Raum. Während die Feststellung der Strafbarkeit nach § 303a StGB tendenziell weniger problembehaftet sein wird, gestaltet sich die Frage nach der Strafbarkeit nach § 303b StGB, der nicht nur eine höhere Strafandrohung beinhaltet, sondern auch höhere Hürden auf Tatbestandsebene enthält, bisweilen schwieriger, was zum einen an der bzgl. seiner Bestimmtheit zweifelhaften Ausgestaltung des Tatbestands,5 zum anderen auch an Schwierigkeiten bzgl. tatsächlicher Feststellungen liegen kann. Dies trifft u. a. auch auf das hier relevante Merkmal der wesentlichen Bedeutung der beeinträchtigten Datenverarbeitung für einen fremden Betrieb, ein fremdes Unternehmen oder eine Behörde, § 303b II StGB, zu. Dieses Merkmal soll dann vorliegen, wenn die Aufgabenstellung oder Organisation der Behörde ganz oder jedenfalls überwiegend von der Funktionsfähigkeit der Datenverarbeitung abhängig ist.6 Mit Blick auf die noch untergeordnete Rolle der Videokonferenztechnik zum jetzigen Zeitpunkt, scheidet das Merkmal wohl eher aus. In Zukunft mag dieses Verfahren vielleicht mehr an Bedeutung gewinnen, ob man die Funktionsfähigkeit eines Gerichts jedoch in dessen Abhängigkeit sieht, stünde weiter zu bezweifeln. Bei Lösegeldforderungen – mithin in den klassischen Angriffen per Ransomware – kommt darüber hinaus eine Strafbarkeit gem. § 253 StGB (Erpressung) in Betracht, sodass die Strafzumessung jedenfalls gem. § 52 II 1 StGB aus dem Strafrahmen des § 253 StGB heraus erfolgen wird.

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Zum Streitstand MüKo-StGB/Graf, 4. Aufl. 2021, § 202a Rn. 50. Ausf. Ufer, in: Taeger/Gabel (Hrsg.), DSGVO – BDSG – TTDSG, 4. Aufl. 2022, § 27 TTDSG Rn. 1 ff.; Munz, in: Taeger/Gabel (Hrsg.), DSGVO – BDSG – TTDSG, 4. Aufl. 2022, § 5 TTDSG Rn. 1 ff. 5 Einen Verstoß gegen Art. 103 II GG annehmend u. a. NK-StGB/Zaczyk, 5. Aufl. 2017, § 303b Rn. 5; HK-GS/Weiler, 4. Aufl. 2017, § 303b StGB Rn. 4. 6 Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 303b Rn. 6; vgl. zu diesem Merkmal bei Privatleuten u. a. Nicolai, NStZ 2022, 45 f. 4

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Eingedenk der immer weiter fortschreitenden Vernetzung einzelner Geräte sowie der Omnipräsenz von IT-Systemen in allen Lebensbereichen scheint die Frage nach der Bestimmtheit des § 303b, zumindest aber nach einem einheitlichen Verständnis der „wesentlichen Bedeutung“ durchaus legitim. Insbesondere aufgrund der steigenden Vernetzung von Geräten, der daraus entstehenden Abhängigkeit sowie der damit verbundenen (Folge)Schäden in verschiedenen Rechtsgütern, die auch ohne eine Einschlägigkeit des § 253 StGB bestehen können, sollte über die Frage nachgedacht werden, ob die in §§ 303a f. StGB verankerten Reaktionsmöglichkeiten ausreichend sind.7 Selbstverständlich sind höhere Strafen kein Allheilmittel. Gleichwohl soll die Strafe die verwirklichte Schuld widerspiegeln, § 46 StGB.8 Diese wiederum kann aufgrund der o.g. Gründe in vielen Bereichen der Cyberkriminalität heutzutage höher liegen, als es der Strafrahmen computerspezifischer Delikte vorsieht. 3. Screenshots und Mitschnitte von Verfahrensteilen Der Frage nach der Strafbarkeit der Erstellung und Verbreitung von Screenshots und Mitschnitten von per Videokonferenztechnik übertragener Verfahrensabschnitte, soll eine intensivere Betrachtung zuteilwerden. Besteht ein ausreichender strafrechtlicher Schutz der Verfahrensbeteiligten vor der Erstellung von Screenshots und Audio- sowie Videomitschnitten und deren etwaiger Veröffentlichung, bspw. im Internet und auf Social-Media-Plattformen? a) § 201 StGB – Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes § 201 StGB dient dem Schutz der Privatsphäre sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.9 Kern der Norm ist der Schutz des Rechts auf Reichweite einer Äußerung sowie die Wahrung der Unbefangenheit des gesprochenen Wortes.10 Damit ist auch der Gerichtssaal zunächst potenziell ein Ort, an dem die Vertraulichkeit des Wortes unter Schutz stehen kann. Die Reichweite der Äußerungen soll gerade überblickbar sein. Über die verschiedenen Tatvarianten könnte damit bspw. der Audio-Mitschnitt des Tons einer Online-Verhandlung (Abs. 1 Nr. 1), das Zugänglichmachen oder Gebrauchen einer solchen Aufnahme (Abs. 1 Nr. 2) sowie das öffentliche Mitteilen eines nach Abs. 1 Nr. 1 aufgenommener Verhandlungsinhalte (Abs. 2 S. 1 Nr. 2) fallen. Das „Abhören“ i.S.d. Abs. II wird im Rahmen der Videokonferenztechnik rein phänomenologisch bereits ausscheiden, da ein Abhörgerät im Sinne der Norm ein

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Diese Probleme erkennt auch der jüngst vom Bundesrat eingebrachte Gesetzesentwurf eines § 202e StGB-E, BT-Drs. 20/1530, wobei fraglich bleibt, ob der Entwurf adäquate Lösungen bereithält. 8 Vert. Kett-Straub/Kudlich, Sanktionenrecht, 2. Aufl. 2021, § 9 Rn. 47. 9 BeckOK-StGB/Heuchemer, 52. Ed., Stand 01. 02. 2022, § 201 Rn. 1. 10 BVerfGE 34, 245.

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Hilfsmittel ist, welches das gesprochene Wort über dessen natürlichen Klangbereich hörbar macht.11 Große Bedeutung dürfte in diesem Zusammenhang das gemeinsame Merkmal der Tatbestandsvarianten der „Nichtöffentlichkeit“ des gesprochenen Wortes zukommen. Nichtöffentlich ist das Gesprochene, wenn es nicht an die Allgemeinheit gerichtet ist und nicht über einen durch persönliche oder sachliche Beziehungen abgegrenzten Personenkreis hinaus wahrnehmbar ist.12 Bei Inhalten aus Gerichtsverhandlungen soll die Frage der Nichtöffentlichkeit an den Begriff der (Nicht-)Öffentlichkeit des jeweiligen Vorgangs im Verfahren geknüpft sein, m.a.W.: Öffentliche Verhandlungen unterfallen nicht dem Schutz des § 201 StGB, nichtöffentliche hingegen schon.13 Mit Blick darauf, dass die Öffentlichkeit eines Verfahrens bedeutet, dass jedermann ungehindert Zutritt erhält und zuhören darf, ließe sich durchaus der Öffentlichkeitsbegriff des Verfahrens von dem des § 201 StGB lösen.14 Andererseits scheint ein Gleichlauf der Begriffe insoweit konsequent, als dass das Tatbestandsmerkmal gerade nicht an die Zahl der Mithörenden anknüpft, sondern an die Abgeschlossenheit des Zuhörerkreises.15 Zugleich geht es dabei jedoch um die Kontrollmöglichkeit bzgl. der Reichweite der Äußerungen:16 Diese wiederum ist dann nicht gegeben, wenn ein Mitschnitt erfolgen kann und der Zuhörerkreis – bspw. bei öffentlicher Übertragung der Verhandlung – gerade nicht überschaubar ist. Selbst wenn die Praxis der Übertragung bisweilen noch so ausgestaltet ist, dass die Verhandlung in einen Sitzungsaal des Gerichts übertragen wird und dort durch Öffnung für Zuschauer die Öffentlichkeit hergestellt werden soll, so besteht die Gefahr gleichwohl bereits jetzt: Zum einen können alle Handlungen auch von anderen Verfahrensbeteiligten begangen werden, zum anderen ist es ratsam frühzeitig an Konstellationen zu denken, in denen die Öffentlichkeit sich nicht auf einen Sitzungsaal im Gerichtsgebäude beschränkt. Dies könnte damit in der vorliegenden Konstellation zur widersprüchlichen Situation führen, dass gerade die Umstände, die zu einer Schutzbedürftigkeit und damit einhergehenden etwaigen Strafwürdigkeit führen, die schützende Strafnorm gewissermaßen aushebeln. Denn im Unterschied zu den Konstellationen, in denen Sprechende das Publikum wählen oder zumindest die Umstände und Gegebenheiten der Sprechsituation in Kauf nehmen, haben Sprechende vor Gericht diese Wahl zumeist nicht, vielmehr sehen sie sich einer Situation ausgesetzt, in der sie Inhalte aus dem Kernbereich höchstpersönlicher Lebensführung in eine öffentliche Verhandlungssituation tragen müssen. Selbstverständlich besteht auch im Rahmen von Verhandlungen im Gerichtssaal diese Gefahr. Gleichwohl unterliegt

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StGB, 69. Aufl. 2022, § 201 Rn. 7; MüKo-StGB/Graf, 4. Aufl. 2021, § 201 Rn. 31. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 201 Rn. 3. 13 MüKo-StGB/Graf, 4. Aufl. 2021, § 201 Rn. 16 m.w.N. 14 So auch Helle, Besondere Persönlichkeitsrechte im Privatrecht, 1991, S. 257 f. 15 Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 201 Rn. 4. 16 Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 201 Rn. 4. 12

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dies einer anderen Kontrolle durch das Gericht, zudem liegt es nahe, dass die Hemmschwelle dort höher liegt. Auch die Argumentation, der Sprechende mache seine Worte zu öffentlichen Worten, wenn er damit rechnen müsse, dass seine Worte zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen,17 passt zum Telos des § 201 StGB, nicht jedoch auf die hier besprochene Situation. Denn außer dem Angeklagten und Zeugen mit Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrecht besteht vor Gericht keine Wahlmöglichkeit ob und wie man sich äußert. Gerade mit Blick darauf, dass es um den Erhalt der Kontrollmöglichkeit geht, sollte strafrechtlicher Schutz dahingehend bestehen, dass Handlungsvarianten des § 201 StGB bzgl. digital übertragener Verfahrensinhalte dem StGB unterfallen – gleichgültig ob die Verhandlung öffentlich oder nichtöffentlich ist. Selbstverständlich muss sich jeder Verfahrensbeteiligte im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung nicht nur darüber im Klaren sein, dass die getätigten Äußerungen notiert, wörtlich wiedergegeben und paraphrasiert werden können. Gleichwohl stellt die hier in Frage stehende Konstellation eine andere Lage dar, da allen Verfahrensbeteiligten bewusst ist, dass nicht nur mitgeschrieben, sondern eben mitgeschnitten wird oder werden kann. Diese Wertung wohnt im Übrigen auch § 169 GVG inne, dessen Ratio sich durchaus zur Begründung eines Strafrechtsschutzes heranziehen lässt. Das Mitschneiden nichtöffentlicher Verhandlungsinhalte kann damit von § 201 StGB umfasst sein, sofern die Aufnahme aus einem reinen Audiomitschnitt oder einem Audio-Video-Mitschnitt besteht. Nach überwiegender Auslegung des Tatbestandsmerkmals „nichtöffentlich“ trifft dies auf Inhalte öffentlicher Verhandlungen jedoch nicht zu. b) § 201a StGB – Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen Reine, tonlose Videomitschnitte oder die Anfertigung von Screenshots hingegen sind auch bei nichtöffentlichen Verfahren aufgrund der Schutzrichtung des § 201 StGB nicht von diesem umfasst. Über § 201a StGB hingegen könnte sowohl das Anfertigen von Screenshots oder Bildschirmvideos als auch das Abfilmen mit einer Kamera oder einem Smartphone umfasst sein. Grundsätzlich schützt § 201a StGB das Recht am eigenen Bild. Beschränkt ist dieser Schutz jedoch auf den höchstpersönlichen Lebensbereich. Bereits an der Tatbestandsvoraussetzung des „geschützten“ Raumes könnte die Anwendung der Norm auf die hier betrachteten Fälle scheitern. Je nachdem, wo die Person, deren Aussage oder Verhalten mitgeschnitten wird, sich befindet, mag bspw. i.S.d. Abs. 1 Nr. 1 noch eine Wohnung oder eine gegen Einblick besonders geschützte Räumlichkeit vorliegen, wobei sich durchaus fragen ließe, ob letzteres nicht 17

Vgl. NK-StGB/Kargl, 5. Aufl. 2017, § 201 Rn. 8 m.w.N.

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gerade dadurch entfällt, dass sich mit der Kamera ein Gerät im Raum befindet, welches den Einblick gerade gewähren und nicht abschirmen soll. Mag man dieses Merkmal noch als erfüllt ansehen, so wird man bei der dadurch notwendigen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs ggf. ins Stolpern geraten können. Notwendig für die Verwirklichung ist nämlich (als tatbestandsmäßiger Erfolg)18 eine Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs, mithin also der Intimsphäre zugeordnet werden müssen. Nun ließe sich bereits fragen, ob eine Aussage vor Gericht diesem Bereich unterfällt. Wenn man jedoch auf die bloße Verletzung der Intimsphäre abstellt, so kann diese auch auf diese Weise eintreten, dass die Äußerungen im Verfahren, sich durchaus auf Inhalte des Kernbereichs höchstpersönlicher Lebensführung beziehen können und damit der Inhalt der Aussage diesem Bereich unterfällt – so reicht hierfür bereits aus, dass es sich um die innere Gedanken- oder Gefühlswelt, den Gesundheitszustand oder ggf. Einzelheiten zum Sexualleben handelt,19 was alles durchaus zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen werden kann. Gleichwohl bestehen zwei Probleme fort: Zum einen ließe sich womöglich argumentieren, dass sobald diese Inhalte Gegenstand eines (zumindest öffentlichen) Gerichtsverfahrens werden, möglicherweise aus diesem Kernbereich herausgeholt werden. Zum anderen steht man, selbst wenn man dem nicht folgen würde, vor dem Problem, dass Aussagen, die sich nicht auf den höchstpersönlichen Lebensbereich beziehen, dem strafrechtlichen Schutz nicht unterfallen. Gleiches gilt für Äußerungen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers. Dies mag mit der Ratio der Norm vereinbar (§ 201a StGB schützt ja gerade nicht davor in jeder willkürlichen Lebenssituation gefilmt zu werden) und in sich schlüssig sein. Zugleich lässt sich jedoch durchaus ein Bedürfnis der Abdeckung durch das StGB diskutieren. c) „Rettung“ durch das KUG? In gewisser Weise kann diese Lücke durch das KUG geschlossen werden. Denn auch wenn die Handlung nicht den höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt, besteht selbstverständlich das Recht am eigenen Bild, welches durch das KUG nebenstrafrechtlichen Schutz erfährt. Gem. § 33 KUG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, wer entgegen den §§ 22, 23 KUG ein Bildnis verbreitet oder öffentlich zur Schau stellt. Unter Strafe gestellt wäre damit durch das KUG nicht das Anfertigen zum alleinigen, privaten Gebrauch eines irgendwie gearteten Mitschnittes oder Screenshots, sondern die Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung, wie bspw. das Versenden oder Hochladen auf Social-Media-Plattformen. Gem. § 22 KUG dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden. Die in § 22 KUG genannten Ausnahmeregelungen spielen in der hier begutachteten Konstellation eher keine Rolle. Interessanter werden dafür die Ausnahmen nach § 23 KUG. Gem. Abs. 1 Nr. 1 gilt das Ver18 S. hierzu und zur anderslautenden Gesetzesbegründung BeckOK-StGB/Heuchemer, 52. Ed., Stand 01. 02. 2022, § 201a Rn. 13 f.; NK-StGB/Kargl, 5. Aufl. 2017, § 201a Rn. 21. 19 Vgl. BeckOK-StGB/Heuchemer, 52. Ed., Stand 01. 02. 2022, § 201a Rn. 14.

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bot aus § 22 und damit auch die Strafnorm des § 33 KUG dann nicht, wenn es sich bei der abgebildeten Person um eine solche aus dem „Bereiche der Zeitgeschichte“ handelt. Wichtig hierbei ist, dass darunter nicht nur sog. absolute, sondern auch relative Personen der Zeitgeschichte fallen, mithin also auch solche Personen, die erst im Zuge des abgebildeten Ereignisses Bekanntheit erlangten und so zu Personen der Zeitgeschichte wurden.20 § 23 I KUG lässt damit mögliche Bilder, die im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren entstehen aus der Strafbarkeit herausfallen, sorgt jedoch sodann – was der Normgeber vermutlich noch nicht bedenken konnte – auch dafür, dass Screenshots und Mitschnitte im Rahmen der Anwendung von Videokonferenztechnik im Gerichtsverfahren aus der Strafbarkeit herausfallen, wenn es sich bei den abgebildeten Personen um solche im oben genannten Sinne handelt. In Verbindung mit den Gegebenheiten der Videokonferenz erstreckt sich dieser Umstand dann nicht nur auf Situationen im Zusammenhang des Verfahrens, also vor dem Gerichtsgebäude oder auch im Sitzungssaal vor Sitzungsbeginn. Vielmehr hilft das KUG in diesen Fällen dann auch in den Situationen nicht, in denen das Verfahren öffentlich ist und damit die Anfertigung selbst nicht unter §§ 201 f. StGB fällt. Darüber hinaus lässt sich die Frage stellen, ob die Strafdrohung des § 33 KUG (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe) dazu geeignet ist, das in § 33 KUG sicherlich noch nicht bedachte Unrecht der hier besprochenen Konstellationen abzubilden. d) Die Ratio des § 169 GVG als Argument pro Strafrechtsschutz Auch die Ratio des § 169 GVG streitet für eine stärkere Eindämmung dieser Risiken, wobei das Strafrecht zumindest unterstützend tätig sein sollte. § 169 I 2 GVG verbietet zunächst Ton- und Bildaufnahmen während der Verhandlung21 zum Zwecke der Veröffentlichung. Zwar sind Aufnahmen ohne Veröffentlichungszweck hiervon nicht umfasst, aufgrund der Omnipräsenz sozialer Medien und der bisweilen „viralen“ Verbreitung von Bildern und Videos im Internet, kann jedoch – was nötig wäre – kaum ausgeschlossen werden, dass Bilder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, weshalb auch für Aufnahmen, die grds. keinen Veröffentlichungszweck haben, kaum Fälle denkbar sein werden, in denen die Aufnahmen zulässig sind.22 Einfache Bildaufnahmen unterfallen zwar zunächst nicht Abs. 1 S. 2, weshalb dies-

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Zu den Begrifflichkeiten BeckOK-InfoMedienR/Herrmann, 35. Ed., Stand 01. 02. 2022, KUG § 23 Rn. 4 ff. 21 Zu möglichen Ausnahmen s. LR-StPO/Wickern, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 45 ff. sowie die 2018 eingefügten Absätze 2 und 3. 22 S. auch MüKo-StPO/Kulhanek, 1. Aufl. 2018, GVG § 169 Rn. 32, der für Aufnahmen ohne Veröffentlichungszweck aufgrund der genannten Risiken eine Zulassung durch den Vorsitzenden über § 176 I GVG für ausgeschlossen hält; LR-StPO/Wickern, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 44 hingegen sieht die Aufnahmen bereits über S. 2 als unzulässig an, wenn die Veröffentlichung auch ohne zunächst vorliegenden Veröffentlichungszweck nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann.

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bezüglich die Sitzungspolizei des Vorsitzenden greift, § 176 GVG.23 Sinn und Zweck dieses Verbots ist es einen Einfluss der multimedialen Zugänglichkeit solchen Materials auf das Verhalten der Beteiligten im Prozess zu verhindern.24 Die Vorstellung der Beteiligten, ihr Verhalten und ihre Aussagen könne aufgrund der Aufnahmen und deren Veröffentlichung einer erweiterten Öffentlichkeit dargestellt werden und damit auch einer Wahrnehmung und Bewertung einer namenlosen Menge ausgesetzt zu sein, birgt die beträchtliche Gefahr, dass die Beteiligten in ihren Äußerungen gehemmt und in ihrem Verhalten beeinflusst sein könnten.25 Dies betrifft freilich nicht nur juristische Laien, die sich, sei es als Zeuge oder anderweitig Beteiligter am Verfahren, ohnehin aufgrund der Situation als solcher erhöhtem Druck ausgesetzt sehen sondern selbstverständlich auch das Gericht, die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung und andere Beteiligte. § 169 GVG versucht nicht nur die Wahrheitsfindung im Prozess, sondern zugleich die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu schützen. Der hinter der Norm stehende Gedanke verfängt auch bei der hier diskutierten Frage strafrechtlicher Absicherung der Anfertigung von Mitschnitten und Aufnahmen im Rahmen von digitalen Verhandlungen. Sowohl die Wahrheitsfindung im Prozess als auch die Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten sind den eben angeführten Risiken bei digitalen Verhandlungen in höherem Maße ausgesetzt als in Verhandlungen im Gerichtssaal. Das Risiko bei Anwesenheit im Gerichtssaal sinkt nicht nur aufgrund der höheren Gefahr entdeckt zu werden, sondern, so steht zu vermuten, auch aufgrund der im Gerichtssaal höheren Hemmschwelle mitzuschneiden oder zu filmen (welche wiederum z. T. auf das höhere Entdeckungsrisiko zurückzuführen sein wird). Es scheint zumindest denkbar, dass eine strafrechtliche Norm, die sowohl die Wahrheitsfindung im Prozess als auch die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten absichert, zur Minimierung der Risiken beitragen kann. Indes ist offenkundig, dass die Existenz einer Strafnorm nicht komplett verhindern wird, dass Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Gleichwohl mag aufgrund der Strafbewährung sowohl die Hemmschwelle ansteigen, als auch gesellschaftlich deutlich werden, dass dieses Verhalten nicht geduldet sondern missbilligt wird. Das Strafrecht muss an dieser Stelle nicht nur seiner Funktion zum Rechtsgüterschutz, sondern auch zum Ausdruck des sozialethischen Unwerturteils dieser Handlungen, nicht zuletzt gegenüber den Betroffenen, zum Tragen kommen.

III. Fazit Die Risiken von Videoverhandlungen sind, wie so oft im Rahmen der Digitalisierung, mannigfaltig. Gleichwohl ist zu betonen, dass das Erkennen und Äußern dieser 23

Viel spricht dafür aufgrund der Gepflogenheiten hier bereits von einem stillschweigenden Fotografieverbot auszugehen, MüKo-StPO/Kulhanek, 1. Aufl. 2018, GVG § 169 Rn. 33; LR-StPO/Wickern, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 52; a.A. v. Coelln, AfP 2014, 193 (198). 24 BGHSt 16, 111; MüKo-StPO/Kulhanek, 1. Aufl. 2018, GVG § 169 Rn. 27. 25 Ausf. LR-StPO/Wickern, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 40 f.

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Risiken nicht den Fortschritt hemmen und die Chancen der Digitalisierung der Justiz in den Hintergrund treten lassen sollen.26 Vielmehr war das Ziel aufzuzeigen, dass einzelne Normen des Strafrechts beim Entstehen neuer (digitaler) Phänomene mitgedacht werden muss, um seinem Ziel des Rechtsgüterschutzes und Rechtsfriedens weiter gerecht zu werden. Insbesondere in Bezug auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten besteht – wie der Diskussionsbeitrag zeigt – noch Handlungsbedarf. Das Strafrecht ist selbstverständlich nicht die Antwort auf mit der Digitalisierung der Justiz einhergehende Risiken, aber doch ein Aspekt, der beim begrüßenswerten Tatendrang, den digitalen Fortschritt in die Gerichte zu bringen, nicht außen vorgelassen werden sollte. In Zeiten in denen die Gesellschaft über Hatecrimes, Gewaltaufrufe und Mobbing im Internet sowie über immer zunehmende tätliche Angriffe auf gesellschaftlich engagierte Menschen spricht, sollten wir uns bewusstmachen, dass keinem geholfen ist, wenn Urteilsbegründungen und Zeugenaussagen als TikTok oder auf Youtube verbreitet werden und wir als Gesellschaft keine (oder keine ausreichende) strafrechtliche Antwort hierauf haben.

26 Zu dieser bedenklichen Usance im Strafvollzug s. Kett-Straub/Nicolai, ZfDR 2021, 131 ff.

Der goldene Schnitt der Digitalisierung Psychologische Lehren zur Steigerung der Akzeptanz Von Klaus Harnack Das Ei hat das beste Design – es macht es der Henne leicht Raymond Loewy

In Sachen Digitalisierung ist auch in der Justiz der Rubikon bereits überschritten – ein Zurück ist ausgeschlossen. Die Frage nach dem Ob und Warum liegt folglich hinter uns und die Aussage, dass die Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung eine Veränderung für die gesamte Justiz darstellt, erscheint somit tautologisch. Deswegen stellt sich nun auf der anderen Seite des Rubikons nur noch die Frage nach dem Wie. Wie werden die Veränderungen von den Akteuren wahrgenommen? Wie müssen die Prozesse gestaltet werden, um bestmöglich angenommen und umgesetzt zu werden? Wie müssen die Rahmenbedingungen sein, damit Veränderungen ihr Potential entfalten können? Wie schnell kann ein solcher Prozess verlaufen und wie sieht hierbei das rechte Maß aus? Der gegenwärtige Beitrag wird diese Fragen aus der Sicht der Psychologie beleuchten, Wirkweisen erklären und versuchen, wesentliche Parameter aufzuzeigen, die die Akzeptanz für die Digitalisierung erhöhen, damit der juristische Alltag von diesen Veränderungen profitieren kann.

I. Das MAYA-Prinzip Wie ist das rechte Maß von Veränderung beschaffen? Diese Suche ist ein wahrer Klassiker und auch wenn uns handfeste Antworten bei dieser Suche nicht vorliegen, stehen wir dennoch nicht mit leeren Händen da. Die Erfahrung lehrt uns, dass zu große und schnelle Schritte nicht nur beim Wandern wenig zielführend sind, da sie zu schneller Ermüdung führen, sondern auch, dass zu schnelle und große Schritte bei organisationalen Veränderungsprozessen stets als zuverlässiger Prädiktor für eine hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns angesehen werden. Kleine und kontinuierliche Schritte hingegen, sind oft das bessere Mittel. Die Idee, langfristige Innovationsprozesse in kleinen, aber kontinuierlichen Schritten zu denken, hat den Industriedesigner Raymond Fernand Loewy zu einem der Erfolgreichsten seiner Zeit und Zunft gemacht. Loewy, der Gestalter des legendären Studebaker, des Shell-Muschellogos, der Lucky Strike Packung und zahlreichen Gebrauchsgegenständen des Alltags, gründete seinen Erfolg auf dieser simplen

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Idee. Er formte das Akronym MAYA1 – „Most Advanced Yet Acceptable“, sinngemäß: Das Neuartigste, das noch akzeptabel ist.2 Es beschreibt den Spannungsbogen zwischen Gewohntem und Neuem. Auf den ersten Blick scheinen die Merkmale unvereinbar, doch gerade das richtige Verhältnis zwischen diesen beiden Polen gilt als Indikator, ob Neuerungen akzeptiert und angenommen werden. Es geht folglich bei der Einführung von Veränderungen um den richtigen Punkt in diesem Spannungsfeld und hier zeigt sich, dass neuartige Dinge und Prozesse nur angenommen werden, solange die Innovation das Gewohnte nicht überdeckt. Im Folgenden soll das MAYA-Prinzip als Leitplanke fungieren, um die Veränderungsprozesse hin zu einer digitaleren Justiz zu leiten, denn jegliche Neuerung muss nicht nur gut funktionieren, sondern in erster Linie auch bei der Mehrheit auf Interesse und Akzeptanz stoßen. Das MAYA-Prinzip ist kein festgelegtes Rezept, sondern fungiert als Heuristik, um die Akzeptanz in Veränderungsprozessen zu steigern, einen kontinuierlichen Veränderungsprozess zu ermöglichen und die Handlungssicherheit der Akteure zu gewährleisten. Zur Illustration und Wirkweise sollen im Folgenden einige Beispiele dienen, beginnend mit einem aus unserem digitalen Alltag: In regelmäßigen Abständen bekommen unsere elektronischen Helfer, wie PCs, Tablets oder Smartphones – Updates, kleine Anpassungen der Softwarearchitektur. Diese Neuerungen verlangen in aller Regel nicht, dass die Anwender ihre gelernten Muster und Routinen neu lernen müssen, sondern verlangen lediglich kleine Adaptionen des Verhaltens, die auf bereits Gelerntem aufbauen. In dieser Konstellation ist die Akzeptanz für Innovationen hoch, die Anwendung fällt verglichen zu neuen Softwarearchitekturen leicht und Widerstände bleiben aus. Dieser Effekt basiert auf der Intuition, Neues immer basierend auf bereits Bestehendem zu denken und zu präsentieren. Stellen Sie sich die Beschreibung von neuen Produkten vor: Hier klingen Aussagen wie „Dies ist der Mercedes unter den Wohnwagen“ oder „das ist das Nutella der Fruchtaufstriche3“, sehr naheliegend. Das Neue steht stets in Referenz zum Alten und Bewährtem. Besonders eindrücklich zeigt der Soziologe Stanley Lieberson4 dieses Phänomen mit seiner Anfang der neunziger Jahre veröffentlichten Studie, bei der er die populärsten Namen für Mädchen, beginnend mit dem Präfix „La“ untersucht. Ab 1967 knackten acht verschiedene „LaNamen“ die nationalen Top 50 in dieser Reihenfolge: Latonya, Latanya, Latasha, Latoya, Latrice, Lakeisha, Lakisha und Latisha. Die Ordnungsmäßigkeit dieser Ent1

Paul Hekkert/Dirk Snelders/Piet C. W. Van Wieringen, „,Most Advanced, yet Acceptable‘: Typicality and Novelty as Joint Predictors of Aesthetic Preference in Industrial Design,“ British Journal of Psychology 94, no. 1 (2003): 111 – 24. 2 Hekkert/Snelders/Van Wieringen. 3 Derek Thompson, „The Four Letter Code to Selling Just about Anything,“ The Atlantic, 2017. 4 Stanley Lieberson/Eleanor O. Bell, „Children’s First Names: An Empirical Study of Social Taste,“ American Journal of Sociology 98, no. 3 (November 1, 1992): 511 – 54, https:// doi.org/10.1086/230048.

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wicklung ist dabei erstaunlich. Der Schritt zwischen Latonya und Latanya ist ein anderer Vokal; von Latonya zu Latoya ist der Verlust des „n“; von Lakeisha zu Lakisha ist der Verlust des „e“; und von Lakisha zu Latisha ist eine Konsonantenänderung. Es ist ein perfektes Beispiel für das MAYA-Prinzip, dass Menschen neue Dinge mit einer vertrauten Basis stark präferieren. In Summe: Die Leute wollen neue Dinge, die sie an die alten Dinge erinnern. Das Neue muss bekannt präsentiert werden und Neuerungen brauchen einen wesentlichen Anteil des Altbewährten, um akzeptiert zu werden. Doch was treibt diesen Mechanismus und wie groß sollte der Anteil des Altbewährten sein?

II. Die psychologische Basis des MAYA-Prinzips Eine wesentliche Funktionsweise unseres Denkens ist die kontinuierliche Reduktion von Komplexität. Das Gehirn verlangt kognitive Leichtigkeit, ein Denken in bekannten Mustern. Kognitive Leichtigkeit ist das Maß, wie einfach es für unser Gehirn ist, Informationen zu verarbeiten. Die kognitive Leichtigkeit determiniert allerdings auch unsere Motivation, ob wir bereit sind, unsere Einstellung zu ändern und ob wir unsere Zeit und Mühe in Neuerung investieren wollen5. Lässt die kognitive Leichtigkeit nach, steigt die mentale Anstrengung und führt beispielsweise zu einer Reduktion des Vertrauens gegenüber einem Prozess. Mit anderen Worten, Menschen sind glücklicher und empfänglicher für vertraute und leicht verständliche Situationen, in denen sie sich sicher und selbstbewusst fühlen. Das Prinzip der kognitiven Leichtigkeit findet sich in vielen Bereichen wieder und besonders das Marketing hat sich dieses Prinzip zu eigen gemacht. So konnten einige Studien zeigen, dass beispielsweise Aktien von Unternehmen mit leicht auszusprechenden Namen besser abschneiden als solche mit schwer auszusprechenden Namen6 – Die Leichtigkeit des Denkens steuert die Präferenz. Kognitive Leichtigkeit entsteht allerdings nicht nur durch strukturelle Simplizität, sondern auch durch Wiederholung, da bereits verarbeitete Informationen beim wiederholten Denken, einfacher verarbeitet werden können. Unsere Zuneigung zu einfachen und gewohnten Dingen wird besonders eindrucksvoll beim sogenannte „mere exposure affect“ (Expositionseffekt) demonstriert. In dem Experiment von Robert Zajonc7 aus den sechziger Jahren bekamen Probanden in einem ersten Durchgang für sie völlig unbekannte und bedeutungslose chinesische Schriftzeichen gezeigt. 5

Daniel Kahneman, „Thinking, Fast and Slow,“ 2017. Adam L. Alter/Daniel M. Oppenheimer, „Predicting Short-Term Stock Fluctuations by Using Processing Fluency,“ Proceedings of the National Academy of Sciences 103, no. 24 (June 13, 2006): 9369 – 72, https://doi.org/10.1073/pnas.0601071103. 7 Robert B. Zajonc, „Attitudinal Effects of Mere Exposure,“ Journal of Personality and Social Psychology 9, no. 2p2 (1968): 1; R. B. Zajonc, „Mere Exposure: A Gateway to the Subliminal,“ Current Directions in Psychological Science 10, no. 6 (December 1, 2001): 224 – 28, https://doi.org/10.1111/1467-8721.00154. 6

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Nach einiger Zeit und bei einem zweiten Durchgang wurden diese, zusammen mit neuen Zeichen erneut präsentiert und den Probanden wurde gesagt, dass die Symbole Adjektive darstellten, und sie wurden gebeten, diese Symbole auf ihre mögliche positive oder negative Konnotation zu bewerten. Die Schriftzeichen, die die Probanden zuvor gesehen hatten, wurden durchweg positiver bewertet als die, die zuvor nicht gesehenen worden waren. In Summe, wir mögen das Bekannte, das bereits Durchlebte und die Verarbeitung dieser Informationen geht mit einer allgemeinen Verbesserung der Stimmung einher. Besonders stark wird dieser Effekt, wenn wir in dem Vertrauten uns selbst wiedererkennen. Diese Tendenz beschreibt der Name-Letter-Effekt, bei dem die Buchstaben des eigenen Namens anderen Buchstaben des Alphabets vorgezogen werden. Der Effekt ist bei Initialen am stärksten ausgeprägt, aber selbst wenn Initialen ausgeschlossen werden, werden die restlichen Buchstaben von Vor- und Familiennamen immer noch gegenüber Nicht-Namensbuchstaben bevorzugt8. Ein weiteres Experiment von DeBruine und Kollegen9 konnte dies auch für Gesichter demonstrieren. In dem Setting wurden Probanden mit Bildern von Gesichtern konfrontiert und sie wurden gebeten, diese aufgrund der Vertrauenswürdigkeit zu klassifizieren. Dabei wurde bei einigen Gesichtern, das eigene Gesicht in die gezeigten und unbekannten Gesichter gemischt, was zur Folge hatte, dass diese als positiver und vertrauenswürdiger eingestuft wurden. In Summe: Erkennen wir uns selbst in einem Prozess wieder, baut es auf etwas sehr Vertrautem auf und die Bewertung steigt. Die Beispiele zeigen wiederholt die geforderte Balance zwischen Neuerungen und Bekannten, die das MAYA-Prinzip postuliert. Die Triebfeder des Spannungsbogens zwischen der Neophilie und Neophobie manifestiert sich als ein Grundmodus des Gehirns und ist kein Merkmal von Innovationsverschlossenheit.

III. Die „E-Akte“ Um die geschilderten Effekte in die Welt der zu digitalisierenden Justiz zu transferieren, nehmen wir die gegenwärtige Wegmarke auf dem Pfad zu einer digitaleren Justiz und finden sie unter dem Deckmantel der elektronischen Akte wieder. Hier lassen sich einige grundlegende Muster und Bedürfnisse eines Wandlungsprozesses gut illustrieren.

8 Gordon Hodson/James M. Olson, „Testing the Generality of the Name Letter Effect: Name Initials and Everyday Attitudes,“ Personality and Social Psychology Bulletin 31, no. 8 (2005): 1099 – 1111; Jozef M. Nuttin Jr., „Affective Consequences of Mere Ownership: The Name Letter Effect in Twelve European Languages,“ European Journal of Social Psychology 17, no. 4 (1987): 381 – 402. 9 Lisa M. DeBruine, „Facial Resemblance Enhances Trust,“ Proceedings of the Royal Society of London B: Biological Sciences 269, no. 1498 (2002): 1307 – 12.

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In der bisherigen Form war die Chronologie das zentrale Ordnungsprinzip der Akten. Für viele Generationen war dieser chronologisch gebündelte Papierstapel das Maß aller Dinge und folglich sollte dieses Ordnungsprinzip als Startpunkt für die neue digitale Form herangezogen werden, denn bei all Denjenigen, die dieses Ordnungsprinzip verinnerlicht haben, wird eine komplett neue Form auf wenig Akzeptanz bis hin zu Widerstand stoßen. Für diejenigen hingegen, die dieses Merkmal bisher nicht so stark verinnerlicht haben, stehen andere, intuitivere Merkmale im Vordergrund: Merkmale, die zum spielerischen Umgang mit Informationen einladen, ein Ordnungssystem, das die Information präsentiert, die die Benutzer suchen und brauchen und Benutzeroberflächen, die sich selbst erklären und ihre Funktion direkt ausdrücken. Für beide Nutzertypen hingegen gilt, dass die neue Form ihren Mehrwert (z. B. schnellere Verfügbarkeit, Teilbarkeit, einfache Handhabung, zusätzliche Verwendung von Audio und Filmdateien, etc.) direkt erlebbar macht.

IV. Der goldene Schnitt der Digitalisierung Neben der E-Akte sind virtuelle Verhandlungen und ggf. Augmented Reality und KI-unterstützte Verfahren weitere Schritte, die der digitalen Justiz bevorstehen und auch für diese Schritte empfiehlt sich der Tenor des psychologischen Veränderungsmanagements10. Als allgemeines Richtmaß zur Steigerung der Akzeptanz11 könnte der goldene Schnitt der ästhetischen Präferenz12 dienen. Der goldene Schnitt, die „Proportio Divina“ ist eine Lehre des rechten Maßes der Ästhetik und beschreibt das Teilungsverhältnis einer Strecke, bei dem das Verhältnis des Ganzen zum größeren Teil, dem Verhältnis des größeren zum kleineren Teil immer gleich ist. Hierbei ist der größere Teil ca. 1,61-mal größer als der kleine Teil und spiegelt ungefähr das Verhältnis 8 zu 5 wider. Übertragen auf Veränderungsprozesse könnte dies bedeuten, dass auf acht Teile „Bestehendes“ ca. fünf Teile Neues kommen könnten, um die Balance der Neophilie und der Neophobie zu halten und die Akzeptanz bei der Mehrheit zu gewährleisten. Neben den richtigen Proportionen zwischen Neu und Alt spielt auch der Aufbau und die Reihenfolge in der Darstellung eine wesentliche Rolle. Hierbei ist es wichtig, dass stets mit dem Vertrauten begonnen13 wird, dass die Referenz zum Bestehenden 10 Karolina Mania, „Online Dispute Resolution: The Future of Justice,“ International Comparative Jurisprudence 1, no. 1 (2015): 76 – 86. 11 Jennifer Raso, „Implementing Digitalization in an Administrative Justice Context,“ 2021. 12 T. W. Allan Whitfield, „Beyond Prototypicality: Toward a Categorical-Motivation Model of Aesthetics,“ Empirical Studies of the Arts 18, no. 1 (2000): 1 – 11. 13 Amy J. C. Cuddy/Susan T. Fiske/Peter Glick, „Warmth and Competence as Universal Dimensions of Social Perception: The Stereotype Content Model and the BIAS Map,“ in:

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salient ist und die ersten Schritte selbsterklärend und naheliegend sind. So haben sich beispielsweise Onlinesitzungen an gewohnten Orten, wie dem eigenen Büro oder dem gewohnten Sitzungssaal, als hilfreich erwiesen, um die eigenen Routinen vor und nach der Sitzung aufrecht erhalten zu können. Das Alte und Bewährte als Basis des Neuen. Über die Wirkweise dieser Techniken und ein „Good Practice“ in diesem Bereich sind bereits einige Publikationen erschienen (Wesenszüge der Onlinekommunikation14, Digitale Verhandlung15, Psychologische Distanz16, Vertrauen17). Einen gut lesbaren Überblicksartikel hat auch der US-amerikanische Verhandlungs- und Mediationsexperte Noam Ebner18 verfasst. Ein weiterer Aspekt, der als Richtmaß berücksichtigt werden sollte, ist Passungsfähigkeit der Mittel im Hinblick auf die Bedürfnisse der Beteiligten, die prozedurale Präferenz. Die prozedurale Präferenz19/20/21/22 spiegelt ein ganzes Forschungsfeld wider und beschreibt das „Wie“ eines Verfahrens, denn unabhängig von dem Ausgang eines Verfahrens beeinflusst das „Wie“ die Nachhaltigkeit von Entscheidungen, die Zufriedenheit, das Ansehen der Justiz. Schließend mit dem Eingangszitat „Das Ei hat das beste Design – es macht es der Henne leicht.“, können wir analog für den Menschen sagen: „Die Veränderung hat die beste Ausgestaltung, wenn sie im Neuen das Altbekannte wiederentdecken lässt“. Dies gilt für die Justiz genauso wie für den Außenposten der Menschheit auf der inAdvances in Experimental Social Psychology, vol. 40 (Elsevier, 2008), 61 – 149, http://link inghub.elsevier.com/retrieve/pii/S0065260107000020. 14 Klaus Harnack, „Über die Ferne: Sprechen, Verhandeln und Entscheiden,“ Zeitschrift für Konfliktmanagement 24, no. 1 (February 1, 2021): 14 – 18, https://doi.org/10.9785/zkm2021-240105. 15 Klaus Harnack, „Wesenszüge des digitalen Streits – Online Verhandeln, Schlichten und Richten,“ Zeitschrift für Konfliktmanagement 24, no. 3 (2021): 97 – 99. 16 Klaus Harnack, „Konkretes und abstraktes Denken – Ein Werkzeug des Konfliktmanagements,“ Zeitschrift für Konfliktmanagement 22, no. 3 (2019): 80 – 84, https://doi.org/ 10.9785/zkm-2019-220303. 17 Herman Brodie/Klaus Harnack, The Trust Mandate, 1st ed. (UK: Harriman House, 2018). 18 Noam Ebner, „The Human Touch in ODR: Trust, Empathy and Social Intuition in Online Negotiation and Mediation,“ in: Rainey, D./Katsh, E./Abdel Wahab, A. (Forthcoming), Online Dispute Resolution: Theory and Practice (2nd Ed.). Eleven Intl. Publishing, 2021. 19 Stephen LaTour et al., „Some Determinants of Preference for Modes of Conflict Resolution,“ Journal of Conflict Resolution 20, no. 2 (1976): 319 – 56, https://doi.org/10.1177/ 002200277602000206. 20 Donna Shestowsky, „Procedural Preferences in Alternative Dispute Resolution: A Closer, Modern Look at an Old Idea,“ Psychology, Public Policy, and Law 10, no. 3 (2004): 211. 21 E. Allan Lind/Tom R. Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice (Springer Science & Business Media, 1988). 22 Tom R. Tyler, „The Psychology of Procedural Justice: A Test of the Group-Value Model,“ Journal of Personality and Social Psychology 57, no. 5 (1989): 830; Lind/Tyler, The Social Psychology of Procedural Justice.

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ternationalen Raumstation ISS. Dort ist der Lieblingsort aller Insassen das Guckloch zur Erde23 – der Blick auf das Bekannte.

23 Rebecca Maksel, „Making Skylab Human-Friendly,“ Air & Space Magazine, accessed December 23, 2021, https://www.airspacemag.com/daily-planet/Making-skylab-human-friendly-180971464/.

Teil 5 Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung

Die Modernisierung der Zwangsvollstreckung kraft Digitalisierung Von Jürgen Stamm Die Justiz erscheint als ein Stiefkind der Digitalisierung. Jedoch nicht erst seit der Corona-Pandemie gibt es eine vom Präsidenten des OLG Nürnberg ins Leben gerufene Arbeitsgruppe zur Modernisierung des Zivilprozesses. In deren Diskussionspapier finden sich abschließend Überlegungen zur Einführung eines elektronischen Titelregisters für die Zwangsvollstreckung. Diese Überlegungen greift der vorliegende Beitrag auf und entwickelt Impulse zu einer grundlegenden Reform der Zwangsvollstreckung.

I. Einführung Seit einigen Jahren beginnt die Digitalisierung ihr Entwicklungspotential auch im Zivilprozessrecht zu entfalten.1 Die Corona-Pandemie hat ihr Übriges getan, um Überlegungen zur Reform der Zivilprozessordnung anzustoßen, die sich weitgehend noch an der Civilprozessordnung von 1877 orientiert. Im Windschatten dieser Bestrebungen erscheint das Zwangsvollstreckungsrecht nahezu unberührt. Dies ist umso verwunderlicher, als sich eine Digitalisierung aufgrund ihres Prinzips der Formalisierung nahezu aufdrängt. So hat der Gesetzgeber im Bereich der Mobiliarvollstreckung die Abkehr von der Präsenz- zur Onlineversteigerung längst vollzogen, § 814 II Nr. 2 ZPO. Erscheint das Vollstreckungsrecht also für eine Digitalisierung prädestiniert, so unterbreitet der nachfolgende Beitrag grundlegende Reformvorschläge zu ihrer Umsetzung.2 Ausgehend von der Systematik des achten Buchs der ZPO orientieren sich die Überlegungen am Ablauf der Zwangsvollstreckung. Die Untersuchung beginnt mit den allgemeinen und besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen, widmet sich den unterschiedlichen Vollstreckungsarten und endet bei den Rechtsbehelfen. Überlegungen zur Vollziehung im einstweiligen Rechtsschutz, zur Schnittstelle mit dem Insolvenzverfahren und zu Synergieeffekten für das Erkenntnisverfahren runden den Beitrag ab.

1

S. dazu insbesondere das Diskussionspapier der Arbeitsgruppe zur Modernisierung des Zivilprozessrechts, zugänglich auf der Homepage des OLG Nürnberg. 2 S. grundlegend auch bereits Stamm, Die Prinzipien und Grundstrukturen des Zwangsvollstreckungsrechts, 2007.

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II. Vollstreckungsantrag Kraft der Dispositionsmaxime beginnt die Vollstreckung mit dem Antrag des Gläubigers. 1. Fusion von Fahrnis- und Forderungsvollstreckung Für die Forderungsvollstreckung hat sich die zwingende Vorgabe von Formularen gemäß § 829 IV ZPO bewährt. Ihr gleich kommt das ab 1. Januar 2022 verpflichtend vorgegebene Formular für die Fahrnisvollstreckung, § 753 III, V ZPO n.F. Jeweils ist die Möglichkeit der elektronischen Bearbeitung schon vorgesehen. Denkt man diese Entwicklung zu Ende, so liegt eine Zentralisierung der Vollstreckung auf der Hand.3 Bislang weiß die linke Hand nicht, was die rechte Hand tut. Eine effektive Vollstreckung sieht anders aus. Deutschland steht mit seinen vier Vollstreckungsorganen im internationalen Rechtsvergleich allein da. Die Digitalisierung kann hier als Initialzündung dienen. Sie vermag die notwendigen Ressourcen freizusetzen, um den Gerichtsvollzieher als zentrales Vollstreckungsorgan zu etablieren. Dazu sollte eine dem Rechtspfleger vergleichbare Rechtsstellung und Fachhochschulausbildung – nach dem in Baden-Württemberg an der Fachhochschule in Schwetzingen bereits seit dem 01. 09. 2016 praktizierten Modellversuch4 – eine Selbstverständlichkeit sein. Weitergehend bietet dieser Ansatz das Potential zur Funktions- und Rechtsvereinheitlichung mit der Verwaltungs- und Finanzvollstreckung. 2. Elektronische Aktenführung und Informationsübermittlung Die elektronische Aktenführung (E-Akte), § 298a ZPO, sollte nicht anders als im Erkenntnisverfahren auch in der Zwangsvollstreckung eine Selbstverständlichkeit sein und bundesweit vereinheitlicht sein. Hinzu kommt das Gebot einer elektronischen Informationsübermittlung, die § 753 IV ZPO optional schon heute vorsieht. Das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) ist hierfür bereits nutzbar.

III. Zentrales elektronisches Titelregister Die Bundesnotarkammer führt ein zentrales Archiv für die elektronische Verwahrung von Notariatsunterlagen, §§ 78 II Nr. 3, 78h BNotO. Darüber hinaus hat die Bundesnotarkammer in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz ein digitales Gültigkeitsregister entwickelt. Es zeigt missbrauchssicher

3 Ebenso schon Schilken, in: Vorträge zur Rechtsentwicklung der achtziger Jahre, 1991, S. 307 (322 f.), und ausführlich Stamm, JZ 2012, 67 (67 ff.). 4 Näher dazu Fischer, DGVZ 2017, 1 (6 f.).

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an, ob eine Vollmacht oder ein Erbschein noch gültig ist.5 Daran anknüpfend liegt es nahe, ein zentrales Titelregister einzuführen, das allerdings nicht von der Bundesnotarkammer,6 sondern von einem zentralen Vollstreckungsgericht zu führen ist und zur Erfassung sämtlicher Vollstreckungstitel dienen soll. Es bildet die Schnittstelle vom Titel zur sich unmittelbar anschließenden Vollstreckung. 1. Inhalt und Zugriffsberechtigung Ein zentrales Titelregister hat sämtliche Vollstreckungstitel in ihrem vollen Umfang elektronisch zu erfassen. Ohnehin wird die Mehrzahl der Titel bereits elektronisch erstellt, so etwa das Urteil mittels der E-Akte. Im Fall der sich anschließenden Vollstreckung bietet sich bereits anfänglich ein automatisierter Abgleich mit dem Melderegister beim Einwohnermeldeamt an, um unnötige Vollstreckungsversuche von vornherein zu vermeiden. § 755 I 1 ZPO sieht eine Abfragemöglichkeit bislang erst bei unbekanntem Wohnsitz vor. Zugriffsberechtigt sind bundesweit die titelgenerierenden Stellen, die Parteien und das Vollstreckungsorgan. Zur Gewährleistung einer effektiven Vollstreckung hat der Schuldner allerdings erst Zugriff im Rahmen seines rechtlichen Gehörs. Im Übrigen kann die Zugriffsberechtigung an diejenige beim Schuldnerverzeichnis, § 882f ZPO, angelehnt werden.7 2. Onlineportal für die Allgemeinheit Die vollständige Erfassung von Urteilen ermöglicht ein allgemein zugängliches Onlineportal, das bisherige Recherchebanken zu ersetzen vermag.8 Voraussetzung ist eine automatisierte Anonymisierung. In dieser Weise kann die Justiz ihrer originären Aufgabe zur Gewährleistung der Öffentlichkeit in bislang ungeahntem Ausmaß nachkommen. Die wünschenswerte Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen ist keine Illusion mehr.9 Die unmittelbare Anknüpfung an das Titelregister gewährleistet zudem eine tagesaktuelle Veröffentlichung. Außerdem sind Übertragungsfehler ausgeschlossen. 5

Ausführlich dazu Danninger, RDi 2021, 109 (109 ff.). So aber das Diskussionspapier (Fn. 1), S. 112, das eine Erweiterung des von der Bundesnotarkammer zu führenden Archivs vorschlägt. Ähnlich bereits seitens der Bundesnotarkammer Gaul, DNotZ-Sonderheft 2016, 130 (137), und Hushahn, DNotZ-Sonderheft 2016, 166 (171), der von der „Vision“ eines Titelregisters spricht; auch der Gesetzgeber hatte die Ausbauoption bereits bei Einführung des Urkundenregisters im Blick, BT-Drs. 18/10607, 43; ebenso Diehn, in: Diehn, BNotO, 2. Aufl. 2019, § 78h, Rn. 6. 7 Zu dem mit dem Schuldnerverzeichnis vereinheitlichten Vollstreckungsregister s. gesondert unter VIII.1. 8 S. dazu in Bayern bereits Bayern.Recht unter www.gesetze-bayern.de. 9 Zurückhaltend dazu das Diskussionspapier (Fn. 1), S. 70 f. 6

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3. Entfall eines Rechtskraftnachweises Ein Titelregister, das zugleich den Zeitpunkt der Zustellung ausweist, macht ein zeitaufwändiges Rechtskraftzeugnis, § 706 ZPO, entbehrlich. Durch die digitalisierte Anbindung kann das Vollstreckungsorgan unmittelbar mit Eintritt der Rechtskraft tätig werden. Wartefristen, insbesondere beim Kostenfestsetzungsbeschluss und der notariellen Urkunde, § 798 ZPO, finden digital Beachtung. 4. Automatisierung der vorläufigen Vollstreckbarkeit Die E-Akte ist mit dem Titelregister zu verknüpfen, so dass das Urteil unmittelbar im Register erfasst wird. Auf diesem Wege lässt sich auch die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit automatisieren. Rechtsfehler bei der Umsetzung der §§ 708, 709 ZPO werden so vermieden.10 Die digitale Erfassung der Rechtskraft führt im Weiteren zu einer automatisierten Rückgabe von Sicherheiten aus dem Zeitraum der vorläufigen Vollstreckbarkeit, § 715 ZPO. Aufhebende und abändernde Urteile unterliegen ebenfalls dem Titelregister. Ihre Auswirkungen auf die vorläufige Vollstreckbarkeit gemäß § 717 I ZPO können digitalisiert umgesetzt werden. Bis hin zur Räumungsfrist, § 721 ZPO, sind alle für die Vollstreckung relevanten Umstände unmittelbar im Register erfasst. 5. Digitalisierung der Kostenentscheidung und Kostenfestsetzung Die Automatisierung des Kostenfestsetzungsverfahrens ist bereits Gegenstand der Arbeitsgruppe zur Modernisierung des Zivilprozesses.11 Vorgelagert kann mittels der E-Akte schon die Kostenentscheidung automatisiert oder dem Richter zumindest eine Arbeitshilfe angeboten werden. Die E-Akte ermöglicht die Erfassung aller relevanten Kostenfaktoren im Verlauf des Zivilprozesses. Die Rechtsanwälte haben ihre Rechnungen ebenso elektronisch mittels vorgegebener Formulare einzureichen. Der Kostenvorschuss bei Klageerhebung ist automatisiert anzufordern, sein Eingang vor Zustellung der Klage elektronisch in der Akte sicherzustellen. 6. Verkündung des Urteils mittels des Registers Erfolgt die Verkündung des Urteils nicht unmittelbar im Termin, so veranlasst sie das Gericht mittels automatisierter Freigabe des Urteils im Titelregister. Die Zugangsberechtigung der Parteien und der interessierten Öffentlichkeit zum Register ersetzt den bislang erforderlichen Verkündungstermin. Den Parteien bleiben telefo10 Ausnahmen von der Sicherheitsleistung, § 710 ZPO, und Schutzanträge des Schuldners, § 712 ZPO, bleiben den Gerichten überlassen. 11 Diskussionspapier (Fn. 1), S. 59 f.

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nische Rückfragen beim Gericht erspart, was zugleich die Geschäftsstellen bei Gericht entlastet.

IV. Entfall der Vollstreckungsklausel Das Titelregister ermöglicht die überfällige Verabschiedung von der Vollstreckungsklausel und dem Erfordernis einer vollstreckbaren Ausfertigung.12 1. Entfall der einfachen Klausel Bedarf es schon im automatisierten Mahnverfahren keiner Vollstreckungsklausel, unterstreicht dies ihre generelle Entbehrlichkeit. Probleme des Verlusts oder einer Doppelung des Titels stellen sich jedenfalls nicht mehr im Zeitalter eines elektronischen Titelregisters. Mit dem Entfall der Papierform erübrigen sich langjährige Aufbewahrungsfristen mitsamt den dazu erforderlichen Personal- und Raumressourcen. Eine Überprüfung des Gerichts durch den Urkundsbeamten dahingehend, dass das Urteil ordnungsgemäß erlassen wurde, ergibt schon bislang keinen Sinn. 2. Überleitung der qualifizierten Klausel in das Vollstreckungsverfahren Das qualifizierte Klauselverfahren ist in die Zwangsvollstreckung zu integrieren. Bedingungen des titulierten Anspruchs, § 726 I ZPO, werden anfänglich im Titelregister erfasst und für den Gerichtsvollzieher gesondert zur Beachtung ausgewiesen. Ihr Nachweis ist formalisiert gegenüber dem Gerichtsvollzieher zu erbringen, der dies im Titelregister ausweist. Geht es um die Vollstreckung eines Anspruchs auf Abgabe einer Willenserklärung, §§ 726 II, 894 S. 2 ZPO, und hängt diese von einer Zug um Zug zu bewirkenden Gegenleistung ab, trägt der Gerichtsvollzieher ihre Erbringung mitsamt dem genauen Zeitpunkt in das Titelregister ein. Dies ermöglicht den passgenauen Eintritt der Fiktion zur Abgabe der Willenserklärung gemäß § 894 S. 2 ZPO. Entsprechendes gilt für die Herbeiführung des Annahmeverzugs und dessen formalisierten Nachweis. Eine vorherige gerichtliche Feststellung des Annahmeverzugs wird bereits durch das Titelregister ausgewiesen. Das Titelregister ermöglicht ebenso die unmittelbare Berücksichtigung einer Rechtsnachfolge auf Kläger- oder Beklagtenseite. Auch die Frage der Rechtsnachfolge wird vom Gerichtsvollzieher formalisiert geprüft und in das Titelregister eingetragen. Richtet der Gesetzgeber ein zentrales Erbscheinregister ein, lässt sich die-

12 Dazu bereits ausführlich Stamm (Fn. 2), S. 244 ff., und aktuell das Arbeitspapier (Fn. 1), S. 110 f.

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ses mit dem Titelregister synchronisieren. Schnittstelle ist das Antragsrecht des Gläubigers nach § 792 ZPO. 3. Entfall der Klauselrechtsbehelfe Der Verzicht auf das gekünstelte Klauselverfahren erübrigt dessen komplexes Rechtsbehelfsverfahren mitsamt seinen aufwändigen Schnittstellen zu den vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelfen. An der Nahtstelle zwischen Klausel- und Vollstreckungsverfahren wird die Titelgegenklage schon derzeit auf eine Analogie zu § 767 ZPO gestützt.13 Auch an dieser Stelle bedarf es nicht erst des Umwegs über einen Klauselrechtsbehelf, um die Wirksamkeit des Titels einer Überprüfung zuzuführen. Zuständig für die Überprüfung eines Titels ist zudem nicht das Klauselerteilungsorgan, sondern das Rechtsmittelgericht.

V. Zustellung Die Zustellung des Titels wird automatisiert aus dem Titelregister veranlasst. Sie kann beim Urteil mit der Verkündung automatisiert werden. Eine Verknüpfung mit dem bereits digitalisierten Postzustellungswesen ermöglicht es, dass der Titelgläubiger nicht nur direkt von der Zustellung Kenntnis erlangt, sondern sich auch über den Verlauf der Zustellung unmittelbar unterrichten kann.

VI. Besondere Vollstreckungsvoraussetzungen Die fehlende Fälligkeit einer titulierten Forderung, § 751 I ZPO, wird im Titelregister automatisch erfasst. Eine Sperre der Vollstreckung ist vorprogrammiert. Sie wird dem Gerichtsvollzieher beim Zugriff auf das Register ausgewiesen. Im Zeitpunkt der Vollstreckung tritt eine weitere Sperre ein, wenn der Titel noch nicht rechtskräftig ist und eine notwendige Sicherheitsleistung fehlt, § 751 II ZPO. Ihre Erbringung ist im Titelregister zu erfassen, womit einerseits die Sperre entfällt, andererseits bei Rechtskraft unmittelbar ihre Rückgabe veranlasst ist, § 715 ZPO.14 Zug-um-Zug-Leistungen sind im Titelregister nicht anders als in der Papierversion ersichtlich. Wie im Zuge von § 726 II ZPO15 ist der Nachweis der Erbringung der Gegenleistung oder des Annahmeverzugs, §§ 756, 765 ZPO, mittels des Titelregisters sichergestellt.

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MüKoZPO/Karsten Schmidt/Brinkmann, § 767 Rn. 6. S. schon oben III.4. 15 S. o. IV.2.

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VII. Vollstreckungshindernisse Ein Titelregister ermöglicht eine digitalisierte Schnittstelle zwischen Erkenntnisund Vollstreckungsverfahren. 1. Sofortige Beendigung jeglicher Vollstreckung bei Erfüllung Der Gerichtsvollzieher hat die Erfüllung durch den Schuldner im Titelregister einzutragen. Damit ist eine sofortige Beendigung jeglicher Vollstreckung sichergestellt. Die Notwendigkeit der Rückgabe der vollstreckbaren Ausfertigung, § 757 ZPO, erübrigt sich. Eine rechtsmissbräuchliche Fortführung der Vollstreckung bei unterbliebener Rückgabe wird bereits anfänglich unterbunden. 2. Unmittelbare Berücksichtigung von Vollstreckungshindernissen Ebenso wie Veränderungen hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit, § 717 I ZPO,16 führen Hindernisse im Zuge der Vollstreckung mittels des Titelregisters zur sofortigen Einstellung oder Beendigung der Vollstreckung. Auch zu diesem Zweck sind im Vorfeld jegliche Vollstreckungsmaßnahmen im Titelregister zu erfassen.17 Die Regelungen der §§ 775, 776 ZPO zu den Vollstreckungshindernissen lassen sich automatisieren.18 Einen Nachweis der Erfüllung seitens des Schuldners, § 775 Nr. 4, 5 ZPO, pflegt der Gerichtsvollzieher in das Titelregister ein. Entscheidungen, die zur Aufhebung des Titels führen, bewirken eine Vollstreckungssperre. Sie führen unmittelbar zur Einstellung und/oder Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen, soweit diese auf digitalem Wege durchgeführt worden sind. Ist zur Aufhebung die Präsenz des Vollstreckungsorgans erforderlich, beispielsweise zur Entfernung eines Pfandsiegels im Rahmen der Fahrnisvollstreckung, erhält der Gerichtsvollzieher hierzu eine automatisierte Aufforderung. Der Schuldner muss seinerseits nicht tätig werden. Allein die digitalisierte Erfassung einer den Titel aufhebenden Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht bewirkt die automatisierte Umsetzung.

VIII. Vermögensauskunft Es ist eine große Errungenschaft zurückliegender Reformen, dass die Vermögensauskunft nicht mehr am Ende, sondern am Beginn der Vollstreckung steht. Ihre Übertragung vom Vollstreckungsgericht auf den Gerichtsvollzieher zeugt von der Notwendigkeit der Zentralisierung. Weitergehender Beleg ist der Umstand, dass das 16

S. o. III.4. S. dazu nachfolgend unter IX.1. 18 So bereits das Diskussionspapier (Fn. 1), S. 111.

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Schuldner- und Vermögensverzeichnis in den Bundesländern zentralisiert erfasst wird, § 802k ZPO. 1. Zentrales Vollstreckungsregister Im Anschluss an die zurückliegenden Reformen ist eine Vernetzung der zentralen Vollstreckungsgerichte hin zu einem bundeseinheitlichen Vollstreckungsgericht anzustreben. Bei diesem zentralen Vollstreckungsgericht ist das Titelregister zu führen. Verknüpft man dieses mit dem bestehenden Schuldner- und Vermögensverzeichnis ergeben sich erhebliche Synergie- und Einspareffekte. So können schon bislang die Gerichtsvollzieher bundesweit Einsicht in das Schuldnerverzeichnis, § 882f ZPO, und in das Vermögensverzeichnis nehmen, § 802k II 1 ZPO. Zielvorstellung ist ein bundesweit einheitliches Vollstreckungsregister, das alle vollstreckungsrechtlichen Informationen vom Titel bis zur Vollstreckungsmaßnahme umfasst. Die Wege zur Fremdauskunft, § 802l ZPO, sind gleichermaßen zu digitalisieren und mit dem Vollstreckungsregister zu verknüpfen. 2. Nahtlose Anknüpfung der Vollstreckung an die Vermögensauskunft Ein Vollstreckungsregister ermöglicht es, dass die Vermögensauskunft – sie kann analog § 128a I ZPO auch per Bild- und Tonübertragung erfolgen19 – unmittelbar die Vollstreckung auslöst. Die notwendigen Informationen kann der zentral zuständige Gerichtsvollzieher unmittelbar beim Schuldner abfragen und in das Vollstreckungsregister eintragen. Eine derartige Vollstreckung „aus einem Guss“ erspart unnötige Rückfragen.

IX. Fahrnisvollstreckung Die Mobiliarvollstreckung lässt sich naturgemäß nicht vollends digitalisieren. Der Gerichtsvollzieher wird auch in Zukunft beim Schuldner vor Ort die Pfändung und Wegnahme zwecks Versteigerung vornehmen müssen. Die Digitalisierung liefert aber auch hier Potential zur Optimierung der Abläufe. 1. Erfassung jeglicher Vollstreckungsmaßnahmen im Register Über die Fahrnisvollstreckung hinaus sind jegliche Vollstreckungsmaßnahmen im Vollstreckungsregister elektronisch zu erfassen. Das Register ermöglicht die unmit19 LG Oldenburg, RDi 2021, 263; kritisch dazu Schmidt, RDi 2021, 263 (263 f.), wegen der fehlenden eigenhändigen Unterschrift, die nachzuholen sei, und der fehlenden Möglichkeit der Haftanordnung.

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telbare Protokollierung durch den Gerichtsvollzieher. Auf diesem Wege kann auch eine Anschlusspfändung, § 826 ZPO, rein digital vollzogen werden. 2. Publizitäts- und Prioritätsprinzip Das Vollstreckungsregister ermöglicht eine bestmögliche Umsetzung des Publizitätsprinzips, indem konkurrierende Gläubiger ein Einsichtsrecht haben. Auf diesem Wege entwickelt sich das Vermögensverzeichnis zu einem Sachregister vergleichbar mit dem Grundbuch für Immobilien. Das Prioritätsprinzip findet seine wünschenswerte Gewährleistung in der Zentralisierung der Vollstreckung auf den Gerichtsvollzieher.20 3. Pfändungsschutz Der Pfändungsschutz lässt sich automatisieren. Die notwendigen Informationen sind vom Gerichtsvollzieher mittels der Vorgaben im Titelregister zu ermitteln und, soweit erforderlich, beim Schuldner abzufragen. 4. Onlineversteigerung mit Ablauf einer Rechtsbehelfsfrist Die Präsenzversteigerung gehört bereits der Vergangenheit an, seitdem der Gesetzgeber mittels § 814 II Nr. 2 ZPO den Weg für die Onlineversteigerung freigemacht und eine Versteigerungsplattform eingerichtet hat. Erfasst der Gerichtsvollzieher das zu pfändende Mobiliar digitalisiert vor Ort mittels des Vollstreckungsregisters, ermöglicht dies die nahtlose Anknüpfung der Onlineversteigerung. Allerdings ist zur Vermeidung einer vorschnellen Verwertung eine Schonfrist zwischen Pfändung und öffentlicher Bereitstellung zur Onlineversteigerung vorzusehen. Diese ist mit einer Befristung der Vollstreckungserinnerung, § 766 ZPO, zu synchronisieren.21 Wird diese nicht fristgerecht eingelegt, gibt das Vollstreckungsregister den Weg für die sofortige Onlineversteigerung frei.22

20 Die örtliche Zuständigkeit des Gerichtsvollziehers bestimmt sich gemäß der GVO nach dem Zuschnitt der Bezirksgebiete, MüKoZPO/Heßler, § 753 Rn. 8, 9. Aufgrund des einheitlichen Zugriffs auf das Vollstreckungsregister ließe sich jedoch die Frage einer Liberalisierung des Zugangs zum Vollstreckungsorgan in der Parallele zum Notariatswesen neu diskutieren. 21 S. dazu näher unter XV.1. 22 Alternativ wäre es denkbar, unmittelbar mit der Pfändung die Onlineversteigerung auszulösen und allein den Zuschlag vom vorherigen Ablauf der Rechtsbehelfsfrist abhängig zu machen. Diese Bedingung müsste aber transparent gemacht werden und würde voraussichtlich potentielle Bieter abschrecken, was für die erstgenannte Variante spricht.

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X. Zentrales Fahrzeugregister analog dem Grundbuch Verknüpft man das Vollstreckungsregister mit dem Kraftfahrt-Bundesamt – schon bislang hat der Gerichtsvollzieher ein Auskunftsrecht, § 802l I 1 Nr. 3 ZPO –, garantiert dies eine erhöhte Rechtssicherheit beim Handel mit Kraftfahrzeugen. Das bestehende zentrale Fahrzeugregister ist analog dem Grundbuch auszubauen und zu führen. 1. Digitalisierte Pfändung von Fahrzeugen Die Eintragung im Fahrzeugregister ersetzt eine vom Gerichtsvollzieher vor Ort vorzunehmende Pfändung und Siegelung. Die Pfändung von Fahrzeugen lässt sich auf diese Weise komplett digitalisieren. Ein Siegelbruch durch den Schuldner ist künftig ausgeschlossen. Dieses Modell lässt sich auf öffentliche Beschlagnahmen von Fahrzeugen ausdehnen. 2. Gesteigerte Publizität und Rechtssicherheit Die Nutzung des Fahrzeugregisters zum Zwecke der Vollstreckung bewirkt eine weitergehende Publizität und damit einhergehend eine erhöhte dingliche Absicherung des vollstreckenden Gläubigers. Zugleich werden potentielle Fahrzeugerwerber geschützt. Diese können sich durch die vorherige Einsichtnahme in das Fahrzeugregister absichern und dürfen auf die (negative) Publizität des Registers vertrauen. 3. Eigentumsumschreibung im Register anstelle von Fahrzeugpapieren In einem nächsten Schritt ist für die Übereignung eines Kraftfahrzeugs die Umschreibung im Fahrzeugregister vorzusehen. Auf den ersten Blick mag dies die Verkehrsfähigkeit einschränken. Müssen die Fahrzeugpapiere aber bislang ohnehin beim Straßenverkehrsamt umgeschrieben werden, ergibt sich kein Mehraufwand. Im Gegenteil erleichtert die Digitalisierung diesen Rechtsvorgang, was die Fahrzeugpapiere letztlich erübrigt. Für den gutgläubigen Eigentumserwerb an einem Kraftfahrzeug ist künftig nicht mehr auf die Aushändigung von Teil 2 der (ordnungsgemäßen) Zulassungsbescheinigung abzustellen, sondern analog § 892 BGB an die Eintragung im Fahrzeugregister anzuknüpfen.

XI. Forderungsvollstreckung Im Unterschied zur Fahrnisvollstreckung verlangt die Forderungsvollstreckung keine Präsenz des Vollstreckungsorgans vor Ort. Sie kann digitalisiert erfolgen. Ist der Gerichtsvollzieher für sie zuständig, kann er sie spätestens dann veranlassen,

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wenn der Schuldner ihm im Rahmen der Vermögensauskunft die notwendigen Auskünfte erteilt hat. Ein zeitaufwändiger Umweg über das Vollstreckungsgericht wird vermieden. 1. Digitale Pfändung Wird das Antragsformular für den Pfändungsbeschluss digital erfasst und verarbeitet, so kann – vergleichbar mit dem Mahnverfahren – die Forderungspfändung automatisiert erfolgen. Dies gilt auch für die Pfändung des Arbeitseinkommens. Die Digitalisierung gibt Gelegenheit, die aufwändigen Vorschriften zum Pfändungsschutz rechtslogisch zu erfassen. Ohnehin erscheint das bisherige Formular für die Forderungspfändung als ausbaufähig. Dies gilt insbesondere für die komplexen Fälle der Pfändung sonstiger Vermögensrechte gemäß § 857 ZPO, die bislang nicht erfasst sind. Im Gegensatz zur Digitalisierung des Erkenntnisverfahrens geht es um reine Rechtsfragen. Tatsächliche Streitfragen bleiben den Rechtsbehelfen vorbehalten.23 Erst durch ein Vollstreckungsregister, das auch die Pfändung von Forderungen ausweist, wird für konkurrierende Gläubiger transparent, in welchem Umfang Vermögen des Schuldners bereits gepfändet ist. Diese Transparenz wird schon bislang eingefordert.24 2. Entfall der Vorpfändung Das Rechtsinstitut der Vorpfändung, § 845 ZPO, verliert seine Existenzberechtigung. Ohnehin ist die Vorpfändung Ausdruck eines berechtigten gesetzgeberischen Misstrauens an der Effektivität der Forderungsvollstreckung bisheriger Prägung. Wozu bedürfte es sonst dieser Überholspur für den Gläubiger? Die Zuständigkeit des Gerichtsvollziehers an dieser Stelle belegt die Notwendigkeit der Überleitung der Forderungsvollstreckung auf ihn. Der Gesetzgeber bleibt hier bislang auf halbem Wege stehen. 3. Entbehrlichkeit des Überweisungsbeschlusses Die Digitalisierung macht einen Überweisungsbeschluss entbehrlich. Seine Funktion beschränkt sich schon bislang auf das Wahlrecht zwischen der Überweisung der Forderung zur Einziehung und an Zahlungs statt, § 835 I ZPO. Von der letztgenannten Variante wird aber kein Gebrauch gemacht, da sie den Gläubiger dem In-

23 24

S. dazu unter XV. BGH NJW 2018, 2732 (2732 Rn. 13).

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solvenzrisiko des Drittschuldners aussetzt. Zudem leitet sich das Einziehungsrecht bereits aus der Pfändung ab.25 Ist die Vollstreckung im einstweiligen Rechtsschutz auf die Pfändung als reines Sicherungsinstitut beschränkt, bedarf es zur Unterbindung der Verwertung nicht des Postulats eines Überweisungsbeschlusses. Der (bloße) Sicherungszweck ergibt sich bereits aus dem Titel, weshalb mittels des Vollstreckungsregisters der Hinweis an den Drittschuldner generiert werden kann, von Zahlungen an den Schuldner wie an den Gläubiger bis zur Entscheidung in der Hauptsache abzusehen. 4. Vollstreckung in Herausgabe- oder Leistungsansprüche Die digitalisierte Vollstreckung in der Hand des Gerichtsvollziehers beflügelt auch die Pfändung und Verwertung eines Herausgabe- oder Leistungsanspruchs, §§ 846 bis 848 ZPO. Hat der Gerichtsvollzieher die Pfändung des Herausgabeanspruchs bewirkt und gibt der Drittschuldner die Sache an ihn heraus, kann der Gerichtsvollzieher unmittelbar die Sachverwertung einleiten.

XII. Immobiliarvollstreckung Unter dem Blickwinkel der Digitalisierung ergeben sich in der Immobiliarvollstreckung dieselben Reformansätze wie in der Mobiliarvollstreckung. Entscheidender Vorteil in der Immobiliarvollstreckung ist die Existenz des Grundbuchs, zumal dieses bereits maschinell geführt wird, §§ 126 ff. GBO. Daran anknüpfend kann die Immobiliarvollstreckung wie die Forderungsvollstreckung digital betrieben werden. Die Versteigerung ist wie im Bereich der Mobiliarvollstreckung mittels einer digitalen Plattform möglich. Hierzu muss das bestehende ZVG-Portal lediglich ausgebaut werden. Damit wird ein weitaus größerer Kreis an Bietern erreicht als durch die bislang allein digitalisierte Bekanntmachung. Daran anknüpfend kann der Bieterwettbewerb zeitlich flexibel ausgestaltet werden. Optional kann am Versteigerungstermin in seiner jetzigen Form festgehalten werden. In Anlehnung an § 128a ZPO und die diesbezüglichen Erfahrungen im Zivilprozess ist aber auch hier ein Präsenztermin verzichtbar. Präsent vor Ort sollte die Begutachtung der Immobilie möglich und bei Bedarf auch erzwingbar sein.26 Wird das anschließende Wertgutachten oder zumindest ein Exposee im Vollstreckungsregister eingestellt und öffentlich zugänglich gemacht – wie es bislang im Zuge einer Pilotierung von einigen Amtsgerichten bereits praktiziert wird –, erhöht dies die Effektivität der Zwangsversteigerung und Zwangs25

Ausführlich zur Entbehrlichkeit des Pfändungsbeschlusses Keilbach, Drittschuldnerschutz und Gläubigerrechte in der Forderungsvollstreckung, 2017, S. 90 ff., 159 ff. 26 Dazu Bartels, Dogmatik und Effizienz im Recht der Zwangsversteigerung, 2010, S. 216 f., 222 ff.

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verwaltung vergleichbar mit privaten Immobilienportalen, die Immobilien zum Verkauf und zur Vermietung anbieten. Auch die Immobiliarvollstreckung kann in die Hände des Gerichtsvollziehers gelegt werden, wenn eine dem Rechtspfleger vergleichbare Ausbildung und Rechtsstellung sichergestellt ist. Versteht man die Beschlagnahme als Grundpfändungspfandrecht, so bedarf es schließlich auch nicht mehr des Grundbuchamts in seiner Funktion als Vollstreckungsorgan.27 Die Zwangshypothek entspricht dann der Beschlagnahme des Grundstücks als Sicherungsakt. Die Verwertung erfolgt entweder im Wege der Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung. Als Zwangsverwalter kann gleichermaßen der Gerichtsvollzieher bestellt werden. Die Prüfung der Vollstreckungsvoraussetzungen und die Beantragung der notwendigen Eintragungen im Grundbuch erfolgen seitens des Gerichtsvollziehers. Für die Pflege des Grundbuchs bleibt unverändert das Grundbuchamt verantwortlich.

XIII. Herausgabe und Räumung Die Zwangsvollstreckung wegen eines Anspruchs auf Herausgabe oder Räumung kann naturgemäß nicht automatisiert werden. Hier bedarf es unverändert des Gerichtsvollziehers vor Ort. Jedoch bietet die Digitalisierung auch hier Möglichkeiten der Effektivierung. 1. Unterbindung eines gutgläubigen Erwerbs mittels des Titels Ist das Vollstreckungsregister mit dem zentralen Fahrzeugregister verknüpft, so bewirkt auf diese Weise die bloße Existenz eines Titels auf Herausgabe eines Fahrzeugs die Bösgläubigkeit eines potentiellen Erwerbers. Die Eintragung des Titels kommt analog § 892 BGB einem Widerspruch gegen die Richtigkeit des Grundbuchs gleich. Der Herausgabetitel wird gleichsam verdinglicht. Das Grundbuch ist ebenso wie das Fahrzeugregister mit dem Vollstreckungsregister zu verknüpfen.28 Auf diesem Wege bewirkt auch ein Räumungstitel bereits die Bösgläubigkeit eines potentiellen Erwerbers der Immobilie.

27 Zur bisherigen Rolle des Grundbuchamtes Schilken, in: Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Auflage 2010, § 61 III; ausführlich zu einer diesbezüglichen Reform bereits Stamm (Fn. 2), S. 451 ff. 28 Das Diskussionspapier (Fn. 1), S. 108, deutet eine Verknüpfung des Urkundenarchivs der Bundesnotarkammer mit den Grundbuchämtern an.

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2. Eintragungsfähigkeit der Vermietung Erweiternd ist die Eintragungsfähigkeit der Vermietung einer Immobilie in Abteilung 2 oder in einer neuen Abteilung 4 im Grundbuch zu bedenken. Dafür spricht der Rechtsgedanke von § 566 BGB („Veräußerung bricht nicht Miete“), der die Miete im Kern verdinglicht. Durch die gesonderte Möglichkeit der Registrierung einer über ein Jahr hinausgehenden Mietbindung könnte auf das umstrittene und vielfach rechtsmissbräuchlich eingesetzte Schriftformerfordernis aus § 550 BGB verzichtet werden. Die Vorschrift schützt maßgeblich den Erwerber, der über den Umfang seiner Pflichten nach § 566 BGB informiert sein soll.29 Machen die Mietvertragsparteien daher keinen Gebrauch von der Eintragungsfähigkeit, entfällt eine länger als ein Jahr währende Mietbindung gegenüber dem Erwerber. Erst durch die Eintragungsfähigkeit der Vermietung erlangt das gesetzliche Vermieterpfandrecht, § 562 BGB, seine sachenrechtlich vorgeschriebene Publizität. Ohnehin muss der Gerichtsvollzieher beim beschränkten Vollstreckungsauftrag gemäß § 885a II ZPO die frei ersichtlichen beweglichen Sachen dokumentieren. Ein vom Vermieterpfandrecht lastenfreier gutgläubiger Eigentumserwerb gemäß § 936 BGB am Inventar, dessen Veräußerung für den Erwerber in erkennbarem Zusammenhang mit einer Immobilie steht, ist künftig ausgeschlossen, wenn die Vermietung im Grundbuch eingetragen ist.30 3. Gewahrsam eines Dritten Liegt der Erlass des Pfändungsbeschlusses in den Händen des Gerichtsvollziehers, so kann er im Rahmen der Herausgabevollstreckung bei Drittgewahrsam, § 886 ZPO, unmittelbar die Umschreibung eines bereits vorhandenen Titels des Schuldners gegen den Dritten vornehmen31 und zur Herausgabevollstreckung schreiten.

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BeckOK BGB/Herrmann, § 550 Rn. 1. Bislang wird darauf abgestellt, dass die Sache erkennbar durch den Veräußerer in einen vermieteten Raum eingebracht worden ist, MüKoBGB/Oechsler, § 936 Rn. 12. § 936 BGB gilt in freier Konkurrenz zum Erlöschen des Vermieterpfandrechts gemäß § 562a BGB bei Entfernung ohne oder gegen den Willen des Vermieters, BeckOK BGB/Wiederhold, § 562a Rn. 18; Staudinger/Emmerich, 2021, § 562a Rn. 2. 31 S. o. IV.2. zur Integration des Klauselverfahrens in das Vollstreckungsverfahren. Die Pfändung des Herausgabeanspruchs soll eine Rechtsnachfolge im Sinne von § 727 ZPO bewirken, MüKoZPO/Wolfsteiner § 727 Rn. 22. Ein Nachweis dieser Art der Rechtsnachfolge ist aber entbehrlich, da sie für den Gerichtsvollzieher, der selbst die Pfändung des Herausgabeanspruchs bewirkt, offenkundig ist. Letztendlich könnte in dieser Konstellation auf eine Titelumschreibung verzichtet werden, zumal der Schuldner Inhaber des gepfändeten Herausgabeanspruchs bleibt. 30

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XIV. Ansprüche auf Handlungen, Duldungen und Unterlassungen Die Vollstreckung von Ansprüchen auf Handlungen, Duldungen und Unterlassungen ist allein durch mittelbaren Zwang zu erwirken. Dieser kann jedoch auch vom Gerichtsvollzieher veranlasst werden. Die Zuständigkeit des Richters ist verfassungsrechtlich erst bei der Anordnung von Zwangs- oder Ordnungshaft geboten. Die Überleitung auf den Gerichtsvollzieher hat den Vorteil, dass die Verhängung und Beitreibung von Zwangs- und Ordnungsgeldern in einer Hand liegt. Die Zwangsund Ordnungsmittel sind ebenso wie Vollstreckungsmaßnahmen in das Vollstreckungsregister einzutragen. Geht es um einen Anspruch auf Abgabe einer Willenserklärung, kann die Fiktion der Abgabe gemäß § 894 S. 1 ZPO digitalisiert werden. Der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft ist aus dem Vollstreckungsregister ablesbar. Er ergibt sich bei einer Zug um Zug vom Gläubiger zu erbringenden Gegenleistung, § 894 S. 2 ZPO, aus der entsprechenden Eintragung des Gerichtsvollziehers oder der gerichtlichen Feststellung des Annahmeverzugs.32

XV. Rechtsbehelfe Die Digitalisierung ermöglicht eine unmittelbare Verknüpfung der Rechtsbehelfe in der Zwangsvollstreckung mit den erfolgten Vollstreckungsmaßnahmen. Die Vernetzung erfolgt im Vollstreckungsregister mittels Automatisierung der §§ 775, 776 ZPO.33 1. Verschlankung und Reform der verfahrensrechtlichen Rechtsbehelfe Die aufwändige Unterscheidung zwischen der Vollstreckungserinnerung, § 766 ZPO, und der sofortigen Beschwerde, § 793 ZPO, erübrigt sich, wenn der Gerichtsvollzieher zentral für die Zwangsvollstreckung zuständig ist.34 Die sofortige Beschwerde beschränkt sich auf ihren klassischen Charakter als Rechtsmittel. Die Vollstreckungserinnerung ist auf zwei Wochen ab der getätigten Vollstreckungsmaßnahme zu befristen,35 worüber die Parteien gemäß § 232 ZPO belehrt werden. Erinnerungsgegner ist der verantwortliche Gerichtsvollzieher, nicht die gegnerische

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S. bereits oben unter IV.2. S. o. VII.2. 34 Zu dieser Rechtsvereinheitlichung bereits unabhängig von der Zentralisierung der Vollstreckung Stamm (Fn. 2), S. 534 ff. 35 Ebenso für eine Befristung plädiert Barkam, Erinnerung und Klage bei qualifizierten vollstreckbaren Ausfertigungen, 1989, S. 8 ff., 22 f. Mit dem Fristablauf kommt es zur Verwertung, s. o. IX.4. 33

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Partei.36 Über die Erinnerung entscheidet unverändert das Amtsgericht, in dessen Bezirk das Vollstreckungsverfahren stattgefunden hat oder stattfinden soll, auch wenn es nicht mehr als Vollstreckungsorgan, also als Vollstreckungsgericht, in Erscheinung tritt. 2. Rückführung des vollstreckungsrechtlichen Klagesystems auf die allgemeine Feststellungsklage Nicht anders als die Rückgabe der vollstreckbaren Ausfertigung gemäß § 757 ZPO37 erübrigt sich eine Klage auf Herausgabe des Vollstreckungstitels analog § 371 BGB. Die Vollstreckungsabwehrklage, § 767 ZPO, ist ausreichender Rechtsbehelf. Versteht man diese wie auch die Interventions- und Absonderungsklage nicht als Gestaltungs-, sondern als Feststellungsklage, § 256 I ZPO,38 so verlieren die materiellrechtlichen Rechtsbehelfe ihre Existenzberechtigung. Sie gehen im System der zivilprozessualen Klagen des Erkenntnisverfahrens auf. Die verbleibende Vollstreckungserinnerung entspricht der verwaltungsprozessualen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.39 Schlussendlich bedarf es in der Zwangsvollstreckung keines spezifischen Rechtsbehelfssystems.

XVI. Einstweiliger Rechtsschutz Die Digitalisierung bringt Veränderungen für den Arrest mit sich, maßgeblich für seine Vollziehung, sowie für die einstweilige Verfügung. 1. Angleichung von Vollstreckung und Vollziehung Die Digitalisierung der Zwangsvollstreckung macht die (beschleunigte) Vollziehung im einstweiligen Rechtsschutz zum Regelfall. Eine Vollstreckungsklausel ist nunmehr generell entbehrlich; § 929 I ZPO ist kein Einzelfall mehr. Aufgrund der allgemeinen Beschleunigung beim Erlass von Vollstreckungsmaßnahmen sind im einstweiligen Rechtsschutz die Verfallklauseln aus § 929 II, III ZPO einfacher zu wahren.40 Die Zustellung sollte abweichend von § 922 II ZPO prinzipiell bereits 36

So schon Hein, ZZP 1956, 231 (246 Fn. 35), und de lege ferenda Karsten Schmidt, JuS 1992, 90 (91). Ausführlich dazu schon Stamm (Fn. 2), S. 530 ff. 37 S. o. VII.1. 38 Ausführlich dazu bereits Stamm (Fn. 2), S. 555 ff. 39 So schon Karsten Schmidt, JuS 1992, 90 (90 ff.), und Stamm (Fn. 2), S. 523 ff. 40 Die digitale Beschleunigung macht diese Vorgaben jedoch nicht entbehrlich. Die Vollziehungsfrist aus § 929 II ZPO dient dem Schutz des Schuldners vor einer späteren Vollstreckung unter veränderten Umständen, die eine Arrestanordnung nicht mehr rechtfertigen würden, MüKoZPO/Wolfsteiner, § 727 Rn. 22. Bei verzögerter Antragsstellung seitens des Gläubigers besteht dieses Schutzbedürfnis des Schuldners unverändert.

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von Amts wegen mittels des Titelregisters ausgelöst werden.41 Erscheint die Vollziehung noch vor Zustellung aussichtsreicher, so sollte diese Möglichkeit im Sinne von § 929 III ZPO nicht dem Gläubiger, sondern dem Gerichtsvollzieher als staatlich verantwortlichem Vollstreckungsorgan eröffnet sein. Wollte man an der Möglichkeit der Zustellung im Parteibetrieb festhalten, so wäre dieser Weg dem Gläubiger mittels Antrags zu überantworten. Ein derartiges Antragserfordernis für eine Zustellung im Parteibetrieb entspricht der berechtigten Erwartung des Gläubigers, die Zustellung erfolge im Regelfall zwecks Beschleunigung von Amts wegen und nicht erst im Parteibetrieb. 2. Absolute Schutzwirkung einer einstweiligen Verfügung Bewirkt ein Vollstreckungsregister in Verbindung mit dem Grundbuch und dem zentralen Fahrzeugregister eine zusätzliche dingliche Absicherung für den Gläubiger eines Anspruchs auf Räumung oder Herausgabe,42 macht dies eine einstweilige Verfügung, gerichtet auf Eintragung eines Widerspruchs bei Unrichtigkeit des Grundbuchs oder auf ein Veräußerungsverbot bei bereits erfolgtem Verkauf, entbehrlich. Vor Erlass des Titels bleibt dem Erwerber aber diese Möglichkeit. Wird die einstweilige Verfügung gleichermaßen in das Vollstreckungsregister eingetragen, optimiert dies zugleich den einstweiligen Rechtsschutz. So bedarf es beim Veräußerungsverbot nicht erst der vom Gläubiger zu bewirkenden Zustellung, zumal sich diese naturgemäß auf solche potentielle Erwerber beschränkt, die dem Gläubiger bekannt sind. Die Verknüpfung des Vollstreckungsregisters mit dem Grundbuch und dem Fahrzeugregister gewährleistet einen absoluten Verkehrsschutz gegenüber jedermann.

XVII. Digitalisierte Verknüpfung mit dem Insolvenzverfahren Zu den jüngsten gesetzgeberischen Früchten der Digitalisierung im Insolvenzrecht zählt die Möglichkeit der virtuellen Gläubigerversammlung gemäß § 4 InsO i.V.m. § 128a ZPO. Insolvenzbekanntmachungen erfolgen bereits langjährig im Internet, § 9 I InsO. Eine elektronische Verknüpfung mit dem Schuldnerverzeichnis bei Abweisung des Insolvenzantrags mangels Masse ist sichergestellt, § 26 II InsO i.V.m. § 882b ZPO. Die weitere Verbindung mit dem Vollstreckungsregister ermöglicht eine automatisierte Unterbindung der Zwangsvollstreckung bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner, § 89 InsO, oder auch bereits bei Anordnung eines Vollstreckungsverbots im Eröffnungsverfahren, § 21 II 1 Nr. 3 InsO. Ein künftiger weiterer Schritt ist die Digitalisierung der Insolvenztabelle und ihre Überleitung in das Vollstreckungsregister. 41 Ausführlich zur elektronischen Zustellung einstweiliger Beschluss- und Urteilsverfügungen im Parteibetrieb Müller, RDi 2021, 78 (78 ff.). 42 S. o. XIII.

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XVIII. Synergieeffekte für das Erkenntnisverfahren Gibt es ein Vollstreckungsregister, lässt sich künftig mittels dieses Registers der Einwand der entgegenstehenden Rechtskraft automatisieren. Ist die Zulässigkeit der Klage ohnehin von Amts wegen zu prüfen, § 56 ZPO, so liegt es nahe, dem Gericht dieses Arbeitsmittel an die Hand zu geben. Im Vorfeld der Rechtskraft leitet dies zu einem Klageregister über. Die Beachtung des Verbots der anderweitigen Rechtshängigkeit, § 261 III Nr. 1 ZPO, lässt sich auf diese Weise ebenso digitalisieren. In einem Klageregister kann auch das Erfordernis eines Güteversuchs gemäß § 15a I EGZPO digitalisiert umgesetzt werden, indem die Gütestellen vor Klageerhebung einen erfolglosen Einigungsversuch einzutragen haben.43 Eine rechtsmissbräuchliche Mehrbefassung der Justiz wird anfänglich unterbunden. Im Zeitalter des kollektiven Rechtsschutzes erscheint dies ohnehin unausweichlich. Für die Musterfeststellungsklage ist ein Klageregister bereits gesetzlich etabliert, §§ 607 ff. ZPO.

XIX. Resümee Die Digitalisierung bringt auch die Zwangsvollstreckung auf den Prüfstand. Dringend empfehlenswert ist die Einführung eines elektronischen Titelregisters bis hin zu einem umfassenden Vollstreckungsregister. Dies bewirkt den – nach dem Vorbild des Mahnverfahrens längst überfälligen – Verzicht auf die Vollstreckungsklausel, die sich für den Gläubiger in der Praxis immer schon als Bremsklotz erwiesen hat. Das qualifizierte Klauselverfahren ist in das Vollstreckungsverfahren überzuleiten. Der aus dem Klauselverfahren stammende Gedanke der Zentralisierung mündet in ein zentralisiertes Vollstreckungsverfahren. Nicht erst die Digitalisierung gibt Veranlassung zu einer effektiven Vollstreckung aus einer Hand. Zentrales Vollstreckungsorgan ist der Gerichtsvollzieher. Die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung lassen sich mithilfe eines Titelregisters weitgehend automatisieren. Wünschenswert ist darüber hinaus der Ausbau zu einem umfassenden Vollstreckungsregister, in dem auch die Vollstreckungsmaßnahmen erfasst werden. Der allzuständige Gerichtsvollzieher kann spätestens im Rahmen einer Vermögensauskunft unmittelbar einen Pfändungsbeschluss in digitalisierter Form erlassen. Die Notwendigkeit eines Überweisungsbeschlusses entfällt. Die Mobiliarvollstreckung ist unverändert nur vor Ort möglich, jedoch digital zu erfassen. Dies ermöglicht die sich unmittelbar anschließende Onlineversteigerung. Zwischen Pfändung und Verwertung ist digitalisiert eine Schonfrist vorzusehen und flankierend eine entsprechende Befristung der Vollstreckungserinnerung einzuführen. Diese bildet den alleinigen verfahrensrechtlichen Rechtsbehelf. Erinnerungsgegner ist der verantwortliche Gerichtsvollzieher und nicht die gegnerische Partei, die auf 43 Ebenso lässt sich das Erfordernis der vorherigen Kostenerstattung auf Rüge des Beklagten bei erneuter Klage nach Klagerücknahme, § 269 VI ZPO, automatisieren.

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den Ablauf der Zwangsvollstreckung keinen Einfluss hat. Die sofortige Beschwerde beschränkt sich auf das gegen die Erinnerungsentscheidung statthafte Rechtsmittel. Verknüpfungen des Vollstreckungsregisters mit dem zentralen Fahrzeugregister beim Kraftfahrt-Bundesamt und mit dem elektronischen Grundbuch ermöglichen weitergehende Synergieeffekte bei der Vollstreckung von Ansprüchen auf Herausgabe und Räumung. Die Mobiliarvollstreckung in Fahrzeuge kann mithilfe des Fahrzeugregisters vollständig digitalisiert werden. Die Übereignung eines Fahrzeugs erfolgt künftig mittels Umschreibung im Fahrzeugregister, womit sich die bisherigen Fahrzeugpapiere erübrigen. Eine erhebliche Steigerung der Rechtssicherheit ist die Folge, ohne dass die Verkehrsfähigkeit eingeschränkt würde. Schlussendlich bietet die Digitalisierung der Zwangsvollstreckung ein erhebliches fiskalisches Einsparpotential, indem die bisher aufwändigen Abläufe zwischen der titelerlassenden Stelle, den Vollstreckungsparteien, dem jeweiligen Klauselerteilungsorgan und der Vielzahl von Vollstreckungsorganen gänzlich eingespart oder zumindest erheblich verkürzt werden. Allein schon diese fiskalischen Erwägungen sollten genügender Ansporn für eine längst überfällige Reform der Einzelzwangsvollstreckung an Haupt und Gliedern sein.

Digitalisierung, ein Meilenstein für die Arbeit der Gerichtsvollzieher? Von Karlheinz Brunner

Einführung Schon mit Beginn der 1980er Jahre haben sich die Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher1 mit der allgemeinen Datenverarbeitung beschäftigt und die Büros entsprechend ausgestattet. Dabei wurde zunächst die Datenverarbeitung über die bestehenden, damals schon verstaubten Verwaltungsvorschriften2 übergestreift. Entsprechend schwerfällig war das Arbeiten. Dies hat sich im Laufe der Jahre durch diverse Anpassungen der Verordnungen verbessert. Die einschlägigen Vorschriften gibt es in den wesentlichen Teilen allerdings immer noch unverändert oder nur leicht modernisiert. Unabhängig von der Digitalisierung der Büros erfolgte die Vollstreckung jedoch immer noch in der Wohnung und den Geschäftsräumen der Schuldner in Form von Pfändungen oder Pfändungsversuchen. In der Ausbildung der Gerichtsvollzieher nahm die Mobiliarvollstreckung einen wesentlichen Raum ein und auch an den Universitäten war dieser Bereich ein wichtiger Bestandteil bei den Vorlesungen zum Zwangsvollstreckungsrecht. Regelmäßig fanden in den Pfandkammern der Gerichtsvollzieher Präsenzversteigerungen statt. Voraussetzung für das Verfahren zur Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung war stets ein erfolgloser Pfändungsversuch oder ein Protokoll über die Verweigerung der Wohnungsdurchsuchung im Rahmen der Zwangsvollstreckung.3 Zuständig für die Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung war der Rechtspfleger beim Vollstreckungsgericht. Nach Erlass eines Haftbefehls hatte der Gerichtsvollzieher den Schuldner dem zuständigen Rechtspfleger vorzuführen. Das Thema „Informationsgewinnung“ stand noch nicht so sehr im Fokus der staatlichen Zwangsvollstreckung.

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nachfolgend auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachform männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. 2 Gerichtsvollzieherordnung GVO und Gerichtsvollziehergeschäftsanweisung GVGA. 3 § 758a ZPO.

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Mit dem zunehmenden Rückgang der Mobiliarvollstreckung,4 die im Werteverfall von Gebrauchsgütern, zunehmenden Finanzierungs- und Leasinggeschäften und einem umfangreichen Warenangebot bei den Discountern zu sehen sein dürfte, wurde zunehmend deutlich, dass der Gläubiger mehr und mehr auf die Beschaffung von Informationen über das Vermögen des Schuldners angewiesen ist. Entscheidende Vermögenswerte liegen in Forderungen des Schuldners an Dritte, die zu einem nicht unwesentlichen Teil in Dateien zu finden sind. In der Folge kann sich das Gesetz nicht mehr nur auf körperliche Gegenstände beschränken, sondern muss auch insoweit zukunftsfähige Perspektiven für die Zwangsvollstreckung schaffen. Mit der Übertragung der Eidesstattlichen Versicherung auf den Gerichtsvollzieher im Jahr 1999 vollzog der Gesetzgeber einen ersten Schritt hin zu einem modernen Vollstreckungsverfahren.5 Mit der Reform der Sachaufklärung6 im Jahr 2013 wurde dann endlich ein Einstieg in die digitale Vollstreckung vollzogen, indem den Gerichtsvollziehern u. a. ein elektronisches Anfragesystem bei potenziellen Drittschuldnern zur Informationsbeschaffung an die Hand gegeben wurde. Mit dem vom Deutschen Bundestag am 25. 06. 2021 verabschiedeten Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften7 finden Normen zur elektronischen Zustellung den Weg in die ZPO. Im folgenden Beitrag soll Stellung bezogen werden zu folgenden Themen: I.

Auftragserteilung und Kommunikation mit dem Gerichtsvollzieher.

II.

Elektronische Zustellung.

III. Fahrnisvollstreckung. IV.

Ermittlung nach § 802l ZPO.

V.

Forderungspfändung.

VI. Neue Vermögenswerte. VII. Ausblick.

I. Auftragserteilung und Kommunikation mit dem Gerichtsvollzieher Mit Blick auf die Digitalisierung stellt sich zunächst die Frage nach dem Zugang zum und der Kommunikation mit dem Gerichtsvollzieher. Mit dem aktuellen Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung 4

Dazu etwa Mock, Mobiliarzwangsvollstreckung, Rn. 737. BT-Drs. 13/9088, S. 22; gleichfalls BT-Drs. 13/9088, S. 22. 6 BGBl. 2009 Teil I Nr. 48. 7 BT-Drs. 19/30937.

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Digitalisierung, ein Meilenstein für die Arbeit der Gerichtsvollzieher?

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weiterer Vorschriften8 öffnet sich die Justiz für den Ausbau der elektronischen Kommunikation. Mit dem weiteren sicheren Übermittlungsweg des elektronischen Bürger- und Organisationspostfaches (eBO) erhalten Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Organisationen und Verbände sowie andere professionelle Verfahrensbeteiligte die Möglichkeit, möglichst kostenneutral über ein neues besonderes elektronisches Postfach mit den Gerichten auf sicherem Weg zu kommunizieren. Damit wird auch die elektronische Auftragserteilung zur Zwangsvollstreckung wesentlich an Bedeutung gewinnen. Das elektronische Bürgerorganisationspostfach ermöglicht sowohl den schriftformersetzenden Versand elektronischer Dokumente, sowie die Zusendung elektronischer Dokumente durch die Gerichte und die Gerichtsvollzieher an die Postfachinhaber. In drei Bundesländern9 erfolgt inzwischen bereits die elektronische Auftragserteilung an die Gerichtsvollzieher direkt. In 13 Bundesländern findet die Übermittlung aktuell jedoch über die sicheren Zugangswege des § 130a ZPO über die Gerichte statt. Dort werden die elektronisch eingegangenen Aufträge ausgedruckt und dann dem Gerichtsvollzieher übermittelt. Der direkte Zugang zum Gerichtsvollzieher muss möglichst zeitnah in allen Bundesländern geschaffen werden. Gehen die Unterlagen dann über den extra geschaffenen X-Justiz Datensatz ein, wird die elektronische Erfassung und Bearbeitung der Verfahren ermöglicht. Damit einhergehend muss möglichst schnell die elektronische Aktenführung im Gerichtsvollzieherbüro zugelassen werden, die technischen Voraussetzungen hierfür sind bereits vorhanden oder lassen sich problemlos installieren. Dazu ist allerdings eine gesetzliche Anpassung des § 298a ZPO notwendig.

II. Elektronische Zustellung Ein wesentlicher Baustein in der Arbeit der Gerichtsvollzieher bildet das Zustellungswesen. Eine rechtskonforme und zügige Zustellung ist für alle Verfahrensbeteiligte von grundlegender Bedeutung. Auch hier darf die Digitalisierung keinen Halt machen und die Vorschriften sind entsprechend anzupassen. Das gerade vom Bundestag verabschiedete Gesetz zum elektronischen Rechtsverkehr10 eröffnet in den §§ 192 – 193a E ZPO die Möglichkeit der Zustellung durch Übermittlung eines elektronischen Dokumentes.

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Tritt zum 01. 01. 2022 in Kraft. Berlin, Schleswig-Holstein und Sachsen 10 Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften BT-Drs. 19/30937 II. und II. Lesung am 25. 06. 2021 nnBundesrat vermutlich am 17.09.21nn. 9

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§ 193a Abs. 2 E ZPO sieht vor, dass der Gerichtsvollzieher ein ihm zur Zustellung zugehendes Schriftstück als elektronisches Dokument erstellen und dann elektronisch zustellen kann. Neben der Amtszustellung wird damit auch die Parteizustellung auf den digitalen Weg gebracht. In den §§ 192 – 193a E ZPO wird die elektronische Zustellung elektronischer Dokumente auch im Vollstreckungsverfahren durch den Gerichtsvollzieher geregelt, wenn eines der im § 753 Absatz 4 Satz 1 genannten Dokumente elektronisch an den Gerichtsvollzieher übermittelt wurde; darüber hinaus wird § 173 ZPO für entsprechend anwendbar erklärt.11 Damit wird klargestellt, dass der Gerichtsvollzieher elektronisch zustellen kann, unabhängig davon, ob es sich um eine Amts- oder eine Parteizustellung handelt. (§§ 191 ff. ZPO). Eine erste, aber nicht unwesentliche Anpassung hat der Gesetzgeber im § 840 ZPO vorgesehen. Im Falle der elektronischen Zustellung nach § 193a E ZPO muss künftig die Aufforderung zur Abgabe der Drittschuldnererklärung als elektronisches Dokument zusammen mit den Pfändungs-und Überweisungsbeschluss übermittelt werden. Nach § 840 Abs. 3 ZPO kann die Erklärung aber nach wie vor dem Gerichtsvollzieher gegenüber bei der persönlichen Zustellung abgegeben werden. Für die vollständige digitale Zustellung der Beschlüsse dürfte im nächsten Schritt die reine Schriftform geboten sein.

III. Fahrnispfändung und Digitalisierung Die Vollstreckung in Fahrnisse ist und bleibt ein nicht unwesentlicher Bestandteil der Zwangsvollstreckung. Die tägliche Praxis zeigt, dass die Vorsprache vor Ort nach wie vor das geeignete Mittel zur Realisierung von Forderungen ist. Nicht umsonst baut die Inkassowirtschaft ihren Außendienst mehr und mehr aus. Dies kann und darf jedoch nicht im Interesse des Rechtsstaates sein. Hier muss man sich die Frage stellen, ob damit nicht die Gefahr einer Privatisierung der Zwangsvollstreckung, quasi über die Hintertür, besteht. Die Vollstreckung vor Ort – der Besuch beim Schuldner in dessen Privatsphäre – muss den mit hoheitsrechtlichen Vollmachten versehenen Gerichtsvollziehern vorbehalten sein und unter staatlicher Kontrolle bleiben. Tatsächlich verliert aber die Mobiliarpfändung an Bedeutung,12 die Gründe hierfür wurden bereits eingangs dargelegt. Verwertbare Gegenstände, deren Erlös die entstehenden Kosten übersteigt, sind deshalb bei den Schuldnern kaum noch vorhanden, zudem gibt es bei der Versteigerung von gepfändeten Gegenständen keine Ge11

BT-Drs. 19/28399, S. 38. Mock, Mobiliarvollstreckung Rn. 737, Werteverfall von Gebrauchsgütern, Finanzierungs- und Leasinggeschäften, Billigangeboten bei den Discountern. 12

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währleistung durch den Gerichtsvollzieher. Unser Rechtsverständnis kennt zu Recht keine „Druckpfändung“, um den Schuldner zu Zahlungen zu „zwingen“, eine Pfändung muss immer mit dem Ziel einer Verwertung erfolgen und dient damit der Befriedigung des Gläubigers und Entschuldung des Schuldners. Der Gerichtsvollzieher hat zudem das Kostenspargebot des § 803 Abs. 2 ZPO und die ebenfalls aktuell reformierten Schutzvorschriften des § 811 ZPO13 zu beachten. In der Vorbereitung der Fahrnispfändung kann die Digitalisierung jedoch wertvolle Hilfe leisten. So ermöglicht z. B. der § 802l Abs. 1 3 ZPO die Ermittlung von Fahrzeugdaten über das Kraftfahrtbundesamt, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind.

IV. Ermittlung nach §§ 755 und 802l ZPO Für eine effektive Durchsetzung seines Anspruchs benötigt der Gläubiger Informationen über den Aufenthaltsort und die Vermögenswerte des Schuldners. Mit Wirkung zum 01. Januar 2013 ist das Gesetz zur Reform der Zwangsvollstreckung vom 29. 07. 2009 in Kraft getreten. Der Gesetzgeber hat damit auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung den Sprung in das 21. Jahrhundert vollzogen und den Einstieg in die digitale Vollstreckung eingeläutet. Die Bedeutung der Informationsgewinnung wurde erkannt und grundsätzlich an den Anfang des Vollstreckungsverfahrens gestellt. Die Informationsbeschaffung des Gläubigers über das Vermögen des Schuldners erfordert nun nicht mehr den Umweg über die Fahrnisvollstreckung, wobei der § 807 ZPO aber nach wie vor diesen (durchaus sinnvollen) Weg ermöglicht. Zudem bleibt die Informationsbeschaffung nicht mehr auf die Selbstauskunft des Schuldners beschränkt. Die Möglichkeit der Einholung von Fremdauskünften durch den Gerichtsvollzieher wurde in § 802l ZPO geschaffen, wobei aber das Prinzip „Eigenauskunft“ vor „Fremdauskunft“ grundsätzlich beibehalten wird. Durch die Einführung der Digitalisierung der Abfragemöglichkeiten bei den im Gesetz bezeichneten Drittbehörden kann der Gerichtsvollzieher diese Abfragen zügig und erfolgreich durchführen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten laufen diese Verfahren gut und führen den Nachweis der Effektivität. Mit den Anhängen zum GVSchuG14 hat der Gesetzgeber vor wenigen Wochen die Abfragemöglichkeiten erweitert und die Vorsorgeeinrichtungen der Selbstständigen (Freiberufler) mit aufgenommen. Mit Blick auf die Abfrage der Grundbuchdaten besteht allerdings noch eine deutliche Lücke, die dringend beseitigt werden muss. Es mangelt aber derzeit noch an einem bundesweiten zentralen elektronischen Grundbuch, zumindest ein zentrales Eigentümerregister würde hier weiterhelfen.

13 14

GVSchuG BGBl. 2021 Teil I Nr. 20 vom 07. 05. 2021, S. 850 ff. GVSchuG BGBl. 2021 Teil I Nr. 20 vom 07. 05. 2021, S. 850 ff.

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Abfragen nach § 802l ZPO müssen aber immer auf hoheitlichem Handeln basieren, einem bestimmten Verfahren zuzuordnen15 sein und einem strengen Datenschutz sowie der Informationspflicht dem Schuldner gegenüber unterliegen.

V. Forderungspfändung Der überwiegende Teil der Vermögenswerte der Schuldner finden sich in Forderungen gegen Dritte. Mit der Vermögensoffenbarung und den Auskunftsrechten des § 802l ZPO stehen dem Gerichtsvollzieher Möglichkeiten offen, die notwendigen Daten zur Forderungspfändung zu erlangen. Die beste Sachaufklärung ergibt jedoch nur dann einen Sinn, wenn die daraus gewonnenen Erkenntnisse schnell und ohne Zeitverzögerung umgesetzt werden können. Geschieht dies bei der Ermittlung pfändbarer beweglicher Habe binnen kürzester Frist, muss der Gläubiger für die Pfändung von Forderungen einen zeitraubenden Weg wählen. Durch den Erlass eines vorläufigen Zahlungsverbotes nach § 845 ZPO kann der Anspruch zunächst beschlagnahmt werden, um dann aber über das zuständige Vollstreckungsgericht einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss beantragen zu müssen, der binnen eines Monats nach Zustellung des Zahlungsverbotes wiederum durch einen Gerichtsvollzieher an den Drittschuldner zugestellt werden muss. In diesem Zusammenhang müssen auch die zahlreichen vorläufigen Zahlungsverbote erwähnt werden, die vor allen Dingen die Inkassowirtschaft als ein Mittel zur Kontaktaufnahme mit den Schuldnern und zur Ausforschung seiner Kontoverbindungen benutzt. Der eigentliche Charakter dieses Rechtsinstrumentes wird so mehr und mehr in ein Massenverfahren umgewandelt.16 Dies kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, der diesem Tun schnellstens Einhalt gebieten sollte. Bis der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss dann erlassen worden ist und dem zuständigen Gerichtsvollzieher zur Zustellung vorliegt, vergeht wiederum wertvolle Zeit. Sind mehrere Drittschuldner erfasst, gehen oftmals mehrere Wochen ins Land, bis die Pfändung endgültig wirksam wird. Dringend muss an dieser Stelle die Frage erlaubt sein, ob das aktuelle Recht zur Forderungspfändung dem Gedanken einer effizienten und zügigen Vollstreckung noch Rechnung trägt? Das 8. Buch der ZPO, das in Teilen immer noch antiquiert erscheint, bedarf nicht nur in Bezug auf die Forderungspfändung einer gründlichen Überarbeitung.17 Mit Blick auf die Digitalisierung der Verfahren wird deutlich, dass die Trennung der Zuständigkeiten in der Zwangsvollstreckung, einerseits der Gerichtsvollzieher 15 16

Siehe dazu Hergenröder, DGVZ 2021, 101. Siehe Gietmann/Hesterberg, in: Görtemaker/Hübener (Hrsg.), Schwert der Justiz. Das Gerichtsvollzieherwesen in Deutschland von 1800 bis zur Gegenwart, Auflage unbekannt (wsl. 1. Aufl.), S. 169 (190 ff.). 17

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für die Mobiliarvollstreckung, andererseits das Vollstreckungsgericht für die Forderungspfändungen und Pfändung von Immobilien, nicht mehr zeitgemäß ist. Mag dies hinsichtlich der Immobiliarvollstreckung noch nachvollziehbar sein, so spricht die Aufgabenteilung für den Bereich der Pfändung von Forderungen und anderen Vermögensrechten nicht mehr dem Grundgedanken einer modernen Zwangsvollstreckung. Mit der fortschreitenden Digitalisierung kann das Verfahren der Forderungspfändung mit den zahlreichen Beteiligten auf Seiten der Justiz in der bisherigen Form nicht mehr fortgeführt werden. Die Synergieeffekte, die mit der Zuständigkeit des Gerichtsvollziehers auch für die Forderungspfändung einhergehen und die im Zusammenhang mit der Digitalisierung besonders zum Tragen kommen, sind offensichtlich.

VI. Neue Vermögenswerte Die Vollstreckung und voran gestellt das Recht kann sich heute nicht mehr nur auf körperliche Gegenstände beschränken, sondern muss in Bezug auf Daten neue Perspektiven eröffnen.18 Zu denken ist hier an digitale Kryptowährungen wie z. B. Bitcoins, Ethereum, Dash und Ripple und andere Forderungen des Schuldners gegen Dritte aus digitalen Vermögenswerten. Es kommt zukünftig darauf an, dass diese Werte zunächst ermittelt werden, wenn der Schuldner nicht von sich aus diese freiwillig offenbart. So muss im Verfahren zur Abgabe der Vermögensoffenbarung intensiv danach gefragt werden. Zu klären sein wird auch die Frage, wie der Gläubiger an die Daten des Schuldners kommt, wenn dieser die entsprechenden Angaben verweigert. In den Fokus dürfte dabei die Zwangsvollstreckung in vertretbare und unvertretbare Handlung nach §§ 887, 888 ZPO rücken.19 Die Zwangsvollstreckung und die Verwertung neuer Vermögenswerte wird an Bedeutung gewinnen und muss folglich einer Klärung durch die Wissenschaft und im Ergebnis durch das Recht zugeführt werden.

VII. Ausblick und Resümee Mit der Reform der Sachaufklärung hat die digitale Zwangsvollstreckung bereits zum 01. 01. 2013 begonnen. Mit der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz muss auch der digitalen Rechtsdurchsetzung mehr Bedeutung zugemessen werden. Der Gerichtsvollzieher ist noch mehr in den Mittelpunkt der Vollstre18 19

Badstuber, DGVZ 2019, 246 ff. Badstuber, DGVZ 2019, 246 (252) m.w.N.

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ckung zu rücken. Durch eine Zentralisierung im Bereich der Forderungsvollstreckung, hin zum Gerichtsvollzieher, werden Ressourcen freigesetzt und die Zersplitterung in der Zwangsvollstreckung eingedämmt. Mit der Übertragung der Forderungspfändung auf den Gerichtsvollzieher muss zeitnah ein effektives, zügiges und modernes Verfahren geschaffen werden. Die digitalen Verfahrensabläufe schaffen dazu die notwendigen und geeigneten Rahmenbedingungen. Nach der Ermittlung pfändbarer Forderungen des Schuldners durch den Gerichtsvollzieher bzw. der Mitteilung entsprechender Daten durch den Gläubiger kann der Anspruch mittels einer Pfändungsverfügung des Gerichtsvollziehers gepfändet und unmittelbar eingezogen werden. Durch die Einfügung einer kurzen Wartfrist nach der Pfändung bis zum Einzug können Schuldner- und Gläubigerrechte gewahrt werden. Die Einführung der elektronischen Akte im Gerichtsvollzieherbüro muss zeitnah umgesetzt werden. Die Anpassung der §§ 298 und 298a ZPO ist dazu geboten. Die Ermittlung, Vollstreckung und Verwertung neuer Vermögenswerte muss in den Fokus der Wissenschaft und der Gesetzgebung gerückt werden. Dabei dürfte eine der entscheidenden Fragen zu klären sein, wie der Gläubiger im Falle der Verweigerung der für eine Pfändung erforderlichen Angaben durch den Schuldner an die entsprechenden Daten kommt (z. B. Zugang zu einer Blockchain). Ebenso muss die grenzüberschreitende Zwangsvollstreckung im Auge behalten werden. Digitales Vermögen macht nicht vor den Grenzen halt! Die Gerichtsvollzieher sind bereit, sich den mit der zunehmenden Digitalisierung und Globalisierung entstehenden Herausforderungen zu stellen. Die Stärkung der staatlichen Zwangsvollstreckung, gerade mit Blick auf die Digitalisierung, liegt im Interesse eines funktionierenden Rechtsstaates. Dabei sind alle Verfahrensbeteiligte auf die Unterstützung der Rechtswissenschaft angewiesen. „Natürlich interessiert mich die Zukunft. Ich will schließlich den Rest meines Lebens darin verbringen.“ Mark Twain

Das digitalisierte Exekutionsverfahren als Brücke zwischen Technik und Dogmatik Von Kevin Labner1 Die österreichische Justiz gilt seit Langem als digitaler Vorreiter,2 was in Summe auch für die Einzelzwangsvollstreckung3 gilt. Dieser Beitrag beleuchtet den Fortschritt der Digitalisierung im österreichischen Exekutionsverfahren, die seit Jahrzehnten stetig voranschreitet. So sind (de facto) titellose Anträge ebenso wie das im Diskussionsentwurf geforderte Titelregister – aus der Perspektive des österreichischen Exekutionsverfahrens – im Prinzip seit vielen Jahren Realität. Grundstein dieses technischen und verfahrensrechtlichen Fortschritts ist die „Verfahrensautomation Justiz“ (VJ), ein zentrales Fall(verwaltungs)register. Deren jüngster exekutionsrechtlicher Spross, die Exekutionsdatenabfrage (EXDA), schafft es zudem, Informationsasymmetrien zwischen den Parteien zu verringern und zur Verfahrensökonomie beizutragen. Der mit der EXDA eng verbundene Beschluss auf Feststellung der „Beendigung der Exekution“ nach § 41a EO4 soll schließlich zum Anlass genommen werden, einen einheitlichen Rechtsbehelf für Beendigungsfälle zu entwickeln.

I. Einleitung Dieser Beitrag widmet sich ausgewählten Digitalisierungstrends im Exekutionsverfahren, prinzipiell mit Fokus auf die Geldexekution sowie dabei am Modellfall der Fahrnisexekution. Zwar ist mit der ERV 20215 (vgl. § 11) die Beschränkung

1 Der Autor dankt PD Dr. Martin Zwickel, Maître en droit für die Einladung zur Tagung, Univ.-Prof. Dr. Christian Koller für Diskussion und wertvolle Hinweise sowie Mag. Laura Kasalo für die Durchsicht herzlich. 2 Statt vieler Rechberger, in: Th. Gottwald (Hrsg.), FS Schneider 2013, S. 361 (362); Schneider/Gottwald, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz 2013, S. 447 (470); Klausegger/Tretthahn-Wolski, in: Binder-Grösswang (Hrsg.), Digital Law, 2. Auflage 2020, S. 199 (200 ff.). 3 Die Terminologie in diesem Beitrag folgt der österreichischen, sodass hier neben „Exekution“ vom „betreibenden Gläubiger“ (§ 5 Abs. 1, „betrGl“) und vom „Verpflichteten“ („Verpflichtete Partei“: § 4 Abs. 1, „Verpfl“) die Rede ist. 4 §§ ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf die Exekutionsordnung (EO), RGBl 1896/79 i. d. F. BGBl I 2022/61. 5 BGBl II 2021/587, vgl. dazu Moser, AnwBl 2022, 135.

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der elektronischen Antragsstellung in der Liegenschaftsexekution6 wegfallen (vgl. noch § 10 Abs. 1 Satz 2 ERV 2006, § 448 Abs. 4 GeO); unverändert beschränkt sich vereinfachte Bewilligungsverfahren jedoch „auf das bewegliche Vermögen“ (dazu III.2.; vgl. § 54b Abs. 1 Z. 1). Sie soll daher an dieser Stelle insgesamt ausgeklammert werden. Die Eckpfeiler des Beitrags bilden nach einer kurzen Einführung in die Struktur des Exekutionsverfahrens (II.) zunächst das elektronische Antragsverfahren, insb. das vereinfachte Bewilligungsverfahren (§§ 54b ff.) als das Herzstück des de facto „ohne (vorzulegenden) Titel“ geführten digitalisierten Exekutionsverfahrens. Technische Basis dafür ist die Verfahrensautomation Justiz (VJ), die funktional auch als Subform eines Titelregisters fungiert (III.2.b)). Daran anschließend wird die auf der VJ basierende Exekutionsdatenabfrage (EXDA) analysiert: Gerade dort offenbaren sich Bruchlinien zwischen Dogmatik und Ansprüchen der Digitalisierung. Dabei soll auch der 2019 eingeführte Antrag auf Feststellung der Beendigung (§ 41a) als Grundlage dienen, die exekutionsrechtlichen Rechtsbehelfe de lege ferenda fortzuentwickeln (IV.). Schließlich sollen die internetunterstützte Verwertung, Digitalisierungsschritte in der Forderungsexekution sowie die neue Bestimmung zur Verwertung von Rechten aus digitalen Währungen Erwähnung finden (V.). Der vorliegende Beitrag ist auf dem Stand der am 1. 7. 2021 in Kraft getretenen Gesamtreform des Exekutionsrechts7 („GREx“). Berücksichtigt werden zudem die Zivilverfahrensnovelle 2022 („ZVN 2022“, BGBl I 20222/61) und die ERV 2021 (BGBl II 2021/587).

II. Prolegomena zum österreichischen Exekutionsverfahren Bevor einzelnen Digitalisierungstendenzen nachgespürt wird, sollen gerade für den deutschen Leser die wesentlichsten Grundlagen und Verfahrensabläufe des österreichischen Antragsverfahrens skizziert sein: Das Exekutionsverfahren zeichnet sich im Vergleich zum deutschen Zwangsvollstreckungsrecht durch eine ausgeprägte Gerichtslastigkeit8 aus. So ist – anders als in Deutschland – das Verfahren nicht direkt beim Vollziehungsorgan (Gerichtsvollzieher: §§ 24 ff.) einzuleiten, sodass es vor faktischen Vollzugshandlungen einer gerichtlichen Exekutionsbewilligung9 bedarf. Deren Voraussetzungen sind insb. ein Vollstreckungstitel (§§ 1 f.) sowie eine vom Titelgericht erteilte Vollstreckbarkeitsklausel. Letztere bestätigt lediglich die formelle Vollstreckbarkeit,10 nicht jedoch (wie nach deutschem Recht) die

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Vgl. Deixler-Hübner/Mini, EO, 34. Lfg. 2022, § 133 Rn. 83. BGBl I 2021/86. 8 Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht, 5. Auflage 2009, Rn. 2. 9 Zu den konzeptionellen Unterschieden Heller/Berger/Stix, EO I, 4. Auflage 1969, S. 157 ff.; Petschek/Hämmerle/Ludwig, Zwangsvollstreckungsrecht, 1968, S. 7 f. 10 Und damit nicht bereits (wie nach deutschem Recht) in Ersetzung der „Exekutionsbewilligung“: Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 80; vgl. aber zur Annähe7

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materielle;11 ebenso wenig die (anderen) Exekutionsvoraussetzungen.12 Titel und Klausel wiederum sind im ordentlichen Bewilligungsverfahren einem Antrag anzuhängen (§ 54 Abs. 3; im vereinfachten dagegen nicht: § 54b Abs. 2 Z. 2).

III. Das elektronische und automatisierte Bewilligungsverfahren Das Exekutionsverfahren ist aber nicht nur gerichtslastig, sondern auch „mit Hilfe automationsunterstützter Datenverarbeitung durchzuführen“.13 Dieser Abschnitt behandelt dabei die (Grenzen der) elektronische(n) und automatisierte Durchführung des (vereinfachten) Bewilligungsverfahrens. 1. Antragstellung und Übermittlung von Titel und Klausel im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) Auch im Exekutionsverfahren ist der ERV14 anwendbar (§ 89a Abs. 1 GOG, § 1 Abs. 1 ERV 2021)15 und wird rege genutzt: laut Angaben des Justizministeriums wurden im Jahr 2019 76 % aller Exekutionsanträge im ERV abgewickelt.16 Grund für diese hohe Ziffer ist, dass bestimmte Berufs- und Personengruppen (z. B. Rechtsanwälte: § 89c Abs. 5 Z. 1 GOG; vgl. auch § 1 Abs. 3 Z. 3 ERV 2021) prinzipiell zur Teilnahme an diesem elektronischen Interface verpflichtet sind. Umgekehrt besteht die Möglichkeit, diese elektronische Kommunikation mit den Gerichten zu wählen, aber grundsätzlich für jedermann, der über eine Handysignatur oder Bürgerkarte (§ 5 ERV 2021 für die Übermittlung im Wege von JustizOnline) verfügt („ERV für alle“17).18 Unabhängig von einer Übermittlung im ERV ist die Verwendung von Formblättern obligatorisch (§ 1 Abs. 1 Z. 3 AFV 2002; §§ 54a, 435 EO).

rung in der jüngeren Rsp. Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, 3. Auflage 2015, § 7 Rn. 95 ff.; Deixler-Hübner/Höllwerth, EO, 33. Lfg. 2021, § 7 Rn. 151. 11 Vgl. nur Neumayr/Nunner-Krautgasser, Exekutionsrecht, 4. Auflage 2018, S. 81 ff. 12 Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 80. 13 ErläutRV 770 BlgNR 27. GP, S. 16 (GREx). 14 Vgl. Schneider/Gottwald, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz 2013, S. 447 (455 f.) (noch zur ERV 2006): Österreich das „wohl weltweit erste Land […], das einen elektronischen Rechtsverkehr etabliert hat“ (S. 456); Klausegger/Tretthahn-Wolski, in: Binder-Grösswang (Hrsg.), Digital Law, 2020, S. 199 (200). 15 Vgl. Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54a Rn. 1. 16 BMJ, IT-Anwendungen in der österreichischen Justiz (Stand: August 2020), S. 9, verfügbar unter , zuletzt abgerufen am 25. 4. 2022. 17 Dazu näher Rechberger, in: Welser (Hrsg.), Neuere Privatrechtsentwicklungen in Österreich und in der Türkei 2013, S. 129 (130). 18 Siehe nur Kloiber, in: Th. Gottwald (Hrsg.), FS Schneider, S. 167 (177).

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Nach § 1 Abs. 1 ERV 2021 kann eine Erledigung (die einen Titel nach § 1 EO darstellen kann), via ERV elektronisch zugestellt werden. Fraglich ist, ob eine elektronisch übermittelte vollstreckbare Ausfertigung ihrerseits einem elektronischen Exekutionsantrag als PDF-Anhang beigefügt werden können. Schreibt die EO die Vorlage des Titels vor,19 so ist jedenfalls der (selbst angefertigte) Ausdruck der als PDF übermittelten vollstreckbaren Ausfertigung formwahrend.20 Wurde die vollstreckbare Ausfertigung in Papierform ausgehändigt, so genügt es dagegen nicht, diese schlicht einzuscannen und via ERV an das Exekutionsgericht zu übermitteln.21 Umgekehrt verlangen weder § 54 Abs. 3 noch § 54d (III.2.a)),22 dass im Falle elektronischer Übermittlung der vollstreckbaren Ausfertigung ein „Papierdokument“ an das Exekutionsgericht zu übermitteln wäre. Ist der Einschreiter Teilnehmer am ERV, so kann er selbst Ausdrucke herstellen. Angesichts der Generalklausel in § 1 Abs. 1 ERV 2006 (2021) muss ein elektronisch übermittelter Titel (§ 89a Abs. 2 GOG) mit einem (formwahrenden23) Ausdruck gleich zu behandeln sein. Zwar wird die Klausel nach § 150 Abs. 2 GeO durch Stampiglie an der Urteilsausfertigung („vollstreckbare Ausfertigung“) angebracht; § 79 Abs. 1 GOG dürfte jedoch erlauben, diese automationsunterstützt zu erstellen (sodass nach dieser Norm die Notwendigkeit für Unterschrift bzw. Beglaubigung unterbleibt).24 Folglich muss auch die elektronische Übermittlung beider Dokumente (sollte das notwendig sein oder werden – zum vereinfachten Bewilligungsverfahren sogleich) zulässig sein. Der neue § 1 Abs. 3 Z. 2 ERV 2021 scheint diese Aussicht gewissermaßen zu bestätigen. Freilich wäre eine maschinelle Erfassung der vollstreckbaren Ausfertigung als nicht-strukturiert nicht möglich; eine „händische“ Prüfung notwendig. Durch die elektronische Verknüpfung der Verfahrensdaten (sogleich III.2.b)) wird sich diese Problematik in der Praxis allerdings nur mehr selten stellen, was sogleich zum „titellosen“ vereinfachten Bewilligungsverfahren zu besprechen sein wird.

19 So nach § 54 Abs. 3 im ordentlichen Bewilligungsverfahren, zum vereinfachten Bewilligungsverfahren sogleich. 20 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54 Rn. 51/1. 21 Kloiber, in: Th. Gottwald (Hrsg.), FS Schneider, S. 167 (173); Kopie/Foto ebenso formwidrig wie PDF-Anhang im ERV: LGZ Wien 23. 7. 2009, 46 R 381/09 h; siehe nun auch § 1 Abs. 3 Z. 2 ERV 2021 für am ERV verpflichtend Teilnehmende. 22 LGZ Wien 23. 7. 2009, 46 R 381/09 h: Vorlage nach § 54d als PDF-Scan des Titels via ERV. 23 LG Linz RPflE 2002/145; vgl. LGZ Wien RPflE 2011/115. 24 Vgl. LGZ Wien RPflE 2011/115; zur zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Stampiglie: Deixler-Hübner/Rassi, EO, 33. Lfg. 2021, § 62 Rn. 4; vgl. LG Linz RPflE 2002/145: elektronische Erledigung als Anhang zum Exekutionsantrag.

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2. Das vereinfachte Bewilligungsverfahren Geregelt ist dieses entscheidend verschlankte, automationsunterstützt durchgeführte Bewilligungsverfahren in den §§ 54b ff.;25 es ist dem Antrag keine vollstreckbare Ausfertigung anzuhängen. Möglich macht diese Erleichterung insb. die Rolle der VJ als Titelregisteräquivalent. a) Keine Vorlage der vollstreckbaren Ausfertigung Die einzelnen Anwendungsvoraussetzungen des vereinfachten Bewilligungsverfahrens finden sich in § 54b.26 Es ist – obligatorisch (kein Wahlrecht)27 – immer dann anzuwenden, wenn der Antrag eine Geldforderung von max. EUR 50.000,– (im Kapital) durch Exekution auf das „bewegliche Vermögen“28 (§§ 249 – 345) hereinbringen soll. Dem Antrag ist diesfalls weder Titel noch Klausel anzuhängen (§ 54b Abs. 2 Z. 2). Diese Bestimmung verliert bei näherem Hinsehen jedoch an Brisanz; denn zahlreiche Sicherungen sollen eine missbräuchliche Inanspruchnahme dieser Erleichterungen verhindern.29 Zunächst hat der betrGl den Tag der erteilten Klausel anzugeben (§ 54b Abs. 2 Z. 1 und 2) und es werden strengere und genauere formale Anforderungen an den Antrag gestellt.30 Zum rechtsschutzmäßigen Ausgleich gegen die de facto titellose Exekutionsführung31 steht dem Verpfl mit dem Einspruch ein besonderer Rechtsbehelf zur Verfügung (§ 54c). Darin kann er monieren, dass ein den Exekutionsantrag deckender Titel bzw. eine Vollstreckbarkeitsklausel tatsächlich fehlen (§ 54c Abs. 1).32 Ein erfolgreicher Einspruch führt zur Einstellung der zunächst „vereinfacht“ bewilligten Exekution (§ 54e). Freilich kann der Verpfl darüber hinaus andere Vollstreckungshindernisse geltend machen, wobei als Rechtsbehelf insbesondere der zeitlich an sich unbefristet zulässige Einstellungsantrag zu nennen 25 Grundlegend Konecny, in: BMJ (Hrsg.), ADV-Exekutionsverfahren (ADV-E) 1995, S. 65 ff.; Mohr, ÖJZ 1995, 889; Neumayr/Nunner-Krautgasser, Exekutionsrecht, 2018, S. 98 ff.; Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54b Rn. 1 ff.; Mini, Vereinfachtes Bewilligungsverfahren, Lexis Briefings Zivilrecht (16. 2. 2022). 26 Angst/Oberhammer/Jakusch EO, § 54b Rn. 4 ff. 27 OGH EvBl 2020/23 (Mohr); davor schon Mohr, ÖJZ 1995, 889 (890); Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54b Rn. 2; siehe ferner Deixler-Hübner/Kloiber, EO, 33. Lfg 2021, § 54b Rn. 3; LG Innsbruck ExS 1996/121; LGZ Wien EFSlg 82.375. 28 Der veränderte Wortlaut nach der GREx dient der Klarstellung: ErläutRV 770 BlgNR 27. GP S. 17. 29 Für Details Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54b Rn. 1; zu den rechtspolitischen Erwägungen Konecny, in: BMJ (Hrsg.), ADV-Exekutionsverfahren (ADV-E) 1995, S. 227 ff. 30 Insb. Angaben nach § 7 Abs. 1 EO („[…] Person des Berechtigten und Verpflichteten auch Gegenstand, Art, Umfang und Zeit der geschuldeten Leistung oder Unterlassung […]“) sowie zusätzlich Angabe des Tages, an dem die Klausel erteilt wurde. 31 Im Einzelnen Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54b EO Rn. 1. 32 Zu den möglichen Einspruchsgründen Deixler-Hübner/Kloiber, EO, 33. Lfg. 2021, § 54c Rn. 11.

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ist (s. insb. § 39).33 Ein Einspruch wirkt dagegen nicht auch aufschiebend,34 sodass etwa Pfändungen auch vor der Entscheidung über den Einspruch stattfinden können (näher § 54c Abs. 3).35 b) Verfahrensautomation Justiz als (Quasi-)Titelregister (?) Die höheren formalen Anforderungen dienen dazu, dem Gericht die Prüfung allfälliger Unstimmigkeiten zu ermöglichen: hegt das Gericht demnach Zweifel an den Angaben, kann es (ohne dazu verpflichtet zu sein) Einsicht in die Verfahrensautomation Justiz (VJ) und den Titelakt nehmen.36 Damit ist auch der wesentliche Eckpfeiler37 (auch) des digitalisierten Exekutionsverfahrens angesprochen: bei der VJ handelt es sich um eine vom Justizpersonal generierte Fallverwaltungssammlung,38 ein zentrales Fallregister. In dieser werden sämtliche Verfahrensschritte der in Österreich geführten Zivil- (aber auch Straf-)verfahren erfasst,39 und insb. elektronisch gespeicherte Entscheidungen in Evidenz gehalten.40 Wie auch beim (titelschaffenden) Mahnverfahren (§§ 244 ff., 448 ZPO) handelt es sich beim vereinfachten Bewilligungsverfahren um ein besonderes, auf ADV-Basis41 gestütztes Verfahren. Beide Verfahren werden dabei im Prinzip von der Erfassung des Antrags (der Klage) bis hin zur Zustellung an den Beklagten bzw. Verpflichteten de facto voll automatisiert durchgeführt.42 So wird der elektronisch erfasste Antrag 33 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO § 54c Rn. 2/1, 5, 7 f. Zu den Einschränkungen Mohr, ÖJZ 1995, 889 (894). 34 Auch ein Aufschiebungsantrag nach § 42 scheidet aus: Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54c Rn. 11. 35 Im Vollzug sind § 249 Abs. 3, § 304 zu beachten, siehe nur Mini, Exekutionsverfahren, 3. Auflage 2015, Rn. 144 f. 36 Vgl. nur Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54b Rn. 16/1, 12/1; Mohr, ÖJZ 1995, 889 (893). 37 Meißlitzer/Starl, in: Jahnel/Mader/Staudegger (Hrsg.), IT-Recht 2020, Rn. 8/18 nennen es „Nervensystem“. 38 Zu dieser: Rechberger, in: Th. Gottwald (Hrsg.), FS Schneider 2013, S. 361 (377 ff.); Meißlitzer/Starl, in: Jahnel/Mader/Staudegger (Hrsg.), IT-Recht 2020, Rn. 8/1 ff.; Schneider/ Gottwald, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz 2013, S. 447 (451 ff.); ferner BMJ, ITAnwendungen in der österreichischen Justiz (Stand August 2020), verfügbar unter: , zuletzt abgerufen am 25. 4. 2022, S. 6; ausführlich Th. Gottwald, Einsatz der Informationstechnologie in der österreichischen Justiz, unveröff. Diss. Univ. Innsbruck 2012, S. 154 ff. 39 Meißlitzer/Starl, in: Jahnel/Mader/Staudegger (Hrsg.), IT-Recht 2020, Rn. 8/106. 40 Hornberg, JAP 2007/2008, 172 (173). 41 Also automationsunterstütze Datenverarbeitung; Rechberger, in: Th. Gottwald (Hrsg.), FS Schneider 2013, S. 361 (363): „Kernstück der Elektronisierung des österr. Zivilprozesses“; vgl. auch Schneider, ÖRPfl 1995, 15. 42 Meißlitzer/Starl, in: Jahnel/Mader/Staudegger (Hrsg.), IT-Recht 2020, Rn. 8/19; Schneider/Th. Gottwald, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz 2013, S. 447 (452); Schneider, RZ 2010, 63 (64); ders., ÖRPfl 1995, 15 (16).

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im vereinfachten Bewilligungsverfahren zunächst vom System auf Zulässigkeit geprüft und ein „Entscheidungsvorschlag“43 erstellt, der auf verfahrensrechtliche Hindernisse aufmerksam macht.44 Die letztgültige Entscheidung trifft jedoch stets das zur Entscheidung berufene Organ, was sowohl im Mahn- als auch im vereinfachten Bewilligungsverfahren der Rechtspfleger (§ 16 Abs. 1 Z. 1 lit. a, § 17 Abs. 2 RPflG) ist. Diese elektronische Verknüpfung von Verfahrensdaten in der VJ (vgl. auch § 80 Abs. 2 GOG45) etabliert funktional eine Subform eines Titelregisters:46 das Exekutionsgericht kann – statt den betrGl zur Vorlage des Titels aufzufordern (§ 54b Abs. 2 Z. 2 Satz 2, § 54d Abs. 2) – den elektronisch gespeicherten Titel aufrufen47 oder sonst in den Titelakt Einsicht48 nehmen; die VJ kann diesfalls wegen der Datenverknüpfung von Titelakt und Exekutionsantrag Fehlermeldungen auswerfen.49 Das Gericht ist an keine fixe Vorgehensweise gebunden und muss nicht zwingend die Übermittlung des „Originals“ anordnen.50 Da die einzelnen Verfahrensschritte in der VJ erfasst werden, und darin eine Verknüpfung mit dem ERV (somit elektronisch eingebrachten Verfahrensdokumenten) besteht,51 darf – für die Zwecke des österreichischen Exekutionsverfahrens (zur beschränkten Bedeutung der Klausel II.) – wohl tatsächlich davon gesprochen werden, dass ein bundesweit einheitliches, zentrales Titelregister Realität ist.

IV. Weitere Einsatzgebiete der VJ (Teil I): die Exekutionsdatenabfrage (EXDA) Die VJ hat ferner mit der Exekutionsdatenabfrage (EXDA, §§ 427 ff.) ein Instrument hervorgebracht, das die Informationsasymmetrie zugunsten des betrGl vor Einleitung eines (Titel- oder Exekutions-)Verfahrens ein Stück weit reduzieren kann. Deren erste Novellierung durch das ZZRÄG 201952 hat mit § 41a einen Rechtsbehelf eingeführt, dessen Leistungsfähigkeit zu hinterfragen ist; er soll hier den Gegenstand weiterführender rechtspolitischer Analyse bilden.

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Aus Sicht des Mahnverfahrens krit. Fasching/Konecny/Kodek, Zivilprozessgesetze, 3. Auflage 2017, § 250 ZPO Rn. 2. 44 Dazu Fasching/Konecny/Kodek, Zivilprozessgesetze, § 251 ZPO Rn. 3. 45 Seit BGBl I 2021/87 als „eJustiz“: ErläutRV 769 BlgNR 27. GP, S. 7. 46 Dazu Diskussionsentwurf, S. 106 ff. 47 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 54d Rn. 2; Schneider, ÖRPfl 1995, 15 (17). 48 Vgl. z. B. LGZ Wien RPflE 2011/115 zu einer Registerabfrage. 49 Schneider, ÖRPfl 1995, 15 (17). 50 Zu diesem Ermessen Feil, EO, 5. Auflage 2010, § 54d Rn. 1. 51 Vgl. Schneider/Th. Gottwald, AnwBl 2015, 324. 52 BGBl I 2019/38.

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1. Anzeige der Exekutionsdaten zugunsten des Gläubigers (und Schuldners) Fragt sich der Gläubiger, ob die Einleitung oder Weiterführung eines Titel- oder Exekutionsverfahrens wirtschaftlich53 sinnvoll ist, weil er Zweifel an der Bonität seines Schuldners hegt, so kann er über seinen anwaltlichen (notariellen) Vertreter (§ 427 Abs. 2) eine Exekutionsdatenabfrage vornehmen lassen. Dazu ist neben den „berechtigte[n] Zweifel[n]“ über die Bonität (§ 427 Abs. 1) eine Forderung gegen den Schuldner „glaubhaft“ zu machen. Ein Abfrageergebnis zeigt an, ob gegen den Schuldner Pfändungen beweglicher körperlicher Sachen oder ergebnislose Vollzugsversuche stattgefunden haben, oder dass innerhalb des letzten Jahres vor Abfrage ein Vermögensverzeichnis (und demnach Vollzugsschritte erfolglos geblieben waren, vgl. § 47 Abs. 1) erstellt wurde.54 Die EXDA wird zwar von externen Diensteanbietern durchgeführt, ist jedoch von der Datenlage in der VJ abhängig.55 Kurios mutet an, dass erst mit der GREx auch für „Schuldner“ die Möglichkeit geschaffen wurde, Einsicht in die „eigenen“ Exekutionsdaten zu nehmen (§ 427 Abs. 3), was ihm der „Vorbereitung eines Insolvenz-, Restrukturierungs- oder Reorganisationsverfahrens oder seiner sonstigen Entschuldung“ dienen soll.56 Freilich kann davon abgesehen jedermann Einsicht in die Verfahrensdaten von ihn betreffenden Zivilverfahren nehmen.57 2. Dogmatische Bruchlinien im Zuge fortschreitender Digitalisierung: die Einführung eines „Beendigungsantrags“ (§ 41a) und die EXDA Die Einführung der EXDA zog mit deren ersten Novellierung durch das ZZRÄG 2019 (BGBl I 2019/38) in dieser Allgemeinheit ein dogmatisches Novum nach sich: bewirkte bis dahin die vollständige Tilgung durch erfolgreiche Vollzugshandlungen iaR eine formlose Beendigung des Exekutionsverfahrens,58 so kann der Verpfl59 seit 53

Dies betonend: Billes, ecolex 2019, 34 (36); Jenny, Zak 2018, 48 (48). Im Einzelnen: Deixler-Hübner/Höllwerth, EO, 31. Lfg. 2020, § 427 Rn. 4 ff. 55 Fucik, ÖJZ 2019, 533 (533 f.); Mohr, ÖRPfl 2018, 20 (20). 56 Siehe auch ErläutRV 770 BlgNR 27. GP, S. 66 f.; Hörschläger/Pascher, Zak 2021, 166; nicht zufällig wurde in zeitlicher Nähe (RIRUG, BGBl I 2021/147; Inkrafttreten am 17. 7. 2021) mit der Restrukturierungsordnung (ReO) der präventive Restrukturierungsrahmen der RL (EU) 2019/1023 umgesetzt. 57 Dies betonend auch: ErläutRV 770 BlgNR 27. GP, S. 66 (GREx; neben [auch elektronischer] Akteneinsicht und Registerauskunft nach § 89 l GOG); siehe dazu , zuletzt abgerufen am 25. 4. 2022; zur ursprünglichen Fassung auch Mohr, ÖRPfl 2018, 20. 58 Dazu allg. RIS-Justiz RS0001072; Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 2 ff.; Petschek/Hämmerle/Ludwig, Zwangsvollstreckungsrecht, 1968, S. 87; allerdings wird von vereinzelten deklarativen Beschlüssen berichtet: ErläutRV 180 BlgNR 25. GP, S. 10; DeixlerHübner/Höllwerth, EO, 24. Lfg. 2017, § 313 Rn. 21. 54

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2019 nach § 41a die (rein deklarativ wirkende) beschlussmäßige Feststellung dieser Beendigung beantragen.60 Dieser Beschluss kann vom Gericht jederzeit abgeändert werden, und ist folgerichtig nicht anfechtbar; vielmehr steht erst gegen einen Änderungsbeschluss ein Rekurs offen.61 Mag die Einführung des § 41a dogmatisch eine Neuheit bedeuten, so ist er wohl vor dem konkreten Hintergrund eher redundant, sein Mehrwert überschaubar: Hintergrund ist, dass bei einer Exekutionsdatenabfrage nach § 427 Abs. 1 Z. 162 u. a. solche Verfahren nicht auszuweisen sind, die „[…] unter vollständiger Befriedigung des Gläubigers beendet sind“. Nach den Materialien63 zum ZZRÄG 2019 soll der Schuldner damit die Richtigstellung in der VJ erwirken können. Zunächst scheint m. E. fraglich, welchen Anreiz der Verpfl hat, die Verfahrensdaten gem. § 41a richtigstellen zu lassen. Zudem hat das Gericht an sich unabhängig von dessen Antrag neue Verfahrensschritte wie die Tilgung zu erfassen.64 Dass der Beschluss nach § 41a nicht von Amts wegen zu erlassen ist,65 tut dieser Ansicht auch nach der aktuellen Rechtslage keinen Abbruch, ist dieser doch genauso wenig konstitutiv wie die Registererfassung selbst. „Konstitutiv“ für die Beendigung ist vielmehr der Akt der Tilgung.66 Freilich könnte das Gericht von einer Tilgung nichts erfahren haben, etwa weil sie außerhalb des Verfahrens stattfand. Allerdings ist § 41a gerade dann nicht anwendbar; ggf. kann der Schuldner die Einstellung beantragen, welche genauso in der VJ zu erfassen wäre.67

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Dem offenen Wortlaut gemäß auch der betrGl: Mohr, ÖRPfl 2019, 20 (23 mit Fn. 4). Dessen Anreiz zur Antragstellung bleibt wohl ebenso fraglich. 60 Zur Konkurrenz mit Bestimmungen, die diesfalls sogar eine Einstellung vorsehen (insb. § 129 Abs. 1, § 312 Abs. 2 EO) Deixler-Hübner/Deixler-Hübner/Meisinger, EO, 33. Lfg. 2021, § 41a Rn. 2. 61 Deixler-Hübner/Deixler-Hübner/Meisinger, EO, 29. Lfg. 2020, § 41a Rn. 8; Mohr, ÖRPfl 2019, 23 (24). 62 Das ZZRÄG 2019 präzisiert, dass nur solche „beendete“ Verfahren nicht anzuzeigen sind, deren Beendigung auf die Tilgung zurückgeht: ErläutRV 560 BlgNR 26. GP, S. 3. 63 ErläutRV 560 BlgNR 26. GP, S. 3 (ZZRÄG 2019). 64 So wohl Mohr, ÖRPfl 2018, 20 (21); vgl. Fucik, ÖJZ 2019, 533 (533 f.); ders., ÖJZ 2019, 245 (245); vgl. auch JAB 1741 BlgNR 25. GP, S. 4 f., der die EXDA in das IRÄG 2017 eingefügt hat. 65 Deixler-Hübner/Deixler-Hübner/Meisinger, EO, 33. Lfg. 2021, § 41a Rn. 6; die Antragsgebundenheit scheint mit Blick auf § 39 Abs. 2 (freilich zu Einstellungsgründen) nicht unbedingt außergewöhnlich; vgl. aber Mohr, ÖRPfl 2019, 23; de lege ferenda noch Mohr, ÖRPfl 2018, 20 (21). 66 Zu Recht i.d.S. Deixler-Hübner/Deixler-Hübner/Meisinger, EO, 33. Lfg. 2021, § 41a Rn. 2. 67 Etwa nach § 39 Abs. 1 Z. 6 bzw. (m. E. passender) § 40: Angst/Oberhammer/Jakusch EO, § 39 Rn. 41; Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 4. Auflage 1993, S. 122.

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3. Verhinderung von Mehrfachexekutionen durch die VJ? Mit Blick auf den Diskussionsentwurf ist zu untersuchen, ob bzw. wie sonst Mehrfachexekutionen durch das digitale Titelregister (richtiger wohl: durch Registereinträge in der VJ) vermieden oder eingedämmt werden können.68 Der Antrag nach § 41a hat richtigerweise nur für das einzelne Exekutionsverfahren Bedeutung: wird in der VJ z. B. der Registerschritt „zl“ (für Zahlung an den Gerichtsvollzieher69) gesetzt, so betrifft das an sich nur das anhängige und von der Tilgung betroffene Exekutionsverfahren. Keinesfalls wird damit das Erlöschen des aus dem zugrundeliegenden Titel erfließenden Vollstreckungsanspruchs festgestellt.70 Für den deutschen Leser sei erwähnt, dass bei (teilweiser) Tilgung keine Vermerke auf der vollstreckbaren Ausfertigung vorgenommen werden und nach vollständiger Tilgung keine Übergabe an den Verpfl stattfindet (anders: § 757 dZPO).71 Das ergibt sich zunächst aus der gerichtlichen Zuständigkeit für die Exekutionsbewilligung (II.); der Titel verbleibt dort und ein „Papiertitel“ wird nach Bewilligung dem betrGl (sogar) zurückgegeben.72 Neben der beliebigen Vervielfältigung elektronisch zugestellter vollstreckbarer Ausfertigungen durch den betrGl (oben III.1.) scheint auch diese Rückgabe an den betrGl den Schutz des Verpfl vor mehrfacher (ungerechtfertigter) Inanspruchnahme geradezu zu sabotieren. Zusätzlich gilt zu beachten, dass das Exekutionsgericht zunächst nicht zu prüfen hat, ob der (vollstreckbare) Anspruch (noch) zu Recht besteht.73 Das bedeutet indes nicht, dass der Schuldner einem Bereicherungszwecken74 dienenden neuerlichen Exekutionsantrag schutzlos ausgesetzt wäre. Zunächst wäre ein ne bis in idem ein Hindernis für die neuerliche Exekution, sofern derselbe Anspruch aus demselben Titel gegen dieselbe Person, mit demselben Exekutionsmittel und auf dasselbe Exekutionsobjekt Exekution geführt werden soll.75 Abgesehen von diesem engen Anwendungsfeld des Rechtskrafthindernisses wäre nach manchen Autoren ein neuerlicher Antrag wegen fehlenden Vollstreckungsinteresses76 (auch amtswe68

Vgl. Diskussionsentwurf, S. 110 f.; ferner Stamm, S. nnn in diesem Band. Mohr, ÖRPfl 2018, 20 (21). 70 Nicht einmal § 40 EO vermag dies zu bewirken: Neumann, System der Executionsordnung 1900, S. 406 u. a. 71 Für die Einführung dieses Mechanismus ins österreichische Recht einst R. Kralik, GZ 1931, 2 (8). 72 Neumayr/Nunner-Krautgasser, Exekutionsrecht, 2018, S. 101. 73 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 7 Rn. 4; vgl. auch § 3 Rn. 21; ferner OGH 3 Ob 102/ 06 f.; 3 Ob 160/93; Schneider, ÖRPfl 1995, 15 (17). 74 Notfalls stünde eine Kondiktion oder ein Schadenersatzanspruch zu: Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 6; Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 148. 75 Instruktiv Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 3 Rn. 39; vgl. auch OGH 3 Ob 264/01x. 76 Als besondere Exekutionsvoraussetzung sehen diese insb. Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 1993, S. 58 f.; Rechberger/Simotta, Exekutionsverfahren 69

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gig) ab- bzw. zurückzuweisen;77 subsidiär wäre der Verpfl auf die Oppositionsrechtsbehelfe (§§ 40, 35) zu verweisen.78 Dogmatisch stringenter scheint es, die neuerlich bewilligte Exekution wegen Überdeckung (vgl. § 41 Abs. 2) zur „Einschränkung“ zu bringen.79 Ist die Exekution soweit bewilligt worden, dass sie einen zur Gänze getilgten Anspruch hereinbringen soll, wäre sie „auf null“ einzuschränken, damit also einzustellen.80 Gleich dem fehlenden Vollstreckungsinteresse81 wäre auch dieser Grund amtswegig, uzw. auch im Antragsstadium82 wahrzunehmen, sofern der Grund aktenkundig ist. Das Exekutionsgericht könnte im Falle eines neuerlichen Exekutionsantrags wohl nur bei entsprechenden „Verdachtsmomenten“ und nachfolgender Recherche in der VJ auf eine insofern ungerechtfertigte Exekutionsführung schließen. Jedenfalls kann sich – und sei es nach Antrag des Verpfl – gerade aus der VJ und einer Abfrage über die Geschäftszahl des Titels und damit verknüpfter Verfahren ergeben, dass die Exekution wegen vorangegangener Tilgung überflüssig, und damit einzustellen ist, sodass ein (auch) über § 41a bewirkter Vermerk in der VJ zur Klärung beitragen kann. Selbst wenn man das Gericht nicht zu näheren Nachforschungen verpflichtet sieht,83 und eine automatische Verknüpfung der Verfahrensdaten (i.S.e. Fehlermeldung, vgl. III.) nicht bestehen dürfte, wäre gerade dieser Schritt mit IV.4. anzudenken, damit bereits in diesem Stadium „überflüssigen“ (und im Ergebnis materiell rechtswidrigen84) Exekutionen Einhalt geboten wird. Freilich kann der Vermerk einer exekutiven Tilgung nicht dasselbe rechtliche Gewicht haben kann wie ein rechtskräftiges Urteil nach § 35 EO. Hier dürften sich Friktionen zur Wahrnehmung des stattgebenden Oppositionsurteils ergeben, weil dieses nach manchen erst per Reklamation des Verpfl zur Einstel-

1989, Rn. 97; Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 44, § 3 Rn. 23, 44; Laschober, in: Clavora/Kapp/Mohr (Hrsg.), Jahrbuch Insolvenzrecht und Sanierungsrecht 2017, 2018, S. 411 (414); OGH 3 Ob 98/95; 3 Ob 2231/96a; diff. Petschek/Hämmerle/Ludwig, Zwangsvollstreckungsrecht, 1968, S. 19; a. M. (mit Nuancen) Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 6; Neumayr/Nunner-Krautgasser, Exekutionsrecht, 2018, S. 50. 77 Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 109; Derntl, SozSi 2015, 170 (174 f.); Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 3 Rn. 39, 23; in diese Richtung auch OGH 3 Ob 9/96. Die Frage nach der Rechtsfolge (Ab- oder Zurückweisung) dürfte nicht ganz einheitlich beantwortet werden, soll hier aber nicht näher beleuchtet werden. 78 Rechberger/Oberhammer, Exekutionsrecht 2009, Rn. 109. 79 OGH RZ 1936, 200: „spätere Exekution einzustellen […], wenn sie sich mit Blick auf frühere Exekutionen als offenbar überflüssig darstellt“. 80 In diesem Sinne auch Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 41 Rn. 8; vgl. auch R. Kralik, GZ 1931, 2 (6). 81 So sieht Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 1993, in § 41 Abs. 2 freilich einen Anwendungsfall fehlenden Vollstreckungsinteresses. 82 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 8. 83 Zur hier favorisierten Lösung über § 41 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 41 Rn. 12. 84 Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 1993, S. 21.

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lung führen würde.85 Das allerdings überrascht umso mehr, als eben bereits die Tilgung u. U. zur amtswegigen Verneinung des Vollstreckungsanspruchs bzw. Einstellung führen kann. Beide Fälle wären insofern gleich zu behandeln, was auch für die automatische Verknüpfung (IV.4.) gelten muss. In beiden Fällen steht die Frage des „Wissens“ über ein vorhandenes Hindernis im Zentrum – dieses Wissen kann (könnte) gerade eine Fortentwicklung der VJ automatisiert bereitstellen. 4. Weiterentwicklung des § 41a EO zu § 39 Abs. 1 Z. 6a EO de lege ferenda? Die angesprochene Bestimmung des § 41a bietet ferner Anlass für weiterführende rechtspolitische Überlegungen. Zum einen scheint es zur richtigen Erfassung der Exekutionsdaten stimmiger, zugunsten des Verpfl analog § 89j GOG einen Antrag auf Richtigstellung der die eigene Person betreffenden Verfahrensdaten in der VJ einzuführen (z. B. in oder bei § 89l GOG zur Registerauskunft). Zum anderen wäre anzudenken, § 41a zu einem Antrag auf eine rechtskraftfähige Feststellung der „Beendigung“ (bzw. Tilgung) auszubauen: Schon die EONov 2014 gab dem Verpfl und dem Drittschuldner mit § 312 Abs. 2 i. d. F. GREx bei vollständiger Tilgung durch den Drittschuldner, und damit eigentlich nach Beendigung,86 einen Einstellungsantrag, um die Rechtssicherheit zu erhöhen.87 Unklar bleibt, welchen Status das Verfahren zwischen faktischer Tilgung (Beendigung?) und Einstellung nach § 312 Abs. 2 EO hat, weil die Antragslegitimierten überhaupt nur dann Anlass zur Antragstellung haben werden, wenn Streit mit dem betrGl darüber herrscht, ob vollständig befriedigt wurde, oder nicht.88 Gerade in solchen Fällen scheint es gerechtfertigt, dem Verpfl einen „Einstellungsantrag“ einzuräumen.89 Dementsprechend könnten § 41a und § 312 Abs. 2 zu einem einheitlichen Einstellungsgrund (etwa als § 39 Abs. 1 Z. 6a) für streitige Fälle einer zwangsweise (!) bewirkten Tilgung (nach Maßgabe des § 41a) zusammengefasst werden. Die Schwäche des § 41a gegenüber § 312 Abs. 2 (und anderen Einstellungsgründen, vgl. § 45 Abs. 3 bzw. § 5590) liegt darin, dass das Gericht keine Kognition hat, über Streitfälle 85 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 35 Rn. 108; diesem folgend Deixler-Hübner/Deixler-Hübner, EO, 34. Lfg. 2022, § 35 Rn. 201; für amtswegige Wahrnehmung im Bewilligungsverfahren etwa Dolinar, JBl 1979, 528 (537, 538); Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 1993, S. 147; in diese Richtung wohl auch z. B. OGH 3 Ob 13/87; R. Kralik, GZ 1931, 2 (6 f.). 86 Angst/Oberhammer/Oberhammer, EO, §§ 312, 313 Rn. 1; vgl. aber Mohr, ÖRPfl 2018, 20 (21). 87 ErläutRV 180 BlgNR 25. GP, S. 10 (EONov 2014). 88 In diese Richtung wohl ErläutRV 180 BlgNR 25. GP, S. 10 (EONov 2014). 89 Dolinar, JBl 1975, 528 (536) hält diesfalls noch eine Oppositionsklage für zulässig, die dann freilich weitergehende Wirkungen entfaltet (IV.3.). 90 OGH SZ 46/120.

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verbindlich zu entscheiden: Das ergibt sich zunächst daraus, dass keine Einvernehmung stattfindet91 ferner der Beschluss jederzeit abänderbar ist. fraglich ist, ob das bei einer (dann rechtskraftfähigen) Abänderung möglich wäre (IV.2.). So verbleibt dem Verpfl allenfalls das Oppositionsgesuch (§ 40); sind danach allerdings Tatsachenfragen streitig, ist er auf den Rechtsweg zu verweisen.92 Deren Klärung wäre aber gerade bei der exekutiv bewirkten Tilgung93 wie bei den (meisten) Einstellungsgründen im Exekutionsverfahren selbst besser aufgehoben und sie könnten nach § 45 Abs. 3 und § 5594 geklärt werden.95 Wohl ließe sich – wie auch nach dem heutigen § 41a – mit einem Beschluss nach § 39 Abs. 1 Z. 6a nicht per se jede künftige Exekution auf Grund desselben Titels verhindern wie bei einem rechtskräftigen, stattgebenden Oppositionsurteil (zur Vorgehensweise oben IV.3.).96 Es wäre systemwidrig, diesem Beschluss dieselbe Wirkung wie der Opposition (IV.3.) bzw. abseits eines anhängigen Exekutionsverfahrens einer Feststellungsklage97 angedeihen zu lassen. Analog zur deutschen Diskussion98 wären aber weitergehende Digitalisierungsschritte anzudenken: so könnten Oppositionsurteile zum Anlass genommen werden, zum betroffenen Titel in der VJ einen Vermerk zu setzen, dass der dem Titel zuzuordnende Anspruch erloschen ist, was (folgt man der oben ventilierten Ansicht, IV.3.) für die nachfolgende Exekution die amtswegige Abweisung bedeutete. Für Beschlüsse nach § 39 Abs. 1 Z. 6a könnte deren Registervermerk und automatisierte Verknüpfung mit der Titelgeschäftszahl zu einer automatischen „Fehlermeldung“ (III.2.b)) führen, und damit eine Bewilligung und unnötigen Verfahrensaufwand im Falle erneuter Antragstellung verhindern. Es zeigt sich damit zumindest, dass fortschreitende Digitalisierungstendenzen Anlass geben, bisherige rechtspolitische Entscheidungen zumindest zu überdenken.

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ErläutRV 560 BlgNR 26. GP, S. 3 (ZZRÄG 2019). Zu möglichen Inkongruenzen Heller/Berger/Stix, EO I, 1969, S. 415. 93 Damit wäre auch die Frage, ob etwa bei streitigen Tatsachen über einen außergerichtlichen Sachverhalt (z. B. Tilgung, Verzicht zu § 39 Abs. 1 Z. 6) § 40 analog anzuwenden ist, nicht einschlägig; dafür etwa Heller/Berger/Stix, EO I, 1969, S. 507; LG Linz RPflE 2001/ 121; a. M. etwa Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 85. 94 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 39 Rn. 85; Heller/Berger/Stix, EO I, 1969, S. 500; OGH SZ 46/120; GlUNF 1317. 95 Vgl. hier R. Kralik, GZ 1931, 2 (5). 96 Allg. zur beschränkten Wirkung der Einstellung Holzhammer, Österreichisches Zwangsvollstreckungsrecht, 4. Auflage 1993, S. 123 u. a. 97 Zur Wirkung eines Feststellungsurteils über das Erlöschen des Anspruchs zur Einstellung in einem neuerlichen bzw. nachfolgenden Exekutionsverfahren Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 35 Rn. 11. 98 Dazu Stamm, S. nnn in diesem Band. 92

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Kevin Labner

V. Weitere Anwendungsgebiete der VJ (Teil II): elektronisches Vermögensverzeichnis und Pfändungsregister Weitere praktisch bedeutsame Anwendungsfelder der VJ sind das elektronische Vermögensverzeichnis sowie das Pfändungsregister. Unter den Voraussetzungen des § 47 hat der Gerichtsvollzieher mit dem Schuldner ein elektronisch zu erstellendes Vermögensverzeichnis anzufertigen.99 Dieser Schritt hat insb. dann zu erfolgen, wenn Pfändungsversuche auf bewegliche körperliche Sachen erfolglos geblieben sind (§ 47 Abs. 1 Z. 1 EO). Das Vermögensverzeichnis wird sodann in der VJ zentral gespeichert, sodass insb. Gerichte und Gerichtsvollzieher es bundesweit einsehen können.100 Die Informationsasymmetrie mit Blick auf pfändbare Vermögenswerte kann das ADV-basierte101 Pfändungsregister (§ 254 Abs. 1) reduzieren. In dieses hat das Vollstreckungsorgan sämtliche vorgenommenen Fahrnispfändungen einzutragen. Kann der Gläubiger glaubhaft machen, dass er über einen Titel verfügt und (ähnlich der Stoßrichtung bei der Exekutionsdatenabfrage) behauptet er, eine Exekution einleiten zu wollen, steht ihm nach § 255 Einsicht in das Pfändungsregister zu.102

VI. Überblick: Internetauktionen, Digitalisierung in der Forderungsexekution sowie die neue Bestimmung über die Verwertung von Rechten an digitalen Währungen Bei der Verwertung von Fahrnissen spielen digitale Anwendungen insb. im Bereich der Versteigerung (sonstigen Veräußerung) von beweglichen Sachen eine Rolle. Feilzubietende Vermögensgegenstände werden grundsätzlich auf einer eigenen Internetplattform103 zugänglich gemacht. Das Justizressort verspricht sich daraus insb. höhere Erlöse, das Abstellen von Bieterabsprachen sowie eine bessere Verwertungschance.104 99 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 47 Rn. 38 ff.; zum Fernzugriff auf die VJ durch Gerichtsvollzieher Rechberger, in: Welser (Hrsg.), Neuere Privatrechtsentwicklungen in Österreich und in der Türkei 2013, S. 129 (134). 100 Angst/Oberhammer/Jakusch, EO, § 47 Rn. 38/2. 101 Angst/Oberhammer/Mohr, EO, § 254 Rn. 1. 102 LG Klagenfurt ÖRPfl 2015, 49: vollstreckbarer Zahlungsbefehl und Absicht, ein Exekutionsverfahren einzuleiten; Deixler-Hübner/Mini, EO, 32. Lfg. 2021, § 255 Rn. 3. 103 Versteigerungsedikt: Schneider/Gottwald, in: Pilgermair (Hrsg.), Wandel in der Justiz 2013, S. 447 (460). Auch für Österreich findet sich diese Plattform auf , zuletzt abgerufen am 25. 4. 2022. 104 BMJ, IT-Anwendungen in der österreichischen Justiz (Stand: August 2020), S. 15, verfügbar unter , zuletzt abgerufen am 25. 4. 2022.

Digitalisiertes Exekutionsverfahren als Brücke zw. Technik u. Dogmatik

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Bei der Forderungsexekution erfolgt die Pfändung durch gerichtliches Doppelverbot (§ 294 Abs. 1). Aus Digitalisierungsgesichtspunkten ist hier die ADV-basierte105 Drittschuldnerabfrage erwähnenswert (§ 295 Abs. 5). Der betrGl kann unter Angabe des Geburtsdatums des Verpfl den Antrag stellen, dass das Gericht durch elektronische Anfrage beim Dachverband der Sozialversicherungsträger in Erfahrung bringen möge, ob der Verpfl sozialversicherungspflichtiges Einkommen bezieht. Abseits davon spielt die Digitalisierung in der Forderungsexekution insofern eine Rolle, als Zahlungsverbote (§ 294 Abs. 1) an Kredit- und Finanzinstitute (§ 1 Abs. 1, 2 BWG) als häufige Drittschuldner im ERV zuzustellen sind, nachdem Banken gem. § 89c Abs. 5 Z. 3 GOG zur Teilnahme verpflichtet sind. Im Zuge der bereits mehrfach erwähnten GREx wurde ferner bei der Exekution auf Vermögensrechte – und damit solche Rechte, die weder Liegenschaften, Fahrnisse noch Forderungen sind (§ 326 Abs. 1) – ausdrücklich darauf eingegangen, dass darunter auch Rechte aus virtuellen Währungen zu verstehen sind. Inwiefern hier für die Exekution auf Bitcoins und Co tatsächlich Rechtssicherheit geschaffen wurde, sei an dieser Stelle jedoch dahingestellt (zur weiteren Vorgehensweise vgl. §§ 326 ff. – abhängig davon, ob ein Verwalter zu bestellen ist).106

VII. Zusammenfassung in Thesen (1) Die EO kennt mit dem vereinfachten Bewilligungsverfahren de facto titellose Exekutionsverfahren. (2) Das Exekutionsverfahren operiert mit Hilfe eines „Titelregisters“, das gerade bei der automatisierten Prüfung pathologischer Exekutionsanträge unterstützt. (3) Die EXDA bringt neben einem zusätzlichen Digitalisierungstool zugunsten des Gläubigers auch einen (zu hinterfragenden) neuen Rechtsbehelf zur Feststellung der Tilgung durch ein Exekutionsverfahren und zur Richtigstellung der Exekutionsdaten (§ 41a). (4) Anzudenken wäre, die verschiedenen Einstellungs- und Beendigungsfeststellungsanträge zu einem einheitlichen Rechtsbehelf zusammenzufassen, und die Information über die Befriedigung eines Anspruchs für die automatisierte Prüfung fruchtbar zu machen.

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Vgl. nur Meißlitzer/Starl, in: Jahnel/Mader/Staudegger (Hrsg.), IT-Recht 2020, Rn. 8/ 108; Schneider, ÖRPfl 1995, 15 (19); § 89h GOG, § 1 DrittschuldneranfrageV, BGBl 1986/ 452. 106 Die ErläutRV 770 BlgNR 27. GP, S. 51 betonen lediglich, dass (insb.) ein Verwalter auch auf „Krypto-Assets“ greifen können soll; vgl. zum ME Trenker, ecolex 2021, 317 (319 f.); Rassi, ecolex 2021, 1070 (1070 ff.).

Schluss

Mein persönliches Résumé der Tagung Von Axel Adrian Gewissermaßen als Schlusswort des Tagungsbandes möchte ich mein persönliches Résumé, welches ich bereits spontan am Ende der Tagung mündlich gezogen habe, hier schriftlich wiedergeben, um einige Gesichtspunkte zu benennen, die meines Erachtens die Diskussionen auf der Tagung geprägt haben. In Teil 1 wurde für mich deutlich, dass durch Herrn Präsidenten Dr. Dickert und die Justiz ein Reformbedarf festgestellt wurde und es nun vor allem um die Diskussion der richtigen Reform- und Digitalisierungsmaßnahmen gehen muss. Auch breiten sich z. B. neue Strukturen der Rechts- oder besser Regeldurchsetzung durch Private immer mehr auch in Bereichen aus, die bislang noch Domänen der Justiz waren, wie Herr Prof. Hofmann aufzeigte. Die staatliche Justiz sollte mit der Entwicklung der Digitalisierung Schritt halten, um ihre Handlungsfähigkeit in angestammten Bereichen zu behalten und auch bei der Regeldurchsetzung durch Private übergeordnet Rechtsschutz zu gewähren. Bei Teil 2 der Tagung habe ich den Wunsch vernommen, dass die Justiz bei der Diskussion von Bürgerportalen, Konfliktmanagementsystemen und beschleunigtem Onlineportal die Richterschaft, die Wissenschaft aber auch die Anwaltschaft und auch die Bürger mit einbinden möge, da es um eine Schnittstelle geht, von der Justiz, Richterschaft, Anwaltschaft und eben rechtssuchende Bürger betroffen sind. Technische Lösungen sollten einen breiten Zugang zum Recht ermöglichen. Je einfacher aber Eingaben der Bürger möglich sind, desto zahlreicher dürften diese werden. Daher sollten diese Eingaben auch möglichst, z. B. durch Expertensysteme – also sog. GOFAI (die „alte KI“) – automatisiert verarbeitet werden. Wie langwierig und aufwändig die Installation eines Bürgerportals mit angeschlossenem Expertensystem ist, konnte beispielhaft an Elster und dem Risikomanagementsystem der Finanzverwaltung demonstriert werden, wobei im Wesentlichen unproblematische Fälle automatisiert werden können. Schwieriges muss weiter manuell bearbeitet werden. Mit jahrelanger Erfahrung ist es der Finanzverwaltung in Bayern möglich, ca. 10 % der Steuerfestsetzungen vollautomatisch durchzuführen und die entsprechenden Einkommensteuerbescheide zu erlassen. Bei der Idee eines kooperativ zu erarbeitenden Basisdokumentes zur Strukturierung des Prozessstoffes wird die Notwendigkeit einer engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Informatik deutlich. Die Einführung eines spezifizierten Dokumentenformates zur Strukturierung des Prozessstoffes

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allein kann für eine maschinelle Weiterverarbeitung nicht ausreichen. Dies muss zusätzlich mit Annotations- und Formalisierungstechniken aus der Informatik kombiniert werden, um strukturierte Datensätze im Sinne der Informatik zu erhalten. Nach Teil 3 ist zu betonen, dass die Idee der Automatisierung von Entscheidungsprozessen vielversprechend ist, wie die Beiträge der Herren Prof. Kohlhase, Schröder und Maier von der technischen Fakultät nahelegen. Diese Idee sollte dadurch verfolgt werden, dass ein und dieselbe Aufgabenstellung gleichzeitig mit verschiedenen Teilgebieten der Informatik (bzw. der sog. KI) in Kombination erforscht wird. Spezifische, aufgrund ihrer Geeignetheit erst besonders auszuwählende, juristische Aufgabenstellungen sollten in Kombination von Korpuslinguistik, Wissensrepräsentation und -verarbeitung, automatisierten Schlussverfahren und auch von Machinelearning und Deeplearning bearbeitet werden. Schwächen des einen Teilgebietes in einigen Aspekten der spezifischen Aufgabenstellung können so mit den Stärken anderer Teilgebiete ausgeglichen werden. Dieses Vorgehen ist zwar aufwändiger, aber auch erfolgsversprechender. Der Erfolg bei der Umsetzung dieser Idee hängt davon ab, dass Menschen aufwändig Wissen über die spezifischen juristischen Aufgabenstellungen in maschinenlesbare Repräsentationen formalisieren und zusätzlich möglichst viele Daten für die spezifische Aufgabenstellung aufbereiten. Auch deswegen ist die Erforschung der Möglichkeit einer maschinellen Anonymisierung, wie diese Frau Prof. Evert vorgestellt hat, so wichtig, damit insbesondere anonymisierte Urteile in großer Zahl als Datenbasis überhaupt verfügbar gemacht werden. Schließlich ist es bei rechtswissenschaftlichen Aufgabenstellungen besonders wichtig, am Ende auch die mit Maschinen erzeugten Ergebnisse genau zu evaluieren. Der Blick nach China zeigt, dass menschliches Zusammenleben durch Technik, wie am Beispiel des Social Credit Systems erkennbar, geregelt werden kann, also mit technisch organisierten Sanktionen statt mit Rechtsregeln. Fraglich ist, wie weit ähnliche Effekte auch bei uns bereits festzustellen sind, wenn große Player Teilnahmebedingungen einfach faktisch und technisch durchsetzen. Andererseits zeigt Chinas Internetcourt, dass jedenfalls der Wille besteht, auch Entscheidungen nach Rechtsregeln automatisch zu treffen. Ob dies und wie dies (ob tatsächlich mit KI) funktioniert, sollte erst noch genau erforscht werden. Der verfassungsrechtliche Rahmen in Deutschland dürfte so auszulegen sein, dass automatisierte Gerichtsentscheidungen im Zivilrecht nicht zulässig sind, jedenfalls aber nicht gewünscht werden. Die Justiz im Zivilprozess dürfte dabei übrigens anders zu beurteilen sein, als die Finanzverwaltung. Die Hinweise auf §§ 88 und 155 AO und auf § 35a VwVfG, wonach vollautomatische Bescheide sogar in der Eingriffsverwaltung gestattet sind, wurden diskutiert. Solche Normen auch in der ZPO für den automatischen Erlass von Urteilen einzuführen, wurde im Ergebnis aber abgelehnt.

Mein persönliches Résumé der Tagung

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Deutlich wurde, dass es vielmehr um die Unterstützung der Richterinnen und Richter, also nur um Assistenzsysteme, gehen soll. Substitutionssysteme sind abzulehnen. Wie weit Assistenzsysteme gehen können oder gehen sollten, bleibt dabei weiter in der Diskussion. Technisch könnte es in Zukunft insbesondere um sog. XAI, also explainable AI gehen. In Teil 4 konnten die Vor- und Nachteile von Videoverhandlungen nachvollzogen werden und zwar sowohl aus Sicht der Psychologie mitsamt interessanten Vorschlägen für „good practice“, aber auch aus Sicht von Frau Dr. Grommes, die damit schon als Zivilrichterin umfangreiche Erfahrungen sammeln konnte. Auch konnte das System der BNotK bei der online-GmbH-Gründung, die auch als hybride Sitzung konzipiert werden kann, eine Idee geben, wie Videoverhandlungen im Zivilverfahren rechtlich und technisch eingeordnet werden können. Wichtig ist die technische Sicherheit der Verfahren gegen „Eindringlinge“ bei nichtöffentlichen Sitzungen, sowie die Sicherstellung des Abhörverbotes und der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten auch in öffentlichen Sitzungen. Aus zivilrichterlicher und psychologischer Sicht, sowie aus notarieller Sicht zum Verbraucherschutz, eignen sich im Übrigen nicht alle juristischen Aufgabenstellungen für Videoverhandlungen. So erscheint z. B. eine Gesellschaftsgründung und Registeranmeldung mit gleichgerichteten Interessen geeignet, der Abschluss eines Verbrauchervertrages, wie z. B. eines Bauträgervertrages, erscheint dagegen als nicht geeignet. In Teil 5 zeigt Herr Prof. Stamm auf, dass eine weitgehende Digitalisierung gerade bei der Zwangsvollstreckung sinnvoll sein kann, obwohl diese im Vergleich zum Erkenntnisverfahren oft stiefmütterlich behandelt wird. Künftig sollte eine grundlegende Reform der Zwangsvollstreckung erwogen und ein digitales Titel- und Vollstreckungsregister mit einem zentralen Vollstreckungsgericht, vergleichbar dem Portal Elster, diskutiert werden. Ein Fahrzeugregister, nach dem Vorbild des Grundbuches, könnte eine digitale Pfändung von Kraftfahrzeugen ermöglichen. Eine digitale Immobiliarvollstreckung wäre über eine Verknüpfung des Titelregisters mit dem Grundbuch denkbar, ebenso, wie aufgezeigt wurde, dass juristisch eine Reform der Rechtsbehelfe möglich scheint. Herr Dr. Labner erläuterte das österreichische sog. digitalisierte Exekutionsverfahren und kommt zum Ergebnis, dass Österreich bereits eine „Subform eines Titel- und Klauselregisters“ mit zentraler Stelle für ganz Österreich kennt. Damit dürfte m. E. Österreich also bei der Digitalisierung der Zwangsvollstreckung weiter sein als Deutschland. Herr Brunner sieht aus Sicht der Gerichtsvollzieher schließlich erhebliche Synergieeffekte bei der Digitalisierung der Zwangsvollstreckung und zeigt auf, welche Verfahrensschritte, wie z. B. Auftragserteilung und elektronische Kommunikation bereits in welcher Form digitalisiert sind und wie sich die Zwangsvollstreckung

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im Laufe der Zeit verändert und noch verändern wird. Eine notwendige Verknüpfung zentraler digitaler Bücher, wie des Grundbuches, bleibt abzuwarten, wie auch zu klären bleibt, wie digitale Werte, wie z. B. Bitcoins, gepfändet und verwertet werden können. Herr Brunner wörtlich: „Nur wenn staatliche Vollstreckung stark ist, kann Rechtsdurchsetzung durch Private ,durch die Hintertür‘ verhindert werden.“ Auch Frau Strauß für die Rechtspfleger und Herr Graetz für die Gerichtsvollzieher betonen ebenso, dass die Zwangsvollstreckung in staatlicher Hand bleiben muss. Fazit: Die Referenten knüpfen am Ende der Tagung zu Recht wieder an den Vortrag von Prof. Hofmann vom Anfang an, der bereits die sich ausbreitende Regeldurchsetzung durch Private problematisierte. Es zeigt sich m. E., wie wichtig es ist, die Justiz bei der Digitalisierung zu unterstützen, um bei den vielschichtigen Entwicklungen der digitalen Transformation unter anderem auch sicherzustellen, dass der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum staatlichen Recht, die Rechtsgewährleistung und der rechtsstaatliche Grundsatz der Herrschaft des Rechts sich gegen etwaige nachteilige Entwicklungen behaupten können. Es ist allerdings noch viel interdisziplinäre Forschungsarbeit zu leisten, bis Bürgerportal, Expertensysteme, Onlineverfahren, Entscheidungsassistenten, Videoverhandlungen oder auch eine Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung überhaupt greifbar werden können bzw. umfassend verstanden sind. Gerade an der FAU versuchen wir in Sachen Legal-Tech auch in Zukunft einen Schwerpunkt zu setzen bei Fragen der Digitalisierung von Verfahren staatlicher Institutionen. Ich denke, unsere interdisziplinäre Tagung hat dazu vielleicht schon ein wenig beitragen können. Dafür darf ich allen Referentinnen, Referenten, Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Stelle ganz herzlich Danke sagen. Vielen Dank! Es liegt noch viel Forschung vor uns. Packen wir es also weiter an!

Autorenverzeichnis Adrian, Axel, Prof. Dr., Honorarprofessor für Rechtstheorie und Rechtsgestaltung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Barthel, Holger, Bayerisches Landesamt für Steuern (BayLfSt) Brügmann, Cord, Dr., Rechtsanwalt und Politikerberater in Berlin Brunner, Karlheinz, Bundesvorsitzender des Deutschen Gerichtsvollzieher Bundes e.V. und Gerichtsvollzieher in Heidelberg Dickert, Thomas, Dr., Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg Dykes, Nathan, M.A., Doktorand am Lehrstuhl für Korpus- und Computerlinguistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Evert, Stephanie, Prof. Dr., Inhaberin des Lehrstuhls für Korpus- und Computerlinguistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Flüchter, Annedore, Dr., Vizepräsidentin des Landgerichts Hagen Funke, Andreas, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Gesk, Georg, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für chinesisches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Osnabrück Greger, Reinhard, Prof. Dr., Richter am Bundesgerichtshof a.D.; ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und freiwillige Gerichtsbarkeit an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg Grommes, Sabine, Dr., Richterin am Amtsgericht München Guo, Zhiyuan ( sität Anhui ( und Justizwesen

), Prof. Dr., Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Univer) und Professor für Prozess- und Beweisrecht, Schiedsgerichtsbarkeit

Harnack, Klaus, Dr., Dozent, Trainer und Berater im praxisorientierten Wissenschaftstransfer aus den Bereichen Kognitionswissenschaft, Psychologie und Rechtswissenschaften, für Verhandlung, Mediation, Behavioral Finance und Change-Management Heinrich, Philipp, M.Sc., Doktorand am Lehrstuhl für Korpus- und Computerlinguistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Hofmann, Franz, Prof. Dr., LL.M. (Cambridge), Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Technikrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Keuchen, Michael, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

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Autorenverzeichnis

Korves, Robert, Dr., Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Prozessrecht und Bürgerliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum Labner, Kevin, Dr., Assistent und Habilitand am Institut für Zivilverfahrensrecht der Universität Wien Maier, Andreas, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Informatik 5 (Mustererkennung) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Nicolai, Florian, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Hans Kudlich) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Odrig, Josephine, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Proisl, Thomas, Dr., Postdoktorand am Lehrstuhl für Korpus- und Computerlinguistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Schmiedel, Liane, Legal Officer/Lawyer bei der Europäischen Kommission/Brüssel Schröder, Lutz, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Informatik 8 (Theoretische Informatik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Stamm, Jürgen, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Insolvenzrecht und Freiwillige Gerichtsbarkeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Streyl, Elmar, Vorsitzender Richter am Landgericht Krefeld Voß, Wiebke, Prof. Dr., LL.M. (Cambridge), Juniorprofessorin für Privatrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Zwickel, Martin, PD Dr., Maître en droit (Rennes I), Akademischer Oberrat an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg