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German Pages 263 [269] Year 2023
Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek, Falk Stakelbeck (Hg.) Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität
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as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft sowie als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Bezüge vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Psychoanalyse steht in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Als das ambitionierteste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Verfahren zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.
Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth
Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek, Falk Stakelbeck (Hg.)
Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur Mit Beiträgen von Clara-Sophie Adamidis, Gudrun Brockhaus, Giuseppe Civitarese, Julia Katharina Degenhardt, Lutz Garrels, Andreas Hamburger, Bernd Heimerl, Andreas P. Herrmann, Alessandra Lemma, Elfriede Löchel, Franz Oberlehner, Carolin Schnackenberg, Sebastian Thrul und Nils F. Töpfer
Psychosozial-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2023 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © iStock by Getty Images/GeorgePeters Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Satz: SatzHerstellung Verlagsdienstleistungen Heike Amthor, Fernwald ISBN 978-3-8379-3238-6 (Print) ISBN 978-3-8379-7966-4 (E-Book-PDF)
Inhalt
Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur 9 Vorwort Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek & Falk Stakelbeck
Teil 1 Subjekt und Medium Das digitale Unbewusste
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Psychoanalytische Gedanken zu einem brennenden Zeitproblem Andreas Hamburger
Subjekt und Medium in der digitalen Welt
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Psychoanalytische Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen Elfriede Löchel
Entfesselung und Zähmung des Feuers
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Notizen zur digitalen Formung von Subjektivität Lutz Garrels
Teil 2 Klinik und Internet Psychoanalyse hinter dem Bildschirm
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Einige persönliche Überlegungen Alessandra Lemma
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
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Giuseppe Civitarese
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Inhalt
Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings 125 Unheimliche Gespenstermaschinen – Sinnesprothesen – Technik der Magie – Horror Bernd Heimerl Teil 3 Zerplitterung im öffentlichen Raum »Ich fühle mich wie Sophie Scholl« 141 Rechte Opferspiele Gudrun Brockhaus
Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn 159 Franz Oberlehner
Unser mediales Spiegelbild 177 Der Psychoanalytiker als Held der Fernsehserie In Therapie Andreas P. Herrmann Teil 4 Begegnungen im Internet »Ich habe es auch irgendwie ernster genommen« 195 Tiefenhermeneutische Betrachtung des subjektiven Erlebens auf Youtube Clara-Sophie Adamidis
»#BorderlineRecovery« 209 Vom Widerstandspotenzial im Genesungswunsch psychisch erkrankter Instagram-Nutzer Julia Katharina Degenhardt
»Ich glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann« 225 Subjektives Erleben und psychodynamische Bedeutungsdimensionen der Dating-App Tinder Carolin Schnackenberg
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Inhalt
Teil 5 Geschlecht und Virtualität Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie 241 Paradoxie und Pluralität der Identifikation Nils F. Töpfer
Zwischen Zersplitterung und Halt 253 Starke (Gegen-)Übertragungsphänomene und die Bedeutung der Umwelt in der psychoanalytischen Arbeit mit trans* Menschen Sebastian Thrul
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Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur Vorwort Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek & Falk Stakelbeck
Der Digitalisierung unserer Lebenswelt kann sich wohl niemand mehr entziehen. Immer mehr Bereiche unseres Lebens sind zunehmend von digital vermittelten Erfahrungen geprägt. Sie beeinflussen und formen unser Selbst, unsere Beziehungen, unsere Emotionalität und unser Realitätsverhältnis. Dies alles geschieht in einer Geschwindigkeit und Intensität, dass die Psychoanalyse nicht umhinkann, sich mit dem Digitalen und seinen Auswirkungen auf die Subjektbildung, auf die Psyche, das Gefühlsleben und die Beziehungsfähigkeiten der Menschen zu befassen. Wir können von einer digitalen Revolution unserer Lebensverhältnisse sprechen. Sie wird zu einer Signatur des gegenwärtigen Zeitalters und entscheidet über die menschliche Zukunft, hierin ist sie mit dem Klimawandel vergleichbar. Sie fügt sich ein in eine Dialektik der Globalisierung der Vielen und der Singularisierung der Einzelnen und treibt beide zugleich weiter an. So treffen Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen in ihren Praxen zunehmend auf Menschen, die mit dem Digitalen in einer Internetkultur groß geworden sind, in der die »sozialen« Medien die Öffentlichkeit umgewälzt haben und das Virtuelle zum dominanten Erfahrungsmodus geworden ist. Mit dem Handy in der Tasche werden wir alle scheinbar zu globalisierten Weltbürgern, ohne einen wirklichen Schritt aus der stets begrenzten individuellen Wirklichkeit heraustreten zu müssen. Wir können uns »sozial vernetzen«, ohne irgendeine persönliche Verbundenheit einzugehen. Neu gewonnene Freiheiten und Spielräume gehen mit Ängsten vor Verlassensein und Resonanzverlusten einher. Unsere »Realität« droht sich angesichts der Dominanz des Virtuellen zu entmaterialisieren. Das Allgemeingültige, das Faktische und das Reale 9
Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek & Falk Stakelbeck
werden schwerer greifbar, das Illusionäre und Imaginäre hingegen leichter verfügbar. Simulationswelten und künstliche Intelligenz schaffen neue Realitäten in einer materiell wirksamen Virtualität. In diesem Zusammenhang versprechen die sich zunehmend ausbreitenden sozialen Echokammern einen ungestörten emotionalen Rückhalt unter Gleichgesinnten, müssen dafür aber divergierende Perspektiven ausschließen. Eine gemeinsam geteilte Welt droht in divergente und sich ausschließende Realitäten zu zersplittern. Zugleich tritt die technologisch vermittelte Vernetzung verstärkt an die Stelle einer emotionalen Verbundenheit, die an persönliche Präsenz geknüpft ist. Virtuelle Berührungen substituieren den körpergebundenen emotionalen Austausch. Online-Psychotherapien und »Tele-Analysen« folgen diesem Trend. Dieser fordert die Psychoanalyse in ihrer klinischen Praxis heraus. Denn für sie war bisher der persönliche Kontakt in Präsenz die unerlässliche Voraussetzung dafür, das Unbewusste und das Persönliche verstehen und emotional hilfreich und tiefgehend wirksam sein zu können. Die Psychoanalyse ist daher in mehrfacher Hinsicht gefragt, den voranschreitenden Strukturwandel durch Digitalisierung und die Internetkultur in ihren psychischen Auswirkungen und subjektiven Zusammenhängen zu verstehen und sich selbst darin zu positionieren. So werden in diesem Band die unterschiedlichsten Dimensionen dieser Prozesse untersucht und beleuchtet. Der erste Teil »Subjekt und Medium« thematisiert die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Subjektbildung in einer zunehmend digital-medial vermittelten Kultur und stellt die Frage, wie dieser Prozess in einer theoretischen Perspektive psychoanalytisch erfasst werden kann. Andreas Hamburger geht in seiner Arbeit »Das digitale Unbewusste. Psychoanalytische Gedanken zu einem brennenden Zeitproblem« der Frage nach, inwiefern wir das Unbewusste in einer digitalen Welt neu denken müssen. Digitalisierung fordert die Psychoanalyse unter polit- und sozialpsychologischen Aspekten heraus, indem sie eine verstärkt technologisch-virtuell vermittelte Lebenswelt schafft, die formativ auf bisher nicht ausreichend bekannte Weise auf die Entwicklung der modernen Psyche wirkt und damit eine Neu-Fassung des Unbewussten nötig macht. Nach einer komprimierten »Werkschau«, nach einer Selbstvergewisserung unseres Fundus an analytischen Konzeptionen des Unbewussten zeichnet der Autor erste Umrisse eines digital konzipierten Unbewussten nach. Wie sich der Zusammenhang von »Subjekt und Medium in der digitalen Welt« darstellt, welche psychoanalytischen Erkenntnismöglich10
Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur
keiten gegeben und welche Erkenntnisgrenzen dabei zu berücksichtigen sind, untersucht Elfriede Löchel. Sie legt überzeugend dar, dass hier Fragen der Subjektkonstitution und ein vertieftes Verständnis des Medialen von grundlegender Bedeutung sind. Das Konzept der Abwesenheit, wie Freud es im Fort-Da-Spiel dargelegt hat, ist für sie dabei ein zentraler paradigmatischer Bezugspunkt. Mit einem primär kulturtheoretischen Standpunkt hieran anschließend verortet Lutz Garrels in seiner Arbeit »Entfesselung und Zähmung des Feuers. Notizen zur digitalen Formung von Subjektivität« die digitale Formung des Subjekts im Rahmen des Prometheus-Mythos und betont die Relevanz der Perspektive, digitale Objekte als Prothesen des Subjekts einzustufen. Am Ende formuliert er vier Risikodimensionen digitaler Medien, die aus seiner Sicht besonders zu beachten sind. Der zweite Teil »Klinik und Internet« behandelt schwerpunktmäßig die in der analytischen Gemeinschaft teils heftig diskutierte Frage, welchen Einfluss es auf Analysen hat, wenn der Austausch des analytischen Paares digital vermittelt und von daher über die Grenzen des Behandlungsraums hinausgehend geschieht. Auf dem Hintergrund der bedeutsamen Unterscheidung zwischen einem verkörperten und einem digital vermittelten Setting schildert Alessandra Lemma in ihrer Arbeit »Psychoanalyse hinter dem Bildschirm. Einige persönliche Überlegungen«, wie wichtig eine vorgängige Erfahrung von verkörperter Präsenz ist, um einen analytischen Prozess bewahren zu können, wenn in ein digital vermitteltes Setting übergegangen wird. Von ebenso zentraler Bedeutung sieht sie die Fähigkeit des Analytikers, im Kontakt mit dem Analysanden die digital-medial bedingten Veränderungen in der sensorischen Präsenz analytisch adäquat ansprechen und deuten zu können. Am Ende warnt sie vor dem schlüpfrigen Gefälle der Virtualität, die auf einer verführerisch informellen Beziehungsebene operiert und eine Lockerung der Grenzen befördert. Auch für Giuseppe Civitarese ist das Körperliche die zentrale Referenz, wenn er in seinem Beitrag »Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse« der Dimension der Zwischenleiblichkeit in der analytischen Situation nachgeht. Diese stiftet präsymbolisch auf einer basalen sinnlich-körperlichen Ebene Verbundenheit und Miteinander. Unter anderem anhand von Fallvignetten fragt Civitarese nach deren Schicksal, wenn das Digitale technologisch vermittelnd eingreift. Dabei postuliert er einen Konflikt zwischen einer digitalen und einer psychoana11
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lytischen Virtualisierung, wobei er Letztere durch die Empfänglichkeit für das Unbewusste und Erstere durch die Ermöglichung von Interaktionen qualifiziert, die ansonsten nicht zustande kommen könnten. Bernd Heimerl thematisiert mit seinem Beitrag »Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings. Unheimliche Gespenstermaschinen – Sinnprothesen – Technik der Magie – Horror« am Beispiel des Video-OnlineMeetings eine verunsichernde magische Erfahrungsqualität in der digital vermittelten Kommunikation, die auch für die klinische Situation von Relevanz ist. Dabei identifiziert er drei Merkmale des Unheimlichen in der Digitalkommunikation: die Kadrierung als ästhetisches Stilmittel, den Moment der Plötzlichkeit des Eintretens einer vorhersehbaren Situation und das Motiv der Dopplung beziehungsweise der Doppelpräsenz. Im dritten Teil »Zersplitterung im öffentlichen Raum« werden unterschiedliche sozial-, kultur- und politpsychologische Aspekte der Digitalisierung in der Internetkultur untersucht, denen eine jeweils eigene Brisanz innewohnt. Auf dem Hintergrund einer Analyse rechtsradikaler Alltags- und Bedrohungsideologeme und darin enthaltener Realitätsverdrehungen zeigt Gudrun Brockhaus in ihrem Beitrag »›Ich fühle mich wie Sophie Scholl‹. Rechte Opferspiele«, wie sich rechtsradikale Bewegungen vor allem mithilfe der Internet-Technologie als Empörungs- und Hassbewegungen massenwirksam politisch organisieren und inszenieren. Es wird dargestellt und unter Hinweis auf sozialpsychologisch relevante Mechanismen analysiert, wie es rechtsradikalen Personen und Gruppierungen in den »sozialen« Medien gelingt, die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie mittels Emotionalisierung, Personalisierung, Dramatisierung, Polarisierung, Übertreibung und Radikalisierung für sich zu nutzen. Franz Oberlehner regt mit seinem Beitrag »Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn« ausgehend von technikphilosophischen Ansätzen (zum Beispiel von Günther Anders) und Freuds Prothesengott-Theorem an, über Veränderungen durch die Digitaltechnologie nachzudenken, die unseren psychischen Wirklichkeitssinn (Ferenczi) betreffen. Diese einschneidenden Veränderungen werden am Beispiel des Smartphones, mit dem die moderne Psyche eine stumme und verborgene symbiotische Beziehung eingeht, überzeugend dargelegt. Andreas P. Herrmann wirft mit seiner Untersuchung »Unser mediales Spiegelbild. Der Psychoanalytiker als Held der Fernsehserie In Therapie« einen Blick auf ein weiteres Feld der digitalen Internetkultur: die Strea12
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ming-Angebote. Er wendet diesen Blick zugleich selbstreflexiv auf das Bild, das in der Internetkultur des Streamings vom Psychoanalytiker gezeichnet wird, und beschreibt die darin enthaltene Ambivalenz der Psychoanalyse gegenüber. Im vierten Teil »Begegnungen im Internet« werden die Ergebnisse von drei empirischen Untersuchungen zu signifikanten Bereichen der Internetkultur – Youtube, Instagram, Tinder – und ihre Bedeutung für die moderne Subjektivität vorgestellt. Alle drei Untersuchungen basieren auf einem qualitativ-psychoanalytischen Forschungsansatz, in dem das szenische Verstehen (Argelander) fruchtbar für die Erschließung des Latenten umgesetzt wird. Clara-Sophie Adamidis geht in ihrem Beitrag »›Ich habe es auch irgendwie ernster genommen‹. Tiefenhermeneutische Betrachtung des subjektiven Erlebens auf Youtube« anhand einer exemplarischen, tiefenhermeneutischen Auswertung zweier themenzentrierter Interviews der Frage nach, welche Bezogenheit und welche subjektiven Bedeutungen beim Rezipieren von Youtube beziehungsweise Vlogs zu finden sind und was diese über das Medium Youtube aussagen. Julia Katharina Degenhardt untersucht in ihrem Beitrag »›#BorderlineRecovery‹: Vom Widerstandspotential im Genesungswunsch psychisch erkrankter Instagram-Nutzer« die unbewusste Bedeutung sozial-medial artikulierter Heilungs- und Veränderungsbestrebungen. Sie thematisiert das Widerstandspotenzial im digital vermittelten Genesungswunsch und betont, dass der Erkundung des sozial-medialen Daseins von Patienten eine psychoanalytisch-psychotherapeutische Relevanz zukommt. Carolin Schnackenberg fragt in ihrer Untersuchung »›Ich glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann‹. Subjektives Erleben und psychodynamische Bedeutungsdimensionen der Dating-App Tinder«, was die Attraktivität von Tinder ausmacht und was im Falle von Enttäuschungen passiert. In der subtilen Evokation wunscherfüllender Vorstellungen noch vor der eigentlichen Realisierung von Beziehungswünschen sieht sie einen besonders starken latenten Attraktor. Der abschließende fünfte Teil »Geschlecht und Virtualität« thematisiert Aspekte von Geschlechtlichkeit, Pornografie und Geschlechtsdysphorie (in) der Internetkultur. Nils F. Töpfer arbeitet in seinem Beitrag »Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie. Paradoxie und Pluralität der Identifi13
Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, Utz Palußek & Falk Stakelbeck
kation« die subjektive Bedeutung von Pornografie im Internet am Beispiel von drei Suchbegriffen – Anal, Femdom und Cuckold – heraus. Dabei möchte er den Paradoxien und der Pluralität möglicher Identifikationen mehr Aufmerksamkeit schenken, als es bisher geschehen ist. Dadurch ergibt sich die Chance einer differenzierten Sicht, die nicht durch moralische Voreingenommenheit eingeschränkt wird. Sebastian Thrul schildert in seinem Beitrag »Zwischen Zersplitterung und Halt. Starke (Gegen-)Übertragungsphänomene und die Bedeutung der Umwelt in der psychoanalytischen Arbeit mit trans* Menschen« seinen persönlichen Prozess, sich eine psychoanalytische Position im Rahmen einer ambulanten Sprechstunde für geschlechtsdysphorische Menschen zu erarbeiten und sich dabei mit Ängsten zu konfrontieren, die durch die virtuellen Kämpfe zum Thema Transgender in den »sozialen Medien« intensiviert werden. Alle Beiträge im vorliegenden Band basieren auf überarbeiteten Vorträgen, die auf der wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft »Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität« vom 12. bis 15. Mai 2022 in München gehalten wurden. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Buch beigetragen haben, und ebenso dem Psychosozial-Verlag und seinen Mitarbeitenden für die Aufnahme in das Verlagsprogramm. Noch ein Wort zu gendergerechter Sprache: Allen Autorinnen und Autoren war freigestellt, auf welche Weise sie gendern. Die Verwendung des generischen Maskulinums schließt alle Geschlechter ein.
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Teil 1 Subjekt und Medium
Das digitale Unbewusste Psychoanalytische Gedanken zu einem brennenden Zeitproblem Andreas Hamburger
Eine brennende Frage Paul Parin hat 1978 die unbequeme Frage gestellt, warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen. Damals ging es um das betäubte Schweigen der Psychoanalyse zum Vietnamkrieg. Auch heute haben wir das Zeitgeschehen quasi vor der Praxistür, so wie Parin die 1968er Proteste. Wir erleben den Krieg in der Ukraine, der nicht nur ein Macht-Monopoly ist, sondern eine mit tödlichen Waffen ausgetragene Auseinandersetzung darüber, wie wir in Frieden zusammenleben wollen. Wir sehen eine Solidaritätswelle mit der Ukraine – aber bringt sie uns auch zu Bewusstsein, wie sehr wir selbst daran beteiligt sind, wenn unsere Vorstellungen von Freiheit und Wohlergehen, solange wir sie auf unsere eigenen Gesellschaften begrenzen, anderswo Unfreiheit und Elend erzeugen? Und wir sehen eine Jugend, die beherzt das Recht des Lebens auf diesem Planeten einfordert. Es gibt aber ein neues, brennendes Zeitproblem, und dagegen erhebt sich kein Protest. Es ist ein Problem, das Parin noch nicht kennen konnte. Ich würde es auch eher als ein Glimmen im Unterholz denn als lodernde Krise beschreiben. Eine Art schleichender sozialer Klimawandel. Nicht minder besorgniserregend, wie ich gleich ausführen werde. Das Phänomen der Digitalisierung und Virtualisierung der Gesellschaft, das Sinan Aral (2020), Direktor der MIT Initiative on the Digital Economy, als »new social age« oder, griffiger, als »Hype Machine« bezeichnet hat, sollte uns als Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen durchaus zu denken geben, in vielerlei Hinsicht. Ich greife nur drei mögliche Perspektiven heraus. 17
Andreas Hamburger
Politische Psychoanalyse
Die Virtualisierung sozialer Prozesse und ihre Rückwirkung auf die Öffentlichkeit wirft aus der Perspektive einer politischen Psychoanalyse die Frage nach der Interdependenz zwischen Daten, Ökonomie und politischer Kontrolle auf. Dabei geht es nicht nur um die oft beklagte Epistemisierung des Politischen (Bogner, 2021), sondern darum, dass die globale, algorithmengesteuerte Interkonnektivität das Mitwachsen einer globalen politischen Kontrolle erfordert, ähnlich wie im Lauf der Moderne die zunehmende überregionale Arbeitsteilung und Steigerung der Produktivität es ermöglicht und vor allem: erfordert haben, politische Kontrolle durch stabile Administration in großen Staatsgebilden und Staatenbünden auszuüben. Und dieser Thread würde bei einer Frage ankommen, die durchaus die Psychoanalyse beschäftigen sollte, nämlich wie wahrscheinlich es ist, dass eine solche globale politische Kontrolle erreicht wird. Eine Frage, die in der psychoanalytischen Kulturtheorie seit dem Ersten Weltkrieg diskutiert wurde (Freud, 1915b). Freud hat – entgegen der Fama vom Pessimisten – diese Frage weder rundweg verneint (1933b), noch müssen wir uns heute in die Annahme zurückziehen, die menschliche Natur sei eben für eine nachhaltige Zivilisierung ungeeignet. Die Psychoanalyse hat in den letzten 100 Jahren eine Reihe von Modellen erarbeitet, die prosoziale Entwicklungen beschreiben, in einer objektbeziehungstheoretischen Perspektive, etwa schon in Melanie Kleins grundlegenden Formulierungen über Neid und Dankbarkeit (1962 [1961]), in der von Bion inspirierten systemischen Tavistock-Perspektive (Henderson, 2018; Kretschmar & Hamburger, 2019) sowie im Rahmen der Selbstpsychologie (Perlitz, 2022). Sie könnten zu der Hoffnung beitragen, dass die weltweite Interkonnektivität der Kommunikationsplattformen einen Resonanzboden bereitet, der eben nicht nur globale Ausbeutung ermöglicht, sondern auch globale partizipative politische Prozesse. Sie enthält in nuce den Ansatz eines Weltbürgerbewusstseins, einer Solidarität, die sich auf das gemeinsame Bürger-Sein auf einem endlichen Planeten bezieht. Damit wäre auch die beinahe naive Hoffnung von Immanuel Kant (1913 [1796]) einer Einlösung näher gerückt, dass die Kugelgestalt der Erde mit ihrer endlichen Oberfläche letztlich mit mathematischer Gewissheit den ewigen Frieden befördern müsse. Die Menschen können einander auf die Dauer nicht ausweichen, so Kant, deshalb müssen sie einander tolerieren. Nun, seither haben wir 18
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bitter gelernt, dass sich die Aufklärung so einfach nicht ausbreitet. Und dennoch: Die Hoffnung auf einen prosozialen Impuls hat schnelle Flügel. Es war die Fridays-for-Future-Bewegung, die im September 2020 die erste globale Demonstration organsierte. Sozialpsychologie
Die Digitalisierung fordert auch die psychoanalytische-Sozialpsychologie heraus. Wie wirkt sich die soziale Echtzeitvernetzung auf die Identität des Subjekts aus? Neuere Studien aus allen Erdteilen belegen, dass 45 bis 75 % aller Kleinkinder unter drei Jahren bereits routinemäßig mit Tablets und Smartphones interagieren (Courage et al., 2021), und zwar erhebliche Zeiten des Tages. Die Forschung hebt meist darauf ab, ob auch die Kleinsten vielleicht auf diese Weise bereits Lernfortschritte erzielen; Kritik setzt allenfalls an möglichen Schlafstörungen und Spracherwerbsdefiziten an (ebd.). Dabei sind aus psychoanalytischer Sicht nicht die Instrumente das Problem, sondern die frühe Gewöhnung an antwortende Maschinen oder an durch Maschinen vernetzte virtuelle Gruppen. Es stellt sich die Frage, ob automatisierte Resonanzsimulation systematische Mentalisierungsdefizite oder besser: Fehlmentalisierungen bewirkt, mit der Folge eines deformierten epistemischen Vertrauens. Zerlegt sich das ehemals leibgebundene Selbst in ein Kaleidoskop identitärer Gruppensubjekte, die miteinander und mit anderen Kaleidoskopen um die soziale Sendezeit konkurrieren? Tauscht zum Beispiel der Macho, der sich auf 4chan inszeniert (Krüger, 2020), zugleich auf nebenan.de Topfpflanzen? Solche Verschiebungen im Subjekt wirken zurück auf das oben genannte Problem politischer Kontrolle. Wenn Menschen Kommunikationsmaschinen mehr vertrauen als anderen Menschen, kann Vertrauen unmenschlich werden. Geschichte
Freilich: Die Digitalisierung ist eine historische Tatsache, und wir können und müssen uns fragen, ob unsere diesbezüglichen Sorgen nur der Furcht vor Veränderung geschuldet sind, wie im Fall der berühmten ersten Lokomotive und ihrer furchterregenden Geschwindigkeit von 30 km/h. Dieses 19
Andreas Hamburger
Fortschrittsargument wird vielfach bemüht, etwa aus der Soziologie von Armin Nassehi (2019) und – psychoanalytisch gewendet – von Martin Altmeyer (2016). Andere sind skeptischer, wie etwa die Autoren des Bandes Big Data (Geiselberger & Moorstedt, 2013), die die neuen Informationsund Datenverarbeitungstechnologien als durchaus besorgniserregende Zeitenwende begreifen oder gar einen digitalen Totalitarismus heraufziehen sehen. Im Jahr 2014 schrieb Martin Schulz – damals Präsident des Europäischen Parlaments – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Digitalisierung werde uns zu »determinierten Menschen« machen, zu gläsernen Konsumbürgern, die ihre Freiheit an ein paternalistisches Netz vorweggenommener Präferenzerkennung verlieren. Die darauffolgende Debatte, an der sich Autorinnen und Autoren wie Mathias Döpfner, Hans Magnus Enzensberger, Sigmar Gabriel, Sascha Lobo, Evgeny Morozov, Frank Schirrmacher, Eric Schmidt und Juli Zeh beteiligten, wies eindrucksvoll auf die Gefahren der Digitalisierung für die humanistische Definition von Fortschritt hin (Schirrmacher, 2015). Geschichte ist schwer vorhersagbar und hat schon manche Zeitenwende verkraftet; sie mag auch einen Weg aus der Verdatung finden. Kundig beschreibt der Philosoph Peter Schmidt (2021) einen postdigitalen Zustand, in dem die Abhängigkeit vom Handy so obsolet sein wird wie heute das Rauchen und die Menschheit gelernt haben wird, mit der zweiten Natur – er nennt sie ein »technisches Unbewusstes« – umzugehen, die sie geschaffen hat. Psychoanalyse
All diese Überlegungen, besonders der Begriff des »technischen Unbewussten« würden eine vertiefte psychoanalytische Diskussion verdienen (Frick et al., 2019). Die vorliegende Arbeit stellt einen konzeptuellen, metapsychologischen Beitrag zu dieser Diskussion dar, einer Diskussion zum Begriff des Unbewussten mit dem kühnen Zusatz eines »digitalen« Unbewussten. Das sollte zum Widerspruch reizen. Kann es denn ein Unbewusstes der digitalen Technik geben? Ist das Unbewusste nicht notwendig an einen Leib, ein Lebewesen gebunden, in dem es, durch strukturelle und dynamische Prozesse etabliert, Auswirkungen auf das Bewusstsein hat – durch die Abwehrmechanismen –, aber auch auf Träume, Fehlleistungen und Symptome? 20
Das digitale Unbewusste
Im Jahr 1998, 20 Jahre nach Parin und schon mit der heraufdämmernden Frage der künstlichen Intelligenz konfrontiert, habe ich etwas formuliert, das ich heute noch richtig finde: »Selbst wenn es uns gelänge, ein gigantisches Computernetz zu entwerfen, das alle Synapsen und alle übrigen informationsverarbeitenden und steuernden Größen des Gehirns eines Neugeborenen zu simulieren vermöchte – um ein menschenähnliches Gebilde zu werden, müsste dieser Computer jahrelang, wie jedes gesunde Baby, zwischen Glück und Verzweiflung und allen Zwischenzuständen oszillieren, bis seine Affekte halbwegs kanalisiert sind; unter ständiger Bildung szenischer Welt- und Selbstentwürfe und permanenter, teilweise katastrophal strukturierter Reorganisation seiner Erinnerung und seiner Kommunikationsmöglichkeiten, seine Impulse und seine Sinneswahrnehmungen im Austausch mit seiner Umgebung formen. Und daran würde es scheitern: Er bräuchte eine Umgebung, die ebenso auf ihn programmiert wäre wie er auf sie; eine Umgebung, die sein Lachen lustig und sein Weinen erschütternd fände, die sich unter heftiger Beteiligung eigener Affekte mit seinem Geist und seinem Körper und dessen Bedürfnissen beschäftigt. Solange er keine Eltern hätte, würde er wohl doch, alles in allem, kein Mensch« (Hamburger, 1998, S. 283).
Das halte ich, wie gesagt, auch heute noch für ein schlüssiges Argument gegen die populäre Angst vor dem menschlichen Roboter. Kein Computer wird menschliches Erleben vollständig emulieren können. Die digitale Wirklichkeit hat das Argument aber seither überholt, und davon soll im Folgenden die Rede sein.
Psychoanalytische Begriffe des Unbewussten und ihr Bezug zur Lebenswelt Die Psychoanalyse hat im Lauf ihrer Theoriegeschichte recht unterschiedliche Begriffe des Unbewussten entwickelt. Sie können hier nicht annähernd resümiert werden; im Hinblick auf das Argument, dass sich Konzepte des Unbewussten, ja Unbewusstheit selbst in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen und materiellen Umgebung bilden – und demzufolge auch der Begriff eines digitalen Unbewussten auftaucht –, seien nur die folgenden acht Konzepte aufgerufen. 21
Andreas Hamburger
Macht: Freuds dynamisches Unbewusstes
Bei Freud ist das Unbewusste zunächst dynamisch gemeint. Es ist eine Folge der Ichbildung, welche wiederum aus dem Zusammenprall des libidinös gesteuerten Primärprozesses mit der Außenwelt resultiert; insbesondere aber als Folge der Überichbildung als eines verinnerlichten, sozial konstituierten Gewissens, das – das sollten wir nicht vergessen – mit Triebenergie operiert, Teil des Es ist. Mit der Ich- und Überichbildung entstehen strukturelle Konflikte, die zu unbewussten Abwehrprozessen und Symptombildungen führen. Im konstitutiven Triebbegriff ist eine Anerkennung der biologischen Basis, im Zensurbegriff der Einfluss des Sozialen im Kern des Begriffs des Unbewussten auszumachen. Wenn auch in der klinischen Praxis derzeit weniger relevant, bauen bis heute die psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie auf einer durch die Kritische Theorie weiterentwickelten Version dieses Konzepts auf. Funktion: das Unbewusste der Ich-Psychologie
Mit der Ausarbeitung der Ich-Psychologie, etwa bei Hartmann (1997 [1964]), werden unbewusste Ichanteile präzisiert, feine Abstimmungsmechanismen, die prosoziale synthetische Funktionen ausüben. Damit hat sich der Eintrag des Sozialen in die Psyche im Akzent verändert – was zunächst als das Andere der Vernunft erschien, wird nun zu einer unbewussten Ausgabe davon. In den Konzepten der Selbstpsychologie (Kohut, 1983 [1971]) rückt dieser prosoziale Bereich ins Zentrum, die Triebnatur wird als im Kern sozialverträglich unterstellt. Wir sind hier nahe am kognitiven Unbewussten, wie es nach seiner ersten Häutung auch der Behaviorismus etwa seit Tolman (1952) akzeptiert hat. Aber wir gehen auch in Richtung eines schöpferischen Unbewussten, dem »Weisheitssystem« von Robert Langs (1986). Widerspruch: die kritische Theorie des Subjekts
Das ich-psychologische synthetische Unbewusste forderte Widerspruch heraus, zum Beispiel seitens der Frankfurter Schule. Sie lieferte sich mit den Ich-Psychologen erbitterte Kämpfe, die heute leider weitgehend ver22
Das digitale Unbewusste
gessen sind. Das lag auch an der fortschreitenden Medizinalisierung, die vor allem im amerikanischen Exil der Psychoanalyse als einer kritischen Theorie des Subjekts den Stachel zog. Gerade in dem erwähnten Artikel geißelt Paul Parin sehr scharf diese Medizinalisierung der Psychoanalyse als »Kastenbildung«, die den gesellschaftskritischen Impuls unterbinde. Der Begriff des Unbewussten, der in der Frankfurter Schule der Psychoanalyse – namentlich von Lorenzer (1972) –, aber auch in anderen sozialwissenschaftlich-psychoanalytischen Zentren weiterentwickelt wurde, wie zum Beispiel um Wolfgang Mertens (1981) in München und von der psychoanalytischen Sozialpsychologie in Frankfurt und Hannover (vgl. Brunner et al., 2012), knüpfte an Freuds Zensurbegriff und seine Libidotheorie an, entledigte sich aber deren physiologischer Implikationen – die etwa Jürgen Habermas (1968) als »Selbstmissverständnis« sah. Die kritische Theorie des Subjekts und die aus ihr abgeleiteten Methoden der Tiefenhermeneutik und Kulturanalyse gehören zu den Grundkonzepten der modernen Sozialwissenschaften. Sprache: das französische Unbewusste
Auch in Frankreich, etwa bei Ricœur und Lacan, regte sich Widerspruch gegen die Medizinalisierung der Psychoanalyse und der Ruf nach einer Besinnung auf den radikalen Kern des psychoanalytischen Unternehmens. Paul Ricœur (1993 [1965]) greift Freuds Triebenergetik auf und liest sie als Metapher, verschwistert mit der psychoanalytischen Prozesshermeneutik. Das Unbewusste wird hier bereits als Diskursphänomen verstanden. Jacques Lacan setzt die Sprache selbst konstitutiv sowohl für das bewusste als auch für das unbewusste Welt- und Selbstverhältnis (vgl. Tholen, 1999). Zum einen in der Begegnung mit dem Gesehenwerden im Spiegelstadium, das uns erst unserer selbst innewerden lässt, zum anderen in der symbolischen Ordnung der Sprache. Im Bewussten wie im Unbewussten zirkuliert das Begehren zwischen den sprachlichen Signifikanten. Außerhalb dieses Universums von Sprachzeichen lauert ein schlechthin ungreifbares Reales, die wortlose Natur. Ich möchte es im Gegensatz zum dynamischen Unbewussten ein »konstitutives Unbewusstes« nennen. Jacques Derrida (1976 [1967]) interpretiert Freuds Begriff der Bahnung, Grundbaustein psychischer Differenzierung, als Schrift – und charakterisiert so das Unbewusste durch die herrschende Kulturtechnik der Ver23
Andreas Hamburger
ständigung und Bewahrung von Wissen. Radikaler als Freuds Befund, dass das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus, besagt dieses sprachtheoretisch gefasste Unbewusste, dass es sich durch sein Ichwerden, seine sprachliche Konstitution, für immer aus diesem Haus ausgeschlossen hat. Julia Kristeva (1978 [1974]) stellt Lacans phallozentrischer symbolischer Ordnung einen Begriff des Semiotischen gegenüber, als genuin leiblich kodierten Ausdruck innerhalb der Sprache. Diese Ebene ist mit dem Mütterlichen verbunden und unterläuft die Trennung von Leib und Seele. Sie beschreibt auch nicht ein drohendes, erschreckendes »Reales« außerhalb der Sprache, sondern eine lebendige, unterhalb des Sprechens stets wirksame »Chora« – ein Begriff, der schon bei Platon auftaucht und dort in der Kosmogonie eine Art Urgrund bedeutet, interessanterweise nach dem griechischen Wort für Ackerland. Kristeva versteht darunter die menschlichen Triebe, die sich in der frühesten Erfahrung mit der Mutter formen und nicht durch rationales Sprechen artikulieren, sondern durch einen pulsierenden Druck auf dieses Sprechen, ein stetiges Sich-Hineindrängen. Von hier aus begannen sich Strömungen abzulösen, die dem psychoanalytischen Denken Resonanz in anderen Diskursen verschafften, vor allem in der Film- und Medienwissenschaft (vgl. Hamburger, 2018). Phantasie: das Unbewusste der Objektbeziehungstheorie(n)
Ein weiterer für die psychoanalytische Praxis bedeutsamer Einspruch gegen die ich-psychologische Version des Unbewussten kam auch von der britischen Objektbeziehungstheorie, die sich ebenfalls auf Freud’sche Originaltexte und Positionen berief. Melanie Klein (1946) ging von einer frühkindlichen paranoid-schizoiden Position aus, in der die Integration von positiven und negativen Zuständen noch nicht möglich, die Grenze zwischen Selbst und Außenwelt noch durchlässig ist. In der kleinianischen Version des Unbewussten werden angeborene Vernichtungs- und Durchdringungsphantasien sowie Ausstoßungsmechanismen, aber auch Einfühlungsprozesse beschrieben. Die Objektbeziehungstheoretiker der independent group vertreten eine moderatere metapsychologische Position und in der Folge auch Behandlungstechnik; im Kern jedoch gehen sie ebenfalls von einer interaktiven Subjektkonstitution aus, etwa in Winnicotts intermediärem Raum (1979 [1971]). 24
Das digitale Unbewusste
Bruch: das Unbewusste als Trauma
Das führt zu einem weiteren Konzept des Unbewussten, das heute große Verbreitung genießt und im Verlauf der psychoanalytischen Theoriegeschichte immer wieder aufgetaucht ist: die traumatogene Spaltung. Schon früh von Pierre Janet formuliert, trat die traumatische Dissoziation im analytischen Diskurs lange in den Hintergrund, weil sie mit der Theorie der infantilen Phantasie nicht zur Deckung zu bringen war. Wer sich daran versuchte, geriet wie Otto Rank und Sándor Ferenczi schnell in den Ruf des Sonderlings. Es scheint sich aber mittlerweile konsolidiert zu haben, dass es neben dem Konflikt- und den Defizitmodell ein traumatisches Störungsmodell innerhalb der psychoanalytischen Theorie gibt, mit einer eigenen Art und Weise, mentale Inhalte am Bewusstwerden zu hindern. Die traumatische Dissoziation hat andere Ursachen als die Spaltung in der Objektbeziehungstheorie. Sie wurde vor allem in der Forschung zu Extremtraumatisierung wichtig und gehört heute zum Mainstream klinischer psychoanalytischer Konzepte. Der Traumabegriff ist freilich weit darüber hinaus relevant als Signatur der Nachkriegsphilosophie und -literatur. Die Annahme, dass seelisches Leben, Denken und Begriffsbildung von historischen Narbenbildungen gezeichnet ist, prägt einflussreiche Konzepte der Philosophie, wie zum Beispiel das Werk von Adorno und Levinas. Beziehung: das Unbewusste der Interpersonalen Psychoanalyse
Die psychoanalytischen Konzepte folgen nicht aufeinander wie die Waggons eines 100-jährigen Zuges, sondern sie lagern sich in Schichten übereinander. Schon während der Herausbildung der Objektbeziehungstheorie entstand aus der amerikanischen und exileuropäischen Ich-Psychologie, der Feldtheorie von Lewin, der Sullivan-Schule und der Selbstpsychologie unter Einbeziehung neuerer Ergebnisse der Säuglingsforschung und des systemischen Paradigmas die interpersonale Psychoanalyse. Sie impliziert ein radikal neues Modell des Unbewussten. Das Unbewusste ist nun nicht mehr in der Psyche der Einzelperson, sondern im systemischen Zusammenspiel zu verorten. Die relationale oder interpersonale Psychoanalyse ist heute klinisch einflussreich, allerdings mehr in der milderen amerikanischen Variante 25
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(Orange et al., 1997; Mitchell, 1988) als in der strengen systemtheoretischen Version (Bauriedl, 1980). Sie findet Entsprechungen in einer psychoanalytischen Feldtheorie, wie sie von Baranger & Baranger (2018 [1961]) und Giuseppe Civitarese (2020) vertreten wird. Apparat: Neuropsychoanalyse
Schließlich haben sich forschungsbasierte Konzepte des Unbewussten sowohl in der kognitiven Psychologie als auch in der Psychoanalyse entwickelt. Interessanterweise kehren sie in einigen Punkten zum Ursprung zurück. Im Rückgriff auf Freuds »Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie« von 1895 definiert Mark Solms das Unbewusste als die Gesamtheit der nondeklarativen Ichvorgänge, im Wesentlichen handelt es sich um Bewertungen der ablaufenden hirnphysiologischen Prozesse, um die Fähigkeit, Erregung zu differenzieren. Die Fähigkeit des Ich zur Antizipation erlaubt es, motorische Impulse ebenso wie aktivierbare deklarative Gedächtnisinhalte durch inhibitorische Signale zu unterbinden, wenn die Vorhersage eine negative Erwartung ergibt. Sie erlaubt die Verdrängung und andere Abwehroperationen. Welcher Art diese negativen Erwartungen sind, was der Organismus als Gefahr definiert, ob es die Kastrationsdrohung oder der Verlust der empathischen Spiegelung, das Als-verrückt-Gelten oder das Sich-verfolgt-Fühlen ist, ist davon nicht festgelegt, ebenso wenig, wie er damit umgeht – sei es die aktive, alloplastische Änderung der Gefahrensituation oder irgendeine Art der Abwehr, Verdrängung, Symptombildung oder projektive Identifizierung und viele weitere. Das dynamische Unbewusste der Psychoanalyse präzisiert Solms als Set von prozeduralisierten Lösungsansätzen, die in der Kindheit (oder unter traumatischen Bedingungen) angelegt wurden, weil sie funktional schienen, es aber mittlerweile nicht mehr sind. Sie sind dem deklarativen Gedächtnis nicht zugänglich und können in der Analyse auch nicht explizit erinnert werden. Sie sind lediglich rekonstruierbar (Solms, 2021; vgl. auch Hamburger, 1998).
Das Unbewusste ist eine Schrift – aber welche? Alle skizzierten Konzepte des Unbewussten haben, wie gezeigt wurde, eine interaktive Komponente, und alle reagierten auf technische und 26
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soziale Paradigmenwechsel sowie auf die konstitutive Kulturtechnik. So scheint die Schriftmetapher ein roter Faden zu sein, der sich durch die Geschichte der psychoanalytischen Metapsychologie zieht. Von Freuds »Bahnung« im »Entwurf einer Psychologie« über den Abdruck in der »Notiz über den Wunderblock«, vom Symbolbegriff der Ich-Psychologie und Bions Grid bis zu Lacans Annahme, das Unbewusste sei eine Schrift, die vor allem von Jacques Derrida in Die Schrift und die Differenz ausgeführt wurde – all diese Metaphorisierungen weisen darauf hin, dass unser psychoanalytisches Verständnis des Unbewussten auf das Engste mit der Kulturtechnik verbunden ist, die die wesentliche Grundlage unserer Verständigung bildet. Welche Metaphern der Psyche werden entstehen, wenn die Digitalisierung sich mit dem dritten Strukturwandel der Öffentlichkeit (Eisenegger et al., 2021) ins System Ubw einschreibt? Wie verändert sich das Unbewusste, wenn die Schrift nicht mehr die wesentliche Verständigungsgrundlage ist? Tatsächlich gibt es Anzeichen dafür, dass Ordnungssysteme ganz anderer Art dabei sind, die Organisation des Lebens zu übernehmen. Ich hebe vier Eigenschaften dieser neuen Ordnungssysteme hervor. Vernetzte Bilder
Soziale Medien wie Facebook und Twitter sind noch im wesentlichen textbasiert, doch macht in ihnen die Bildkommunikation bereits erhebliche Anteile aus. Ins Zentrum rückt sie etwa bei Plattformen wie Instagram, TikTok, Tumblr, Snapchat und Pinterest. Durch Liken, Sharen und Retweeten werden Bilder miteinander verbunden, ohne dass dafür ein beschreibender Begriff nötig ist. Die Bildwelt entfaltet ein Eigenleben (vgl. Niederer, 2018). Der pictorial turn im Netz ist insofern bedeutsam, als Bilder auf Rezipienten erheblich intensiver einwirken als Texte. Das ist in jeder Zeitungsredaktion bekannt. Das Bild ist weit mehr als eine »Illustration«, eine Beleuchtung, ein Einleuchtendmachen der Textbotschaft. Nur aus der Perspektive des sprachlich strukturierten Bewusstseins wirkt das so. Mächtiger aber ist das Bild. Es erhascht die Aufmerksamkeit, der zugeordnete Text erreicht nur den Verstand. Bilder sind sinnlich-symbolische, nicht propositionale Botschaften; sie zu liken ist ein digitaler Akt. Reine Bildkommuni27
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kation tendiert somit zum Ausfiltern von Erwägungsprozessen. Im Netz entfaltet sich eine agrammatische Syntax von Bildern, Verknüpfungsketten ohne verbal explizierbaren Sinn. Natura non facit saltus – die Interdependenz von Kultur und Zeichensystem
Ein weiteres Kennzeichen der Digitalisierung ist die Entkopplung der Zeichen von Phänomenen der Lebenswelt. Nicht, dass auch diese Zerschneidung und Neukomposition der phänomenalen Erfahrungswelt nicht bereits lange vorher begonnen hätte. Aber sie hat durch die Digitalisierung einen Quantensprung erfahren. Lebewesen selektieren und kombinieren Wahrnehmungen. Im komplexen Strom der olfaktorischen Reize kann ein Fluchttier das scharfe Aroma seines Räubers wittern und es mit den leisen Geräuschen des Anpirschens kombinieren, die fast im Rauschen der Bäume untergehen. Die Evolution hat seine Wahrnehmungsorgane geschärft – das heißt: selektiv sensibilisiert – und ihm den Instinkt verliehen, komplexe Muster von Schlüsselreizen zu erkennen, um den Fluchtreflex auszulösen. Das gilt grundsätzlich für alle Teilnehmer von Biosystemen. Mit der Entstehung sozialer Gruppen von Lebewesen wird dieser Interpretationsbedarf fluider und komplexer. Im Schwarm ist es noch relativ einfach. Schwarmtiere reagieren instinktiv auf die Entfernung zum Nachbarn. Sie einigen sich automatisch. In sozialen Gruppen lebende Säugetiere haben einen weit komplexeren Abstimmungsbedarf. Sie müssen im Wesentlichen den Zugang zu Ressourcen, die Chancen der Fortpflanzung und des Brutschutzes untereinander aushandeln. Sie kooperieren und konkurrieren zugleich. Dazu benützen sie Zeichensysteme. Zeichen tragen Bedeutung, sie verstetigen Interpretationen. Ein Warnruf hat den Synergieeffekt, dass nicht jedes Tier der Herde für sich eine Gefahrenlage erkennen muss. Ein Fühllaut erhöht die Wahrscheinlichkeit, auf einen verhandlungsbereiten Sexualpartner zu treffen. Die Entwicklung der Sprache hebt dieses interpretierende Herausvergrößern des Relevanten unter Verwendung von Zeichen auf eine neue Ebene. Zunehmend komplexe soziale Gebilde erfordern flexible Abstimmung, sowohl in der Anpassung an eine sich verändernde Umwelt als auch in der internen sozialen Regulation (Tomasello, 2014; Reck28
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witz, 2017). Noch sind wir irgendwo in der Steinzeit – aber da ereignet sich, asynchron in vielen ganz unterschiedlichen Kulturen der Welt, der nächste Paradigmenwechsel von der gesprochenen Sprache zur Schrift. Mündliche Erzählung, Gesang, Ritual und Tradition, die bislang das kulturelle Gedächtnis bewahrt hatten, können nun über die Zeit fixiert und kodifiziert werden – aber sie werden damit auch vereindeutigt, abstrahiert und entsinnlicht. Zuerst entstehen Bild- und Zeichenschriften, später das Alphabet. Das Wort emanzipiert sich aus seinem unmittelbaren Äußerungskontext und wird zum Begriff. Die Fähigkeit, durch Beschreibung zu begreifen, führt dazu, dass wir die Welt für grundsätzlich beschreibund verstehbar halten. Wir unterwerfen sie unserem Begreifen. Das Hier des Phänomens, das Jetzt des Moments wird als Einzelfall erlebt, der jeweils noch des abstrahierenden Benennens und Begreifens harrt. Etwas Unbeschreibliches, Unbegriffenes können wir uns nicht mehr vorstellen. Wir leben in einer verschriftlichten Welt. Im sozialen Spiegelstadium der schrift- und begriffsbasierten Benennung ist alles zum Imaginären geworden. Dies ist ein irreversibler Übergang, der auch in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, von Lacans Spiegelstadium bis zu Daniel Sterns verbaler Bezogenheit beschrieben worden ist. Was aber geschieht, wenn es keine Begriffe mehr sind, nach denen sich unsere Welterfahrung und unser Gedächtnis ordnet? Der nächste anstehende Paradigmenwechsel in der Kulturtechnik ist die Digitalisierung. Wir können uns jetzt dessen Bedeutung für den Begriff eines konstitutiven digitalen Unbewussten zuwenden. Das digitale Alphabet
So wie wir uns heute eine Welt jenseits von Abbildung und Begriff kaum noch vorstellen können, wird es auch schwerer werden, sich eine nichtdigitale, analoge Welt vorzustellen. Aber die Welt jenseits unserer Vorstellungen ist nicht digital, oder jedenfalls nur sehr selten. Ein Aktionspotenzial ist digital, on oder off, aber es verzweigt sich in analoge Muster von Kollateralen und Telodendrien. Geburt und Tod sind digital, on und off, wenn auch jeweils als Vorgang mühsam und alles andere als ein umgelegter Schalter. Aber das Ausschließliche an der Alternative Leben und Tod können wir wiederum nur aufgrund unseres Bewusstseins und unserer Benennungsfunktion erfassen. Lebewesen ohne ein solches kategorisie29
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rendes Bewusstsein fürchten sich vor Schmerz und Gefahr, aber nicht vor dem Tod. Im Gegensatz zu Organismen sind Rechenmaschinen ihrem Wesen nach digital. Sie können Information nur durch das Alternieren von 0 und 1, Stromfluss oder kein Stromfluss, erfassen. In diesem Sinne könnte man in erster Annäherung die Digitalisierung als eine neue Alphabetisierung verstehen. Die vertrauten Alphabete werden ersetzt durch ein digitales Zeichensystem, das aus nur zwei Zuständen besteht. Die Um-Schreibung des Begriffs und des Bildes ins digitale Alphabet hat ebenso radikale Folgen wie die Um-Schreibung von Erfahrung in Sprache und Schrift. Und zwar deshalb, weil das Zeichensubstrat darüber bestimmt, welche Verknüpfungen es ermöglicht. Sobald jeder Baum »Baum« heißt und jeder Mensch »Mensch«, sind Gleichsetzungen möglich, die ohne diese Zeichenkorrelation nicht erfolgen könnten. Auch mit der Digitalisierung werden neue Verknüpfungen und Äquivalenzen möglich. Und das ist der Punkt, auf den ich hinauswill. Metadaten
Die entscheidende Neubestimmung des Unbewussten, zu der uns das Fortschreiten der digitalen Technologie nötigt, ist nicht, dass die künstliche Intelligenz immer besser das Menschliche simulieren kann (Shanahan, 2020 [2015]), auch nicht die schwarmförmige Vernetzung der Subjekte und ihr »algorithmisches Begehren« (Flisfeder, 2021), sondern die Vernetzung der Lebensprozesse selbst. Das technische Unbewusste der Algorithmen
Denn intelligente Anrufbeantworter und Schwarmphänomene in sozialen Netzwerken machen nur einen – wenn auch augenfälligen – Aspekt digitalisierter Prozesse aus. Weit mächtiger sind Algorithmen der Produktions-, Distributions- und Verkehrssteuerung, selbstlernender Diagnostik, automatisierter Transaktionen etc. Die digital vernetzte Welt der Dinge jenseits der unmittelbaren humanen Benutzerschnittstelle folgt keiner pseudo-intentionalen Handlungslogik, sondern der automatischen Agglutination. Und dieser Bereich, nämlich der, wo Algorithmen nicht auf menschliches 30
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Feedback angewiesen sind, hat ein wesentlich größeres Wachstumspotenzial als die relativ dünne Schnittstelle zum menschlichen User. Und hier wird es interessant. KI-Algorithmen ordnen Metadaten nach inhärenten Strukturen, die keiner menschlichen Logik folgen. Das ist keine geheimnisvolle, verdeckte Operation, sondern die schlichte Logik der Verlinkung selbst. Alleine dadurch, dass etwas im digitalen Universum vorkommt, zum Datum wird, steht es in Verbindung mit anderen Daten. Diese Metadatenverknüpfung abstrahiert von dem Material, mit dem die Primärdaten verbunden sind. Vergleiche ich das Gewicht einer Person mit dem einer anderen, so sind alle anderen sonstigen Eigenschaften der beiden Personen hinsichtlich dieses einfachen numerischen Vergleichs unbeträchtlich. Die Übersetzung in digitale Daten vernachlässigt die analoge Existenz. Ein Problem, das natürlich für alle Begriffsbildungen gilt. Nur: Bislang mussten Begriffe von Menschen gebildet, mussten begriffen werden. Man könnte in diesem Sinne tatsächlich von einem technischen Unbewussten sprechen, ohne leibliche Kontiguität, aber auf einem ähnlichen Prinzip beruhend wie das menschliche Bewusste und Unbewusste, nämlich der Vorhersage. Wenn man sich die Konstitution von Bewusstsein, die Ichbildung, genauer betrachtet, beruht sie auf Antizipation, und sie wird eingeübt in Prozessen von Containment. Auch die Netzlogik und Netzökonomie beruhen auf Antizipation. Jedes Ereignis, das eine Datenspur hinterlässt, ist mit allen anderen Daten verknüpft und beeinflusst die gesamte Datenstruktur, löst Vorhersagen und somit weitere Ereignisse aus. Ein Ergebnis einer Google-Suche in Irland geht in die Bedarfsplanung einer Firma in Südindien ein, und zwar in Echtzeit. Neu daran ist nicht die systemische Verknüpfung selbst, sondern ihre globale Reichweite und ihre Verzögerungslosigkeit. Beide Faktoren unterscheiden die digitale zweite Natur von der natürlichen Umwelt biologischer Lebewesen, die sowohl zeitverzögert als auch teilinfomiert interagiert. Reinhold Görling (2022) verknüpft diesen Befund in einer für mich sehr erhellenden Formulierung mit Begriffen von Alfred Lorenzer und Wilfred Bion, wenn er im Zusammenhang mit der Konjunktur entwertender Hasskommunikation davon spricht, dass in der Algorithmenkultur durch die Abkopplung von einem sinnlich-symbolischen Zusammenhang eine Desymbolisierung stattfindet, ähnlich der Ideologiebildung. Somit »bilden diese Ideologien so etwas wie Angriffe auf das Verbinden, also 31
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attacks on linking« (ebd. S. 10). Ich würde diesen Gedanken über die Welt der Shitstorms und Hassrede in sozialen Netzwerken hinaus auf die basale Verbundenheit mit Alltagsalgorithmen erweitern wollen. Wir sind im Alltag auf eine so intime Weise mit diesem Datenteppich verbunden, dass es zunehmend fraglich wird, ob wir uns noch kategorial von ihm unterscheiden. Längst haben die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften diese Herausforderungen angenommen; so beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz (2017) die Umkehrung »von der technischen Kultur der industriellen Moderne zur Kulturmaschine der Spätmoderne« (S. 259) und Marie-Luise Angerer spricht von einem »Nicht-Bewussten« in der Zwischenzone zwischen menschlicher und maschineller Kognition (2020, S. 82). Die Frage, die sich stellt, ist, wie sich das auf unsere psychoanalytische Vorstellung vom Unbewussten auswirkt. Das eingangs erwähnte Argument, dass ein menschliches, analoges, leibliches Unbewusstes niemals von einem digitalen Unbewussten ersetzt werden kann, dass es ein Paradigmenfehler sei, den Begriff des Unbewussten auf einen technischen Vorgang anzuwenden, trifft zu. Maschinen sind keine Subjekte, jedenfalls solange sie nicht in einem Leib leben. Aber auf der anderen Seite haben wir gelernt, die unverzichtbare Leibbasierung von Subjektivität aus der Beschränkung auf die One-Body-Psychology in eine Dimension der interpersonalen Bezogenheit zu überführen. Menschliches Bewusstsein, und mit ihm Unbewusstes, entsteht im intimen, leiblichen, verkörperten Austausch mit anderen. Freilich: In diesen Austausch schreibt sich auch das umfassende Aggregat virtueller Prothesen ein, in dem wir leben. Eine Welt, in der schier alles zur Verfügung zu stehen scheint; nicht nur in der Illusion der Widerstandslosigkeit, die die sozialen Medien vermitteln, sondern in der Widerstandslosigkeit der Wunscherfüllung selbst wird die frühe Not des kindlichen Existierens anders verhandeln – und auch die erwachsene Mühe des Lebens in einem festgelegten Körper. Lorenzers »Einigungssituation« (1972), Laplanches primäre Verführung (2017 [1987]), in der der rezeptive Säugling durch die Mutter strukturiert und sexualisiert wird, oder der mütterliche Container in Bions Metaphorik (2013 [1970]), der die Alpha-Elemente bereitstellt, um die die ungedachten Gedanken des Säuglings sich kristallisieren – sie sind nicht unbeeinflusst von der Struktur der materiellen Lebensprozesse und ihrer Algorithmisierung. Wir sollten uns der Frage öffnen, wie und welche Elemente einer 32
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digitalisierten und von leiblosen Algorithmen organisierten Welt des Wissens, des Fühlens und der Dinge eine noch allgemeinere Verführung darstellen. Das Eindringen der digitalen Prothesen ins Unbewusste verändert das menschliche Subjekt, wie wir es kennen. Philipp K. Dick hat die rhetorische Frage gestellt, ob Androiden von elektrischen Schafen träumen. Was werden vernetzte Mütter in ihrer Reverie, was Analytiker in der Zoomsitzung träumen? Das Verwachsen mit der Prothese ist unvermeidlich, denn die Algorithmisierung ist der Stand der Produktivkräfte. Netzbasierte, immaterielle Formen von Austausch, Produktion und Dienstleistung sind dabei, die klassischen, auf analoger Kommunikation und leiblichem Handeln beruhenden Wirtschaftsformen zu überholen, und zwar in der Form disruptiver Innovation, die innerhalb relativ kurzer Zeit ganze Industriezweige revolutionieren kann (vgl. Christensen et al., 2018).
Fazit Mir scheint, mein zuversichtliches Selbstzitat vom Anfang dieses Beitrags hat im Lauf dieser Überlegungen eine Einschränkung erfahren. Im Jahr 1998 ging ich noch davon aus, dass Computer nicht gewickelt werden müssen und ihr Seelenleben sich nicht im Lachen und Weinen, in Resonanz mit ihrer Umgebung entwickelt. Das stimmt ja auch – aber ich habe damals noch nicht mit dem Netz gerechnet. Ein algorithmisches, multizentrisches Subjekt dieser Größenordnung war nicht abzusehen, ebenso wenig das Ausmaß, in dem es durch Erheiterung und Belustigung geformt wird. Hypes und Shitstorms sind die affektiven Eltern des Netzsubjekts und Reinigungsalgorithmen seine Windeln. In diesem Sinne können wir noch einmal mit Parin fragen: Haben wir ein brennendes Zeitproblem? Nicht die Tatsache, dass wir gern unsere digitalen Gadgets nutzen, sondern jene, dass Produktions-, Distributions- und Regulationsprozesse eben zunehmend keinen Bediener mehr brauchen, sondern sich selbstlernend weiterentwickeln, wird menschliche Subjekte, in denen sich Sinn bildet und in denen sich ein dynamisches Unbewusstes bilden kann, weil sie unausweichlich an ihren Leib gebunden sind, überflüssig machen. Es wird ein technisches Unbewusstes geben, das außerhalb des menschlichen Zugriffs agiert. Es dürfte weitgehend kognitiv-prozedural sein, das heißt aus automatisierten Steuerungsmechanismen bestehen, deren Einzelheiten wir 33
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gar nicht mehr wissen wollen. Es wird gewiss auch Einzelheiten geben, die wir nicht wissen dürfen – aus Sicherheitsgründen werden selbstlernende künstliche Intelligenzen Steuerungszugriffe auf systemrelevante Domänen blockieren (sehr schön ist das schon am Beispiel des Supercomputers HAL in Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum ins Bild gesetzt worden). Freilich ist nicht das technische, sondern das menschliche Unbewusste unser psychoanalytischer Gegenstand. Es wird in dem Maße, in dem wir mit einer algorithmisierten Lebenswelt verschmelzen, von dieser mitkonstituiert sein. Aber aus digitalen Signifikantenketten allein kann das Unbewusste nicht hervorgehen. Androiden träumen nicht von elektrischen Schafen – sie träumen gar nicht, weil sie keinen Leib haben, der ihre Kognitionen stört. Das menschliche Unbewusste konstituiert sich in einem Übergangsraum. Es wirft den seiner selbst noch unverfügbaren Blick in einen Spiegel, der das Imaginäre konstituiert und es irreversibel vom unverfügbaren Realen trennt. Aber es wird ein anderer, ein digitaler Spiegel sein. Dieser Blick in den Spiegel freilich wächst aus der Urzelle der mütterlichen Chora, solange wir eine Mutter haben. Und deshalb wird es sich in diesem digitalen Spiegel neu erfinden, wie es sich seit Freud stets neu erfunden hat. Literatur Altmeyer, M. (2016). Auf der Suche nach Resonanz: Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Angerer, M. L. (2020). Nichtbewußtsein. Über die affektiv-digitale Transformation eines humanen Kernbereichs – ein erster Entwurf. In M. Huber, S. Krämer & C. Pias (Hrsg.), Wovon sprechen wir, wenn wir von Digitalisierung sprechen? Gehalte und Revisionen zentraler Begriffe des Digitalen (S. 73–86). Universität Bayreuth. Aral, S. (2020). The Hype Machine: How Social Media Disrupts Our Elections, Our Economy, and Our Health – And How We Must Adapt. New York: Harper Collins. Baranger, M. & Baranger, W. (2018 [1961]). Die analytische Situation als dynamisches Feld. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 72, 739–784. Bauriedl, T. (1980). Beziehungsanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bion, W. R. (2013 [1970]). Attention and Interpretation: A Scientific Approach to Insight in Psycho-Analysis and Groups. London: Routledge. Bogner, A. (2021). Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam. Brunner, M., Burgermeister, N., Lohl, J. Schwietring, M. & Winter, S. (2012). Psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum. Geschichte, Themen, Perspektiven. Freie Assoziation, 15(3/4), 15–78.
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Biografische Notiz
Andreas Hamburger ist Germanist, Psychologe, Psychoanalytiker (DPG/IPV) und Lehranalytiker/Supervisor in München (DGPT, DGSv) sowie Professor für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Er forscht derzeit zu Sozialem Trauma, Szenisch-narrativer Mikroanalyse, Filmpsychoanalyse und Supervision. Weiterhin ist er Vorsitzender des Vorstands der Köhler-Stiftung und Mitherausgeber der Zeitschrift Trauma Kultur Gesellschaft.
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Subjekt und Medium in der digitalen Welt Psychoanalytische Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen1 Elfriede Löchel
Die Auseinandersetzung mit den digitalen Medien in der analytischen Community ist seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 sprunghaft angestiegen. Das ist nicht überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass sie davor mehr als 30 Jahre lang sehr zurückhaltend verlief. Caparotta und Lemma hatten noch 2014 den Eindruck, dass die analytische Community »allergisch« auf das Thema reagiere (Caparotta & Lemma, 2014, S. 1). Erst der Druck der Pandemie, die Notwendigkeit, sowohl mit Patienten als auch in der beruflichen Zusammenarbeit und sogar in der privaten Kommunikation auf Online-Medien zurückgreifen zu müssen, um sich selbst und andere zu schützen, erst diese unausweichlichen Erfahrungen am eigenen Leib haben eine Welle von Diskussionen ausgelöst. Es gab nicht wenige Stimmen, die diese lang verschmähten und gefürchteten Medien jetzt plötzlich gar nicht mehr so schlimm fanden. Die Erleichterung war groß, in der Not ein Hilfsmittel zu haben, mit dem sich der Kontakt zu Patienten in Zeiten hoher Ansteckungsgefahr halten ließ. Das begünstigte die Bereitschaft, nach diesem neuen Mittel zu greifen und es als Instrument zu nutzen, oft ohne sich genaue Kenntnisse darüber verschafft zu haben. Nun stellten sich primär praktische Fragen: Wie lässt sich online ein halbwegs funktionierendes Setting erreichen? Wie gestaltet man Online-Kontakte am besten, um die fehlende Präsenz auszugleichen (Sedlacek, 2021)? 1 Der Beitrag ist eine aktualisierte, überarbeitete und gekürzte Fassung meiner 2019 erschienenen Arbeit »›Sprache des Abwesenden‹. Psychoanalytische Reflexionen zum Subjekt des digitalen Zeitalters«. Psyche – Z Psychoanal, 73, 698–725.
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Wie begegnet man den Datenschutzproblemen? So wichtig diese Fragen für die Praxis sein mögen, so sehr vermeiden sie erneut eine eingehende psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem Medium. Sie vermeiden auch eine tiefergehende Untersuchung des übergreifenden Digitalisierungsprozesses in seiner Bedeutung für Subjekt und Gesellschaft. Ich möchte daher ein paar Schritte zurückgehen und einen Blick auf vorangegangene psychoanalytische Diskurse werfen, um einen breiteren und historisch informierten Kontext für die aktuellen Diskussionen zu schaffen. Mein Beitrag beruht auf der Reflexion der psychoanalytischen und analytisch-sozialpsychologischen Auseinandersetzung mit dem, was in den 1980er Jahren »der Computer«, in den frühen 1990ern »Informations- und Kommunikationstechnologien«, dann »das Internet« und schließlich »Social Media« genannt wurde. Ich beziehe mich nicht auf die Gesamtheit der Computer- und Internettechnologien, sondern speziell auf jene, die die alltäglichen Prozesse der Kommunikation und Interaktion, des Lesens und Schreibens, der Bild- und Musikrezeption vermitteln und daher umfassend und vermutlich tiefgreifend in die Lebenswelt der allermeisten Subjekte eindringen. Da es mir um die spezifisch psychoanalytischen Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen geht, ist vorweg eine weitere Einengung des Untersuchungsgegenstandes erforderlich.
Abgrenzung eines spezifisch psychoanalytischen Untersuchungsgegenstandes Die gesellschaftlichen Prozesse der Globalisierung, Ökonomisierung und Flexibilisierung haben nicht nur Veränderungen in der Produktion und Distribution von Waren und den dazugehörigen Arbeitsverhältnissen mit sich gebracht, sondern auch die Auflösung traditioneller, das heißt zeitlich und räumlich situierter sozialer Bindungen und Lebensformen herbeigeführt. Zwischen den ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationen und der ungeheuer schnellen Entwicklung und Ausbreitung der digitalen Informations- und Kommunikationsmedien besteht ein enger Zusammenhang. Letztere sind in fast alle – auch bislang als privat geltenden – Lebensbereiche eingedrungen (siehe dazu z. B. Krotz & Hepp, 2012; Stalder, 2016; Simanowski, 2016; King, 2018). Eben dieser Bereich der Berührung und Überschneidung mit dem bislang »Privaten« und Intimen, 40
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der Wünsche, Ängste, Konflikte des Subjekts, verlangt Forschungszugänge, die in der Lage sind, sich dieser Schnittstelle zuzuwenden. Dazu bieten sich psychoanalytische Ansätze an. Die Fokussierung auf die individuellen, konfliktreichen und verletzlichen Prozesse der psychischen Strukturbildung, die unser analytisches Arbeiten ausmacht, ist allerdings nicht gleichzeitig mit dem Blick auf die Komplexität der gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Bedingungen der Digitalisierung zu haben. Wie der Kulturwissenschaftler Josef Vogl (2021) in seiner aktuellen Monografie Kapital und Ressentiment sehr eindrücklich zeigt, beinhalten die gegenwärtigen Transformationsprozesse eine hochkomplexe Konstellation von Faktoren, die sich in den Dynamiken der Finanzökonomie, neuen Formen des Unternehmertums wie dem sogenannten »Plattformkapitalismus« und der Plattformkommunikation (Social Media) manifestieren und zu neuartigen Formen gesellschaftlicher Regulierung und Deregulierung führen. Psychologische und psychoanalytische Forschungsansätze dagegen richten den Blick auf das Subjekt. Dabei interessieren wir uns als Psychoanalytiker nicht vorrangig für das Manifeste, sondern für die verborgenen, latenten, unbewussten Dynamiken der Subjektkonstitution. Wir würden gerne wissen, ob – wie es soziologisch zu erwarten ist – angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen auch die Subjekte sich verändern, nicht nur an der Oberfläche, auf der Erscheinungsebene, sondern in den unbewussten Prozessen der Strukturbildung selbst. Leider haben in diesem Bereich schnell auffällige pathologische Phänomene Aufmerksamkeit gefunden, wie Sucht, Perversion, extreme Rückzüge und Gewalt, die mit dem Gebrauch digitaler Medien verbunden sein können (z. B. Heim, 2005; Balzer, 2005, 2012, 2016; Türcke, 2011). Diese Blickrichtung auf Pathologien, auch wenn sie der psychoanalytischen Zunft naheliegt, führt meines Erachtens aber in die Irre. Vermutlich ist es vielmehr der unspektakuläre, selbstverständliche, den Alltag durchdringende Mediengebrauch, der tiefgreifende Spuren und langfristig wirkende Weichenstellungen in den Subjekten hinterlässt. Doch können Psychoanalytiker nicht so schnell wie Soziologen, Ökonomen, Kulturwissenschaftler von einem »Strukturwandel« infolge der Digitalisierung sprechen. Dass viele neue Verhaltensweisen und Praktiken beim Gebrauch beispielsweise des Smartphones entstanden sind, ist offensichtlich – aber ändern sich auch die unbewussten psychischen Strukturen, die uns als Subjekte ausmachen? Verändert der alltägliche Gebrauch der digitalen und vernetzten Kommunikationsmedien die Subjektbildung, die sich in der Beziehung 41
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und Interaktion mit dem Anderen herstellt? Unschwer können wir an uns selbst beobachten, dass sich das Raum- und Zeiterleben verändert, dass sich der Umgang mit Grenzen verändert, dass sich die Art und Weise, wie wir mit anderen Kontakt halten, verändert. Die Selbstverortung in Raum und Zeit, die Anerkennung der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit, das Aushalten der getrennten Existenz und der Unverfügbarkeit des Anderen sind zentrale Aspekte der psychoanalytischen Theorie des Subjekts. Sie geht traditionell davon aus, dass die Subjektbildung in der Auseinandersetzung mit den leiblich verankerten Forderungen triebhaften Wünschens und Lustsuchens in konflikthaften intersubjektiven Konstellationen stattfindet. Das wird klassisch als Durcharbeitung der Konflikte mit den Primärobjekten, speziell der ödipalen Konflikte, beschrieben. Wird sich daran etwas Wesentliches verändern? Und wenn ja, wie lässt sich das untersuchen? Forscher wie Beforschte, Analytiker wie Patienten sind gleichermaßen verstrickt in einen hochkomplexen Transformationsprozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Es gibt keine Erkenntnisposition von außerhalb. Es ist nicht der erste soziale Wandel, der die Frage nach möglicherweise veränderten Subjektstrukturen aufwirft. Die analytische Sozialpsychologie versuchte seit Erich Fromm (2005 [1932]) immer wieder mit dem Konzept des »Sozialcharakters« die Verklammerung individueller psychischer Struktur mit der sozio-ökonomischen Struktur der Gesellschaft in Form von Typologien zu denken: Angefangen mit dem »autoritären Charakter« (Adorno, 1995 [1953]) über den »neuen narzisstischen Sozialisationstyp« (Ziehe, 1985) bis hin zu den Konzepten der »kommunikativen Verflüssigung« der intrapsychischen Objektwelt (Honneth, 2000) und der »postheroischen Persönlichkeit« (Dornes, 2012). Dagegen hat Reimut Reiche am Beispiel des Begriffs der »frühen Störungen« (1991) und später am Beispiel des soziologischen Konzepts der Beschleunigung (2011) deutlich gemacht, dass die Annahme einer bruchlosen Verschränkung gesellschaftlicher mit individueller Struktur das eigentliche Feld sowohl der Psychoanalyse wie auch der Soziologie verfehlt. In jedem Fall stellt sich die Frage, welche Theorien und Konzepte, welche Forschungswege sich für psychoanalytische Digitalisierungsforschung am besten eignen. Ich werde im Folgenden in drei Schritten vorgehen: Nach einer kurzen Erläuterung meines Medienbegriffes werde ich einen historischen Rückblick auf bisherige psychoanalytische Beiträge zum Thema Computer, Internet, Social Media geben und die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen der verschiedenen Zugänge diskutieren. Im Anschluss daran möchte ich drei Konzepte für 42
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einen psychoanalytischen Subjektbegriff vorschlagen, um im Feld der Interdisziplinarität die Spezifität dessen, wozu Psychoanalyse etwas beitragen kann, auszuweisen.
Medien Medien gibt es, »weil es Alterität gibt«, so der Philosoph Dieter Mersch. »Alterität meint ein ›Anderes‹, das sich dem Zugriff zunächst verweigert, das eines Dritten bedarf, um seine Vermittlung, seine Symbolisierung, Aufbewahrung, Übertragung oder Kommunizierung zu garantieren« (Mersch, 2006, S. 9). In diesem Sinne haben wir es als Psychoanalytiker ständig mit Medien zu tun; wir wissen darum, in welchem Ausmaß die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die Beziehung zum Anderen, zur Realität durch die Dynamik unbewusster Fantasien, durch die Übertragung vermittelt ist. Viele Grundbegriffe der Metapsychologie sind, wenn man sie genau betrachtet, als Medien gefasst: In Freuds Konzeption des Triebes als »Grenzbegriff« (Freud, 1915c, S. 214) erscheint dieser, Repräsentant und Repräsentiertes zugleich, als Mittler zwischen Soma und Psyche, bezeugt allein durch »Abkömmlinge«, die auf Unfassbares, Entzogenes verweisen; der »unzerstörbare«, Erfüllung und Verfehlung verschränkende Wunsch gilt als Vermittler aller seelischen Bestrebungen (Freud, 1900a, S. 609, 626). Beide Modi setzen das Subjekt in ein Verhältnis zu einem grundlegenden Mangel, Abwesendem, Entzug (Löchel & Menzner, 2011). Hier berührt sich psychoanalytisches Denken mit kultur- und medienwissenschaftlichen ebenso wie mit anthropologischen Ansätzen: Medien, Techniken, Technologien haben den Menschen und seine Beziehung zu sich selbst wie zur Welt von Anfang an begleitet. »Der Mensch verdankt seine menschliche Existenz der Möglichkeit zur Verwendung von Medien, denn weil es Medien gibt, lebt der Mensch nicht ausschließlich in der physischen Natur, sondern auch in einer Kultur«, so der Kulturwissenschaftler Lambert Wiesing (2008, S. 7). Medien sind Teil der Natur des animal symbolicum. Nicht allein die Sprache, sondern Werkzeuge, Geld, Schrift, Theater, später Buchdruck, Foto- und Phonografie etc. haben als Medien die Selbst- und Weltbeziehung menschlicher Subjekte geprägt (vgl. Hörisch, 2001). Einige davon sind, so meine These (Löchel, 2006, 2008), viel stärker mit den Subjekten »verwachsen«, als Freud (1930a, S. 451) es in dem berühmten Wort vom »Prothesengott« denkt. Wer würde ernsthaft behaupten wollen, Schrift 43
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und Buchdruck, Lesen und Schreiben seien dem Menschen äußerlich geblieben? Die Schrift schuf, verglichen mit oralen Kulturen, eine neue Art von Abwesenheit, auf die sich über räumliche und zeitliche Begrenzungen hinaus bezogen werden konnte (vgl. Ong, 1987; Löchel, 2006, 2008). Sie prägte, ebenso wie später der Buchdruck und die das Lesen und Schreiben vermittelnde allgemeine Schulpflicht, auch die psychische Struktur. Die Konstitution des neuzeitlichen Subjekts, dessen unbewusste Kehrseite Freud ins Spiel brachte, wäre ohne diese medialen Voraussetzungen nicht denkbar. Sie haben konstitutiven Charakter, verfallen aber selbst der charakteristischen »Medienvergessenheit«. Medien haben die Eigenschaft, sich selbst der Wahrnehmung zu entziehen, wie die Philosophin und Medienwissenschaftlerin Sibylle Krämer mit Bezug auf die Metapher des »Boten« herausarbeitet (Krämer, 2008). »Indem Medien etwas zur Erscheinung bringen, tendieren sie selbst dazu, unsichtbar zu bleiben« (ebd., S. 27), dennoch konstituieren sie Subjektpositionen und hinterlassen Spuren im Subjekt (ebd., S. 276ff.). Die Literaturwissenschaftler Dünne und Moser (2008, S. 7) weisen auf das Missverständnis hin, Medien »lediglich als Werkzeug eines je schon existierenden Subjekts« zu betrachten. Vielmehr sei »der Selbstbezug eines Subjekts immer schon auf eine mediale Exteriorisierung angewiesen« (ebd., S. 8). Auch wenn Medien so alt wie die Menschheit sind, ist die Reflexion darauf ein relativ neues Phänomen. Sie wird in systematischer, wissenschaftlicher Weise erst möglich, nachdem die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Aufzeichnungstechniken nachträglich auch Schrift und Buchdruck als mediale Voraussetzungen des Denkens kenntlich werden lassen (Wetzel, 1989). Die Computerisierung, wie man in den 1980er Jahren sagte, während man gegenwärtig von der »Digitalisierung« spricht, geht einher mit einer Expansion der Medienwissenschaften. Der mediale Umbruch sorgt dafür, dass etwas thematisiert wird, das in Zeiten eingeschliffenen Funktionierens unsichtbar und stumm bleibt. Dieses Feld der Berührung, Kreuzung, Überschneidung, aber auch Differenzierung von Psychoanalyse und Medientheorie eröffnet ein spannendes interdisziplinäres Forschungsgebiet. Der Dialog mit Nachbarwissenschaften ist für Psychoanalytiker unabdingbar, weil das, was Psychoanalyse herausfinden kann, Grenzen hat. Die Frage ist: Wie kann Psychoanalyse als Forschungsinstrument dazu beitragen, die aktuelle Fragestellung, ob Strukturen der Subjektivität sich verändern, zu untersuchen? Wie kann sie den Spuren nachgehen, die Spuren lesen, die die Medien im Subjekt hinterlassen – und gleichzeitig auch in den Modi Operandi der Medien Spuren der Subjekte entdecken? Was kann sie nicht? 44
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Rückblick Ein kurzer historischer Rückblick zeigt, dass psychoanalytische Ansätze seit den Anfängen sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung zum Computer involviert waren. Angeregt waren viele der Untersuchungen seit Ende der 1980er Jahre durch Sherry Turkles methodisch unkonventionelle ethnografische Studie zum Computer als »Wunschmaschine« (Turkle, 1984). Turkle begab sich als teilnehmende Beobachterin und Interviewerin in das Feld der IT-Entwickler am Massachusetts Institute of Technology, aber auch in Kindergärten, in denen Kinder mit elektronischem Spielzeug spielten, und fragte an Ort und Stelle nach Gedanken, Gefühlen, Einstellungen im Umgang mit dem technischen Objekt, das damals noch viel mehr als heute ein »Ding« war – ein Ding allerdings, das auch schon vor dem Internet mit interaktiven Eigenschaften versehen war. Bereits Weizenbaum (1978) hatte mit seinem »Eliza«-Programm darauf aufmerksam gemacht, wie ein minimalst interaktives Programm menschliche Nutzer in Fantasien eines Gegenübers verstricken. Durch diese Sichtweise angeregt bildeten sich in den späten 1980er Jahren in Frankfurt am Main (Noller et al., 1988) und an der Universität Bremen (Leithäuser et al., 1995) Forschungsgruppen, die anhand qualitativer, psychoanalytisch orientierter Erhebungs- und Auswertungsmethoden den Ansatz Turkles weiterentwickelten. Auch qualitative soziologische Studien bedienten sich psychoanalytischer Kategorien (z. B. Schmidt, 1990; Schachtner, 1993), um das neue Forschungsfeld explorativ und subjektzentriert zu erschließen. Charakteristisch für jene Zeit ist der von Krafft und Ortmann 1988 herausgegebene Band Angstlust am Computer, der unter anderem einen nicht pathologisierenden Beitrag des Psychoanalytikers Hermann Beland mit dem Titel »Computerfaszination und Lebensgeschichte« enthielt.2 Die weiteren Beiträge von Sozialwissenschaftlern, Sozialpsychologen und Informatikern befassten sich mit Themen wie »Wunschbilder und Alpträume vom Computer« (Becker-Schmidt, 1988) oder »Thrills am Computer« (Hübner 2 Beland (1988) ging davon aus, dass die zu »Computerfaszination« führenden intrapsychischen Bedingungen »zu den großen anthropologischen Konstanten gehören« (ebd.). Zwei »große Komplexe« schienen ihm hierbei ausschlaggebend, nämlich die »Verwendung des Computers als Objekt« (insbesondere als primäres Objekt im Sinne Balints Oknophilie und Philobatismus) und die durch den Computer ermöglichte »Selbstgefühlsteigerung« (ebd., S. 59).
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et al., 1988). Ein Grund für die relative Offenheit sozialwissenschaftlicher Autoren gegenüber psychoanalytischen Begriffen lag eben in der bereits erwähnten »evokatorischen Potenz« der neuen Technologie, selbst in den Zeiten vor dem Internet, seine Nutzer in Interaktionen, Übertragungen, Fantasiebildungen zu verstricken. Während also schon der unvernetzte Computer dank seiner interaktiven Programme in Fantasiebildungen und höchst individuelle Beziehungsmuster bis hin zu Personifizierungen (Tietel, 1995) verstrickte, haben sich seit der Verbreitung des Internets und insbesondere der Social Network Sites die Beziehungsoptionen, die den individuellen Nutzern offenstehen, potenziert. Social Media (Facebook, Twitter, WhatsApp, Tinder, SnapChat, Instagram, Tumblr etc.) ermöglichen eine unermessliche Steigerung der Anzahl internetvermittelter Kontakte mit anderen Menschen, bekannten und unbekannten. Sie ermöglichen aber auch Verbindungen zu einer unendlichen Menge nicht menschlicher Objekte – Bilder, Töne, Filme, Texte, Zeichensysteme –, auf die man sich auf der Suche nach Information oder Kontakten, beim Spielen, Arbeiten, Kommunizieren beziehen kann. Die von Subjekten eingegangenen Interaktionen mit anderen Subjekten lösen wiederum »Interaktivitäten von Programmen und anderen Objekten« aus, die einen »Raum der Interobjektivität und der Intertextualität« (Rammert, 2000, S. 116) erzeugen – ein sozialer Raum zwar, aber doch ein »hybrider«, noch genauer zu bestimmender Raum. So stellt sich die Frage: »Wer interagiert hier mit wem?« (Krämer, 1997, S. 87) Zu Recht wird immer wieder kritisch darauf hingewiesen, dass in dem Begriff der »Social Media« die sozialen, interpersonellen Verbindungsstrukturen mit der technologisch-medialen Infrastruktur des Datenaustauschs gleichgesetzt werden. Das gibt insbesondere jenen Autoren Anlass zu Kritik, die das »Soziale« im Sinne Max Webers (1976 [1922]) als ein »aufeinander gegenseitig eingestelltes« Verhalten verstehen. Soziabilität in diesem Sinne beruht auf der inneren Vorwegnahme des Verhaltens bedeutungsvoller Anderer und wechselseitiger Abstimmung, was eine innere Repräsentanz des Anderen wie des eigenen Selbst voraussetzt, die überdauernd existiert und emotional besetzt ist. »Social Media« können in diesem Sinne nicht »sozial« sein (Krotz, 2014). Dieser Auffassung stehen jedoch neuere Theoretisierungen des Sozialen entgegen, die »hybride Handlungsträgerschaften« im Rahmen von »soziotechnischen Systemen« (Rammert, 2009) oder »Akteur-Netzwerke« (Latour, 2007), in denen Menschen als »Interaktionsagenten« neben Dingen, Strukturen, 46
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Medien berücksichtigt werden, annehmen. Beachtenswert sind die epistemologischen Impulse dieser Theorien, die die Annahme eines souveränen Subjekts, das in der Natur und unter den Dingen eine Vorherrschaft innehat, infrage stellen. Im psychoanalytisch-klinischen Kontext wird man sich von einem Subjektbegriff mit dem Fokus auf dem Leidensdruck, den Wünschen, Ängsten und Konflikten sowie der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, nicht verabschieden wollen. Dennoch stellt sich angesichts der Hybridisierung der sozialen Systeme heute die Frage nach der Verfasstheit dieses Subjekts dringlicher als zu Beginn der Computerisierung. Festzustellen ist jedoch, dass in den vorliegenden Veröffentlichungen häufig unklar bleibt, von welchem Subjektbegriff die Autoren eigentlich ausgehen.
Psychoanalytische Diskurslinien Trotz des zunächst vielversprechenden Beginns psychoanalytisch inspirierter Forschungsaktivitäten konnte sich kein größeres, einflussreicheres psychoanalytisches Forschungsfeld etablieren, weder an den Universitäten noch in den Fachgesellschaften. Von klinisch arbeitenden Psychoanalytikern erschienen erst relativ spät und vereinzelt Publikationen, die die neuen digitalen Medien überwiegend negativ bewerteten und gravierende Folgen für die Subjekte befürchteten, dabei jedoch in auffallender Weise klinisches Material dafür schuldig blieben (z. B. Ermann, 2003; Heim, 2005; Balzer, 2005, 2012, 2016; Hardt, 2012; Plassmann, 2013). Ausgewogener klangen dagegen die Publikationen von Kinder- und Jugendlichenanalytikern, die durchweg auf klinischer Beobachtung und Falldokumentation beruhten (Günter, 2010; Döser, 2015; Gätjen-Rund, 2015; Gätjen 2021). Eine breitere Auseinandersetzung fand im deutschsprachigen Raum nicht statt. Auch international zeichneten sich kontroverse Linien ab: Während Bollas (2015) kulturpessimistisch von »Subjektizid« infolge der Digitalisierung spricht, tritt Lemma (2015, S. 408) mit klinischen Fallbeispielen dafür ein, dass »der Cyberspace dafür genutzt [werden könne], mit imaginierten Embodiments zu experimentieren«, um auf diese Weise die Bildung psychischer Repräsentanzen zu ermöglichen und integrative Entwicklungsprozesse zu fördern. Berufspolitisch wird gleichzeitig die Frage der Remote Analysis auf internationaler Ebene pragmatisch affirmativ beantwortet (Carlino, 2011; Scharff, 2013; Gutierrez, 2017). Für die deutschsprachige Psychoanalyse hat dagegen Hardt (2018) eine methodisch gut begründete 47
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Gegenposition entwickelt. Um das Feld bisheriger psychoanalytischer Auseinandersetzung mit den Internetmedien zu umreißen, möchte ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit exemplarisch einige im deutschsprachigen Raum vertretene Positionen skizzieren. Anders als die frühen analytischsozialpsychologischen Arbeiten zum Computer, die meist zu gemäßigten Schlussfolgerungen gelangten, klangen die ersten Reaktionen aus dem Kontext der klinischen Psychoanalyse, die nach der Verbreitung des Internets auftauchten, wie Aufschreie: Der seelische Innenraum, die Erregungsregulierung und Beziehungsfähigkeit der Subjekte schienen in höchster Gefahr (Balzer, 2005, 2012, 2016; Heim, 2005; Guignard, 2011; Hardt, 2012; Plassmann, 2013). Ein Beispiel dafür sind die beachtenswerten Thesen Werner Balzers (2005), dem die elektronischen Medien als »Präsenzmaschinen und Absenzvernichter« (ebd., S. 45) gelten. Balzer beschreibt, in Anlehnung an den Philosophen Christoph Türcke (2002) eine Zerrüttung menschlicher Aufmerksamkeit durch permanent auf die Subjekte einströmende Bildschirmreize. Türcke (2011) prägte dafür den Begriff der »mikroelektronischen Aufmerksamkeitsdefizit-Kultur«. Das kulturelle Phänomen der allgegenwärtigen Bildschirmreize wird in einen ursächlichen Zusammenhang mit der zunehmenden Häufigkeit des klinischen ADHS-Syndroms gebracht. Erregung träte an die Stelle von Bedeutung. »Über-Ich- und Idealbildung und letztlich die Ausbildung der kulturbildenden Schuldgefühlsfähigkeit« stünden auf dem Spiel (Balzer, 2005, S. 41). »Ikonische Denkstile« und »Lust am Nichtdenken« führten zum Verlust der Symbolisierungsfähigkeit; statt differenzierter Subjekt-Objekt-Beziehungen, in denen Getrenntheit durch spannungsvolles Begehren zu überwinden gesucht werde, entstünden »adhäsive Verklebungen mit aufdringlichen medialen ›Objekten‹« (ebd.). Prognostiziert wird die Heraufkunft eines »immersiven Typus« (ebd., S. 53) oder eines »sensoritären Charakters« (Balzer, 2012, S. 746). Auch die französische Kinder- und Jugendlichenanalytikerin Florence Guignard, die im deutschsprachigen Raum häufig zitiert wird, geht von weitreichenden Folgen für die Triebentwicklung aus. Ihre These ist, dass die Omnipräsenz medialer Objekte die Möglichkeit unmittelbarer Wunscherfüllung suggeriere. Triebaufschub und psychische Strukturbildung seien somit gefährdet. Insbesondere die leichte Zugänglichkeit sexueller Bilder und Reize für Kinder und Jugendliche lässt Guignard befürchten, dass die Latenzphase der Triebentwicklung, die Freud als wesentlich für Ich-Bil48
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dung und Sublimierungsfähigkeit ansah, in den westlichen Gesellschaften im Schwinden begriffen sei. Beide Ansätze beruhen auf Anregungen aus der klinischen Praxis, Alltagseindrücken und der Verwendung psychoanalytischer Theorie. Die Schlussfolgerungen gehen weit über den klinischen Einzelfall hinaus. Klinisches Denken wird auf kulturelle Phänomene angewandt, wobei die Frage der Vermittlung nicht einmal gestellt wird. Auf ähnliche Weise werden häufig extreme, pathologische Phänomene wie Sucht, Gewalt, Selbstverletzungen, autistoide Rückzüge etc. als Grundlage für weitreichende Schlüsse auf kulturelle Veränderungen genommen. Gleichzeitig werden die vermuteten Veränderungen als Folgen der digitalen Medien aufgefasst, es wird also indirekt ein Kausalzusammenhang behauptet. Daraus ergibt sich wie selbstverständlich die einseitig kulturpessimistische Deutung: Die Folgen der digitalen Medien für die Subjekte stellen einen Verlust, einen Verfall, ein Defizit dar. Sich verändernde kulturelle Praktiken werden pathologisiert. Ein Überschuss an Spekulation und mangelnde Fundierung liegen aber auch dann vor, wenn ein Autor in das gegenteilige Extrem verfällt. Dies ist der Fall bei Martin Altmeyer (2013), der der kulturpessimistischen Dramatisierung eine geradezu jubilatorische Ausrufung eines neuen Sozialcharakters entgegenstellt, den er die »exzentrische Psyche« nennt. Die Medienverhaftung Jugendlicher sei, so Altmeyer, »keineswegs autistischer Natur« (ebd., S. 5), sondern entspreche, wie die Social Media zeigten, dem lebenswichtigen Bedürfnis nach »Selbstdarstellung« und »Resonanz«. Der These vom Verlust des seelischen Innenraums stellt er den Gewinn an sozialer »Vernetzung« gegenüber. Die technisch vernetzte mediale Kommunikationsstruktur wird mit der »vernetzten Seele« gleichgesetzt und daraus ein »exzentrischer Charakter« abgeleitet: »Im Zuge einer mentalen Modernisierung neigt das zeitgenössische Selbst dazu, sich der ganzen Welt zu zeigen, um wahrgenommen zu werden, Beachtung zu finden und Resonanz zu erhalten« (ebd., S. 3). Die »zeitgenössische Seele« habe sich auf den Weg gemacht, »den mentalen Innenraum zu verlassen und buchstäblich aus sich herauszugehen: Einerseits vom eigenen Unbewussten getrieben, andererseits von der globalen Kommunikationsgesellschaft dazu eingeladen, wagt sie sich auf die Interaktionsfelder der sozialen Wirklichkeit und entdeckt die ganze Welt als Resonanzkörper« (ebd., S. 22). Altmeyer geht davon aus, dass sich darin »die relationale Natur des Seelenlebens« offenbare (ebd., S. 20), und preist den »plastischen«, »vigilanten« und »exzentrischen« Zug als etwas »Neues und Zeittypisches« (ebd.). Leicht 49
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zu durchschauen ist der Kurzschluss mit relationalen Selbstpsychologien. Erkenntnisgegenstand ist die »sozioresponsive Identitätsbildung« (ebd., S. 5) und nicht ein Subjekt, das seine getrennte Existenz, die eigene Endlichkeit und Begrenztheit, die Unverfügbarkeit der Alterität auszuhalten hat, wie die klassische psychoanalytische Theorie des Subjekts annimmt. In der Kontroverse bilden sich eben auch unterschiedliche Auffassungen von Psychoanalyse ab. Abhängig von der theoretischen Überzeugung der Autoren werden dieselben Phänomene als regressiv und pathologisch oder als befreiende Expressivität interpretiert. Allerdings sind in einem Forschungsneuland auch spekulative und polemisch zugespitzte Beiträge für die Erschließung von Dimensionen des Nachdenkens wichtig, solange klar bleibt, dass es sich dabei nicht um Befunde handelt. So sind möglicherweise Balzers (2005, 2012) Konzepte der adhäsiven Verklebung mit Objekten beziehungsweise des sensoritären Charakters geeignet, um die oben erwähnten »hybriden Handlungsträgerschaften« von psychoanalytischer Seite her zu beleuchten. Ein anderer Forschungszugang schließlich besteht darin, von Einzelfällen der klinischen Praxis auszugehen, in denen das Internet oder die Social Media in irgendeiner Form eine auffallende Rolle spielte (z. B. Lingiardi, 2008; Gibbs, 2007; De Clerck, 2011; Lemma, 2015; Psyche, 2019; EPF-Bulletin, 2021; im Rahmen von Kinder- und Jugendlichenanalysen: Chung & Colarusso, 2012; Günter, 2010; Döser, 2015; Gätjen-Rund, 2015; Gätjen, 2021). Zwar können auf dieser Grundlage keine verallgemeinernden Aussagen getroffen werden, aber sie geben Aufschluss über die Art und Weise, wie ein ganz konkreter und individueller Mediengebrauch sich mit unbewusster Dynamik verbindet. Ein Beispiel dafür ist der auf einer klinischen Falldarstellung beruhende Beitrag von De Clerck (2011). Die Autorin schildert, wie sie in der analytischen Behandlung eines Patienten mit der individuellen Bedeutung einer spezifischen Form der Internetnutzung – nämlich der Internetpornografie – konfrontiert wird und wie sich diese Bedeutung im Laufe der Behandlung verstehen lässt und verändert. Dabei wird deutlich, wie sich auf dem Weg der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung die unbewusste Bedeutung erst erschließt. Dieser methodische Zugang zeichnet speziell die klinische Psychoanalyse aus. Der Verlauf der geschilderten Behandlung spricht gegen eine voreilige Diagnose von exzessivem Internetpornografiekonsum als »Sucht« oder »Perversion«; er lässt vielmehr einen neurotischen, ödipalen Konflikt erkennen, in dem auf dieses Abwehrmittel zurückgegriffen wurde. Das Symptom löste sich im Verlauf 50
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der Behandlung auf. In ähnlicher Weise zeigt Gätjen (2021) an einer Reihe analytischer Einzelfallstudien mit jugendlichen Patientinnen und Patienten, wie das Smartphone im Verlauf der Behandlung seine Bedeutung durch die Bearbeitung intrapsychischer Konflikte deutlich verändert. Auch die kindertherapeutischen Arbeiten von Günter (2010) und Döser (2015) machen deutlich, dass die unbewusste Bedeutung eines Mediums von der individuellen Psychodynamik und ihren Veränderungen abhängt.
Zwischenfazit Die Herausforderung scheint also darin zu liegen, weder nur in Form von Defiziten oder Verfallsvorstellungen zu denken, noch voreilig scheinbar Neues zu hypostasieren. Die klinische Erfahrung im Einzelfall erlaubt zwar keine kulturrelevanten Verallgemeinerungen, aber im Mikroprozess der analytischen Stunde lässt sich nachvollziehen, wie sich intrapsychische Konfliktdynamiken mit der Besetzung medialer Objekte und Phänomene verknüpfen und bisweilen im Verlauf der Behandlung verändern. Klinische Studien führen in der Regel weg von überzogenen kulturtheoretischen Befürchtungen. Ähnlich tendiert die analytisch-sozialpsychologische tiefenhermeneutische Forschung, die von Anfang an in diesem Feld eine Rolle spielte, im Ergebnis zu moderaten Aussagen. Sie berührt zwar nicht die psychische Strukturbildung als solche, aber sie kann dokumentieren, welche Objektbeziehungen dem Umgang mit einem spezifischen Medium zugrunde liegen und mittels des Mediums (z. B. Facebook, Tinder, Smartphone) realisiert werden. Dies ist eine andere Art, auf die Schnittstelle von Unbewusstem und Medialem hinzuweisen. Beispiele dafür sind die tiefenhermeneutisch ausgewerteten Interviewstudien von Clara-Sophie Adamidis, Julia Degenhardt und Carolin Schnackenberg (in diesem Band). Die Tatsache, dass klinische und sozialpsychologisch-tiefenhermeneutische Forschungen eher zu undramatischen Ergebnissen führen, unterstreicht wiederum die Bedeutung kulturtheoretischer Untersuchungen, die größere Zusammenhänge in den Blick nehmen und deuten können. Kulturtheoretische psychoanalytische Ansätze wenden in der Regel klinische Theoreme auf beobachtbare kulturelle beziehungsweise Alltagsphänomene an. Dabei geschieht es leicht, dass die Differenzierung zwischen dem Gegenstand klinischer Theorie und Methode auf der einen Seite und dem Gegenstand und der Methode kulturtheoretischen Denkens zu kurz 51
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gerät. Wie es scheint, neigen diese Ansätze eher zur Dramatisierung oder Idealisierung prognostizierter Veränderungen. Damit sind wir bei einem Problem angelangt, das den interdisziplinären Dialog mit den Nachbarwissenschaften erheblich erschwert: Die methodische und theoretische Uneinheitlichkeit psychoanalytischer Ansätze vermittelt nicht den Eindruck eines spezifischen Gegenstandes, sondern vermischt oft psychoanalytische mit soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit. So bleibt in den psychoanalytischen Beiträgen häufig unklar, von welchem Subjektbegriff ausgegangen wird. Wenn es aber um die interdisziplinär zu untersuchende Frage gehen soll, ob der kulturelle Digitalisierungsprozess die psychische Struktur selbst affiziere, wäre vorab zu klären, von welchem Subjekt jeweils die Rede ist. Ein sozialpsychologischer oder soziologischer Begriff des Subjekts oder subjektiver Struktur ist nicht deckungsgleich mit dem Subjekt des Unbewussten. Der Fokus auf Kommunikation, Interaktion, Identität und Affekte ist ein anderer als der auf Wunsch und Trieb, unbewusste Fantasie, ödipale Struktur. Dem entsprechend werden sich auch die Einschätzungen der Veränderungsfrage unterscheiden. Ich möchte daher einige Bedingungen erläutern, die mir als wesentlich erscheinen, um die unbewusste Konstitution in den Blick zu nehmen. Dabei werde ich mich auf die Paradigmen des Ödipuskomplexes, des intermediären Raums und des Fort-Da-Spiels beziehen. Meine Frage ist: Ist es möglich, mit diesen Begriffen auch eventuell neue, bisher unbekannte Erfahrungen zu erfassen, ohne diese von vornherein als defizitär oder pathologisch zu bewerten? Ich möchte zeigen, dass ich die ersten beiden Konzepte, also Ödipuskomplex und Übergangsraum, für weniger geeignet halte. Meine These wird sein, dass das Fort-Da-Spiel beziehungsweise der Umgang mit Anund Abwesenheit einen gut geeigneten Ansatz darstellt, um Veränderungen zu beschreiben.
Unbewusste Voraussetzungen der Subjektkonstitution Ödipuskomplex
Beginnen wir mit dem Konzept des Ödipuskomplexes, durch das die unbewussten Wege der Subjektkonstitution und Strukturbildung als Verschränkung intrapsychischer Prozesse mit der kulturellen Ordnung gedacht 52
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werden. Freud hat ihn mit dem kulturstiftenden Gesetz des Inzest- und Tötungsverbots in Zusammenhang gebracht und Wert darauf gelegt, die individuellen Entwicklungskonflikte auf ein Kulturgesetz auch jenseits personaler Konkretisierungen zu denken (Freud, 1912–13a). Klassisch besteht die Funktion des Ödipuskomplexes darin, im Subjekt unterscheidbare Positionen der Generationen- und Geschlechterdifferenz einzurichten, von denen aus begehrt werden kann und libidinöse wie aggressive Affekte bewältigt werden können. Dies vollzieht sich durch Etablierung einer inneren, sich selbst regulierenden Ideal- und Gewissensinstanz. Die Durcharbeitung der ödipalen Konflikte ermöglicht dem Subjekt, sich in einer triadischen Beziehung zu denken, den Ausschluss aus der Exklusivität des Elternpaars aushalten zu können, ohne sich vernichtet zu fühlen, und die verinnerlichte triadische Relation nutzen zu können, um sich vorstellungsvermittelt auf sich selbst und seine Objekte zu beziehen (Symbolisierung). Die Verortung in der Generationenreihe etabliert eine Beziehung zur chronologischen Zeit, die dem Subjekt eine individuelle Geschichte zugesteht und ihm erlaubt, sich in die Zukunft hinein zu entwerfen. Die Herausbildung eines von den Eltern und anderen konkreten Personen unabhängigen Über-Ichs (im Sinne einer selbstregulativen inneren Instanz) ermöglicht auch eine von der Umgebung relativ unabhängige Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit. Kennzeichnend für eine so strukturierte Subjektivität ist die Fähigkeit, die mit Differenzen, Getrenntheit, Alleinsein und Warten verbundene Spannung auszuhalten. Manche Autoren (Lemma, 2014; Guignard, 2011; Balzer, 2005, 2012) befürchten nun, dass eine solche psychische Struktur durch die technisch realisierbare ständige Verbundenheit und Vernetzung unterminiert zu werden droht. So wird dem »Cyberspace« die Tendenz zur Aufhebung von Differenzen, Getrenntheit und Begrenztheit sowie gar der Geschichtlichkeit der Subjekte zugeschrieben (Lemma, 2014, S. 78f.). Statt Aufschub von Befriedigung, psychischer Arbeit, Entwicklung werde sofortige Wunscherfüllung erwartet. An die Stelle der ödipalen Struktur träte ein »sensoritärer Charakter« oder »immersiver Typus« (Balzer, 2012). Solche globalen strukturbezogenen Aussagen müssen sich, wie ich bereits erwähnte, der Kritik stellen, mediendeterministisch und übergeneralisierend zu sein. Sie lassen Veränderungen lediglich als Störung, Abweichung, Defizit in Bezug auf die ödipale Struktur erscheinen. Auf diesem Weg wäre nichts Neues zu erkennen. Mir scheint, dass die Bezugnahme auf die ödipale Struktur sich für die Frage nach der Veränderung von Subjekten nicht 53
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sehr eignet, da sie entweder als unbewusste Tiefenstruktur Veränderungen auf der Erscheinungsebene nicht abbildet, oder weil Veränderungen als Abweichungen, Defizite in Bezug auf eine Norm erscheinen. Übergangsraum/Intermediärer Raum
Viele Autoren, die sich mit der Bedeutung von Computer, Internet und Social Media befassen, greifen auf die Konzepte des Übergangsobjekts und des Übergangsraums zurück. Eher zurückhaltend äußern sich dagegen Löchel (2002) und Koller (2015). Bereits im Hinblick auf den Computer als unvernetztes Einzelgerät wurde vom »Übergangsobjekt« (z. B. Turkle, 1984; Beland, 1988; Schachtner, 1993) gesprochen. Offenbar fanden auch viele Nicht-Psychoanalytiker dieses Konzept attraktiv, um den schwer fassbaren Status einer »Geistmaschine« (Schachtner, 1993) oder eines »Zwischendings« (Tietel, 1995) zu denken, das in Interaktionen verstrickte und heftige Affekte auszulösen vermochte. Mit dem Internet und dem Begriff des Cyberspace, der explizit die Raummetapher in Anspruch nimmt, schien sich die Brauchbarkeit des Konzepts »Übergangsraum« noch zu bestätigen, wenn es darum ging, den gleichermaßen subjektiv-phantasmatischen und materiell-technologischen Bereich, eben das »Mediale«, zu beschreiben (vgl. z. B. Lingiardi, 2008; Chung & Colarusso, 2012; Huprich, 2012; Lemma, 2015; Balick, 2014; MacRury & Yates, 2016; Johanssen, 2018). Man könnte also versucht sein, darin ein für die interdisziplinäre Verständigung gut geeignetes, anschlussfähiges Konzept zu sehen. Ich rate aber zur Vorsicht. Was ist der Übergangsraum? Winnicott (1987) geht bekanntlich davon aus, dass die klare Unterscheidung und Trennung von Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Selbst und Anderem, die zur neuzeitlichen Subjektstruktur gehört und die auch Freud zunächst zugrunde gelegt hat, sich erst entwickeln muss und auch im erwachsenen Alter keineswegs selbstverständlich gegeben ist, sondern durch mühevolle psychische Arbeit hergestellt wird. Die grundlegende Matrix für die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem ist ein von der Subjektstruktur verschiedener Seinsmodus, in dem diese Unterscheidungen keine Rolle spielen. Säugling und Umgebung bilden ein zusammenhängendes Ganzes. Wenn das Kleinkind aus dieser fundamentalen Verbindung als Selbst aufzutauchen beginnt, zeigt sich dies durch einen großartigen und paradoxen Schöpfungsakt an: Im 54
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Alter zwischen vier und zwölf Monaten etwa »entdeckt« es das sogenannte Übergangsobjekt, das heißt, es stattet irgendeinen Teil seiner stofflich-materiellen Umgebung mit einer besonderen Bedeutung aus. Dieses aus etwas Vorhandenem selbstgeschaffene Übergangsobjekt wird vom Kind als beruhigend und tröstend erlebt, auch wenn es von der Mutter getrennt ist. Somit ist das Übergangsobjekt ein Vorläufer des Symbols oder des »Denkens« an die Mutter. Die Qualität des gleichzeitigen Findens und Er-findens bereitet den Boden für den später an diese Stelle tretenden Übergangsraum. Winnicott beschreibt ihn als die Fähigkeit, zu spielen, kreativ zu sein, Kunst- und Kulturobjekte zu erschaffen und sie zu genießen. Im intermediären Zustand erlebt das Subjekt eine Entlastung von der psychischen Differenzierungsarbeit, weil es auch hier keine Rolle spielt, was zu wem und wohin gehört. Wenn wir in ein Buch, einen Film oder dergleichen versinken, können wir uns selbst ganz darin verlieren. Das kann natürlich auch beim Spielen oder Surfen im Internet geschehen. Allerdings ist die Übergangsqualität keine Eigenschaft des Internets, wie manchmal behauptet wird. Ob ein Objekt oder ein Medium als Übergangsobjekt oder Übergangsraum erlebt und genutzt wird, ist nicht an dem Medium festzumachen – so wie das Kleinkind nicht jede in seiner Umgebung vorhandene Figur zu seinem Kuscheltier erwählt, sondern nur das von ihm selbst gleichzeitig ge- und erfundene. Oft wählt das Kind nicht die schönen ihm geschenkten Kuscheltiere, sondern zum Beispiel ein schmuddeliges Handtuch als sein Übergangsobjekt. Das Übergangsobjekt ist ebenso wie der Übergangsraum eine Beziehungsform. Sie ist abhängig von der Psychosexualität, Konflikthaftigkeit und Endlichkeit lebendiger, leibhaftiger Subjekte ebenso wie von dem in der Umgebung Vorhandenen. Der Übergangsraum ist, wie die klinische Erfahrung zeigt, störanfällig und kann zusammenbrechen. In einer Untersuchung zum Smartphone nutzen MacRury und Yates (2016, S. 55–60) das Konzept sogar ausdrücklich, um »Psychopathologien der Smartphone-Nutzung« als Abweichung und Zusammenbruch des intermediären Spiel- und Zwischenraums zu beschreiben. Der »virtuelle« Raum oder Cyberspace dagegen ist nicht auf leibhaftige Subjekte angewiesen. Im Internet können auch Programme miteinander interagieren und im Sinne eines Computerspiels »spielen«. Wenn dieser Raum zusammenbricht, handelt es sich um eine technische Störung. Die identifizierende Gleichsetzung von technischem Medium und intermediärem Raum verschließt gerade den Spielraum der Kreativität und verhindert damit, das nicht Fassbare als die gemeinsame Schnittstelle von Subjekt und Medium genauer in den Blick zu bekommen. 55
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Fort-Da-Spiel, Symbolisierung und die »Sprache des Abwesenden«
Neben der Ödipalität und dem Übergangsraum ist das Paradigma des Fort-Da-Spiels (Freud, 1920g, S. 11–14) ein Referenzrahmen für die Bewertung neuer, mit der Digitalisierung einhergehender Praktiken und ihrer Folgen für die Subjekte. Dabei geht es um die Frage des Umgangs mit An- und Abwesenheit. Abwesenheit auszuhalten ist eine notwendige Vorbedingung für Denken und Symbolbildung, also für die Entstehung psychischer Struktur. Umgekehrt helfen das Denken und Symbolisieren dabei, sich das Fehlende, Abwesende, Vermisste in der Vorstellung präsent zu machen. Ist die notwendige, subjektkonstitutive Erfahrung von Abwesenheit nun etwa in Gefahr durch die sogenannten »Präsenzmedien« und »Absenzvernichter«, wie polemisch behauptet wird (Balzer, 2012)? Ist die Fähigkeit zu denken und Symbole zu bilden dadurch beeinträchtigt? Formulierungen wie »Halbferne« (Tuschling, pers. Mitteilung), »Weder fort noch da« (Vorbach, 2009, unveröff. Vortragstitel) versuchen, auf spezifische Modi der Beziehungsgestaltung aufmerksam zu machen. Gätjen-Rund (2015) problematisiert die häufige Funktion des Smartphones, Getrenntheit und Alleinsein im adoleszenten Ablösungsprozess zu vermeiden. Diese Autoren beschreiben Abwehrphänomene, sei es in Form der Vermeidung von Getrenntheit oder umgekehrt von Nähe und Präsenz im Kontakt mit dem Objekt. Dagegen kommt es mir darauf an, über die klinische Bedeutung dieser Abwehrform hinaus die grundlegende Bindung von Subjektivität an Abwesendes – und dadurch an Medien – zu bedenken. Exemplarisch lässt sich dieser Gedanke anhand des berühmten und vielzitierten von Freud (1920g) beschriebenen Fort-Da-Spiels zeigen. Freud beobachtet, wie sein etwa anderthalbjähriger Enkel hingebungsvoll mit einer an einem Fädchen befestigten Garnrolle spielt, die er immer wieder über den Rand seines Bettchens wirft und dann wieder zu sich zurückholt, dabei abwechselnd »o-o-o-o« und »Da« ausruft. Bei der genauen Lektüre fällt auf, dass Freuds Beschreibung dieses Spiels mehrere Varianten beinhaltet (Löchel, 1996, S. 696–699; Löchel, 2000, S. 86ff.), keineswegs nur das in der Literatur tradierte Wegwerfen und Heranziehen der Spule. Viel häufiger, schreibt er, ist das bloße Wegwerfen aller möglichen Gegenstände – »o-o-o-o«, die die Erwachsenen dann einsammeln. Eine weitere Spielmöglichkeit taucht in verneinter Form auf: Dem Kind fiel nie ein, so Freud, zum Beispiel »Wagen« zu spielen und 56
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die Spule hinter sich herzuziehen – was ein typisches symbolisches »Alsob«- Spiel gewesen wäre. Schließlich beschreibt Freud in der Fußnote ein weiteres Spiel: Der kleine Ernst lässt sich – vor dem Spiegel – selbst verschwinden: »Bebi o-o-o-o«. Ich habe daraus geschlossen, dass der Junge sich nicht nur die An- und Abwesenheit der Mutter auf symbolvermittelte Art aneignet, sondern dass er das Verschwindenlassen und Verneinen auch in Bezug auf sich selbst und alle möglichen Gegenstände einübt; dadurch setzt er sich spielerisch in Beziehung zu einer notwendigen Abwesenheit, nämlich jener, auf der die symbolisch vermittelte Welt beruht (vgl. Löchel, 1996, 2000). Nun kann man ohne Weiteres sagen: Das Symbolische ist ein Medium, ein Vermittelndes, ein Drittes, das die Beziehung zum eigenen Selbst, zum Objekt, zur Welt filtert. Es beruht auf der Hereinnahme einer Beziehung zum Abwesenden in das Subjekt, wodurch sich psychische Struktur bildet. Insofern stellt das Fort-Da-Spiel ein grundlegendes subjektkonstitutives Medium dar. Daher halte ich dieses Konzept für hilfreich, psychoanalytisch auch über andere Medien nachzudenken. Nach Lacan (1986 [1953]) stellt das Symbol bekanntlich einen »Mord der Sache« dar, der zugleich das Subjekt als begehrendes konstitutiert. Das Symbol fungiert hier nicht als Stellvertreter, Repräsentant von etwas vorgängig Präsentem (so wie etwa die Lorenzer’schen Symbole auf den sensumotorischen Interaktionsformen aufsitzen; Lorenzer, 1977), sondern als Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas als präsent wahrgenommen werden kann. Indem ein abwesendes, sich entziehendes Objekt strukturell gesichert wird, konstituiert sich das Subjekt. Daher brauchen wir das Fort-Da-Spiel, brauchen wir Symbole nicht zuletzt auch, um (etwas) abwesend zu machen. Diese Auffassung des Symbolischen lässt sich hervorragend mit einem Medienbegriff verbinden, der – wie zu Beginn bereits erwähnt – Medien im Kontext von Differenz, Abwesenheit, Entzug denkt. So lesen wir bei Hörisch (2001): »Medien verdanken […] dem Problem der Abwesenheit ihre Existenz. Ohne Differenz, ohne Distanz, ohne Abwesenheit […] keine Medien« (S. 34). Gleichzeitig perpetuieren Medien die Abwesenheit, denen sie ihre Existenz verdanken. Aus diesem Grund scheint mir die Bezeichnung »Präsenzmedien« falsch. Auch die digitalen Bildermedien verweisen durch ihr Auftauchen auf etwas nicht Anwesendes. Doch leicht übersieht man aufgrund der Anwesenheit eines Bildes das Medium, das dieses Auftauchen ermöglicht. Diese Medienvergessenheit widerfährt nicht nur den Nutzern, sondern bisweilen auch den Beobachtern und Theoretikern. 57
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Ich schlage folgendes Modell vor: So wie die Verinnerlichung des Lesens und Schreibens das Subjekt der Neuzeit auf neue Art und Weise ins Verhältnis zu Abwesendem versetzt, räumliche und zeitliche Grenzen erweitert und zugleich einen inneren Raum des Fühlens und Denkens etabliert hat, so stellt das Internet eine neue – elektronische – Schrift dar, die uns potenziell zu unendlich vielen Objekten, unabhängig von Raum und Zeit, in Kontakt treten lässt. Man könnte sagen, es ist eine neue Variante der »Sprache des Abwesenden« (Freud, 1930a, S. 450), eine neue Art, Fort-Da zu spielen, eine neue Art, Subjekte ins Verhältnis zu Abwesendem zu setzen. Mittels des Fort-Da-Spiels kann besser als mittels des Ödipuskomplexes oder des Übergangsraums der Fokus auf das gelegt werden, was sich beim Nachdenken über Medien sonst leicht der Betrachtung entzieht. Es eignet sich dazu, über alte und neue Medien psychoanalytisch nachzudenken, ohne in normative Wertungen zu verfallen, ohne das Neue zu pathologisieren. Last not least eignet sich das Fort-Da-Paradigma auch hervorragend zur Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen der Online-Psychoanalyse.
Fazit Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass die Psychoanalyse durchaus zur Untersuchung der Frage beitragen kann, ob die unbewussten Vorgänge der Subjektbildung sich in der digitalisierten Kultur verändern. Sie verfügt über verschiedene Denk- und Forschungsansätze (klinisch, analytisch-sozialpsychologisch, analytisch-kulturtheoretisch) mit ihren je eigenen Vor- und Nachteilen. Doch Psychoanalyse ist – um eine treffende Wendung von Lilli Gast zu zitieren – keine »omnipotente Universalwissenschaft« (Gast, 2011, S. 327). Für den interdisziplinären Dialog kommt es vor allem darauf an, dass Psychoanalytiker ihren spezifischen Gegenstand und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Methode verdeutlichen. Um den psychoanalytischen Subjektbegriff zu spezifizieren, habe ich vorgeschlagen, die unbewussten Wege der Subjektkonstitution mittels der Konzepte des Ödipuskomplexes, des Übergangsraums und der Symbolisierung zu betrachten. Dabei habe ich insbesondere die Symbolisierung als »Sprache des Abwesenden« (Freud) hervorgehoben, wodurch eine Nähe zur Medientheorie sichtbar wurde: Sowohl Symbole als auch Medien bringen etwas Abwesendes, sich Entziehendes zur Darstellung, indem sie es zugleich abwesend halten. 58
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Biografische Notiz
Elfriede Löchel, Prof. Dr. phil., ist Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DPV/IPV, DGPT), niedergelassen in eigener Praxis in Bremerhaven. Von 2010 bis 2020 war sie Professorin für Theoretische Psychoanalyse und Subjekttheorie an der IPU Berlin, gegenwärtig ist sie Seniorprofessorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: psychoanalytische Konzeptforschung, psychoanalytische Erkenntnis- und Forschungsmethoden, Freud-(Re-)lektüren, Theorien der Symbolisierung, psychoanalytische Forschung zu Digitalisierung und Social Media.
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Entfesselung und Zähmung des Feuers Notizen zur digitalen Formung von Subjektivität Lutz Garrels
Der Mythos über die Gewinnung des Feuers ist bekannt. Prometheus war es, der den Menschen das Feuer brachte. Prometheus, der Philanthrop, der die Menschen aus Lehm formte und ihnen von Athene, der Göttin der Weisheit, Leben einhauchen ließ. Prometheus, der die Menschen das Lesen, Schreiben und Rechnen lehrte, ihnen beibrachte, Häuser zu bauen und Kunst anzufertigen. Eines aber sollte den Menschen vorenthalten bleiben, so hatten es die Götter bestimmt: Das Feuer nämlich sollten sie nicht kennenlernen dürfen. Nur hielt Prometheus sich nicht an das Gebot. An der Sonne entzündete er ein Feuer und mit einer List, versteckt im Kelch einer Pflanze, brachte er es zu den Menschen. Die Strafe ist bekannt: Zeus ließ Prometheus an einen Felsen fesseln und ihm Tag für Tag von einem Adler die Leber aushacken, die Nacht für Nacht wieder nachwuchs. 30 Jahre lang dauerte das fort, bis der Held befreit wurde. Bestraft wurden auch die Menschen, denen die Götter Pandora sandten. Von ihrer Schönheit geblendet, ließen sie Pandora die Büchse öffnen, und alles darin eingesperrte Ungemach gelangte in die Welt. In den späten 1960er Jahren traf das prometheische Feuer ein zweites Mal auf die Menschheit – in Empfang genommen dieses Mal in einer Garage in Seattle, nicht im Kelch einer Pflanze, sondern in einer Rechenmaschine, bedient von zwei Schülern namens Paul Allen und Bill Gates. So jedenfalls könnten wir uns die Entstehung des digitalen Feuers vorstellen. Wie es sich seitdem verbreitet hat, haben wir am eigenen Leib erfahren. Während zur Zähmung des digitalen Feuers bislang noch wenig zu sagen ist, liegt die Büchse der Pandora offen und zeigt, was ihr entfleucht ist: all die Viren und Trojaner, die Pegasus-Software und das Hacking, die Daten65
Lutz Garrels
verfolgung und der Datenklau, Amazon und Facebook, Hassbotschaften, Echokammern und Flashmobs. All das ist gut bekannt. Was aber nicht so bekannt ist und was überhaupt den Grund für die Feuerallegorie abgibt: Auch Freud hat sich mit Gewinnung und Zähmung des Feuers befasst, zunächst in einer Fußnote in Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1930a, S. 449). Freuds wichtigste Kulturschrift bietet einen guten Ausgangspunkt, um die Einflüsse des Digitalen auf Individuum und Gruppe zu untersuchen. Zudem ist gegenwärtig auch wieder eine andere Art von Unbehagen in der Kultur zu spüren: eine, die nicht der von Freud beschriebenen Triebunterdrückung entstammt, sondern mit überschießenden regressiv-destruktiven Tendenzen zusammenhängt und darin Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was Freud und seine Zeitgenossen um 1930 mit dem Aufziehen spalterischen Hasses und verblendeter, mörderischer Ideologie erlebt haben mochten. Hass, Hetze und sogar Fackelaufmärsche ziehen wieder durch das Land, und selbst der Krieg ist heute von digitalem Feuer durchzogen. Freud hatte in seiner Fußnote konkrete Vorstellungen darüber formuliert, wie der Mensch der Frühgeschichte zur kulturellen Aneignung des Feuers gelangte. Das war nicht ohne Widerspruch geblieben (Schaeffer, 1930). Ein heute vergessener Herr Erlenmeyer sprang Freud mit einer »Notiz zur Freud’schen Hypothese über die Zähmung des Feuers« bei (Erlenmeyer, 1932). Freud wiederum reagierte mit einem kurzen Aufsatz unter dem Titel »Zur Gewinnung des Feuers« (Freud, 1932a). Gegenstand der kleinen Schrift Freuds ist die Thematisierung von Gewinnung und Zähmung des Feuers als einen Kampf zwischen Trieblust auf der einen und Triebkontrolle auf der anderen Seite. Wie so oft ist das Besondere auch hier, dass Freud nicht nur eine kunst- und stilvolle Deutung des Prometheus-Mythos vornimmt, sondern, dass er dabei für überraschende Wendungen sorgt. Die Beherrschung der Triebimpulse äußert sich nach Freud nämlich nicht in einer Bekämpfung des Feuers, sondern in einer Bekämpfung der Bekämpfung des Feuers. Die Vorbedingung für die Gewinnung des Feuers sei nämlich gewesen, so sagt er, dass der Mensch (in erster Linie dürfte es sich hier wohl um den Mann gehandelt haben) seinem triebhaften Impuls widerstanden habe, das Feuer auszupinkeln. Und an dieser Stelle kreiert er ein ebenso technisch wie ästhetisch klingendes Wort, das wohl nur die deutsche Sprache so zulässt: Er spricht von einer Feuerlöschentsagung (ebd., S. 5). Es geht ihm um ein Wechselspiel zwischen Feuer/Erregung auf der einen und Löschen/Zähmen auf der anderen Seite, wobei gerade das Zähmen des 66
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Feuers ja mit seiner Gewinnung im Sinne einer kulturellen Aneignung zusammenfällt. Er erinnert an die menschliche Sexualität als ein beständiges An- und Abschwellen. Der Trieb besorgt das Anschwellen, während das Abschwellen nicht nur physiologische Reaktion auf eine erfolgte Befriedigung ist, sondern auch Folge von Triebkontrolle, also Feuerlöschentsagung.
Psychoanalytische Subjekttheorie Psychoanalytische Subjekttheorie sollte eine entschieden körperliche sein, wenn sie sich ihre psychoanalytische Essenz erhalten möchte. »Im Anfang war der Körper«, hat Press (2019) auf einer Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gesagt. Am Anfang des Lebens ist der Mensch noch weit davon entfernt, dass wir ihm einen Subjektstatus zusprechen. Er ist ganz Körper. Unreif geboren, ist er auf Hilfe und Versorgung angewiesen. Mangel und Unvollständigkeit sind unvermeidlicher Bestandteil des Körperlichen und begleiten den Menschen von der Geburt bis zum Tod. In diesem Körper hat Freud bekannterweise einen beständigen und nach Abfuhr drängenden somatischen Reiz ausgemacht. Damit kommt der Trieb ins Spiel, dieses ominöse Gebilde, das so subversiv daherkommt, dass es (innerhalb wie außerhalb der Psychoanalyse) immer wieder zum Verschwinden gebracht werden muss. Mit dem Mangel, dem beständigen somatischen Reiz und dem Trieb kommt nun aber auch das Objekt ins Spiel – beispielsweise als Mutter oder als Brust. Durch die Milch gebende Brust und die damit einhergehende Sättigung erfährt der Reiz seine Abfuhr. Die Stillung des Hungers ist primär noch nichts, was als subjektives Bedürfnis verstanden werden kann. Aber mit dem Stillen taucht etwas Neues auf. Das Saugen an der Brust fängt an, Lust zu bereiten. Es entsteht ein Surplus, ein lustvolles Begehren nach Wiederholung der erotisch gewordenen Erfahrung. Damit fängt das Bedürfnis nach Sättigung nun an, sich auch in eine Begehrensstruktur zu schrauben. Es färbt sich subjektiv ein und trägt zu einer ersten Gestaltung des beginnenden Triebschicksals bei. In ihrem Grund schon ist Subjektivität mit dem Trieb und seinen Ausformungen verknüpft. Über die Erfahrungen von Lust und Unlust und das damit verknüpfte Begehren eignet sich ihm individuell-subjektive Geschichte an. Der Leipziger Sozialpsychologe Oliver Decker beschreibt die psychoanalytische Subjektgenese in einer Untersuchung zur Transplantationsmedizin als einen Vorgang von Prothetisierung (Decker, 2004). Weil der 67
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Säugling zum Überleben auf sie angewiesen ist, stellen die frühen Objekte die ersten, den Mangel ausgleichenden Prothesen dar. Wo das gelingt, entsteht eine Idee von Vollkommenheit. Diese Vorstellung wird per Nachträglichkeit auf die Vergangenheit projiziert. Der primäre Narzissmus – als Ungeschiedenheit von Selbst und Objekt – wird dann (das heißt also erst nachträglich!) als ein Zustand von Vollkommenheit erlebt. Decker selbst (ebd.) bringt das mit Lacans Konzeption des Spiegelstadiums in Verbindung, in dem das Kind seinen Körper im Spiegel erkennt, zugleich aber auch verkennt, weil es den tatsächlich unvollständigen Körper wie einen vollständigen wahrnimmt (Lacan, 1986 [1948]). Das Kind befindet sich im Imaginären, es hat ein Bild und nimmt es für die Wirklichkeit. Die Illusion, die dem Kind Grund zu jubilieren bietet, wird im Zusammenhang mit digitalen Spiegelungsprozessen an späterer Stelle wiederauftauchen. Davor aber wird die frühe Subjektentwicklung dadurch weitergetrieben, dass konkrete Objekte und die Erfahrungen mit ihnen durch Identifizierung und andere Formen von Internalisierung verinnerlicht werden. Das Gegenüber wird mit seinem Begehren und all seiner Rätselhaftigkeit einverleibt. Aufgenommen wird dabei auch, wie das Objekt das Subjekt sieht oder wie es dieses haben möchte. Das Subjekt internalisiert also ein Bild seiner selbst im Auge der oder des Anderen. Dieses Andere und Fremde, das es aufgenommen hat und mit dem sein Inneres gefüllt ist, verdichtet sich im Begriff der Alienation. Lebenslang bleibt der Mensch sich selbst ein Fremder und will es doch nicht wahrhaben. Die vielschichtige Bildung innerer Repräsentanzen strukturiert das Selbst, etwa dann, wenn sich mit der Ödipalität durch Ein- und Ausschlusserfahrungen ein zweidimensionaler Raum in einen dreidimensionalen auffaltet. Das geht mit dem Aufbau von Überich und Ichideal einher und vervielfacht innere Konfliktpotenziale, die sich um Anpassung und Rebellion drehen. Den Idealbildungen, die Decker übrigens wieder als Prothetisierungen versteht, fällt eine besondere Rolle zu, weil die Verkoppelung von Subjekt und Gesellschaft hier verortet werden kann. Decker führt das wieder mit dem Trieb zusammen: »Über die Eltern als Sozialisationsinstanz werden die strukturellen Grundlagen gelegt, die triebhaften Impulse den gesellschaftlichen Idealen entsprechend zu lenken« (ebd., S. 33). Gesellschaft schreibt sich über das Objekt in das Infans ein. Dieser Prozess kommt nie zu einem Ende. Im späteren Leben gibt es viele Kanäle, über die Ideale in das Subjekt hineingelangen, wozu natürlich auch Inhalte und Vorstellungen aus digitalen Medien gehören. 68
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Das Ideal vom eigenen Selbst erscheint als eine imaginäre Gestalt, als ein Bild, das oft erst einmal in anderen verkörpert ist. »So wie XY möchte ich sein!« Es könnte Rambo oder Super-Mario sein oder Barbie, stellvertretend für das Bild der perfekten Frau mit allen Idealmaßen – um ein paar Klischees zu nennen. Es geht um Figuren und um Vorbilder, wie sie uns massenhaft in digitalen Medien begegnen, zum Beispiel wenn Influencer:innen vorgeben, was angesagt ist. Das Ichideal befindet dann darüber, wie weit die Übereinstimmung zwischen Selbst und imaginärem Ideal gelungen oder misslungen ist. Damit kann es zur strengsten und grausamsten Instanz in der Psyche werden. Es ist auch die Instanz, in die Ideologien, zum Beispiel in Form von Verschwörungstheorien, eindringen und von dort aus das Selbst kapern können, was wir uns wie die Mafiabanden vorstellen können, die Rosenfeld (1971) für den destruktiven Narzissmus beschrieben hat. Auch solche Mafiabanden werden dann zu Prothesen. Wir bewegen uns auf den Identitätsbegriff zu. Der in die USA emigrierte Psychoanalytiker Erikson hat in den 1950er Jahren versucht, den Begriff der Identität konzeptuell in die Psychoanalyse einzuführen (Erikson & Hügel, 1956). Dafür hat er in seiner Konzeption psychoanalytischer Entwicklungslehre die Stufe der Adoleszenz herausgestellt, die für ihn durch das Merkmal der Identitätskrise charakterisiert ist. Identitätsbildung vollzieht sich darin als Krisenbewältigung. Obwohl er damals viel Aufmerksamkeit fand, haben sich seine Vorstellungen nicht gut mit dem grundsätzlichen psychoanalytischen Korpus verbunden. Konzeptuell gesehen ist das Identitätsthema weitgehend ein Stiefkind der Psychoanalyse geblieben. Eher außerhalb der Psychoanalyse hat Erikson einen Identitätsdiskurs in Gang gesetzt (Descombes, 2013), der sich in den letzten Jahren noch einmal exponentiell verstärkt hat. Im hiesigen Zusammenhang sind besonders die Aufsätze von Harnischfeger (2021) und Bonaminio (2016) lesenswert. Zusammenfassend können wir uns die Subjektwerdung als einen gerichteten Prozess vorstellen, der von einem An-Trieb unterlegt ist. Getragen wird er von einer imaginären Idee von Vollkommenheit, die den grundsätzlichen Mangel, die Fragilität, Zerstückeltheit und Fremdheit von Körper und Geist überdecken soll. Subjektivität selbst bleibt deswegen brüchig und bedarf der ständigen Versicherung beziehungsweise Prothetisierung. Anders als das autonom definierte historische Subjekt der Aufklärung ist das psychoanalytische ein heteronomes Subjekt, getränkt in gesellschaftlicher Ordnung, geprägt durch einen tiefgreifenden Mangel, angewiesen 69
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auf Prothesen und bestimmt durch unbewusste Konfliktdynamiken und Begehrensstrukturen. Dennoch verfügt dieses Subjekt auch über Autonomie und über Spiel- und Gestaltungsräume. Es kann sich eine »Identität« geben und gestaltet seinen Umgang mit der Umwelt, auch wenn ihm tiefere Schichten seines Motivationsgefüges dabei entzogen bleiben.
Subjektkonstruktion und digitale Kultur Dieses heteronom-autonome Subjekt stößt nun auf digitale Technologie. Psychoanalytiker:innen sind nicht besonders gut darin, das Verhältnis zu den dinghaften Objekten in den Blick zu nehmen. Wenn wir digitale Objekte anschauen, müssen wir feststellen, dass es sich um eigenartige Gegenstände handelt. An der Oberfläche gibt es einen Screen, der in immaterielle Bilderwelten führt. Der materiellen Hardware steht immaterielle Software gegenüber, was dem Gesamtobjekt einen hybriden Charakter verleiht. Die Software selbst besteht aus abstrakten Algorithmen in einem binären Code. Die Algorithmen führen zu Zeichensystemen, die sich einem/einer User:in darstellen und auf sie wirken, die aber umgekehrt auch wieder von dem/der User:in beeinflusst werden. Algorithmen sind heute selbstlernend. Sie sind so programmiert, dass sie sich auf Basis der User:innen-Eingaben selbstständig weiterschreiben. Das digitale Objekt fordert Aufmerksamkeit, adressiert den/die User:in durch Signale, die er/sie selbst festlegen kann, zum Beispiel Töne oder Vibrationen, und fordert sie zu Aktivität auf. Kurzum, das Ding ist nicht nur aktiv, sondern auch interaktiv. Und es entwickelt sich ständig weiter. Damit hat es Eigenschaften, die wir human nennen könnten, aber vielleicht besser humanoid nennen sollten. Jedenfalls kommt dieses Ding einem lebenden Wesen ganz schön nahe. Spannend und kritisch wird das in Maria Schraders sehenswertem Spielfilm Ich bin dein Mensch thematisiert, in dem der Roboter Tom sich allmählich zu einem perfekten Partner für die alleinlebende Alma entwickelt (Schrader, 2021). Mit Decker müssen wir das digitale Objekt unbedingt als Prothese einstufen. Ohne das Handy mit den in Apps gespeicherten Impfnachweisen war es bis vor Kurzem kaum möglich, das Haus zu verlassen, jedenfalls nicht zum Einkaufen oder Essen gehen. Manche Menschen können ohne App weder ihre Haustür öffnen, das Auto starten, noch die Dunstabzugshaube in Gang setzen. Im Handy stecken diverse Ausweise, Kreditkarten, Wörterbücher, Lieblingsmusik, Videos, Spiele, neueste Nachrichten, 70
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Taschenrechner, GPS und Ortungssysteme. In Bussen und Bahnen ist zu erleben, wie Reisende einheitlich auf kleine Geräte in ihrer Hand starren, wie sie Lautsprecher auf dem Kopf oder in den Ohren tragen und wie die Aufmerksamkeit auf seltsame Weise nach innen, aber nicht auf das eigene Innere gerichtet ist. Das wissen wir, weil wir selbst zu den Reisenden gehören, die längst Prothesenträger:innen geworden sind. Menschen, die scheinbar mit sich selbst sprechen, irritieren nicht mehr, denn wir wissen, dass sie nicht schizophren sind, sondern ein verdecktes Headset tragen und mit Kolleg:innen oder Familienangehörigen telefonieren – entweder um wertvolle Wegezeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen oder weil stilles Gehen ohne begleitendes Multitasking mittlerweile zu unerträglichen Spannungs- und Einsamkeitsgefühlen führt. An dieser Stelle sei ein kurzer Abstecher in die empirische Forschung erlaubt. Die Sozialwissenschaftlerin Tanja Carstensen und ihre Kolleg:innen (2014) erinnern in einem Band über Digitale Subjekte an den berühmten Satz des Medienwissenschaftlers McLuhan: »The medium is the message.« Die Botschaft digitaler Medien, sagen sie, sei die Veränderung des Maßstabes, des Tempos und des Schemas (ebd., S. 11). Diese Veränderungen, nicht primär von Inhalten, sondern der Art und Weise, dringen tief in unser Denken ein, aber so allmählich, dass wir es kaum wahrnehmen können. Die Autor:innen betonen die positiven Aspekte sozialer Medien, die Chance für Partizipation, Enthierarchisierung und User:innen-Beteiligung, die Entstehung neuer Bühnen für die Konstitution kritischer Öffentlichkeit, für die schnelle Verbreitung von Informationen und für die Mobilisierung von politischem Protest. Sie sprechen von Subjektkonstruktion und ordnen ihr soziale Praktiken zu. Subjekte werden so – und das natürlich nicht zu Unrecht – als aktive Gestalter:innen der eigenen Biografie und Umwelt verstanden. Sie sind in ständiger Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung und konstruieren dabei selbst ihre eigene Subjektivität. Angehörige der jüngeren und auch der nicht mehr ganz so jungen Generationen sind bereits mit dem Internet aufgewachsen, und ihre Persönlichkeitsentwicklung hat sich in Interaktion mit den neuen Medien vollzogen. Sie interagieren selbstverständlich mit technischen Artefakten und gehen selbstverständlich davon aus, dass das Internet in allen Aspekten ihres Lebens eine Rolle spielt. Ihre Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel ist zwingend, damit sie nicht marginalisiert werden. Virtuelle Räume werden zu immer wichtigeren Aufenthaltsorten. Dabei entwickeln sich kommunikative Praktiken, die ständig ihre Form verändern. Es geht 71
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um Selbstinszenierung, Vernetzung, Umgang mit Grenzen, Kaufen und Verkaufen sowie Spaß- und Spielpraktiken (ebd.). Sie betonen damit die autonomen Aspekte des Subjekts, das sie im Übrigen als uneindeutig charakterisieren. Es sucht sich Orte, an denen es nicht ständig zur Eindeutigkeit aufgerufen wird. Der Cyberspace ist ein solcher Ort par excellence.
Subjekt, digitale Medien und Begehren Digitalisierung hat unsere gesamte Lebensumgebung durchdrungen und unsere Art zu leben und zu denken verändert. Ausgehend von der skizzierten psychoanalytischen Subjekttheorie und den darin herausgestellten Elementen (Körper, Mangel, Trieb, Objekt, Prothesen und Suche nach Vollständigkeit) soll nun am Beispiel von Instagram untersucht werden, welche Auswirkungen soziale Medien auf Subjekt und Begehren haben. Schon die erste Annäherung an das digitale Objekt erscheint triebhaft. Das Handy – und durch das Handy hindurch auch das Internet beziehungsweise die sozialen Medien – strecken sich dem Individuum entgegen und stoßen in ihm auf ein suchendes Wesen, das nur darauf gewartet hat, verführt zu werden. An dieser Stelle taucht das eingangs erwähnte Feuer wieder auf. Das digitale Objekt, das bereits als Prothese beschrieben wurde, antwortet nicht nur auf das Suchen, es lockt schon vorab mit sirenenartigen Tönen, mit optischen Reizen wie Blinken oder Smileys oder mit Vibration, gerne auch in der Hosentasche direkt an dem Ort, für den früher noch das Wort Scham in Gebrauch war. Interessanterweise kann die Art der Signale nach eigenem Geschmack und eigenen Vorlieben individuell konfiguriert werden. Wir bestimmen heute also selbst, wie die Sirenen klingen sollen, damit sie uns antörnen. In der digitalen Odyssee begegnen wir nicht mehr den Objekten, die uns als Andere verführen und auf die wir dann unsere Sehnsüchte projizieren, sondern wir erschaffen sie uns selbst als externalisierte Gestalten unserer eigenen Idealbilder. Die junge Sozialforscherin Salome Flemmer hat unter dem Titel Instagram als sozialer Prozess (Flemmer, 2020) eine lesenswerte Arbeit verfasst, in der sich eine Menge über die digitale Plattform erfahren lässt: etwa dass Instagram 2010 als virtuelles Fotoalbum mit quadratischen Bildern begann, dass es vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt wird und dass in Deutschland monatlich 15 Millionen Menschen auf Instagram aktiv sind. Flemmer verweist auf eine Studie, nach der über fünf Millio72
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nen User:innen mehr als vier Stunden täglich auf der Plattform verbringen. Daran zeigt sich die prothetisierende Funktion des Mediums. Sobald freie oder leere Zeit auftaucht, wird augenblicklich Instagram geöffnet. Instagram sei allgegenwärtig, es sitze mit am Tisch, wenn man sich mit Freunden treffe. Mit Verweis auf eine weitere Studie geht die Autorin davon aus, dass 100.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland süchtig nach sozialen Medien sind. Um auf Instagram wahrgenommen zu werden, müssen die User:innen Aufmerksamkeit auf sich ziehen und andere Nutzer:innen zur Interaktion anregen. Das erfolgt über die Präsentation von Fotos oder Fotogeschichten, die mit einem Hashtag versehen werden. Am häufigsten sind die Hashtags Fashion, Love und Style. Gepostet werden private Bilder des Alltags, zum Beispiel Selfies, Fotos von Essen oder Partys. Bestimmt sind sie zunächst für Familie, Freunde und Bekannte. Aber auch Fremde können ihnen folgen. Innerhalb der App können die Bilder bearbeitet werden, vor allem durch Darüberlegen von verschiedenen Filtern, die aus hässlich schön und aus schön noch schöner machen sollen. Die Fotos markieren, was als cool oder hip angesehen wird. Ein soziales Netzwerk wird Instagram durch Liken, Kommentieren und Teilen von Bildern. Dabei passt sich der Algorithmus den individuellen Vorlieben an. Die Gestalt der Plattform ist durch Gewinninteressen des Mutterkonzerns bestimmt. Eine wichtige Rolle spielen deshalb auch »Influencer:innen«, die von wieder anderen Unternehmen zu Werbezwecken gesponsert werden. Produkte lassen sich besser verkaufen, wenn Privatpersonen dafür werben. Marketing entscheidet also darüber mit, was in der digitalen Welt von Instagram wie dargestellt wird, und kommerzielle Manipulationen dringen in verhüllter Form in die User:innen ein. Flemmer beschreibt Instagram als Ersatz- oder Parallelwelt für Jugendliche und junge Erwachsene, die eine »rundum kontrollierbare Traumwelt« (ebd, S. 29) suchen. Heile Welt wird inszeniert und erlaubt den Rückzug in eine wohlige Illusion von Perfektion und Unverwundbarkeit. Ein zunächst außen lokalisiertes Ideal dringt als eine verführerische Vorstellung per Identifikation in das Ichideal ein und breitet sich im Subjekt aus. Eskapismus, getarnt als kuscheliges Gefühl heiler Welt, wird so zu einem ichsyntonen Bestandteil des Selbst. Flemmer macht verschiedene autoethnogaphische Skizzen. In einer, überschrieben mit »Das Glamour Girl«, bestellt die (so bezeichnete) Protagonistin teure Designer-Kleidung, unter anderem ein Top aus der »TommyxGigi«-Kollektion für 150 Euro mit passender Jacke für 400 Euro, die sie 73
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nur einmalig für ein Foto-Shooting gebraucht und hinterher wieder zurückschickt. Sie nimmt ihre Schwester zum Fotografieren mit und fährt auf einen Berg, um eine spektakuläre Kulisse für die Fotos zu haben. Ein wenig schämt sie sich, als sie beobachtet wird, öffnet dann aber doch die coole Jacke und lässt sie auf einer Seite der Schulter herunterhängen. Zu Hause bearbeitet sie die Fotos, legt Filter darüber und optimiert die Lichtverhältnisse. Sie schneidet dann das Bild zu, weil ihr ihre Beine zu dick erscheinen. Zwei Stunden nach dem Hochladen hat sie 120 Likes, was ihrem regulären Schnitt entspricht. Sie fühlt sich zwar nicht euphorisch, aber doch zufrieden, weil sie sich selbst in ihrer Präsentation gefallen und dafür Bestätigung erfahren hat. Eine weitere szenische Beschreibung trägt die Überschrift »Die StarKöchin«. Die Köchin sitzt, noch nicht als Köchin, am Schreibtisch und arbeitet lustlos an ihrer Hausarbeit für die Uni. Sie lässt sich verleiten, mit ihrem Handy auf Instagram zu gehen. Augenblicklich fällt der Druck von ihr ab. Beim Scrollen findet sie Essensbilder und bekommt die Idee, selbst (für die Familie) zu kochen und ihre Bilder auf Instagram einzustellen. Sie macht die Küche sauber und damit für die Fotostory präsentabel, setzt einen Markentopf von WMF in Szene, rückt das Schneidebrett ins Licht und fotografiert es mit dem geschnittenen Rindfleisch. Das erste Bild der Fotostory wandert ins Internet. Nach kurzer Zeit treffen die ersten Kommentare, Likes und Smileys ein. Fotos mit den weiteren Arbeitsschritten folgen, weitere Kommentare kommen zurück. Nur die jüngere Schwester zeigt sich enttäuscht, dass die Aktion für Instagram und nicht »wirklich« für die Familie gemacht war. Nicht das familiäre Essen, sondern dessen Inszenierung war Ziel libidinöser Besetzung. Soziale Medien bieten Parallelwelten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die eine hohe Attraktivität haben. Was ist das Verführerische an den digitalen Medien? Es gelingt ihnen, Individuen nicht nur anzusprechen, sondern sie zu packen und in den eigenen Kosmos hineinzuziehen. Möglich ist das, weil das Individuum in seinem Begehren angesprochen wird. Das bedeutet nicht, dass soziale Medien das Begehren jeder einzelnen User:in kennen würden. Selbst der/die User:in kennt nur die vordergründigen Aspekte. Sein/Ihr Begehren wird situativ immer neu geweckt und heftet sich an konkrete Angebote an. Es wird mimetisch im Sinne von »ich auch«. Bilder sind dafür ein hervorragender Trigger. In Flemmers szenischer Beschreibung ringt die spätere Starköchin mit ihrer Hausarbeit. In psychoanalytischer Sicht ist geistige Arbeit ein klassischer Fall von Sublimierung: Triebenergien müssen auf nicht Lust spendende Ziele umgelenkt werden. 74
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Eine nüchterne Angelegenheit, dieser Wechsel von Lust zu Realität. Zudem sind Lernen und Denken einsame Angelegenheiten, was weiteren Widerstand weckt. Daraus resultiert ein Blick ins Handy und mit dem Anblick appetitlicherer Inhalte folgt die Regression ins Orale. Wunsch und Begehren sind wieder in das Register der Lust zurückgerutscht. Das Spiel mit Begehren ist natürlich nicht neu. Ältere Medien machen das schon lange, wenn sie in einen Film oder eine Serie locken. Oder der Konsum, der ständig dabei ist, ein mit Geldzahlungen verbundenes Bedürfnis zu wecken, von dem wir gar nicht wussten, dass wir es haben würden. Was aber macht Instagram im Vergleich so viel verlockender? Immerhin ist es kein reines Paradies, verfügt selbst über Regeln und Normen und übt Kontrolle aus. Die Antwort heißt: Aussicht auf eine ganz besondere Form von Befriedigung, die unmittelbare narzisstische Gratifikation in Form von Likes. Ein Liebesversprechen. I like you. Welche Gratifikation könnte stärker sein? Zudem hat die virtuelle Welt von Instagram einen märchenhaften Charakter. Sie ist eine riesengroße Spielwiese für das uneindeutige Subjekt, eine Art Übergangsraum, bildhaft und auch bilderbuchhaft organisiert. Jede und jeder kann sich ausprobieren. Regeln des Überichs sind im Hinblick auf den eigenen Exhibitionismus aufgehoben. Niemand muss sich für eitle Selbstinszenierung oder Gier nach Applaus schämen. Reaktionen von Neid oder Eifersucht sind nicht vorgesehen. Realität wird partiell ausgeschaltet, zum Beispiel dann, wenn ästhetisierende Übertreibung für die Wirklichkeit genommen oder wenn Banales, wie Kochen, sakralisiert wird. Den Regeln der analogen Welt werden andere gegenübergestellt, die weniger komplex gestaltet sind. Zudem kann der eigene Auftritt in der InstagramWelt unter den dort herrschenden Bedingungen selbst gestaltet werden. Jedes Individuum wird zu seinem eigenen Prometheus. Soziale Medien haben fraglos viele positive Wirkungen. Sie bieten einen wichtigen Raum für Kreativität, Kommunikation und Austausch. Durch ihre Nutzung können Identitätsgefühl und Selbst gestärkt werden. Altmeyer feiert diese neue Option und spricht von einer Demokratisierung des Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit. Was einst den Prominenten vorbehalten war, nämlich aufzufallen und bewundert zu werden, kann heute jeder Mensch und kann damit Öffentlichkeit für sich herstellen: »Ich werde gesehen, also bin ich!« (Altmeyer, 2019, S. 14) Flemmer hat mit dem »Glamour Girl« noch etwas anderes gezeigt: Dieses schlüpft probeweise in eine andere Identität, kann sie aber auch wieder verlassen. Im (analogen) Alltag braucht die Protagonistin kein Top von »Tommyx75
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Gigi«. Instagram leistet dann für junge Erwachsene, was Erikson in den 1950er Jahren als Hilfestellung für die Ablösung von den Eltern postuliert hatte: identifikatorische Unterstützung zur Bewältigung der Adolszenzkrise durch die Peers. Allerdings scheint Eriksons Identitätskrise heute einen längeren und protrahierteren Verlauf zu nehmen und nicht mehr Halt vor der erwachsenen Generation zu machen. Man könnte den Begriff gar als Synonym für die Identitätsunsicherheit unserer Zeit nehmen, passend zur Diagnose des uneindeutigen Subjekts. Die Gestalt der aktuellen medialen Plattformen sind Spiegel unserer gesellschaftlichen Kultur. Das Gesellschaftsbild aber, das wir in diesem Spiegel gezeigt bekommen, erscheint geradezu besorgniserregend. Unser Handeln ist bestimmt von Projektionen, Idealisierungen und Verleugnungen, nicht aber von Entsagungen, Konflikten und Auseinandersetzungen. Der Spiegel zeigt die große Regression, so der Titel eines Sammelbandes über die geistige Situation der Zeit (Geiselberger, 2017).
Risiken digitaler Medien für die Subjektkonstituierung Dauererregung und Übersättigung
Echte Befriedigung hat mit einem Vollzug zu tun und gibt ein Gefühl der Erfüllung – sei es durch einen Geschlechtsverkehr, eine intensive Begegnung, eine gute Deutung oder einen schöpferischen Akt. Zu dieser Art von Erfüllung kommt es im Internet kaum. Dort geht es oft eher um partielle Befriedigung, wie sie auch für andere Formen von Entertainment charakteristisch ist. Das scheint auch die Intention medialer Plattformen zu sein, die aus Profitgründen bestrebt sind, ihre User:innen lange online zu halten. Echte Bedürfnisbefriedigung wäre dem abträglich. Freuds ständig fließender Reiz wird nicht im eigenen Körper lokalisiert, sondern kommt nun von außen. Ihren Vorlieben entsprechend werden dem/der User:in immer neue Youtube-Videos angeboten, unterbrochen von genau abgemessenen Werbeeinlagen. Der/Die User:in wird angefüttert, ihr erster Hunger gestillt und danach der Appetit mit wohldosierten und immer neu wechselnden Häppchen konstant angeregt gehalten. Das funktioniert eine ganze Weile, bis sich irgendwann Übersättigung und Übelkeit einstellen. Die von Freud beschriebene wellenartige Bewegung des Triebes mit Anschwellen von Triebspannung, Orgasmus und folgendem Abschwel76
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len gibt es da nicht mehr. Vielmehr wird immer wieder und oft genug vergeblich der schnelle Kick gesucht, unmittelbare Erregung und eine Art Instant-Befriedigung. Das Extreme ist dafür der geeignete Trigger. Triebaufschub wird schwierig, und es gibt nicht mehr die Momente der Ruhe und des Suchens in sich selbst, das, was Winnicott als Fähigkeit zum Alleinsein beschrieben hat. Eigenes Begehren wird nicht im Inneren ausgemacht, sondern springt auf ständig bereits vorhandene Angebote auf. Das führt zu Entfremdung, gerade auch von Körper und Körpergefühl. Narzisstische Aufblähung und Zentrierung der Perspektive auf das eigene Ego
In den westlichen Gesellschaften hat sich eine Aufmerksamkeitsökonomie breitgemacht, die als Triebregression erscheint und um die Frage kreist: Was brauche ich und was brauche ich gerade jetzt? Die hohe Sensitivität für eigene Bedürfnisse und das Bedürfnis nach unmittelbarer Befriedigung zeigt sich dann, wenn Wege auch inmitten dichter städtischer Zivilisation nicht mehr ohne Trinkflaschen und Coffees to go angetreten werden können. Auch 50-minütige Therapiestunden sind immer seltener ohne die Möglichkeit sofortigen Stillens von plötzlich aufkommendem Durst zu bewältigen. Im Internet verlagert sich die Bedürftigkeit weg vom Körper und hin zu Aufmerksamkeit. Dazu bedarf es einer performativen Inszenierung des eigenen Selbst. In der Literatur wird dafür häufig Goffmans Theatermetapher herangezogen. Das Selbst erscheint auf der Bühne und wird von einem Publikum gesehen und beklatscht. Die amerikanische Essayistin Jia Tolentino (2021) weist darauf hin, dass sich das Internet auf jede/n einzelne/n User:in individuell zuschneidet. Alles, was wir zu Gesicht bekommen, entspricht unseren Entscheidungen und unseren algorithmisch bestimmten Vorlieben. Alle Informationen und Interaktionen werden auf der Basis unseres Profils gefiltert. Die Architektur des Internets ist so gebaut, dass jedes Individuum für sich zum Nabel der Welt wird, weil es kommerziell so am besten ausgenutzt werden kann. Der Kommerz dringt in unsere Identität und unsere Beziehungen ein und gewinnt Herrschaft über unser Begehren – ein Begehren, das sich von empathisch oder erotisch erlebten 77
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Objekten ablöst und stattdessen immer mehr auf Prothesen und Fetische verschiebt. Die ästhetisierte digitale Selbstpräsentation ist zwar eine Aufblähung des eigenen Selbst, zugleich aber auch Anpassungsleistung und Unterwerfung gegenüber kulturell vorgegebenen Idealen. Das erinnert an das kulturelle Phänomen, das Frauen traditionell immer schon zu leisten hatten: sich schön zu machen, um begehrt zu werden und darüber Bestätigung zu erfahren. Die in den sozialen Medien auf das eigene Selbst gerichtete Perspektive führt zu einer Einengung des Weltbezuges. Es wird schwerer, die Welt aus dem Blickwinkel anderer zu sehen und die Gefahr wächst, sich immer mehr in Blasen gleichdenkender Menschen zu bewegen. Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, von anderen kritisch befragt und korrigiert zu werden. Für die Gemeinschaft wird es in Zeiten von Filterblasen und Echokammern immer schwerer, sich in gemeinsam ausgetragenen Aushandlungsprozessen auf eine gesellschaftlich teilbare Vorstellung von Realität verständigen zu können. Das ist eines der größten Übel aus Pandoras Büchse. Prothesen und Omnipotenz statt Begrenzung und Differenz
Prothesen begegnen dem menschlichen Mangel, indem sie eine Vorstellung von Vollkommenheit erschaffen, die allerdings imaginär bleibt. Ideale können als derartige Prothesen wirken. Wir laufen der Sehnsucht nach einem vollkommenen Zustand hinterher, der sich nie erfüllt, an den wir uns aber illusionär klammern können. Internet und soziale Medien sind formidable Prothesen. Unsere Unvollständigkeit verleugnend, erschaffen wir illusionäre Inszenierungen, benutzen Masken und Filter, täuschen uns selbst und andere über Aussehen, Alter und vieles mehr. »›Eine vollkommene Welt‹ – aber wie wenig vollkommen«, so hat es Bonaminio (2016) formuliert. Soziale Medien haben eine manipulative Seite. Sie erschaffen Ideale, die sich durch Gruppenprozesse zu einem kollektiven Ichideal entwickeln und von dort aus in das Individuum einpflanzen. Ihr Register ist das Imaginäre: Schein oder Anschein. Das Unerreichbare existiert in dieser Form eben doch – als das perfekte Bild nämlich. Soziale Medien lassen uns an illusionärer Omnipotenz teilhaben, legen uns gleichzei78
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tig aber auch einen Anspruch an Perfektion auf, an dem wir scheitern müssen. Manche Menschen gehen dann zum Schönheitschirurgen, um wirklich dem Bild von sich zu entsprechen, das sie im Internet imaginär schon darstellen. Es gibt also durchaus ein Wissen um den illusionären Charakter der inszenierten Omnipotenz, eine Gleichzeitigkeit von Wissen und Verleugnung, wie Freud sie schon im Zusammenhang mit dem Fetisch beschrieben hat. Überhaupt scheint es einige Überschneidungen zwischen Fetischen und sozialen Medien als Prothesen zu geben (vgl. Döser, 2019). Bereichernd sind digitale Medien dann, wenn es einen spielerischen Umgang mit ihnen gibt. Wie beim »Glamour Girl«, das im Alltag kein Designer-Top braucht. Der/Die User:in kann in die virtuelle Welt eintauchen und mit zweidimensionalen illusionären Vorstellungen spielen, er/sie kann aber auch wieder hinaustreten und sich im dreidimensionalen Leben zurechtfinden. Schwierig wird es dann, wenn die Übergänge nicht mehr leichtgängig geschafft werden und wenn sich die Unterscheidung zwischen Illusion und Realität aufzulösen beginnt. Spaltung und Destruktion
In Freuds Triebvorstellung spielt der Energiebegriff eine zentrale Rolle. Libido kann auf das eigene Selbst oder auf Objekte gerichtet sein, die dann mit libidinöser Energie besetzt werden. In sehr freier und nur spielerisch zulässiger Weise können wir uns die Likes in den sozialen Medien als Reservoir von Libido vorstellen. Die Likes werden wie libidinöse Energie zu den Objekten, also den Follower:innen, geschickt und in umgekehrter Richtung von ihnen empfangen. Das Verteilen von Likes erfolgt wahrscheinlich schon mit der berechnenden Erwartung, dafür im Gegenzug Likes zurückzubekommen. Anders als in Freuds ökonomischer Theorie geht es im digital-energetischen Austausch allerdings weniger um ein erotisch-sexuelles Feuer als um narzisstische Partialtriebhaftigkeit. Wo narzisstische Bedürftigkeit dominiert, wird dem Objekt nicht primär mit Empathie oder erotischem Begehren begegnet, stattdessen wird es zu einem Selbstobjekt, das der eigenen Befriedigung dient, solange Likes von ihm erwartet werden können. Die Betonung von Partialtrieben scheint ein wesentlicher Charakter des Internets zu sein und 79
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bezieht auch die Stellung von Schau- und Zeigelust ein. Begehren kann sich dabei auch mit einer Überlegenheit gegenüber dem Objekt verknüpfen, was sich etwa bei Schadenfreude zeigt. Zu den populärsten YoutubeVideos gehören solche, in denen anderen Menschen Missgeschicke widerfahren. Wo das Selbst durch paranoide Züge bedroht wird, muss die Abwehr rigider und stärker projektiv ausgerichtet sein, die Welt spaltet sich in Opfer und Täter:innen. Das führt uns zu den Foren von Verschwörungstheoretiker:innen, Reichsbürger:innen und Anhänger:innen rechtsextremer Ideologien. Dort geht es um aggressives Begehren, um maligne Projektionen und darum, Hass-, Rache- und Destruktionsfantasien ausleben zu können. Eine Miniatur dieses destruktiven Verhaltens findet sich bei den Trollen, deren Begehren darin besteht, zu provozieren und Ordnung zu zersetzen.
Fazit Im Kern der sozialen Medien liegt ein Versprechen von Vollständigkeit, Perfektion und Glück, das auf jedes einzelne Individuum nach seinen Bedürfnissen und Wünschen zugeschnitten ist. Dieses Versprechen erfüllt sich aber nur als imaginäre Illusion und um den Preis der Verleugnung von Realität, realem Körper und einem Begehren, das primär das Objekt und nicht das Selbst adressiert. Mit dieser zentralen These soll noch einmal an den Anfang erinnert werden: an das Feuer, das Unbehagen in der Kultur und den Prothesengott. Vielleicht lässt sich nun eines feststellen: Bei der von Freud beschriebenen Zähmung des Feuers war es darum gegangen, es nicht ausgehen zu lassen und dadurch handhabbar zu machen: die Feuerlöschentsagung. Das digitale Feuer aber wird nicht mehr ausgehen. Es bringt der Gesellschaft und den Einzelnen viel Nutzen und viel Lust, es birgt aber auch die Gefahr schwerer Verbrennungen. Das passiert dadurch, dass sich digitale Medien als Prothesen in das Feuer beziehungsweise die Dynamik unseres Begehrens einloggen. Wie in einem trojanischen Pferd schmuggeln sie sich in unser Inneres und füllen mit ihren Versprechungen die Lücken in der Architektur unseres Selbst. Was tun? Ich schlage vor, dass wir von Zeit zu Zeit der Feuerlöschentsagung entsagen sollten. Wir sollten dann unsere ganze Lust sammeln und mit all unserer weiblichen und männlichen Kraft in das digitale Feuer hinein pinkeln. Mal sehen, was wir ausrichten können. 80
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Literatur Altmeyer, M. (2019). Ich werde gesehen, also bin ich. Psychoanalyse und die neuen Medien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bonaminio, V. (2016). »Eine vollkommene Welt« – aber wie wenig vollkommen. Klinisch-psychoanalytische Anmerkungen zu Adoleszenz und virtueller Realität. In A. Lemma & L. Caparrotta (Hrsg.), Psychoanalyse im Cyberspace? Psychotherapie im digitalen Zeitalter (S. 157–181). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Carstensen, T., Schachtner, C., Schelhowe, H. & Beer, R. (2014). Subjektkonstruktion im Kontext Digitaler Medien. In dies. (Hrsg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart (S. 9–27). Bielefeld: transcript. Decker, O. (2004). Der Prothesengott. Subjektivität und Transplantationsmedizin. Gießen: Psychosozial-Verlag. Descombes, V. (2013). Die Rätsel der Identität (übers. v. J. Schröder). Berlin: Suhrkamp. Döser, J. (2019). Transitional object 5.0. Eine (kultur-)psychoanalytische Recherche über den kindlichen Gebrauch des Smartphones. Psyche, 73(9–10), 673–697. Erikson, E. & Hügel, K. (1956). Das Problem der Identität. Psyche, 10(1–3), 114–176. Erlenmeyer, E. (1932). Notiz zur Freudschen Hypothese über die Zähmung des Feuers. Imago, 18(1), 5–7. Flemmer, S. (2020). Instagram als sozialer Prozess. Gießener Beiträge zur Bildungsforschung, 24. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2020/15165/ (11.01.2023). Freud. S (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 421–506. Freud, S. (1932a). Zur Gewinnung des Feuers. GW XVI, S. 3–9. Geiselberger, H. (Hrsg.). (2017). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp. Harnischfeger, J. (2021). Adoleszente Ideologiekritik. Auf der Suche nach Identität in den Social Media. In B. Heimerl (Hrsg.), Unerhörte Stimmen. Psychoanalytische Erkundungen zu gesellschaftlichen Phänomenen (S. 57–78). Gießen: PsychosozialVerlag. Lacan, J. (1986 [1948]). Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In ders., Schriften I (S. 61–70). Weinheim, Berlin: Quadriga. Press, J. (2019). Im Anfang war der Körper: Ein psychosomatischer Blick auf Tat und Körper. Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, Frankfurt a. M., 30.5.–2.6.2019. Rosenfeld, H. (1971). Beitrag zur psychoanalytischen Theorie des Lebens- und Todestriebes aus klinischer Sicht: Eine Untersuchung der aggressiven Aspekte des Narzißmus. Psyche, 25, 476–492. Schaeffer, A. (1930). Der Mensch und das Feuer. Die Psychoanalytische Bewegung, 2(3), 201–210. Schrader, M. (2021). Ich bin dein Mensch [Film]. Letterbox Filmproduktion. Tolentino, J. (2021). Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
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Biografische Notiz
Lutz Garrels, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, als Psychoanalytiker niedergelassen in eigener Praxis in Frankfurt am Main, dort auch Institutsleiter und Lehranalytiker (DPG, IPA) am Institut für Psychoanalyse (IPF). Publikationen zu sexualwissenschaftlichen Themen, zu Kunst und Psychoanalyse sowie zu klinischen und grundlegenden psychoanalytischen Fragestellungen, zuletzt in der Psyche (Heft 7/2021): »Kritischer Versuch über therapeutische Regression«.
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Teil 2 Klinik und Internet
Psychoanalyse hinter dem Bildschirm Einige persönliche Überlegungen1 Alessandra Lemma
Medial vermittelte Therapie ist nichts Neues. Ein wichtiger Teil von Freuds Selbstanalyse waren die Briefe an seinen Freund Wilhelm Fließ, und auch in seinen schriftlich verfassten Ratschlägen an den Vater des kleinen Hans betonte er den therapeutischen Nutzen von Korrespondenz (Brahnam, 2014). Die Couch selbst könnte man als eine Art Medium bezeichnen, das die visuelle Beziehung für die Dauer der Sitzung unterbricht und einen einseitigen Bildschirm zwischen Patient und Analytikerin einführt, der es Letzterer ermöglicht, den Patienten zu sehen, nicht aber umgekehrt. Das Neue an medial vermittelter Therapie ist, dass wir sie jetzt endlich in unserem Fach diskutieren, nicht nur, aber vor allem wegen der Pandemie, von der wir alle noch immer betroffen sind. Als ich Anfang der 2000er Jahre begann, über Teleanalyse zu schreiben, konnte ich nicht ahnen, dass wir irgendwann aufgrund einer Pandemie gezwungen sein würden, aus der Ferne zu arbeiten. Wie sich die Welt verändert hat … In den Anfängen der virtuellen Kommunikation boten nur sehr wenige Analytiker »Skype«-Therapie an. Insgesamt wurde dies nicht gut aufgenommen. Viele befürchteten, dass das »Gold« der Psychoanalyse entwertet würde, dass das von uns so geschätzte analytische Setting gefährdet sei. Dies führte dazu, dass Analytiker, die mit solchen Medien arbeiteten, sich lieber nicht »outen« wollten, weil sie fürchteten, als »minderwertig« angesehen zu werden. Die Pandemie hat diese (vorverurteilenden) Positionen gewandelt. In einer Zeit, in der persönliche Treffen schwierig und Reisen weltweit einge1 Übersetzung aus dem Englischen: Utz Palußek.
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schränkt wurden und zugleich die Nachfrage nach Psychotherapie dramatisch anstieg, ließ uns dieses weltweit wirkende Ereignis darüber nachdenken, wie eine Veränderung des Settings die psychoanalytische Therapie für mehr Menschen zugänglich machen könnte. Vor der Pandemie verhinderten Vorurteile eine offene Auseinandersetzung mit den potenziellen Stärken eines solchen Mediums (Lemma & Caparrotta, 2014). Man könnte sagen, dass die Sorge um die Entwertung des Goldes der Psychoanalyse und die Beibehaltung einer vertrauten und vielleicht für eine bestimmte – auch meine – Generation von Psychoanalytikerinnen geeigneten Arbeitsweise ein differenziertes und ausgewogenes Forschen verhinderte – also ein eigenständiges Forschen und nicht eine durch die Erfordernisse einer Pandemie ausgelöste Studie –, und zwar darüber, wie wir mehr Menschen helfen könnten, die aufgrund ihrer sozioökonomischen oder geografischen Lebensbedingungen keinen Zugang zur Psychoanalyse, wie sie unserer Meinung nach praktiziert werden sollte, finden. Wie alle Veränderungen brachten auch die durch die Pandemie ausgelösten Settingveränderungen sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich. Einige Kollegen stellen bereits fest, dass die »digitale Präsenz« der Analytikerin in der Lebensumgebung des Patienten ein wichtiges Fenster zu dessen äußerer und innerer Welt öffnen kann. Teletherapie ist unverzichtbar für diejenigen, für die eine Therapie sonst nur schwer erreichbar wäre, insbesondere in Krisenzeiten, in denen wir aus Gründen der Gerechtigkeit so viele Menschen wie möglich erreichen müssen. Nicht vergessen sollten wir auch die Vorteile für Patientinnen, die von Schamgefühlen geplagt sind und denen die Distanz einen sicheren Raum bietet, in dem sie beginnen können, sich mit ihren Problemen zu befassen. Obwohl ich hier darlegen werde, dass in Teletherapien der Körper der Analytikerin für den Patienten als Teil des Settings nicht verfügbar ist, werde ich paradoxerweise auch darauf hinweisen, dass das Nichtvorhandensein eines gemeinsamen physischen Raums, wenn es denn reflektiert wird, uns Analytikerinnen sogar mehr für die Embodiment-Aspekte der Interaktion sensibilisieren kann. Wir müssen mehr über den Körper nachdenken, weil er nicht im Raum ist. Und wir mussten auch mehr als je zuvor über den Körper nachdenken, weil die Pandemie sowohl den Patienten als auch die Analytikerin mit der Zerbrechlichkeit des Körpers konfrontierte. COVID bringt die beiden ängstlichen Körper räumlich zusammen, virtuell und anderweitig, verstärkt Ängste in beiden und regt Fantasien von Angriff, Schaden, Macht, Hilflosigkeit, Schutz und Dankbarkeit an. 86
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Auch wenn wir inzwischen daran gewöhnt sind, aus der Ferne zu arbeiten, und es sein kann, dass wir dies auch künftig tun werden, so müssen wir zugleich anerkennen, dass dies eine grundlegende Veränderung des analytischen Settings darstellt. Dies ist mein Ausgangspunkt für die Annäherung an die Teletherapie und es ist zugleich eine Tatsache, wenngleich keine normative Tatsache. Ob diese Arbeitsweise funktioniert und für wen sie funktioniert, sind empirische Fragen. Wir müssen herausfinden, inwieweit sie sich auf die Ergebnisse auswirkt und für welche Patientinnen sie genauso gut funktioniert wie eine persönliche Therapie oder ihnen vielleicht sogar mehr hilft, oder ob sie ihnen schadet oder weniger wirksam ist. Dies sind empirische Fragen, die von einigen Kollegen derzeit erforscht werden, und wir warten auf ihre dringend benötigten Forschungsergebnisse.
Das verkörperte Setting Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Präsenz- und dem medial vermittelten Setting? Zunächst möchte ich eine Unterscheidung treffen zwischen dem »Setting« in Bezug auf Raum beziehungsweise Zoom, Zeit, Häufigkeit der Sitzungen, physische Anwesenheit des Analytikers (seine sichtbaren Bewegungen, sein Geruch usw.) und dem sogenannten inneren Setting des Analytikers, das vom physischen Setting getragen, aber auch beeinflusst wird. Die sensorischen Aspekte der Umgebung sind wesentlich. Dazu gehören akustische, visuelle, olfaktorische und taktile Merkmale. Wenn wir nicht in Präsenz arbeiten, bleiben uns zumindest akustische und in begrenztem Maß visuelle Eindrücke (meist der Oberkörper) erhalten. Olfaktorisches und Taktiles jedoch ist uns verschlossen. Die Übertragung auf das Gebäude selbst – den tatsächlichen physischen Ort, an dem sich der Raum befindet – ist ebenfalls aufgehoben (siehe Reys Begriff der »Ziegelsteinmutter«). Wenn wir über Zeitzonen hinweg arbeiten, wird auch der zeitliche Rahmen gestört. Die gemeinsame Erfahrung einer Zeitzone verbindet uns mit dem Körper, weil Zeit ein Rhythmus und mit körperlichen Rhythmen und Veränderungen verknüpft ist (beispielsweise wie wir uns morgens fühlen, wenn es eine Morgensitzung ist, im Unterschied zu einer Abendsitzung). Der Körper des Behandlungsraums, der sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit befindet, ist daher wichtig. Auch der Körper der Analytikerin ist ein entscheidender Teil des verkörperten Settings – einer 87
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seiner Konstanten, selbst wenn er offensichtlich Veränderungen unterworfen ist (zum Beispiel durch Krankheit oder Alterung). Ich verwende den Begriff »verkörpertes Setting« hier in zweierlei Hinsicht: a) um die Art und Weise zu verdeutlichen, in der die körperliche Erscheinung und Präsenz der Analytikerin, ihre sensorische Empfindsamkeit, eine körperliche Form des Containments bietet, sodass Veränderungen auf dieser Ebene bestimmte Ängste und Fantasien im Patienten mobilisieren können, und b) um zu unterstreichen, dass die somatische Gegenübertragung der Analytikerin ein wichtiger Bestandteil ihres inneren Settings ist. Das heißt, die Analytikerin nutzt auch die freien Assoziationen des Körpers, um dem Patienten zuzuhören, nicht zuletzt, weil sie sich auf die »verkörperten Phantasien« des Patienten beziehen können (Bronstein, 2013). Die physische Erscheinung der Analytikerin und die Art und Weise, wie sie ihren Körper und den physischen Raum im Zimmer »bewohnt« – wie sie auf dem Stuhl sitzt, wie sie atmet, sich im Zimmer bewegt, spricht, sich kleidet usw. –, könnte man als zentrale sensorische Merkmale des Settings bezeichnen, die zum Containment der Analytikerin gehören. Einige Merkmale der Umgebung sind tatsächlich verkörpert (embodied). Unser Nicken oder unsere Blicke bei der Begrüßung der Patienten oder die Art und Weise, wie wir uns am Ende der Sitzung erheben, gehören zu den Ritualen oder Rahmenparametern, die als »Konstanten« verkörpert werden. Sie alle werden zu erwarteten Merkmalen der Umgebung, die fehlen, wenn wir nicht in Präsenz arbeiten, sodass wir dann etwas verlieren, was unsere Arbeit unterstützt. Es handelt sich um »Konstanten«, die aufgrund ihres verkörperten Wesens schwer verlässlich konstant zu halten sind, sodass manche Patienten auf diese Merkmale des Settings stärker und häufiger als auf andere Parameter des Settings reagieren. Mit »reagieren« meine ich nicht nur, dass der Patient bewusst auf sichtbare Veränderungen im Körper der Analytikerin reagiert; ich denke vielmehr daran, wie der Körper der Analytikerin als starker Stimulus in der inneren Welt des Patienten wirkt, was sich in den Assoziationen, Enactments etc. des Patienten manifestiert und sich auch auf die Gegenübertragung auswirkt, was uns erlaubt, auf die unbewussten Fantasien und inneren Objekte des Patienten zu schließen. Natürlich kann der Körper der Analytikerin bei der Teleanalyse kaum Teil des Settings sein. Ich habe an anderer Stelle beschrieben, wie die Bedingun88
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gen der virtuellen Umgebung (insbesondere deren Unmittelbarkeit und die daraus resultierende Entkoppelung des Begehrens) zu einem Zusammenbruch des Repräsentationsraums führen. Ohne Bewegung zu, von und in einer gemeinsamen physischen Umgebung, mit sofortigem Zugriff auf die Analytikerin per Tastendruck, ohne wirkliche Spannung bezüglich des gemeinsamen Potenzials zum »Treten oder Küssen« (Isaac-Russell) gibt es auch kaum Bewegung in Richtung Andersartigkeit. Die Schnelligkeit des Internets, gepaart mit der Entkoppelung des Körpers, dessen Unmöglichkeit, das Objekt des Begehrens zu erreichen, kann zu einem omnipotenten und regressiven psychischen Zustand führen, in dem das Begehren die Erfahrung der Ungewissheit umgeht und zu einer unmittelbaren Erledigung führt. In der Teletherapie, wie in anderen technologisch vermittelten Beziehungen in der weiten Welt, gibt es weniger Möglichkeiten, das reale Objekt als eines zu erfahren, welches nicht der allmächtigen Kontrolle des Subjekts unterliegt. Dennoch hat mich die Erfahrung mit ausschließlicher Fernarbeit in 2020 bis Anfang 2021 gelehrt, dass Teletherapie praktisch nicht mit Präsenzarbeit gleichzusetzen ist, weil wir keinen physischen Raum mit dem Patienten teilen, dass sie aber in der Fantasie des Patienten den Körper nicht auslöscht. Vor allem, wenn die Fernarbeit auf eine Phase der Präsenzarbeit folgt, kann der Körper der Analytikerin wie des Patienten auch im inneren Setting der Analytikerin lebendig bleiben und weiterhin genutzt werden. Doch selbst wenn überhaupt kein persönlicher Kontakt stattgefunden hat, die Analytikerin auf diese »Abwesenheit« jedoch achtet, können Patienten in die Reflexion über diese Dimension einbezogen werden. Allerdings ist diese Arbeitsweise für Analytiker sehr anstrengend und wirft interessante ethische Fragen auf: Was sind die optimalen Bedingungen für diese Arbeitsweise? Können wir vielleicht nicht mehr die gleiche Anzahl von Patientinnen behandeln, beispielsweise weil wir uns nicht mehr so gut konzentrieren können?
Zoom-Therapie: die Herausforderung der »Präsenz« und die Bedeutung der »Relevanz« Ich möchte nun einige Überlegungen dazu anstellen, warum Teletherapie trotz ihrer erheblichen Einschränkungen manchmal sehr effektiv sein kann. Hierfür werde ich ein schematisches Modell skizzieren, das erfassen soll, was ich meiner Meinung nach mit meinen Patienten tue, wenn ich online 89
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arbeite, und das einige der soeben skizzierten Herausforderungen konzeptionell angeht. Es lässt sich durchaus argumentieren, dass das Setting der Teletherapie zwar anders ist, aber nichtsdestotrotz ein eigenes Setting darstellt, das viele gemeinsame Merkmale mit dem persönlichen analytischen Setting aufweist (zum Beispiel zeitliche Konstanz, Nutzung der Couch etc.). Doch auch wenn etwas Wahres daran ist, ist es nicht ganz richtig. Ein wesentlicher Aspekt des analytischen Settings ist, dass die Analytikerin es festlegt, es aufrechterhält und die Hauptverantwortung dafür trägt. Eine ZoomTherapie funktioniert ganz anders, da die Analytikerin das Umfeld, in dem der Patient die Therapie erhält, nicht kontrollieren kann. Es ist etwas anderes, sich auf die Couch zu legen, die die Analytikerin in ihrem Behandlungsraum zur Verfügung stellt, oder auf die Couch, die sich der Patient selbst in einem von ihm bestimmten Raum zur Verfügung stellt. Der Unterschied besteht nicht nur darin, dass der physische Raum ein anderer ist; er ist grundlegender als das, denn der vom Patienten bewohnte Raum ist nicht von der Analytikerin geschaffen oder von ihrer spezifischen Körperlichkeit geformt worden und er ist nicht der Realität ausgesetzt, dass die Couch der Analytikerin auch von anderen Patienten benutzt wird. Obwohl diese Aspekte des Settings wichtig sind und dazu beitragen, dass sich der Patient containt fühlt, ist das grundlegendere Problem in der Teletherapie die Frage der sogenannten »Präsenz« und die Auswirkungen des Nichtmehrvorhandenseins des verkörperten Settings. Die Idee der Präsenz wird im Bereich der virtuellen Realität häufig als das »Gefühl, da zu sein« in der virtuellen Welt, oder als die »Wahrnehmungsillusion des Nicht-Medialen« konzeptualisiert. Präsenz ist jedoch eine soziale Konstruktion, die sich von der Wahrnehmungsillusion des Nicht-Medialen unterscheidet. Die Realität ist nicht einfach nur außerhalb der Köpfe der Menschen da, sondern sie wird auch in der Beziehung zwischen zwei Menschen ko-konstruiert. Wir fühlen uns »präsent«, wenn wir in einem gemeinsamen zeitlichen und räumlichen Rahmen mit externen Objekten agieren, das heißt, unsere Fähigkeit, uns im Raum zu verorten, hängt von den Handlungen ab, die wir darin ausführen können: »Präsenz ist die präreflexive Empfindung, in einer realen oder virtuellen Umgebung zu sein, die sich aus der Fähigkeit ergibt, die eigenen Intentionen in dieser Umgebung intuitiv zu verwirklichen« (Riva & Mantovani, 2014, S. 14). Mit anderen Worten: Ich bin in einem realen oder virtuellen Raum präsent, wenn es mir gelingt, meine Intentionen in die Tat umzusetzen. In 90
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diesem Sinne ist Präsenz das Wahrnehmen der erfolgreichen Transformation einer Intention in eine Handlung. Die subjektive Erfahrung, »da zu sein«, wird durch die Fähigkeit beeinflusst, »da sinnvoll zu sein«, sowie dadurch, selbst in einer virtuellen Umgebung durch das Erleben realer Erfahrungen etwas lernen zu können (Villani et al., 2014). Dies ist außerordentlich wichtig, um zu verstehen, warum eine Teletherapie funktionieren kann, denn ein Austausch zwischen Analytiker und Patientin, der es der Patientin ermöglicht, ihrer Erfahrung mit dem Analytiker einen »Sinn« zu geben, kann immer noch eine mutative Lernerfahrung sein, unabhängig von der Umgebung, in der sie stattfindet. Um zu verstehen, was während einer Teleanalyse passiert, ist es daher hilfreich, zwei Achsen der Kommunikation zu betrachten, die sowohl bewusst als auch unbewusst wirken: die Achse der verkörperten Präsenz und die Achse der Relevanz. Die Achse der verkörperten Präsenz bezieht sich darauf, ob die verkörperte Erfahrung von Analytikerin und Patient im selben physischen Raum oder im virtuellen Raum stattfindet. In einem gemeinsamen physischen Raum können beide die implizite Kommunikation und die ostensiven Hinweise (das heißt das Signalisieren kommunikativer Absicht), die Teil der Kommunikation sind, voll nutzen. Nonverbale Kommunikation ist in jeder menschlichen Interaktion allgegenwärtig und begleitet jede Äußerung. Nonverbales Verhalten ist das sichtbare Unbewusste, insbesondere wenn es Diskrepanzen zwischen den Botschaften der verschiedenen Kanäle, wie zum Beispiel Mimik, verbale Kommunikation, Tonfall, Gestik usw., gibt. Wenn Analytiker und Patientin nicht denselben physischen Raum teilen, findet der therapeutische Prozess in einem Kontext virtuell verkörperter Präsenz statt. In der virtuellen Begegnung haben beide in erster Linie Zugang zu expliziter Kommunikation, während sie weniger in der Lage sind, von impliziter Kommunikation Gebrauch zu machen. Dies liegt nicht nur daran, dass sich die beiden Körper nicht am selben physischen Ort befinden, sondern auch daran, dass die Technologie bei Weitem nicht perfekt ist: Sie führt Verzögerungen und Verzerrungen ein, die das Vertrauen beider Parteien in das untergraben, was sie aus ansonsten wertvollen Hinweisen wie dem Gesichtsausdruck oder dem Tonfall der Stimme ableiten können (Aspekte der Kommunikation, die über Zoom verzerrt werden können). Wie sorgfältig wir die Zoom-Umgebung auch gestalten, einige Aspekte entziehen sich unserer Kontrolle: Körpersprache und die Feinheiten der 91
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Mimik sind für den Aufbau menschlicher Beziehungen von grundlegender Bedeutung und fehlen bei den meisten Formen moderner Technologie. Einige Medien wie Zoom ermöglichen einen reichhaltigeren Informationsaustausch aufgrund der für die Kommunikation verfügbaren Hinweise und Kanäle. Reichhaltigere Technologien (zum Beispiel Face-to-Face-Kommunikation) ermöglichen eine weniger zweideutige und damit effektivere Kommunikation. Bei den meisten heute verfügbaren Telekonferenzsystemen ist die Synchronisierung von Audio- und visuellen Kanälen jedoch unvollkommen, die Bilder können verzerrt sein und es kann zu spürbaren Verzögerungen kommen. Im Allgemeinen hat sich gezeigt, dass eine falsche Abstimmung von Audio- und visuellen Kanälen die Zuschauer verwirrt und negative Emotionen hervorruft (Bruce, 1996). Ich beziehe mich absichtlich auf die Teletherapie via Zoom als eine Art von verkörperter Präsenz, weil wir auch im Cyberspace verkörpert bleiben: Was sich ändert, ist unsere Erfahrung der eigenen Verkörperung und der Verkörperung des anderen. Selbst über Zoom gibt es noch eine Art von Präsenz, da das Medium sowohl visuell als auch auditiv ist. Es handelt sich also nicht um einen sensorisch völlig entleerten Austausch. Interessanterweise wird die Erfahrung von Präsenz durch das Hinzufügen eines visuellen Kanals bei der virtuellen Kommunikation nicht bereichert. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein visueller Kanal im Gegensatz zu persönlichen Interaktionen in erster Linie zur Verortung der Interaktion genutzt wird. Ähnlich wie beim Telefon ist es der Audiokanal, auf den sich die Aufmerksamkeit fokussiert (Cukor et al., 1998). Reichweite und Größe des Bildschirms haben wenig Einfluss auf die Präferenz der Teilnehmenden für den Audiokanal bei Videokonferenzen (O’Donnell, 1997). Dies mag daran liegen, dass Videokonferenzen einige subtile, aber nicht identifizierbare Elemente fehlen, ohne die der visuelle Kanal verarmt und steril wirkt. Ein entscheidender Unterschied zwischen virtueller und Präsenz-Therapie besteht also darin, dass bei der virtuellen Therapie beiden Teilnehmenden der Zugang zu allen impliziten Aspekten der Kommunikation fehlt, die in einem gemeinsamen physischen Raum verfügbar sind. Dies kann dazu führen, dass sich der Patient weniger einbezogen, vernachlässigt oder missverstanden fühlt. Im Gegensatz dazu kann die Analytikerin im persönlichen Gespräch auf ihre somatische Gegenübertragung zurückgreifen, um zu verstehen, was der Patient noch nicht in Worte fassen kann. 92
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Einstimmung auf den Körper Wenn die Analytikerin mittels virtuell verkörperter Präsenz arbeitet, hat sie keinen Zugriff auf die gesamte Bandbreite ihrer somatischen Gegenübertragung, um sich in Bezug auf die unbewussten Kommunikationen des Patienten zu orientieren. Die Fähigkeit der Analytikerin, sich auf die »Wellenlänge des Körpers« einzustimmen, ist stark eingeschränkt. Für alle Patienten ist dies ein erheblicher Verlust, insbesondere jedoch für jene, die nur schwer eine stabile Abgrenzung zum Objekt herstellen und aufrechterhalten können und typischerweise ausgeprägte Schwierigkeiten bei der Symbolisierung haben und daher intensiv in den Körper der Analytikerin projizieren mögen, sowie für Patienten, deren primäre Probleme durch den Körper ausgedrückt werden. Diese Patienten sind meiner Erfahrung nach nicht für eine mediale Therapie geeignet. Dennoch habe ich trotz der erheblichen Einschränkungen in Bezug auf die Nutzung der somatischen Gegenübertragung auch bewegende Entwicklungen in meiner Arbeit mit Patienten über Zoom erlebt. Um solche positiven Ergebnisse nachvollziehbar zu machen, müssen zwei eng miteinander verbundene Aspekte berücksichtigt werden, die über die Frage der Relevanz hinausgehen, welche bereits diskutiert wurde. Erstens, wenn Analytikerin und Patient vor dem Wechsel zu Zoom (dauerhaft oder zeitweise) im selben physischen Raum zusammengearbeitet haben, kann die Analytikerin auf diese frühere gemeinsame verkörperte Erfahrung zurückgreifen. Dies ermöglicht es ihr, verkörperte und affektiv aufgeladene somatische Marker zu verwenden, um trotz der virtuellen Arbeitsbedingungen wieder mit dem Patienten in Kontakt zu treten. Antonio Damasio (2000) erörterte seine Hypothese der somatischen Marker, nach der Emotionen beziehungsweise Gefühle Repräsentationen von verkörperten Veränderungen im autonomen Nervensystem sind. Somatische Marker sind Gehirnzustände, die solche Veränderungen kennzeichnen. Diese Marker – körperliche Empfindungen – werden mit den Objekten oder Handlungen in der Welt assoziiert, die sie ausgelöst haben. Durch solche Assoziationen erlangen bestimmte Repräsentationen emotionale Bedeutung. In der Therapiesituation sind meines Erachtens somatische Marker polysemisch und können sich auf vielschichtige Übertragungserfahrungen beziehen. Sie können sehr mächtig sein und dazu beitragen, dass sowohl Patient als auch Analytikerin trotz des virtuellen Raums, in dem sie sich via 93
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Zoom treffen, visuell geerdet sind. Wenn die Analytikerin virtuell arbeitet, kann sie zum Beispiel auf frühere Erfahrungen verweisen, die der Patient in der Praxis gemacht hat, wie er das Behandlungszimmer nutzt, wie seine Haltung ist und wie er atmet. Dies kann dazu beitragen, den Patienten wieder mit einem gemeinsamen Erfahrungswissen über seine innere Welt zu verbinden, welches aus diesen somatischen Manifestationen entstanden war. Zweitens: Da die gemeinsame verkörperte Erfahrung in situ es der Analytikerin im besten Fall ermöglicht, die nicht verbal ausgedrückte innere Welt des Patienten mit größerer Spezifität und Genauigkeit zu verstehen, rufen die somatischen Marker, die aus der gemeinsamen persönlichen Erfahrung gezogen werden, die vom Patienten wahrgenommene Relevanz dessen, was die Analytikerin in der virtuellen Umgebung anbietet, erneut hervor und verstärken sie wiederum. Mit anderen Worten, die Erinnerung an die persönliche Erfahrung über die somatischen Marker verbindet den Patienten wieder mit einem Gefühl, das die Analytikerin auf eine einzigartige Weise kennt, die spezifisch für diese Beziehung ist. Da die Analytikerin die Erinnerung nutzt, um den Patienten zu verstehen, vertieft sich die gefühlte emotionale Bindung zwischen Patient und Analytikerin und intensiviert somit die wahrgenommene Relevanz.
Die Relevanzachse Die zweite Achse ist die Relevanzachse. Sie bezieht sich darauf, inwieweit der Patient die Hilfe, die die Analytikerin anbietet, als relevant wahrnimmt. Die Relevanztheorie (Sperber & Wilson, 1995; Walaszewska & Piskorska, 2012) geht davon aus, dass Kommunikation (sowohl verbal als auch nonverbal) die Fähigkeit voraussetzt, anderen mentale Zustände zuzuschreiben. Die »Relevanz« wird durch das Ausmaß bestimmt, in dem wir das Gefühl haben, in Beziehung zu einem »Anderen« zu stehen, der sich mit seiner gültigen subjektiven Erfahrung uns gegenüber so verhält, dass wir uns mit ihm beschäftigen möchten. Kommunikationen, die viel positive Wirkung haben, sind es aus Sicht des Empfängers wert, nicht nur verstanden, sondern auch als wahre Überzeugungen akzeptiert zu werden. Dies ist in jedem therapeutischen Prozess von entscheidender Bedeutung, unabhängig von der Art der Therapie und dem jeweiligen Setting. So konsolidiert sich das Engagement des Patienten ebenso wie die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit der Analytikerin. 94
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Das Ziel jeglicher Kommunikation ist es, epistemisches Vertrauen zu schaffen (Fonagy et al., 2015), das heißt, es geht um die Bereitschaft des Einzelnen, neues Wissen einer anderen Person als vertrauenswürdig, verallgemeinerbar und für sich selbst als relevant zu betrachten. Epistemisches Vertrauen soll sicherstellen, dass der Einzelne seine Denk- und Gefühlsweisen sicher hinterfragen und möglicherweise ändern kann; es führt gleichsam zu einer »epistemischen Autobahn« (ebd.), das heißt zu einem evolutionär geschützten Mechanismus, der die Bereitschaft des Einzelnen zum Wissenserwerb signalisiert. Relevanz ergibt sich zum Teil daraus, inwieweit die Analytikerin, die sich auf die gemeinsame verkörperte Erfahrung im Behandlungsraum stützt, auf die verkörperte innere Welt und Erfahrung des Patienten in der Übertragung eingestimmt ist. Aus dem wiederholten Austausch mit einer Analytikerin, deren Interventionen als relevant erlebt werden, ergibt sich ein Vertrauensvorschuss, der bis zu einem gewissen Grad die Verluste durch das Fehlen eines Zugangs zu verkörperter Kopräsenz in einem gemeinsamen physischen Raum kompensieren kann. Je größer die empfundene Relevanz ist, desto größer ist das epistemische Vertrauen des Patienten und desto größer ist die Toleranz gegenüber den Einschränkungen und Frustrationen in der Teletherapie. Dies setzt natürlich voraus, dass Patient und Analytikerin in ihren Präsenzsitzungen gute Erfahrungen gemacht hatten, bevor sie zu Zoom übergingen. In jeder medial vermittelten therapeutischen Begegnung ist die epistemische Wachsamkeit gegenüber Täuschung und Fehlinformation erhöht. In der Präsenztherapie kann der Patient auch auf ein breiteres Spektrum an nonverbalen Hinweisen zurückgreifen, um die Relevanz dessen, was die Analytikerin anbietet, sowie deren Vertrauenswürdigkeit für sich zu beurteilen. Relevanz, so könnte man sagen, bezieht sich auf den Wahrheitswert der Interventionen der Analytikerin und damit auf das Vertrauen, das der Patient in die Analytikerin setzen kann. Die Erfahrung des Patienten, dass die Analytikerin die Wahrheit über die Art der Zoom-Therapie und deren Auswirkungen auf den Patienten sagt, ist in der Teletherapie entscheidend für die Beziehungsdynamik, die die wahrgenommene Relevanz und das daraus resultierende Vertrauen stärkt oder untergräbt. Mit anderen Worten: Bei der Arbeit in einem medialen therapeutischen Setting und insbesondere dann, wenn es vorher keine persönliche Begegnung gegeben hat, ist es Aufgabe der Analytikerin, dem Patienten mitzuteilen, wie dieses Medium von ihm erlebt wird und wie es sich mit den 95
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Eigenheiten seiner inneren Welt verwebt. Die Analytikerin erleichtert so die Bedingungen für die Lockerung der epistemischen Wachsamkeit (das heißt das selbstschützende Misstrauen gegenüber Informationen, die von anderen kommen und möglicherweise schädlich oder trügerisch sind), indem sie das Gefühl vermittelt, dass an die Patientinnen gedacht wird (das heißt, ihre Erfahrungen und Bedürfnisse werden antizipiert) in Bezug auf die Teletherapie, die die Analytikerin dem Patienten anbietet. Somatische Marker, die reflektiert werden können, wie ich bereits erwähnt habe, gleichen die epistemische Wachsamkeit, die durch das virtuelle Setting mobilisiert wird, ebenfalls aus oder lockern sie. Wird die Erfahrung des Patienten im virtuellen Setting von der Analytikerin nicht bestätigt – möglicherweise weil sie glaubt, dass Teletherapie und Präsenztherapie funktionell gleichwertig sind, oder weil sie nicht auf die unbewusste Erfahrung des Patienten in der virtuellen Beziehung eingestimmt ist –, dann besteht die Gefahr, dass die Interventionen der Analytikerin vom Patienten als nicht relevant erlebt werden und der therapeutische Prozess beeinträchtigt wird. Dann werden die Interventionen der Analytikerin als Lügen empfunden anstatt als echter Versuch, etwas über die Wahrheit des Patienten bezüglich seiner Erfahrungen zu erfahren.
Die »schiefe Bahn« der Virtualität Ich möchte nun auf einige der Risiken der Telearbeit eingehen. Dass die digitale Technologie Menschen und Maschinen wie nie zuvor aneinanderbindet, lässt sich nicht leugnen. Die neuen Medien haben nicht nur eine neue Art des In-der-Welt-Seins geschaffen, sondern sie haben auch unsere Arbeitsweise verändert. Der persönliche und der virtuelle Rahmen mögen für manche Patientinnen gleich effektiv sein, aber sie können nicht als funktional gleichwertig betrachtet werden. Arbeiten im digitalen Zeitalter und insbesondere nach der COVID-Pandemie, die Teletherapie normalisiert hat, birgt neue Risiken. Das liegt an den veränderten Möglichkeiten, die der virtuelle Raum bietet und die sich auf sehr spezifische Weise auf die Fähigkeit zur Selbstregulierung auswirken. Wir müssen uns vor Augen halten, dass das verkörperte Setting eine Art Anker darstellt: Es enthält die Analytikerin ebenso wie den Patienten, da beide Körper denselben Raum teilen. Bei der Arbeit in einer virtuellen Umgebung ist die Gefahr des Enactments durch die Analytikerin größer, auch weil die verkörperte Umgebung fehlt. 96
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Der virtuelle Raum funktioniert wie ein Kokon, ohne die üblichen Bezugspunkte, die zum Nachdenken anregen oder dem Handeln Grenzen setzen könnten, sodass unethisches Verhalten wahrscheinlicher wird. Das virtuelle Setting korrumpiert das Über-Ich leichter. Suler (2004) hat über den »Online-Enthemmungseffekt« geschrieben, der durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: dissoziative Anonymität (was ich tue, kann nicht zu mir zurückverfolgt werden); Unsichtbarkeit (niemand kann sehen, wie ich aussehe); Asynchronität (meine Handlungen finden nicht in Echtzeit statt); solipsistische Introjektion (ich kann den/die anderen nicht sehen, also muss ich erraten, wer er/sie ist und welche Absichten er/sie hat); dissoziative Vorstellungskraft (dies sind keine realen Personen); Minimierung der Autorität (ich kann frei handeln). Mehrere dieser Merkmale sind für die Teletherapie nicht relevant, da es sich um ein visuelles Medium handelt, bei dem beide Teilnehmer einander bekannt sind. Die letzten beiden Merkmale, die »dissoziative Vorstellungskraft« und die »Minimierung der Autorität«, bergen jedoch gerade deshalb Risiken, weil die Abkopplung des Körpers eher zum Handeln als zum Nachdenken führen kann, und dies ist ein Nährboden für ethische Verstöße. Ein gutes Beispiel für die neuen Risiken, die das Internet mit sich bringt, ist das Problem des »Patient Targeted Googling« (PTG). Damit ist gemeint, dass Angehörige der Gesundheitsberufe das Internet nutzen, um Informationen über Patienten zu finden. Das Internet hat die Psychotherapie seit Freuds Zeiten erheblich verändert. Die Anonymität der Analytikerin kann nicht mehr gewährleistet werden. Patienten suchen uns routinemäßig online auf, bevor sie uns treffen, und manchmal auch während einer Therapie. Auch für Analytiker ist es ein Leichtes, eine Menge Informationen über ihre Patienten herauszufinden. Die Prävalenz von PTG wurde unter medizinischen Fachkräften (z. B. Jent et al., 2011; Omaggio et al., 2018) und Psychoanalytikern (z. B. Eichenberg & Herzberg, 2016) dokumentiert, obwohl die Auswirkungen von PTG wahrscheinlich je nach Berufsgruppe variieren. Kolmes und Taube (2014) fanden heraus, dass fast drei Viertel einer Stichprobe von Fachkräften im Gesundheitssektor, die PTG durchgeführt hatten, dies in der Supervision nicht thematisierten. Wahrscheinlich sind Schamgefühle oder die Angst vor Disziplinarverfahren angesichts der offensichtlichen ethischen Probleme, die mit PTG verbunden sind, starke Hemmnisse für die Offenlegung. Die Allgegenwart des Internets in unserem täglichen Leben kann dazu führen, dass wir uns auf PTG einlassen, ohne die hiermit verbundenen spe97
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ziellen ethischen Fragen und Bedenken zu berücksichtigen. Es steht außer Frage, dass dies weit häufiger geschieht, als in unserem Berufsstand zugegeben wird (Kolmes & Taube, 2014). PTG ist wahrscheinlicher bei Analytikerinnen, die nach 1980 ausgebildet wurden – die Generation der Digital Natives (Vodanovich et al., 2010). Die Zugehörigkeit zur Generation der Digital Natives ist mit neuen und anderen sozialen Umgangsformen verbunden; das Sammeln von Daten über eine andere Person wird hier als sozial akzeptabel angesehen (Ellison et al., 2010; Lyndon et al., 2011). Obwohl Internet-Postings öffentlich zugänglich sind, erfordert die Entscheidung, Informationen einzusehen, die ein Patient nicht ausdrücklich im Behandlungsraum mitgeteilt hat, eine sorgfältige ethische Abwägung. Einige unserer Recherchen mögen mit einem klaren therapeutischen Ziel beginnen, zum Beispiel, um den Online-Avatar eines jugendlichen Patienten zu verstehen, aber diese anfängliche Rationalisierung kann andere, ethisch bedenklichere Motivationen offenbaren, die vor dem Internet höchstwahrscheinlich nicht realisierbar gewesen wären. So könnten wir beispielsweise neugierig sein, wo der Patient wohnt oder wie sein Ehepartner aussieht. Wäre eine solche Neugier vor dem Internet geweckt worden, hätten die meisten ihrer Neugier oder ihrem Voyeurismus wohl kaum nachgegeben und das Haus verlassen, um zum Haus des Patienten zu fahren oder ihn um ein Foto seiner Ehepartnerin zu bitten. Dies wären derart konkrete Handlungen, dass wohl die meisten von uns davon absehen würden. Die Privatsphäre des Internets und die unmerkliche Leichtigkeit, mit der wir in das Leben anderer Menschen eindringen können, ohne dass diese ausdrücklich zustimmen und ohne dass irgendjemand etwas davon wissen muss, schafft jedoch ein neues Risiko für den Patienten. Das ethische Problem besteht nicht nur darin, dass wir in die Privatsphäre des Patienten eingedrungen sind. Es geht auch um die Auswirkungen auf den therapeutischen Prozess und das Behandlungsergebnis, weil das, was wir entdecken, fortan in unseren Köpfen existiert. Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets als öffentlicher Informationsraum verändern sich die Konzepte von Privatsphäre und Vertraulichkeit. Die Verlagerung der Therapie ins Online-Setting kann dazu führen, dass der Patient für die Analytikerin zu einem »virtuellen Anderen« wird, was so etwas wie PTG und andere ethische Verstöße wahrscheinlicher werden lässt. Ein erhebliches Risiko bei der Online-Arbeit und der Verwendung von Texten und E-Mails im Rahmen eines therapeutischen Prozesses besteht darin, dass sie verführerisch informell sind, sodass 98
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die Analytikerin nur allzu leicht auf der schiefen Bahn der virtuellen Verbindung ausrutschen kann. Das sogenannte Ausrutschen entsteht zum Teil dadurch, dass die Virtualität und ihre Mobilität beispielsweise zu einer Lockerung der Setting-Grenzen führen. Zuweilen wird sogar das »Setting« selbst immer lockerer gehandhabt. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Patienten Zoom über ihr Handy nutzen und ihre Sitzung an den ungewöhnlichsten Orten (Park, Taxi) durchführen. Ähnliches gilt für uns Analytikerinnen: Wir können ebenfalls Zoom-Sitzungen nicht mehr nur aus unserem Behandlungsraum anbieten. Die Pandemie scheint auch zu einer Normalisierung hybrider Arbeitsformen geführt zu haben, was von einigen Analytikerinnen begrüßt wird, da sie ihnen zum Beispiel durch das Angebot von virtuellen Sitzungen mehr Flexibilität für längere Pausen im Ausland bieten. Ich denke nicht, dass wir kategorisch sagen können, dass dies immer und für alle Patienten schlecht sein muss. Es ist jedoch klar, dass hybride Arbeitsformen nicht unbedingt im Interesse aller Patienten sind, und es kann sogar sein, dass ein solches Angebot einer Analytikerin (das heißt wenn es nicht der Patient ist, der darum bittet) als unseriös betrachtet werden kann. Nicht zuletzt würden in diesem Fall die Bedürfnisse der Analytikerin klar im Vordergrund stehen. Es wäre ethischer, dem Patienten mitzuteilen, dass die Analytikerin beabsichtigt, eine längere Pause einzulegen, und mit den Gefühlen zu arbeiten, die diese Entscheidung beim Patienten hervorruft. Es wäre dann möglich, mit dem Patienten zu überlegen, ob er Online-Sitzungen in Anspruch nehmen möchte, weil er die Pause als zu lang empfindet. Die verschiedenen Medien werden auf einem Kontinuum von formell bis informell erlebt, mit einem Spektrum von Legitimationen und Rationalisierungen dessen, was jedes Medium zu der idiosynkratischen Mischung unbewusster Assoziationen innerhalb der persönlichen Kommunikation einer Person beiträgt. Die Handlichkeit der verschiedenen Medien ist ein wichtiges Merkmal, da derselbe Laptop, der für die Zoom-Therapie verwendet wird, auch für das Herunterladen von Pornos verwendet werden kann. Auch der Ort, an dem das Medium genutzt wird, kann eine Rolle spielen: Zoom, wenn man am Schreibtisch sitzt, kann als formell empfunden werden, nicht aber, wenn man beispielsweise ein Smartphone benutzt. Wichtig ist, dass solche Medien eine Art von geselliger Vertraulichkeit oder Lässigkeit fördern, die bei der Präsenzarbeit normalerweise nicht vorhanden ist. Dies schafft einen Rahmen, der auf beiden Seiten zu Enactments einlädt. 99
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Nicht nur, weil das virtuelle Setting möglicherweise als »entspannter« und in mancherlei Hinsicht als angenehmer empfunden werden kann, ist die Gefahr des Abgleitens in Enactments hier höher. Auch die Abwesenheit der beiden Körper in einem gemeinsamen physischen Raum spielt eine wichtige Rolle. Manche argumentieren, dass eine virtuelle Beziehung Patienten schützt, die sich vor sexuellen oder aggressiven Übergriffen fürchten könnten. Paradoxerweise ergeben sich jedoch gerade aufgrund der physischen Einschränkungen in der virtuellen Therapie gewisse Probleme. Wenn die realen Körper nicht direkt involviert sind, kann die Beziehung, die sich in einem virtuellen Raum entwickelt, leichter verführerisch werden: Die Tatsache, dass »nichts wirklich passieren kann« (das heißt: »Ich bin in meine Analytikerin verliebt, aber wir können die Beziehung nie realisieren, weil wir nicht im selben Raum sind«), verleitet sowohl den Patienten als auch die Analytikerin dazu, nicht darüber nachzudenken, was nichtsdestoweniger zwischen ihnen geschieht. Meiner Meinung nach ist der Rahmen eines physisch mitanwesenden Kontextes entscheidend, um Patient und Analytikerin vor der schiefen Bahn von Zoom zu schützen. Wenn beide Körper denselben Raum teilen, kann die somatische Gegenübertragung leichter wahrgenommen werden und man kann sich mit größerem Vertrauen darauf verlassen. Das kann Enactments minimieren. Tatsächlich könnte man argumentieren, dass erotische Erregung – eine normale und erwartbare Reaktion in einer analytischen Dyade – als Warnung fungieren kann, indem sich hierbei unsere Erfahrung in unserem Körper verortet. Wenn eine solche Erregung in der Online-Situation auftritt, bei der der Körper des anderen und der eigene Körper ausgeblendet werden können und die gesamte Erfahrung als »virtuell« und damit als nicht real abgetan werden kann, kann das Risiko einer Grenzüberschreitung minimiert werden und die Analytikerin kann infolgedessen weniger sensibel für diese Empfindungen sein. Die Gefahr besteht dann darin, dass die virtuelle Sitzung bei beiden Beteiligten einen »unechten« inneren Zustand (Fonagy & Target, 1996) fördert, bei dem die mentale Welt von der äußeren Realität abgekoppelt ist. Doch selbst wenn Analytikerin und Patient nicht physisch auf den Körper des jeweils anderen einwirken, können sie doch stark auf die Psyche des anderen einwirken, was für den Patienten nachteilige Folgen haben kann, wenn die Analytikerin die Übertragung-Gegenübertragung nicht im Auge behält. In der Ko-Präsenz kann die Analytikerin körperliche Empfindungen besser er100
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kennen und analysieren, was sie davor schützt, liebevolle und erotische Sehnsüchte auszuleben. Das virtuelle Medium wirkt also in (begrenztem) Sinne als körperlicher Schutzschild, da die Analytikerin und der Patient sich nicht wirklich berühren können, aber psychisch kann das technische Medium gleichzeitig zur Enthemmung und Verharmlosung in Bezug auf erotische Sehnsüchte führen, die, wenn sie nicht bemerkt werden, den Therapieverlauf pervertieren. Die Anzeichen hierfür sind oft subtil, und typischerweise werden bei Analytiker und Patientin Abwehrmechanismen gegen das bewusste Gewahrwerden dieser Vorgänge mobilisiert. Wir tun gut daran, uns zu erinnern, wie Freud (1919) die Bedeutung der Abstinenz in unserer Arbeit betonte. Er schlug vor, dass die Analytikerin, sobald sie zu einem wichtigen Objekt für den Patienten wird, das heißt sobald sie zum Ziel von Übertragungswünschen wird, diese Wünsche unbefriedigt lassen und stattdessen die sich entwickelnden Abwehrmechanismen analysieren sollte. Die klinische Erfahrung zeigt immer wieder, dass als Reaktion auf die Frustrationserfahrung bald ein Affekt auftaucht, zusammen mit den begleitenden Fantasien, die hervorgerufen werden, und den Abwehrmechanismen, um diese zu bewältigen. Dies ermöglicht es der Analytikerin, dem Patienten bei der Erforschung seiner Konflikte zu helfen. Mit anderen Worten: Die Abstinenz führt zu einem Zustand der Entbehrung, der für die Behandlung entscheidend ist. Wir leben und arbeiten heute in einer Welt, in der ein »Zustand der Entbehrung« wenig oder gar keine Bedeutung hat: Wünsche, Warten und Frustrationen sind eher Belastungen als innere Zustände, die fruchtbar werden können, wenn sie toleriert werden (Lemma, 2017). Dies prägt die Erwartung, die Patienten an die Therapie haben und die auch die Analytikerin manchmal teilen kann: Therapie sollte angeboten werden, egal was oder wo, wenn sie gebraucht wird. Wie die Anonymität wird auch dieser optimale Zustand der Deprivation, den Freud als entscheidend für die Behandlung ansah, in unserer heutigen Praxis untergraben. Eine virtuelle Therapie kann als zutiefst befriedigend erlebt werden. Sie kann Fantasien von größerer Intimität und einem leichteren Zugang zur Analytikerin nähren. Diese können unerforscht bleiben, weil die Nutzung des virtuellen Mediums in einer Welt, in der dies an der Tagesordnung ist, nur allzu leicht rationalisiert werden kann. Und natürlich hat die Pandemie das für alle legitimiert. 101
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Abschließende Gedanken Die Pandemie hat die klinischen und ethischen Überlegungen zur Teleanalyse in den Hintergrund gedrängt, weil wir alle, je nach Land, in dem wir arbeiten, für unterschiedlich lange Zeit keine Alternative hatten. Wir sollten nicht vergessen, dass das, was »besser als nichts« ist, nicht unbedingt in einem absoluten Sinne besser ist. Doch jenseits dieser Warnung erscheint mir die Herausforderung, die die Pandemie im Hinblick auf unsere Konzeption des Settings mit sich brachte, begrüßenswert. Wir können »Ort« als etwas Unveränderliches betrachten, zum Beispiel einen Ort auf einer Landkarte oder den Standort unseres Behandlungsraums, im Unterschied zum »Raum« als einem »praktizierten Ort« (De Certeau, 1984, S. 117): Eine Straße beispielsweise wird von Passanten in einen Raum verwandelt. Ein Raum an einem physischen und virtuellen Ort wird durch Patientin und Analytiker und den Vertrag, der sie für 50 Minuten in diesem Raum aneinanderbindet, in einen »analytischen Raum« verwandelt. Orte entstehen also durch Menschen, die an Aktivitäten beteiligt sind; Orte sind dazwischen, »nie ›fertig‹, sondern werden ständig gemacht« (Creswell, 2004, S. 37). Wenn man Orte als radikal offen gemachte und praktizierte Orte begreift, bietet dies eine weitere Möglichkeit, die verkörperte Erfahrung der Therapie in einem realen Behandlungsraum im Unterschied zu einem virtuellen Ort zu untersuchen. Es hilft uns zu verstehen, warum ein virtueller Raum auch ein realer Raum ist, je nachdem, wie wir ihn in unserer Arbeit begreifen. In diesem Sinne wird »Ort« zu einem Ereignis, das durch die Qualität der Kommunikation zwischen zwei Menschen gestaltet wird und nicht durch die Begrenztheit und Dauerhaftigkeit – oder auch nicht – des tatsächlichen Ortes der Begegnung. Letzteres kann je nach psychischer Verfassung des Patienten mehr oder weniger wichtig sein. Die Frage, ob eine Teletherapie gut oder schlecht ist, muss in Wirklichkeit eine Frage danach sein, ob sie für eine bestimmte Patient-Analytikerin-Dyade, die gemeinsam Psychoanalyse betreibt, funktioniert oder nicht. Seit die Lockdowns weniger werden und wir alle größtenteils in unsere Behandlungsräume zurückgekehrt sind, stehen wir vor schwierigen Fragen: Was ist das analytische Setting? Haben wir es neu definiert? Was können wir legitimerweise deuten, wenn der Patient nicht mehr persönlich in die Stunde kommen oder das virtuelle und das persönliche Setting vermischen möchte? 102
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Ich habe noch keine Antworten, während ich in meinem Behandlungsraum sitze und auf den Bildschirm schaue, weil einige Patientinnen noch nicht zurückgekehrt sind oder sogenannte »hybride« Modelle bevorzugen. Wir alle brauchen Raum in unseren Köpfen, um zu begreifen, was es bedeutet, wieder einen physischen Raum zu teilen, für unsere gegenseitigen Blicke, um die Gesamtheit unserer jeweiligen Körper zu erfassen, von denen wir nun wissen, wie fragil sie sind. Covid ist ein Gleichmacher und die Analytikerin kann sich nicht mehr hinter Neutralität verstecken. Covid hat unsere Vorstellungen von Anonymität und Neutralität infrage gestellt. Als Analytiker müssen wir uns mit diesem Medium auseinandersetzen. Auch wenn wir diese Pandemie überwunden haben, wird die Nachfrage nach Teletherapie nicht verschwinden. Daher müssen wir ihre Erforschung wichtig nehmen. Auch die Herrschaft des Digitalen (Floridi, 2018) ist ein drängendes Thema. Als Psychoanalytikerinnen verfügen wir über ein wertvolles Modell des Psychischen, das zu den aktuellen Debatten über die Auswirkungen der Online-Medien auf die Psyche und unsere Beziehungsfähigkeit beitragen kann und sollte. Wie Floridi es treffend formuliert: »[D]er beste Weg, den Technologiezug zu erwischen, ist nicht, ihm hinterherzujagen, sondern schon an der nächsten Station zu sein« (ebd., S. 6). Literatur Brahnam, S. (2014). Therapeutic presence in mediated psychotherapy: The uncanny stranger in the room. In G. Riva, J. Waterworth & D. Murray (Hrsg.). Interacting with Presence: HCI and the Sense of Presence on Computer Mediated Environments (S. 123–135). Warschau, Berlin: De Gruyter Open. Bronstein, C. (2013). Finding unconscious phantasy in the session: recognising form. Bulletin British Psychoanalytic Society, 49(3), 16–21. Bruce, V. (1996). The role of face in communication: implication for video design. Interacting with Computers, 8, 166–176. Celenza, A. (2010). The analyst’s need and desire. Psychoanalytic Dialogues, 20, 60–69. Cresswell, T. (2004). Place: A Short Introduction. Oxford: Blackwell Publishing. Cukor, P., Baer, L., Willis, B. S., Leahy, L., O’Laughlen, J., Murphy, M., Withers, M. & Martin, E. (1998). Use of videophones and low-cost standard telephone lines to provide a social presence in telepsychiatry. Telemedicine Journal, 4(4), 313–321. Damasio, A. (2000). The feeling of what happens: body and emotion in the making of consciousness. London: W. Heinemann. De Certeau, M. (1984). The Practice of Everyday Life. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. Eichenberg, C. & Herzberg, P. Y. (2016). Do Therapists Google Their Patients? A Survey Among Psychotherapists. Journal of medical Internet research, 18(1), 1.
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Biografische Notiz
Alessandra Lemma, Mitglied der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und klinische Psychologin, ist Gastprofessorin an der Psychoanalysis Unit des University College London und Consultant am Anna Freud National Centre for Children and Families. 16 Jahre lang arbeitete sie an der Tavistock Clinic, wo sie unter anderem Leiterin der Abteilung Psychologie und Professorin für psychologische Therapien in Zusammenarbeit mit der Universität Essex war. 2022 erhielt sie den Sigourney Award der IPA für ihre innovativen theoretischen und klinischen Beiträge zu zeitgenössischen Themen wie Körpermodifikation, Transgender-Identitäten und den Auswirkungen neuer digitaler Technologien auf Geist und Körper.
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Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse1 Giuseppe Civitarese
Wir alle wissen, dass die psychoanalytische Arbeit vor Ort derjenigen im virtuellen Raum vorzuziehen ist. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie und vor welchem Hintergrund diese Überzeugung gereift ist, ließen sich viele kleine Beispiele von Verbindungsschwierigkeiten anführen, die auf technischer Ebene leicht gelöst werden können. Die Internetverbindung ist zu schwach oder instabil und Bilder und Töne erscheinen dissoziiert; es gibt zu viele Unterbrechungen; manchmal sieht einem der Gesprächspartner auf dem Bildschirm wegen der Kameraposition nicht direkt in die Augen; man lässt sich leichter ablenken usw. Auch sind wir uns zunehmend der Rolle nonverbaler Kommunikation bewusst, im täglichen Leben wie in der Behandlung – und genau das ist der Aspekt, der bei virtuellen Analysen vor allem geopfert wird. In der Psychoanalyse gibt es umfangreiche Literatur darüber, wie bedeutsam diese Kommunikation bei besonders schwer erreichbaren Erwachsenen und Kindern ist. Man denke nur an die Konzepte der projektiven Identifikation, der nicht-menschlichen Umwelt als Erweiterung des Selbst (Searles, 1960), der »autistischen Form« (Tustin, 1972), der glischrokarischen (Bleger, 1967) oder autistisch-berührenden Position (Ogden, 1989). Das materielle Setting der Analyse ist ein wesentliches Medium für nonverbale Kommunikation. Winnicott (1956) erachtet es als gleichbedeutend mit dem mütterlichen Holding; Bleger (1967; Civitarese, 2004) beschreibt es als Teil der tiefen, anlagebedingten (institutional), »psychotischen« Identität des Individuums; für Leavitt stellt es eine »Oberfläche 1 Übersetzung aus dem Englischen: Utz Palußek.
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Giuseppe Civitarese
des Denkens« oder eine »Schnittstelle des Denkens« (2013) dar, ein Blatt Papier, auf dem, wie in Winnicotts Squiggle-Spiel, Analytiker und Patient gemeinsam Zeichnungen aus Assoziationen und Erinnerungen anfertigen, die durch jene Objekte stimuliert werden, die sie beide vor Augen haben und zwischen denen sie sich bewegen. Es ist nicht so, dass es kein Setting gibt, wenn die Analyse virtuell stattfindet. Aber es wurde einer radikalen Modifikation unterzogen. Bis auf den Computerbildschirm teilt es sich in zwei getrennte und voneinander entfernte Orte. Der Hintergrund gemeinsam geteilter Sinnlichkeit fehlt, der wesentlich zum Schaffen eines Klimas von Intimität beiträgt. Zwischen Patient und Analytiker entsteht eine problematische »ästhetische« Distanz (in Bezug auf den Bereich der Empfindungen).
Zwischenleiblichkeit In Präsenz
Wenn wir feststellen, dass es in der virtuellen psychoanalytischen Arbeit zu einem relativen Verschwinden des Körpers (des Körpers von Patient und Analytiker) kommt, dann brauchen wir eine möglichst klare Vorstellung davon, wie sich Körper in Präsenz aufeinander beziehen und was aus dieser Begegnung entsteht. Vielleicht hat niemand mehr als Merleau-Ponty diese Frage in den Mittelpunkt seiner Forschung gestellt. Mit dem Konzept der Zwischenleiblichkeit erweitert er unser Verständnis von Intersubjektivität als einer radikalen Sozialtheorie des Subjekts (Civitarese, 2021a, 2021b). Verglichen mit dem eher allgemeinen Konzept von Intersubjektivität, das schnell die »Hochebenen« abstrakten Denkens und die Transparenz des Bewusstseins evoziert, ist es die spezifische Funktion der Zwischenleiblichkeit, die gleichermaßen soziale wie verkörperte Natur menschlicher Interaktion und körperlichen Denkens ebenso hervorzuheben wie deren grundsätzliche Undurchsichtigkeit. Ein Synonym für Zwischenleiblichkeit könnte vielleicht »fleischliche Intersubjektivität« sein. Wie bei den Begriffen »Intersubjektivität« und »Beziehung« sollte auch beim Begriff »Zwischenleiblichkeit« eine gewisse unvermeidliche Ambiguität angenommen werden. Auf der deskriptiven Ebene kann er sich schlicht auf die nonverbale Kommunikation zwischen zwei verschiedenen Subjekten beziehen. Auf der ontologischen und metapsychologischen Ebene hingegen geht es um etwas ganz anderes, 108
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
nämlich den Zustand des Miteinanderseins, der Zusammengehörigkeit, der Ko-Implikation oder der Verschmelzung von Individuen, die sich zugleich als vollkommen getrennte und abgeschlossene Subjekte präsentieren. Die Unterscheidung ist wichtig, weil in der zeitgenössischen Psychoanalyse das Konzept der Intersubjektivität in der erstgenannten Bedeutung im Allgemeinen dazu führt, verstärkt auf der Ebene der konkreten Realität zu bleiben und für den Diskurs des Unbewussten weniger empfänglich zu sein, während die letztere Bedeutung genau dies befördert. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet Zwischenleiblichkeit den transzendentalen Bereich (das heißt den Bereich, der das Bewusstsein trans zendiert) und einen gemeinsamen Bereich (das heißt einen Bereich, der mehreren Subjekten gemeinsam ist). Diese Ebene befindet sich im Subjekt in dialektischer Beziehung zum Bereich individuelle Subjektivität und Bewusstsein. Wäre dem nicht so und würden wir diese Fähigkeit, eins zu werden, nicht einmal auf körperlicher Ebene postulieren (sich selbst als »identisch werden« identifizieren), wüssten wir nicht, wie das Subjekt Zugang zu einem anderen Subjekt bekommt und vice versa. Merleau-Ponty (1945) lehrt uns, dass Wahrnehmung immer körperlich (embodied) ist – oder besser ausgedrückt, dass sie stets Teil des »Fleisches« der Welt ist –, das heißt, sie ist auf unbewusster Ebene eine transindividuelle. Wenn sich das wahrnehmende Subjekt immer in einem Feld von Erfahrung befindet, in dem sich konkret (oder virtuell, zum Beispiel durch sprachliche Vermittlung) andere Subjekte befinden, dann gibt es tatsächlich ein Inter-Subjekt, das ebenfalls »wahrnimmt«. Dieses Inter-Subjekt wiederum ist eher eine »Falte« im Realen (Deleuze, 1968) oder die lokale »Verdickung« eines größeren, wirklich unendlichen, anonymen oder »absoluten« Subjekts (Sartre, 1936). Wenn sich zwei Menschen tatsächlich am gleichen Ort befinden, können sie leichter miteinander synchron (gedanklich, emotional, motorisch) auf einen Reiz reagieren, der beiden sofort zugänglich ist, und nicht nur vom einen oder vom anderen, sondern auch von der materiellen Umgebung ausgeht. Das kann eine Veränderung der Temperatur sein, der Möbel im Raum, der Geräusche, die von draußen kommen, der Klang einer Flöte aus der Nachbarwohnung, die Weihnachtsbeleuchtung, die jemand auf der Straße aufhängt, der Widerschein eines Sonnenstrahls auf dem Schreibtisch, eine Postkarte im Bücherregal, usw. Wenn hingegen zwei Personen nicht im gleichen Raum sind, beschränkt sich der gemeinsame Raum auf den Computerbildschirm und wird damit 109
Giuseppe Civitarese
ärmer an Information. Die beiden haben weniger Möglichkeiten, sich auf interaktive Sequenzen einzulassen, aus denen sich als spezifisch emergente Eigenschaft des Feldes das »zwischenleibliche Wir« entwickeln kann. So haben die beiden keinen Zugang zu jenem größeren Bedeutungsspektrum, das nur auf der unbewussten Ebene der Generierung von Erfahrung entstehen kann, auf der die analytische Dyade tatsächlich eine Gruppe konstituiert (Civitarese, 2021c), und das verschiedentlich als »haptische Sozialität« (Goodwin, 2017), »kollektive Handlungsfähigkeit«, »WirErfahrung«, »gemeinsames prozedurales Feld«, »aktuell-wirksame (operative) Wir-Intentionalität«, »partizipative Sinngebung« (Fuchs, 2017) definiert wurde; oder als »human twosome«, »Zwischenkörper (interbody)« (Meyer et al., 2017), »körpernahe (proximale) Intersubjektivität« (Ciaunica & Fotopoulou, 2017). Die materielle Umwelt, in der die Sitzung stattfindet, kann Teil dieser wesentlichen und stets offenen Persönlichkeitsebene werden, soweit sie selbst auch auf der Ebene sprachlicher Bedeutungen geteilt wird. Das Aushandeln des Status jedes Einzelnen als »Person« findet ständig auf verbaler wie auf nonverbaler Ebene statt. Wie bei jedem beliebigen Wort der Sprache kann sich das Subjekt nicht anders als im Rahmen eines von ihm unterschiedenen Systems definieren, in dem es tatsächlich beim Entstehen von Geist/Seele aus dem Körperlichen niemals eine echte Kontinuität geben kann. Wenn die psychoanalytische Arbeit virtuell durchgeführt wird, wird es besonders auf dieser impliziten oder prozeduralen Ebene schwieriger, attunement (Übereinstimmung, Gleichklang, Synchronisierung, Eins-werden, Anerkennung, Versöhnung) zu erreichen – ähnlich zwei Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Wenn diese Verbindung zwischen dem Semiotischen und dem Semantischen gelockert wird, ist die Bedeutung der Erfahrung weniger reichhaltig. Zwischen den beiden Seiten, die das konstituieren, was wir »Subjekt« nennen, gibt es eine offensichtliche Differenz. Sprachliche Intersubjektivität (die eben nie rein, das heißt völlig abstrakt sein kann, weil Worte Körper haben und daher auch nicht-verbale Bedeutungen ausdrücken) wird eher von distaler (körperferner) Sensibilität (Sehen und Hören) vermittelt; leibliche Intersubjektivität eher von proximaler (körpernaher) Sensibilität (Berührung, Geschmack, Geruch, Kinästhesie). Bei virtuell durchgeführter psychoanalytischer Arbeit wird vor allem Letztere eingeschränkt. Teilen als eine Funktion körperlicher Nähe erleichtert es, Invarianten der Transformationen zum Leben zu erwecken, die im analytischen Feld auf 110
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
verbaler, also eher abstrakter Ebene vorkommen, aber das ist keine notwendige Bedingung. Hingegen wird es [das Teilen, UP] für die Schaffung/Entdeckung von Invarianten auf der nicht-verbalen oder körperlichen Ebene unerlässlich. Das heißt, es ist notwendige Bedingung, um das Band des Miteinanderseins von Patient und Analytiker auch auf sensomotorischer Ebene in bedeutungsvoller Weise herzustellen. Mit »invariant« können wir die Elemente bezeichnen, die konstant oder Sequenzen von Transformationen gemeinsam sind, zum Beispiel wie Patient und Analytiker bewusst und unbewusst der Deutung derselben Tatsache oder mehrerer ähnlicher Tatsachen zustimmen oder wie sie auf einer affektiven oder einer Handlungsebene auf dieselbe Tatsache reagieren – Reaktionen, die wir als affektive und/oder körperliche »Deutungen« betrachten können. Man könnte auch sagen, es geht um Gewohnheiten (habits) im Körper. Aus der sich wiederholenden Handlung des Händeschüttelns mit dem Patienten kann ich ein »somatisches Konzept« oder eine »verkörperte Idee« oder ein »Körperschema« entnehmen (distill): das Äquivalent dessen, was mein Körper darüber »weiß«, wie es ist, mein Gleichgewicht auf einem Fahrrad zu halten oder Klavier zu spielen. Ich nenne »das« ein »Konzept«, insofern es eine gemeinsam geteilte Bedeutung transportiert; und »spürbar« oder »somatisch«, insofern es nicht nur einer ideellen oder gegenständlichen Ordnung angehört. Wenn es irgendwann einmal keine konkrete Möglichkeit des Händeschüttelns mehr gibt, kann ich mir auch kein Konzept mehr davon machen. Ich werde dann kein Wissen mehr vom verkörperten Intersubjekt haben. Wenn sich zwei Menschen im gleichen Raum befinden und in einem Regal ein Buch mit rotem Einband steht, zum Beispiel Jungs berühmtes rotes Buch, ist die Möglichkeit, das Buch in die Hand zu nehmen, für Analytiker und Patient gleichermaßen konkret. Für beide stellt das einen Faktor dar, der die Erfahrung des Augenblicks strukturiert und der in sich selbst einen bestimmten invarianten Charakter hat. Das Buch mit dem roten Einband ist eine Seite des Textes, der von all den möglichen BedeutungsGelegenheiten konstituiert wird, die in einem gegebenen Umfeld präsent/ gegenwärtig sind. Es kann von beiden gelesen worden sein oder auch nicht, aber in jedem Fall ist es schon da. Was ich meine, ist, dass Bewegungen der Identifikation leichter dann auftauchen können, wenn alle im Feld der Gegenwart des Anderen »allgemeinbekannten (common)« Begriffe präsent sind, die durch die Objekte im 111
Giuseppe Civitarese
Raum und die von ihnen hervorgerufenen Empfindungen repräsentiert sind. Sie ergeben für beide von ihnen Sinn. Das Wort »Sinn« erinnert uns daran, dass etwas Bedeutung hat, wenn es eine Orientierung zum Handeln gibt. Bion schreibt dazu: »Wenn wir nämlich postulieren, dass O jeder Umstand im Leben des Patienten sein könnte, gleich ob er dem Analytiker bekannt ist oder nicht, dann postulieren wir eine Voraussetzung, welche die Analyse unmöglich macht. Es gibt solche Tatsachen, die analytische Effektivität hängt jedoch davon ab, dass sie für das analytische Verfahren irrelevant oder relevant nur insofern sind, als irgendein Aspekt einer solchen Tatsache beiden, dem Analytiker und dem Analysanden, zugänglich ist« (1965, S. 48, dt. 1997, S. 75).
In Treatment
Von diesen theoretischen Überlegungen möchte ich mich nun einer persönlichen Anekdote zuwenden. Letztes Jahr (2021) begann ich, im Fernsehen die neue Staffel der amerikanischen Serie In Treatment zu sehen. Das Muster ist mehr oder weniger das gleiche wie in den vorangegangenen Jahren: In jeder Folge wird ein anderer Patient vorgestellt. Die Serie ist gut gemacht, die Charaktere sind interessant, die Dialoge brillant. Allerdings beobachtete ich, dass mir bei den Episoden, in denen sich Dr. Taylor, die Therapeutin, online mit einem Patienten traf, schrecklich langweilig wurde. Ich hatte die Serie immer geliebt, vor allem mit dem Schauspieler Gabriel Byrne als Paul Weston (jedes Mal mit einem Hauch von Neid, wenn ich dachte: Er ist besser als ich). Ich war überrascht, dass es ausreicht, zwei Menschen in einem Raum reden zu sehen, um wie festgeklebt auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Jetzt war ich genervt und begann, diese Folgen zu überspringen. Ähnlich erging es mir mit dem Film Her, den ich nicht bis zum Ende anschaute. Ich könnte verschiedene Hypothesen darüber aufstellen, aus welchem Grund, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Art von Theater im Theater ab einem bestimmten Punkt unerträglich fand, weil es künstlich, nicht immersiv war; als hätte ich nicht mehr in die Erzählung einsteigen können. Vielleicht könnten wir auch die Spiegelneuronen anzweifeln. Sogar wenn ich zwei Menschen in einem Fernsehbildschirm sehe, die miteinander sprechend in einem Raum sitzen, dann identifiziere ich mich 112
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
mit ihnen, indem ich in mir ihre Handlungen simuliere, die minimal sein können, aber reicher und vielfältiger sind als diejenigen, die ich beobachte, wenn die Ansicht die sehr viel begrenztere eines Bildschirms innerhalb eines Bildschirms ist. Meine spontane und auf subtile Weise beunruhigende Reaktion ließ mich noch vor jeder abstrakten Reflexion erkennen, dass die Erfahrung von Beziehung verarmt, wenn wir in Formen sozialer Distanzierung gezwungen werden. Selbstverständlich kann diese Episode keine allgemeine Bedeutung beanspruchen. Für mich jedoch stellte sie ein kleines Erweckungserlebnis dahingehend dar, was es für Menschen bedeutet, »virtuell« zu sein. Kurz gesagt, weist sie auf eine gewisse Atrophie der zwischenleiblichen Dimension von Erfahrung hin. Jedoch, um dieser Hypothese angemessen Gewicht zu verleihen, braucht man eine nicht nur intuitive Vorstellung davon, was Zwischenleiblichkeit bedeutet. Ich meine nicht die Interaktion zwischen getrennten Körpern, die jeweils völlig autonom »Gedanken« äußern und auf den anderen einwirken und handeln beziehungsweise auf den anderen reagieren. Es geht nicht um den Austausch von Informationen, sondern, ich wiederhole, um etwas Wesentlicheres, das zum tiefen Kern persönlicher Identität gehört. Wie oben erwähnt, meine ich damit die Möglichkeit, in interaktive Zyklen einzusteigen, in denen zwei Subjekte ein gemeinsam geteiltes System oder Feld schaffen, aus dem dynamische Eigenschaften hervorgehen, die nicht mehr zum einen oder anderen der Akteure auf der Bühne zurückverfolgt werden können. Eine ganz andere Sache ist es, in Anlehnung an Winnicott und Bleger, das Setting als Schlüssel und nicht als marginalen Faktor im Prozess der Subjektivierung zu sehen – was wir vielleicht besser (Inter-)Subjektivierung nennen sollten. In der Zukunft mag Virtuelle Realität (VR) als computergenerierte Umwelt vielleicht in der Lage sein, diese derzeit bestehende Einschränkung vollständig zu überwinden und die ästhetische Erfahrung der Beziehung tatsächlich weiter zu bereichern. In einer vor einigen Jahren entstandenen Arbeit verwendete ich nichts anderes als die technologischen Geräte der VR und das Thema Embodiment/Verkörperung als Modell für die Oszillationen zwischen Vertiefung und Interaktivität in der Analyse (Civitarese, 2008). Stellen Sie sich vor, Analytiker und Patient können sich nur begegnen, indem sie sich auf einem Seil im Gleichgewicht halten, das über einen Abgrund gespannt ist (»sich am Seil festhalten« bedeutet allerdings, jemanden absichtlich in einem Zustand von Ungewissheit zu halten), einer auf der einen und einer auf der anderen Seite. Beide müssen äußerst ähnliche 113
Giuseppe Civitarese
sensomotorische Muster verwenden, um sich im Gleichgewicht zu halten. Die Situation ist so, dass es kaum eine Wahl gibt. Ihre Erfahrungen werden unvermeidlich sehr ähnliche sein. Es fällt ihnen leichter, sich zu synchronisieren, weil sie eine fast identische Räumlichkeit teilen. Es wäre etwas anderes, wenn der eine auf einem Drahtseil wäre und der andere zu Hause im Lehnstuhl säße. Eine präexistierende Identitätsgrundlage begünstigt die sichere Wahrnehmung von Differenz. Zu dieser Grundlage gehört unter anderem, dass sie beide menschliche Körper haben. Die Umwelt als »psychotische« oder institutionelle (unsichtbare) Kulisse tieferer Identität (die immer im Fluss ist) fördert, wenn sie eine gemeinsame ist, den Kontakt. Wie Freud (1938, S. 300) sagt: »Psyche ist ausgedehnt […]«. Die Psyche ist nicht das in seine Ummantelung gehüllte Gehirn – obwohl es natürlich auch in der Materie Kontinuität gibt und es nur unsere Ansichten sind, die Lösungen für Kontinuität einführen. Vor allem soll Psyche nicht verdinglicht werden. Vielmehr ist sie die Definition, die wir den dynamischen Interaktionen von Kräften geben. Wie könnte alles, was mich umgibt, keinen Anteil am mir eigenen Denkprozess haben und damit an dem, was ich in Bezug auf mich selbst fühle, sowie am Bewusstsein, Gedanken zu denken? Jedes Subjekt ist geschlossen und offen zugleich. In der Psychoanalyse nennen wir das Geschlossene Bw, das Offene Ubw. [Und meinen damit, UP] nicht nur ein sprachliches Ubw, sondern auch ein semiotisches, affektives Ubw. So betrachtet ist es eine Illusion zu glauben, dass es ein inneres Loch gibt, das für andere unzugänglich und hermetisch versiegelt ist. Daher kann Freud im Fall Dora doch behaupten, dass die Fingerspitzen ausdrücken, was die Zunge nicht sagt. All dies soll heißen, dass der Körper, seine Bewegungen und die Art und Weise, wie diese Bewegungen mit denen anderer ineinandergreifen, eine interaktive Dynamik von integrierter Ordnung hervorruft. Genauso verhält es sich mit den Empfindungen, die in mir aufkommen, weil ich mich in einem bestimmten Raum befinde. Ich bin, was ich meine »Psyche« nenne, die also keineswegs vom Körper getrennt ist – nicht einmal Worte sind von ihm getrennt, denn sie können als Ausdehnung von Sinnen und Gliedmaßen betrachtet werden. Wenn ich diesen Raum mit einer anderen Person teile, sind wir zwei »minds«, die sich jeweils aus der Summe der oben genannten Faktoren ergeben, die sich teilweise überschneiden. Die physische Nähe bedeutet unweigerlich, dass allein durch die Position, die sie einnimmt, die andere Person auch mein Geist ist und umgekehrt – insbesondere der verkörperte Geist. Ontologisch gesehen bin ich im anderen 114
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
und umgekehrt. Wenn die andere Person jedoch so weit entfernt ist, dass sie nur noch abstrakt mit mir verbunden ist, wird sie irrelevant, das heißt, sie stellt nurmehr einen unendlich kleinen Teil meiner »Psyche« dar. Das gilt für den Körper, oder besser gesagt: besonders für den Körper, den ich mit meinen Nähe-Sinnen (Tastsinn, Geschmack, Geruch) spüren kann. Ein Körper, der nicht als gelebter Körper existiert, ist für uns nicht von Interesse oder würde höchstens die gleiche Rolle spielen wie ein materielles Objekt in der Umwelt. Wenn zwei Menschen weit voneinander entfernt sind und der Hiatus, der sie trennt, nicht durch technische Geräte gefüllt werden kann, folgt aus unserem Diskurs logisch, dass die Psyche des jeweils einen weniger von der des jeweils anderen durchdrungen ist, sie weniger miteinander zu teilen haben, der implizite Prozess wechselseitiger Anerkennung schwieriger sein wird. Daher sind Distanz und Nähe äußerst wichtige Parameter für uns. Derzeit kann die Technik die distalen Sinne teilweise prothetisieren, nicht aber die proximalen. Die Tatsache, dass die Psyche nichts weiß von ihrer Ausdehnung, wie Freud sofort hinzufügt, bedeutet, dass nichts gewusst werden kann; nicht auf dem Wege der Transparenz verbaler Sprache. Das Subjekt ist verkörpert, aber es endet nicht an der Körpergrenze, sondern geht darüber hinaus. »Natur« wirkt bei der Gestaltung individueller Subjektivität und Sensitivität mit. Die Romantik machte sich auf obskure Weise eine ähnliche Intuition zu eigen, ich meine die tiefe Resonanz zwischen Individuum und Natur. Das Konzept, das vielleicht am besten erklärt, wie diese sich ständig verändernde Einheit bestimmte Konfigurationen bildet, ist das des »Stils«. Es gibt Musik, die man hört, aber auch Musik, die man taktil spürt. Musik ist das Paradigma dafür, Teil einer Welle oder Schwingung in einem Erfahrungsfeld zu sein. Orpheus
Sobald sie über die Schwelle meiner Praxis tritt, macht A. zwei Schritte, dreht sich um, bevor sie den Korridor hinuntergeht, und sieht mich an. Das stört/ärgert mich ein wenig. Ich nehme dabei etwas (attitude) wahr, das einen Drang zu kontrollieren, zu spionieren und zu provozieren ausdrückt. Ich denke dann, dass es ihr vielleicht darum geht, mir nicht sofort den Rücken zuzuwenden, und es deshalb ein Zeichen von Höflichkeit sein 115
Giuseppe Civitarese
könnte. Aber selbst dann wäre es eine unauthentisch wirkende, aufgesetzte Höflichkeit. Monatelang wiederholt sich diese Szene unverändert. Einmal im Raum angekommen, wendet sich A. dem Regal zu, um sich Anti-CovidFlüssigkeit auf die Hände zu träufeln. Aber sie tut dies, indem sie mir den Weg versperrt – etwas, das nur bei ihr vorkommt, und ich frage mich, ob damit körperliche Intimität erzwungen werden soll. Daraufhin geht sie zur Seite, aber auf eine zeremoniell-inszenierte Weise. Wenn ich dann auf den Stuhl hinter der Couch zusteuere, bin ich es, der ihr den Rücken zuwendet. Wieder spüre ich ein Gefühl des Unbehagens und der Beunruhigung. Wenn es dann am Ende der Sitzung darum geht, die Praxis zu verlassen, kommt mir A. zuvor: anstatt auf mich zu warten, dass ich die Tür wie bei allen anderen öffne, macht sie es selbst. Diese Geste zwingt mich über die Türklinke erneut zu einem indirekten Kontakt. Da es wegen der Pandemie immer noch üblich ist, den Händedruck zu vermeiden, ist mir manchmal danach, die Klinke zu sterilisieren, nachdem sie gegangen ist. Die Deutungs-(Schwer-)Kraft (force of gravity) der traditionellen Modelle der Psychoanalyse bringt mich mehr oder weniger dahin, A. – unter dem Blickwinkel der Übertragung oder der projektiven Identifikation – als alleinige oder zumindest als Haupt-Verantwortliche für diese besondere Dynamik zu sehen; oder, eine relationale Linse auf »Antun und Erleiden«(Beyond Doer and Done) ( J. Benjamin, 2004) verwendend, würde ich mich fragen, was ich zur Entstehung dieser besonderen Dynamik beigetragen haben könnte. In beiden Fällen würde ich die Realität der Tatsachen »virtualisieren«: Ich würde denken, dass es neben der realen eine Szene gibt, das Freud’sche Unbewusste oder das von Klein beschriebene Theater des Geistes, in dem etwas geschieht, das dann auf verfremdete und indirekte Weise im Außen ausgedrückt wird. In beiden Fällen würde ich das Geschehen nach wie vor mithilfe einer Hermeneutik des Verdachts und eines Konzepts des Unbewussten-als-Hölle lesen, des »Unbewussten, in dem alles Böse im menschlichen Geist als Prädisposition enthalten ist« (Freud, 1921, S. 74). Um es von einem anderen Standpunkt aus zu lesen, muss man sich nicht nur gegen das Gesetz der Schwerkraft unseres naiven Realismus wehren, sondern auch gegen das, was sich nun in den Theorien der Psychoanalyse sedimentierte, das dazu tendiert, mehr auf das Unbewusste des Patienten (und/ oder das des Analytikers) zu fokussieren als auf das des Paares oder des Feldes. Beispielsweise könnte ich im Geschehen ein unbewusstes Skript sehen, das zusammen »geschrieben« und agiert wird, und damit als gemeinsamen Versuch, eine Art emotionale Wahrheit auszudrücken, die uns betrifft – die 116
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
Figur, die der Tanz vorgibt. In diesem Fall würde ich nicht von der Herstellung einer kausalen Beziehung ausgehen, bei der psychische Inhalte, die ausschließlich dem Patienten gehören, auf mich (Übertragung) oder in mich (projektive Identifikation) projiziert werden. Tatsächlich lassen wir uns schon vor Beginn der Sitzung auf einen reichlich unangenehmen Tanz ein. Es ist die Abfolge der Handlungen, die die besondere Melodie oder den Stil unserer Art der Inszenierung jeder Begegnung und jedes Abschieds in unserem privaten Theater erzeugt. Wie beim lächelnden Emoticon (☺) entsteht die emotionale oder affektive Figur (Angst, Misstrauen, Ärger usw.) aus einer totalen und dynamischen Konfiguration, in der eine Reihe von Hintergrundelementen wie der lange Flur, der besondere Winkel zwischen Lehnstuhl und Bücherregal, der Standort für das Hand-Desinfektionsmittel, das von der Lampe auf dem Tisch erzeugte sanfte Licht, der warme Ton des Parkettbodens, die Temperatur des Raumes, die kleinen Gegenstände in den Regalen, die bunten Bücherreihen usw. Teil dieser »Gestalt« (dt. im Originaltext) sind. Aus dieser Perspektive würde ich die gesamte affektive Atmosphäre als eine von bestimmter Nervosität, Scheu, Schwierigkeit betrachten; ich wiederhole, ich würde vermuten, dass dies in diesem Moment der »Stil« unserer Beziehung ist, der als solcher die Bewegungen beeinflusst, die aus anderer Perspektive als vom jeweiligen Ego jeder Person ausgehend betrachtet werden könnten. Wie Maratto schreibt: »Im Körperschema liegt eine verallgemeinernde Kraft, die dem Sinnlichen seine Ausdrucksform verleiht. In der Empfindung liegt Generativität, weil jede Empfindung ein einzigartiges Ereignis darstellt, bei dem ein Bruchstück des vernünftigen Seins ›empfindungsfähiges Fleisch‹ anspricht, mit der ›Darstellungs-Arbeit‹ (stylizing) zu beginnen, damit etwas entstehen oder seine ›Stimme‹ finden kann. Im Zusammenkommen eines Schemas und eines empfindungsfähigen Wesens in einem lebendigen Körper, in einer dynamischen Struktur (Körperschema), die für Singularitäten offen ist, ist das Selbst ein individuiertes. Zeit ist als Auto-Affektion dieses Zusammenkommen-während-des-Getrennt-Haltens« (2012, S. 117).
Natürlich gehe ich hier von der Annahme aus, dass das Gleiche auch für den »Zwischen-Körper« oder das Inter-Subjekt gesagt werden kann. »Verallgemeinern« ist synonym mit Abstrahieren oder Dinge konzeptualisieren. Das ist nur im sozialen Kontext möglich. 117
Giuseppe Civitarese
Welchen Vorteil haben wir also davon, wenn wir das Konzept der Zwischenleiblichkeit verwenden? Worin besteht die Differenz zwischen der traditionellen Perspektive und der eher intersubjektiven Perspektive? Da die letztere immersiver ist, bringt sie uns näher an den Patienten, macht sie die Beziehung intimer, impliziert sie eine radikalere soziale Konzeptualisierung der Subjektivität und ist meiner Meinung nach überzeugender. Es ist immersiver, weil »ich mehr drin bin«; ich könnte sagen, dass ich »bis zum Hals« drinstecke. Von der Spaltung in ein Du und ein Ich gelangen wir zum Wir und stellen den »Glauben« in unsere Möglichkeiten wieder her, die emotionale Wahrheit der Beziehung unbewusst zu repräsentieren. Beispielsweise wäre eine mögliche Lesart, den Charakter der »Künstlichkeit« (oder des »Manierismus« oder der »Affektiertheit«) als das Pflaster zu betrachten, das auf die Wunde des Getrenntseins vom Objekt geklebt wird, die allerdings von beiden erlitten wird. So betrachtet ist es jedes Mal so, als würden wir Orpheus spielen, der Eurydike verschwinden lässt. Aus relationaler Perspektive wird A. in eine weniger passive Situation versetzt, indem sie selbst die Tür öffnet, wenn sie geht. Aber vom Standpunkt des Feldes aus betrachtet, wenn wir dieselbe Szene als von zweien geschrieben und gespielt verstehen, würde das für ein gemeinsam geteiltes unbewusstes Bedürfnis sprechen. Als wir dazu übergingen, uns über Skype zu sehen, mussten wir gleichsam die Proben unseres Stücks namens »Analysesitzung« unterbrechen. Es entwickelten sich andere Rituale, die ebenso bedeutsam sein können. Tatsächlich entstehen bei der virtuellen Analyse manchmal »Spezialeffekte«. Bei einem Patienten fließt immer ein kleiner Bergbach im Hintergrund, der an Petrarcas »chiare, fresche e dolci acque« (dt.: »klare, frische und süße Wasser«) denken lässt; bei einem anderen hingegen (und nur bei ihm!) gibt es gewaltige wellenähnliche Bewegungen, die sich an den Felsen brechen. Die wenigen beschriebenen Situationen mit A. könnte ich nur schwerlich als Abfolge individueller Inferenzen, Introspektionen, Reaktionen usw. erklären. Es erscheint angemessener, sie sich in Begriffen sehr schneller haptischer Resonanzen vorzustellen (natürlich nicht nur haptische Resonanzen) oder wie das Ergriffenwerden vom Fluss einer Melodie, die wir gemeinsam komponieren. Sich auf Musik zu beziehen, kann hilfreich für uns sein, weil sie uns ein Beispiel für eine nicht semantische Sprache gibt, die, wenngleich abgegrenzt, nicht vom anderen, eher linguistischen Modus menschlicher Sinn/Bedeutungs-Konstruktion zu trennen ist. Es gibt eine emotionale Musik und eine affektive Musik, die Tänzer in einen Tanz hineinziehen. 118
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
In der Vignette habe ich zwei Arten von Nähe betont, die erste ist körperlich, die zweite eine Wirkung der Deutung – ob sie dem Patienten gegenüber verbalisiert wird oder nicht, ist dabei von relativer Bedeutung – und gemäß einer gewissen Gruppe von Theorien als Empfänglichkeit für das Unbewusste zu verstehen. Mein Widerspruch/Einspruch ist, ich wiederhole, dass beide bedeutsam sind, aber teilweise unabhängig voneinander. Es gibt eine Ebene der Generierung von Bedeutung, die durch die Deutung virtualisiert/sichtbar gemacht werden kann, die aber in haptischer Sozialität entstanden ist, die es ohne eine solche also nicht gäbe. Ist diese Ebene der Interaktion nicht verfügbar, kann sie nicht ohne Weiteres ersetzt werden. Dann trocknet die Erfahrung gleichsam aus. Auch gilt: Je immersiver das Modell ist, das ich verwende, desto intimer wird die Beziehung, auch wenn wir teilweise die Dimension der Erzeugung von Erfahrung aufgeben müssen, auf die sich das Konzept der Zwischenleiblichkeit bezieht. Das können wir in einer weiteren klinischen Vignette genauer betrachten. Wilhelm Tell
Mein Patient B. und ich sprechen über seine alles durchdringende Angst, seine Schwierigkeiten, zu den Bildern, die ihm tagtraumartig durch den Kopf gehen, frei zu assoziieren oder sie zu beobachten. Tatsächlich denke ich, dass B. immer zu viel »sitzt« oder »steht« und dass er es schwierig findet, sich auf die Couch »zu legen«, obwohl seit Beginn der Analyse schon mehrere Jahre vergangen sind. Auch nehme ich seine Klagen mit einer gewissen Verärgerung wahr. Tatsache ist, dass ich sie als fast konkrete Bitten um Hilfe und als Ausdruck einer gewissen Gier erlebe. Rational kann ich sie sehr gut erklären, aber das mindert nicht mein Gefühl leichten Ärgers. In einer Sitzung kam mir, an einem bestimmten Punkt und zu meiner Überraschung, fast mit ungläubigem Staunen, auch wenn ich anfangs Mühe hatte, den Namen zu erinnern, Wilhelm Tell in den Sinn. Vor allem die Episode, in der er, um sich zu retten, den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes mit einem Pfeil treffen muss. Was hat diese Episode mit uns zu tun? Das letzte Mal, dass ich mit dieser Geschichte in Berührung gekommen bin, ist wahrscheinlich Jahrzehnte her! Wilhelm Tell war nie Teil meines persönlichen Pantheons historischer, literarischer usw. »Helden« gewesen. Aber wir haben einen bewaffneten Vater auf der Bühne, einen hilflosen 119
Giuseppe Civitarese
Sohn, einen Apfel (verweist auf irdisches Paradies und Sünde), eine schwierige Prüfung – aber eine, die gut ausgeht. Also frage ich mich: Welche Bedeutung könnte der Ort namens »Schweiz« im analytischen Feld haben? Es fällt mir in dem Moment nicht leicht, mögliche Bedeutungen zu finden, auch wenn mich die Unglaubwürdigkeit von Reverie beeindruckt – wie lange wir uns in unserem Leben auch mit Träumen beschäftigen, wird doch das Erstaunen, in das sie uns immer wieder versetzen, niemals zur Gewohnheit werden. Um mich zu orientieren, suche ich zunächst nach dem Haupt-Gefühl hinter der Szene: zuerst große Angst und dann große Erleichterung. Ärger und Verzweiflung wurden zu Heiterkeit (ein »fröhlicher Schock«). Dank der Reverie (die auf phänomenologischer Ebene meine, aber auf metapsychologischer unsere ist) haben wir eine Grundannahme oder ein unbewusstes Gefühlsklima des Paares (oder der Zweiergruppe) von quälender Angst in Freude transformiert, was sich in meinem Stimmungswechsel widerspiegelt. Die Szene in Wilhelm Tell ist keine »Fotografie« einer biografischen Episode von B. (es gibt viele, die absolut ausreichend sind, um zu erklären, was aus einer Übertragungsperspektive geschieht), sondern sie ist ein Traum oder ein lebendiges Bild des relationalen »Jetzt«; besser des »Gruppen-Jetzt«, einer emotionalen Wellenfunktion, die das analytische Feld durchdringt. Im Unterschied zu einem Erinnerungsfoto ist dieses »Gemälde« schöpferisch mehrdeutig; es lässt sich nicht in einer einzigen Deutung erschöpfen, sondern enthält viele – es ist wie die Idee der Quantenphysik. Bion zitiert Heisenbergs Unschärferelation (1965), die besagt, dass immer nur »Wahrscheinlichkeitswolken« in Betracht gezogen werden können, weil sich die Position eines Elektrons niemals genau bestimmen lässt. Im Inneren gibt es Ödipus, natürlich, aber auch den anzunehmenden Zorn des Sohnes, weil er in einer Situation absoluter Unbeweglichkeit gezwungen ist, mit dem Apfel in Berührung sein zu müssen. Da ist die Idee der zu bestehenden Prüfung, des großen technischen Geschicks; vor allem, der Angst von Vater und Sohn und der Kaltblütigkeit, die erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen. Vielleicht ist auch ein bisschen Humor dabei. In der Lombardei blicken wir mit einer Mischung aus Bewunderung, Neid und Ironie auf die Schweiz. Obwohl im Norden gelegen, ist sie aufgrund der üblichen Stereotypen zwischen den Nationen ein bisschen wie unser Süden (Kuckucksuhren, Schokolade, Jodeln, …). Folglich: es gibt sowohl Zuneigung als vielleicht auch einen Hauch von Arroganz (aber, wie gesagt, auf Griechisch heißt es ybris). Kurzum, Reverie wird zum Spiegel, der es 120
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
mir (uns) erlaubt, von der Chronik zur Erzählung zu gelangen; die, wie Walter Benjamin schreibt, »es nicht darauf an[legt], das pure ›an sich‹ der Sache zu überliefern wie eine Information oder ein Rapport. Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen« (2006, S. 367). Das Gespräch mit B., das wegen der Pandemie über Skype stattfindet, macht in meinen Augen deutlich, wie aussagekräftig und reichhaltig selbst virtuelle Analysen sein können. Jedoch ist es angesichts einer solchen Entfernung (noch) schwieriger, den Apfel mit dem Pfeil zu treffen. Voneinander entfernt zu sein, scheint etwas schon zuvor Schwieriges zu verschlimmern. Die Gefahr ist, dass alles bland und routinemäßig wird. Die Reverie verweist also auch auf Covid als Pfeil, der die Sitzung zu töten droht.
Der Konflikt zwischen der digitalen und der psychoanalytischen Virtualisierung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass keiner der Akteure auf der Theaterbühne der Analyse aufhört, seine materielle Umwelt, den Ort, an dem sie sich befinden, in sich aufzunehmen, aber dieses (ein-)rahmende Element, dessen Wirkung im Verborgenen stattfindet und zugleich außerordentlich wichtig ist, kann bei Distanz-Therapie nicht länger zur Zwischenleiblichkeit gehören, oder bestenfalls in sehr eingeschränkter Weise. Dieses konkrete Umfeld, das offensichtlich Bedeutung insofern generieren kann, als es mit Symbolisierungsprozessen zusammenhängt, die Subjektivität und sprachlicher Intersubjektivität intrinsisch sind, wird in der virtuellen Analyse noch früher virtualisiert und löst sich in vielfältigem Sinne im Cyberspace auf. Wenn wir also von Virtualisierung sprechen, müssen wir mehrere Ebenen unterscheiden: Virtualität, die der Interaktion inhärent ist, die durch das Internet vermittelt wird, ist nicht das Gleiche wie die entdeckte/ erfundene Virtualität des Unbewussten oder der Inneren Welt. Erstere ist für ästhetische Distanz verantwortlich, die Letztere ist in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichem Wirkungsgrad ein mächtiges Bauteil ästhetischer Nähe. Es gibt jedoch eine Verbindung zwischen beiden, deren Erhellen letztlich den Kern meiner Argumentation bildet: Virtualisierung (V‘) im Sinne digitalisierter Interaktion steht in völligem Widerspruch zu Virtualisierung (V‘‘) als Erzeugung symbolischer Bedeutung semiotischen Charakters und zu Virtualisierung (V‘‘‘) als Empfänglichkeit 121
Giuseppe Civitarese
für den Diskurs des Unbewussten. Nur wenn konkrete Voraussetzungen für wirksame Zwischenleiblichkeit auftauchen, habe ich in dem Moment, in dem ich mit psychoanalytischen Theorien das Geschehen zu deuten versuche (V‘‘‘), diesen Modus des Bedeutung-Machens von Erfahrung tatsächlich zur Verfügung.
Ist Analyse via Skype echte/wirkliche Analyse? Aus den genannten Gründen meine ich, dass die Arbeit in Präsenz vorzuziehen ist. Allerdings sind bei einer Behandlung eine Vielzahl von Faktoren im Spiel. Man kann nicht behaupten, dass sie absolut vorzuziehen ist. Es ist keine Frage, die mit einem Aut-Aut (entweder-oder) gelöst werden kann. Auf die Frage, ob Internet-Analyse, auch wenn sie weniger gehaltvoll ist, immer noch als Analyse zu erachten ist, würde ich sicherlich mit Ja antworten. Andernfalls wäre es – von Anfang an und für jeden – ethisch vertretbar gewesen, Patienten ausschließlich im Präsenzmodus zu behandeln und nur dann, wenn sie angemessene Gesundheits-Sicherheits-Bedingungen erfüllen. Tatsächlich lehrt uns die Erfahrung, dass virtuelle Analyse genauso wirksam sein kann wie Präsenz-Analyse. Es gibt Einschränkungen, aber es gibt auch genügend Kommunikationskanäle, die einen echten analytischen Prozess erzeugen. Diese klinischen Beobachtungen sollten weiter untersucht und durch quantitative Studien validiert werden. Mit Sicherheit lässt sich schon jetzt feststellen, dass das Reflektieren über Analyse via Skype auch zu einem klareren Verständnis von der immer, selbst in normalen Settings, vorhandenen Bedeutung von Zwischenleiblichkeit und nonverbaler Kommunikation führt. Das Abwägen der Vor- und Nachteile der virtuellen Analyse hilft uns zu realisieren, wie wichtig vertiefende Deutungsansätze in der klinischen Arbeit sind, selbst wenn wir sie in Präsenz durchführen, oder, wie wir sie mit dem Gedankenreichtum eines der Heidegger’schen Philosophie entlehnten Konzepts nennen könnten, Werkzeuge der Dis-tanz als Entfernung-der-Distanz oder Rückgängigmachen-der-Distanz (Kim, 2021). Für die Psychoanalyse verläuft der schmale Grad zwischen Effektivität und Nicht-Effektivität nicht so sehr zwischen der virtuellen Realität virtueller Therapie und der konkreten Realität der Präsenz-Therapie, sondern zwischen der virtuellen Realität des Oneirischen Zuhörens in der Sitzung und der konkreten Realität des Zuhörens im rein »psychotherapeuti122
Das Reale, das Virtuelle und die Zwischenleiblichkeit in der Psychoanalyse
schen« Sinne (»nur« Fakten). Was die Psychoanalyse an Zwischenleiblichkeit verliert, wenn sie über Zoom oder Skype stattfindet, kann durch die Fähigkeit des Analytikers ausgeglichen werden, die spezifische Virtualität der Analyse (auch in Präsenz) mit Leben zu erfüllen. Im Gegenteil, allein die physische Präsenz im gleichen Raum garantiert nicht den Zugang zu dieser Dimension, da der Analytiker durchaus in einer Position des Distanziertseins bleiben kann (aber diesmal ohne Bindestrich geschrieben). Wie wir sehen, macht ein einfacher Strich, der einen Raum für die Rück-Besinnung schafft, einen gewaltigen Unterschied. Tatsächlich gibt es aktuelle psychoanalytische Verfahren, in denen der Analytiker sogar als Objekt der Übertragung verschwindet. Dann wird das Konzept des Unbewussten in gleicher Weise verwendet, wie die Psychoanalyse früher die Romanfiguren auf die Couch legte, um in die innere Welt des Patienten einzudringen und sie mit einem kalten und wissenschaftlichen oder einem forcierten (und daher pseudo-)empathischen Stil zu erforschen. Wenn der Analytiker jedoch tatsächlich empathisch zu sein scheint, dann einfach aufgrund einer relativen Trennung von Theorie und Praxis. Wenn wir also »virtuell« sagen, müssen wir den Unterschied zwischen virtuell-digitalisiert und virtuell-träumerisch (virtual-oneiric) klar vor Augen haben. Im Wesentlichen geht es – um W. Benjamin zu paraphrasieren – darum, zu wissen, dass wir in jedem Moment rohe Sinnlichkeit »verdauen« müssen, um über das Erlebte verfügen zu können, und dass wir nur dann spielerisch erraten können, wie sich der Prozess entfalten wird. Literatur Benjamin, J. (2004). Beyond Doer and Done to: An Intersubjective View of Thirdness. Psychoanalytic Quarterly, 73, 5–46. Benjamin, W. (2006). The Storyteller. In D. J. Hale (Hrsg.), The Novel: An Anthology of Criticism and Theory 1900–2000 (S. 361–378). Malden, Mass.: Blackwell Publishing. Bion, W. R. (1965). Transformations. London: Routledge, 1984. Deutsch: Transformationen. Frankfurt a. M. Suhrkamp (1997). Bleger, J. (1967). Psycho-Analysis of the Psycho-Analytic Frame. International Journal of Psychoanalysis, 48, 511–519. Ciaunica, A. & Fotopoulou, A. (2017). The Touched Self: Psychological and Philosophical Perspectives on Proximal Intersubjectivity and the Self. In C. Durt, T. Fuchs & C. Tewes (Hrsg), Embodiment, Enaction, and Culture Investigating the Constitution of the Shared World (S. 173–192). Cambridge, MA: MIT Press. Civitarese, G. (2004). Symbiotic Bond and the Setting. In ders., The intimate Room: Theory and Technique of the Analytic Field (S. 22–40). London: Routledge, 2008.
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Biografische Notiz
Giuseppe Civitarese ist Psychiater sowie Lehranalytiker und Supervisor der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft (SPI), Mitglied der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (APsA) und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA). 2022 erhielt er den Sigourney Award. Er lebt und arbeitet in eigener Praxis in Pavia, Italien.
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Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings Unheimliche Gespenstermaschinen – Sinnesprothesen – Technik der Magie – Horror Bernd Heimerl
Anstatt einer Einleitung »Mehr als nur Meetings: Zoom ist für Sie gemacht. Wir helfen Ihnen, Ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen, sich mit anderen zu verbinden und auf eine Zukunft hinzuarbeiten, die keine Grenzen außer Ihrer Vorstellungskraft hat.« (https://zoom.us, 06.01.2022) »Medien sind die Sinnesprothesen der Menschen.« (McLuhan, 1964, S. 46) »Wir selbst sind, vernabelt mit Faxgerät, Computer und Anrufbeantworter, zu Cyborgs, zu Maschinenmenschen, geworden.« (Haraway, 1995, S. 45, Herv. d. A.) »Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen […].« (Freud, 1919h, S. 229)
Die Stimme aus dem Nirgendwo Es ist der französische Philosoph Gilles Deleuze, der in seiner Abhandlung Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (1996) aus den Briefen Franz Kafkas an Felice Bauer (1912) und Milena (1920) interessante Hinweise auf die moderne 125
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Entwicklung der Kommunikationstechnik extrahiert: Auf der einen Seite gibt es für Kafka die räumlichen Kommunikationsmittel, die uns in einen Raum versetzen und ihn uns erobern lassen, wie das Schiff, das Auto und das Flugzeug. Und auf der anderen Seite sind es die expressiven Kommunikationsmittel, die – so Kafka – »Gespenster auf unsere Bahn locken und uns zu unkoordinierten Affekten verleiten«, wie Brief, Telefon und Radio (Deleuze, 1996). Kafka zu seiner Zeit sah technische Neuerungen und nannte sie Gespenstermaschinen auf Fortbewegungsmitteln: zum Beispiel das Telefon im Zug oder wie es der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan 50 Jahre später beschreibt »the bedoin with his battery radio on bord the camel« (McLuhan, 2005 [1964], S. 17). Online-Video-Meetings sind so gesehen lediglich die Weiterentwicklung der Kafka’schen Gespenstermaschinen auf Fortbewegungsmitteln. Alle nur vorstellbaren »Sprechgeräte« sind Deleuze zufolge Gespenster und für uns umso bedrohlicher, weil sie eben nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Echtzeit kommen. Damit ist die unheimliche Gegenwart der Technik benannt, die bedrohlich wirkt; wobei jede Zeit ihre je eigene Technik entwickelt, unheimlich ist sie zu allen Zeiten. Jede Epoche erfindet »Göttliche Maschinen« (vgl. Sutter, 1988). Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Rüdiger Safranski erwähnt in seinem Buch Zeit das erste Telefongespräch Marcel Prousts mit seiner Mutter: »In Paris gab es um 1890 nur ungefähr 3000 Anschlüsse, als Marcel Proust am 22. Oktober 1896 mit seiner Mutter zum ersten Mal telefonierte – für ihn eine unauslöschliche Erfahrung, die er in der Suche nach der verlorenen Zeit mehrfach verarbeitet hat. Proust schildert den bewunderungswürdigen, märchenhaften Vorgang, wenn plötzlich die Stimme der fernen geliebten Person aus dem Hörer dringt. […] Es erreicht mich eine Stimme aus dem Nirgendwo, aus dem Totenreich. […] [E]ine gespenstische Nähe« (Safranski, 2017, S 96f.).
Diese Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit sei es, was unheimlich wirke. Die literarischen Beispiele zeugen von der enormen Verunsicherung durch die Weiterentwicklungen der Medien im Bereich der Kommunikation. Die amerikanische Medientheoretikerin und Performancekünstlerin Allucquère Rosanne »Sandy« Stone (2016 [1991], S. 229f.) illustriert dazu vier Epochen, die einen deutlichen Wandel in der menschlichen Kommunikationstechnik markieren: Ausgehend von der frühen Schriftkultur folgt, 126
Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings
beginnend ab 1900, eine zweite Epoche mit der elektronischen Kommunikation, wie dem Radio und der Schallplatte, bis zur dritten Epoche der Informationstechnologie, die, beginnend ab 1960, dann die Etablierung der virtuellen Communities und des digitalen Rechners einläutete. Nach Stone befinden wir uns seit Beginn der 1990er Jahre in dieser vierten Medienepoche: der Virtuellen Realität und dem Cyberspace. Das Radio war zwar eine Ein-Weg-Kommunikation, aber ermöglichte es, Anwesenheit anders zu denken. Die anhaltend tiefgreifende Veränderung der Kommunikation beziehungsweise der Kommunikationsmittel bedeutet auch, dass neue soziale und psychische Räume entstanden sind, die gleichzeitig und in Echtzeit natürlich und künstlich konstituiert sind. »Die Grenzen zwischen Sozialem und Natürlichem und zwischen Biologie und Technologie fangen bereits an, die große Durchlässigkeit anzunehmen, die den gemeinsamen Raum der vierten Epoche kennzeichnet« (ebd., S. 237). Die Möglichkeit, Menschen an einem Ort zusammenzubringen, obwohl sie sich geografisch an völlig unterschiedlichen Orten befanden, wurde durch die Erfindung des Fern-Sehers rasant beschleunigt. Diese Form der Überwindung von Raum und Zeit ist durch das Internet exponentiell beschleunigt worden. Medien – wie das Internet – als Extension oder Prothese des Körpers zu lesen, geht auf den einflussreichen Medientheoretiker Marshall McLuhan zurück. Er nennt diese Extensionen auch »Sinnesprothesen« und bezeichnet sie allgemein als »magische Kanäle« (1968 [1962]), die sich historisch wandeln können. Medien sind für ihn nicht nur Werkzeuge der Kommunikation, sondern haben an dem, was sie übermitteln, einen fundamentalen Anteil (2005 [1964], 1968 [1962]). Der Slogan: »The medium is the message« hat ganze Generationen von Medienkünstler:innen und -wissenschaftler:innen inspiriert. Im virtuellen Raum1 des Online-Video-Meetings wird die Botschaft vermittelt, dass sich die Unterscheidung zwischen innen und außen verflüssigt. Für Stone ist dementsprechend »die Bedeutung von Örtlichkeit [locality] und Privatheit« nicht entschieden (Stone, 2016 [1991], S. 241). Der digitale Rechner und die 1 Ich kann die vielfältigen Definitionen von Virtualität hier lediglich erwähnen. Begriffe wie virtueller Raum, Virtual Reality, virtuelle Institution (zum Beispiel Wikipedia), Virtual Life (zum Beispiel eHealth) sollen zeigen, dass der Einsatz und die Formen der Virtualität so vielfältig wie die Lebenswelt selbst sind: Sie reichen von Einsätzen in der schulischen und universitären Lehre bis zum Besuch virtueller Museen. Sie umfassen die Interaktion mit virtueller Kunst und den Spielsektor, aber eben auch die Teilhabe am politischen Geschehen oder an sozialen Events und der Kommunikation (siehe Kasprowicz & Rieger, 2019, S. 2f.).
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modernen Telekommunikationsmedien wie Chatrooms, FaceTime und die Inhalte des sogenannten Web 2.0 sind nichts anderes als Prothesen, die die Reichweite der menschlichen Wahrnehmung und Kommunikation erweitern. Ausgehend von McLuhans Theorie, dass Medien die Sinnesprothesen der Menschen sind, greift die amerikanische Wissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway die Prothesenmetapher in ihrem Bild des Cyborgs wieder auf und erweitert den Einfluss der Prothese auf die zeitgenössischen Konzeptionen von Gender, Class und Race. Ein kleiner Exkurs in die Sprache: Computer heißt auf Isländisch tölva und ist weiblich – eine Rechenhexe. Das ist kombiniert aus telja für rechnen und völva für die Wahrsagerin: Fartölva ist ein Laptop, Spjaldtölva ist ein iPad. Die Rechenhexe erlaubt es, die Reichweite der Wahrnehmung zu erweitern. Es ist wiederum Sigmund Freud, der sich schon 1930 der Verbindung zwischen Prothese und Technik aus psychoanalytisch kulturtheoretischer Sicht widmete und auf den Begriff des Prothesengottes brachte.
Der Prothesengott In der Psychoanalyse wurde mit Freuds Auffassung von der Psyche als Apparat (Freud, 1950c [1895]) und dem menschlichen Funktionieren, dargestellt im Bild der Maschine, von Beginn an eine enge Verbindung zur Technik hergestellt. Es gibt eine Vielzahl technischer Implikationen in der psychoanalytischen Theorie: Zum Beispiel stellt Freud im Werk Die Traumdeutung (1900a) und im posthum erschienenen Text »Abriss der Psychoanalyse« (1940a [1938]) eine Analogie zwischen psychischem Apparat und optischen Apparaturen her, wie dem Fernrohr, dem Mikroskop oder dem Fotoapparat. Im Begriff negativer und positiver Ödipuskomplex ist das Negativ-Positiv-Verfahren in der Fotografie gemeint. Gilles Deleuze und Félix Guattari (1974) nehmen diese Denkfigur der Maschine auf und prägen dafür den Begriff der Wunschmaschine – für ein maschinelles, sprachlich unabhängiges Unbewusstes, das wie eine Maschine funktioniert. Auch der Begriff der Prothese verweist auf eine technische Apparatur. Freud führt den Begriff »Prothesengott« in seiner Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (1930a) ein, um einen Zustand menschlicher Kulturentwicklung zu beschreiben, in dem der Mensch durch Wissenschaft und Technik Wunschvorstellungen realisieren kann, die lange Zeit als unerfüllbar angesehen wurden. Gerade dieser Teil menschlicher Natur 128
Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings
ist durch die technische Entwicklung einer grundlegenden Veränderung unterworfen, für die Freud den Begriff des »Prothesengottes« (ebd., S. 451) fand: »Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist die direkte Erfüllung aller – nein der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde angestellt hat, in der er zuerst als schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art als hilfloser Säugling […] eintreten muss. […] Er hat sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden […]. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen […]. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, dass diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiet der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern.«
Freud verwendet den Begriff der Prothese als Hinzufügung beziehungsweise Davor-Setzung, die »Hilfsorgane« werden eher im Sinne von Etwasnicht-Können und weniger als Etwas-verloren-Haben verstanden. Dies ist insofern interessant, als bei einer Hinzufügung das Ursprüngliche verändert wird, jedoch nicht notwendig den vorausgehenden Verlust des Ursprünglichen voraussetzt. In der Hinzufügung der Prothese liegt meines Erachtens etwas Unheimliches: fremd und doch vertraut, zugleich dem Organismus zugehörig, aber nicht mit ihm »verwachsen«, ein Fremdkörper. Die Prothesenmetapher verweist auf die Maschine und den Automaten. Automat meint wortsinnhaft freiwillig, aus eigenem Antrieb handelnd und von selbst geschehend: wie von Geisterhand. Der Begriff Automat hat vor allem in der Bezeichnung hysterischer Symptome in der Geschichte der Psychoanalyse eine nicht unerhebliche Bedeutung: Pierre Janet führt in seinem Buch L’automatisme psychologique (1889) das »Automatische« und das »Unbewusste« eng zusammen, ähnlich wie in Adrien Prousts Fallbericht eines hysterischen Mannes mit dem Titel Sur un cas d’automatisme ambulatoire von 1890 (vgl. Müller, 2021). 129
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Unheimliche Gespenstermaschinen Freud gebrauchte das Wort unheimlich in einigen seiner Texte, aber nur in wenigen Fällen hat dessen Verwendung eine konzeptionelle Dimension. Die erste systematische Reflexion erscheint in Totem und Tabu (1912–13a), Freuds anthropologischer Studie über die Ursprünge der Kultur. In diesem Text greift er die Frage auf, wie und warum das Unheimliche in einer aufgeklärten Welt überleben konnte. Der Text »Das Unheimliche« entsteht 1919. Die letzte explizite Erwähnung findet sich 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse – im Kontext der hypnotischen Faszination, die eine Führerfigur auf eine Masse ausübt. Nach Freud sind die primitiven Vorstellungen des Animismus, wie die Überschätzung der eigenen mentalen Kraft beziehungsweise der Vorstellungskraft, als Reststücke im Menschen erhalten geblieben. Das Gefühl des Unheimlichen ist daran gekoppelt, dass zwar die animistische Denkweise überwunden scheint, doch immer noch Erinnerungsspuren von ihr (in uns) erhalten geblieben sind. Allgemein entsteht das Gefühl des Unheimlichen, wenn verdrängte infantile Komplexe wie Hilflosigkeit und Angst reaktiviert werden. Freud fordert eine Unterscheidung zwischen dem Unheimlichen des »Erlebens«, das einen deutlichen Bezug zum infantilen Moment hat, und dem Unheimlichen der »Fiktion«, wie es zum Beispiel in der Literatur, den Medien und der Kunst erscheint. Er beschreibt weiter drei sogenannte Momente, die das unheimliche Erleben auslösen. Mit Moment meint er eine Bewegung und eine Kraft, die erstens das Auftauchen des infantilen Moments wie Hilflosigkeit, Angst, Abhängigkeit und narzisstische Omnipotenzfantasie; zweitens das Moment der Wiederholung des Gleichartigen und drittens das plötzliche Moment im unerwarteten Eintreten des Unheimlichen beschreiben. Die Bemächtigung der Geister beziehungsweise die Beherrschung des Glaubens an die Geister wird von Freud als Technik bezeichnet. Dabei zieht er eine Grenzlinie zwischen Zauberei und Magie: Zauberei sei die Kunst, auf Geister einzuwirken, indem sie wie Menschen behandelt werden; Magie beziehungsweise die Technik der Magie zielt auf die Bemächtigung der Geister. In der Abhandlung »Das Unheimliche« ist die Technik der Magie selbst unheimlich und gleichzeitig das Unheimliche bannend beziehungsweise aufdeckend. Der Glaube an eine Technik der Magie soll das Unheimliche bannen, zugleich treibt es das unheimliche Gefühl an. Freud versucht in seinem Text »Das Unheimliche« anhand der Novelle Der Sandmann 130
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von E. T. A. Hoffmann (1980 [1816]), seine Ideen zum Unheimlichen zu erklären. In Hoffmanns Erzählung beginnt der Protagonist, seine lebende Verlobte, Clara, als eine unbeseelte Maschine zu betrachten und den eigentlichen Automaten, Olimpia, als ein lebendiges Liebesobjekt. Hofmanns Novelle befasst sich auch mit der Angst, die von der Unsicherheit ausgelöst wird, ob wir es mit einem Lebewesen oder einem Mechanismus zu tun haben. Freud stellt in »Das Unheimliche« die Frage, ob leblose Gegenstände wie Wachsfiguren, kunstvolle Puppen und Automaten nicht etwa beseelt seien. Er reiht anschließend an diese Frage die Frage nach dem Unheimlichen des epileptischen Anfalls oder der hysterischen Symptombildung an, weil durch sie im Zuschauenden Ahnungen von automatischen – mechanischen – Prozessen geweckt werden, die hinter dem gewohnten Bilde der Beseelung verborgen sein mögen.
»Magische Kanäle«: Online-Video-Meetings Das unheimliche Virus, der Lockdown und unsere gezwungene Verbannung in private Räume haben den Aufenthalt im virtuellen Raum, im Chatroom und in den Online-Video-Meetings, in rasanter Beschleunigung als Kulturtechnik etabliert. Das ist ein massiver Einbruch in die Kommunikationskultur im Kontext von Arbeit, Freizeit und Bildung. Vergleichbar mit der industriellen Revolution reagiert der Mensch auf diese technische Beschleunigung sowohl mit Faszination und Begeisterung als auch mit Ermüdung, Misstrauen und diffusen Ängsten. Der digitale Rechner ist im Sinne Kafkas eine Gespenstermaschine auf Fortbewegungsmitteln: ein »Sprechgerät« der Gegenwärtigkeit und der Gleichzeitigkeit. Eine Rechenhexe: unheimliche Kommunikation im virtuellen Raum. Und, wie es McLuhan nennt, eine Kommunikation auf »magischen Kanälen«. Aktuell ist die amerikanische Wissenschaftshistorikerin und Biologin Donna Haraway eine der innovativsten zeitgenössischen Denker:innen des Poststrukturalismus und damit auch der Beziehung zwischen Organismus, Körper, Mensch und Technik. Mit ihrem Manifest für Cyborgs (1995) hat sie einen Diskurs unter anderem um die Maschinenmenschen der Neuzeit eröffnet, welcher zum einen für die psychoanalytische Kulturtheorie bedeutende Denkansätze bietet, zum anderen auch Freuds Idee vom Prothesengott in die moderne Medientheorie einfließen lässt. Cyborgs sind kybernetische Organismen, geschlechtslose Hybride aus Maschine und 131
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Organismus. Sie sind ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. Maschinen und Automaten können als von Geistern bewohnt erlebt werden und erscheinen auf verwirrende Weise lebendig und real. Im virtuellen Raum – unsichtbar und allgegenwärtig – erweitert der Mensch seine Kommunikationsmöglichkeiten »gott-ähnlich«, wie Freud es in die Zukunft fantasiert. Haraway konzentriert sich dabei auch auf den Einfluss moderner Kulturtechniken wie dem Cyberspace auf die Bereiche Gender, Class und Race (Harrasser, 2016). Mit diesem gravierenden Einfluss zukünftiger Massenmedien auf die gesellschaftlichen Ordnungssysteme beschäftigte sich die Medienwissenschaft schon seit Anfang der 1960er Jahre (McLuhan, 2005 [1964]) und eben auch Freud mit seiner 1930 erschienenen kulturtheoretischen Schrift zum »Prothesengott«. Wie kann das Online-Video-Meeting als magische Technik, als Sinnesprothese und als unheimliches Medium der Neuzeit psychoanalytisch untersucht werden? Was ist das Unheimliche am Online-Video-Meeting? Jede:r kennt es: einloggen im Online-Video-Meeting zu einer exakten vom Host oder der Hostess bestimmten Zeit – klappt es oder nicht? Sind Kamera und Mikrofon eingeschalten? Und funktionieren beide? Ist die Internetverbindung stabil? Kamera ein, Kamera aus? Es erscheint das Bild: Welches Bild? Welches Portrait? Großaufnahme? Welche Bildbegrenzungen? Welches Hintergrundbild? Wie sehe ich aus? Die Wahrnehmung einer unaufhebbaren Spannung zwischen den Bildern beziehungsweise konkreter: den Portraits in den Kästen ist ein wesentliches formales Element der Erfahrung im virtuellen Chatraum. Spannung bezieht sich sowohl auf die Unsicherheit des technischen Gelingens als auch auf das unberechenbare Auftreten einer realen Person. Diese spezifische Verunsicherung ist nicht zu verleugnen. In einer unheimlichen Weise wirkt das Bild des/der Anderen (und das Eigene) im Chatraum zugleich distanziert und bedrängend. Distanziert aufgrund der verschiedenen Aufenthaltsorte der Beteiligten und bedrängend aufgrund der auftauchenden Fantasien zum Raum des/der Anderen. Beängstigend ist auch, dass wir in Räume gelangen, die im sichtbaren Raum nicht dargestellt werden, und dass ein Raum nicht enthüllt wird, der aber unsichtbar enthalten ist. Es ist die Aufführung im virtuellen Chatraum in dessen komplex strukturierter Gesamtheit, die eine unheimliche Spannung erzeugt. Ich möchte drei Merkmale des Unheimlichen beim Online-Video-Meeting hervorheben: 132
Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings
(1) die Kadrierung als ästhetisches Stilmittel, (2) der Moment der Plötzlichkeit des Eintretens einer vorhersehbaren Situation und (3) das Motiv der Dopplung beziehungsweise der Doppelpräsenz – das Betrachten des eigenen Bildes im virtuellen Raum. Bemerkenswerterweise sind alle drei Merkmale wesentliche ästhetische Wirkmechanismen des Horrorgenres. Zunächst zu (1): Die Auswahl der Sichtfeldgrenzen bei Videokonferenzen, die sogenannte Kadrierung, ist eine Technik der bildenden Kunst und des Horrorfilms. Der Kasten zeigt nicht nur das, was auf der Leinwand passiert, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auch auf das Off, das heißt auf das, was außerhalb des Kastens nicht sichtbar ist, und zwar in aller Unmittelbarkeit. Jede Kadrierung determiniert nach Gilles Deleuze (1996) ein Off. Das Off verweist auf das, was man weder hört noch sieht und das trotzdem (völlig) gegenwärtig ist. Die Kadrierung hat im Horrorgenre eine besondere Funktion: Sie verdeckt immer einen Teil des Raumes, um Platz für Fantasien zu lassen und damit immer ein Einfallstor für den kinematografischen Schrecken offenzuhalten, der (immer) plötzlich und von außen in die Kadrage des Filmbildes eindringt. In Verbindung mit Freuds Unterscheidung erscheint das Unheimliche des Erlebens im On und das Unheimliche der Fiktion im Off. Damit verweben sich beide Formen des Unheimlichen im Online-Video-Meeting auf beängstigende Weise miteinander. Auch die deutsche Philosophin Juliane Rebentisch betont in ihrem Buch Ästhetik der Installation (2003) die Besonderheit der ästhetischen Medienerfahrung durch die Trennung des sichtbaren Geschehens im On vom ausgeblendeten, dunklen Raum im Off. Diese Trennung erzeugt eine erregende Spannung – im Sinne der Angstlust – und erweist sich nicht nur für die ästhetische Wirkung im Theater- und Kunsterleben als instruktiv, sondern auch für das Erleben beim Online-Video-Meeting: »Es handelt sich um die ontologische Trennung zweier Welten: der wirklichen und der fiktionalen« (ebd., S. 29). Es ist die Trennung der sichtbaren und der unsichtbaren Welt im Online-Video-Meeting. Werden beide Welten gezeigt, gibt es das Ausgeblendete nicht. Dann gibt es kein Verstecken und auch kein voyeuristisches Begehren. Dann kann auch keine Fantasie über das Ausgeblendete entstehen.2 Beim Online2 A.R. Stone beschreibt in ihrem Aufsatz »Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben?« (1991), dass Körper in virtuellen Räumen eine komplexe erotische Komponente besitzen
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Video-Meeting verweist jedes sichtbare Bild auf ein Off, das heißt auf eine private Welt jenseits des Feldrandes, in die das Bild eingebettet ist. Dieses Off wird in der Fantasie immer bewusst und unbewusst mitgedacht, mitgesehen und miterschaffen. Unser imaginärer Blick fällt in dieses Off. Wir wissen, dass dieser Raum außerhalb des Bildfeldes existieren muss, aber wir können nichts Wahres darüber sagen. Er ist der Raum unserer Erwartungen und Projektionen, unserer Wünsche, Perversionen und unseres Begehrens: ein zentraler Wirkmechanismus im Horrorfilm. Im Weiteren möchte ich auf (2), das Moment der Plötzlichkeit des Eintretens einer Situation, und (3), das Motiv der Dopplung, etwas näher eingehen. Ein Moment des Unheimlichen ist das plötzliche und unerwartete Eintreten des vorhersehbaren Unheimlichen. Ein bedeutender Augenblick der Angst ist es, wenn das eigene und das fremde Portrait in einem Kasten erscheinen! Nach Gilles Deleuze (1996) ist das Warten der Kamera darauf, dass eine Person ins Blickfeld tritt und etwas tut, ein unheimlicher Moment, welcher gleichzeitig das Unheimliche aktiviert. Es ist die Gleichzeitigkeit einer Erwartung beziehungsweise eines Wissens (Es wird etwas geschehen) und einer Plötzlichkeit beziehungsweise eines Nicht-Wissens (Ich weiß nicht, wann und wie es geschehen wird)3. Freud schreibt in seiner Abhandlung Hemmung, Symptom und Angst (1926d) über die Angst, sie habe eine unverkennbare Beziehung zur Erwartung. Sie sei die Angst vor etwas, ihr hafte der Charakter von Unbestimmtheit als auch Objektlosigkeit an und allein schon diese Unbestimmtheit löse Angst aus. Bei der unbestimmten Angst handle es sich um eine verdrängte infantile Hilflosigkeit und darum, dass die Erwartung einer Wiederholung ein erster Schritt aus der Hilflosigkeit sei, weil eine solche traumatische Situation der Hilflosigkeit nicht abgewartet, sondern vorhergesehen und erwartet wird. Wenn sich das Video-Portraitbild öffnet, entsteht ein Moment der gegenseitigen Ungewissheit und Unheimlichkeit: Bin ich eingefroren? Wackelt mein Bild? Flieg’ ich raus? Werde ich gehört? Zum Motiv des Doppelgängers hat Otto Rank (2013 [1925]) eine ausführliche Studie vorgelegt, in der er die Wirkung des Unheimlichen im Medium Film untersucht und die unheimlichen Momente als die wesentliche Technik entlarvt, um Spannung und Erregung im Kinoereignis zu errei.
können, ebenso wie Teilnehmende eine signifikante erotische Spannung in Bezug auf ihre virtuellen Körper aufbauen (S. 241). 3 Die Verbindung zwischen Todestrieb, Wiederholungszwang und dem Unheimlichen kann an dieser Stelle lediglich in einer Fußnote erwähnt werden.
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Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings
chen. Die Ideen Freuds zum Unheimlichen und zum Doppelgänger-Motiv im Unheimlichen waren und sind eine große Quelle für Literatur und Film. Der Stummfilm Der Student von Prag von 1913 kann auf eindrückliche Weise die Verbindung zwischen formaler Medienkunst und dem psychoanalytisch konzeptualisierten Unheimlichen bezeugen. Die fantastische Doppelgängergeschichte von einem Studenten, der seinen Schatten dem Teufel verkauft und daran zugrunde geht, ist der erste Film zum Doppelgängermotiv und verbindet die unsterbliche Seele mit dem Leib. Ein Horrorfilm.
Horror – sozusagen »We use technology to connect with each other. But what if we connect with something else?« (Host, 2020)
Host ist der Titel eines britischen »übernatürlichen« Horrorfilmes aus dem Jahr 2020, bei dem Rob Savage Regie führte. Der Film spielt auf einem Screencast eines Videoanrufs über Zoom und wird als Computerbildschirmfilm präsentiert. Er wurde während der COVID-19-Pandemie zwölf Wochen lang direkt mit Zoom-Software gedreht. Die Darsteller:innen und die Crew richteten unter anderem ihre eigenen Kameras und Beleuchtungen selbst ein. Zur Handlung: Sechs Freund:innen treffen sich während des Lockdowns zu einer Videokonferenz. Als eine gemeinsame Unternehmung organisiert eine Teilnehmerin eine Séance mit einem Medium. Eine der Teilnehmenden nimmt die spiritistische Sitzung nicht ernst und erfindet eine Geschichte über einen Jungen aus ihrer Schule, der Selbstmord begangen hat. Daraufhin bricht die Internetverbindung des Mediums ab und dieses kann nicht mehr am Chat teilnehmen. Während seiner Abwesenheit erleben die Freund:innen miteinander unheimliche Phänomene: Ein Stuhl wird von einer unsichtbaren Kraft gezogen, eine Teilnehmerin sieht eine hängende Leiche auf ihrem Dachboden, eine andere macht mit ihrer Polaroidkamera ein Foto von ihrem Wohnzimmer, auf dem eine geisterhafte hängende Figur auftaucht. Das Medium kann sich schließlich wieder einloggen und erklärt den Teilnehmenden, dass sich der (ursprünglich erfundene) tote Junge als böser Geist in das Online-Video-Meeting eingeschlichen habe. Dieser tote Junge unterbricht immer wieder das Mee135
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ting, indem er unter anderem Teilnehmende rauswirft, die dann plötzlich wieder im Kasten auftauchen, Teilnehmende einfrieren lässt, ihre Sprache verändert und das Hintergrundbild verschiebt. Diese Phänomene kennen wir alle. Host »spielt« mit allen für Videokonferenzen üblichen Unterbrechungen. Nacheinander werden sämtliche Teilnehmende von dem toten Jungen bei einem Zoom-Anruf getötet, während der Timer des Zoom-Anrufs langsam wie eine Eieruhr abläuft. Der Abspann und das Austreten der Teilnehmenden erfolgen nach der Form der Teilnehmenden-Liste am rechten Rand eines Zoom-Anrufs.
Ein Blick nach vorne Die Abhandlung »Das Unheimliche« von 1919 ist aktueller denn je (Kohon, 2017; Rauterberg, 2021). Die unheimliche digitale Technik ist überall gegenwärtig und nirgends anwesend. Die einflussreiche Medientheoretikerin Sandy Stone resümiert zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass die neuen Medientechnologien nicht nur die menschliche Kommunikation wesentlich verändern werden, sondern sich auch unsere Wissensordnung in einer »tief reichenden Neukonfigurierung« (Stone, 2016 [1991], S. 239) befindet. Herkömmliche Analysekategorien können nicht mehr zuverlässig die sinnvollen Unterscheidungen treffen, an die wir uns gewöhnt haben: zwischen dem Biologischen/ dem Körper und dem Technischen, dem Natürlichen und dem Künstlichen sowie dem Menschlichen und dem Mechanischen. Das Virtuelle wird auf diese Weise »nicht nur zu einem Resonanzraum sozialer Phänomene, es wird zum Ort der Konstruktion und der Aushandlung neuer Sozialitäten und Umgangsformen sowohl von menschlichen als auch von nichtmenschlichen Akteur:innen« (Kasprowicz & Rieger, 2019, S. 9f.). Mit den Online-Video-Meetings werden alte und neue Fragen an den Freud’schen »Prothesengott« gestellt. Eröffnet die digitale Technik einen Möglichkeitsraum, der ewig wandelbar – man könnte sagen polymorphpervers – scheint und dem triebtheoretischen Denken der Psychoanalyse sehr nahesteht? Oder führt die digitale Technik in der klinischen Praxis der Psychoanalyse eher zur »Entzauberung« der Psychoanalyse? Wie lässt sich das Medium der digitalen Technik in der psychoanalytischen Praxis in seiner ganzen Unheimlichkeit und »Geisterhaftigkeit« verstehen? Wie können wir in der virtuellen analytischen Situation das Off im Bild 136
Zur Ästhetik von Online-Video-Meetings
als Szene – vergleichbar mit dem Abwesenden in den Erzählungen von Patient:innen – psychoanalytisch konzeptualisieren, verstehen und nutzen? Online-Video-Meetings fordern uns heraus, den anthropologischen Terminus Animismus, das Freud’sche Unheimliche sowie die Technik der Magie für unsere gegenwärtigen Erfahrungen mit dem »Posthumanen« auszuloten. McLuhan formuliert diese Herausforderung Anfang der 1960er Jahre, wenn er darlegt, »dass die technologische Erweiterung unseres zentralen Nervensystems, die wir elektrische Medien nennen, schon Mitte des 19. Jahrhunderts unterschwellig begann und dass vieles davon unterschwellig und unheimlich geblieben ist und bleiben wird« (McLuhan, 2005 [1964], S. 384). Vergleichbar sieht Freud Anfang der 1930er Jahre – unklar ob neugierig, tröstend oder warnend, »dass diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern« (Freud, 1930a, S. 451). Mit dem Online-Video-Meeting versprechen die Zoom-Erfinder:innen, uns dabei zu helfen, »auf eine Zukunft hinzuarbeiten, die keine Grenzen außer Ihrer Vorstellungskraft hat« (ebd.). Ob Rechenhexe oder Maschinengeister, Gespenstermaschinen auf Fortbewegungsmitteln, Cyborgs, Online-Video-Meetings oder Chat-Room-Horrorfilm: Allen Beschreibungen der digitalen Technik und der virtuellen Welt haftet das Unheimliche an. Wir sind bei Weitem nicht am Ende. Das Unheimliche bleibt. Literatur Deleuze, G. (1996). Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, G. & Guattari, F. (1974). Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie Bd. I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II/III. Freud, S. (1912–13a). Totem und Tabu. GW IX. Freud, S. (1919h). Das Unheimliche. GW XII, S. 229–268. Freud, S. (1921c). Massenpsychologie und Ich-Analyse. GW XIII, S. 71–161. Freud, S. (1926d). Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, S. 111–205. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 419–505. Freud, S. (1940a [1938]). Abriss der Psychoanalyse. GW XVII, S. 63–123. Freud, S. (1950c [1895]). Entwurf einer Psychologie. GW Nachtragsband, S. 387–477. Gaderer, R. (2011). Sigmund Freuds Momente und Technik der Magie. In M. Doll, R. Gaderer, F. Camilletti & J. N. Howe (Hrsg.), Phantasmata-Techniken des Unheimlichen (S. 145–157). Wien, Berlin: Turia +Kant.
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Bernd Heimerl Harrasser, K. (2016). Technowissenschaften: Einleitung. In K. Peters & A. Seier (Hrsg.), Gender & Medien-Reader (S. 215–224). Zürich, Berlin: diaphanes. Haraway, D. (1995). Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M.: Campus. Hoffmann, E. T. A. (1980). Der Sandmann. Ditzingen: Reclam Taschenbuch. Kasprowicz, D. & Rieger, S. (Hrsg.). (2019). Handbuch Virtualität. Wiesbaden: Springer. Kohon, G. (2017). Reflexionen über die ästhetische Erfahrung: Psychoanalyse und das Unheimliche. Wien: Mandelbaum. Masschelein, A. (2011). Zwischen Animismus und Computeranimation. Das Unheimliche als Unbegriff im 20. und 21. Jahrhundert. In M. Doll, R. Gaderer, F. Camilletti & J. N. Howe (Hrsg.), Phantasmata-Techniken des Unheimlichen (S. 19–44). Wien, Berlin: Turia +Kant. McLuhan, M. (1968 [1962]). Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf: Econ. McLuhan, M. (2005 [1964]). Understanding Media. The extensions of man. London: Routledge. Müller, L. (2021). Adrien Proust und sein Sohn Marcel: Beobachter der erkrankten Welt. Berlin: Wagenbach. Rank, O. (2013 [1925]). Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Bremen: University Press. Rauterberg, H. (2021). Die Kunst der Zukunft: Über den Traum von der kreativen Maschine. Berlin: Suhrkamp. Rebentisch, J. (2003). Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rye, S. (1913). Der Student von Prag [Film]. Safranski, R. (2017). Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Frankfurt a. M.: Fischer. Savage, R. (2020). Host [Film] (Drehbuch R. Savage, G. Hurley & J. Shepherd). Stone, A. R. (2016 [1991]). Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben? Grenzgeschichten über virtuelle Kulturen. In K. Peters & A. Seier (Hrsg.), Gender & MedienReader (S. 225–247). Zürich, Berlin: diaphanes. Sutter, A. (1988). Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, LaMettrie und Kant. Frankfurt a. M.: Athenäum. Wünsch, M. (2011). Mediale Techniken des Unheimlichen und der Angst. In M. Doll, R. Gaderer, F. Camilletti & J. N. Howe (Hrsg.), Phantasmata-Techniken des Unheimlichen (S. 95–114). Wien, Berlin: Turia +Kant.
Biografische Notiz
Bernd Heimerl, Dr. rer. nat., Dipl. Psych., ist Krankenpfleger, Psychoanalytiker (DGPT/DPG/ IPA) sowie Gruppenanalytiker (D3G). Er ist Lehranalytiker für Einzel und Gruppe, Dozent und Supervisor am Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse (BIPP) und am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (IPM) in Magdeburg. Er veröffentlichte zur Interdisziplinarität in der Psychoanalyse (Rezeption der Psychoanalyse in Philosophie, Literatur, Theater und Film), Geschlechterkonstruktionen, Darstellungspraxis und Wissensvermittlung in der Psychoanalyse. Er lebt und arbeitet in Berlin.
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Teil 3 Zerplitterung im öffentlichen Raum
»Ich fühle mich wie Sophie Scholl« Rechte Opferspiele Gudrun Brockhaus
»Ja, hallo, ich bin Jana aus Kassel und ich fühle mich wie Sophie Scholl!« – dieser erste Satz der Rede auf einer Kundgebung gegen die staatliche Corona-Politik im November 2020 bündelt Kerngehalte antipolitischer Protestbewegungen (Youtube, 2020a). Die Rednerin stellt ihr eigenes Empfinden ins Zentrum ihrer Systemkritik. Sie maßt sich die Identität der Verfolgten des NS-Regimes an und überhöht ihre Protestaktivitäten zu einer todesmutigen Dissidenz. Transparente auf den CoronaProtesten forderten »Stoppt die Ermächtigungsgesetze – Kein neues 1933«, die Demonstranten hefteten sich Davidsterne mit der Aufschrift »Ungeimpft« an, bezeichneten die Schutzmaske als »Sklavenmaske«, als »Kinderschändung«. »Die Pflicht für gesunde Menschen, Masken tragen zu müssen, stellt tatbestandlich Folter dar« (zit. n. Ebitsch et al., 2021). In den systemkritischen Protestbewegungen während der Corona-Pandemie ist ein solches historisch ignorantes und von projektiver Identifizierung getragenes Selbstverständnis als Opfer eines Freiheit und Leben bedrohenden »Systems« omnipräsent. Das Opferphantasma rechtfertigt Gewalt und Systemsturz als überlebensnotwendigen Widerstand. Im Folgenden frage ich, ob und warum diese von paranoiden und Größenfantasien durchsetzten Feind- und Opferbilder geglaubt werden und welche Rolle die »Social Media« dabei spielen. Aufstieg und anhaltender Erfolg von Populismus und Rechtsextremismus haben mit der strukturellen Affinität von digitalen Medien und Populismus zu tun; sie verwenden identische Methoden, um Aufmerksamkeit zu erregen und das Publikum an sich zu binden (Diehl, 2017, 2022). In diesem Umgang mit den neuen 141
Gudrun Brockhaus
Medien haben sich die Grenzen von Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Politik und Unterhaltung, Spiel und Ernst verschoben, sind brüchiger geworden und lösen sich tendenziell auf. Mit der Gamifizierung und Ironisierung in der rechten digitalen Kommunikation verändert sich die subjektive Wahrnehmung, auch bei Hass und Gewalt schieben sich die Ebenen von Realität und Spiel ineinander und setzen das Realitätsprinzip außer Kraft.
Antipolitische Radikalisierung Wer die im Rechtsextremismus und in den Protestbewegungen verbreiteten realitätsverzerrenden Größenfantasien lächerlich findet und ihrer Dynamik nicht weiter nachgeht, macht es sich zu leicht. Sie enthalten zentrale politische Gehalte der neuen systemkritischen Bewegungen. Gerade ihr Pathos macht sie attraktiv. Aufgrund ihres fundamentalen Misstrauens gegenüber der bestehenden Ordnung (vgl. Reichardt, 2021) zielen diese Bewegungen nicht mehr auf politische Reformen, sondern auf eine Destabilisierung des Staates und seiner Institutionen. Die Politologin Paula Diehl spricht von »Antipolitik«, eine Haltung, »in der politische Repräsentantinnen und Repräsentanten, institutionelle Regeln und politische Institutionen sowie die Autorität des Staates grundsätzlich infrage gestellt werden. Antipolitik steht nicht nur für eine Kritik an der Regierung, sondern sie diskreditiert das gesamte politische System auf radikale Weise und delegitimiert zugleich den Staat« (Diehl, 2017, S. 28).
Eine Untersuchung von »12 Millionen Nachrichten aus 967 deutschsprachigen Gruppen und Kanälen« auf Telegram zeigte 2021 eine sprunghafte Radikalisierung der Corona-Protest-Szene (Ebitsch et al., 2021). Die Kritik der staatlichen Corona-Politik wandelte sich in »das generelle Infragestellen des Systems«, die Toleranz gegenüber Gewalt in eigene Gewaltbereitschaft (ebd.). Die Kriminalstatistik weist für 2021 eine erhebliche Steigerung der politisch motivierten Gewaltdelikte nach und rechnet sie dem Kontext der Corona-Proteste zu (Balser & Bullion, 2022). 142
»Ich fühle mich wie Sophie Scholl«
Mit den Verletzungen basaler Anstands- und Kommunikationsregeln waren die Rechtspopulisten schon zuvor erfolgreich gewesen. Sie ersetzten die inhaltliche politische Auseinandersetzung durch »eine rassistische Kultur der Beleidigung, des sadistischen Zynismus und der lustvollen Tabuverletzung« (Koch et al. 2020, S. 4). Gegen die politischen Gegner wurden Herabsetzung, Beschämung und »gezielte Verekelung« (Wirth, 2021, S. 29) eingesetzt, um sie als Diskursteilnehmer moralisch und ästhetisch zu delegitimieren, sodass ihre inhaltlichen Argumente gar nicht mehr gehört oder ernst genommen werden mussten. Als beteiligte Zeitgenossin fällt es schwer, sich mit dieser Hasspolitik auseinanderzusetzen und nicht in ihrer Erforschung Abwehraffekte zu agieren (Brockhaus, 2022). Die Herstellung von Eindeutigkeiten, von Freund-Feind-, Gut-BöseAufteilungen der Welt, die Homogenisierung und Reinerhaltung der eigenen Identität gelten als zentrale Merkmale der Rechten, geteilt von Nationalsozialisten bis zu Rechtspopulisten. Im Ukraine-Krieg hat sich diese Psychodynamik von Hasspolitik ausgebreitet, manichäische Gewissheiten und ambivalenzfreie Parteinahmen gelten nun als Tugenden. An dem Erfolg der Selenskij- oder Putin-Legenden zeigt sich, wie anfällig wir alle für die antipolitischen Sehnsüchte nach einer Gut-Böse-Märchenwelt sind. Die »Zeitenwende« des Krieges erbrachte eine Angleichung an die Erlebniswelt der Rechtspopulisten. Vielleicht erleichtert diese Erfahrung einen Zugang zu der Verführbarkeit durch regressive Erlebnisangebote?
Eine »Querdenkerin« als Diktatur-Opfer? »Jana aus Kassel« sagte, sie fühle sich wie Sophie Scholl, weil sie »seit Monaten im Widerstand« sei: »Ich werde niemals aufgeben, mich für Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen« (Youtube, 2020a). Daraufhin tritt ein Ordner auf sie zu, versucht, ihr seine Ordnerweste zu geben, und sagt, für so einen Schwachsinn wolle er nicht den Ordner geben. »Jana aus Kassel« sagt hoch irritiert »Hä?«, und als er dann erläutert, was sie sage, sei Holocaust-Verharmlosung, gerät sie aus der Fassung: »Ich habe doch gar nichts gesagt!« Sie weint, wirft ihr Manuskript und das Mikrofon auf den Boden und verlässt die Bühne. Offenbar fühlt sie sich völlig zu Unrecht an den Pranger gestellt, sie hat nichts gemacht oder gesagt. Sie hat kein Gefühl für die Hybris, die in der 143
Gudrun Brockhaus
Gleichsetzung ihres »Widerstandes« – dem Verteilen von Flyern, dem Anmelden von Versammlungen, dem Sprechen auf Kundgebungen – mit dem Widerstandshandeln im Nationalsozialismus liegt. Die ungläubige Überraschung und das Gefühl, unschuldiges Opfer eines vollkommen ungerechtfertigten Angriffs zu sein, zeigte sich auch in der Debatte um das Tragen gelber Sterne mit der Aufschrift »Ungeimpft«, mit denen sich Impfgegner als Opfer von Verfolgung und Vernichtung gerierten. Dass dies als verletzende Anmaßung kritisiert wurde, als Aneignung der Dimension der Shoah für die Aufblähung des eigenen Größenselbst, traf bei den »Sternträgern« auf völliges Unverständnis. Jana ist überzeugt, dass sie Antifaschistin ist, ebenso eindeutig platzierten sich die »Ungeimpft-Sternträger« als Opfer des von ihnen konstruierten bundesdeutschen Stasi-NS-Taliban-Nordkorea-Zwangsregimes in der Nachfolge der jüdischen Opfer des NS-Regimes.
»Total unterdrückt« – Gefühlte Evidenz Das Verhalten von »Jana aus Kassel« wurde auf Wissensdefizite und fehlende politische Bildung zurückgeführt: Jana und die Querdenker wüssten zu wenig über die NS-Diktatur, den Holocaust und den Widerstand, sonst würden sie diese Gleichsetzungen nicht vornehmen. Es ist aber sehr fraglich, ob mehr Wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust diese NS-Verharmlosungen verhindert hätte. Die Attraktion rechter, faschistischer oder populistischer Angebote stellt sich nicht vorwiegend über Wissen und Kognition her. Es ist eine gefühlte und deshalb auch nicht kognitiv widerlegbare Evidenz, die Jana zu ihrer Verwandtschaftserklärung mit den Opfern der NSDiktatur bringt. Das Setzen auf »Gefühlsgut« statt »Gedankengut« (Strick, 2021, S. 178) beschränkt sich nicht auf die Protestbewegungen, es gilt auch für die Alternative Rechte, wie Simon Strick an vielen Beispielen herausarbeitet. »Was tun, wenn der Faschismus eher eine Atmosphäre als eine Ideologie beschreibt, mehr ein Gefühl und eine Handlungslogik als ein faschistisches ›Gedankengut‹?« (ebd., S. 11) Schon in Bezug auf den Nationalsozialismus ist die motivierende Kraft der Ideologie für seine Anhängerschaft überschätzt worden (vgl. Brockhaus, 1997). Heute hat sich die Bedeutsamkeit des emotionalen Erlebnisangebotes in der Entscheidung für rechte Systemkritik nochmals gesteigert. 144
»Ich fühle mich wie Sophie Scholl«
Apokalyptisches Pathos Simon Strick (2021, S. 104) charakterisiert die Alternative Rechte als »Graswurzelbewegung«, »als weiße, männliche und patriotische Identitätspolitik von unten«. Die Verschwörungstheorie von QAnon ist eine von der Anhängerschaft gemeinsam betriebene Recherche und »Schnitzeljagd« um das Verständnis der kryptischen Botschaften von »Q«. (ebd., S. 308). Die »Querdenker« verstehen sich als Krieger für die Freiheit, als emanzipierte und kreative Skeptiker und eigenständige Wissensproduzenten. Sie definieren sich über ihre Macht- und Herrschaftskritik als selbstbestimmt und dissident (so das Ergebnis der »Querdenken«-Forschung bei Reichardt, 2021; Nachtwey et al., 2021; Amlinger & Nachtwey, 2022). Die antipolitischen Empörungsbewegungen haben keine verbindende Utopie, keine gesellschaftlichen Zielvorstellungen. So gewinnen Feindbildung und Hass eine zentrale, identitätsstiftende Bedeutung. Ihr Freiheitsbegriff ist negativ, man will die Befreiung von etwas, nicht für etwas. Bei »Querdenken« wird eine politische Agenda durch eine »Pathetik des Dagegenseins« ersetzt (Nachtwey, zit. n. Ebitsch et al., 2021). Die Beschwörung einer apokalyptischen Bedrohung hat in Deutschland eine tief verwurzelte Tradition. Vondung (1988, S. 152ff.) spricht von der »Geburt des Nationalismus aus dem Geist der Apokalypse«. Ernst Jünger verarbeitete die Schrecken des Ersten Weltkrieges und der Niederlage, indem er das Kriegserleben zum politischen Ideal stilisiert. Diese Überhöhung und die Abwendung von einer als »verächtlich und fahl« denunzierten Vernunft ermöglichen ein Leben in den »unsichtbaren Strahlen großer Gefühle« ( Jünger, 2013 [1920], S. 281). Das Faszinationspotenzial von Unbedingtheit, Entwirklichung des Alltags und Kompromissfeindschaft war im von Niederlage und Demütigungserfahrungen geprägten Deutschland besonders ausgeprägt. In Krisenzeiten hat das politische Angebot an realitätsübersteigernden großen Gefühlen seine Anziehungskraft immer wieder unter Beweis gestellt. Auf diesen Gefühlsmustern bauten auch Faschismus und Nationalsozialismus auf. Mit den NS-Inszenierungen verbinden wir imperialen Größenwahn und die Proklamation des Rechtes, die »Minderwertigen« auszulöschen. Größenfantasien finden sich auch im heutigen Rechtsradikalismus, in der »Brexit«-Politik oder der Trump’schen Retrotopie »Make America great again«. Diese manische Form der Grandiosität hat jedoch nach der Shoah an Selbstverständlichkeit eingebüßt. Pathos und Gefühlsübersteigerung 145
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richten sich nun stärker auf die Ausmalung von Bedrohungsszenarien und die Identifikation mit Opfern. Populisten und Faschisten teilen das Narrativ, einer existenziellen Bedrohung durch verschworene Feinde ausgesetzt zu sein, es bildet das Zentrum ihrer Weltanschauung. Die »Orchestrierung von Opfermythen« dominiert die propagandistischen Bemühungen (Marcks & Pawels, 2022, S. 84). Die eigene Gruppe – die Nation, die Religion, das einfache Volk, die Weißen, die Männer, die Vertreter der hergebrachten Ordnung, die Impfkritiker, die Freiheitsliebenden – wird als Opfer in Szene gesetzt. Was immer als Inhalt der Bedrohung von den unterschiedlichen Gruppierungen in den Vordergrund gerückt wird – das Szenario enthält die Gewissheit einer apokalyptischen Entwicklung. Die Katastrophe ist bereits da und droht sich in nächster Zukunft zu vollenden. Das schafft eine unmittelbare Dringlichkeit, ein hohes Erregungspotenzial und Drängen nach Aktion. Nassehi (2022) spricht von den »eschatologischen Gesten«, von der »Denkungsart, die sich selbst mit einer endzeitlichen Attitüde ausstattet« und so den Einzelnen aus einer Welt von Mühsal und Kompromisspolitik in eine Sphäre von vehementer Leidenschaft trägt. Die katastrophische Weltdeutung wird in einem Gestus höchster Anspannung und Erregung vorgetragen. »Die Alternative Rechte veranstaltet affektive Wolkenbrüche, gefühlte Katastrophen und allgegenwärtige Gefährdungsimpressionen« (Strick, 2021, S. 153). Dieser »affektive Furor« hat eine starke Sogwirkung, er ist für HansJürgen Wirth »das eigentliche motivationale Ferment, das die populistischen Bewegungen antreibt und zusammenhält« (Wirth, 2021, S. 47).
Selbstviktimisierung Marginalisiert, diskriminiert, diffamiert, nicht gehört, nicht gesehen, fremd im eigenen Land gemacht zu werden (Hochschild, 2016) – solche Gefühlsäußerungen stehen im Vordergrund. Die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft artikulieren sich als verfolgte Minorität, vergleichen sich mit Diktaturopfern, mit ausgerotteten oder marginalisierten Ureinwohnern und fühlen sich von Geflüchteten und Migranten verfolgt. Ein Aktivist der Identitären Bewegung formuliert: »Eines muß uns im Angesicht des Großen Austauschs bewußt sein: […] Wir sind die letzte Generation, die dieses Schicksal noch aufhalten kann.
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Wir sind es, die entscheiden, ob Europas jahrtausendealte Kultur fortbesteht oder für immer aus der Geschichte ausscheidet. Unser Kampf ist nicht mehr politischer, sondern existentieller Natur« (Müller, zit. n. Strick, 2021, S. 124).
Selbstmitleid als Leitaffekt charakterisiert die Neue Rechte und die modernen Faschisten. Sie präsentieren sich eher nicht auftrumpfend als Herrenmenschen, als überlegene Männer oder selbstbewusste Verteidiger der bestehenden patriarchalen Ordnung, sie stellen nicht einmal die Ressentiments gegen die Eliten oder die Entwertung der »Anderen« in den Vordergrund. All diese Überlegenheitsgesten treten zurück hinter der Klage über das eigene Opferschicksal. Die Selbstviktimisierung dominiert (vgl. Koch & König, 2020, S. 9–25). Aktives Handeln ermöglicht Schuld; nur das passive Opfer kann als gänzlich unschuldig gelten. Nach Stalingrad, so zeigt der Historiker Martin Sabrow (2008, S. 19) auf, vollzogen die Deutschen einen »narrativen Wechsel vom heroischen zum viktimistischen Opferbild«. Sie »reorganisierten ihr Geschichtsbild als Opfererzählung, in deren Zentrum immer gebieterischer das erduldete Leiden stand« und die eigene Täterschaft nicht mehr sichtbar wurde. So konnte sich »die Bonner Republik als eine ›Gemeinschaft von Opfern‹ konstituieren« (ebd., S. 20).
Glaubwürdigkeit der Bedrohtheits-Klage Das führt uns noch einmal zurück zu »Jana aus Kassel«, die sich wie Sophie Scholl fühlt, zu dem Ordner, der entsetzt ist und sich über den »Schwachsinn« ihrer NS-Verharmlosung aufregt, endlich zu Janas komplettem Unverständnis gegenüber dieser Kritik. Glaubt sie wirklich, dass sie in einer dem Nationalsozialismus gleichzusetzenden Diktatur lebt, in der bei Widerstandshandlungen das eigene Leben auf dem Spiel steht? Halten die, die das »mörderische System« anklagen, ihre existenzielle Gefährdung für realistisch? Sehen sich die Verschwörungstheoretiker wirklich tödlich bedroht? Unprovozierte Gewaltausübung unterliegt einem Tabu und muss mit starken Argumenten aus der Verbotszone herausgeholt werden. Selbst die nationalsozialistischen (und auch die russischen) Aggressoren sahen sich genötigt, ihre Vernichtungsaktionen und das Freigeben sadistischer 147
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Impulse mit der Konstruktion einer Notwehrsituation zu rechtfertigen: Ihre Gewalt ist ausschließlich Verteidigung gegen den Angriff der Feinde. Rechtspopulisten und Protestbewegungen erteilen sich durch das Phantasma ihrer Opferrolle eine Lizenz zur Lockerung und zum Aussetzen von Über-Ich-Kontrollen, eine Erlaubnis zu Regression und Entsublimierung. Die Lust an aggressiver Grenzüberschreitung ist groß; ebenso wächst auch der Bedarf, sie zu rechtfertigen. Die Selbstviktimisierung wird geglaubt, weil man sie dringend braucht, um einem moralischen Notstand abzuhelfen und sich nicht der Täterschuld stellen zu müssen.
Strategischer Einsatz der Opferstilisierung Die Pose des Opfers und tragischen Widerstandshelden ist zudem eine strategische Waffe. Die großen Gefühle werden aufgeführt, um Gegner als Böse und Schuldige zu diskreditieren. Wenn der Gehalt der Politik sich im Bekämpfen politischer Feinde erschöpft, wird »der Wahlkampf quasi auf Dauer gestellt. Ist die Demokratie aber zum reinen Machtkampf entartet, dann ist alles Schein, und der Schein ist alles« (Leo, 2019). Die Opferattitüde ist Maskenspiel, das gilt jedenfalls für etliche politische Akteure in den Führungsebenen, die mit schauspielerischer und inszenatorischer Kompetenz das Bedrohungsnarrativ aufführen. Es wird strategisch eingesetzt, um Affekte bei den Anhängern und politischen Gegnern zu evozieren, und muss nicht der persönlichen Gefühlslage entsprechen. Belege für die gezielte Fabrikation von Bedrohungsszenarien finden sich in Untersuchungen von Goetz (2020) über die Identitäre Bewegung sowie von Bauer und Fiedler (2021) über die Provokationen der AfD im Parlament. Strick (2021) zeigt an vielen Beispielen, wie die Alt-Right-Bewegung im Internet gezielt mit Tricks, »Streichen« (»Pranks«), »Game Plans« arbeitet. Die Corona-Demonstranten inszenierten die Repression auf ihren »Spaziergängen«: Durch gezielte Gesetzesübertretungen wurde das Eingreifen der Polizei provoziert, um dann die Bilder der die »friedfertigen Spaziergänger« überwältigenden Polizisten ins Netz stellen zu können als Beweis für repressive Willkür und Brutalität des »Systems«. Die Authentizität der Bedrohung wird aktiv inszeniert – über den Bildbeweis zu verfügen scheint wichtiger als die Frage nach der Wahrheit. 148
»Ich fühle mich wie Sophie Scholl«
Projektive Identifizierung Bei einem Teil der Protestszene wirken die Opfergesten nicht gespielt. Auch wenn die Auslöser der Angst in keinem Verhältnis zur Stärke des Gefühls stehen: Der ohnmächtige Hass auf die Maskenpflicht als »Kinderschändung«, die Angst vor tödlichen Folgen der Impfung, die Verzweiflung über den Staatsterror sind oft nicht fingiert und können zu selbst- und fremddestruktiven Akten motivieren, wie zum Beispiel bei dem Familienvater, der seine Familie und sich tötete, weil er Angst gehabt habe, dass die »Impfdiktatur« seine Impfpassfälschungen mit extremen Strafen ahnden würde (bild.de, 2022). Der Mörder des Tankstellenangestellten, der zum Tragen einer Maske aufgefordert wurde, begründete seine Tat damit, dass er aus der Bedrängnis durch die Corona-Maßnahmen »keinen anderen Ausweg gesehen« habe, als zur Waffe zu greifen (Bangel, 2022). Man kann nur auf wenige veröffentlichte psychoanalytische Erfahrungen mit radikalisierten Patienten zurückgreifen (so Hegener et al., 2021, S. 10). Nicht zufällig werden in den Therapieberichten Menschen beschrieben, bei denen die ideologischen Bedrohungsszenarien sich als Projektionen der inneren Welt von Chaos und Identitätsbrüchen lesen lassen. Die apokalyptische Weltsicht spiegelt die psychische Zusammenbruchsangst (Durban, 2022), in einem Akt der projektiven Identifizierung wird die innere Bedrohtheit zu einer zerstörerischen Bedrohung von außen, die mit allen Mitteln bekämpft wird. Von dieser Passung der politischen Ideologie zur inneren Welt berichteten auch die Forschungen zur Autoritären Persönlichkeit (Adorno, 1950). Sie sahen die treibende Kraft zur Ideologiebildung in biografisch entstandenen psychischen Konfliktlagen: Das faschistische Weltbild formuliert eine innere Welt in politischen Termini und verspricht gleichzeitig eine Ausdrucksmöglichkeit und eine Heilung der eigenen Nöte. Der projektive Glaube an die Bedrohungsszenarios hat eine existenzielle Dimension. Das gelte, so vermutet Wirth, auch für heutige Rechtspopulisten: »So oberflächlich, falsch und vorurteilsbeladen populistische Auffassungen oft erscheinen mögen, so emotional bedeutsam und essenziell können die biografischen Traumata, Konflikte und Beziehungskonstellationen sein, aus denen sich ihre psychische Dynamik speist« (Wirth, 2021, S. 39). Die bisher gegebenen Antworten auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Selbstdarstellungen als Unterdrückte und Bedrohte entsprechen einer »alten«, analogen Idee des Verhältnisses von Realität und ihrem 149
Gudrun Brockhaus
Abbild. Die Realität wird verleugnet, es wird gelogen oder die Realitätswahrnehmung nach den eigenen Bedürfnissen geformt. Bei allen drei Formen ist die Möglichkeit einer klaren und eindeutigen Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion unterstellt. Aber haben wir diese Welt nicht inzwischen verlassen? In den sozialen Medien und der Inanspruchnahme »alternativer Fakten« haben sich fundamentale Veränderungen der Realitätswahrnehmung entwickelt. Hier erscheint die Frage »Glaubt ihr diese Vernichtungsszenarios wirklich?« obsolet. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist längst verwischt, durch die in den sozialen Medien allgegenwärtige Ironie gebrochen, durch Gamification aufgehoben: Die medienvermittelte Realität wird zu einer »Hyperrealität«, die lebensechter, spannender und interessanter anmutet. Populistische Bewegungen und die Neue Rechte werden von den profitorientierten Plattformen begünstigt, weil sie zentrale Mechanismen zur Generierung von Aufmerksamkeit miteinander teilen. Paula Diehl hat diese strukturellen Affinitäten herausgearbeitet und nennt als beiden gemeinsame Techniken »Personalisierung, Komplexitätsreduktion, Privilegierung des Außergewöhnlichen, Emotionalisierung, archetypische Erzählstruktur, Privilegierung von Konflikt, Erzeugung von Unmittelbarkeitsgefühl beim Publikum« (Diehl, 2022, S. 422).
Sich verlieren in den Echokammern des Grauens In den Social Media sorgen die Funktionsmechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie dafür, dass dem Nutzer sehr schnell immer radikalere, extremere, skandalösere Inhalte und dystopischere Gruppierungen nahegelegt werden. Negative Botschaften prägen sich stärker ein, wirken länger nach. In der Studie über die Telegram-Kommunikation der Corona-Protestierer zeigt sich, welche Konsequenzen es hat, sich diesen immer extremeren Kommunikationen auszusetzen: »Nach und nach steigern die Menschen sich in Gefühle von Ausweglosigkeit hinein, bekommen das Gefühl, agieren zu müssen, um Untergangsszenarien zu verhindern – und das möglichst schnell« (Ebitsch, et al., 2021). Über viele Angehörige von Protestbewegungen ist bekannt, dass sie ausschließlich soziale Medien nutzen und deshalb in diesem Kosmos von Bedrohung und Angst versinken und sich dort gegenseitig in den katastrophischen Weltsichten bestätigen. Sie halten 150
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sie für real, weil sie nicht mehr mit anderen Realitätsdeutungen in Berührung kommen. Wissenschaftler und Journalisten, die zu Zwecken der Recherche in hasspolitische Szenarien eintauchen, beobachten an sich selbst ausgeprägte Persönlichkeitsveränderungen. Der Journalist Hans Demmel (2021) hat sich ein halbes Jahr ausschließlich rechten Medien ausgesetzt und schildert eine dunkle Anderswelt. Er beschreibt die massiven Auswirkungen des Dauerbeschusses mit Hetze und Häme. Schon nach kurzer Zeit stürzte er in tiefe Selbstzweifel, paranoide Ängste und Dysphorien. Die Extremismusexpertin Julia Ebner beschreibt die persönlichen Folgen ihrer Forschungsarbeit: »Wenn man ständig vom Untergang Deutschlands liest und von dem Zusammenschluss der Eliten, um uns alle in einen unvermeidbaren Krieg zu führen, uns Mikrochips zu implantieren oder ein autoritäre Überwachungsregime zu starten, ist das auf psychischer Ebene gefährlich« (zit. n. Ebitsch et al., 2021). Sie sei zunehmend selber überzeugt worden. Ihre Schlussfolgerung ist: Jeder ist gefährdet, sich den Untergangsszenarien zu ergeben und politisch zu radikalisieren (Ebner, 2021), unabhängig von einer lebensgeschichtlich begründeten Vulnerabilität. Die Glaubwürdigkeit der apokalyptischen Szenarien wird dadurch gefestigt, dass die Internetnutzer ihr nicht nur als Propaganda-Konsumenten passiv ausgesetzt sind, sondern diese Gefühlswelten aktiv mit herstellen. Simon Strick zeigt in seinem Buch Rechte Gefühle (2021), wie sich in den Social Media dieser Bedrohungskosmos herstellt und zu einer gefühlten Realität wird, nicht über eine ideologische Indoktrinierung von oben, sondern durch das Konsumieren, Interagieren und eigene Produzieren von Nachrichten, Memes, Videos, in denen man sich auf negative Erfahrungen fokussiert, bis man sie schließlich in ihrer Qualität von Unterdrückung, Freiheitseinschränkung, Entrechtung zu lesen lernt. Am Ende ist die Deutung der eigenen Erlebnisse als Bedrohung und Gefährdung so plausibel und selbstverständlich, dass sie den Zugang zur Welt bestimmt und alle neuen Erfahrungen in dieses Grundgefühl eingeordnet werden: »Menschen müssen nicht direkt eine (neo)faschistische Position beziehen, sondern können sich im Gefühl des Bedrohtseins, Belogenwerdens, Ignoriertwerdens […] häuslich einrichten« (Strick, 2021, S. 130). Dennoch würde das Gefährdungsszenario nicht so leicht geglaubt werden, wäre es auf die politische Sphäre beschränkt. Es wirkt unter anderem deshalb schlüssig, weil sich dieselben Logiken auch in anderen Bereichen des Alltagslebens finden. 151
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In Serien, in Filmen, in Spielen der Populärkultur häufen sich Erzählmuster, in denen ein ultimativ böser, entmenschter Feind mit Vernichtung droht und die Rettung nur in extremer Gewalt und Auslöschung des Feindes besteht (vgl. die exemplarischen Analysen in Koch & König, 2020). Das Lambda-Logo der rechtsextremen Identitären Bewegung ist einem Film entnommen, ebenso der von »Querdenkern« und Verschwörungsgläubigen viel genutzte Ausdruck »Red Pilling« (in einem »Matrix«-Film steht die rote Pille für die Bereitschaft, eine radikale Wahrheit zuzulassen). Übernommen werden nicht nur einzelne Motive, sondern die Erzählstrukturen der Filme, Musik, Foto-Arrangements. Die populärkulturellen und die politischen Narrative gleiten ineinander über und unterscheiden sich nicht mehr in ihrem Wirklichkeitsgehalt. Die affektive Bedeutsamkeit der virtuellen Welt kann sogar als größer wahrgenommen werden, weil die konstruierte Welt klarer, logischer, emotional aufgeladener gebaut ist. Man kann in sie eintauchen und sie als real empfinden, eine totale Immersion, die durch die immer bessere Konstruktion der Virtuellen Welt erreicht werden kann.
Gamification und Politik Der emotionale Ersatz der Realität durch die virtuelle Welt folgt jedoch immer noch dem »Eine-Welt«-Modell. Charakteristischer für die Art, wie Populisten und Rechte heute Politik betreiben, ist das gleichzeitige Neben- und Ineinander von früher klar abgegrenzten Ebenen. Es verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, auch die Unterschiede von Unterhaltung und Politik, von Spiel und Ernst lösen sich auf. »Politainment« wird inzwischen von allen Politikern erwartet. Von Trump und vielen anderen wird Politik nach dem Modell des Reality-TV betrieben. Trump machte die Wrestling-Show zum Vorbild politischen Handelns. Die Politik folgt der »Dramaturgie und Logik der postmodernen Gladiatorenarena« (Diehl, 2017, S. 30). »Das Publikum gewöhnt sich an die physische Gewalt, selbst wenn diese nur gespielt ist, es genießt Erniedrigungsrituale und konsumiert die Verachtung der Schwachen als Quelle der Unterhaltung« (ebd., S. 26). Das ist das Entscheidende: Den Fans ist es egal, dass – beim Wrestling wie bei den Politspektakeln – alles durchgescriptet ist. Das Publikum beschäftigt sich nicht mit der Frage der Authentizität. Das Wissen um die Fakes stört das emotionale Mitgehen bei Erniedrigungsszenen oder den Größenselbst-Inszenierungen nicht. 152
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Die rechtsextremen Internet-Aktivisten von »Reconquista Germanica« inszenieren ihre politischen Kämpfe wie ein Computer-Kampfspiel. Das extremste Beispiel für die Gamication von Politik findet sich bei den Rechtsterroristen, die ihre mörderischen Aktionen wie ein Computerspiel übten oder gar im Lifestream sendeten (vgl. die Darstellungen des Wegs »von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat« bei Baeck und Speit, 2020, und insbesondere in dem Text »Terror als Spiel«, Sieber, 2020, S. 176ff.). Ihre Attentatspläne, ihre Kommentare während der Liveübertragung sind in der Gamersprache und -logik verfasst: Es geht um Achievements, Scores, Schwierigkeitslevels, Wahl der Waffen und »Spiel«-Strategien. Der Täter von Halle, der an Jom Kippur die Mitglieder der jüdischen Gemeinde töten wollte, richtet sich in seinem Livestream an die Gamer-Community, es geht ihm um die Bewertung seiner Performance unter anderem im Vergleich mit dem Täter vom Christchurch, um das Meistern von Schwierigkeitsleveln und die Anzahl der gelungenen Morde. Er ärgert sich und ist beschämt, dass er an der Synagogentür scheitert, dass seine selbstgebauten Waffen nicht funktionieren. Zweimal entschuldigt er sich bei den Zuschauern für seine schlechte Performance: »Sorry guys.« Die in Echtzeit bei dem Livestream anwesenden Zuschauer zeigen in ihren Kommentaren, dass sie das, was sie sehen, nicht als Livestream der mörderischen Terrorattacke erkennen (wollen): »Keine Spoiler bitte, ich habe noch nicht alles gesehen« (zit. n. Erb, 2020, S. 39). Oder sie beklagen die schlechte Performance des Täters: »Er vermasselt alles. Das ist verdammt ungeschickt« (zit. n. ebd., S. 38). Gemeinsam ist den Kommentierenden die Indifferenz gegenüber dem mörderischen Geschehen, die auch der Täter selber an den Tag legt: Ärger über sein Versagen vor der Gamer-Szene scheint seine stärkste Emotion. Die Zerstörung von Empathie und Mitleidensfähigkeit entspricht der Entwirklichung in der Gamification des Politischen.
»Just for the lulz«1 Die Alternative Rechte, Populisten und Neonazis haben sich Humor und subversive Ironie angeeignet, sie ist ein durchgängiges, zentrales Merkmal ihrer Kommunikation. In den USA und in Deutschland wurde die Comic1 Lulz: »A distortion of ›LOL‹, or ›Laugh out Loud‹, lulz are a sharper form of offensive humour directed by online activists« (May & Feldman, 2019, S. 26).
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figur »Pepe der Frosch« zum Erkennungszeichen der Rechten, die Erzeugung von witzigen Memes ist eine Hauptkommunikationsform der Rechten im Internet, auch das Trolling, die lustvolle Erzeugung von Verwirrung, Häme und Schadenfreude, wird ebenso wie die grenzüberschreitende rassistische, antifeministische Belustigung über Minderheiten, das Verlachen politischer Gegner, die zynische Abwertung der Holocaust-Erinnerung mit »alles nur Spaß« und »just for the lulz« begründet. Der Neonazismus und die Alternative Rechte setzen Humor und Ironie gezielt als Mittel zur Verharmlosung und Enttabuisierung ihrer Hassbotschaften ein und sind sehr erfolgreich damit: »›Ironic misdirection‹ is vital for understanding the mainstream push by Alt-Right ideologues and online activists« (May & Feldman, 2019, S. 26). Für die Mehrzahl der Social-Media-Nutzer ist jedoch der Spaß an Ironie nicht eine bloße Camouflage, sondern hat einen Eigenwert, der die ideologische Botschaft im subjektiven Erleben übertrifft: Wenn das Meme einen zum Lachen bringt, sieht man über seinen antisemitischen Gehalt hinweg – der natürlich trotzdem wirksam ist. Am »Sturm auf das Kapitol« zeigte sich zum Beispiel in den Selfie-Orgien, den absurden Kostümierungen (der »Q-Anon Schamane«) und den Schauspielerposen der Kapitolerstürmer, dass es vorrangig um die Erzeugung von interessantem Medienmaterial ging: Das Ziel waren die dramatischen Bilder. Hier zeigt sich »eine grundlegend neue Komponente des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus«, die »vor allem am ironischen Bruch und am Spiel mit der politischen Inszenierung der Teilnehmer*innen« liegt (Diehl, 2022, S. 416). Wrestling als Politikmodell, rechtsterroristische »Egoshooter«, der »Sturm auf das Kapitol« als Inszenierung für die Medien – das sind extreme Beispiele für die gängig gewordenen Grenzverwischungen, für die Herstellung von »Realitätsfiktionen«, einer »doppelbödigen Realität« (Diehl, 2017, S. 27), die reales Leid konsumierbar macht, Größenvorstellungen gleichzeitig karikiert und auslebt. Es ist eine Szenerie, in der Überich-Entlastung fast ausschließlich durch Enttabuisierung nicht neutralisierter Aggression gesucht wird, die Feindbilder diffundieren, und auch die Größenfantasien nicht mehr durch normative Schranken eines Heldenethos eingegrenzt sind. Die phantasmatische Gleichsetzung mit den Opfern und Verfolgten des NS-Regimes in der Szene der radikalisierten politischen Protestbewegungen ist ein weiteres, alltagsnäheres Beispiel für die Grenzverwischungen. 154
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Das Unverständnis für die Kritik daran resultiert aus der Einebnung von Unterschieden der Bedeutsamkeit von Realem und Fiktiven: Warum nicht das Opferspiel spielen, wenn es so viele Gratifikationen einbringt? Man führt die apokalyptische Rede, spricht von existenzieller Bedrohung, von Mördern und Auslöschung, aber nicht einmal tödliche Realität kann das Moment des Fiktiven, Spielerischen, Inszenierten, Unernsten in den Opferposen zum Verschwinden bringen. Vor diesem Unernst steht die Psychoanalyse etwas ratlos da. Mit ihrer Rede vom »Realitätsprinzip« unterstellt sie, man könne von einer, von der – einen, einzigen – Realität ausgehen, die es zu erkennen und in ihren Lust und Destruktivität einschränkenden Wirkungen zu respektieren gelte. Emphatisch wendet sich Freud gegen die Verführungskraft der realitätsverleugnenden Illusionen und setzt dagegen, man müsse »die Wahrheit fatieren« (Freud, 1915, S. 21). Sarasin (2016) formuliert in seiner Untersuchung über den Umgang mit Fakten und Wahrheitsansprüchen: »Die Neue Rechte lacht einfach über jene, die an so etwas wie die Wahrheit noch glauben.« Die permanente Doppelbödigkeit, das Brüchigwerden der Grenzziehungen von Realität und Wahrheit, die durchgängige ironisierende Distanzierung und Gamifizierung, die Gewöhnung an Übertreibung und Skandalisierung machen verständlicher, warum die Absurdität und das Anmaßende der Gleichsetzung mit den NS-Opfern nicht gesehen wird. Literatur Adorno, T. W. (1950). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Amlinger, C. & Nachtwey, O. (2022). Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin: Suhrkamp. Baeck, J.-P. & Speit, A. (Hrsg.). (2020). Rechte Ego-Shooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Berlin: Ch. Links. Balser, M. & von Bullion, C. (2022, 10. Mai). Erhebliche Zunahme bei politischen Straftaten. Süddeutsche Zeitung. Bauer, K. & Fiedler, M. (2021). Die Methode AfD. Der Kampf der Rechten: Im Parlament, auf der Straße – und gegen sich selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Bangel, C. (2022, 10. Februar). Die Pandemie der Gewalt. Die Zeit. bild.de (2022). Angst vor Konsequenzen wegen gefälschtem Impfzertifikat. https:// www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/er-toetete-ganze-familie-devid-r-soll -impfpaesse-im-grossen-stil-gefaelscht-habe-78488808.bild.html (19.08.2022). Brockhaus, G. (1997). Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot. München: Antje Kunstmann.
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Biografische Notiz
Gudrun Brockhaus, Dr., Dipl.-Psych., Dipl. Soz., arbeitet als Psychoanalytikerin (DGPT) in München. Sie forscht und publiziert zu Themen der Politischen Psychologie (z. B. zur Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachgeschichte sowie zu aktuellen politischen Themen).
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Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn Franz Oberlehner
Wir Menschen haben die Eigenschaften unseres Körpers seit jeher mit äußeren Hilfsmitteln ergänzt. Von einfachem Werkzeug und primitiver Kleidung über die Erfindung von Brillen und sonstigen Prothesen bis zum Automobil zieht sich ein langer Weg der Verbesserungsbestrebungen unserer leiblichen Existenz. Mit dem Auftreten von Computer-, Bio- und Nanotechnologie erwachsen dieser Augmentation des Körpers ganz neue Möglichkeiten. Bereits vor 25 Jahren hat der Kognitionswissenschaftler Frank Biocca, der sich schon damals mit Kommunikation und virtueller Realität beschäftigte, das Schlagwort vom Dilemma des Cyborg geprägt. Dieses Dilemma sei bereits »mit jedem Kleidungsstück, jeder Armbanduhr, jedem Baseballschläger gegeben, kurz, mit sämtlichen Technologien, die sich dem Körper anschmiegen und ihn augmentieren« (Biocca, 1997, S. 24). Von Biocca habe ich das Wort Augmentation übernommen. Es bedeutet lateinisch Vermehrung, in der Medizin wird es im Sinne von Vergrößerung oder Erweiterung verwendet, wobei für das hier relevante Thema das Anschmiegen ebenso wichtig, gleichsam Teil der Technologie ist. Der Ausdruck Wirklichkeitssinn ist einem Aufsatz von Ferenczi (1913) entnommen. Ich komme darauf zurück. Die zentrale Aussage meines Beitrages lautet: Technologien, die sich uns in einer Weise anschmiegen und uns augmentieren, wie es zum Beispiel das Smartphone tut, verändern unseren Wirklichkeitssinn. Was macht die technische Entwicklung mit dem Menschen? Wie könnte man die Situation des menschlichen Subjekts in der Folge der technisch-industriellen Umbrüche der Moderne analysieren? Diese Frage kann man natürlich schon mit Beginn der Menschheitsgeschichte stellen, 159
Franz Oberlehner
weil wir Werkzeug gebrauchende und damit immanent technische Wesen sind. Aber nicht zufällig entstanden erste ernst zu nehmende Abhandlungen dazu erst mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. So schrieb der überaus vielschichtige deutsche Denker Ernst Kapp (1877) mit Grundlinien einer Philosophie der Technik das wohl erste moderne Werk einer Technikphilosophie. Darin vertritt er die (zentrale) These, dass alle technischen Artefakte letztlich unbewusste Organprojektionen sind, also ein Hammer die Faust nachbildet, das Fernrohr das Auge, die Telegrafie die Nervenleitung usw. Ernst Kapp bettet also (schon im 19. Jahrhundert) unser technisches Verhalten in eine spezifisch moderne Anthropologie des Mängelwesens Mensch ein. Auf dieser Linie befindet sich auch Freud, wenn er von Hilfsorganen schreibt, die der Prothesengott Mensch anlegt. Freud ist skeptisch gegenüber der glücksbringenden Wirkung der Hilfsorgane: »Gäbe es keine Eisenbahn, die die Entfernungen überwindet, so hätte das Kind die Vaterstadt nie verlassen, man brauchte kein Telephon, um seine Stimme zu hören« (Freud, 1930a, S. 447). Aktuell ist Charlotta Björklind eine der Psychoanalytiker beziehungsweise Psychoanalytikerinnen, die sich intensiver mit der Wirkung von digitaler Technologie beschäftigt. Sie meint, dass »jeder Schritt in dieser anhaltenden technologischen Entwicklung als ein Versuch verstanden werden könnte, die Anforderungen der Realität an unsere körperliche Existenz abzumildern« (Björklind, 2014). Dem kann man, auch mit der eben zitierten Skepsis Freuds im Hintergrund, nur teilweise zustimmen. Die technologische Entwicklung mildert nicht nur Anforderungen ab. Zumindest seit ca. 200 Jahren schafft sie zugleich Umwelten, die immer neue Anforderungen an unsere körperliche Existenz stellen. Die Herrschaft des Taktes der Maschine, in die der Mensch mit Körper und Psyche gnadenlos eingespannt wird, ist vielfach dargestellt und analysiert worden. Eine der brillantesten Darstellungen zeigt der Film Modern Times von Charlie Chaplin, in dessen Zentrum die dehumanisierende Wirkung der Fließbandarbeit steht. Der menschliche Körper wird darin buchstäblich von riesigen Zahnradapparaturen verschlungen. Wenn man dem Historiker Ilja Steffelbauer folgt, dann könnte man den Beginn dieser Entwicklung schon vor mehr als 250 Jahren mit dem Auftreten der sogenannten Linienschiffe festmachen. Sie waren noch aus Holz und mit Segeln bestückt und doch »die ersten echten Kriegsmaschinen, die komplexesten Mechanismen, die in ihrer Zeit existierten. Ihre Mann160
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schaften waren die ersten, die die unmenschliche Disziplin im Takt der Maschine erfuhren, die bald die Arbeitswelt zuhause erreichen sollte« (Steffelbauer, 2017, S. 169). Die Anerkennung und das Ausmaß der Versehrung des menschlichen Körpers war in diesen gewaltigen Konstruktionen nur insofern von Bedeutung, als sie sich auf das Funktionieren der Maschine auswirkten. Etwa gleichzeitig mit Chaplins filmischer Verarbeitung macht der Philosoph Günther Anders diese Entwicklung zum Gegenstand einer tiefgreifenden Analyse. Sein diesbezügliches Hauptwerk trägt den Titel Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Obwohl seine alltägliche Umgebung noch keine Computerwelt war, betont er schon damals die Totalität unserer Gerätewelt: »[E]inzelne Geräte gibt es nicht. […] Jedes einzelne Gerät ist seinerseits nur ein Geräte-Teil, nur eine Schraube, nur ein Stück im System der Geräte.« Es sei falsch zu behaupten, wir hätten die Wahl, ob und welche Geräte wir benutzen, denn dieses System der Geräte, dieses »Makrogerät« sei kein Mittel für einen Zweck, auf das wir verzichten könnten, sondern es sei unsere »Welt« (Anders, 1956, S. 2, Herv. i. O.). »[D]ie Technik ist nun unser Schicksal« (ebd., S. 7). Wie das Linienschiff die Welt und das Schicksal ihrer Besatzung war, so ist in den 1950er Jahren schon die gesamte industrielle Welt eine einzige Maschine. Ein Befund, dem einige Jahrzehnte später auch Sherry Turkle zustimmt. Sie ist Gründerin und Direktorin der Initiative on Technology and Self am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und beschäftigt sich seit den 1970er Jahren führend mit dem Einfluss von Computern auf Körper und Psyche des Menschen: »Wir werden von unseren Werkzeugen geformt. Und nun verändert und formt uns der Computer« (Turkle, 2012, S. 10). Unser Schicksal ist mittlerweile die weltweit vernetzte Rechenmaschine. Den Taktgeber der zeitgenössischen Arbeitswelt könnte man wohl besser mit dem Dienst-Smartphone als mit dem Fließband symbolisieren – oder mit dem Armband, für das die Firma Amazon das Patent angemeldet hat. Es kann die Handbewegung des Trägers in Echtzeit auf die Sekunde überwachen und genau dokumentieren. Das Armband soll (auch) ermitteln können, wo sich ein Mitarbeiter in einem Amazon-Lagerhaus im Verhältnis zu einem bestimmten Inventarregal befindet, und ihn ans Ziel steuern. Es wird selten so offensichtlich, welchen Zwang die Maschinenwelt auf unseren Körper ausübt, viel häufiger verwenden die Menschen die 161
Franz Oberlehner
Geräte freiwillig aus dem Impuls heraus, sich das Leben zu erleichtern. Schon Günther Anders stellt fest, dass das mit einer Selbstverdinglichung und Anpassung an die Gerätewelt einhergehe: Wir bedienen (im wahrsten Sinne des Wortes) die Maschinen, nicht sie uns. Die Technik sei vom Objekt zum Subjekt der Geschichte geworden, der Mensch nur mehr ein für die Wartung der Geräte zuständiger Objekthirte. Das Verhältnis des Menschen zur Gerätewelt sei dabei zentral von Prometheischer Scham gesteuert, der Scham vor der beschämend hohen Qualität der selbstgemachten Dinge. Anders unterscheidet dabei zwischen Werkzeug und Maschine: Das Gefälle zwischen der Unvollkommenheit des menschlichen Körpers und der immer größer werdenden Perfektion der Maschinen nennt er prometheisches Gefälle, mit diesem, genauer seitdem das Werkzeug als Verlängerung und Verbesserung menschlicher Organe durch die Maschine mit ihrer Eigendynamik ersetzt wurde, beginne die Antiquiertheit des Menschen. Nun blicken wir ca. 70 Jahre zurück auf die Gerätewelt eines Günther Anders. Unsere Welt unterscheidet sich noch viel radikaler von der vorindustriellen Umgebung. Luciano Floridi, der eine Art Philosophie der Technik für das 21. Jahrhundert ausgearbeitet hat, spricht, in Anlehnung an den Ausdruck Biosphäre, von Infosphäre, die unser Leben radikal verändert. Das Tempo dieser Veränderung ist mit unserem Erkenntnisapparat kaum zu fassen. Zu Günther Anders Zeiten hätte die Rechenleistung, die heute ein I-Phone bietet, das ganze Brutto-Inlandsprodukt der BRD gekostet. Die Zahl der vernetzten Geräte pro Person, die 2003 bei 0,08 und 2010 bei 1,84 lag, ist heute bei ca. sieben angekommen. In dieser Welt sind Geräte sowohl die Anwender als auch die Auslöser von Technologie und die Kommunikation läuft über die Schnittstellen zwischen Geräten – man spricht von Handshaking, wenn sich mein Laptop mit meinem Drucker oder mit einem anderen Smartphone verbindet. »Sie und ich, wir sind zu einem solchen Handshaking nie eingeladen noch sonst in irgend einer Form daran beteiligt«, so Floridi (2015, S. 59), und weiter: »Wie bei einem klassischen Renaissance-Haus bewohnen wir nun den piano nobile, das noble Obergeschoss, wobei wir nicht einmal wissen, was sich im Erdgeschoss unter uns tut, wo die Technologien in den Betriebsräumen ein Summen von sich geben. Ohne Fehlfunktion wüssten wir nicht einmal, dass Technologien wie diese überhaupt da sind« (ebd., Herv. i. O.).
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Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn
Floridi sieht uns an der Schwelle zur vierten Revolution: Die erste (Kopernikus) vertrieb uns aus dem Zentrum des Universums, die zweite (Darwin) nahm uns unsere Sonderstellung im Reich des Lebens, die dritte (Freud) nahm uns die Illusion, wir seien wenigstens Herr über unsere Psyche und deren Inhalte. Es blieb uns immerhin noch die Gewissheit, dass wir mit unserer Intelligenz einzigartig sind, allen anderen Wesen überlegen. Mit unserem Denkvermögen kann es kein Lebewesen und keine Maschine aufnehmen. Diese Gewissheit erodiert immer mehr, wir müssen uns darauf einstellen, dass uns künstliche Intelligenz in immer mehr Bereichen überflügeln und schließlich eine allgemeine Intelligenz entwickeln wird, die der unseren überlegen ist (ebd., S. 121ff.). Ist das dann eine Form von Leben, ganz unabhängig von Biologie? Der Physiker Mark Tegmark vom MIT bejaht dies eindeutig. Er definiert Leben möglichst umfassend, nämlich als einen Prozess, der seine Komplexität bewahren und sich reproduzieren kann. Was reproduziert wird, ist nicht (aus Atomen bestehende) Materie, sondern (aus Bits bestehende) Information, die festlegt, wie die Atome angeordnet werden. Sein Buch trägt den Titel: Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz. Darin unterscheidet er drei Stufen von Leben: die biologische (1.0), die kulturelle (2.0) und die technologische Stufe (3.0). »Leben 3.0 wird sein eigenes Schicksal meistern und endlich vollständig von seinen evolutionären Fesseln befreit sein« (Tegmark, 2017, S. 49). Und der Autor ist überzeugt: »Künstliche Intelligenz könnte es uns ermöglichen, Leben 3.0 noch in diesem Jahrhundert wahr werden zu lassen« (ebd., S. 77). Man kann nun mit dem Psychoanalytiker John Churcher (2016, S. 76) argumentieren, dass schon jedes einfache Werkzeug unser Körperschema verändert: »Wenn wir ein Werkzeug benutzen, inkorporieren wir es […] als Prothese in unser Körperschema. Die Verinnerlichung der invarianten Eigenschaften eines Stocks ermöglicht es dem Blinden, dieses Werkzeug als Erweiterung seines Körpers zu benutzen.« Das gilt dann natürlich auch für einen Avatar, also eine künstliche Identität in der digitalen Welt, wäre aber strukturell nicht unbedingt etwas Neues. Genau das nennt der eingangs zitierte Frank Biocca das Dilemma des Cyborg, vor das uns schon jede Armbanduhr, jeder Tennisschläger stellt: »Du kannst dich dafür entscheiden, deinen Körper durch technologisches Embodiment zu erweitern, musst aber wissen, dass dein Körperschema und deine Körperidentität sich dieser Cyborg-Form womöglich anpassen werden« (Biocca, 1997, S. 24). 163
Franz Oberlehner
Der veränderte Wirklichkeitssinn Was mich hier interessiert, ist die Frage, ob das Smartphone, als Paradebeispiel zeitgenössischer Technologie für die Massen, das Verhältnis zu unserem Körper so grundlegend und anders verändert, als es schon der Hammer oder die Armbanduhr getan haben. Meine zentrale These dazu lautet, dass Geräte wie das Smartphone vor allem unseren Wirklichkeitssinn verändern. Dieser Begriff ist einem frühen wegweisenden Aufsatz von Ferenzci (1913) mit dem Titel »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes« entnommen. Dieser Beitrag Ferenzcis ist in der Folge von Freuds Arbeit »Zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« entstanden. Darin bezeichnet Freud die »schrittweise Ablösung des Lust- durch das Realitätsprinzip« (1911b, S. 234) als die durch Versagung erzwungene Hauptaufgabe psychischer Entwicklung. Ferenzci untersucht nun »die Entwicklung des Ich vom Lust- zum Wirklichkeitsprinzip«, wobei er von der Vermutung ausgeht, »dass die uns von der Erfahrung aufgenötigte Ersetzung des kindlichen Größenwahns durch die Anerkennung der Macht der Naturgewalten den wesentlichen Inhalt der Ich-Entwicklung ausmacht« (Ferenzci, 1913, S. 126). Es geht ihm dabei darum, die Übergänge und Stufen dieser Entwicklung nachzuzeichnen: Ist die Allmacht nach Ferenzci im Mutterleib bedingungslos, so wird sie nach der Geburt zuerst als magisch-halluzinatorische Allmacht aufrechterhalten, geht in der kindlichen Entwicklung in eine Allmacht mithilfe magischer Gebärden, Gedanken und Worte über und kann sich im Leben des gesunden Erwachsenen nur mehr im Märchen halten. Freud untersucht das Thema zur gleichen Zeit aus kulturtheoretischer Perspektive, indem er sich mit »Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken« beschäftigt. In »Triebe und Triebschicksale« beschreibt er zudem, wie er sich den Weg Richtung Realität in den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt vorstellt. Dabei lauten die zentralen Begriffe: primärer Narzissmus, purifiziertes Lust-Ich und Real-Ich. Narzissmus beginnt nach Freud damit, dass das autoerotische System nicht mehr perfekt funktioniert, die Mutter nicht (mehr) immer (und) sofort mit Befriedigung parat ist. Einer solchen Außenwelt gegenüber kann der Säugling nicht mehr indifferent sein, besetzt daraufhin die befriedigenden Aspekte libidinös und nimmt diese in sein Ich auf. So werden die lustspendenden Qualitäten der Mutter nunmehr Teil seines Selbst und narzisstisch geliebt. 164
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Das purifizierte Lust-Ich »setzt den Lustcharakter über jeden anderen. Die Außenwelt zerfällt ihm in einen Lustanteil, den es sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd ist« (Freud, 1915c, S. 228). Die weitere schrittweise Ablösung des Lust- durch das Realitätsprinzip verlangt die immer bessere Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Selbst und Objekt, das heißt, sie verläuft über die Rücknahme der für den Narzissmus typischen Vertauschungen von Subjektivem und Objektivem. Eine Veränderung des Wirklichkeitssinnes betrifft so gesehen immer auch den Narzissmus von uns Menschen. Eine ganz wesentliche Ergänzung hat dann noch Winnicott (1993 [1971]) beigesteuert, indem er klar macht, dass Versagung allein nicht zur Entwicklung des Wirklichkeitssinnes führt, sondern dieser auch das Illusionäre eines Übergangsraumes braucht. Ohne Übergangsobjekt gibt es keine Reise vom subjektiv zum objektiv wahrgenommenen Objekt. Das Ich-Ideal ist gleichsam das Erbe des kindlichen Narzissmus und das schmerzhafte Gefühl der Scham entsteht, wenn es nicht mit dem Bild des Selbst zu vereinbaren ist. Wenn Günther Anders von prometheischer Scham spricht, beschreibt er aus psychoanalytischer Sicht das Verhältnis zwischen Ich und Ich-Ideal und damit die Möglichkeit von Erwachsenen, einen gesunden Narzissmus zu pflegen. Scham entsteht nach Anders in dem Moment, in dem ein Mensch etwas an sich erkennt, was er nicht sein möchte. Der prometheische Mensch schäme sich für all das, was er durch die »Sturheit seines Leibes« (Anders, 1956, S. 21) nicht vermag, weil er sieht, dass seine Geräte nicht in ihrer Fleischlichkeit gefangen und demnach nicht durch einen sturen Leib begrenzt sind. Aber was Anders nicht bedenkt, ist, dass sich diese Scham vor dem perfekten Gerät, das einem gegenübersteht und das einen ersetzen kann, in Stolz verwandelt, sobald dieses Gerät als Teil des eigenen Selbst empfunden wird. Der Bankangestellte mag sich schämen angesichts der besseren Maschine, die ihn ersetzt, aber der Arbeiter, der mit (s)einem »Außen-Skelett« locker 100 Kilogramm jongliert, trägt das Ganze mit Stolz. Mit der technischen Entwicklung geht ein immer größerer Gegensatz einher zwischen der Scham über die Mangelhaftigkeit der eigenen Existenz und den zunehmend stärkeren Größenfantasien über die eigenen Möglichkeiten. Ich meine nun, dass ein Gerät wie das Smartphone noch wesentlich tiefergehend in unseren narzisstischen Haushalt eingreift als das Ich-Ideal und die dabei entstehenden Gefühle von Scham oder Stolz. Es betrifft noch viel mehr die mühsam erworbene Trennung zwischen Subjektivem und Ob165
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jektivem, auf der der Wirklichkeitssinn beruht. An anderer Stelle (Oberlehner, 2017) habe ich argumentiert, dass diese Veränderungen einer Verschiebung von einer Normalneurose zu einer Normalpsychose entsprächen. Wir verstehen und durchschauen unsere Produkte immer weniger. Je perfekter unsere Prothesen werden, desto weniger sind sie als solche erkennbar und desto mehr verschmelzen wir mit ihnen. Die Technologieprodukte kommen unseren sehr frühen Fantasien von Allmacht und Ungetrenntheit so sehr entgegen, dass unsere Realitätsprüfung immer mehr an Schärfe und Konturen verliert und unsere Konstellation sich (zunehmend) von einer Normalneurose in Richtung Normalpsychose verschiebt. Für diesen Beitrag ist es interessant, die psychoanalytischen Vorstellungen von der Prüfung beziehungsweise Konstruktion von Realität noch etwas ausführlicher einzubeziehen. Bisher ging es in aller Kürze um das, was man Freuds Objektbeziehungstheorie nennen könnte und was die Spaltung in ein böses Fremdes beziehungsweise ein böses Außen, das gehasst, und ein gutes Innen, das narzisstisch geliebt wird, hervorhebt. Der Weg zu mehr Realität führt dann über die Rücknahme der Projektionen und über das Ertragen der Wahrnehmung, dass Böses auch Innen sein und dass Gutes auch von äußeren Anderen kommen kann. Schon einige Jahre früher begann Freud, seine ökonomischen Vorstellungen zur Realitätsprüfung zu entwickeln. Danach ist der psychische Apparat zuerst nicht in der Lage, die stark besetzte Vorstellung des bedürfnisbefriedigenden Objektes von dessen Wahrnehmung zu unterscheiden. »Realitätszeichen« können also nicht nur durch äußere Wahrnehmung des realen Objektes, sondern auch – wenn sie massiv genug sind – durch die Besetzung einer Erinnerung hervorgerufen werden. Das gut entwickelte Ich ist üblicherweise stark genug, die Besetzung der Erinnerung so weit zu hemmen, dass sie als solche erkennbar und nicht für Wahrnehmung gehalten wird. Im Traum oder bei starker Regression geht diese Unterscheidung wieder verloren. Während Freud diese Konzepte schon im »Entwurf einer Psychologie« und in der Traumdeutung auszuarbeiten beginnt, verwendet er den Ausdruck Realitätsprüfung erst in »Zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«. Dabei entwickelt er ein relativ kognitives Konzept: Das Kriterium für die Unterscheidung von Wahrnehmung und Vorstellung ist die Veränderbarkeit durch motorische Aktion (Freud, 1916–17f, S. 423). Gergely und Watson arbeiten diesen Gedanken mit dem von ihnen beschriebenen »Mechanismus zur Kontingenzdeckung« (vgl. Gergely, 2002, S. 817) genauer aus. Dieser Mechanismus stellt die Grundlage der Fähigkeit des 166
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Säuglings dar, Reize als dem Selbst und nicht der Außenwelt zugehörig zu kategorisieren. Alles, was perfekt kontingent mit motorischer Aktion wahrgenommen wird, gehört zum Selbst; hohe, aber nicht perfekt kontingente Reaktion gehört zu einem (hinreichend guten) primären Objekt, niedrige zur sonstigen Außenwelt. An allen diesen Punkten der Realitätsprüfung greift die technologische Entwicklung ein. Diverse nachfreudianische Konzepte sind dabei natürlich auch interessant. Wenn man zum Beispiel das Smartphone wie ein Objekt erlebt, das uns zugewandt ist, dann betrifft das die Fähigkeit zur Unterscheidung von Lebendem und Unbelebtem. Der Frage, wie wir diese Unterscheidung treffen, hat Rene Spitz viel Forschungsaktivität gewidmet. Der Schlüssel zum Verständnis ist für ihn der Dialog, den er als allgemeine Reziprozität, nicht nur »mit Worten«, versteht. Der Säugling kommt nicht mit dieser Fähigkeit auf die Welt. Das Kleinkind erwirbt sie nach Spitz in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. Rund um die sogenannte Achtmonatsangst lernt das Kind nicht nur das Liebesobjekt vom Fremden, sondern auch das Belebte vom Unbelebten zu unterscheiden. »Das Unbelebte kann keinen Dialog mit dem Kind führen. Selbst wenn es die kunstvollste Mechanik besitzt, kann es den wechselseitigen Aktions-Reaktions-Prozess nicht mitmachen« (Spitz, 1976, S. 14). »Ich halte es für höchst wahrscheinlich, dass mangelnde Rückkopplung das Hauptkriterium ist, an welchem das Kind das Belebte vom Unbelebten unterscheiden lernt. Aus der Tatsache, dass das Kind das lebende Objekt dem unbelebten vorzieht, ergibt sich, dass diese Rückkopplung ein befriedigendes Erlebnis sein muss« (ebd., S. 15).
Unsere smarten Geräte sind mit immer perfekterer, zum Dialog fähiger und auffordernder künstlicher Intelligenz ausgestattet, sodass diese Unterscheidung immer schwerer fällt. Zuletzt möchte ich hier noch das Konzept des Rahmens erwähnen, wie es von José Bleger für die psychoanalytische Situation ausgearbeitet wurde. Der Rahmen ist für ihn der Nichtprozess, innerhalb dessen sich der psychoanalytische Prozess abspielt. »Die früheste psychische Struktur und Abhängigkeit des Patienten können nur innerhalb des Rahmens des Analytikers analysiert werden. Daher sollte dieser weder mehrdeutig noch veränderlich sein, noch sollte man ihn verändern« (Bleger, 1993, S. 279). John Churcher weitet diesen Gedanken auf unser Alltagsleben aus: 167
Franz Oberlehner
»Meiner Ansicht nach impliziert Blegers Sichtweise, dass wir dazu neigen, eine symbiotische Beziehung zu sämtlichen Invarianten herzustellen, die wir in unserem Körper oder in der übrigen Welt entdecken und an die wir uns anpassen; dies ist nicht nur im psychoanalytischen Rahmen, sondern auch im Alltagsleben der Fall. Wo immer wir etwas Stabiles, Gesichertes, Konstantes finden, erscheint es uns früher oder später als ›selbstverständlich‹; ein primitiver Teil der Psyche geht eine stumme, verborgene symbiotische Beziehung zu den Invarianten ein« (Churcher, 2016, S. 78, Herv. i. O.).
So wie Luft und Boden, soziale und kulturelle Umgebung zwar ständig da sind, wir aber ihr Vorhandensein als unabdingbare Bedingung unserer Existenz meist erst bei ihrer Veränderung oder Abwesenheit wahrnehmen, so ist es auch mit der Grundausstattung der Infosphäre: Erst wenn das Telefon nicht mehr funktioniert, erst wenn es keine Verbindung zu einem Server gibt oder das Navigationsprogramm ausfällt, merken wir, dass wir in einer künstlichen Welt leben.
Vier Argumente zur neuen Qualität der Augmentation Mit dem Smartphone haben wir uns eine Prothese geschaffen, die in ihrem Potenzial, die Grenze zwischen Innen und Außen zu verwischen und neue Realitäten zu schaffen, mit früheren (prothetischen) Errungenschaften kaum zu vergleichen ist. Ich will versuchen, noch einige weitere Argumente anzuführen, die dafürsprechen, dass wir es hier tatsächlich mit einer neuen Qualität zu tun haben, die einen disruptiven Umbruch auch in unserem Wirklichkeitssinn mit sich bringt. 1. Man könnte argumentieren, dass das Smartphone sich in die Reihe bisher erfundener Medien einreiht, mit denen wir unsere Sinne immer weiter in die Welt ausdehnen, dass es sich also nicht grundsätzlich von Brief, Zeitung, Telefon und Fernsehgerät unterscheidet. Dem ist entgegenzuhalten, dass die neue Technologie uns in bisher nicht gekanntem Ausmaß erlaubt, die Getrenntheit von unseren wichtigsten Objekten zu verleugnen beziehungsweise mit ihnen in einer von der Realität weniger gebremsten Weise zu verschmelzen. Ein Student aus einem südasiatischen Land, der sich wegen Problemen mit einer Abschlussarbeit an mich gewandt hatte, erzählte mir auch immer wieder von seiner dort lebenden Freundin. Erst allmählich begriff ich, dass 168
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er diese Frau noch nie persönlich getroffen hatte, sie aber für einander in einer Intensität präsent waren, wie es in herkömmlichen Beziehungen nicht möglich gewesen wäre. Das ging so weit, dass er merkte, wenn sie unruhig schlief und schlecht träumte, und ihre Selbstgespräche mithörte; sie war unglücklich verheiratet und ihr Mann bekam von der Verbindung zu meinem Klienten nichts mit. Wenn der Student mal einen Freund in einer anderen europäischen Stadt besuchen wollte, erhob sie Einspruch, weil er dann unter Umständen nicht ständig online wäre. Natürlich gibt es für solche Konstellationen immer auch individuelle prädisponierende und unbewusste Zusammenhänge. Aber das Phänomen als Allgemeines hat schon einen Namen: ambient intimacy. Man kann mit Objekten in einer Regelmäßigkeit und Intimität verbunden (sein und) bleiben, die sich über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinwegsetzt. Nicht nur bremsen die vorhandenen, durch die Realität von Raum und Zeit gezogenen Grenzen zu unseren wichtigsten Anderen unsere Verschmelzungsfantasien viel weniger, wir werden auch für gottgleiche Akteure immer durchsichtiger. Solange wir ein Mobiltelefon in der Tasche haben, wird lückenlos gespeichert, wo wir uns aufhalten und mit wem wir worüber kommunizieren. Das große Ausspionieren tritt uns natürlich nicht nur in Gestalt der Geheimdienste und des Überwachungsstaates entgegen, sondern meist als ständig zu Diensten stehende Abnehmer von lästigem Aufwand, die uns besser kennen als wir uns selbst. Wir haben es mit einer überaus anschmiegsamen Technologie zu tun, die die Grenze zwischen Innen und Außen deutlich durchlässiger werden lässt. Diese mächtigen Gegenüber bleiben selbst im Schatten, können alles durchdringen und sind ihrerseits undurchdringlich für uns – Eigenschaften, die ehedem nur Göttern zukamen. Diese Götter schließen nicht nur aus unserem Kaufverhalten und den Suchbegriffen, die wir im Internet benutzen, auf unsere Einstellungen. Sie haben auch direkten Zugriff auf unser Innenleben. Dazu arbeiten sie vor allem mit Stimmenanalyse und Gesichtserkennung. Sie werten also aus, nicht was, sondern wie wir mit Siri, Alexa usw. reden und wie wir dabei (aus-)schauen/blicken. 2. Man könnte argumentieren, das Smartphone ersetze alte Autoritäten: Wie man früher einen Lehrer oder ein Buch befragte, so macht man das heute eben mit dem Smartphone. Als Gegenargument kann man eine Reihe von Experimenten (Ward, 2013a; Wegner & Ward, 2013) anführen, in denen Psychologen gezeigt haben, wie sehr wir bei »diesem Befragen« 169
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mit dem Internet als Speichermedium verschmelzen. Das Internet unterscheidet sich von traditionellen Wissensquellen durch den schnellen Zugriff. Wenn wir in einem Lexikon etwas nachschlagen oder einen Freund etwas fragen, ist uns klar, dass die Information nicht von uns selbst kommt. Es existiert ein relativ hoher Suchaufwand, der beim Smartphone, bei dem es nur ein Antippen mit dem Finger braucht, wegfällt. Das Internet als »Welt-Weit-Netz« erscheint dabei als allwissend, überall verfügbar und unaufdringlich. Diese Eigenschaften verführen uns, gleichsam zu übersehen, dass wir »im Netz« auf fremdes Wissen zugreifen. Wir ordnen die Information automatisch eher unserem Gedächtnis und nicht einer externen Quelle zu. Versuchspersonen, die zu bestimmten Fragen eine OnlineRecherche machten, schätzen ihr Wissen auch in ganz anderen Gebieten wesentlich höher ein, als Versuchspersonen, die die gleichen Fragen mit einem Zugang zu denselben Inhalten in ausgedruckter Form beantworten konnten. »Das Netz« präsentiert sich also nicht als äußere Realität, indem es Informationen schnell, unsichtbar und ohne externe physikalische Mittel, wie sie der menschlichen Interaktion inhärent sind, liefert. Damit bringt »es« Menschen dazu, nicht mehr zwischen einer online gespeicherten Information und einer in ihrer eigenen Psyche gespeicherten unterscheiden zu können. Adrian Ward (2013b) hat das in einer Dissertation mit dem schönen Titel One With the Cloud untersucht. Er kreierte unter anderem eine Versuchsanordnung, bei der eine Gruppe die Suchmaschinenresultate mit Verspätung bekam. Ein Teil der Versuchspersonen bekam die Ergebnisse wie gewohnt sofort, der andere Teil musste eine Wartezeit von rund 25 Sekunden in Kauf nehmen. Dadurch verschwanden die Anzeichen von Selbstüberschätzung wieder und die Versuchspersonen aus der »verzögert informierten« Gruppe realisierten, dass sie die Antwort nicht kannten und demnach »das« Wissen aus einer externen Quelle stammen musste. 3. Man könnte argumentieren, das Smartphone schmiege sich an den Körper an wie andere Objekte auch, die für Erwachsene ähnliche Funktion haben wie Übergangsobjekte für kleine Kinder. Die schier unzertrennliche Verbindung der meisten Zeitgenossen mit dem Taschentelefon, die Unruhe, die sie befällt, wenn sie es nicht eingesteckt haben oder es abgeschaltet ist, unterscheide sich nicht wesentlich von jener zu anderen geliebten leblosen Objekten, die in der Fantasie ein auf uns bezogenes Eigenleben führen. Dem kann man entgegenhalten, dass die zahlreichen Programme, mit denen wir mittels Smartphone und anderen Rechnern kommunizieren, 170
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von sich aus (aktiv) wie lebende Objekte an uns herantreten. Die bereits zitierte Sherry Turkle spricht vor allem im Zusammenhang mit Computerspielen von »relationalen Artefakten«. Bei vielen dieser Spiele kann »der User« in unterschiedlichste »Identitäten« – sprich Avatare – schlüpfen, auch in mehrere gleichzeitig. Er spielt mit anderen Avataren oder gegen sie, wobei er nicht weiß, ob sich »hinter« ihnen reale Menschen oder computergenerierte Algorithmen verbergen. Es sind »rechnergestützte Objekte«, die dabei eine emotionale Reaktion auslösen und ein (menschliches?) Gefühl von (zwischenmenschlicher?) Beziehung evozieren. Die Frage, ob diese Objekte »wirklich« wissen und/oder fühlen, wird durch ein wachsendes Gefühl der Verbundenheit mit diesen Objekten ersetzt. Sherry Turkle nennt diese Objekte, »die wir als verwandte ›Andere‹ erleben und die damit unsere evolutionären Reaktionen auf Interaktivität aktivieren«, »relationale Artefakte« (Turkle, 2010, S. 78). Sie verweist in diesem Zusammenhang immer wieder auf den nur scheinbar paradoxen Umstand, dass die Humanisierung der Maschinen mit der Verdinglichung der Menschen einhergeht. Einerseits schaffen es relativ primitive Produkte wie das Tamagotchi durch bestimmte Eigenschaften, ein Bindungsgefühl hervorzurufen und als schmerzempfindliche Wesen, als Subjekte, wahrgenommen zu werden. Andererseits passen sich die Menschen in ihrer Sprache an »die Programme« an. So kommt Turkle an einen Punkt »verstörender Symmetrie: Wir scheinen fest entschlossen, Objekten menschliche Eigenschaften zu verleihen und begnügen uns selbst damit, einander wie Objekte zu behandeln« (Turkle, 2012, S. 17f.). Nach Reimut Reiche entsprechen diejenigen Gefühle, die bei Sherry Turkle von relationalen Artefakten ausgelöst werden, genau jenen, die bei Winnicott zwei oder drei Jahre alte Kinder gegenüber Übergangsobjekten haben. Dabei mag Reiche sich nicht festlegen, ob »jeweilige User« gerade auf dieses frühkindliche Stadium regredieren oder »in der digitalen Kultur einen Realitätsbegriff aus(bilden), der nicht mehr so scharf auf die Dichotomie von ›wirklich‹ und ›unwirklich‹ angewiesen ist« (Reiche, 2013, S. 365f.). Klar erscheint mir jedenfalls: Wenn solche Objekte bei durchschnittlichen Konsumenten Gefühle erwecken können, wie sie sonst Kleinkinder gegenüber Übergangsobjekten haben, dann bedeutet das, dass auch der von mir vorgestellte Wirklichkeitssinn wesentlich betroffen ist; vereinfacht, weil der Realitätsbegriff (dadurch/jetzt) auch »im Normalbereich« deutlich unschärfer wird. »In traditionellem Sinne« hätte Winnicott wohl dem Analysanden, der die mit dem Übergangsobjekt ver171
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bundene Illusion für real hält, eine gravierende Pathologie attestiert. Und vielleicht hat Reimut Reiche ja auch Unrecht. Wie auch immer, das ist nicht der »Grund«, warum wir uns als Smartphone-User nicht für verrückt halten müssen. Soziale Geschöpfe aus der elektronischen Welt sind zwar ebenso leblos wie herkömmliche Übergangsobjekte, haben aber zugleich »wirklich« jene magischen Eigenschaften, mit denen sie uns in ihren Bann zu ziehen suchen. Hilft das Übergangsobjekt im Sinne Winnicotts dem Kind, von der magisch omnipotenten Lenkung zur Lenkung durch Manipulation überzugehen, so erzeugen die »relationalen Artefakte« einen Sog in die andere Richtung. Sie versuchen unsere Fantasien von Allmacht nicht zu desillusionieren, sondern ihnen im Gegenteil Realitätscharakter zu verleihen, und erschweren damit die Realitätsprüfung. Das hat einerseits unmittelbar mit unserem Körper zu tun, wie ich es bezüglich der Realitätsprüfung (Freud) und dem Mechanismus zur Kontingenzdeckung (Gergely und Watson) schon erwähnt habe. Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Subjektivem und Objektivem, spielt sich an unserer leiblichen Grenze ab. Da das Smartphone manchmal geradezu perfekt kontingent, meistens hochkontingent reagiert, wird es entweder als zum eigenen Selbst gehörig oder als primäres Objekt, das uns zugewandt ist, erlebt. Hinzu kommt, dass die relationalen Artefakte mittlerweile wirklich mit uns in Dialog treten können, das heißt, eine Reziprozität zustande bringen, die zum Beispiel bei René Spitz noch als Kennzeichen des Lebenden gilt. Dialogfähigkeit und hohe Kontingenz der Reaktion führen offensichtlich auch dazu, dass Informationstechnologie pädagogisches Verhalten simulieren kann. Das heißt: Entweder halten wir die dargebotene Information für unsere eigene oder wir nehmen sie mit dem Vertrauen in die Autorität primärer Bezugspersonen auf. In dieser Konstellation empfangen, glauben und übermitteln wir bereitwillig Nachrichten, die uns normalerweise kalt ließen. Big Data kann kontrollieren, was uns interessiert, und steuern, wie wir unsere Wünsche erfüllen (vgl. Fonagy, 2016). 4. Man könnte argumentieren, die Infosphäre als Lebenswelt unterscheide sich nicht grundsätzlich von der industrialisierten Gerätewelt, die schon Günther Anders analysierte, und dass der eigentliche disruptive Bruch schon früher stattgefunden habe. Dem kann man entgegenhalten, dass die computergestützte Informations- und Kommunikationstechnologie unsere Wirklichkeit noch um einiges radikaler verändert als frühere Brüche, indem die analoge Welt nach und nach von der Infosphäre gleichsam aufgesaugt wird. Die daraus entwickelte Technologie bringt uns dazu, 172
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die Welt in Informationsbegriffen zu interpretieren, und verändert auf diesem Wege das, was wir für wirklich halten. In einer solchen Welt sind skurrilerweise Daten und Programme gleich beschaffen, es besteht kein Unterschied zwischen dem Werkzeug und der Ressource; so, als stünden für den Transport von Wasser Pumpen und Rohrleitungen aus Eis zur Verfügung: H2O ist es auf jeden Fall (vgl. Floridi, 2015, S. 64f.). Der Sog und die Macht dieser Technologie können meines Erachtens aus einer Erzählung in der Biografie von Steve Jobs illustriert werden, der tief gerührt von einer Geschichte von Michael Noer auf forbes.com war: »Noer las einen Science-Fiction-Roman auf seinem iPad, als er in einer ländlichen Gegend nördlich von Bogotá in Kolumbien auf einer Milchfarm weilte. Ein armer sechsjähriger Junge, der dort die Ställe ausmistete, näherte sich ihm. Neugierig, was passieren würde, gab ihm Noer das Gerät. Ohne jede Anleitung und ohne je zuvor einen Computer gesehen zu haben, begann der kleine Junge das Gerät intuitiv zu bedienen. Er wischte über den Bildschirm, startete Apps und spielte ein Flipperspiel. ›Steve Jobs hat einen gewaltigen Computer entwickelt, den ein Sechsjähriger, der weder lesen noch schreiben kann, ohne jede Anleitung benutzen kann‹, schrieb Noer. ›Wenn das keine Magie ist, dann weiß ich es auch nicht‹« (Isaacson, 2011, S. 583).
Das trifft das Wesentliche: Die Welt wird dadurch magischer, erscheint als ein Lebendiges. Digital Natives suchen angesichts eines Bildschirmes nicht mehr nach der Tastatur, sondern tippen ihn an oder wedeln mit einem Smartphone davor herum, in der Erwartung, dass es zu einer Kommunikation kommt. Das geht mitunter mit dem Glauben einher, der Macht dieser Technologie seien keine Grenzen gesetzt. Floridi nennt diesen Effekt, dass uns die Welt der Infosphäre als ein Lebendiges erscheint, ein »ALive« und führt aus: »Paradoxerweise bringt uns eine solche Auffassung in größere Nähe zu den alten Kulturen, für die die Natur in allen ihren Aspekten von inneren Strebekräften getragen war« (Floridi, 2015, S. 74). Indem die Wirklichkeit zur Infosphäre wird, werden Gegenstände und Prozesse entmaterialisiert in dem Sinne, dass sie trägerunabhängig sind (zum Beispiel eine Musikdatei – man geht davon aus, dass sie sich standardmäßig klonen lässt). Damit ändert sich auch das Existenzkriterium (ebd., 75ff.). Es wundert daher nicht, dass durchaus ernst zu nehmende Physiker wie der bereits zitierte Mark Tegmark (2017, S. 104) betonen: »Intelligenz benötigt weder Fleisch und Blut noch Kohlenstoffatome.« Ein »Spezieist« 173
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sei, wer bestimmte Lebensformen als unterlegen bezeichnet, »nur weil ihre Grundlage Silizium ist und nicht Kohlenstoff« (ebd., S. 53). Ganz selbstverständlich geht man dann auch von der zukünftigen Möglichkeit eines »Hochladens unseres Intellektes auf Maschinen« (ebd., S. 231) aus. Ich hoffe, mit diesen Punkten die neue Qualität der Augmentation nachvollziehbar belegt zu haben. Die Erweiterung unseres körperlichen Daseins mit überaus anschmiegsamer Computertechnologie verändert die Grenze unseres Körper-Ichs, die unbewusste automatische Bestimmung von Innen und Außen und damit unseren Wirklichkeitssinn in wesentlich größerem Ausmaß, als es schon durch die Verwendung traditioneller Werkzeuge und Prothesen der Fall war. Literatur Anders, G. (1956). Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Band 1. München: C. H. Beck. Biocca, F. (1997). The Cyborg’s Dilemma: Progressive Embodiment in Virtual Environments. Journal of Computer-Mediated Communication, 3(2), JCMC324. https://doi. org/10.1111/j.1083-6101.1997.tb00070.x Björklind, C. (2014). Die Psychoanalyse und die neuen Technologien. Die Zukunft der Redekur und des Körperichs im digitalen Zeitalter. https://www.epf-fep.eu/ger/ article/die-psychoanalyse-und-die-neuen-technologien-die-zukunft-der-redekur -und-des-korperichs-im-digitalen-zeitalter (22.08.2022). Bleger, J. (1993 [1967]). Die Psychoanalyse des psychoanalytischen Rahmens. Forum der Psychoanalyse, 9, 268–280. Churcher, J. (2016). Der psychoanalytische Rahmen, das Körperschema, Telekommunikation und Telepräsenz: Implikationen von José Blegers Konzept des »encuadre«. Psyche – Z Psychoanal, 70, 60–81. Ferenczi, S. (1913). Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. In S. Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse, Bd. 1 (S. 148–163). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag. Fonagy, P. (2016). Vorwort. In A. Lemma & L. Caparrotta (Hrsg.), Psychoanalyse im Cyberspace? Psychotherapie im digitalen Zeitalter. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Freud, S. (1911b). Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. GW VIII, 230–238. Freud, S. (1915c). Triebe und Triebschicksale. GW X, 210–232. Freud, S. (1916–17f ). Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre. GW X, 412–426. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 421–506. Floridi, L. (2015). Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert. Berlin: Suhrkamp. Gergely, G. (2002). Ein neuer Zugang zu Margaret Mahler; normaler Autismus, Symbiose, Spaltung und libidinöse Objektkonstanz aus der Perspektive der kognitiven Entwicklungstheorie. Psyche – Z Psychoanal, 56, 809–838.
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Biografische Notiz
Franz Oberlehner, Dr., ist klinischer Psychologe, Leiter der psychologischen Studierendenberatung Wien und Psychoanalytiker in freier Praxis. Er ist IPV-Lehranalytiker im Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse und hat dort von 2013 bis 2015 die Ausbildungskommission geleitet. In der Wiener Psychoanalytischen Akademie unterrichtet er vor allem in der Ausbildung zur psychoanalytisch orientierten Psychotherapie und zu kulturtheoretischen und sozialpsychologischen Themen, zu denen er auch immer wieder Zeitschriftenveröffentlichungen beiträgt.
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Unser mediales Spiegelbild Der Psychoanalytiker als Held der Fernsehserie In Therapie Andreas P. Herrmann
Zwischen dem Medium des Films und der Psychoanalyse besteht eine besondere Affinität, die immer wieder auf die angebliche strukturelle Nähe zwischen Film und Traum zurückgeführt wurde (Zeul, 1994, S. 978). Es ist daher keine Überraschung, dass viele Psychoanalytiker:innen ihre Erfahrung mit unbewussten Prozessen dazu genutzt haben, Filme zu interpretieren, was sich in einer inzwischen unübersehbar großen Zahl von Publikationen niedergeschlagen hat (z. B. Fellner, 2006; Hamburger, 2018). Aber auch umgekehrt gibt es viele sehenswerte Filme, die sich mit psychoanalytischen Behandlungen oder der Figur eines Psychoanalytikers bzw. einer Psychoanalytikerin auseinandersetzen. Die ab Februar 2021 auf Arte gezeigte französische Serie En thérapie wirft erneut die Frage auf, wie die Psychoanalyse im Film gezeigt wird und in welches mediale Spiegelbild wir als Analytiker:innen dabei blicken. Obwohl in einzelnen Psychoanalysefilmen auch psychoanalytische Behandlungstechniken dargestellt wurden – beispielsweise kommt der Analyse eines Traumes in Hitchcocks Spellbound (1945) eine zentrale Bedeutung zu –, geht es meist weniger darum zu zeigen, wie psychoanalytische Prozesse funktionieren, sondern eher um Themen von allgemeinem Unterhaltungswert: Bei Eine Couch in New York (Un divan à New York, Akerman, 1996) handelt es sich um eine Liebesgeschichte, bei Reine Nervensache (Analyze this, Ramis, 1999) um eine Kriminalkomödie und bei Couchgeflüster (Prime, Younger, 2005) um die Darstellung einer ödipalen Problematik. Auch wenn die Figur eines Analytikers beziehungsweise einer Analytikerin dabei zentral ist, steht die Psychoanalyse hier vor allem im Dienst der Dramaturgie des Films. Es ist schwer vorstellbar, dass solche Filme die Zuschauer:innen dazu motivieren 177
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könnten, sich wegen eigener Schwierigkeiten selbst an eine Psychoanalytiker:in zu wenden. Der Fernsehserie In Therapie liegt jedoch ein anderes Konzept zugrunde und sie stellt höhere Ansprüche. Hier wird ein Psychoanalytiker gezeigt, der sich seinen Patient:innen von Beginn an einfühlsam und nachdenklich zuwendet. Die zwei französischen Regisseure, Eric Toledano und Olivier Nakache, die durch den Film Ziemlich beste Freunde (Intouchable, 2011) auch in Deutschland bekannt geworden sind, knüpfen mit diesem Format an die israelische Fernsehserie BeTipul (2005–2008) an, die sehr erfolgreich war und auch für andere Länder adaptiert wurde, unter anderem für die bekannte amerikanische Serie In Treatment (2007–2010). Der Anstoß für sie, diese Serie zu drehen, war die Erschütterung, die der islamistische Terroranschlag auf das Pariser Konzerthaus Bataclan und die umgebenden Restaurants und Cafés in der französischen Gesellschaft am 13. November 2015 ausgelöst hatte. Bei diesem in Frankreich beispiellosen Anschlag starben 128 Menschen, hunderte wurden verletzt, viele davon schwer. In Therapie handelt davon, dass sich verschiedene Personen, die von diesem Anschlag mehr oder weniger betroffen waren, wenige Tage danach an einen Psychoanalytiker wenden, der ganz in der Nähe des Bataclan im XI. Arrondissement praktiziert. Damit wirft diese Serie nicht nur die Frage auf, ob eine Person mithilfe eines Psychoanalytikers oder einer Psychoanalytikerin ihre schwere Traumatisierung überwinden kann, sondern sie thematisiert auch den Schockzustand einer ganzen Nation, die von einem Terroranschlag getroffen wurde. Hier soll untersucht werden, wie in dieser Fernsehserie mit diesen Traumatisierungen umgegangen wird. Dazu werde ich zuerst auf die Grundlinien der einzelnen Behandlungen eingehen, um im zweiten Schritt darauf zu fokussieren, welches Bild von der Psychoanalyse und der Person des Psychoanalytikers hier vermittelt wird.
1 An jedem Wochentag kommt eine bestimmte Patientin oder ein Patient zur gleichen Uhrzeit in die Praxis von Dr. Philippe Dayan (Frederic Pierrot), am Freitag geht er selbst zu seiner Supervisorin, um über seine Behandlungen zu sprechen. Jede der 35 knapp halbstündigen Folgen zeigt eine fiktive analytische Sitzung. Außer gelegentlichen Einblendungen, die zumeist das Privatleben des Analytikers betreffen, liegt der Fokus der Serie ganz auf dem, was zwischen den Patient:innen und ihrem Psychoanalytiker 178
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geschieht. Dayan bietet ihnen an, unzensiert zu erzählen, was sie gerade beschäftigt, und hört dabei offen, zugewandt und ohne zu werten zu. Gelegentlich teilt er ihnen mit, wie er sie oder ihn verstanden hat, und stellt Zusammenhänge her. Daraus entwickelt sich eine spannende emotionale Dynamik, die nicht nur in den teilweise sehr dichten Dialogen zum Ausdruck kommt, sondern sich auch in den Gesichtern, Blicken und Gesten der Beteiligten abbildet. Diese im Film ungewöhnliche und fast ausschließlich auf das Geschehen in der Stunde konzentrierte Form der Darstellung löst bei den Zuschauer:innen, die die Entwicklung der Behandlungen von Sitzung zu Sitzung mitverfolgen, starke Gefühle aus. Sie können sich dem Geschehen im Behandlungszimmer, das sie auf dem Bildschirm hautnah mitverfolgen, kaum entziehen. Dabei verlangt die Komplexität dessen, was zwischen Patient:in und Analytiker geschieht, den Zuschauer:innen einiges an emotionaler Beteiligung, aber auch an kognitivem Verständnis ab. Dennoch war diese anspruchsvolle und mit sehr guten Schauspielern besetzte Serie vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland überaus erfolgreich. Im April 2022 haben die Regisseure eine zweite Staffel dieser Serie herausgebracht, die in der Arte-Mediathek bis September abrufbar war. Weil es mir vor allem um die Darstellung der seelischen Folgen der Traumatisierung durch die Terroranschläge und ihre Therapie geht, werde ich mich hier überwiegend auf die erste Staffel beziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei aller Sorgfalt der Annäherung an die analytische Situation die filmische Wiedergabe die analytischen Begegnungen schon aus zeitlichen, aber vor allem aus Gründen der Darstellbarkeit nicht eins zu eins abbilden kann. Es werden kaum Pausen zugelassen, wie sie üblicherweise zur Verarbeitung des Erlebens in der Stunde benötigt werden, und die Entwicklung der Dialoge wirkt, als wären die Behandlungen quasi im Zeitraffer verdichtet worden. Dennoch entsteht ein gut nachvollziehbarer, insgesamt überzeugender Eindruck der analytischen Situation – und bei den Zuschauer:innen die für eine gute Serie typische Neugier auf die nächste Folge. Wer sind die Protagonisten? Ariane Collini (Melanie Thierry), eine attraktive junge Chirurgin, ist bereits seit einem Jahr bei Phillipe Dayan in Therapie, offenbar wegen Konflikten in ihrer Liebesbeziehung. Als sie von dem Anschlag gehört hatte, fuhr sie noch nachts in das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, weil ihr klar war, dass sie dringend gebraucht wurde. Sie operierte dann ohne Pause 48 Stunden lang und kommt am Montag völlig erschöpft in ihre Sitzung, auf die sie zwei Stunden in der Kälte gewartet 179
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hatte. Wie sich herausstellt, hat Ariane das, was sie in dieser Nacht in der Klinik erlebt hat, dazu motiviert, ihrem Analytiker zu gestehen, dass sie sich bereits in der ersten Sitzung in ihn verliebt hatte. Nun will sie ihm die erotischen Fantasien, die sie ihm gegenüber entwickelt hat, nicht länger verheimlichen. Auf verführerische Weise teilt sie ihm mit, wie sie nach einer anstrengenden Operation auf die sexuellen Avancen eines Pflegers eingegangen ist, und prüft dabei sehr genau, was ihre Schilderungen bei Dayan auslösen. Den Zuschauer:innen entgeht nicht, dass Ariane im Verlauf der Behandlung zunehmend registriert, dass ihr Analytiker im Umgang mit ihren Liebeswünschen nicht sattelfest ist und sie als Frau zu begehren beginnt. Dayan gerät auf eine »slippery slope«, kann die Abstinenz immer weniger gut einhalten und nähert sich seiner Analysandin erotisch an, obwohl er mit Esther, seiner Supervisorin, darüber gesprochen und sie ihn rechtzeitig vor dieser Gefahr gewarnt hat. In den weiteren Folgen schwankt Dayan Ariane gegenüber zwischen einer angemessenen therapeutischen und einer offen verführerischen Haltung, in der seine eigene Bedürftigkeit zunehmend spürbar wird. Seine intelligente Analysandin erkennt, dass er im Begriff ist, das Schicksal seines Vaters zu wiederholen, seine Frau zu verlassen und sich eine jüngere Geliebte zu nehmen, was er ihr bereits verraten hatte, und teilt ihm das auch mit. Aber Dayan ist blind in seinem sexuellen Begehren. Er übergeht Arianes Signale, mit denen sie ihm deutlich zu machen versucht, dass es sich um ein Übertragungsgeschehen handelt und sie seine Patientin bleiben möchte. Als er sie schließlich zu Hause besucht und sexuell mit ihr verkehren möchte, bekommt er einen Angstanfall und versagt. Die vorangegangenen Auseinandersetzungen mit seiner Supervisorin legen den Schluss nahe, dass sich darin sein analytisches Überich zu Wort gemeldet und ihm die sexuelle Befriedigung unmöglich gemacht hat. Nach dieser Szene sieht man ihn verloren und etwas orientierungslos durch Paris laufen. Welche Folgen seine Abstinenzverletzung für Ariane haben mag, die schon mit 15, ein Jahr nach dem Tod ihrer krebskranken Mutter, auf den ihr Vater mit einer starken Depression reagiert hatte, von einem 40-jährigen Freund ihrer Eltern verführt worden war, wird nicht mehr gezeigt. Erstaunlicherweise wurde diese Abstinenzverletzung des Analytikers von drei Journalistinnen führender deutscher Zeitungen (Adorjan, 2021; Witzek, 2021; Husmann, 2021), die die Serie In Therapie rezensiert haben, überhaupt nicht erwähnt. Man kann sich fragen, ob sie mit ihrem Schweigen unbewusst für die Erfüllung der Triebwünsche des analytischen Paares Partei ergriffen und dabei außer Acht gelassen haben, wie schädigend sich 180
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eine solche Grenzverletzung auf eine Patientin auswirkt. Cecil Loetz (2021, S. 1082) hat in ihrer Film-Revue völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Dayan deswegen aus der Profession der Psychoanalytiker:innen ausgeschlossen werden müsste. Wir blicken hier in einen Spiegel, der uns einen Analytiker zeigt, der die Verführungsversuche seiner attraktiven Patientin aktiv beantwortet und die Therapie dadurch zum Scheitern gebracht hat. Auch wenn die Zuschauer:innen einbeziehen würden, dass der Terroranschlag die üblichen zwischenmenschlichen Grenzen gesprengt hat und sich das auch auf diese analytische Beziehung ausgewirkt haben könnte, wäre vorstellbar, dass diese Therapie auch ohne die dadurch ausgelöste Erschütterung der beiden Protagonist:innen entgleist wäre. Adel Chibane (Reda Kateb) kommt dienstags zu Dayan. Er arbeitet als Polizist in der Spezialeinheit, die das Bataclan unter Lebensgefahr gestürmt hatte, um die mörderische Geiselnahme der Terroristen gewaltsam zu beenden. Ein Kollege hatte ihm nahegelegt, einen Psychoanalytiker aufzusuchen, nachdem er bemerkt hatte, dass Adel nicht mehr so gut »funktionierte« wie vor diesem Einsatz. Dayan versteht es sehr geschickt, mit ihm in Kontakt zu kommen, und benennt seine Schwierigkeiten als Panikattacken, was Adel spürbar trifft, aber auch dazu motiviert, wiederzukommen. Adel bringt seinen Widerstand gegen die Behandlung vor allem dadurch zum Ausdruck, dass er die liberale bürgerliche Haltung seines Analytikers scharfsinnig und treffend angreift, wovon sich Dayan anscheinend nicht allzu sehr beeindrucken lässt. Im Verlauf der Therapie stellt sich heraus, dass Adel schwer traumatisiert ist. Als er ein kleines Kind war, ermordeten Terroristen bei der Hochzeit seiner Tante in Algerien fast die ganze Familie, nur seine Eltern und er konnten entkommen. Sie verließen daraufhin ihre Heimat und ließen sich in Frankreich nieder. Nachdem Adel erkannt hat, dass sein Einsatz im Bataclan die Erinnerungen an das damalige Massaker wachgerufen hat, verlässt er seine Familie und beginnt eine kurze Affäre mit Ariane, die er vor der Tür seines Analytikers kennengelernt hatte, weil er »versehentlich« einen Tag zu früh in seine Stunde gekommen war. Dayan reagiert auf die Schilderungen der Affäre seiner beiden Patient:innen mit starker Eifersucht, die er nur mit Mühe vor ihnen verbergen kann. Schließlich kommt es in der Therapie von Adel zu einer folgenschweren Wendung. Um den tiefen Scham- und Schuldgefühlen seines von ihm als passiv erlebten Vaters, der sich zeitlebens Vorwürfe für sein vermeintlich feiges Verhalten gemacht hatte, etwas entgegenzusetzen, beschließt Adel, nach Syrien zu gehen und gegen den »islamischen Staat« zu kämpfen. Ver181
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geblich versucht sein Analytiker, ihn von diesem plötzlichen Entschluss zu handeln abzubringen. Kurz nachdem er in Syrien angekommen ist, wird Adel zum tödlichen Opfer eines terroristischen Anschlags, als er seine Kameraden vor den Angreifern schützen will. Dayan geht auf die Trauerfeier, trifft dort auf Adels Kollegen und dessen Vater, begegnet aber auch Ariane, was weiter dazu beiträgt, das therapeutische Setting mit ihr zu untergraben. Wenige Tage später kommt Adels Vater in seine Praxis und macht ihm massive Vorwürfe, seinen Sohn mit seiner Therapie in den sicheren Tod geschickt zu haben. In dieser Folge, eine der bewegendsten der ganzen Serie, hält Dayan bemerkenswert gut stand, obwohl er selbst mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Dass das Aufdecken von Adels Traumatisierung zu diesem selbstdestruktiven Agieren geführt hat, wirkt zunächst plausibel. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Patient, der damit begonnen hat, sich in der Therapie seiner Traumatisierung zu stellen, auf diese Weise agiert. Auch wenn wir uns dessen letztlich nicht sicher sein können, würden wir eher davon ausgehen, dass sich die mit einer solchen Einsicht verbundene innere Erschütterung hemmend auf derartige Handlungsimpulse auswirkt. Wir sehen hier einen Analytiker, der mit einem traumatisierten Patienten gute therapeutische Arbeit gemacht hat, die sich durch das Agieren seines Patienten jedoch unerwartet und plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt zu haben scheint. Camille Berthier (Céleste Brunnquell) ist eine 16-jährige Leistungsschwimmerin, die sich bei einem Fahrradunfall beide Arme gebrochen hat. Da sich ihre Krankenversicherung weigert, die Kosten für ihre ärztliche Behandlung zu übernehmen, weil sie diesen Unfall in suizidaler Absicht herbeigeführt haben könnte, braucht sie ein ärztliches Attest. Um dies zu klären, versucht Dayan herauszufinden, was mit ihr zum Zeitpunkt des Unfalls los war, wovon sie zunächst überhaupt nichts wissen will. Er geht sehr einfühlsam mit ihrer frühadoleszenten Widerständigkeit um und gewinnt allmählich ihr Vertrauen, weil sie spürt, dass er sich wirklich für sie interessiert. Als Camille einmal vom Regen völlig durchnässt in ihre Stunde kommt und ihren Analytiker mit ausgestreckten Armen dazu auffordert, sie auszuziehen, weil sie das mit ihren beiden eingegipsten Armen selbst nicht kann, geht Dayan kreativ und einfühlsam mit ihr um. Er kommt dieser grenzüberschreitenden Aufforderung jedoch nicht nach, sondern bezieht spontan seine Frau ein, die sich dieses Problems annimmt und ihr trockene Kleider ihrer Tochter gibt. Dayan deutet Camille, dass sie ihm auf diese Weise mitgeteilt hat, dass in ihrer Biografie schon einmal die Regeln 182
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verletzt worden seien. Diese Szene wurde von Frank Dammasch (2022, S. 333ff.) in einem Aufsatz zum 100. Geburtstag Alfred Lorenzers als Beispiel für gelungenes szenisches Verstehen detailliert interpretiert. Die Deutung ihres Analytikers führt dazu, dass ihm Camille mitteilen kann, dass es mit ihrem Schwimmtrainer, bei dem sie als Babysitterin seiner Tochter Familienanschluss gesucht hatte, zu einer sexuellen Beziehung gekommen war. Als die Frau ihres Trainers das bemerkt, wird sie von dieser weggeschickt und verunglückt anschließend. In den folgenden Stunden vertieft sich die Analyse ihres familiären Hintergrunds, es kommt zu Konflikten zwischen Camille und ihrer Mutter, die Dayan zur Fortsetzung der Finanzierung ihrer Therapie gewinnen kann, und schließlich zu einer Auseinandersetzung mit dem seit mehreren Jahren abwesenden Vater. Der Wendepunkt in dieser Behandlung besteht darin, dass Dayan mit dem unerwarteten realen Auftauchen des Vaters in einer Therapiestunde annehmend und zugleich abgegrenzt umgehen kann. Das ermöglicht Camille, ihren Vater zu entidealisieren und sich aus der inzestuösen Verstrickung mit ihrem Trainer zu lösen. Sie qualifiziert sich für die Olympiade, verabschiedet sich von ihrem Analytiker und zieht nach Marseille, wo sie eine neue Trainerin gefunden hat. Wir sehen hier einen kompetenten Analytiker, der seiner adoleszenten Patientin entscheidend weiterhelfen kann, weil er ihre innere Situation erfasst und sowohl mit den Folgen ihrer Broken-Home-Situation als auch mit dem Agieren ihrer Eltern gut umgehen kann. Hat das etwas mit den Anschlägen auf das Bataclan und seinen Folgen zu tun? Der Zusammenhang könnte darin bestehen, dass Camille durch diese Anschläge erschüttert und unbewusst auf ihre eigene, bisher verleugnete Traumatisierung gestoßen wurde, die zu ihrem Unfall, letztlich aber auch zu ihrer Bereitschaft beigetragen haben könnte, sich in ihrer Therapie ihrer inneren Situation zu stellen. Als sich im Verlauf der Behandlung ihre eigenen Schuldgefühle verringern, beginnt sie erstmals, Mitgefühl für die Opfer der Anschläge zu empfinden. Léonora (Clémence Poésy) und Damien Jeanfrais (Pio Marmai) kommen zu Dayan zur Paartherapie. Sie sind verheiratet und haben ein Kind, aktuell ist Léonora wieder schwanger, weiß aber nicht, ob sie das Kind bekommen will. Die destruktive Kollusion dieses Paares ist bemerkenswert, sie sucht die Freiheit, auch in einer Affäre mit ihrem Chef, während er sie vollständig zu kontrollieren versucht. Beide wollen den Analytiker auf ihre Seite ziehen, um die eigene Position zu behaupten. Auch hier leistet Dayan gute therapeutische Arbeit, obwohl dieses Paar alles versucht, ihn schei183
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tern zu lassen. Er deutet ihnen, dass sie den Dritten zwar brauchen, aber immer wieder ausschließen oder entwerten müssen, um ihre Beziehung aufrechterhalten zu können. Als er in einer Sitzung mit Léonora allein ist, weil ihr Mann zu spät kommt, gewinnt er Zugang zu den traumatischen Erfahrungen, die ihr Verhalten geprägt haben. Léonoras Vater wurde von einem Bus überfahren, als sie mit 13 Jahren mit ihm zum Waffelessen gegangen war. Dass das Paar ständig zwischen Annäherung und Trennung hin- und herschwankt, spiegelt sich auch in der Dynamik von Fortführung und Abbruchsdrohung ihrer Therapie wider. Dass Léonora in einer Sitzung eine Fehlgeburt erleidet und einen Blutfleck auf Dayans Couch hinterlässt, könnte in diesem Kontext als Reinszenierung ihrer früheren Traumatisierung verstanden werden. Ob es zu der angekündigten Scheidung des Paares kommen wird, bleibt bis zuletzt offen. Wir begegnen hier einem Therapeuten, der keine Scheu hat, sich auf eine schwierige Paardynamik einzulassen. Die Frage, wie viel diese Therapie dem Paar letztlich gebracht hat, lässt sich jedoch nicht klar beantworten. Aber auch hier geht es um die möglichen Folgen einer früheren Traumatisierung, die vor dem Hintergrund der Anschläge auf das Bataclan illustrieren, welche negativen Auswirkungen unverarbeitete traumatische Erfahrungen auf die spätere Beziehungs- und Bindungsfähigkeit haben können. Als Zuschauer:in kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Schwierigkeiten in dieser Paarbeziehung einiges mit Léonoras frühem Vaterverlust und den daraus entstandenen unbewussten Schuldgefühlen sowie ihren Impulsen zu tun haben, sich dafür selbst zu bestrafen. Philippe Dayan hatte den Kontakt zu Esther (Carole Bouquet) vor zehn Jahren abgebrochen, nachdem sie ihm als Supervisorin ein zu großes Bedürfnis nach Bestätigung bescheinigt hatte, was zur Folge hatte, dass ihm eine leitende Funktion in seinem Institut versagt geblieben war. Dass er sich jetzt wieder an sie wendet, überrascht sie. Er ist durch die Terroranschläge erschüttert, seine aktuellen Behandlungen machen ihm unerwartet stark zu schaffen und er ist in seiner privaten Lebenssituation verunsichert. Esther kommt über den Tod ihres Mannes, eines älteren und von ihr stark idealisierten Psychoanalytikers, der sie vor ihren Augen mit jüngeren Kolleginnen betrogen hatte, nicht hinweg. Sie ist seither nicht mehr in der Lage, als Analytikerin zu arbeiten, freut sich jedoch über Philippes Erscheinen, obwohl sie ihm zunächst eher kühl und abgegrenzt gegenübertritt. Rasch erfasst sie, dass es Philippe schwerfällt, seiner Patientin Ariane gegenüber abstinent zu bleiben, und konfrontiert ihn damit, was er nicht ertragen 184
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kann. Im weiteren Verlauf der Supervision wird er zunehmend ärgerlich auf sie und entwertet sie als Frau. Auch der Psychoanalyse und ihren »Regeln« gegenüber äußert er sich sehr kritisch und abwertend und greift in seinen Rundumschlägen auch Freud und Lacan an, auf deren Autorität er sich seinen Patienten gegenüber gelegentlich berufen hatte. In den weiteren Auseinandersetzungen mit Esther zeigt Philippe, der wütenden Angriffen seiner Patienten in seiner Rolle als Analytiker gut standhalten kann, wie aggressiv er selbst werden kann. Das supervisorische Setting wird dabei zunehmend zu einem therapeutischen. Philippe spricht jetzt mehr über seine private Situation, auf die seine Supervisorin durchaus eingeht, versucht allerdings auch, sie auf aggressive Weise aus der Reserve zu locken und dazu zu bringen, ihrerseits über ihre private Situation zu sprechen, was in einer Sitzung dazu führt, dass sie ihn hinauswirft. Dennoch geht er weiter zu Esther und sie ist auch dazu bereit, ihn mit seiner Frau zu einer Paarberatung zu sehen, die diese jedoch abbricht. Esther bleibt Philippe weiter zugewandt. Zuletzt warnt sie ihn abermals eindringlich aber vergebens davor, sich durch die sich anbahnende Affäre mit Ariane beruflich und privat zu ruinieren. Wer ist Dr. Philippe Dayan (Frederic Pierrot), der Analytiker, der im Zentrum dieser Serie steht? Dayan ist ein gut aussehender Mittfünfziger jüdischer Herkunft, dessen Praxis unmittelbar an die Wohnung der Familie grenzt, in der er mit seiner um einige Jahre jüngeren Frau und ihren beiden halbwüchsigen Kindern lebt. Das Ehepaar hat sich einander entfremdet, seine Frau beklagt, dass er sich nur noch für seinen Beruf interessieren würde und den Kontakt zu seinen Kindern verloren hätte. In seinem Verhalten ihr gegenüber wirkt Philippe viel weniger sympathisch als im Kontakt mit seinen Patienten. Seine Frau, die in Straßburg Philosophie unterrichtet, beginnt dort eine Affäre mit einem Abgeordneten, was Phillipe sehr trifft, aber nicht dazu führt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Seine abwehrende Haltung ändert sich auch nicht, nachdem sie ihre Affäre aufgegeben hat und wieder liebevoll auf ihn zugeht. Er bleibt ihr gegenüber aggressiv und verschlossen, übernachtet weiter auf seiner Analysecouch und teilt ihr trotzig mit, dass er mit einer Patientin etwas anfangen wolle. Seine Frau erkennt darin das Muster wieder, das auch bei ihrem Kennenlernen eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Sie sei damals orientierungslos gewesen und habe sich an ihn, den sie als reif und klug idealisierte, anlehnen können, was er gebraucht habe. An der verfahrenen Situation zwischen beiden, in der Philippe sein analytisches Wissen gekonnt zu Abwehrzwecken einsetzt, kann 185
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auch der Versuch eines Paargesprächs durch Esther nichts ändern. Als Analytiker scheint Dayan jedoch ganz anders zu sein. Seinen Patient:innen gegenüber ist er zugewandt, geduldig und einfühlsam. Wenn er ihnen sein analytisches Handwerkszeug erläutert, kommt er manchmal ins Dozieren. Er kann es gut aushalten, wenn er aggressiv angegangen wird, und schlägt nicht zurück. Auch »under fire« ist er oft noch dazu in der Lage, seine Gegenübertragung wahrzunehmen und für Deutungen zu nutzen, mit denen er seine Patient:innen auch erreicht. Abgesehen davon, dass er gelegentlich zu viel von sich spricht, seine Supervisorin auf Distanz hält und Arianes Liebesübertragung aktiv beantwortet und damit die rote Linie professionellen therapeutischen Handelns überschreitet, wird in den einzelnen Folgen immer wieder deutlich, dass er sein Handwerk zumeist gut zu beherrschen scheint. Warum gerät er in diese Schwierigkeiten? Was könnten die problematischen Entwicklungen in seinen Behandlungen und in seiner Ehe mit den Terroranschlägen und ihren seelischen Auswirkungen zu tun haben?
2 In dieser Fernsehserie wird die Psychoanalyse, die durch die Therapien von Philippe Dayan repräsentiert wird, danach befragt, was sie in Anbetracht einer solchen Traumatisierung leisten kann. Sie wird sozusagen auf den medialen Prüfstand gestellt. Es ist bemerkenswert, dass sich die Regisseure überhaupt der Psychoanalyse bedient haben, um die Folgen der Anschläge auf das Bataclan darzustellen. Dafür hätte es auch andere filmische Möglichkeiten gegeben, beispielsweise die Schilderung des Schicksals eines Schwerverletzten oder von Menschen, die eine nahestehende Person verloren haben. Das wäre eventuell auf eine Dokumentation hinausgelaufen, die die Zuschauer:innen erschüttert hätte, deren Unterhaltungswert aber begrenzt gewesen wäre, wie es bei dem im Herbst 2021 begonnenen und bis Ende Juni 2022 andauernden Prozess in Paris auf dramatische Weise deutlich wurde (Kelnberger, 2021, 2022; Pantel, 2021a, 2021b, 2021c, 2021d). Die Regisseure wollten offenbar viele Menschen erreichen, was ihnen durch die positive Resonanz auf frühere Fassungen dieser Serie als aussichtsreich erschien und ihnen auch in hohem Maß gelungen ist. Die Süddeutsche Zeitung berichtete (Adorjan, 2021), dass In Therapie in Frankreich schon vor dem Fernsehstart von sechs Millionen Zuschauer:innen in der Arte Mediathek aufgerufen worden war. Zu Beginn der Ausstrahlung 186
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der zweiten Staffel schrieb die Journalistin Claudia Tieschky, dass die Serie mit 50 Millionen Videoabrufen und durchschnittlich 1,8 Millionen Zuschauer:innen pro Folge die bisher erfolgreichste Serie von Arte bis heute ist. Wie ist dieser Erfolg zu verstehen? Handelt es sich dabei um einen »Suchtstoff für die Seele«, wie dieser Feuilletonartikel (Tieschky, 2022) überschrieben war, oder haben die Regisseure damit tatsächlich ihr Ziel erreicht, ihrem Publikum mithilfe der Darstellung psychoanalytischer Behandlungen die seelischen Reaktionen auf diese Terroranschläge nahezubringen? Welcher Eindruck wird den Zuschauer:innen dabei von psychoanalytischen Behandlungen vermittelt? Ariane ist als Chirurgin auf unmittelbare Weise mit den Folgen der Anschläge konfrontiert, ihre Erschütterung ist spürbar, zum ersten Mal kann sie in ihrer Therapie weinen. Es wird gezeigt, wie sie versucht hatte, der Konfrontation mit Schwerverletzten und Toten etwas entgegenzusetzen, indem sie ihre Sexualität auslebte, um sich wieder lebendig fühlen zu können, was ihr Analytiker ihr auch deutet. Gleichzeitig richtet sie ihre Liebeswünsche auf ihn und setzt ihre weiblichen Reize dazu ein, ihn zu verführen. In den analytischen Sitzungen stellt sich jedoch heraus, dass sie damit die Situation wiederholt, in der sie selbst in einer belastenden Lebenssituation allzu früh von einem deutlich älteren, verheirateten Freund ihrer Eltern verführt worden war. Die Frage, was die Wiederholung dieses Ereignisses mit ihrem Analytiker, von dem sie doch erwarten konnte, dass er sie väterlich schützen würde, letztlich für sie bedeutet, lässt die Serie allerdings offen. Arianes Erfahrung mit Dayan vermittelt damit ein zwiespältiges Bild. Ihre Behandlung ist faszinierend, die Schilderung des sexuellen Missbrauchs durch ihren Therapeuten kommt dem immer vorhandenen Sensationsbedürfnis der Zuschauer:innen viel stärker entgegen, als es der Fall gewesen wäre, wenn ihr Analytiker ihren Verführungsversuchen standgehalten und wir miterlebt hätten, wie Ariane emotional zu verstehen beginnt, welche tieferen Ursachen ihren gravierenden Beziehungsschwierigkeiten zugrunde liegen. Der Verlauf ihrer Therapie ist aus filmdramaturgischer Perspektive zwar nachvollziehbar, bedeutet aber, dass sich die Serie hier des Klischees vom älteren Analytiker bedient, der seine junge und attraktive Patientin verführt – was de facto leider auch immer wieder vorkommt (Herrmann, 2016). Adel ist der einzige von Dayans Patient:innen, der der tödlichen Bedrohung durch die Terroristen unmittelbar ausgesetzt war, was sein seelisches Gleichgewicht nachhaltig erschüttert hat. Die Serie legt nahe, dass 187
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sein spontaner und letztlich selbstdestruktiver Entschluss, gegen den IS zu kämpfen, durch die therapeutischen Gespräche mit seinem Analytiker ausgelöst wurde. Damit wird die Möglichkeit, dass eine schwere Traumatisierung wie bei Adel mit Psychoanalyse erfolgversprechend angegangen werden kann, auf grundsätzliche Weise infrage gestellt. Der Vorwurf seines Vaters gegenüber Dayan, seinen Sohn einem tödlichen Risiko ausgesetzt zu haben, wiegt umso schwerer, als der Analytiker hier »lege artis« gearbeitet hatte. Er hatte die Aggressivität ausgehalten, die sein Analysand gegen ihn richtete, und als Abwehr von Angst und Schmerz gedeutet. Auch wenn Adels Reaktion nicht verallgemeinert werden kann, so lässt sich nicht bestreiten, dass analytische Behandlungen das Risiko für Patienten erhöhen können, sich selbstschädigend zu verhalten. Dass die Regisseure sich dazu entschieden haben, Adel sterben zu lassen, wirft die Frage auf, ob das nicht ebenfalls der Dramaturgie geschuldet war. Das heißt, dass die Erzeugung von dramatischer Spannung erneut Vorrang bekommen hat vor der ansonsten authentisch wirkenden Darstellung einer analytischen Behandlung. Dieses Vorgehen stünde in der eingangs erwähnten Tradition der filmischen Verwendung der Psychoanalyse, in der sie häufig dem melodramatischen Zweck unterworfen wurde, publikumswirksam zu unterhalten. Schon der erste Psychoanalysefilm Geheimnisse einer Seele (Papst, 1926), der von Karl Abraham und Hanns Sachs als Möglichkeit willkommen geheißen wurde, die junge Wissenschaft der Öffentlichkeit vorzustellen, führte bei Freud zu grundsätzlichen Bedenken. 1925 schrieb er an Abraham: »Mein Haupteinwand bleibt, dass ich es nicht für möglich halte, unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen« (Freud & Abraham, 1965, S. 357). Dass Freuds Einwand auch für diese Fernsehserie gelten könnte, in der in jeder einzelnen Folge ein Spannungsbogen geschaffen wird, der die Zuschauer:innen dazu motiviert, die nächste Folge sehen zu wollen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Regisseure könnten dagegen einwenden, dass sie das didaktische Anliegen von Abraham und Sachs hinter sich gelassen haben und die Psychoanalyse, anders als in dem Film von Papst, als Interaktion zwischen zwei Personen zeitgemäß darstellen. Wir sehen hier viele Szenen, die durchaus gelungen wirken und die Analyse als attraktiv erscheinen lassen. Am attraktivsten ist es, mitzuerleben, wie offen und zugewandt sich Dayan auf seine Patient:innen einlässt und damit die Möglichkeit schafft, etwas, was bisher auf irrationale Weise wirksam war, emotional zugänglich zu machen, was vor allem bei Camille zu einer progressiven Entwicklung führt. Es ist bemerkenswert, 188
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wie häufig der Analytiker in den einzelnen Folgen Angriffen seiner Patient:innen ausgesetzt ist. Vermutlich soll damit gezeigt werden, dass die Nerven bei allen Protagonisten nach so einem traumatischen Ereignis blank liegen, das heißt, dass die dadurch ausgelösten Ängste aggressiv abgewehrt werden. Die Dialoge, die dabei geführt werden, sind oft anspruchsvoll, es fällt nicht immer leicht, ihnen zu folgen, was den Eindruck erweckt, dass man sehr intelligent oder gebildet sein muss, um sich überhaupt an eine:n Analytiker:in wenden zu können. Dennoch greift die Serie die reale gesellschaftliche Bedrohung durch terroristische Anschläge auf nachvollziehbare Weise auf und bietet dem Publikum vielfältige Möglichkeiten, sich mit den Protagonist:innen mit all ihren Ängsten, Nöten und Widersprüchen zu identifizieren. Gleichzeitig werden dabei aber auch erhebliche Bedenken gegen die Psychoanalyse transportiert. Es ist keineswegs ungefährlich, sich auf sie einzulassen. Analytische Behandlungen wecken offenbar frühere traumatische Erfahrungen, was ein hohes Risiko für die Patient:innen darstellt und ihre Situation schlimmer machen kann, als sie vorher war. Oder es geht nichts erkennbar voran, wie in der geschilderten Paartherapie, dann wäre die Psychoanalyse insgesamt wenig hilfreich. Die Serie vermittelt aber nicht nur, welche Einwände es vonseiten eventueller Patient:innen und der Gesellschaft insgesamt gegenüber der Psychoanalyse gibt, sondern sie hält uns Analytiker:innen auch einen medialen Spiegel vor, in dem wir einige der Gefahren erkennen können, denen wir bei unserer Tätigkeit ausgesetzt sind. Die größte Gefahr besteht selbstredend darin, unseren Patient:innen zu schaden. Damit sind nicht nur die schwerwiegenden Folgen einer sexuellen Abstinenzverletzung gemeint, wie Dayan sie begeht, sondern auch Fragen der Indikationsstellung oder der Behandlungstechnik, vor allem bei schwer traumatisierten Patient:innen. Eine weitere wichtige Frage ist, wie es uns gelingen kann, in Belastungssituationen in einem ausreichend guten inneren Gleichgewicht zu bleiben, um dem Anspruch, der mit unserer Tätigkeit als Analytiker:in einhergeht, gerecht werden zu können. Wurde Dayan durch die Anschläge auf das Bataclan selbst so erschüttert, dass seine eigenen traumatischen Erfahrungen wiederbelebt wurden und er seine narzisstische Bedürftigkeit Ariane gegenüber agiert hat, oder hat er sich mit seiner Arbeit als Analytiker schon jahrelang chronisch überfordert und sich selbst zu wenig analytische Hilfe geholt? Die Serie In Therapie zeigt auf eindringliche Weise, dass Patient:innen wie Analytiker:innen bei Ereignissen wie dem Terroranschlag auf das Bataclan in Gefahr sind, ihr seelisches Gleichgewicht zu verlieren. Wenn der Versuch, dieses Gleichge189
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wicht mithilfe einer Therapie wiederzugewinnen, dazu führt, mit eigenen traumatischen Erfahrungen in Kontakt zu kommen, muss das starke Widerstände hervorrufen. Von daher verwundert es nicht, dass das Bild der Psychoanalyse, dem wir in dieser öffentlichkeitswirksamen filmischen Darstellung begegnen, von erheblicher Ambivalenz geprägt ist. Am Ende der ersten Staffel hat der Held dieser Fernsehserie, der Psychoanalytiker Phillipe Dayan, zwar überlebt, er macht aber einen angeschlagenen Eindruck. Ist in diesem Schluss die Botschaft enthalten, dass die seelischen Folgen von Terroranschlägen nicht therapierbar sind? Ich neige eher zu der Annahme, dass mit dieser Darstellung eine abwehrende Haltung gegenüber der Psychoanalyse zum Ausdruck gebracht wird, die darin besteht, die unerträglichen Angst- und Ohnmachtsgefühle, die durch diese Anschläge ausgelöst wurden, auf den Analytiker zu projizieren, der dann ebenfalls unter Angstzuständen leidet und als ohnmächtig oder sogar als jemand gezeigt wird, der seinen Patient:innen massiv schadet. Andererseits kommen wir nicht daran vorbei, uns mit den Folgen solcher Terroranschläge wie dem auf das Bataclan auseinanderzusetzen, was, wie diese Serie ebenfalls zeigt, mithilfe der Psychoanalyse möglich ist. In Therapie ist ein Beispiel dafür, welche mediale Faszination von der Psychoanalyse ausgehen kann und welche Ängste sie zugleich mobilisiert. Literatur Adorján, J. (2021, 5. Februar). Sprich mit mir. Süddeutsche Zeitung. Dammasch, F. (2022). Szenisches Verstehen und Interaktionsformen. Zum 100. Geburtstag von Alfred Lorenzer. Psyche Z – Psychoanal, 76, 312–344. Fellner, M. (2006). Psycho Movie. Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm. Bielefeld: transcript. Freud, S. & Abraham, K. (1965). Briefe 1907–1926. Hrsg. v. Hilda C. Abraham u. Ernst L. Freud. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Hamburger, A. (2018). Filmpsychoanalyse: Das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten. Gießen: Psychosozial-Verlag. Herrmann, A. P. (2016). Behandlungsfehler und Fehlerkultur in der psychoanalytischen Praxis. Psyche – Z Psychoanal, 70, 585–617. Husmann, W. (2021, 4. Februar). In Therapie. Acht Wochen Analyse. Die Zeit. Kelnberger, J. (2021, 9. November). Früchte des Terrors. Süddeutsche Zeitung, HF2. Kelnberger, J. (2022, 22. April). Mein Nachbar, der Terrorist. Süddeutsche Zeitung. Loetz, C. (2021). Das Bataclan der Seele. Die verborgenen jüdischen Wurzeln in der Serie »In Therapie«. Psyche – Z Psychoanal, 75, 1079–1088. Pantel, N. (2021a, 9. November). Jenseits der Aufklärung. Süddeutsche Zeitung.
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Unser mediales Spiegelbild Pantel, N. (2021b, 13. Oktober). Hört auf zu sagen, dass ihr Glück hattet. Süddeutsche Zeitung, 3. Pantel, N. (2021c, 19. November). Nachhaltig vergiftet. Süddeutsche Zeitung, 7. Pantel, N. (2021d, 30. Juni). Ende eines Jahrhundertprozesses. Süddeutsche Zeitung. Tieschky, C. (2022, 7. April). Suchtsoff mit Seele. Süddeutsche Zeitung. Witzek, E. (2021, 4. Februar). Wer zum Therapeuten geht, will etwas sagen und etwas auslassen. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zeul, M. (1994). Bilder des Unbewussten. Zur Geschichte der psychoanalytischen Filmtheorie. Psyche Z – Psychoanal, 48, 975–1003.
Biografische Notiz
Andreas P. Herrmann, Dr. med., M. A., ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychoanalyse, niedergelassen in eigener Praxis in München. Er ist Lehranalytiker und Supervisor der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München e. V. und Leiter des Gremiums der Lehranalytiker:innen der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Veröffentlichungen zur Psychosomatischen Medizin, zur analytischen Identität, zur Institutionalisierung der Psychoanalyse, zu Behandlungsfehlern und Fehlerkultur, zum Gutachterverfahren, zur Lehranalyse und zu verschiedenen Formen der Supervision. Homepage: www.dr-andreas-herrmann.de
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Teil 4 Begegnungen im Internet
»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen« Tiefenhermeneutische Betrachtung des subjektiven Erlebens auf Youtube Clara-Sophie Adamidis
In diesem Artikel wird anhand einer exemplarischen, tiefenhermeneutischen Auswertung zweier themenzentrierter Interviews der Frage nachgegangen, welche Bezogenheit und welche subjektiven Bedeutungen beim Rezipieren von Youtube beziehungsweise Vlogs zu finden sind und was diese über das Medium Youtube aussagen. Hierzu werden die Interviews mit Mia, zum Zeitpunkt des Interviews 24 Jahre alt, und Jan, 23 Jahre alt, beide hier anonymisiert, herangezogen. Jeden Tag werden mehr als eine Milliarde Stunden Videos über Youtube konsumiert, was eine Anziehung aufzeigt und die Frage aufwirft, welche Wünsche dort Widerhall finden und welche Ängste gebunden werden. Video-Blogs, sogenannte Vlogs, um deren Rezipieren es im Folgenden gehen wird, sind Videos, die von Youtubern gedreht werden, die den Rezipienten in ihren Alltag, in ihr Leben mitnehmen und ihn so als einen Alltagsbegleiter, wie einen Freund oder ein Familienmitglied, ansprechen. Wie im Titel dieses Artikels formuliert, deutet das subjektiv erlebte »ernster nehmen«, als es ist, auf einen Rahmen, auf den sich subjektive Bedeutungen differenziert beziehen lassen beziehungsweise darin verortet werden können. Um diesen Bedeutungen nachzugehen wird die Methode der Tiefenhermeneutik genutzt. Indem auf Grundlage des Szenischen Verstehens beim Subjekt Manifestes beobachtet und so Latentes erschlossen wird, soll Gesellschaftliches sichtbar gemacht werden (vgl. Argelander, 1970; Devereux, 1984; Erdheim & Nadig, 1988; Löchel, 1997; Lorenzer, 1986). 195
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Mia Die erste Figur1, die hier entfaltet werden soll, soll mit dem häufig benutzten Bild der »Zwei Seiten einer Medaille« beschrieben werden, und zwar im Sinne von »Schauen und Sehen« auf der einen und »Zeigen und Gesehenwerden« auf der anderen Seite der Medaille. Eine manische Abwehr mag hier die sich hinter dem Zusammenspiel von Schauen und Zeigen verbergende Einsamkeit beziehungsweise Objektlosigkeit kaschieren. Hierzu werden verkürzte Ausschnitte des Interviews mit Mia herausgegriffen und näher betrachtet. »[I]ch hab angefangen als ich ungefähr 17 war und ich hatte mein Computer oben in meinem Zimmer und das war für mich so eine ganz krasse Flucht von meiner Realität, würde ich sagen […] und für mich war das total interessant anzusehen wie andere Leute ihr Leben führen und was die so für Interessen haben und […] dass ich das ansehen kann auch irgendwie auf der anderen Seite der Welt, dass ich angucken kann, wie die leben […]. Liegt vielleicht auch daran, dass ich in einem Dorf aufgewachsen bin, […] da waren halt nicht irgendwie noch Freunde bei mir zu Hause, sondern ich war halt schon in der Zeit relativ viel alleine« (Z. 279–300).2
Mia beschreibt hier das Ansehen der Vlogs als Flucht aus ihrer Realität und als eine Suche nach Orientierung, eine Neugier auf unterschiedliche Lebensentwürfe. Eine Sehnsucht wird spürbar, nach dem Fernen »auf der anderen Seite der Welt«, und zeigt damit gleichzeitig, für wie unerreichbar sie das hält, was sie ersehnt. Wichtig erscheint hier für Mia die Möglichkeit und der Wunsch, sich zu identifizieren, der Orientierung und des sich Wegträumens auf dem Boden eines erlebten Alleinseins. 1 Figur meint hier eine bestimmte, sich wiederholende evtl. gar typische Art der Rede, der Erzählung. Die Annahme ist hierbei, dass eben jene insistierenden Redefiguren psychodynamisch relevant sind, also etwas über den Konflikt beziehungsweise die Konfliktgestalten aussagen können. Zudem beinhaltet der Begriff den Verweis auf eine »Interaktionsfigur«, die beschreibt, dass sich im Szenischen und im Sprechen gesellschaftlich geprägtes Latentes und Unbewusstes niederschlägt und auffinden lässt (vgl. Lorenzer, 1970). 2 Die Zeilenangaben beziehen sich auf das Transkript des 2019 geführten themenzentrierten Interviews mit Mia.
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»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen«
»[A]lso es gibt mir so eine Idee davon wie du verschiedene Leben leben könntest, weil ich glaub sonst gibt es nie die Möglichkeit so genau in andere Leben reinzugucken, du träumst dich da rein […] und dann macht die auch was, was mich irgendwie interessiert, warum mache ich das eigentlich nicht oder guck mal das ist gar nicht so schwer das zu machen oder gar nicht so kompliziert, wie man denkt […] und guckt dann aber irgendwie auch auf sich selbst und denkt dann hey vielleicht probiere ich das mal aus, keine Ahnung, Bungee-Jumping oder irgendwie sowas [lacht], so ganz verrückte Sachen« (Z. 309–322).
Sie träumt sich in die Leben der anderen, raus aus ihrem eigenen. Die vorgestellte Nähe ermöglicht es ihr, ihr Leben auf die gesehenen Aspekte hin zu befragen und Mut zu schöpfen, etwas auszuprobieren beziehungsweise etwas zu wagen. Doch indem sie das, was sie da ausprobieren könnte, als etwas »ganz Verrücktes« benennt und es damit eher in die Ferne rückt, distanziert sie sich davon. In dem Wunsch beziehungsweise dem Vergleich des »Bungee-Jumping« könnte ihre Angst sichtbar werden, die unterschiedlichen Lebensentwürfe für sich zu beanspruchen und herauszufinden, wer sie ist, und sie könnten auf die Fallhöhe verweisen, die sie in einer Aktivität, einer Erprobung ihrer selbst vermutet – als würde etwas kaputtgehen. Sind es Größenfantasien, die unerfüllbar und damit hemmend sind? Wichtig scheint hier die ständige Beschäftigung mit dem, was sie sich wünscht, mittels des Ansehens der Vlogs, des Hineinträumens und des scheinbaren Partizipierens, des Sich-vergleichens. All das eröffnet scheinbar die Möglichkeit, auf die andere Seite zu wechseln, was dann aber wegen des Sprungs ins Ungewisse vermieden wird. Es scheint keine in die Zukunft weisende Identifikation zu sein, die handlungsleitend wird, sondern ein im immer wieder Gleichen gefangener Abgleich. Dann beschreibt sie die Differenz, die hier das Wechseln auf die andere Seite markiert: weg vom »Angucken«, »Zuhören«, hin zum Sich-zeigen und Sprechen: »Ich bin ein Mensch, ich rede jetzt viel, aber ich bin ein Mensch der gut zuhören kann und ich glaub ich bin generell ein Mensch, der gerne lieber von andern Leuten aufnimmt, also keine Ahnung ich bin gerne die Person, die andern Leuten zuhört, wenn sie Probleme haben, die andern Leuten beim Reden zuhört, ich bin eher ungerne die Person die sehr viel redet habe ich das Gefühl, keine Ahnung also schon und ich hab schon das Gefühl, dass ich sehr viele Ideen generell aus meinem Umfeld sammel« (Z. 326–332).
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Hier beschreibt sich Mia als diejenige, die vieles von anderen aufnimmt, deren Ideen sammelt. Gleichzeitig benennt sie, dass sie in der Interviewsituation »jetzt« viel spricht, also viel von sich zeigt. Als wäre das Interview, das wir führen, gleichzeitig ein erster Schritt beziehungsweise Versuch, aus dem Schauen und Gucken zu einem Sich-zeigen zu kommen – sie wechselt im Interview auf die Seite des Youtubers. Wie eine Art Probelauf: Ist das, was ich zu erzählen habe, interessant, kann ich begeistern, habe ich etwas zu geben? Das, was sie zu geben hat, deutet sie mit den »gesammelten Ideen« an, was Fantasien rund um einen angesammelten Schatz entstehen lässt. Doch ist das Sammeln sich selbst genug, ein partialtriebhafter Selbstzweck, oder wird der Andere als Empfänger und damit ein potenzieller Austausch imaginiert? Dass für Mia das Sich-zeigen, also der Wechsel auf die Seite der Vloger und damit eine fantasierte Möglichkeit des Gesehenwerdens, eine immense Bedeutung hat und die Vorstellung der Loslösung vom eigenen Sein daran gekoppelt scheint, spitzt sich in folgender Äußerung zu: »[M]it Youtubevlogs kannst du aus deiner Blase auch total ausbrechen, wenn du willst, na gut, man muss sich natürlich irgendwie eine Kamera leisten können und einen Internetanschluss haben, aber ungefähr da hört es auf, was du für ein Mensch sein musst« (Z. 356–359).
Sie beschreibt, wie man in »seiner eigenen Blase« gefangen lebt und durch Youtube diese Enge verlassen kann. Hier wird abermals deutlich, wie weit entfernt ihr Wunsch, ihre Lebensvorstellungen, für sie scheinen. Erneut wird in dem Wort »ausbrechen« die Fallhöhe und das gewünschte Leben als Überwindung einer riesigen Hürde deutlich. Das Einzige jedoch, was man dafür brauche, sei eine Kamera und einen Internetanschluss – hier wechselt sie auf die Seite der Vloger. Assoziationen zur Blase als etwas Fragiles, was mit einer Konfrontation zerplatzt, tauchen auf und lassen wieder die Angst vor Erprobung bei gleichzeitigem Wunsch danach deutlich werden: Würde ein Luftschloss zusammenfallen? Dies eventuell auch deshalb, weil der Wunsch sich hier in einer Fantasie von völliger Selbstbestimmtheit und grenzenloser Freiheit zeigt. Eine Idealisierung beziehungsweise Größenfantasie, die die Fallhöhe deutlich werden lässt, weshalb nicht gewagt werden kann. Auf die darauffolgende Frage, ob sie selbst gerne Vlogs drehen würde, antwortet sie: 198
»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen«
»[I]ch habe mir letztes Jahr zum Geburtstag eine Kamera schenken lassen und der Witz ist, ich habe mir extra eine Kamera schenken lassen mit einem Flip Screen, das ist so das, was die ultimativen Youtuber alle haben, das ist dieser Bildschirm an der Kamera, dass du dich selbst sehen kannst, wenn du filmst […] und äh auf jeden Fall hatte ich auch im Hinterkopf, vielleicht kann ich mal ein Video von mir machen oder so aber ich hab’s nie gemacht« (Z. 351–364).
Diese Antwort verweist darauf, dass der Gedanke, sich selbst zu filmen und zu zeigen, anscheinend ständig mitläuft und zu dem Anschauen der Vlogs als »andere Seite derselben Medaille« dazugehört. Mit dieser Kamera schafft sie sich eine der Voraussetzungen, um aus der von ihr wahrgenommenen Blase auszubrechen. Sie beschließt dann aber ihre Ausführungen über die sie faszinierende und vor ihr liegende Möglichkeit des Sich-zeigens und damit des Gesehen-werdens mit den Worten: »aber ich hab’s nie gemacht«. Wo ist der Mut hin? Zu groß die Idealisierung und die Größenfantasie, gleich eine »ultimative« Youtuberin sein zu müssen, und der etwaige Fall zu tief ? Im Folgenden soll die sich inszenierende Szene des Interviews untersucht werden. Darin wird sich die ständig vorhandene Möglichkeit des Wechselns der Seiten und der damit einhergehenden Erlebensweisen zeigen. Auf die erste Frage, was das Anschauen der Vlogs für Mia bedeutet, folgt ein ca. neun Minuten langer Monolog, der mit den Worten »Ja, okay, ähm, ich hab im Vorhinein schon mal ein bisschen darüber nachgedacht …« (Z. 7–9) beginnt und mit der Aufforderung endet »Das ist erstmal das, was mir einfällt, ich glaub es wäre gut, wenn du mir eine Frage stellen kannst, oder weiß ich nicht [lacht]« (Z. 117–119). Auffällig ist hier das Monologische, Mia hat sich etwas zurechtgelegt, was sie jetzt erstmal über den Anfang, der von ihr als unsicher erlebt werden kann, legt. Sie »liefert ab«, hat sich extra vorbereitet, als gäbe es eine immense Erwartung zu erfüllen, nämlich »ultimativ« sein zu müssen. Vielleicht fürchtet sie, dass ich als Interviewerin kein lebendiges Objekt, kein Gegenüber bin. Das zeigt sich am Ende des ersten Monologs: Ohne eine Pause entstehen zu lassen, um zu sehen, ob ich reagiere, endet Mia direkt mit der Aufforderung an mich, ihr eine Frage zu stellen, als würde sie nicht glauben, dass der Inhalt ihres Gesagten dazu führt, dass Interesse und Neugierde in mir entsteht, dass es da ein Gegenüber gibt, das sich auf sie und ihren Monolog bezieht und ihr antwortet. 199
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Das gesamte Interview verläuft dann ähnlich: kurze Fragen oder auch nur Einschübe von mir, wie zum Beispiel »Das gibt Ideen«, bezeichnend knapp und nur bestätigend beziehungsweise Einstimmigkeit herstellend, so als dürfe keine Differenz und kein Gegenüber entstehen und damit auch kein Austausch möglich werden. Ich fühle mich oft mit Bejahungen von Mia außen vor gehalten, gefolgt von hastenden, minutenlangen Monologen, die kaum Pausen lassen und eine manische Abwehr andeuten. Sie endet auf meine Frage: »Fällt dir noch irgendwas ein oder habe ich irgendwas noch nicht gefragt worauf du gerne geantwortet hättest? [lachen]« (Z. 579–581) mit der Aussage: »Ich glaube nicht, ich glaube ich habe mich ausgepresst (lacht), vollkommen, ich glaub da ist nichts mehr« (Z. 583–584). Das verweist darauf, dass sie entweder nur etwas bekommt (das Sammeln der Ideen, der Schatz) oder sich völlig hergibt und auspresst. Entweder ist der eine voll und der andere leer oder umgekehrt, der eine gibt und der andere bekommt oder umgekehrt. So bleibt am Ende ein Schuldgefühl auf meiner Seite: Ich habe alles und sie nichts. Was hier deutlich wird, ist, dass die Form und die Szene des Interviews der Form eines Vlogs gleicht. Sie hat sich vorbereitet, hält einen Monolog, die Interviewerin taucht kaum auf und es entsteht kein Miteinander. Es scheint, als wäre das Interview eine Art Probedurchlauf, eine Inszenierung für das Wechseln auf die Seite des Sich-zeigens und Gesehen-werdens. Mit dem abschließenden Satz, der ihre Anstrengung beschreibt, aber auch die Frage meinen könnte: Ich habe dir alles gegeben, ist etwas bei dir angekommen, konnte ich dich damit begeistern?, werde ich somit in der Interviewsituation zu ihrem Flip-Screen des ersten Versuches, sich zu zeigen. Mit mir als Flip-Screen könnte sich hier Mias Wunsch andeuten, von mir aufgenommen und gespiegelt zu werden, eine Resonanz zu erfahren und Orientierung zu bekommen. Dies wird aber verfehlt, da sie mit der von mir als manisch beschriebenen Abwehr verhindert, dass ein lebendiges Objekt auftauchen darf. Zum einen könnte dies also auf eine manische Belebung eines depressiven Objekts hinweisen, zum andern aber auch auf die Angst vor einem lebendigen Objekt. In beiden Fällen verhindert es einen Austausch im Kontakt. Auch wenn hier die Möglichkeit vom passiven Schauen zum aktiven Zeigen als Entwicklungsschritt gedacht werden könnte, scheinen es doch zwei Seiten derselben Medaille zu sein: der Medaille der Einsamkeit und des Gefühls, das Objekt nicht zu erreichen. Doch scheint es einen Rest zu 200
»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen«
geben, der sie in das Interview treibt und sie hat sprechen lassen, vielleicht die Fantasie, mich als Flip-Screen, als Objekt zu erleben und/oder so erstmal nur diese Einsamkeit mitzuteilen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich im Rezipieren der Vlogs durch eine scheinbare Identifikation und die dadurch bestehende Möglichkeit, die Seiten zu wechseln, der Wunsch manifestiert, im Sichzeigen gesehen zu werden und damit erst zu entstehen, ein Gegenüber zu finden beziehungsweise auftauchen zu lassen. Gleichzeitig wird hierbei die Angst vor einem realen Kontakt gebunden. Dieser scheint, wegen der Größenfantasien und des immensen Drucks etwas Vollkommenes, Ultimatives sein zu können, als zu beängstigend erlebt zu werden.
Jan Das zweite Interview mit Jan wird vorgestellt, um eine weitere Figur zu zeigen, die sich im Ansehen von Vlogs und der darin zum Ausdruck kommenden Art von Bezogenheit finden lässt. Es geht um eine regulierte Bezogenheit, um die Regulation von Nähe und Distanz als Abwehr der Angst, den Anderen mit aggressiven und libidinösen Wünschen zu zerstören. Youtube bietet Jan eine Möglichkeit, überhaupt in eine »Beziehung« einzutreten, bei gleichzeitigem Vorhandensein eines Restes, eines Zweifels: Er will eben doch wissen, wie der andere und wie er wirklich ist. Die damit verbundene Enttäuschungsangst taucht dabei ebenso auf wie seine Suche nach einer realen Beziehungserfahrung. Im Folgenden wird der erste Teil des Interviews und dessen Dynamik zusammengefasst, ohne ganze Zitate anzuführen, das heißt, es werden lediglich Sätze und Worte aus dem Interview in die Zusammenfassung eingeflochten, um gewisse Dynamiken deutlicher werden zu lassen. Jan benennt seinen Wunsch, seine Sehnsucht, den Youtubern nahe zu sein, eine Bindung einzugehen, weil sie ihm etwas bedeuten. Er spricht gleichzeitig von »Logik«, wenn er darauf verweist, dass es klar sei, dass diese wiederum nicht wissen, wer er ist, und dass »tausende andere das auch wollen und ich nur einer unter vielen bin«. Selbst wenn die Youtuber es wollten, es wäre »unmöglich«, entschuldigt er sie und hält eine idealisierte Illusion von ihnen aufrecht. Gleichzeitig – wie in einer hadernden Bewegung – taucht die Frage nach der Echtheit der Youtuber auf, ob sie sich verstellen, und dass er oft vor den Kopf gestoßen wurde mit der Er201
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kenntnis, dass der Youtuber nicht so ist, wie er ihn sich vorgestellt beziehungsweise der andere vorgegeben hatte zu sein. »Sie sagen zwar ›Hallo Freunde‹, meinen es aber nicht.« Hier zeigt sich, wie im gesamten ersten Teil des Interviews eine Haderbewegung zwischen Idealisierung und Entidealisierung, zwischen Entschulden und Prüfen stattfindet. Jan beschreibt den sinnlich-körperlichen Wunsch, die Youtuber zu umarmen, sie zu berühren, nur um dann von ihnen mit der Aussage »Ich will dich nicht umarmen, wir kennen uns nicht«, und »Schluss! Wir sind keine Freunde« zurückgewiesen zu werden, ohne dass diese Abweisung bei ihm bis dato merklich zur Enttäuschung führt. Dann berichtet er, dass er, als er jünger war, große Vorfreude und Aufregung empfunden hat, in der Erwartung, einen Youtuber zu treffen. Eine Realerfahrung beschreibt er als »mega geil, auf Augenhöhe«, und dass der Youtuber sich »voll Zeit« für ihn genommen hat, »so 10 bis 15 Minuten«. Während in dieser Beschreibung alles harmonisch und idealisierend bleibt, taucht danach doch eine unglaubliche Enttäuschung auf: »Da gibt’s halt einen, wo du sagst, okay wir sind befreundet und alle andern werden dich dann hassen, weil ja, warum bist du nicht mit mir befreundet« – der Hass, der auf die Versagung folgt. Dazu passend verfällt er im Rückblick über seine Wünsche in Scham – »schon bisschen peinlich« –, um sich dann von diesen als zu gierig empfundenen Wünschen nach Beziehung sachlich und genügsam zu distanzieren: Die Begegnung beziehungsweise die Beziehung muss in einem »akzeptablen Rahmen« bleiben, mit »gesundem Menschenverstand« ist das ja auch alles ganz klar, »verständlich«, dass sie einem nicht so nah sein können, wie man es sich wünschen würde, man muss das »berücksichtigen«, nur »kurz und knapp«, »nicht so 10 Minuten sondern vielleicht so eine Minute«, das sei ja aber auch »ausreichend«, »nicht übertreiben«, denn sonst, beschreibt er, kann der Wunsch der Zuschauer den Youtuber, also das Liebesobjekt, vernichten. »Die sind dann unter dem Druck zugrunde gegangen, die haben dann aufgehört«, haben sich komplett entzogen, der Wunsch war zu viel, er hat das Objekt kaputtgemacht und es ist nicht wieder aufgetaucht. Den gesamten Abschnitt über zeigt sich das Schicksal von Jans Wunsch – gebändigt, kleingehalten, mit Verstand überlagert, relativiert, logisch begründet – und eine Angst vor der fantasierten Vernichtung des anderen durch die Intensität des eigenen Wunsches und des Verlangens offenbaren sich. 202
»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen«
Im Interview inszeniert sich das zwischen uns, indem er seinen Redebeitrag mit der Anmerkung »Oh jetzt habe ich ganz schön viel geredet« beendet, womit er auch meinen könnte, ob das beziehungsweise er auch für mich zu viel gewesen sein könnte: Hat er mich genervt? Hat er auch von mir zu viel Zeit gewollt? Bin ich jetzt kaputt und ziehe mich zurück? Meint er es ernster als ich? Dieses Empfinden ist der Struktur dieser Vlogs als, wie ich es nennen möchte, beziehungsnahelegendes Format inhärent und wird von ihr produziert. Bindungswünsche werden angesprochen und geweckt, wie auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit und dem tatsächlichen Empfinden des Anderen, bei gleichzeitigem Wissen oder eben Nichtwissenwollen der unterschiedlichen (auch ökonomischen) Ausgangslagen und Intentionen. Dies kann nur zu Enttäuschung führen sowie zu dem Gefühl des zu großen Wunsches, gepaart mit einem Misstrauen dem anderen, aber auch sich selbst und dem Empfundenen gegenüber. Im folgenden Verlauf verdichtet sich die immense Bedeutung der Youtuber für Jan. Das Gefühl, sich vollkommen eingelassen zu haben, und die damit einhergehende Angst beziehungsweise Fallhöhe vor Enttäuschung und Wut über die Evokation der Nähe und ein darüber entstehendes Misstrauen tauchen auf: »[W]enn die Leute irgendwie so persönliche, sehr, sehr intime Sachen erzählt haben und paar Sachen sind mir persönlich auch ziemlich nahegegangen, also ich hab es auch irgendwie ernster genommen, weil ich das Gefühl hatte, dass die Leute es auch ehrlich meinen. Ich sag jetzt mal, dieser Begriff Authentizität, ist ja bei YouTube viel, viel größer als im Fernsehen und du da auch eine Verbindung zu den Menschen hast, irgendwie einseitige Verbindung, sag ich mal, aber mit dem liontv zum Beispiel jetzt, der kann schon einen großen Einfluss auf dich nehmen, also bei mir war das bei einigen Sachen so, auf jeden Fall [Pause]« (Z. 367–373).3
Das erste Mal fällt der Begriff Authentizität und es wird deutlich, wie ernst es Jan damit ist. Er fühlt sich mit den Youtubern verbunden, sie haben einen großen Einfluss auf ihn – er fühlt sich angesprochen und lässt sich verändern. 3 Die Zeilenangaben beziehen sich auf das Transkript des 2019 geführten themenzentrierten Interviews mit Jan.
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Er spricht hier davon, dass er es »ernster genommen« hat, weil er das Gefühl hatte, sie meinen es »auch ehrlich«. Hat er die Beziehung ernster genommen als der Youtuber? Selbst wenn dieser es auch ehrlich meint, ist es für Jan immer noch ein »mehr«, ein »ernster«, ein »zu viel« auf seiner Seite. Die Suche nach der Bestätigung des »Ehrlichmeinens«, nach einer Bürgschaft für den evozierten Wunsch scheint in diesen beziehungsnahelegenden Formaten eine große Rolle zu spielen. Wenn Affekt evoziert wird, entsteht bei Jan die Frage nach dem Empfinden des anderen, doch genau das bleibt unzugänglich, schwer erfahrbar, weshalb die Realerfahrung zum Beispiel in den Community-Treffen für ihn so wichtig zu sein scheint. Die dort zur Beantwortung ausstehenden Fragen könnten lauten: Du hast Einfluss auf mich, habe ich den auch auf dich? Meinst du es genauso ernst? Mache ich dich kaputt oder überlebst du meinen Wunsch und meine Aggression? Er will es, die Idealisierung aufgebend, vielleicht doch wirklich wissen, gibt sich dann aber mit wenig zufrieden, »eine Minute Zeit mit demjenigen reicht!« – Wo bleibt da die Enttäuschung und die Wut?, könnte man fragen. Eine Antwort mag im szenischen Verstehen des inhaltlichen Verlaufs enthalten sein: »Eine Zeit lang gab es in den Staaten eine challenge, die hieß tide-pod-challenge, da haben die Leute Geschirrspültabs gefressen, ja, oder eben Waschmaschinentabs oder und also da denk ich mir, wie dumm müssen die Menschen sein und die haben halt diese Dinger gegessen und da logischerweise chemische Reaktion mit Wasser gehabt. Da haben sie so Schaum vorm Mund bekommen und haben sich da auch vergiftet und irgendwas weggeätzt im Mund« (Z. 456–460).
Nach der sich zuvor gezeigten Haderbewegung zwischen Idealisierung – und dem damit verbundenen und als zu viel erlebten Wunsch – und Entidealisierung – als Auftauchen seiner Wut auf die Versagung – sowie dem Schutz dieses fragilen Konstrukts taucht hier Gleiches im Archaischen auf. Eine überschäumende Oralität, fressen, Gier, Schlund, einhergehend mit der Vergiftung und dem Wegätzen, der Zerstörung. Schäumt er vor Wut?, könnte man denken und beides, der übergroße Wunsch und die Angst vor der eigenen zerstörerischen Wut auf die Versagung desselben müssen gebändigt werden, hier durch die sich anschließende Fantasie, eine seriöse Talkshow, eine Debattierrunde als Youtuber zu produzieren. 204
»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen«
»J: Deswegen würde ich einfach so eine Talkshow machen, wo die Leute halt einfach miteinander reden man hat vielleicht einen Moderator, ich sag mal Mediator, der dann sagt ›okay Stopp‹, das geht jetzt grade in die falsche Richtung und dass die Leute zugucken können, wie man eigentlich ordentlich sich miteinander unterhält, sich miteinander streitet, miteinander mehr vielleicht diskutiert, […] irgendwie sowas, was die Leute auch so anstachelt, wo, ich sag mal so, Leute getriggert werden. […] Ja, aber ich denk mal, es ist ziemlich schwierig, weil man muss halt sehr, sehr redegewandt sein, man muss sehr schlagkräftig sein« (Z. 478–501).
Anknüpfend an das Archaische der vorangestellten Beschreibung von Jan, sich jedoch explizit davon abgrenzend, zeichnet er hier ein Bild durchaus auftauchender Aggression und der Lust am »Kampf«. Diese Idee jedoch, dem Andern so nahe zu kommen, macht ihm Angst und bedarf einer Regulation durch, nicht etwa den Moderator, sondern gar einen Mediator, der »Stopp« sagt, wenn es zu viel wird – die eingeführte Regulation. Vor dem Hintergrund von Regeln, Orientierung, Grenzen können sein Nähewunsch, den er als überbordende Aggressivität erlebt, und seine Aggressivität Halt finden und zum anderen kommen, in die Beziehung eingehen, und dennoch wird niemand verletzt. Auch der Versprecher »schlagkräftig« anstatt schlagfertig verweist auf einen als aggressiv erlebten Wunsch, kann ein Anzeichen von Enttäuschungswut sein. Auch könnte sein Einfall, eine Talkshow zu machen, den gesamten Interviewverlauf betrachtend, als eine Art Lösungsversuch verstanden werden: Ausgehend von Identifikation, Nähe- und Bindungswünschen, dem Aufrechterhaltenwollen der Idealisierung bei gleichzeitig auftauchendem Misstrauen und dem Wunsch der Entidealisierung und einer geteilten Realität, bis hin zur Angst vor der darüber entstehenden Wut und Enttäuschung. Es kann sich insofern um einen Lösungsversuch für eine im Misstrauen verhaftete Bezogenheit handeln, als Jan hier die Möglichkeit, den anderen zur Rede zu stellen, ihn in die Mangel zu nehmen, um dessen Authentizität – meint auch er es ernst? – zu prüfen, einen Bürgen zu finden und gemeinsam Geteiltes entstehen zu lassen, fantasiert. Der Wunsch nach einer geteilten Realität mit dem Liebesobjekt Youtuber wird hier deutlich. Dies scheint trotz der Potenzialität der Enttäuschung in einem regulierten – seine als überschäumende Wut fantasierte Enttäuschung im Zaum haltenden – Rahmen denkbar, lässt jedoch die Realerfahrung nötig werden, wenn auch erstmal nur in der Fantasie. 205
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Beides, das Auftauchen des Wissenwollens und eine geteilte Realität könnten sich szenisch zwischen uns inszeniert haben, indem Jan am Ende des Interviews sagt: »Hat das mit der Aufnahme geklappt? Wir können das auch gerne nochmal machen, wenn das Aufnahmegerät nicht funktioniert hat.« Geht es hier vielleicht auch um die Frage, ob es mir nur um meine Aufnahme und nicht um ihn ging – ob er selbst es ernster genommen haben könnte als ich? Oder aber hat er mich, das Aufnahmegerät, kaputtgemacht mit seinem Wunsch, mir was mitzuteilen, mit seiner Aggression? Bin ich kaputtgegangen? Auch könnte es um die Frage gehen, ob ich funktioniert habe. Habe ich überhaupt etwas von ihm aufgenommen? Habe ich ihn noch präsent, sobald er aus dem Raum ist, bleibt von ihm etwas übrig? – Immer wieder von vorne? Abschließend möchte ich die Bedeutung der dargestellten Figuren des Rezipierens von Vlogs mit der Berührung und der Zersplitterung in Zusammenhang bringen. Durch das beziehungsnahelegende Format werden Wünsche evoziert, das heißt, das Subjekt kommt hier mit seinen eigenen Wünschen in Kontakt und wird von diesen berührt. Gleichzeitig findet es hier über die regulierte Bezogenheit der auf Youtube angebotenen Form der »Beziehung« einen Umgang mit den durch den Wunsch aufgetauchten Ängsten rund um Selbstwertthematiken und Enttäuschungen. Die Virtualität von Youtube wird hier zwischen die innere und äußere Realität gesetzt, um eben jenes Spezifische zu verhandeln, was sich paradigmatisch bei Mia und Jan finden ließ. Zeigt sich dabei ein Auseinanderdriften von innerer und äußerer Realität? Verhindert das Virtuelle eine Annäherung der beiden? Oder wird doch ein Rest, ein Mangel, eine körperliche Sehnsucht wie bei Jan bleiben, die in die Realerfahrung treiben? Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: WBG. Devereux, G. (1984). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erdheim, M. & Nadig, M. (1988). Psychoanalyse und Sozialforschung. In M. Erdheim, Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur (S. 61–82). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Löchel, E. (1997). Texte und Szenen: ein sozialpsychologisch-psychodynamischer Zugang. In dies., Inszenierungen einer Technik. Psychodynamik und Geschlechterdifferenz in der Beziehung zum Computer (S. 39–73). Frankfurt a. M., New York: Campus.
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»Ich habe es auch irgendwie ernster genommen« Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, A. (1986). Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In ders. (Hrsg.), Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur (S. 11–98). Frankfurt a. M.: Fischer.
Biografische Notiz
Clara-Sophie Adamidis, MA Psychologie, ist Doktorandin an der JGU/IPU und seit 2018 in Ausbildung zur Psychoanalytikerin am BPI Berlin. Sie ist berufstätig als Dozentin für Psychologie für Erzieher und Heilpädagogen bei der Stiftung SPI »Walter-May«. Ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt stellen die Digitalisierung und Subjekt- und Kulturtheorie dar.
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»#BorderlineRecovery« Vom Widerstandspotenzial im Genesungswunsch psychisch erkrankter Instagram-Nutzer Julia Katharina Degenhardt
»Denn daß gewisse Widerstände in seiner Seele sich regten, soll nicht geleugnet werden: es waren solche, die von früher her, ursprünglich und immer schon darin vorhanden gewesen, wie auch solche, die sich aus der gegenwärtigen Sachlage besonders ergaben, aus seinen teils mittelbaren, teils verschwiegenen Erlebnissen bei Denen hier oben.« (Thomas Mann, Der Zauberberg, S. 223)
In seinem kurzen Aufsatz »Widerstände gegen die Psychoanalyse« bemerkte Freud, dass es »reizvoll [wäre], die seelische Reaktion auf das Neue an sich zum Gegenstand einer Studie zu machen« (Freud, 1925e, S. 99). Er stelle immer wieder fest, dass Menschen auf das Neue und auf Veränderungen mit Widerständen reagierten. Letztlich wendeten sich diese jedoch nicht gegen das Neue an sich. Vielmehr richteten sich Veränderungswiderstände gegen die Wiederbelebung des Alten im Neuen, gegen das Aufleben altbekannter Ängste und Wünsche, die durch etablierte schützende und stützende Strukturen verdrängt gehalten würden. Im Rahmen von Veränderungen stünden diese Strukturen nun zur Disposition und würden durch Widerstände verteidigt. Veränderungswiderstände und das Neue, ebenso die digitale Welt werden derzeit vielstimmig zum Thema gemacht. Das Anders-werden-Wollen, die Selbstveränderung und Selbstverbesserung haben aktuell Hochkonjunktur. King, Gerisch und Rosa (2019) sehen das Ringen um Selbstveränderung und Selbstverbesserung in unserer wachstumsorientierten Gesellschaft als ubiquitären Imperativ: Die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse verlangten es dem Einzelnen ab, stets an sich zu arbeiten und sich selbst zu übertreffen. Das Anders-und-besser-werden-Wollen inszeniert sich eindrücklich und vielgestaltig auch in den sozialen Medien, vielleicht ja deshalb, weil uns die neuen Technologien zu der Annahme verleiten, dass wir, indem wir sie nutzten, einigen frustranen Beschränkungen und Begrenzungen nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert wären. Das liegt in 209
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der Natur der Technologien: Sie erweitern unsere körperlichen und geistigen Möglichkeiten oder erleichtern Prozesse, die ansonsten nur unter größten Anstrengungen ablaufen (siehe hierzu McLuhan, 1964). Die sozialen »Apparate« und Medientechnologien der heutigen Zeit schaffen eine niederschwellige Bühne für Selbstdarstellungen und – dies ließe sich sicher diskutieren – erleichtern es ihren Nutzern, miteinander in Kontakt zu treten. Das Medium selbst gerät dabei oftmals in Vergessenheit. Wir werden uns seiner Existenz zumeist erst dann wieder gewahr, wenn es zu funktionieren aussetzt oder wir uns an seiner Begrenztheit stoßen, die uns womöglich schmerzlich an die eigene erinnert (Lemma, 2016). In der psychoanalytischen Welt wird ein gewisses Unbehagen mit der digitalen Kultur, mit digitalen Medien und »Kontakt-Technologien« bemerkbar. Man liest von Omnipotenzfantasien oder desymbolisierenden Präsenzmaschinen (siehe z. B. Balzer, 2005, 2012) auf der einen und dem kommunikativen, kreativen und exzentrischen Potenzial (Altmeyer, 2013) der sozialen Medien auf der anderen Seite. Lemma (2015, 2020) zeigte anhand von Fallbeispielen, dass die digitale Welt Optionen zur Ausweitung von Lern- und Kreativitätsprozessen anbiete und als Unterstützung von Entwicklungsprozessen dienen könne. Die teilweise stark divergierenden, sehr kulturpessimistischen oder auch optimistischen, analytischen Diskurslinien wurden anschaulich von Löchel (2019) zusammengetragen. Das vermeintlich Binäre im Digitalen widerstrebt dem psychoanalytischen Denken als hilfloses Prinzip der spaltenden Vereinfachung komplexer Vielschichtigkeit. Und dennoch scheint die analytische Welt über die Digitalisierung digital nachzudenken, als allzu gute oder gar gefährliche Entwicklung. Darin artikulieren sich womöglich auch eigene Ängste vor den Veränderungen, mit denen uns die voranschreitende Digitalisierung der Gesellschaft – und es ließe sich ergänzen: des Psychischen und der Arbeit an ihm – zu konfrontieren scheinen. Zugleich weckt das Potenzial der lustvollen, kreativen Expressivität und des Spielens, das den Cyberräumen innewohnt, unsere Neugier. Übergeordnetes Ziel der vorliegenden Studie ist die Erkundung der subjektiven Ängste, Wünsche, Konflikte und Fantasien, die der Gebrauch sozialer Medien sowohl seitens der Nutzer als auch seitens der psychoanalytischen Digitalisierungsforschung bindet und entfesselt. Die konfligierenden inneren Bedürfnislagen von Menschen, die in der neuen digitalen Welt um Neuerungen und Selbstveränderungen ringen und zugleich an etwas Altem festhalten, illustrieren sich eindrucksvoll an einem neuen sozial-medialen 210
»#BorderlineRecovery«
Phänomen: Auf sogenannten Instagram-Recovery-Accounts dokumentieren und inszenieren Menschen, die angeben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, öffentlich einsehbar und tagebuchartig über mannigfaltige Kanäle (Bild, Ton, Text, Video) ihr Krankheitserleben und vor allem aber ihren Genesungs- und Veränderungswunsch. In diesem Gesundheitstrend für psychisch erkrankte Menschen illustriert sich die gesellschaftliche Forcierung der gesundheitsrelevanten Eigenverantwortung. Zugleich schlägt sich in ihm die voranschreitende Popularisierung des (psychologischen) Gesundheitsdiskurses nieder (Straub, 2020). In diesem Beitrag wird die unbewusste Bedeutung der sozial-medial artikulierten Genesungs- und Veränderungsbestrebung psychisch erkrankter Instagram-Nutzer an der Schnittstelle von klinischer Forschung, Sozialforschung und Medienkulturforschung untersucht. Er nähert sich damit einem Phänomen, das die psychoanalytische Welt ebenso neugierig macht wie befremdet: dem Medienverhalten von Patienten. Dabei richtet sich ein besonderer Fokus auf die Frage danach, wie digitale Funktionen mit psychischen korrespondieren, diese womöglich prothesenartig restituieren, reformieren oder gar degenerieren. Dem wird anhand einer tiefenhermeneutischen Auswertung zweier Forschungsinterviews mit Recovery-Account-Betreiberinnen auf den Grund gegangen. Die Interpretation der Interviews soll im Anschluss an eine kurze Überblicksdarstellung zum untersuchten Phänomen und dem Forschungsvorgehen vorgestellt und in einem letzten Teil diskutiert werden. Vielleicht kann die Suche nach dem Unbewussten im Digitalen dazu beitragen, unsere Scheu vor dem Neuen zu bannen – »[i]m wissenschaftlichen Betrieb sollte für die Scheu vor dem Neuen kein Raum sein« (Freud, 1925e, S. 100) – und die psychischen Korrelate der digitalisierten Kultur zu erhellen.
Recovery-Accounts auf Instagram Instagram ist eines der bekanntesten digitalen sozialen Netzwerke der Gegenwart, eine primär bildbasierte Plattform, eine Social-Media-App für das Smartphone, die inzwischen mehr Nutzer verzeichnet als ihr Geschwisternetzwerk Facebook. Die Recovery-Community auf Instagram eint das manifeste Anliegen zu »recovern« (engl. »to recover«), also zu gesunden. Der Wortstamm des englischen Begriffes »recovery« legt bereits nahe, dass die Wiederherstellung der Gesundheit auch ein Zu- oder Verdecken 211
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(engl. »to cover [up]«) enthalten könnte. Zudem findet der Begriff »recovery« auch in der Welt der digitalen Speichermedien Verwendung, aus der der Ausdruck »data recovery« (dt. »Datenrettung«) entspringt. Es handelt sich also um eine Bezeichnung, die durchaus geeignet wäre, sich in ein mechanistisches, gleichsam digitales Verständnis von Gesundheit und Krankheit einzufügen. Die Suche nach dem Hashtag-Schlagwort »#recovery« auf Instagram erzielt knappe 17 Millionen Beiträge. 2,2 Millionen Beiträge sind mit dem Hashtag »#anorexiarecovery« verschlagwortet und der Hashtag »#borderlinerecovery« verweist auf knappe 23.000 Beiträge (Stand: 15.08.2022). Prinzipiell ließe sich jede Diagnosekategorie im Suchfeld durch die Eingabe von Hashtags in der Recovery-Community ausfindig machen (zum Beispiel #Depression, #Zwangsstörung, #PTBS usw.). Ein wichtiges Merkmal der Recovery-Accounts ist die Verwendung von Kampfund Überlebensmetaphern, die Betreiber beschreiben sich als »Fighter«, »Warrior« oder »Survivor« und listen in einem kurzen Steckbrief ihre Diagnosen und andere krankheitsrelevante Eckdaten auf, wie etwa die Anzahl an Klinikaufenthalten oder den aktuellen Psychotherapiestatus. Wesentlicher Bestandteil der Recovery-Praxis ist das Verfassen von Beiträgen, in denen das Körper- und Selbsterleben, die Gedanken- und Gefühlswelt sowie Veränderungen an ihnen öffentlich dokumentiert und thematisiert werden. Natürlich spielt auch der Austausch unter den Recovery-Accounts eine zentrale Rolle. Die Dokumentation von Gedanken und Gefühlen erfolgt in Form von Beiträgen, sogenannten Posts, die im kachelförmigen Sammelsurium des Accounts deponiert werden und sich größtenteils aus Fotografien und dazugehörigen Textbeiträgen zusammensetzen. Auf den Profilen von Accountbetreibern, die an einer Essstörung leiden, finden sich viele Fotografien einzelner Nahrungsmittel, die über den Tag verteilt aufgenommen wurden. Oft sind die hier abgebildeten Nahrungsmengen besorgniserregend klein. Bei den Accounts, deren Betreiber sich als Borderliner bezeichnen, sind es häufig Selbstverletzungen, verheilt oder frisch versorgt und verbunden, die fotografisch dokumentiert werden. Die Spannbreite an Foto-Uploads reicht von verschwommenem Bildmaterial, aufgenommen mit niedrig auflösenden Smartphone-Kameras, bis hin zur aufwändigen Spiegelreflex-Makrofotografie von gut belichteten, ästhetisch angerichteten Tellerarrangements. Die zugehörigen Textbeiträge unter den Fotografien lesen sich wie Tagebucheinträge. Teils sind sie von intimstem Gehalt, teils auch deskriptiv-distanziert. In den meisten Fällen jedoch kennzeichnet 212
»#BorderlineRecovery«
sie eine für Instagram untypische Ausführlichkeit. Das primär bildbasierte Nutzungsprinzip von Instagram wird gewissermaßen zweckentfremdet. In der Recovery-Community ist das geschriebene Wort der bildlichen Komponente ebenbürtig.
(Digitaler) Genesungswunsch und Widerstand Der sozial-medial anvisierte Genesungswunsch psychisch erkrankter Menschen wurde weder im Rahmen psychoanalytisch-orientierter oder sozialwissenschaftlicher noch kulturtheoretischer Untersuchungen aufgegriffen. Eine Ausnahme stellt Pourshirazis (2008) herausragende empirisch-hermeneutische Arbeit zur Erhellung des psychodynamischen Geschehens in Suizidforen im Internet dar. Der vorliegende Beitrag widmet sich der unbewussten Bedeutung der Heilungsvorstellungen, Genesungswünsche und Selbstheilungsversuche von Recovery-Accounts auf Instagram. Forschungsanliegen ist die explorativ-rekonstruktive Aufdeckung unbewusster Motive, die den Genesungswunsch der Online-Subjekte unter der Oberfläche bewegen. Ausgehend von einer psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen Verständnisperspektive, wie sie etwa Horn, Beier und Kraft-Krumm (1984) in ihren Untersuchungen zu Gesundheitsverhalten und Krankheitsgewinn einnahmen, schlichen sich in den sozial akzeptierten und erwünschten Genesungswunsch auch weniger sozial erwünschte unbewusste Motivationen sabotierend ein. Bereits Abraham (1919) und Nunberg (1925) unterstrichen das Widerstandspotenzial, das konkreten Genesungsvorstellungen von Patienten innewohnen könne. Manche Patienten erhofften sich etwa unbewusst eine Art Verdrängungs-Komplizenschaft vom Therapeuten, wenn sie sich in Behandlung begäben. Und auch Freud (1926d) meinte, dass in der Art, wie Patienten das Symptom bewusst zu beheben versuchten, sich etwas von dem unbewussten Umgang mit unerwünschten Triebregungen zeige, der das Symptom doch gestalte. Er nannte dies den sekundären Abwehrkampf. Die Genesungsbemühung selbst kann folglich symptomatisch präformiert sein. In den subjektiven Genesungsvorstellungen können sich die subjektiven Wege der Symptombildung abbilden. Vor diesem theoretischen Hintergrund scheint es plausibel, dass auch die medial verfolgte Genesungsbemühung der Recovery-Accounts etwas vom Symptom enthält, dass womöglich der Recovery-Genesungswunsch 213
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selbst als Widerstand im Namen der Symptombildung und -erhaltung fungiert. Herauszufinden, an welche digitalen Funktionen sich das Symptom dabei heftet und welche unbewusste Bedeutung einzelnen Medienaspekten zukommt, ist das Ziel dieses Beitrags. Ein besonderer Akzent wird dabei auf die Wünsche, Fantasien und Ängste gerichtet, die die Medienspezifika Instagrams in den Recovery-Nutzern anregen und entfesseln, insbesondere auf solche unbewussten Sinnstrukturen, die konträr zu den intendierten Zielen der gesellschaftlichen Gesundheits- und Optimierungslogik stehen und die sich als Widerstände im Genesungswunsch erweisen könnten.
Methode Für die explorative Erkundung unbewusster Sinnstrukturen im Forschungssetting bedarf es eines qualitativen, niedrig strukturierten Erhebungsverfahrens, das – etwa im Vergleich zum strukturierten qualitativen Leitfadeninterview – den Aufbau einer spontanen Beziehungsdynamik zwischen Interviewtem und Interviewer erlaubt. In der vorliegenden Untersuchung kam hierzu das themenzentrierte Einzelinterview (Löchel, 1997; Schorn, 2000) zum Einsatz, das auf die von Leithäuser und Volmerg (1979) konzipierte themenzentrierte Gruppendiskussion zurückgeht. Es ermöglicht eine kommunikative Unterstützung und Rückbindung des Gesprächs an das explizit formulierte Thema »Krankheitserleben und Genesungswunsch auf Instagram«. Eine entsprechende Forschungskommunikationsmethode beginnt mit einer Themenstellung, hält jedoch das Gespräch insofern offen, als es keinem vorgefertigten Interviewleitfaden folgt und den Interviewten dazu auffordert, alles zu sagen, was ihm zum Themenfokus einfällt. Die im Folgenden präsentierten Auswertungseindrücke aus zwei Forschungsinterviews entspringen einer Stichprobe, die sich aus 15 weiblichen, volljährigen Recovery-Account-Betreiberinnen zusammensetzte. Covid-bedingt wurden die Interviews im digitalen Setting als Online-Video-Meetings durchgeführt. Die einzelnen Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert, pseudonymisiert und anschließend ausgewertet. Als Auswertungsmethode diente das tiefenhermeneutische Auswertungsverfahren, das wesentlich auf dem szenischen Verstehen (Argelander, 1970; Lorenzer, 1970) beruht. Ein solches interpretativ-rekonstruktives sozialwissenschaftliches Auswertungsverfahren ermöglicht es, »die ausgeschlossenen und desymbolisierten Interaktionsformen intersubjektiv wieder zugänglich 214
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zu machen« (Leithäuser & Volmerg, 1979, S. 165). Die Auswertung der Interviewmanuskripte erfolgte im Rahmen einer tiefenhermeneutisch versierten Interpretationsgemeinschaft. Es ist davon auszugehen, dass in der Art und Weise, wie im Interview und in der Interpretationsgruppe über die Instagram-Recovery gesprochen wurde, Abwehr, Ängste, Konflikte und Wünsche erkennbar werden, in denen sich die subjektive Bedeutung der Recovery-Praxis niederschlägt.
@TroubleTroop1: »Sein Leid zu teilen, ist das Größte« @TroubleTroop hatte viele Follower. 10.000 Instagram-Nutzer abonnierten sie. Ihr Verhältnis zu diesen vielen fremden Leuten blieb über das Interview hinweg ungewiss. Der Account umfasste ca. 60 Beiträge. In dem kurzen Steckbrief neben ihrem Profilnamen standen ihr Vorname und ihr Alter, sie sei 19 Jahre alt. Darunter prangte die Überschrift »Mental Health Recovery«, unter der wiederum viele schwere Diagnosen aufgelistet standen. Als @TroubleTroop den virtuellen Raum zum vereinbarten Termin betrat – bei der Terminvereinbarung hatte sie versehentlich eine falsche EMail-Adresse hinterlegt, was die Übersendung der Einverständniserklärung und damit die Etablierung eines sicheren Forschungsrahmens zunächst erschwerte –, waren in ihrem Videokästchen zunächst nur Haut und Narben zu sehen: Vor der Kamera bewegten sich hektisch Arme. Erst nach einigen Sekunden beruhigte sich das Bild und die Interviewerin war in der Lage, weitere Eindrücke einzufangen. Die Interviewte hatte bunt gefärbte Haare und trug auffällige Piercings. Das Gespräch war von kräftigen und schnell wechselnden Affekten durchsetzt und bedurfte äußerer Strukturierungsstützen: Nicht nur wechselte die Interviewte während eines besonders sensiblen Themas eigenständig ihr Setting aus der frei gewählten, halb liegenden Position auf der weichen Couch an einen hölzernen Tisch. Auch war eine aktive Haltung der Interviewerin vonnöten. Erst nach wiederholten Gesprächsangeboten entspann sich ein Accountgründungsmythos. Sie habe den Account eigentlich als Ratgeber-Account angefangen, um anderen zu helfen, denen es schlecht gehe. Diese anderen hätten ihr aber bald 1 Die Profilnamen der Accountbetreiber und andere personenbezogene Daten mit entsprechender Kennzeichnung wurden pseudonymisiert.
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vorgeworfen, gar nicht zu wissen, wie sich das anfühle, unter einer psychischen Erkrankung zu leiden. Daraufhin habe sie kurzerhand einen Post verfasst, in dem sie aufgeklärt habe, dass auch sie krank und damit ein »Teil von der Community« sei. Dieser Post sei gut angekommen. Die Interviewte beschrieb so ihre persönliche Entwicklung vom Ratgeber-Account zum Recovery-Account. Vielleicht fiel es ihr zu Beginn leichter, aus der souveränen Position der Ratgebenden zu sprechen. Indem sie zunächst von einer Seite berichtete, die über den Dingen stand, sogar eine Stütze für Ratsuchende war, versuchte sie womöglich auch, eine Gemeinsamkeit mit der Interviewerin zu finden, von der sie sich zunächst erhoffte, verstanden zu werden, ohne sich erklären zu müssen. Zugleich artikuliert sich darin womöglich auch der Wunsch, in der unbekannten Interviewsituation nicht alleingelassen zu werden. Dazugehören, in Kontakt und »Teil der Community« sein, konnte in der Vorstellung der Interviewten nur derjenige, der dasselbe oder derselbe war wie die anderen. »Teil der Community« zu sein, bedeutete für @TroubleTroup geteilte Identität, Selbigkeit. Der Wunsch nach unvermitteltem und unmittelbarem Verständnis schlug sich auch in einer zentralen Beziehungsszene des Interviews nieder: Wenn sie andere Account-Betreiber zufällig während ihrer Klinikaufenthalte »im echten Leben« getroffen habe, sei es erleichternd für sie gewesen, nicht erklären zu müssen, wer sie sei, weil die sie schließlich schon von Instagram kannten: »Es ist erleichternd, wenn jemand sagt, ›Ich kenne dich von Instagram‹ […]. Du musst dieser Person, wenn sie dich wirklich verfolgt, nicht sagen: ›Hey, ich hab Borderline, ich hab Posttraumatische Belastungsstörung, ich hab suizidale Gedanken‹, weil die das schon weiß.«
In ihrer Destruktivität und ihrem Leid verstanden zu werden, verbunden zu sein, ohne sich erklären oder kennenlernen zu müssen, »sein Leid zu teilen, ist das Größte«. Im Verlauf des Interviews schmiegte sich an die völlig gute, verständnisvolle und gleichfühlende Welt der Recovery-Community eine feindliche und verfolgende Objektwelt. So erzählte @TroubleTroop: »Ich geh’ sehr oft auf der Straße und sehr oft wird mir irgendwas hinterher geschrien, gerade, wenn man kurzärmlig geht, dann ist das Problem praktisch vorprogrammiert. Es gibt dann so Leute, die einem nachschreien:
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›Scheiß Emo‹, oder eben: ›Schlitz’ dich auf !‹, oder: ›Geh’ sterben!‹ Es gibt immer solche Leute, egal, wo man ist«.
Auch der Algorithmus von Instagram lösche regelmäßig Bilder, auf denen ihre verheilten Narben zu sehen seien. Ihre Erkrankung werde eben nicht gut aufgenommen und außerdem tabuisiert. Instagram versuche »Einzelfälle irgendwie zu sammeln und wegzudrängen und den Menschen damit irgendwie die Augen zu verbinden«. Der Welt des verbindenden Verständnisses wird im Narrativ des Interviews so eine disparate Welt des trennenden Unverständnisses außerhalb der Recovery-Community gegenübergestellt. Eine Welt, die auf die Demonstration von (Selbst-)Verletzungen mit Angriffen und Ausgrenzung reagiere. In dieser Welt schien es, als bliebe der Schmerz @TroubleTroops ungesehen und unerhört, ein Erleben, das durch eine spontane Erinnerung an eine Beziehungsszene mit ihrer Mutter noch akzentuiert wurde. Sie habe beim gemeinsamen Einkaufen einmal ihre Jacke vergessen, wodurch ihre Haut und Narben für alle zu sehen gewesen seien. Ihre Mutter habe sie daraufhin aufgefordert, fünf Meter Abstand zu halten, damit niemand bemerke, dass ihre Tochter zu ihr gehöre. Die Interpretationsdynamik in der Interpretationsgruppe reproduzierte das Ausschluss-Verlassenheits-Motiv des Interviewnarrativs. Immer wieder zeigten sich Abschweifungen und Ablenkungen von der Auseinandersetzung mit dem Interpretationsmaterial. Teilweise wurden die Zerstreuungen der Interpretationsgruppe mit der expliziten Aufforderung unterbrochen, zum Material zurückzukehren. Eine Verwertbarkeit der Abschweifung, der Differenz und Trennung schien zu diesem Zeitpunkt abwegig. Ein Großteil der Interpretationsgruppe war mit einem vernachlässigenden Objekt identifiziert. Die Unterbrechungen der Abschweifungen erschienen wie ein hilfloser Aufmerksamkeitsappell, mit dem womöglich auch @TroubleTroop ihr Erleben von Verlassenheit und Desinteresse bekämpfte. Gegen Ende des Interviews räumte sie sichtlich bekümmert ein: »Ich mache die Erfahrung, je mehr ich mich positiv gebe, desto mehr Leute verschwinden eigentlich von meiner Seite, weil ich im Moment nichts Negatives zu berichten habe.« In diesen Szenen verdichteten sich Verlassenheitsängste und fusionäre Zugehörigkeitswünsche sowie deren Kehrseite separierender Destruktivität im Angesicht der Annihilationsängste, die mit dem exzessiven Zugehörigkeitswunsch und dessen Bewältigung im Modus der imitativen Identifi217
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kation assoziiert waren. Die eigene Destruktivität wurde dabei erlebt, als käme sie von außen beziehungsweise von Instagram. So zeichnete sich zwar deutlich der Wunsch ab, trotz und mit der eigenen Aggression, dem eigenen »Trouble«, von der Instagram-Recovery-Community angenommen, aufgenommen und verstanden zu werden. Eben die eigene, gegen das Selbst gerichtete Aggression und ihre Inszenierung waren es jedoch, die ein wirkliches Verstehen der Community erschwerten. Die (Selbst-)Destruktivität kann so als unbewusster Versuch der Herstellung von Sicherheit im Angesicht eines drohenden Grenz- und Identitätsverlusts und gleichzeitig als deren Gefährdung verstanden werden. @TroubleTroops Genesungswunsch auf Instagram bewegte sich damit zwischen der Sehnsucht nach Verständnis und Zugehörigkeit und dem »Angriff auf Verbindungen« (Bion).
@ExistenceBetweenBlackAndWhite: »Instagram hat ja Funktionen, da kann ich mich ja schützen« @ExistenceBetweenBlackAndWhite betrieb einen privaten Account, der von ca. 2.000 Nutzern abonniert wurde und ca. 800 ausführliche Beiträge der Betreiberin enthielt. Im öffentlichen Steckbrief dieses Accounts waren das Alter von 26 Jahren, sowie neun Jahre Therapieerfahrung und fünf Klinikaufenthalte aufgeführt. Auch die Diagnosen und der Beruf der Account-Betreiberin ließen sich dem Steckbrief entnehmen. Die Interviewte zeigte sich sehr motiviert, an einem Interviewgespräch teilzunehmen. Allerdings wollte sie sich gerne auf das Interview vorbereiten, »Gedanken und Stichpunkte machen«, weil sie Schwierigkeiten mit frei geführten Gesprächen habe. Zum vereinbarten Termin erschien eine zarte Frau ohne vorbereitete Notizen, die im Schneidersitz auf dem Boden vor ihrer Kamera saß. Vor dem Gespräch bedurfte es zunächst eines akustischen »EinTunens«. Die Interviewte konnte die Interviewerin hören, aber von dieser kaum gehört werden. Gefragt, ob sie vor dem Beginn noch etwas sagen oder fragen wolle, antwortete sie: »Nö, ich denk’ mal das passt soweit [lacht]. Wenn alles mit der Verbindung so funktioniert, bin ich schon zufrieden.« Das Funktionieren der Verbindung schien hier vom (akustischen) Verständnis der Gesprächsinhalte losgelöst. In dieser Anfangsszene war ein gelingender Kontakt, eine funktionierende Verbindung in paradoxer Weise an ein Objekt gekoppelt, das nicht (zu-)hört und nicht versteht. 218
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Ihr Recovery-Narrativ eröffnete @ExistenceBetweenBlackAndWhite mit den folgenden Worten: »Als ich angefangen hab’, war’s für mich so ’ne Art Tagebuch, ein Ort, wo ich meine Gedanken und Gefühle ungefiltert aufschreiben konnte. Ich hatte in der realen Welt wenig Raum dafür […]. Ich wollte da meine echten Freunde nicht weiter mit reinziehen, aber brauchte halt einfach ’nen Ort, um das irgendwie loszuwerden und nicht in mich hineinzufressen.«
In dem Accountgründungsnarrativ konkretisierte sich eine innere Beziehungswelt, in der aus unterschiedlichen Gründen nicht genug Platz für sie, ihre Gedanken und Gefühle zu sein schien. Es hinterließ den Eindruck, als suchte die Interviewte mit ihrem Recovery-Anliegen eine von der realen Welt getrennte virtuelle Existenz, in der das Innenleben ohne Schulderleben abgelegt und veräußert werden könnte, einen Ort, an dem Gedanken und Gefühle abgeführt werden könnten, ohne dass sie dafür reale Personen bräuchte, denen sie womöglich zur Last fiele, oder die ihrerseits eine Last bedeuten könnten. @ExistenceBetweenBlackAndWhite verfasse regelmäßige, fast tägliche ausführliche Updates über ihr Behandlernetzwerk, ihre Therapietermine und ihren Zustand. Die Beiträge, die sie schreibe, seien teilweise viele Seiten lang. Wenn sie die 2.000-Zeichen-Begrenzung für einzelne Posts auf Instagram überschreite, setze sie den Eintrag in der Kommentarspalte fort, die eigentlich für die Kommentare der Leser vorgesehen sei. Sie nummeriere ihre Kommentare wie Seiten, »mache blöde Pfeilchen und Nummern dran, dass man weiß, wo man ist, und dann sind unter dem Beitrag zwei bis sechs Kommentare noch untendrunter, eben weil man halt nicht alles am Stück als Fließtext machen kann«. So umgehe sie die Zeichenbegrenzung des Programms und damit womöglich die Platzbegrenzung, die auch ihre innere Objektwelt ihr nahelegte. Das Motiv des fehlenden Raumes verdichtete sich, ebenso wie der Versuch, Raum zu schaffen. Die Interviewte legte ihre Gedanken und Gefühle in wohl portionierten, strukturierten und vorverdauten Häppchen in den Raum der anderen hinein. Indem sie so ihre eigenen Grenzen ausweitete, begrenzte sie jedoch zugleich den Raum der anderen, der nun schließlich zu guten Teilen von ihr selbst beschrieben war. Es erweckte den Anschein, als ringe sie damit, wie viel Raum der andere in ihrer Recovery-Entwicklung einnehmen dürfe. So schilderte sie auch, dass sie einige Leser, die 219
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womöglich »nicht gerade wertschätzend« auf ihre Beiträge reagierten, im Programm blockiere. »Instagram hat ja Funktionen, da kann ich mich ja schützen. Ich kann privat gehen, ich kann mich wehren, ich kann blockieren, ich kann melden. Das kann ich im echten Leben nicht so unbedingt.« Bevor sie die langen Beiträge veröffentlichte und in die Verwahrung ihres Recovery-Accounts gab – weit über 500 Word-Seiten habe sie inzwischen beschrieben –, unterzog sie diese einem selbstentwickelten Vorprüfmechanismus. Sie habe eine sogenannte WhatsApp-Gruppe-AnSich-Selbst eingerichtet. »Das heißt, man braucht erst zwei Personen [I: ja], dann werf ’ ich die andere Person raus und kann quasi mir selbst schreiben. Das is’ wie ein mobiler Notizzettel.« Die Produktion von Beiträgen und Inhalten verlief also durch einen Kunstgriff unter Ausschluss der anderen. In der kontrolliert hergestellten Abwesenheit des Objekts eröffnete sich für die Accountbetreiberin ein Denkraum: »Das is’ einfach ’ne gute Maßnahme, was zu schreiben, aber dann doch noch mal darüber nachzudenken.« Gleichzeitig zeigte sich darin auch die Angewiesenheit auf ein Objekt, das eigenmächtig eingeladen und ausgeschlossen wurde. Das kontrollierte Einladen und Ausstoßen von anderen wurde bedeutsam, um einen Raum für die psychische Verdauungsarbeit zu schaffen. Die digitalen Applikationen und Funktionen (Blockieren, Privatgehen, Melden und Löschen), die zum Einsatz kamen, ließen die Objekte illusionär beherrschbar erscheinen. Die Interpretationsdynamik griff das Motiv der Kontrolle und Beherrschung komplementär auf. Die Interpretationsgruppe assoziierte zu den ausführlichen tagebuchartigen Beiträgen und Therapie-Updates spontan eine Empfehlung Freuds an eine Analysandin, neben der analytischen Kur kein Tagebuch zu führen, damit die seelischen Inhalte dem analytischen Raum vorbehalten blieben und nicht außerhalb der Behandlung abgeführt würden. In der Erinnerung an die Freud’sche Empfehlung artikulierte sich ein Unbehagen mit dem exzessiven und öffentlichen Tagebuchschreiben der Interviewten im Namen ihres Heilungsprozesses. Zugleich ließe sich die Assoziation auch als begrenzender Reglementierungsimpuls, als limitierender Zugriffsversuch auf die Inhalte und Produkte der Accountbetreiberin deuten. Der Raum, in dem gedacht und gefühlt wurde, schien hart umkämpft. Das Recovery-Anliegen der Interviewten beinhaltete ein Bedürfnis nach Selbst- und Fremdkonturierung angesichts eines klaustrophobisch verarbeiteten Begrenzungserlebens. 220
»#BorderlineRecovery«
Schlussbemerkungen Die subjektiven Bedeutungen der Recovery-Praxis sind vielfältig. Während @TroubleTroop mit ihrem Recovery-Account Verbindung, Verständnis und Zugehörigkeit auf Instagram suchte und unbewusst zugleich sabotierte, war es für @ExistenceBetweenBlackAndWhite vor allem die trennende Eigenschaft digitaler Funktionen und Repräsentationen, die ihr eine Art seelischen Rückzugsort und Denkraum in der digitalen Welt einzurichten vermochte. Sowohl die exzessiven Fusionswünsche als auch der Wunsch nach Selbstund Fremdkonturierung ließen sich unter das Bedürfnis nach Kontaktregulation subsumieren. Die technisch vermittelte Möglichkeit der Einflussnahme auf die An- und Abwesenheit von Objekten schien für beide Recovery-Accounts auf Instagram eine zentrale Rolle zu spielen. An dieser Stelle sei auf das »Fort-Da-Paradigma« verwiesen, das Löchel (2019) für geeignet hält, um über Medien nachzudenken. Mit ihm ließe sich Instagram als Plattform fassen, auf der psychisch Erkrankte spielerisch in Beziehung zu ihren Symptomen wie auch zu (versorgenden) Objekten treten, sie einerseits als Teil ihrer Identität und ihrer Beziehungsgestaltung erfahrbar werden lassen (»Da!«) und andererseits mit den Funktionen der Applikation eine Kämpfer-Identität konstruieren, die die erfahrene Hilflosigkeit und den Objektappell des Symptoms versteckt: »Fort!« Die erlebte Ohnmacht der eigenen Erkrankung und der Macht der Objekte gegenüber erscheint mit den Programmfunktionen von Instagram besser bewältigbar. Nicht nur die kreative Schöpfung eines Accounts, sondern auch seine Einbettung in die öffentliche Sphäre, die das Selbst in Beziehung zu an- und zugleich abwesenden Anderen setzt, ermöglichen den Userinnen eine reflexive Selbstformation in der schützenden und selbst hergestellten Präsenz des Abwesenden. Dass sich im Angesicht der »gegenwärtigen Sachlage« der Digitalisierung und der hier erhellten ihr inbegriffenen illusorischen Bewältigungsversuche eines ohnmächtigen Ausgeliefertseins (sowohl den Objekten als auch der Erkrankung gegenüber) in der psychoanalytischen Welt gewisse Widerstände regen, verwundert kaum. Denn diese setzt sich doch für die heilsame und entschleunigte Anerkennung der Tatsachen menschlicher Begrenztheit und Ohnmacht ein und steht deren vorschneller illusorischer Bewältigung oder Schlichtung kritisch gegenüber. Die Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen, das Ausgeliefertsein anzuerkennen, setzt allerdings die Herstellung einer Atmosphäre voraus, in der das Unaushaltbare aushaltbar(er) ist. 221
Julia Katharina Degenhardt
Als ein auf den ersten Blick »unspektakuläres« Ergebnis dieser Forschungsarbeit ließe sich abschließend festhalten, dass sich in der digitalen Subjektivität viel von unseren Ängsten und deren Abwehr zeigt und es deshalb durchaus lohnenswert sein kann, das sozial-mediale Dasein von Patienten und Patientinnen im therapeutischen Gespräch zu erkunden, ebenso wie die mit ihm in Verbindung stehenden Ängste, Wünsche und Fantasien. Indem wir uns auf die Suche nach dem Unbewussten im Digitalen begeben, das Alte im Neuen und womöglich auch Neues im Alten entdecken, könnten wir unsere »Scheu vor dem Neuen« (Freud, 1925e, S. 100) ein wenig mildern. Literatur Abraham, K. (1919). Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 5, 173–180. Altmeyer, M. (2013). Die exzentrische Psyche: Zur zeitgenössischen Neigung des Seelenlebens, aus sich herauszugehen und zu zeigen, was in ihm steckt. Forum Psychoanal, 29, 1–26. Argelander, H. (1970). Die szenische Funktion des Ichs und ihr Anteil an der Symptomund Charakterbildung. Psyche – Z Psychoanal, 24(5), 325–345. Balzer, W. (2005). Lust am Nichtdenken? Zum Verhältnis von Erregung und Bedeutung in beschleunigten und entgrenzten Lebenswelten. Psychoanalyse im Widerspruch, 17, 39–56. Balzer, W. (2012). Subjekt und Synapse: Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Maschinen. Psyche – Z Psychoanal, 66, 728–751. Freud, S. (1925e). Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. GW XIV, 99–110. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1926d). Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, 113–205. Frankfurt a. M.: Fischer. Horn, K., Beier, C. & Kraft-Krumm, D. (1984). Gesundheitsverhalten und Krankheitsgewinn: Zur Logik von Widerständen gegen gesundheitliche Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag. King, V., Gerisch, B. & Rosa, H. (2019). Lost in Perfection: Impacts of Optimisation on Culture and Psyche. New York: Routledge. Leithäuser, T. & Volmerg, B. (1979). Anleitung zur empirischen Hermeneutik. Psychoanalytische Textinterpretation als sozialwissenschaftliches Verfahren. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lemma, A. (2015). Psychoanalyse in der technologischen Kultur: Überlegungen zum Schicksal des Körpers im virtuellen Raum. Psyche – Z Psychoanal, 69(5), 391–412. Lemma, A. (2016). Eine Ordnung der reinen Dezision: Aufwachsen in einer virtuellen Welt – das Körpererleben des Jugendlichen. In A. Lemma & L. Caparrotti (Hrsg.), Psychoanalyse im Cyberspace? Psychotherapie im digitalen Zeitalter (S. 125–156). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
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»#BorderlineRecovery« Lemma, A. (2020). Trans-itorische Identitäten: Einige psychoanalytische Überlegungen zu Transgender-Identitäten. Jahrbuch der Psychoanalyse, 81, 83–114. Löchel, E. (1997). Inszenierungen einer Technik: Psychodynamik und Geschlechterdifferenz in der Beziehung zum Computer. Frankfurt a. M.: Campus. Löchel, E. (2019). »Sprache des Abwesenden«: Psychoanalytische Reflexionen zum Subjekt des digitalen Zeitalters. Psyche – Z Psychoanal, 73(9/10), 698–725. Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion: Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mann, T. (2001 [1924]). Der Zauberberg. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. McLuhan, M. (1964). Understanding Media: The Extensions of Man. New York: Routledge. Nunberg, H. (1925). Über den Genesungswunsch. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 11(2), 179–193. Pourshirazi, S. (2008). Suizidalität und Beziehung: Eine theoretische und empirisch-hermeneutische Studie. Gießen: Psychosozial-Verlag. Schorn, A. (2000). Das »themenzentrierte Interview«. Ein Verfahren zur Entschlüsselung manifester und latenter Aspekte subjektiver Wirklichkeit. Forum Qualitative Sozialforschung, 1(2), 1–9. Straub, J. (2020). Vom Prothesengott zur Psychoprothese: Über Psychotherapie und Selbstoptimierung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Biografische Notiz
Julia Katharina Degenhardt, geb. 1994, ist Psychologin und promoviert in einer Kooperation zwischen der Goethe-Universität Frankfurt und der IPU Berlin zur subjektiven Bedeutung des medial artikulierten Heilungswunsches psychisch erkrankter InstagramNutzer und -Nutzerinnen. Sie befindet sich in Weiterbildung zur Psychoanalytikerin und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin in Berlin und arbeitet in der Bibliothek der IPU, wo sie ein disziplinäres Repositorium für Psychoanalyse mit dem Namen »OEDIPUB« aufgebaut hat.
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»Ich glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann« Subjektives Erleben und psychodynamische Bedeutungsdimensionen der Dating-App Tinder Carolin Schnackenberg
Der Titel dieses Buches: Virtuelle Berührung – zersplitterte Realität spricht das schwierige Paar von Virtualität und Realität an, dessen Verhältnis zueinander nicht leicht auszumachen ist.1. Dies wird in Bezug auf die verschiedenen, ständig in Veränderung begriffenen Phänomene der digitalen Medien nur allzu deutlich, deren Eigenschaften technischer Virtualität nicht in Widerspruch zur Wirklichkeit treten, sondern vielmehr als Teil der Lebenswelt in das Alltägliche vordringen. So bewegen sich beispielsweise Rieger, Schäfer und Tuschling (2020) aus medienwissenschaftlicher Perspektive mit der Formulierung »virtuelle Lebenswelten« jenseits einer Gegenüberstellung von Virtualität und Realität und verweisen auf Bereiche alltäglicher technischer Virtualität (zum Beispiel virtuelle Klassenzimmer, virtuelle Museen oder die Virtual Library, in der sich E-books ausleihen lassen).2 Diese Phänomene werden ihren medialen Eigenschaften entsprechend wie Teile der Wirklichkeit wahrgenommen und erlebt, indem sich handelnd in ihnen bewegt wird. So visualisiert die Dating-App Tinder beispielsweise, welche Nutzer*innen in näherer Umgebung ebenfalls einen Account bei diesem Anbieter haben. Wenn ich reise und mich von verschiedenen Orten aus anmelde, mache ich in meiner neuen Umge1 Zum Begriff des »Virtuellen« im Kontext psychoanalytischer Medienforschung siehe Löchel, 2002. 2 Dies beschreiben Rieger, Schäfer und Tuschling (2020) aus medienwissenschaftlicher Perspektive mit der anschaulichen Formulierung: »Das Virtuelle hat sich in Form multipler virtueller Lebenswelten vielmehr auf das Smarteste an das Alltägliche angeschmiegt« (S. 1).
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bung auch Erfahrungen, die mir mittels der Informationen dieser Anwendung zuteilwerden. Das sind Erfahrungen in Bezug auf mich und meine Umgebung, die an die Eigenschaften dieses spezifischen Mediums geknüpft sind. Auf der anderen Seite können neue Techniken und Medien kaum außerhalb der kollektiven Bedeutungen, in die sie eingewoben sind und die mit subjektiven Fantasien verknüpft sind, verstanden werden (u. a. Löchel, 1997, 2002). So lässt sich annehmen, dass technische Eigenschaften des Mediums Tinder, zum Beispiel die Bedingung räumlicher Nähe, subjektive Vorstellungen nahelegen, den Bereich des medial vermittelten Kontakts in der Fantasie zu überschreiten. Im Folgenden hoffe ich zeigen zu können, wie das Bedeutungspaar Wunsch und Realität im Kontext der Dating-App Tinder auf spezifische Weise in Bewegung gerät und sich damit verbundene Hoffnungen und Enttäuschungen der Einzelnen zeigen lassen.
Beschreibendes zur App Der Name der App Tinder teilt seine englische Wortherkunft mit dem deutschen Zunder und bewegt sich, verbunden mit dem dazugehörenden Icon, einer stilisierten Flamme, im Bedeutungshorizont von Brennbarkeit. Das kann als Anspielung auf sich entfachende Leidenschaften verstanden werden, aber auch als Warnsymbol vor leicht entflammbarem Material. »Das brennt wie Zunder« verdeutlicht die besondere Eigenschaft, bereits aus kleinsten Funken Feuer zu entfachen. Angespielt wird offenbar auf ein ansteckendes Begehren. Dating-Apps können trotz ihrer »modernen Gestalt« in einer bereits bestehenden Reihe von traditionellen Formen der Paarbildung betrachtet werden. Wichtig dabei ist, dass es bei der Partner*innensuche verschiedene relevante Motive gibt, die da reichen von der Fantasie, mit jemandem zusammen zu sein, über einmalige oder wiederholte, mehr oder weniger sexuelle Begegnungen, bis hin zu längeren Paarbeziehungen oder Lebensgemeinschaften. Dating-Apps knüpfen dabei auch an die Entwicklung sozialer Medien und deren Charakteristika und Regeln an, etwa darin, wie Nutzer*innen Inhalte generieren, anzeigen und austauschen, also wie sie miteinander kommunizieren können (Zajc, 2015). Dating-Apps scheinen fester Bestandteil der alltäglichen Lebenswelt sehr vieler junger Erwachsener geworden zu sein (Gatter & Hodkinson, 2016; Timmermans & De Caluwé, 2017). Und die digitale Anwendung Tinder 226
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ist in diesem Zusammenhang, wenngleich nicht die erste ihrer Art,3 eine der bekanntesten. Tinder kann auf dem Smartphone oder dem Rechner angewendet werden. Zunächst muss ein Profil erstellt werden, bei dem es gilt, vorgegebene Auswahlkriterien zu definieren und sich selbst, einem festgelegten Rahmen entsprechend, darzustellen. Dafür können bis zu sechs digitale Fotos und ein Text mit bis zu 500 Zeichen eingefügt werden. Zu den Auswahlkriterien zählen zum Beispiel Alter und Geschlecht sowie die bereits angeführte Bedingung räumlicher Nähe; das heißt, es werden nur Nutzer*innen angezeigt, die sich aktuell in der näheren Umgebung befinden. Tinder zeigt dann diejenigen Nutzer*innen nacheinander an, die diesen Kriterien entsprechen. Das Gefallenfinden an jemandes Darstellung wird durch sogenanntes »Swipen«, eine gleitende Bewegung der Finger über den Bildschirm, in diesem Fall nach rechts ausgedrückt, Nicht-Gefallenfinden durch die entsprechende Bewegung nach links. Bei gegenseitigem Gefallen teilt die App ein sogenanntes »Match« mit – was so viel bedeutet wie »Paar«, »Gleiches« oder einfach etwas, das »miteinander verbunden« werden kann. Mit einem Match wird es möglich, über Textnachrichten miteinander in Kontakt zu treten. Für die App ist ihre Zugänglichkeit und die Betonung von Geschwindigkeit (David & Cambre, 2016) wesentlich. Ein Tinder-Profil ist vergleichsweise einfach zu erstellen und die App ist jederzeit über das Smartphone aufrufbar. Die Bedingung der räumlichen Nähe suggeriert dabei schnelle Begegnung, wie das Swipen eine rasche, spontane Bewegung darstellt, deren Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt deutlich wird.
Verstrickungen mit einem Untersuchungsgegenstand – Umrisse des populären und wissenschaftlichen Diskurses Gerade zu Beginn des Forschungsprozesses war es nicht leicht, sich ein Stück weit von den Vorstellungen und Fantasien zu lösen, die sich um die Anwendung Tinder ranken. Zum Beispiel, dass es für einen Teil derer, die die App nutzen, ausschließlich um flüchtige sexuelle Begegnungen gehen 3 Die App Grindr für Männer, die Männer kennenlernen wollen, funktioniert ebenfalls nach dem Prinzip der räumlichen Nähe und ähnelt Tinder in der Anwendung. Diese App gibt es bereits seit 2009, Tinder seit 2012.
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würde, während andere sich länger dauernde Beziehungen wünschen. Beides schien sich auszuschließen. Diese Feststellungen irritieren jedoch, da beispielsweise Flirten mehr als ein Raum des Möglichen, des »Alsob« verstanden werden kann, der mit der Offenheit dessen, was möglich werden könnte, spielt (Fleming, 2015). Zum Flirt in Präsenz kann beispielsweise die spielerische Hinwendung zu einer dritten Person, wie das Spiel mit Anwesenheit und Abwesenheit gehören (ebd.). Die Versuche, eindeutige Zuordnungen herzustellen, wie sie sich ja auch in einer Eigenschaft des Mediums, dem Ja-Nein-Prinzip der Swipe-Logik, widerspiegeln, werden bedeutsam, wenn über Tinder gesprochen wird. Denn sie scheinen darauf hinzuweisen, dass auch Unsicherheit im Spiel ist, wenn es darum geht, auszumachen, was sich im Kontext dieses spezifischen Mediums vermittelt. Eine weitere Irritation besteht darin, dass sich Sprecher*innen im wissenschaftlichen Diskurs oft auf populäre Annahmen und Zuspitzungen über Tinder beziehen. So legt ein in wissenschaftlichen Untersuchungen viel zitierter Artikel eines populären Magazins die Annahme nahe, dass es sich bei Tinder um eine sogenannte Hookup-App4 handle. Diese Annahme wird in wissenschaftlichen Untersuchungen zu Tinder wiederholt und mündet dann in sorgenvoll formulierte Forschungsfragen, zum Beispiel nach den Folgen für die intimen Beziehungen junger Erwachsener, deren Sexualität im Kontext medialer Vermittlung gefährdet scheint (Bersamin et al., 2014; Sumter et al., 2017; Twenge et al., 2017; Bhattacharya, 2015; Beymer et al., 2014, Fielder et al., 2014). Empirische Untersuchungen zu den Motiven der Nutzer*innen weisen dagegen darauf hin, dass die App Tinder aus einer Vielzahl von Beweggründen genutzt wird.5 Diese Daten unterstützen die Frage nach den Bedeutungen dieser polarisierenden Zuspitzungen, die auf ein ansteckendes, flüchtiges Begehren verweisen und 4 Der englische Begriff »hook-up« bedeutet so viel wie anschließen, einklinken oder verbinden und wird umgangssprachlich als Bezeichnung für den weiten Bereich sexueller Begegnungen jenseits fester Beziehungsarrangements verwendet. 5 Die Motive werden nach absteigender Häufigkeit deren Nennung aufgeführt: Pass Time/ Entertainment, Curiosity, Belongingness, Socializing, Social Approval, Relationship Seeking, Distraction, Flirting/Social Skills, Sexual Orientation, Peer Pressure, Travelling, Sexual Experience, Ex (Timmermans & De Caluwé, 2017a). Diese werden weitestgehend durch eine Studie von Sumter et al. (2017) bestätigt, die, bezogen auf ihre Stichprobe »junger Erwachsener« (18- bis 30-Jährige), sechs Motivcluster unterscheiden. Motive sind nach absteigender Häufigkeit ihrer Nennung aufgeführt: Thrill of Excitement, Trendiness, Love, Self-Worth Validation, Casual sex, Ease of Communication.
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die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema prägen. Sichtbar wird dies zum Beispiel in der Vermischung von populärem und wissenschaftlichem Diskurs und in der wiederkehrenden Verbindung mit den auch lustbetonten Vorstellungen und Fantasien des populären Diskurses, die dann nachträglich in kritischer Abgrenzung wieder zurückgenommen werden. Es gibt nur wenige Untersuchungen, die den alltäglichen Umgang mit diesem Medium auch in seiner Widersprüchlichkeit zum Gegenstand der Reflexion machen. David und Cambre (2016) zeigen sich beispielsweise offen für eine Perspektive, die einen Bedeutungswandel von Intimität im Kontext sozialer Medien zur Diskussion stellt, um einen Raum dafür zu öffnen, Erfahrungen flüchtiger Intimität und deren Erleben beschreiben und verstehen zu können.
Forschungsperspektive Mein Forschungsinteresse gilt den Möglichkeiten und Grenzen der Erfahrung im Kontext dieses Mediums. Dabei orientiere ich mich am Verstehensmodell der Psychoanalyse, wie es sich methodisch aus der Perspektive psychoanalytischer Sozialforschung herleitet und an Lorenzer (1970) orientiert ist, der das szenische Verstehen einer qualitativ-interpretativen Forschungspraxis zugänglich gemacht hat. Im Rahmen themenzentrierter Interviews6 stellte ich die Frage: »Was bedeutet Tinder für Sie persönlich?« Da es nicht möglich ist, im Rahmen eines einzigen Interviews die Grenzen des Verstehens auszuloten, werden die methodisch relevanten tiefenhermeneutischen Interpretationen nachträglich am Text und in der Gruppe vorgenommen (Leithäuser & Volmerg, 1988). Daneben lasse ich mich von der Frage leiten, ob etwas an der Anwendung Tinder selbst als kurzzeitig erfüllend erlebt werden kann und nicht erst durch das beabsichtigte Zusammenkommen mit einer anderen Person. 6 Das Interview folgt einem thematischen Fokus und orientiert sich an den Konventionen des alltäglichen Verstehens. Das, was bewusst zur Sprache kommen kann, liegt in der Verantwortung beider Beteiligter. Für die Situation der Erhebung gilt, diese so zu gestalten, dass es den Interviewpartner*innen möglich ist, frei zu assoziieren, ihre subjektiven Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erfahrungen zu schildern und einen eigenen »roten Faden« innerhalb dieser Erzählung zu entwickeln (Löchel, 1997).
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Dabei folge ich der psychoanalytischen Annahme, dass bereits Vorstellungen und Fantasien wunscherfüllenden Charakter haben können (Freud, 1900a). Demnach könnte ein besonderes Vergnügen an der Verwendung von Tinder in der subtilen Evokation wunscherfüllender Vorstellungen liegen. Im Weiteren führt dies dann zur Frage, ob, wann und wo dieses Phänomen an Grenzen stößt und wie es sich in den Gesprächstexten zeigt. Dazu zwei Zitate aus dem Forschungsmaterial. Interviewpartnerin Anne stellt im Verlauf des Gesprächs fest: »[A]lso das ist abgefahren, wenn ich darüber nachdenke, aber dass man irgendwie immer im Hinterkopf hat, man könnte auf Knopfdruck jemanden kennenlernen« (Interview mit Anne, S. 15, Z. 26–28).7 In dieser Vorstellung verschafft sich der Wunsch Ausdruck, jemanden ganz reguliert, mit minimaler Aktivität, eben per Knopfdruck herbeiwünschen zu können. Dieser Wunsch taucht auch im Interview mit Jan auf. Nachdem er sich von seiner Partnerin getrennt hat, überlegt er, ob es nicht möglich wäre, über Tinder schnell wieder jemanden zu finden. Dazu sagt er: »Ja, man ist dann einfach nicht alleine und ähm genau und dann kommt irgendwann wieder so ›[…] vielleicht ist es doch nicht dafür gedacht ‹ […] und dann halt wieder deinstalliert und dann wieder installiert, […] aber inzwischen […] habe ich es relativ lange pausenfrei installiert, ja, also irgendwie hat es mich dann doch überzeugt« (Interview mit Jan, S. 9, Z. 12–20).
Jan beschreibt, dass er sich bereits im Kontakt mit der App nicht mehr (so) einsam fühlt und gleichzeitig den Eindruck hat, der App damit aufzusitzen, weil er doch ahnt, dass sie nicht dazu gedacht ist, längerfristig jemanden kennenzulernen. Was bedeutet es, sich mit einer Technik auf Partner*innensuche zu begeben, von der angenommen wird, dass sie dafür gerade nicht gedacht ist, die aber andererseits doch nach einigem Hin und Her überzeugt? An diese Überlegungen anknüpfend, sollen im Folgenden, sozusagen als Einblick in einen noch unabgeschlossenen Forschungsprozess, Sequenzen aus einem der Forschungsinterviews vorgestellt werden, um daran nachzuzeichnen, wie Wunsch und Realität über Tinder vermittelt sein können. 7 Die in Klammern gesetzten Angaben hinter den Interviewzitaten beziehen sich auf die anonymisierten Namen der Interviewpartner*innen und die Seiten- sowie Zeilenangabe des jeweiligen Interviewtranskripts.
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Fallbeispiel Neele – »[I]ch glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann« Zur Interviewbegegnung
Interviewpartnerin Neele wurde auf meinen Interviewaufruf über den Social-Media-Auftritt einer Kunsthalle aufmerksam. Wir trafen uns für das Interview in einem Café. Zunächst erlebte ich Neele zögernd; als versuche sie, den Beginn des Interviews hinauszuschieben, hielt sie ihre eigenen Erfahrungen zurück und stellte mir einige Fragen. Zum Ende unseres Treffens empfand ich sie eher anklammernd, weil meine wiederholten Versuche, mit ihr einen gemeinsamen Abschluss zu finden und uns zu verabschieden, mir zunehmend so vorkamen, dass ich mich von ihr »losmachen« musste. Neele verwickelte mich dabei in Gespräche, stellte mir weitere Fragen, und so verbrachten wir noch etwas Zeit, bis ein Abschied schließlich doch möglich war. In der Interviewbegegnung inszeniert sich eine Dynamik des zögernden Einlassens zu Beginn und am Ende des Interviews als aufgeschobener Abschied. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte Neele seit etwa zwei Jahren über verschiedene Dating-Apps und andere Medien wie Facebook vereinzelt Männer kennengelernt. Davor ging eine Beziehung zuende, weil ihr damaliger Partner eine Affäre hatte. Zunächst ging es Neele um die Bewältigung dieser Erfahrung, indem sie sich durch die gefälligen Rückmeldungen über die Apps aufgewertet fühlte. Diesen zunächst entlastenden Umgang mit ihrer narzisstischen Verletzlichkeit beschreibt sie ganz pragmatisch: »Ich hab’s damals eigentlich nur genutzt, weil ich betrogen wurde und mein Ego wieder aufpolieren wollte. Und das funktioniert sehr gut, weil da kann man Likes sammeln (I: mhm, ja) und ähm und man fühlt sich halt danach wieder besser (I: ja) und dann war das für mich auch okay« (Interview mit Neele, S. 5, Z. 25–28).
In den zwei Jahren, in denen Neele Dating-Apps nutzt, hat sie wiederholt kürzere partnerschaftliche Beziehungen, zum Zeitpunkt des Interviews ist sie jedoch erstmals längere Zeit allein. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung der App für sie verändert. Von der anfänglich beschriebenen Bes231
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serung ist nicht viel geblieben. »Und also ich hab’s auch wieder gelöscht, weil ich so frustriert war irgendwann. Weil, ich hatte halt ein paar Dates und das hat mich dann irgendwann total überfordert. Also es wurde immer schlimmer« (Interview mit Neele, S. 2, Z. 15–17). Was zunächst vielversprechend und über das Erleben im Zusammenhang mit der vorangegangenen Trennung hinwegzuhelfen schien, zum Beispiel die über Tinder vermittelten Likes, ist einer beunruhigenden Überforderung gewichen. Einen Anhaltspunkt, dies zu verstehen, benennt Neele als Befürchtung, »der andere könnte sich mehr erhoffen«. Neele versucht ihrer aufkommenden Angst, die sich in Verbindung mit den Apps und vor möglichen anstehenden Treffen zeigt, dann Willensanstrengungen entgegenzusetzen, »weil ich auf einmal diese Date-Panik habe irgendwie« (Interview mit Neele, S. 3, Z. 10–11). »[A]lso es wurde immer schlimmer. Es fing damit an, dass ich Stunden vorher schon aufgeregt war. […] Und ähm, dass ich das dann am liebsten alles abgesagt hätte, weil ich merke, ich fühle mich total unwohl. Und dann habe ich es aber durchgezogen und dachte mir ›Ja, umso öfter du das machst, umso geregelter wird das vielleicht auch‹, was ja eigentlich auch traurig ist« (Interview mit Neele, S. 5, Z. 1–5).
Einem gemeinsamen Verstehen entzieht sich die Bedeutung dieser Panik zunächst. Erst nachdem sich das Ende des Interviews ankündigt, berichtet Neele schließlich von einer Erfahrung, die im Zusammenhang mit dem Aufkommen ihrer Angst steht und erhellt, was »mehr erhoffen« (siehe oben) bedeutet. Flucht vor den Ansprüchen der Objekte
Neele beschreibt ein Treffen mit einem Mann, mit dem es zwar nette Gespräche gegeben habe, bei dem ihr aber dennoch früh klar gewesen sei, dass sie nicht den Wunsch gehabt habe, die Begegnung zu wiederholen. »N: Also da lief auch nichts und ich bin dann wieder gefahren. Und er sagte dann auch ›Hoffentlich sehen wir uns wieder‹. Und darauf bin ich dann nicht eingegangen und bin dann nach Hause gefahren. Hab gedacht, so ›Oh Gott nein, bitte nicht‹. Ja dann schrieb er auch und da hatte ich dann
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auch nicht den Mut, gleich direkt zu sagen ›Das geht nicht‹, also da musste ich erst mal, ich dachte ›Ich lasse das mal so auslaufen‹, das hat aber nicht funktioniert. Und dann habe ich irgendwann geschrieben, dass ich halt noch nicht über meinen Ex hinweg bin« (Interview mit Neele, S. 14, Z. 15–25).
Nach einem Jahr meldet sich der Mann erneut bei Neele und sie schreibt ihm auf seine Frage, ob denn jetzt ein Treffen möglich sei, von ihrer tatsächlich neuen Beziehung, worauf er verärgert reagiert. »Also er hat sich von mir wirklich verraten gefühlt und er dachte wirklich, dass das mehr wird […]. Das ist ja also, als ob ich der einzige Mensch in seinem Leben wäre, aber er kennt mich eigentlich gar nicht. Und ja, er hatte wirklich gedacht, ich wäre die Frau seines Lebens am Ende« (Interview mit Neele, S. 14, Z. 32–45).
Es scheint, als hätte Neele am Ende der Begegnung die Beharrlichkeit der Liebeswünsche des anderen geahnt. Die empfundene Unsicherheit und Überforderung mit der Situation und den Wünschen des anderen zeigen sich in Ausflüchten, im Verweis auf einen Dritten und schließlich in der Empörung über die Ansprüche des anderen, als versuche sie sich diese und die damit verbundenen Schuldgefühle mühsam vom Leib zu halten. Es entsteht der Eindruck, dass es etwas an diesem Wunsch »nach mehr« selbst ist, von dem Neele nicht berührt werden möchte. Die anfängliche Erfahrung mit der App, der Bewältigungsversuch von Trennungs- und Kränkungserfahrungen ist der Realität eines anderen ausgeliefert worden, dessen auserkorenes Liebesobjekt sie geworden zu sein scheint. Flüchtige Objekte festhalten
Sein spannungsvolles Gegenstück findet diese Dynamik, also die Flucht vor den Ansprüchen des anderen, im Wunsch, gerade das flüchtig erlebte Objekt festzuhalten. Neele spricht im Verlauf des Interviews von einem Mann, den sie beruflich kennengelernt hat und für den sie sich interessiert. Sich mit diesen Wünschen zu zeigen, hat sie sich bisher nicht getraut, nun da er nicht mehr im Betrieb tätig ist und sie sich ohne Weiteres nicht wiedersehen würden, beginnt sie, über Möglichkeiten der Kontaktaufnahme nachzudenken. »N: Ja, also ich könnte ihn auch anrufen und fragen, aber 233
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das ist, glaube ich, zu aufdringlich. […] Aber andererseits, wenn man nichts riskiert, dann ja. I: Dann verfliegt die Möglichkeit?« (Interview mit Neele, S. 9, Z. 37–42) Die Nachfrage stößt eine Erinnerung an. »N: Ist ja oft auch in der U-Bahn, ich hatte mir eine Zeit lang auch eine Visitenkarte eingesteckt, falls mir mal jemand begegnen sollte, dass ich ihm einfach diese Karte in die Hand drücken könnte. Ich hatte den Mut nie dazu, aber so die Möglichkeit halt einfach, weil die steigen aus und sind für immer aus dem Leben verschwunden« (Interview mit Neele, S. 9–10, Z. 44–2).
In der fantasierten Begegnung mit jemandem, der im Begriff ist, sich zu entfernen, zeigt sich eine Möglichkeit des Flüchtigen, die davor bewahrt, einem Wunsch »nach mehr« zu begegnen. Gerade an dieser scheint sich Neele zu orientieren, etwa über die Visitenkarte oder die Apps. Was es ihr erlaubt, sich als nach jemandem sehnend und als diesen festhaltend vorzustellen, in einem Moment, der ganz ohne Konsequenz bleibt und sie zunächst davor schützt, dass etwas zu überwältigend für sie werden könnte. So haftet sich die vorgestellte Erfüllung ihrer Liebeswünsche an sich entfernende Objekte. Tinder scheint einerseits für die Möglichkeit dieser flüchtigen Begegnungen zu stehen, andererseits aber auch die Preisgabe dieser Wünsche an die Realität zu bedeuten. »[I]ch glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann«
An diese Überlegungen anknüpfend, möchte ich nun nach der Bedeutung des Beziehungsmusters »flüchtige Objekte festhalten – Ausflucht vor ansprüchlichen Objekten« in Verwicklung mit der App fragen. Um mich dieser Frage anzunähern, gehe ich ganz an den Beginn des Interviews. Neele beantwortet die Frage nach ihrer persönlichen Bedeutung von Tinder: »N: Also als ersten Eindruck war, wurde überall gesagt, dass das ’ne SexSeite ist, also, es finden sich Paare darüber, aber das ist eher ein seltener Fall, dass es eigentlich mehr um das andere geht. Das habe ich jetzt so nicht erlebt, also ich wurde nicht so speziell angefragt, ob man nur das eine haben will oder nicht, aber ähm viele andere von mir. Ja, sonst, ich glaube, es ist einfach
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»Ich glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden […]«
nur, um schnell jemanden zu finden, weil man es nicht lange aushalten kann. I: Wenn man allein ist?« (Interview mit Neele, S. 1, Z. 8–14).
Diese Passage aus dem Intervieweinstieg ist kaum zu verstehen. Es ist nicht klar auszumachen, worüber Neele hier spricht. In einem Durcheinander schwankt sie zwischen Annahmen über die App und dem Versuch, diese zu ihren eigenen Erfahrungen in Bezug zu setzen. Die große Ungenauigkeit verlangt während des Interviews nach konkretisierendem Nachfragen und dennoch zeigt die Ungenauigkeit mehr als alles andere, welche Bedeutung Dating-Apps für Neele haben könnten. Die konkretisierende Frage nach dem Nicht-allein-sein-Können verengt die Bedeutung jedenfalls mehr, als dass sie einen Raum zu verstehen dafür öffnet, was Neele wohl mit »es« meinen könnte. Denn mit der Formulierung »weil man es nicht lange aushält« benennt sie, dass es um mehr als Partner*innensuche oder Sexualität und auch um mehr als Nicht-allein-sein-Können geht. Der Ausspruch erinnert auch an ihre wiederholte Formulierung »es wurde immer schlimmer« und führt zur Frage, welcher Sinn sich im »es« andeutet. Unverständliches, Irritationen und Widersprüche im Gesprächstext scheinen auf ein (hochkommendes) Es zu verweisen, das in Beziehung zur App in Bewegung gerät. Eine Bewegung, die sich beispielhaft zwischen der wiederkehrenden Fantasie, flüchtige Objekte festzuhalten, und deren Gegenstück, der Ausflucht vor real ansprüchlichen Objekten, zeigt. Diese Bewegung lässt sich nicht nur am Text nachvollziehen, sondern inszeniert sich auch teilweise innerhalb der Gesprächssituation. Damit verbunden ist eine aufkommende Angst, die als Ausdruck einer Beunruhigung verstanden werden kann, die infolge der wiederholten Preisgabe von Wunsch an Realität nach Bewältigung sucht, aber deren unverstandene Anteile nicht ohne Weiteres in das eigene Erleben integriert werden können. Das zeigt sich auch im Gefühl der Überforderung. Dem Medium Tinder scheint inhärent zu sein, dass Hoffnungen und sehnsüchtige Wünsche nicht nur immer wieder angesprochen, sondern in einer Schleife von Wiederholungen auch der Realität ausgeliefert werden. Ob diese Vermittlung nun aber einen spielerischen oder einen existenziellen Charakter hat, ist dem Medium an sich nicht anzusehen, wenngleich sich die Widersprüchlichkeit dieser Anwendung im Interview zeigt, das heißt im Versprechen der Entlastung von Ungewissheit, Unlust oder Spannung im weiten Bereich der Partner*innensuche, deren flüchtigen und ansteckenden Begehrens und der Vermittlung zur Realität. Neele hat Erfahrungen gemacht, die viel weniger 235
Carolin Schnackenberg
reibungslos sind, als es der Wunscherfüllung entspricht, und die deshalb eine Anforderung an sie stellen, diese zu verstehen.
»[U]nd dann stirbt das so nach und nach ab« Abschließend möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, wie das Ende dieser flüchtigen Begegnungen erlebt wird und ob sich daraus etwas über die Bedeutung der Beziehungsobjekte im Kontext von Tinder erfahren lässt. »[A]lso mit denen habe ich dann schon, also was heißt länger […], die habe ich nicht nur einmal gesehen, aber das war jetzt nie so, dass sich daraus irgendwie ’ne längere intime Beziehung entwickelt hätte oder so […], ja das hat sich oft einfach verloren so, […] es hat sich dann einfach oft verlaufen, so innerhalb von paar Wochen […]« (Interview mit Jan, S. 10, Z. 12–20).
Verloren und Verlaufen sind die Begriffe, mit denen Jan versucht, das Auseinandergehen im Medium Tinder zu verstehen. Dies bleibt gleichzeitig ganz unbestimmt, da es weniger den konkreten Verlust oder die Trennung von jemandem anspricht, was sich als Abschied oder Bedauern vermitteln könnte, als das Erlöschen eines flüchtigen Begehrens – um in der Bildsprache des Zündelns zu bleiben. Anne beschreibt dies ganz ähnlich: »Es stirbt oft aus, […] ich hab’ auch gerade ’ne Freundin […], die trifft sich mit zwei, drei, vier verschiedenen Männern unter der Woche und übernachtet halt auch da.« Sie führt weiter aus, dass es dabei auch um zärtliches Versorgen und Gefühle der Geborgenheit ginge. »[J]a und geht dann wieder nach Hause […] und dann stirbt das so nach und nach ab, weil sie gleichzeitig auch zwei, drei andere hat […]. Also so mal ist es intensiver und dann stirbt das einfach ab, so« (Interview mit Anne, S. 4, Z. 26–34–S. 5, Z. 1). Hier tritt das Absterben als Formulierung auf, die etwas von dem Erlöschen des Begehrens einfängt. Auch Anne lässt die Bedeutung des jeweils anderen unbestimmt. Die Einzigartigkeit des anderen oder der jeweiligen Begegnungen tritt zurück hinter die Eigenschaften, die von den Objekten ausgefüllt werden können. Dies zeigt sich auch in der unbeteiligt wirkenden Sprache, in der »es sich verlaufen hat« und »das so nach und nach abstirbt«. Hinter diesen Formulierungen tritt die eigene Beteiligung zurück, indem das erlöschende Begehren als etwas Unpersönliches erscheint. Im Kontakt mit Tinder verteilt sich die Spannung immer schon auf verschiedene Objekte oder bewegt sich zwischen 236
»Ich glaube, es ist einfach nur, um schnell jemanden zu finden […]«
diesen. Was zu der Frage führt, ob das Medium Tinder auch Enttäuschungen provoziert. Enttäuschung taucht als »allgemeines Gefühl« in vielen der Interviews auf. Diese Dynamik lässt sich vor allem in der Interpretationsgruppe erspüren, in der die Interviews zunächst vielversprechend erschienen waren, aufgeregt erwartet und gelesen wurden, und dann die Spannung wie unvermeidlich abflaute. Auch die Interviews werden vergessen oder verblassen in der Erinnerung. Das Erlöschen und auch die Enttäuschung sind Teil des flüchtigen Begehrens, aber zwischen Zündeln und Erlöschen werden Erfahrungen gemacht, wie im Interview mit Neele deutlich wurde. Von Tinder scheint ein Versprechen auszugehen (»auf Knopfdruck jemanden kennenlernen«, »schon nicht mehr allein zu sein«, immer wieder Teil eines »Match« werden zu können), das sich mit den Phantasmen individuellen Begehrens verschränkt, weil es die Hoffnung gegenwärtig hält, dass sich etwas Ersehntes erfüllen könnte, und weil es diese immer wieder erneuert. Literatur Bersamin, M. M., Zamboanga, B. L., Schwartz, S. J., Donnellan, M. B., Hudson, M., Weisskirch, R. S., Kim, S. Y., Agocha, V. B., Whitbourne, S. K. & Caraway, S. J. (2014). Risky Business: Is There an Association between Casual Sex and Mental Health among Emerging Adults? The Journal of Sex Research, 51(1), 43–51. Beymer, M. R., Weiss, R. E., Bolan, R. K., Rudy, E. T., Bourque, L. B., Rodriguez, J. P. & Morisky, D. E. (2014). Sex on demand: geosocial networking phone apps and risk of sexually transmitted infections among a cross-sectional sample of men who have sex with men in Los Angeles county. Sexually Transmitted Infections, 90(7), 567–572. Bhattacharya, S. (2015). Swipe and burn. New Scientist, 225, 30–33. David, G. & Cambre, C. (2016). Screened Intimacies: Tinder and the Swipe Logic. Social Media + Society, 2(2), 1–11. Fielder, R. L., Walsh, J. L., Carey, K. B. & Carey, M. P. (2014). Sexual Hookups and Adverse Health Outcomes: A Longitudinal Study of First-Year College Women. The Journal of Sex Research, 51(2), 131–144. Fleming, P. (2015). The Art of Flirtation. In D. Hoffman-Schwartz, B. Nagel & L. Stone (Hrsg.), Flirtations: Rhetoric and Aesthetics This Side of Seduction. (S. 19–30). New York, USA: Fordham University Press. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II/III. Gatter, K. & Hodkinson, K. (2016). On the differences between Tinder™ versus online dating agencies: Questioning a myth. An exploratory study. Cogent Psychology, 3(1). https://doi.org/10.1080/23311908.2016.1162414 Leithäuser, T. & Volmerg, B. (1988). Psychoanalyse in der Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Löchel, E. (1997). Inszenierungen einer Technik: Psychodynamik und Geschlechterdifferenz in der Beziehung zum Computer. Frankfurt a. M.: Campus.
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Biografische Notiz
Carolin Schnackenberg, M. Sc. Psychologie, studierte Psychologie an der Universität Bremen und der Universität Osnabrück. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin (IPU) und ist dort gegenwärtig Research Fellow. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem psychoanalytische Sozialforschung zu Phänomenen der »Social Media«. Im Rahmen ihrer Promotion untersucht sie subjektives Erleben und psychodynamische Bedeutungsdimensionen der Dating-App Tinder.
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Teil 5 Geschlecht und Virtualität
Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie Paradoxie und Pluralität der Identifikation Nils F. Töpfer
Virtuelle Räume stellen den derzeit vorherrschenden Kontext dar, in dem sexuelle und geschlechtliche Identität ausgehandelt werden (Lemma, 2021). Neben den sozialen Medien kommt dabei insbesondere der OnlinePornografie eine zentrale Rolle zu. Nie zuvor war Pornografie so schnell, so leicht, so umfangreich und zudem meist frei und kostenlos verfügbar wie heute. Im Jahr 2019 verzeichnete die Pornowebsite »Pornhub« 42 Milliarden Aufrufe, was einem Durchschnitt von 155 Millionen Aufrufen pro Tag entspricht (Pornhub, 2019). Kritiker:innen und Forscher:innen neigen weit überwiegend dazu, die hauptsächlich für heterosexuelle Männer produzierte Pornografie zu »essenzialisieren« und zur »wahren Natur« der Pornografie zu erheben: Demnach stelle Pornografie die Fantasie heterosexueller Männer dar, Frauen zu dominieren, einem phallozentrischen Blick zu unterwerfen und durch den Akt der sichtbaren Ejakulation (»Cum shot«) zu demütigen und zu »markieren« (Scott, 2013). Dadurch wurden der Paradoxie und Pluralität der Identifikation, die im folgenden Beitrag herausgearbeitet werden sollen, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Einleitend werden Besonderheiten von Online-Pornografie vorgestellt. Anschließend werden die Paradoxie und Pluralität der Identifikation am Beispiel von drei Kategorien und Suchbegriffen für Online-Pornografie analysiert – Anal, Femdom, Cuckold. Es folgen Überlegungen zur Rolle der Online-Pornografie auf der Suche nach dem Begehren, aus denen abgeleitet wird, dass Internet-Pornografie das Verhältnis von innerer und äußerer Realität verändert. Da die sexuellen Pornografie-Szenarien nicht als dem eigenen Begehren entsprungen angesehen werden müssen, kann InternetPornografie auch zu Abwehrzwecken eingesetzt werden, um die Bedeutung 241
Nils F. Töpfer
der Masturbationsfantasien zu verschleiern und die Angst zu umgehen, die mit den Fantasien und ihren widersprüchlichen Bedeutungen verbunden ist. Die Verschleierung des Begehrens wird anhand von zwei Falldarstellungen von Galatzer-Levy (2012) illustriert. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Implikationen für das Verständnis und den therapeutischen Umgang mit der zentralen Masturbationsfantasie.
Besonderheiten der Online-Pornografie Online-Pornografie weist einige Besonderheiten auf. So hat Alessandra Lemma (2017) den Wandel von einer 3D- zu einer 2D-Welt beschrieben. In der Zeit vor dem Internet folgte auf das Begehren (desire) die Verzögerung (delay) bevor das Begehren erfüllt wurde (delivery). Es musste die Fähigkeit entwickelt werden, das Warten und die daraus resultierende Frustration zu ertragen. In der 2D-Welt der Internet-Pornografie kann das Begehren sofort ohne Verzögerung befriedigt werden. Dadurch werden reflexive Prozesse eingeschränkt, die zur Repräsentation des Begehrens nötig sind. Pornografiekonsum wird folglich stärker durch unbewusste Faktoren als durch eher autonome Entscheidungen geleitet (Lemma, 2021). Online-Pornografie ermöglicht einen omnipotenten Gemütszustand, in dem die Andersartigkeit des Anderen reduziert und der »pornographische Andere« (ebd., S. 125) als vollständig vom Selbst kontrolliert erlebt wird, sodass sexuelle Erregung nicht durch die Berücksichtigung der Bedürfnisse einer anderen Person beeinträchtigt wird. Dies hat schwerwiegende negative Folgen für die »Mentalisierung von Begehren« (ebd.). Kategorie 1: Anal
»Anal« war auf der Pornowebsite Pornhub 2019 weltweit die Kategorie, die am siebthäufigsten angeklickt wurde, und der neunthäufigste Suchbegriff; in Deutschland stellte »Anal« sogar die am zweithäufigsten angeklickte Kategorie dar (Pornhub, 2019). Für die nähere Betrachtung ist »Anal« jedoch nicht nur aufgrund der Popularität in der Online-Pornografie interessant, sondern wegen der weitverbreiteten Auffassung, dass die Vormachtstellung von Analsex Bestandteil der umfassenderen grotesken Erniedrigung von Frauen in der Pornografie wäre (Langman, 2004). 242
Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie
Unter der Annahme, dass für Männer anale Penetration aufgrund der anatomischen Lage der Prostata zumindest physiologisch erregender ist als für Frauen, scheint es nicht plausibel, dass Mainstream-Pornografie lange Zeit überwiegend die Empfänglichkeit des weiblichen Anus und die NichtEmpfänglichkeit des männlichen Anus darstellte (Maddison, 2012). Diese Asymmetrie wird jedoch als Unterdrückung männlicher Analerotik verständlich. Das erotische Potenzial des männlichen Anus wird durch die Stärke des dagegen gerichteten Tabus intensiviert: So ist das Verbot auch eine Versuchung zur Transgression und macht den Erotismus des männlichen Anus umso unwiderstehlicher (Maddison, 2012; Waldby, 1995). Das Verbot bewirkt, dass das erotische Potenzial des männlichen Anus zurück in den Penis kanalisiert und die Penetrierbarkeit des männlichen Körpers auf die Frau projiziert wird (Waldby, 1995). Die Verleugnung passiver analer Lust kann zum Agieren von Gewalt gegen diejenigen oder zur Verachtung derjenigen führen, von denen angenommen wird, dass sie eine solche Lust empfinden oder sie anderen zukommen lassen wollen. Sie führt zur Intensivierung der erotischen »Destruktion« von Frauen, zu homophoben Ängsten und zu Gewalt (ebd.). Da anale Penetration oftmals mit intensiveren und animalischeren Reaktionen der weiblichen Darstellerinnen gezeigt wird als die vaginale Penetration, ist Analsex besser geeignet, die phallische Handlungsmacht des Mannes zu bestätigen (Maddison, 2012). Die Fixierung auf Analsex in vielen Pornos ermöglicht somit Männern indirekt auch auf annehmbarere Weise die Identifikation mit dem Penetriertwerden. Weitere Bezüge zu dem »Gay, but not really«-Subtext vieler pornografischer Filme ergeben sich über die oftmals enorme Größe des Penis des männlichen Darstellers. Dabei handelt es sich nicht lediglich um ein Charakteristikum von »Straight porn«, sondern um ein eigenes Subgenre beziehungsweise eine Kategorie, nach der speziell mit Suchbegriffen wie »Big dick« oder »Monster cock« gesucht wird (Scott, 2013). Obwohl die Szenen dieser Pornos oftmals auf die Reaktion der weiblichen Darstellerin auf die Größe des Penis fokussieren, lässt sich vermuten, dass es auch um die Neugierde des heterosexuellen männlichen Betrachters geht, einen großen Penis »in Aktion« zu sehen (ebd.). Eine homoerotische Konnotation von heterosexuellem Analsex wird dabei auch durch die verbreitete Formulierung »to use a woman as a man« kenntlich (z. B. Sedgwick, 1994). Der sichtbare, erigierte und schließlich ejakulierende Penis wurde selbstverständlich als etwas angesehen, das nur ein Mann benutzen und besitzen kann (Scott, 1993). Daher wurde überwiegend davon ausgegangen, dass 243
Nils F. Töpfer
sich männliche Betrachter mit der Perspektive des Penisbesitzers identifizieren. Der »Besitz« eines Penis und die Identifikationen erweisen sich jedoch als komplizierter, wenn wir den Blick auf eine weitere Kategorie von Pornografie richten. Kategorie 2: Femdom
Die Abkürzung »Femdom« steht für Female Dominance (engl. für weibliche Dominanz) und umfasst Videos der Sammelbezeichnung »Bondage, Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Masochism« (BDSM), in denen eine Frau die dominante Rolle einnimmt. »Femdom« war auf Pornhub im Jahr 2019 in Deutschland der dritthäufigste Suchbegriff und stieg im Laufe des Jahres um sage und schreibe 1.878 % (Pornhub, 2019). Häufig tragen die weiblichen Darstellerinnen Umschnalldildos (Strap-On) und Konventionen von heterosexuellem Geschlechtsverkehr, die als Ausdruck von Dominanz gelten, wie die sogenannte Piledriver-Position, werden umgekehrt, sodass der Mann in der empfangenden, unterwürfigen Position ist und anal penetriert wird (Scott, 2013). Im Unterschied zu sogenannten »Tranny«-Pornos, in denen die anale Penetration von männlichen Darstellern durch Transgender-Darsteller:innen die heterosexuelle Orientierung des männlichen Zuschauers infrage stellen könnte, muss die Verlagerung der Lust hin zum männlichen Anus in Femdom-Pornos nicht unbedingt als eine Verschiebung und Fluidität sexueller Präferenz aufgefasst werden: Während die Binarität von weiblich/männlich sowie homosexuell/heterosexuell weitgehend aufrechterhalten wird, kehrt sich das Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung um (ebd.). Insbesondere durch die Lust an der Unterwerfung wird die teilweise vom Penis zum Anus umgelenkte Lust männlicher Zuschauer noch verstärkt. Unterwerfungsfantasien sind entgegen konventionellen Auffassungen auch unter Männern weit verbreitet. Als Erklärung wurde angeführt, dass sich viele Männer durch die nötige Zustimmung ihrer Sexualpartnerin im Ausleben ihrer präferierten sexuellen Praktiken gehemmt fühlen (Hawley & Hensley, 2009). So gesehen erleben Männer es als lustvoll, dass Risiken der Ablehnung und Einschränkungen wegfallen, wenn sie das Ziel aggressiver sexueller weiblicher Bestrebungen sind. Neben den bereits genannten Beispielen für Unterwerfung finden sich in der Online-Pornografie auch wortwörtliche Anleitungen: »JOI«, eine Kurzform für »Jerk Off 244
Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie
Instruction«, eine Masturbationsanleitung. Die Frau bestimmt, wann der Mann was tut und wann er zum Orgasmus kommt. Ich möchte nun noch auf ein weiteres populäres Subgenre der InternetPornografie eingehen, das sich zur Ergänzung der Untersuchung der vermeintlichen Paradoxie und Pluralität der Identifikation eignet. Kategorie 3: Cuckold
In Cuckold Pornos sieht ein Mann (Cuckold) mit an, wie seine Partnerin mit einem anderen Mann (Cuckolder) Sex hat. Paradox wirkt die Popularität von Cuckold-Pornos zunächst dadurch, dass sie »das Gegenexemplar der patriarchalischen Kultur [darstellen] – der Mann, der in der Beziehung zu einer Frau als gescheitert gilt und daher in den Augen anderer Männer ein Versager ist« (Sinclair, 1993, S. 27; zit. n Lokke, 2019, S. 2; Übers. d. Verf.). Cuckold steht in einer langen Tradition der Beschämung von Männern, deren Partnerin untreu war. Es entstand sowohl in der Literatur als auch als real gelebtes Phänomen die Variante, in der Männer die sexuelle Untreue ihrer Partnerin dulden oder dieser sogar beiwohnen. Der Fetisch des Cuckold ließe sich als Bewältigung männlicher Ängste verstehen (Lokke, 2019): Die Partnerin wird zum männlichen Eigentum degradiert, indem sie in einem freiwilligen Verzicht auf die patriarchalische Autorität einem anderen Mann für sexuelle Handlungen überlassen wird. Ängste vor der Untreue der Partnerin und damit zusammenhängend der eigenen Impotenz werden bewältigt, indem der Cuckold durch die freiwillige Duldung die Untreue quasi selbst herbeiführt und so scheinbar die Kontrolle bewahrt. Durch diese Umkehrung können Ängste vor Impotenz sogar erotisiert werden. Cuckold-Pornos »dienen dazu, die hegemoniale Männlichkeit durch Selbstentwertung zu beschwichtigen« (ebd., S. 3; Übers. d. Verf.).
Die Suche nach dem Begehren Ich möchte den Blick nun auf die Rolle der Online-Pornografie in der Suche nach dem Begehren lenken. Scott (2013) stellt die Überlegung an, dass gerade einige pornografische Inhalte, die sich einer einfachen Katego245
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risierung als heterosexuell, schwul, männlich, weiblich usw. entziehen, eine unerwartete, angenehme Erregung hervorrufen können. »Könnte nicht also ein gewisses Maß an Lust einfach darin bestehen, Lust zu suchen und zu finden? Mit anderen Worten: Könnte die Entdeckung eines neuen ›Fetischs‹ […] selbst ein lustvoller Akt sein, so als würde man einen persönlichen ›vergrabenen Schatz‹ heben, der zu einem reicheren und vielfältigeren Fantasieleben führt?« (ebd., S. 20; Übers. d. Verf.)
Robert Stoller (1975) beschrieb die Suche nach neuen und transgressiveren Szenarien als eine perverse Dynamik, die einerseits auf der normalen, das heißt nicht klinisch perversen Entstehung sexueller Erregung gründet und andererseits eine ökonomische Notwendigkeit der Porno-Industrie darstellt. So wird sexuelle Erregung durch die Ungewissheit gesteigert, wie die erotische Fantasie ausgeht, gerade wenn diese etwas Riskantes, Gefährliches, Mysteriöses und Transgressives beinhaltet. In diesem Sinne sind wir alle »pervers« (Escoffier, 2020). Durch die Gewöhnung an bestimmte perverse Fantasien verlieren diese jedoch genau das Mysteriöse und Transgressive, das für die Entstehung sexueller Erregung notwendig ist, sodass neue und perversere Szenarien benötig werden. Die von der Porno-Indus trie produzierten perversen Fantasien unterliegen damit einer Dynamik, die dem erotischen Leben der meisten Menschen gemein ist (ebd.). Wichtig ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass Internet-Pornografie das Verhältnis von innerer und äußerer Realität verändert: »Indem sie eine Illusion des Realen anbietet, umgeht sie die Notwendigkeit der psychischen Arbeit, die notwendig ist, um zu verstehen, dass die innere und die äußere Realität miteinander verbunden sind und nicht gleichgesetzt oder voneinander abgespalten werden« (Lemma, 2014, S. 61; Herv. i. O.; Übers. d. Verf.). Lemma (2017) verwendet die Formulierung des »schwarzen Spiegels«, der alle anderen Spiegel abgelöst hat, die aus entwicklungspsychologischer Perspektive folgerichtig jenseits der Eltern zur Entwicklung und Konsolidierung der eigenen sexuellen Identität gesucht werden (zum Beispiel Gleichaltrige, Medien wie das Fernsehen, Kino, Musik, Bücher und Pornomagazine). Bei dem schwarzen Spiegel handelt es sich um den »kalten, glänzenden Bildschirm eines Monitors, Tablets oder Telefons« (ebd., S. 47; Übers. d. Verf.). Dieser schwarze Spiegel spiegelt allerdings nicht zurück, sondern drängt der betrachtenden Person Bilder auf, zum Teil, ohne dass aktiv nach diesen gesucht wurde. 246
Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie
Die Entwicklung einer integrierten sexuellen Identität wird nach Lemma (2017, 2021) dadurch untergaben, dass der schwarze Spiegel vorgefertigte sexuelle Szenarien liefert, die nicht als den eigenen Fantasien oder dem eigenen Begehren entsprungen und dem Selbst zugehörig angesehen werden müssen. Die resultierende Entfremdung von den eigenen sexuellen Fantasien, die sich noch gar nicht entwickeln konnten, wirkt sich zutiefst destabilisierend auf die sexuelle Identität aus. Viele Menschen fühlen sich dementsprechend einem Begehren ausgeliefert, von dem sie nicht wissen, ob es ihr eigenes ist. Online-Pornografie stört daher das Verhältnis zum eigenen Begehren, das sich entwicklungspsychologisch eigentlich mit der persönlichen Geschichte und den unbewussten Konflikten verflechten sollte. Dass die sexuellen Szenarien des schwarzen Spiegels nicht als dem eigenen Begehren entsprungen angesehen werden müssen, impliziert, dass Internet-Pornografie zu Abwehrzwecken eingesetzt werden kann, um die Bedeutung der Masturbationsfantasien zu verschleiern und die Angst zu umgehen, die mit den Fantasien und ihren widersprüchlichen Bedeutungen verbunden ist. Galatzer-Levy (2012) beschreibt eindrücklich das von ihm häufig beobachtete Phänomen, dass Internet-Pornografie als Mittel zur Entkopplung der Masturbation von der persönlichen erotischen Fantasie eingesetzt wird. Er illustriert diese Verschleierung des Begehrens unter anderem an den Fallbeispielen von John und Joseph. John, ein 15-jähriger Junge, sah sich seit seinem neunten Lebensjahr regelmäßig Internetpornografie an, zu der er masturbierte. Die »normalisierende Funktion« (ebd., S. 486) der Pornografie beeinflusste dabei zweifellos sein eigenes Sexualverhalten. Wenn er Sex hatte, musste der Geschlechtsverkehr oder Fellatio, wie in den Pornos, mit seinem Orgasmus enden. John erkannte in der Therapie, dass dieser Anspruch von dem Gefühl angetrieben wurde, dass sexuelle Handlungen auf diese Weise enden sollten, da alles andere abnormal wäre. Johns durch Pornografie generierte Vorstellung von Normalität wirkte sich auch so aus, dass er nur dann befriedigt war, wenn er auf den Bauch oder in das Gesicht des Mädchens ejakulierte: Er musste kurz vor dem Orgasmus manuell masturbieren. Es war für ihn enttäuschend, wenn er in seltenen Fällen in die Vagina oder den Mund des Mädchens ejakulierte. Indem er sein durch die Pornografie vermitteltes Begehren als normal auffassen konnte, konnte er vor sich verschleiern, dass seine Präferenzen von dem Wunsch geleitet waren, dass seine Sexualpartnerin keine Macht über ihn hat, und dass er einen visuellen 247
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Beweis für seine Potenz benötigt. Dadurch konnte John auch die Angst abwehren, die mit dem Erkennen der eigenen exhibitionistischen und sadistischen Wünsche verbunden war. In einer weiteren Falldarstellung beschreibt Galatzer-Levy (ebd.), wie ihm Joseph, ein 16-jähriger gehemmter Jugendlicher, zu Beginn der Behandlung gestand, dass er etwas »Schlimmes« getan hatte, das gerade deshalb besonders reizvoll war: Wenn er nachts am Computer angeblich seine Hausaufgaben machte, schaute er sich manchmal Pornografie an und masturbierte. Er suchte nach Pornografie, die zu seinen Masturbationsfantasien passte, in denen er sich romantisch einem Mädchen nähert, das sexuell erregt wird und zärtlichen Sex mit ihm hat. Da er das Vorspiel in Pornos am aufregendsten fand, wechselte er zu einem anderen Video, wenn der Geschlechtsverkehr in dem Porno unmittelbar bevorzustehen schien. Häufig musste er länger suchen, um ein anderes »genau richtiges« Video zu finden, das »heiß, aber nicht zu heiß« (ebd., S. 491) war. Es erschien Galatzer-Levy auffällig, dass Joseph für einen Jungen, der im Umgang mit Computern versiert war, häufig das falsche Symbol anklickte oder ihm ein »Fehler« unterlief, sodass das Video nicht sofort gestartet werden konnte. Angeblich würde das Problem dadurch verschärft, dass er eine langsame Internetverbindung hätte, wobei dies nur beim Anschauen von Pornografie ein Problem zu sein schien. All dies führte dazu, dass Josephs Erregung plötzlich auf frustrierende Weise unterbrochen wurde. Er konzentrierte sich dann nicht mehr auf seine erregende erotische Fantasie und die Pornografie, sondern auf Details der Computertechnik. Das Masturbationserlebnis blieb dann trotz Ejakulation nur teilweise befriedigend und die Beschäftigung mit der erotischen Fantasie unvollständig. Nach GalatzerLevy (ebd.) schienen die Unterbrechungen durch den Wunsch motiviert zu sein, eine vollständige Entwicklung seiner Fantasie zu verhindern und diese durch einen frustrierenden Zustand zu ersetzen. Joseph verschleierte sein Begehren insofern vor sich, als die manifeste Suche nach sexueller Befriedigung durch das Betrachten von Pornografie zu einer Störung beziehungsweise einem Verschwinden der eigenen erotischen Fantasien führte.
Die zentrale Masturbationsfantasie Die bisherigen Ausführungen haben weitreichende Konsequenzen für das Verständnis und den therapeutischen Umgang mit der zentralen Mastur248
Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie
bationsfantasie. Man könnte annehmen, dass diese heutzutage angesichts des verbreiteten Konsums von Online-Pornografie viel fluider und von dem immensen Input durch pornografisches Material beeinflusst ist. Ein Risiko besteht darin, das Konzept oder zumindest Versuche, eine zentrale Masturbationsfantasie zu identifizieren, aufzugeben. Tatsächlich berichten viele Autor:innen, dass Versuche, die Bedeutungen der konsumierten pornografischen Inhalte zu ergründen, in Sackgassen führten. In diesem Zusammenhang scheint mir ein weiteres großes Risiko darin zu bestehen, die Haltung vieler Patient:innen der Bedeutungslosigkeit des konsumierten pornografischen Materials unhinterfragt zu übernehmen und folglich den Inhalten und damit zusammenhängend den Bedeutungen keine oder kaum Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist auffällig, wie selten in klinischen Darstellungen, in denen InternetPornografie eine entscheidende Rolle spielte, die konkreten Inhalte des pornografischen Materials beleuchtet werden. Dabei lassen die bisherigen Einsichten zur vermeintlichen Paradoxie und Pluralität der Identifikation in der Internet-Pornografie erahnen, wie komplex sich die Aushandlung sexueller und geschlechtlicher Identität durch den Konsum von Internet-Pornografie gestaltet und dass Patient:innen unsere Unterstützung benötigen, da die Identifikationen und das eigene Begehren oftmals verschleiert werden. Das Durcharbeiten der zentralen Masturbationsfantasien ist dabei für die Konsolidierung des sexuellen Begehrens von großer Bedeutung und eröffnet die Möglichkeit, dass aus dem Konsum von Internet-Pornografie etwas gelernt werden kann, dass sonst unter dem Deckmantel der Bedeutungslosigkeit verschüttet bliebe (Galatzer-Levy, 2012). Eine hilfreiche analytische Haltung zur Pornografie beinhaltet damit nach Cole (2011) auch die Berücksichtigung der Möglichkeiten, durch die Pornografie der Entwicklung dienen kann, zum Beispiel »um ein Gefühl der Befreiung oder Enthemmung zu erreichen oder um sexuelle Wünsche zu erkunden, von denen sie [die Patient:innen] glaubten, dass sie zu schrecklich sind, um sie anzuerkennen, oder um den belebenden Funken zu finden, der ein stotterndes sexuelles Feuer mit einem Partner neu entfacht« (ebd., S. 256; Übers. d. Verf.).
Eine Voreingenommenheit der Pornografie gegenüber, wie sie auch unter Pornografie-Forscher:innen lange Zeit zu beobachten war, würde Psychoanalytiker:innen in eine Rolle versetzen, die vorhersehbar und von 249
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Konventionen bestimmt ist: zu wissen, was schlecht ist, und deshalb die entscheidenden Nuancen zu übersehen. Denn, worauf Robert Stoller bereits hinwies, auch in der Pornografie ist es wie in jeder sexuellen Fantasie: »every detail counts« (Stoller, 1985, S. 49). Literatur Cole, G. W. (2011). A strange invitation: On the ordinary problem of pornography. Studies in Gender and Sexuality, 12(4), 254–267. Escoffier, J. (2020). Every detail counts: Robert Stoller, perversion and the production of pornography. Psychoanalysis and History, 22(1), 35–52. https://doi.org/10.3366/ pah.2020.0324 Galatzer-Levy, R. M. (2012). Obscuring desire: A special pattern of male adolescent masturbation, internet pornography, and the flight from meaning. Psychoanalytic Inquiry, 32(5), 480–495. Hawley, P. H. & Hensley, W. A. (2009). Social dominance and forceful submission fantasies: Feminine pathology or power? Journal of Sex Research, 46(6), 568–585. https://doi.org/10.1080/00224490902878985 Langman, L. (2004). Grotesque degradation: Globalization, carnivalization, and cyberporn. In D. D. Waskul (Hrsg.), net.seXXX: Readings on sex, pornography and the internet (S. 193–216). New York: Peter Lang. Lemma, A. (2014). Minding the body: The body in psychoanalysis and beyond. London: Routledge. Lemma, A. (2017). The digital age on the couch: Psychoanalytic practice and new media. London: Routledge. Lemma, A. (2021). Introduction – Becoming sexual in digital times: The risks and harms of online pornography. Psychoanalytic Study of the Child, 74(1), 118–130. Lokke, G. (2019). Cuckolds, cucks, and their transgressions. Porn Studies, 6(2), 212–227. Maddison, S. (2012). Is the rectum still a grave? Anal sex, pornography, and transgression. In D. J. Gunkel & T. Gournelos (Hrsg.), Transgression 2.0: Media, culture, and the politics of a digital age (S. 86–100). New York: The Continuum International Publishing Group. Pornhub (2019). The 2019 year in review. https://www.pornhub.com/insights/2019 -year-in-review (16.02.2023). Scott, J. D. (2013). Girls will be boys: Approaching the sexualized transgressive female body. Otherness: Essays and Studies, 3(2), 1–24. Sedgwick, E. K. (1994). Tendencies. London: Routledge. Sinclair, A. (1993). The deceived husband: A Kleinian approach to the literature of infidelity. New York: Oxford University Press. Stoller, R. J. (1975). Perversion: The erotic form of hatred. New York: Dell. Stoller, R. J. (1985). Observing the erotic imagination. New Haven: Yale University Press. Waldby, C. (1995). Destruction: Boundary erotics and refigurations of the heterosexual male body. In E. Grosz & E. Probyn (Hrsg.), Sexy bodies: The strange carnalities of feminism (S. 266–277). New York: Routledge.
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Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie
Biografische Notiz
Nils F. Töpfer, Dr. phil., psychologischer Psychotherapeut, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Klinisch-Psychologische Intervention der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hat seine Ausbildung (DPG/IPV) am Psychoanalytischen Institut Berlin absolviert. Zuletzt erschienen (2022): Die Corona-Pandemie und der hysterische Diskurs nach Lacan – Eine Diskursbestimmung am Beispiel #allesdichtmachen. Forum der Psychoanalyse, 38(1), 89–102.
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Zwischen Zersplitterung und Halt Starke (Gegen-)Übertragungsphänomene und die Bedeutung der Umwelt in der psychoanalytischen Arbeit mit trans* Menschen Sebastian Thrul
Im Folgenden will ich etwas Ungewöhnliches versuchen, etwas, das der psychoanalytischen Tradition, abstinent auf andere zu blicken, zuwiderläuft: Ich will mich selbst und mein Erleben in der Arbeit mit geschlechtsdysphorischen oder sich selbst als trans* definierenden Menschen so offen wie möglich darstellen. Mir ist klar, dass dieser Perspektivenwechsel nicht ganz unproblematisch ist. Ich werfe damit epistemologische Fragen auf, ich mache mich angreifbar und setze mich nicht zuletzt dem Vorwurf der narzisstischen Überhöhung aus. Ich glaube gleichwohl, dass diese Perspektive einige wichtige Vorteile hat, die ihre Einnahme sinnvoll erscheinen lassen: Gerade in Bezug auf ein gesellschaftlich so umkämpftes Thema wie Trans* sind wir alle mehr oder weniger schnell bei der Hand mit dem Blick auf die anderen und öffnen damit den unreflektierten Projektionen Tür und Tor. In der jüngsten Geschichte der psychoanalytischen Beschäftigung mit dem Thema kann man ablesen, was für erbitterte Kämpfe daraus resultieren. Klinische Diskussionen können teilweise nicht mehr im fachlichen Rahmen gehalten werden und einige unserer renommiertesten Institutionen, wie beispielsweise die Tavistock-Klinik in London, nehmen Schaden durch das interpersonelle, politische und juristische Agieren massiver Spaltungs-Tendenzen (Wallerstein & Osserman, 2022). Wie kann ich also meine Perspektive institutionell verorten? Ich wurde im Jahr 2020 von einer großen psychiatrischen Institution in der Schweiz, der Psychiatrie Baselland, damit beauftragt, eine ambulante Sprechstunde für geschlechtsdysphorische Menschen zu gründen. Zu meinem Glück wurde außer mir noch ein Psychoanalytiker angeworben, der sich klinisch und theoretisch bereits lange Jahre mit dem Thema beschäftigt hat. Den Auftrag habe ich rückblickend wohl als eine Art Verführungs253
Sebastian Thrul
situation erlebt. Es war mein Eindruck, dass ich auserwählt worden war, um ein besonders schwieriges, gesellschaftlich hochbrisantes Thema klinisch aufzugreifen. Man traute mir zu, dieser Aufgabe mit dem nötigen Fingerspitzengefühl gerecht zu werden. Gleichzeitig wurden von Anfang an widerstreitende Positionen auf Leitungsebene der Klinik deutlich, die von affirmativer Unterstützung von trans* Anliegen bis hin zu der Notwendigkeit der sorgfältigen Prüfung von »Differenzialdiagnosen« und damit einer impliziten Pathologisierung des Phänomens reichten. Das Spannungsfeld war eröffnet. Zunächst einmal begegnete ich dieser antizipatorischen Anspannung mit dem Impuls, alles über Trans* zu lesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Im Rahmen der Lehranalyse konnte ich den Impuls als eine Art Abwehrbewegung, als eine Verteidigungsstrategie bei sofort auftretenden paranoiden Ängsten verstehen: Ich hatte massive Angst, in die Schusslinie zu kommen, die Schusslinie zwischen Affirmation und Pathologisierung, zwischen Pro und Contra, und zwischen gesellschaftlichen Scherkräften zerrieben zu werden. Ich entschied für mich und mit Unterstützung sowohl der Lehranalyse als auch des erfahrenen Kollegen, mich vorerst nicht in die intensive Lektüre und damit die intellektualisierende Abwehr der Ängste vor der unmittelbaren Begegnung mit den Menschen, aber auch dem gesellschaftlichen Diskurs zu flüchten. Rückblickend muss ich eingestehen, dass die Fantasie eines »Außerhalb« des gesellschaftlichen Diskurses allein durch die Nutzung sogenannter sozialer Medien illusionär erscheint. In diesen virtuellen Schauplätzen wird die Zersplitterung des diskursiven Raums zum Thema Trans* besonders deutlich und die alltägliche beiläufige Konfrontation mit der Heftigkeit der Diskussionen dürfte einen erheblichen Teil zu meiner präklinischen Eigenübertragungseinstellung beigetragen haben. So erscheint es mir rückblickend wenig überraschend, dass mein Kollege und ich in der Planungsphase der Sprechstunde von einer Art Rigidität im Denken ergriffen wurden. Wir machten uns stundenlang Gedanken über administrative Möglichkeiten, die durch mich zu diesem Zeitpunkt lediglich in der Fantasie erlebbaren Patient*innen so vorsichtig und »richtig« wie möglich zu behandeln. Wir unternahmen große gedankliche Anstrengungen, wie wir die im Verwaltungsapparat der Klinik verankerte Zweigeschlechtlichkeit überwinden könnten. Dabei spielte aus meiner heutigen Sicht eine vorbewusste Vorstellung, eine Fantasie über die zukünftigen Patient*innen als äußerst fragil und verletzlich, eine große 254
Zwischen Zersplitterung und Halt
Rolle. Auf einer tieferen Ebene mag diese Fantasie aber auch von meiner eigenen gefühlten Fragilität angesichts eines gesellschaftlich und insbesondere virtuell so umkämpften Phänomens gespeist worden sein. Es schien darum zu gehen, an den fantasierten trans* Menschen projektiv die eigenen Ängste vor wütenden Angriffen, vor dem Vorwurf der Transphobie beispielsweise, abzuhandeln, ganz nach dem Motto: »Wenn ich auf der richtigen Seite der Geschichte stehe, dann kann mir nichts passieren!« Den realen Hintergrund dieser Fantasien bildeten die zeitgleich medienwirksam aufbereiteten massiven Angriffe auf die britische Autorin J. K. Rowling insbesondere in sozialen Medien wie Twitter, wo sie aufgrund öffentlicher Äußerungen als transphob und als TERF (trans-exclusionary radical feminist) beschimpft wurde, sowie der Rechtsstreit um die affirmative Praxis der Tavistock-Klinik und nicht zuletzt diverse Begegnungen mit queeren Menschen in meinem eigenen Umfeld. Insbesondere eine Begegnung wird mir hier in Erinnerung bleiben: Auf einer Party erzählte ich einem Bekannten von der Planung der Sprechstunde. Er entgegnete mir darauf, dass er große Zweifel daran habe, dass ich als heterosexueller, weißer Cis-Mann trans* Menschen eine adäquate psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung anbieten könne. So sehr ich im ersten Impuls wütend und abwehrend auf diese Aussage reagierte – war da nicht etwas dran? Der Philosoph Paul B. Preciado (2021) spricht von der epistemischen Gewalt, die trans* Personen durch traditionelle psychoanalytische Theorien der Anerkennung des Geschlechtsunterschieds angetan wurde. Ich fühle mich der psychoanalytischen Tradition verpflichtet und dadurch dazu aufgefordert, zu fragen, wie wir in unseren Theorien Raum für trans* Menschen schaffen können und wo wir zum Ausschluss neigen, zur reflexartigen Pathologisierung. Gleichzeitig ist mir das Denken in identitären Kategorien gerade aufgrund meiner psychoanalytischen Prägung fremd. Ich begegne im Behandlungszimmer ja nicht primär queeren oder trans* oder cis oder weißen oder heterosexuellen Subjekten, sondern Individuen mit ihrem jeweils eigenen, singulären Diskurs, ihrer eigenen Subjektivität. Eine solche Aussage macht mich natürlich gleich wieder zur Zielscheibe für den Vorwurf, eben genau die identitär geprägten Lebensrealitäten der einzelnen Gruppen grundlegend zu verkennen, als weißer heterosexueller Cis-Mann eben doch einfach keine Ahnung zu haben, wie es ist, als trans* Mensch zu leben. Und so geht es hin und her, in mir und um mich, in einer rasend schnell wechselnden Ambivalenz zwischen Einlassen und Frustration, zwischen Nähe und Distanz. 255
Sebastian Thrul
Interessanterweise änderte sich alles mit der Aufnahme der tatsächlichen klinischen Arbeit in der Sprechstunde – oder zumindest vermeintlich. Die Fragen wurden konkreter, aber auch komplexer. Eine der ersten Personen, die zu mir kam, war Herr A., ein trans* Mann. Er kam mit einer Begleitperson 40 Minuten zu spät zum vereinbarten Termin. Obwohl ich klinisch in der Akutpsychiatrie sozialisiert und einiges an verstörenden Eindrücken gewohnt bin, konnte ich mein Erschrecken bei der ersten Begegnung kaum verbergen. Herr A.s Arme waren an allen sichtbaren Stellen durch tiefe Schnitte vernarbt oder mit Tattoos mit Gewalt implizierenden Darstellungen bedeckt. Ich war sehr erleichtert, als mir klar wurde, dass die ambulante Therapie von einer niedergelassenen Kollegin durchgeführt wurde und ich »nur« eine »Abklärung« einer vorliegenden Transidentität durchführen sollte. Einige Worte vorab zum Begriff der »Abklärung« von trans*. Aus klinisch-psychiatrischer Sicht ist die Diagnosestellung recht einfach: Eine Person muss sich ausreichend lange durchgängig und nachvollziehbar als dem »anderen Geschlecht« zugehörig und den eigenen anatomischen Körper ablehnend empfinden. Es muss also eine Art tief empfundene disparate Identität zum anatomischen Körper beziehungsweise zum bei Geburt zugewiesenen Geschlecht beschrieben werden. Aus psychoanalytischer Sicht ist diese Selbstbeschreibung äußerst fragwürdig. Der Identitätsbegriff wurde in unserer Disziplin von jeher und aus meiner Sicht zu Recht mit einer gewissen Skepsis behandelt – steht doch die Psychoanalyse in ihrem Kern für das Unbewusste und die inhärente Fremdheit des Subjekts sich selbst gegenüber. Eine stabile Identität ist aus dieser Sicht immer ein defensives Konstrukt, eine mehr oder weniger geglückte kompromisshafte Lösung innerer Konflikte. Der*Die Psychoanalytiker*in wird sich also aus diesen Gründen zu Recht hüten, jemandem zu sagen: Ja, Sie sind trans*, genauso wie sie sich hüten würde, jemandem zu sagen, Ja, sie sind cis. Alles, was wir als Psychoanalytiker*innen anbieten können, ist die Analyse der widerstreitenden Selbstbeschreibungen, die zu einem einigermaßen lebbaren Ganzen führen. Aber zurück zum Patienten: Die ersten Gespräche verliefen äußerst schleppend, da Herr A. bei Fragen nach seiner Geschichte immer wieder in die Nähe dissoziativer Zustände kam. Was ich von ihm und aus den mitgebrachten Akten erfuhr, war eine Geschichte von massiven frühesten Gewalterfahrungen, die in einem fortlaufenden Wiederholungszwang ständig reinszeniert wurden durch lebensbedrohliche Selbstverletzungen und 256
Zwischen Zersplitterung und Halt
selbst initiierte brutale Verletzungen durch andere. Im Zuhören und Lesen fühlte ich mich wie in einem dichten Nebel und erlebte eine Überforderung bei der Aufnahme der Informationen. Es war mir schlicht und einfach zu viel – zu viel Leid, zu viel Gewalt, zu viel Schmerz. Der Nebel lichtete sich, als Herr A. klar und deutlich formulierte, dass er sich noch nie wohl mit seinem weiblichen Körper gefühlt habe, trans* sei und nun endlich den Mut gefunden habe, Schritte zu einer medizinischen Transition einzuleiten. Er kenne sich gut aus und habe sich auf einschlägigen Seiten im Internet informiert. Er sei der Überzeugung, dass es ihm durch eine Transition wesentlich besser gehen könne. Der Gegensatz zwischen dem biografischen Narrativ, das mich allein durch die schiere Menge an schrecklichen Erfahrungen überforderte und verwirrte, und der Klarheit des an mich herangetragenen Wunsches nach einer Transition hätte krasser nicht sein können. Aus der Wahrnehmung dieser Diskrepanz resultierte für mich zunächst eine weitere Klarheit: Auf keinen Fall darf dieser Person eine medizinische Transition gewährt werden! Bei der vorliegenden unzureichenden Ausbildung beziehungsweise Zerstörung der frühesten psychischen Strukturen erschien es mir deutlich zu hoch gegriffen, überhaupt von so etwas wie einer verlässlich ausgebildeten Selbst-Objekt-Differenzierung, geschweige denn von einer basalen »Geschlechtsidentität« zu sprechen. Eine medizinische Transition, womöglich sogar operative Maßnahmen würden einer psychiatrisch sanktionierten Selbstverletzung größeren Ausmaßes gleichkommen. Ich empfand vor allem Wut, die ich in einer Intervision mit meinem Kollegen zum Ausdruck bringen konnte – Wut auf »die Translobby«, die dieser schwer beeinträchtigten Person eine schnelle und vermeintlich leichte Lösung für ihre ausgeprägten Probleme anbot, Wut auf den Patienten, der sich so einer »idiotischen« Fantasie hingeben konnte, und Wut auf mich selbst, dass ich mich in diesen schrecklichen Bereich begeben hatte, in dem es zu solch absurden klinischen Begegnungen kommt. Ich schimpfte für eine lange Zeit in der Intervision und mir wurde weder widersprochen noch zugestimmt. Das beruhigte mich deutlich. In den nächsten Gesprächen war es möglich, den Wunsch nach der Aufnahme einer hormonellen Behandlung mit Testosteron als Wunsch nach einer magischen Substanz zu verstehen, die die bereits erfahrenen und sich ständig wiederholenden Gewalterfahrungen beenden würde. Die Deutung dieser Fantasie brachte natürlich keine Erkenntnis, die zu einem Auflösen des Wunsches geführt hätte. Die Fixierung blieb bestehen. Im Austausch mit der niedergelassenen Kollegin, die die eigentliche psychia257
Sebastian Thrul
trisch-psychotherapeutische Behandlung durchführte und deren Robustheit angesichts massiven Agierens ich zutiefst bewunderte, erfuhr ich, dass der Wunsch nach Testosteron dort auch zunehmend zu einer Blockade der sowieso schon schwer aufrechtzuerhaltenden Therapie führte. Zudem habe Herr A. nun begonnen, sich über illegale Kanäle im Internet selbst Testosteron zu besorgen und dies nach eigenem Ermessen einzusetzen. Wir entschieden gemeinsam, dass eine Überweisung zu einer dritten Kollegin mit Erfahrung in der endokrinologischen Therapie erfolgen sollte. Dort wurde eine Testosterontherapie eingeleitet. Ich war nicht glücklich mit dieser Entwicklung. Es erschien mir wie eine Verschiebung der Problematik. Gleichzeitig berichtete mir die Therapeutin, dass durch die Überweisung mehr Ruhe und Raum in der Behandlung entstanden sei – Herr A. habe sich anderen Aufgaben zuwenden können, sei in eine betreute Wohngruppe gezogen und habe sich trotz des Wegzugs einer engen psychiatrischen Bezugsperson auf niedrigem Niveau stabilisieren können. Ich habe vor Kurzem wieder ein E-Mail von ihm erhalten. Darin schrieb er, ich hätte ihm gesagt, dass er für mögliche operative Interventionen deutlich stabiler und weiter in seinem psychotherapeutischen Prozess sein müsse. Das sei er nun. Auf meine Rückfrage, ob er einen Termin bei mir haben wolle, hat er sich nicht mehr gemeldet. Was ist hier passiert? Ein Mitagieren mit einem schwer kranken Patienten? Sicherlich. Die Arbeit mit trans* Personen ist auch ein Bereich, in dem man sich zwangsläufig die Hände schmutzig macht. Eine wichtige Lektion aus dieser schwierigen klinischen Situation scheint mir die Notwendigkeit der Trennung von »abklärender«, beziehungsweise »begutachtender« Fachperson und Therapeut*in zu sein. Ich werde darauf zurückkommen. Zu meiner großen Erleichterung gab und gibt es auch durchaus weniger beunruhigende klinische Begegnungen. Herr B., ebenfalls eine junge, gerade volljährige Person, wurde als Frau B., oder besser gesagt als K., mit seinem weiblichen Vornamen von seinen Eltern angemeldet, die zunächst eine familiäre Beratung wünschten, da sich ihre Tochter als trans* geoutet habe und sie damit überfordert seien. Das Hin und Her von E-Mails mit Herrn B.s Mutter und Vater, ohne dass bis dahin ein einziges Wort mit ihm selbst gewechselt worden war, ließ bei mir ein unangenehmes Gefühl von Enge entstehen. Es gab vor der ersten Begegnung keinen Raum für ihn selbst. In unserem ersten Treffen meinte K., er wolle mit seinem weiblichen Vornamen angesprochen werden. Er sei sich zwar sicher, dass er trans* sei, 258
Zwischen Zersplitterung und Halt
habe sich aber noch nicht geoutet. »Frau« oder »Herr« B. zu sein passe auch nicht, in der Schule werde er auch mit dem Vornamen angesprochen. Bereits in seiner Kindheit habe er sich mit seinem weiblichen Körper nicht identifizieren können. Er berichtete von wiederholten Phasen tiefer Traurigkeit seit seiner Adoleszenz, in denen er sich zurückzog und immer wieder fragte, ob er männlich oder weiblich sei. Er habe diese Überlegungen dann immer »weggedrückt«. Der Wunsch nach einer Klärung sei in den letzten Monaten und insbesondere um den 18. Geburtstag herum stärker geworden. Dabei war mir in der Erzählung eindrücklich, wie er ganz ohne Einweihung seiner Eltern oder Freund*innen versucht habe, selber zu einem Ergebnis zu kommen, »um niemanden zu belasten«. Sein Rational für die Aufnahme einer möglichen Psychotherapie sei die Unterstützung bei dieser Klärung, ohne insbesondere die Eltern belasten zu müssen. Nach einigen wenigen probatorischen Gesprächen nahmen wir die gemeinsame psychotherapeutische Arbeit zunächst im einstündigen, dann im zweistündigen sitzenden Setting auf. Ohne die Inhalte in diesem Rahmen im Detail schildern zu können, gestaltete sich die nach wie vor anhaltende Arbeit als intensiv und reich. Nach einer anfänglichen Phase der Rücksichtnahme auf Objekte innerhalb und außerhalb der Übertragung sowie einer ausgeprägten Neigung zur Rationalisierung tauchten Themen der komplexen Identifikation mit beiden Elternteilen, eines ambivalenten Schwankens zwischen Regression und Progression sowie eine immer wieder überfordernde, zögerliche Besetzung des eigenen sexuellen Körpers auf. Die Frage nach der eigenen geschlechtlichen Verortung stellte sich dabei wechselhaft-schillernd mal als seelischer Rückzugsort vor den Zumutungen der sexuellen Anforderungen der Erwachsenenwelt, mal als Bereich der trotzigen Selbstbehauptung gegenüber den Objekten, mal als Quelle tiefer körperlich empfundener Verunsicherung dar. Auch die Übertragung nahm zunehmend Fahrt auf: K. träumte mich in verschiedenen Beziehungen zu sich, was abgesehen von der inhaltlichen Betrachtung auch immer eine Gratifikation des Therapeuten darstellt. Die Gegenübertragung war dementsprechend von einer Grundsympathie getragen, wechselte aber darüber hinaus zwischen milder Erotisierung, väterlicher Unterstützung und haltender Mütterlichkeit. Kurz: Es konnte eine komplexe, reichhaltige Beziehung entstehen. Das Thema Trans* ist zwar durchgehend präsent, tritt aber teilweise in den Hintergrund. K. hat sich inzwischen vor der Familie und in der Schule als trans* Mann geoutet und war, so schien mir, etwas enttäuscht, dass mit so viel Zustimmung und Unterstützung re259
Sebastian Thrul
agiert wurde. Fast so, als hätte er sich mehr Reibung und Widerspruch gewünscht. Einen Wunsch nach medizinischen Maßnahmen hat er bis dato nicht geäußert. Ich gehe davon aus, dass dieser Wunsch nach den Regeln der psychoanalytischen Kunst wie jeder andere Wunsch in seiner Ambivalenz aufgenommen und analysiert werden kann. Zwischen diesen beiden Fällen hat sich nun inzwischen das Spektrum der Strukturen aufgespannt, mit denen die Patient*innen zu mir und zu uns in die Sprechstunde kommen. Meistens stellt sich die Selbstdefinition als trans* als eine Mischung aus defensiven und progressiven Elementen dar. Es erscheint mir sinnvoll, die beiden dargestellten Fälle unter dem Blickwinkel der Frage nach der medizinischen Transition zu betrachten. Dieser Blickwinkel ist wichtig, da in manchen klinischen Diskussionen der Eindruck entsteht, als wäre das Persistieren oder die Aufgabe dieses Wunsches das zentrale Merkmal der Qualität der Behandlung. Im ersten Beispiel ist mein anfängliches klares Nein zu ersten Schritten einer medizinischen Transition einer unbehaglichen Zustimmung gewichen. Die Frage schien deutlich im Fokus der Interaktionen zu stehen. Im zweiten Fall kam die Frage medizinischer Maßnahmen bis jetzt gar nicht auf und scheint auch bei einem möglichen Auftreten wenig bedrohlich. Beide Personen können mit den drei zentralen Begriffen der Transdiagnostik als »insistent«, »persistent« und »consistent« in ihrer Selbstdefinition beschrieben werden. Beide Personen sind per Definition trans* Männer. Die Psychodynamik und insbesondere die psychischen Strukturen beider Patienten sind jedoch deutlich unterschiedlich, was sich auch in meinen unterschiedlichen Gegenübertragungsreaktionen niederschlägt. Ich war im ersten Fall überwältigt, reagierte mit Überforderung, dann mit Wut und brauchte Hilfe bei der Wiedererrichtung eines inneren Denkraums, um überhaupt therapeutisch handlungsfähig zu bleiben. Im zweiten Fall erscheint das deutlich einfacher – der therapeutische Raum spannte sich mit der Zeit auf und ist kaum vom Zusammenbruch bedroht. Es scheint so, als wäre im ersten Fall die Fixierung auf die Frage nach medizinischen Maßnahmen eine Rettungsfantasie von beiden Partnern der therapeutischen Dyade gewesen. Der Anteil des Patienten wurde bereits angesprochen, mein Anteil kann wohl verstanden werden als eine Fantasie, den Patienten vor dem »Fehler« der medizinischen Transition bewahren und meine Hände in Unschuld waschen zu wollen. Es ist eine verständliche Abwehrbewegung vor dem massiven Leid, das hinter dem Wunsch einer körperlichen Veränderung steht. 260
Zwischen Zersplitterung und Halt
An dieser Stelle fahre ich fort mit der Beschreibung unserer Sprechstunde. Unsere anfängliche Fantasie, dass die Patient*innen – und weniger bewusst wohl auch wir selbst – fragil und ständig gefährdet sind und deshalb einer besonders vorsichtigen Behandlung bedürfen, ist einer zunehmenden Robustheit gewichen. Die meisten Patient*innen lassen sich diagnostisch zwischen den beiden geschilderten Fällen verorten, was dazu führt, dass ich immer wieder sehr hin- und hergerissen bin zwischen der starken Fixierung auf das Pro und Contra einer möglichen Transition einerseits und einem Annehmen und ambivalenten Halten des Wunsches und der Analyse der Psychodynamik der gesamten Person andererseits. Die daraus resultierende Zwiespältigkeit ist teilweise schier unaushaltbar. Oft hatte ich das Gefühl, ich sollte mich zu einer klaren Haltung, Affirmation oder Transkritik durchringen, wie es unter anderem im virtuellen Raum der sozialen Medien oft implizit verlangt wird: Entweder du bist für uns, das heißt eine*r von uns, oder du bist gegen uns. Gleichzeitig denke ich, dass gute psychoanalytische Arbeit nicht in der starren Haltung, sondern im Spannungsfeld passiert. Ich glaube zunehmend, dass es sich bei Geschlechtsdysphorie um ein Phänomen handelt, dass uns in Kontakt bringt mit unserem eigenen massiven Unbehagen in verschiedenen Bereichen: Wir setzen uns als Psychoanalytiker*innen nicht gerne kulturell umkämpften Themen aus, vor allem dann nicht, wenn wir hart angegangen werden, wie es in den sozialen Medien gang und gäbe ist. Wir laufen in diesen Auseinandersetzungen Gefahr, unsere scheinbar besonders analytische Abgeklärtheit zu verlieren. Oder wir fallen unseren eigenen Tendenzen zur Spaltung zum Opfer. Die guten Transkritiker, die böse Translobby oder andersrum, je nach Präferenz. Das funktioniert deshalb so gut, weil viele der Themen, mit denen trans* Menschen zu uns kommen, unsere eigenen tiefen Ängste berühren: das Leiden an der Festlegung auf eine körperliche Geschlechtlichkeit; das Leiden am sexuellen Körper per se; der Wunsch, der eigenen Verwirrung und Verunsicherung Herr zu werden, indem man sich auf die Seite der Gewissheit schlägt. »Ich weiß genau, was ich brauche!«, sagen uns viele trans* Menschen, und viel zu oft antworten wir darauf: Ich weiß genau, was Sie brauchen! Meine Verunsicherung über meine immer wieder entstehende Verwirrung ist im Austausch mit meinem Kollegen immer mehr einem relativ selbstbewussten und etwas trotzigen Festhalten an der Zentralität gerade von Zuständen der Verwirrung und der stark affektiv aufgeladenen Ambivalenz gewichen – für die psychoanalytische Arbeit generell, nicht nur 261
Sebastian Thrul
für jene mit geschlechtsdysphorischen Menschen. Psychoanalytiker*innen sind wir am besten in der Verunsicherung, im immer wieder neu ausgehaltenen Dazwischen, zwischen vermeintlich klaren Positionen. Ich will mich in erster Linie nicht für eine Agenda einspannen lassen. Was hilft mir dabei, mich in diesem unbehaglichen Raum aufhalten zu können? Ein möglichst vertrauensvoller Umgang mit Kolleg*innen und Raum zum gemeinsamen Nachdenken. Ich muss meine Wut, meinen Hass, meine Verwirrung zum Ausdruck bringen, ja, gelegentlich herausschreien können. Dann laufe ich weniger Gefahr, sie an meinen Patient*innen auszulassen. Ich kann in dieser Arbeit die Pose des abgeklärten Analytikers nicht aufrechterhalten. Dabei habe ich festgestellt, dass ich im virtuellen Raum zwar einige Kolleg*innen kennengelernt habe, die sich äußerst differenziert zum Thema trans* äußern, dass diese Gespräche aber nahezu ausschließlich außerhalb der Öffentlichkeit der sozialen Medien und in direkter Kommunikation via E-Mail oder privater Nachricht stattfinden. Der öffentliche diskursive Raum auf Facebook, Twitter und Instagram scheint dabei eher von Zersplitterung und fehlendem Halt für das mühsame Durcharbeiten ambivalenter Positionen geprägt zu sein. Die medizinische Transition stellt keinen zentralen Fokus meiner Arbeit da, weder ihre Verhinderung, noch ihre Befürwortung. Warum sollte sie? Ich arbeite mit anderen Patient*innen nicht darauf hin, dass sie heiraten, Kinder kriegen, kündigen sollen oder all das nicht tun sollen. All diese irreversiblen Handlungen können als symptomatische Lösungen seelischer Konflikte verstanden werden. Ich stelle keine Zeugnisse für die Transition bei Menschen aus, die ich selbst in Therapie oder Analyse nehme. Das verträgt sich aus meiner Sicht nicht gut, die Übertragungsbeziehung wird dadurch stark verändert. Vielleicht ein letztes Wort an psychoanalytische Kolleg*innen, die das bitte auch weiter in die psychoanalytische Welt hinaustragen sollen: Bitte nehmen Sie geschlechtsdysphorische Patient*innen in ihren Praxen auf ! Diese Behandlungen sollten nicht nur in »spezialisierten« Einrichtungen durchgeführt werden. Dazu sind wir gerade im ärztlich-medizinischen Kontext zu sehr mit dem Problem der scheinbaren Objektivität konfrontiert. Der Arzt weiß die Diagnose und was zu tun ist. Auf diesem Boden ist es schwer, psychoanalytisch zu arbeiten, und das ist eine zusätzliche Übertragungshypothek, die erstmal bearbeitet werden muss. Wir sind als Psychoanalytiker*innen bestens dazu ausgebildet, um mit den Fragestellungen dieser Patient*innen und unseren eigenen Reaktion darauf verantwor262
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tungsvoll umzugehen. Das sollte auch in Praxen passieren. Psychoanalyse ist die Methode der Wahl für die Behandlung von geschlechtsdysphorischen und trans* Menschen, vorausgesetzt, es gelingt uns mithilfe von Kolleg*innen, unsere starken Übertragungs- und Gegenübertragungsaffekte auszuhalten und nicht zu agieren. Literatur Preciado, P. B. (2021). Can The Monster Speak? London: Fitzcarraldo Editions. Wallerstein, H. & Osserman, J. (2022). Transgender Children: From Controversy to Dialogue. The Psychoanalytic Study of the Child, 75(1), S. 159–172.
Biografische Notiz
Sebastian Thrul, Dr. med., arbeitet als psychiatrischer Oberarzt für die Psychiatrie Baselland und leitet dort eine Sprechstunde für Geschlechterfragen. Er absolviert die psychoanalytische Ausbildung am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Freiburg (DPG). Als Host des Podcasts New Books in Psychoanalysis sowie durch seine Kooperationen mit der Lissaboner Gruppe »Free Association« und der International Psychoanalytical Studies Organization (IPSO) engagiert er sich für die fortlaufende Erforschung und öffentliche Vermittlung internationaler komparativer Psychoanalyse. Seine Beiträge zu Themen der psychoanalytischen Geschlechterforschung, insbesondere zu Männlichkeit und Väterlichkeit, sowie zu den politischen und kulturtheoretischen Implikationen psychoanalytischer Behandlungstechnik lassen sich in diversen Laien- und Fachmedien finden.
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Psychosozial-Verlag Katharina van Bronswijk, Christoph M. Hausmann (Hg.)
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Psychosozial-Verlag Georg Schäfer, Rupert Martin, Ingrid Moeslein-Teising
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2022 · 431 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3155-6
Zeitdiagnosen nehmen die Gegenwart in den Blick und fordern ein Verständnis aktueller Gegebenheiten aus den Entwicklungen der Vergangenheit heraus. Psychoanalytische Zeitdiagnosen erweitern diesen Fokus, indem sie auf das Unbewusste rekurrieren: auf unbewusste Konflikte, Ängste und Motive, auf
Mit Beiträgen von L. Bayer, T. C. Bender, C. Benecke, M. Beutel, G. Brockhaus, M. Brumlik, M. B. Buchholz, K. A. Dittrich, N. Erazo, M. Ernst, R. Eschmann, C. Färber, J. Gaines, A. Gerlach, B. Gerisch, D. Habibi-Kohlen, B. Heimerl, E. Kobylinska-Dehe, B. König, H. Krüger-Kirn, K. Sischka, W. A. Skogstad, A. Starck, M. Teising, C. Türcke, D. Weimer, H. Weiß, S. Werner, H. Will, H.-J. Wirth und R. Zwiebel
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