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German Pages 178 [180] Year 2021
TRANSFORMATION STRATEGIEN UND IDEEN ZUR DIGITALISIERUNG IM KULTURBEREICH
TRANSFORMATION STRATEGIEN UND IDEEN ZUR DIGITALISIERUNG IM KULTURBEREICH ©2021 STIFTUNG HISTORISCHE MUSEEN HAMBURG
HERAUSGEBERSCHAFT Hans-Jörg Czech, Kareen Kümpel, Rita Müller REDAKTION UND GESTALTUNG JVW. text und konzeption, www.jvw.company FOTOS Alexei Graf v. Rothkirch. Design/Illustration/Fotografie, www.alexei-rothkirch.de COVERGRAFIK Erik Linton, www.lintonartdesigns.com DRUCK Merkur Druck GmbH, Norderstedt Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. VERLAG transcript Verlag, www.transcript-verlag.de Aktuelle Vorschau unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
DIE REALISIERUNG DER PUBLIKATION WURDE ERMÖGLICHT DURCH DIE BEHÖRDE FÜR KULTUR UND MEDIEN HAMBURG. Diese Publikation erscheint anlässlich der Veranstaltungsreihe „eCulture-Salon“ zur Digitalisierung im Kulturbereich, die die Stiftung Historische Museen Hamburg in den Jahren 2019/20 in Zusammenarbeit mit der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg im Jenisch Haus und im Museum der Arbeit durchgeführt hat. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Herausgeberschaft unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Personenbezeichnungen wurden nicht geändert. Print-ISBN: 978-3-8376-5744-9 PDF-ISBN: 978-3-8394-5744-3 https://doi.org/10.14361/9783839457443
„OMNIA MUTANTUR“ OVID
Impressum
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Vorwort von Hans-Jörg Czech
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FORMWECHSEL UND KONTINUITÄT
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CHANCEN UND RISIKEN FÜR DIE GESELLSCHAFT RÜCKKOPPLUNG NACH VORNE Carsten Brosda
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DAS FREMDE UND DIE FREIHEIT DER KUNST Hanno Rauterberg
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AMBIVALENZEN ZWISCHEN MENSCH UND MASCHINE Peter Seele
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DIGITALE ÖKOLOGIE, OFFENE GESELLSCHAFT Harald Welzer
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AUFBRUCH UND VISIONEN
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VORAUSSETZUNGEN FÜR KUNST UND KULTUR HEUTE SPIELBEIN UND STANDBEIN Robert Mishra
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ROADMAP ZUM KULTURWANDEL Martin Lätzel
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AN DER SCHWELLE 5 NACH 12 Thomas Schleper
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KULTUR IN NEUEN RÄUMEN Dirk Petrat
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DIGITALE EVOLUTION Reinhard Altenhöner
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GEDEIHEN IN DER DIGITALEN WELT Cosmina Berta
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I M NORDEN WAS NEUES Interview mit Christian Pfromm
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KONTEMPLATION UND TATENDRANG
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WIE SICH MUSEEN NEU ERFINDEN eCULTURE. UND KEINE ALTERNATIVE Guido Fackler THE MATTER OF STORY Jasper Visser
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VISITOR JOURNEYS NEU GEDACHT 105 Katharina Fendius, Christina Haak, Bettina Probst DAS MUSEUM 2020 113 Bernhard Maaz VON KONZEPTEN UND PROTOTYPEN 121 Johannes Bernhardt FAST FORWARD NEULAND 128 Helmut Gold, Annabelle Hornung, Anja Schaluschke OFFENE BEZIEHUNGEN 134 Interview mit Mirjam Wenzel
SINN UND SINNESWANDEL
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NEUE RÄUME DES KULTURBETRIEBS WAS REIMT SICH AUF CORONA? Christian Holst
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SCHICKSAL, SCHEITERN UND CHANCEN Marcus Lobbes
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ORBIT DER MUSIK Markus Menke, Michael Petermann
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IM KOMMUNIKATIONSDREIECK Burkhard Glashoff
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AUTHENTIZITÄT RELOADED Interview mit Michael Studt
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AUF DEM WEG ZU EINER KULTUR DER DIGITALITÄT Resümee von Rita Müller
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Herausgeberschaft und Redaktion
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VORWORT HANS-JÖRG CZECH
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ie Diskussion der Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen einer fortschreitenden Digitalisierung ist seit vielen Jahren ein ebenso notwendiges wie fest etabliertes Thema in unterschiedlichen Fachforen des Kulturbereichs. Auch die Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) sah 2018, angesichts einer rasant steigenden Anzahl und Bedeutung von Digitalprojekten in den zugehörigen Einrichtungen, die Zeit für einen Reflexionsprozess zur Begleitung der vielfältigen eigenen digitalen Aktivitäten gekommen. In Zusammenarbeit mit der Hamburger Behörde für Kultur und Medien konzipierte die Stiftung dazu unter dem Titel eCulture-Salon eine mehrteilige, für externe Beteiligte geöffnete Veranstaltungsreihe für die Jahre 2019-20, die sich von Beginn an nicht nur an Fachkolleg*innen aus dem Museumsbereich richten sollte, sondern mit breiterem Fokus neben Vertreter*innen aus Kulturinstitutionen und -administrationen auch Kulturschaffende, Kulturpolitiker*innen, Forschende verschiedenster Fachdisziplinen sowie „Innovationsträger aus dem digitalen Bereich“ im Diskurs zusammenführen wollte, wie es in den Zielformulierungen des Vorhabens festgehalten ist. Der Auftakt der Veranstaltungsreihe im September 2019 gelang wie geplant und initiierte an zwei aufeinander folgenden Tagen in den inspirierenden Ambientes des Jenisch Hauses (eCulture-Salon) und des Museums der Arbeit (öffentlicher Fachtag) Vorträge mit verschiedenen Perspektiven auf die Leitaspekte transformation und resonanz im Kontext der Digitalisierung, gefolgt jeweils von einem regen Austausch zwischen den Anwesenden. Der zweite Veranstaltungsblock richtete den Fokus auf die Themenfelder strategie und relevanz und war als Fortsetzung für das Frühjahr 2020 an den gleichen Veranstaltungsorten geplant. Und dann kam Corona …! Wie ungezählte andere Veranstaltungsformate wurde im denkwürdigen Jahr 2020 auch die eCulture-Veranstaltungsreihe der SHMH von den Kontaktbeschränkungen und sonstigen Maßnahmen zur Eindämmung der Sars-CoV-2-Pandemie eingeholt. In einer unmittelbaren Reaktion auf die Ereignisse fand zunächst eine Verschiebung von Salon und Fachtag von April auf Oktober 2020 statt. Während der eCulture-Salon dann trotzdem kurzfristig abgesagt werden musste, ließen die weitaus größeren Veranstaltungsflächen im Museum der Arbeit immerhin noch die zeitgleich geplante Ausbringung des Fachtages zu, wenn auch geprägt von strengen Auflagen der geltenden Hygienekonzepte und einer strikten Begrenzung der Zahl der Teilnehmenden. Der Qualität der inspirierenden Vorträge und dem regen Austausch zwischen den Beteiligten taten
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die besonderen Rahmenbedingungen glücklicherweise keinen Abbruch. Gänzlich undurchführbar war angesichts der zweiten Infektionswelle der für das erste Quartal 2021 vorgesehene dritte eCulture-Salon Hier sollten unter dem Oberbegriff neues digitales mindset die vielfältigen Perspektiven der Referent*innen sowie die Diskussionsergebnisse der gesamten Veranstaltungsreihe reflektiert und zum Impulsgeber für die Digitalstrategie der SHMH aber auch möglichst vieler anderer an der Thematik Interessierter werden. Da dieses nun nicht mehr in Form einer Präsenzveranstaltung erfolgen konnte, entstand kurzerhand das Vorhaben, in der vorliegenden Publikation die Zusammenstellung der in den Vorträgen entwickelten Perspektiven auf die Bedeutungsfacetten der Digitalisierung für die Kultur zu leisten. Es ist als echter Glücksfall zu werten, dass die Referent*innen diese Idee als Zusatzbelastung in schwierigen Zeiten kurzentschlossen und mit vollem Engagement mitgetragen haben. Covid-19 hat Tod, Leid und Not in großem Maße über unseren Planeten gebracht und weltweit den Kulturbetrieb, wie zahllose andere Branchen auch, in einen zuvor unvorstellbaren Ausnahmezustand versetzt. Gegen diese zivilisatorischen Erschütterungen mag der unplanmäßig eingeschränkte Abschluss einer Veranstaltungsreihe zur Digitalisierung im Kulturbereich unbedeutend erscheinen. Allerdings beginnen wir alle, obgleich zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Bandes die Pandemie noch nicht einmal überwunden ist, immer deutlicher zu erahnen, dass deren Auswirkungen weit hinausreichen über monetäre Defizite durch langandauernde, flächendeckende Schließungen von Kultureinrichtungen als Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung. Mit beachtlichen Nachwirkungen ist zu rechnen und das gilt in besonderem Maße auch und gerade für das Digitale in der Kultur. Denn die notwendigen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus schufen unfreiwillig eine ganz besondere Versuchsanordnung, quasi einen völlig unvorbereiteten Test- bzw. Bewährungsfall für digitale Formate, Angebote und Interaktionsformen im Kulturbereich. Plötzlich waren die digitalen Präsenzen von Kultureinrichtungen aller Art nicht mehr alternative oder additive Zugänge zum Erreichen des Publikums, sondern schlicht die einzigen Kanäle in die Öffentlichkeit. Manche Digitalformate bewährten und bewähren sich noch immer, andere erwiesen sich unter den speziellen Betriebsumständen als untauglich, wieder andere entstanden erst völlig neu dank freigesetzter Kreativität. Digitale Kooperations- und Kollaborationsformen erlebten Quantensprünge in Qualität und Quantität der Nutzung. Obendrein scheinen sich angesichts der
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langen Dauer der Pandemie und der begleitenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens unverkennbar Phänomene einer erschlaffenden Begeisterung und abnehmenden Aufmerksamkeit für digitale Kulturangebote und Kooperationsformen einzustellen. Wie nachhaltig derartige Ermüdungsanzeichen sind, wird sich erst noch erweisen. Viele Autor*innen der vorliegenden Publikation haben bei der Abfassung ihrer Texte dankenswerterweise die vielfältigen brandaktuellen Erfahrungen, Erkenntnisse und Beobachtungen zur Digitalität aus der Covid-19-Pandemiezeit mit in ihre Darstellungen einfließen lassen. Die Aktualität und Bedeutung dieses Buch wird hierdurch noch einmal deutlich gesteigert. Unser großer Dank gilt allen Referent*innen und Autor*innen für ihre inspirierenden Beiträge, ferner Jenny V. Wirschky für die hervorragende Redaktion sowie Gudrun Buck vom Museum der Arbeit für die sorgfältigen Korrekturen bei der Drucklegung dieses Buches. Rita Müller (Direktorin des Museums der Arbeit) und Kareen Kümpel (Referentin für Bildung und Vermittlung) haben die Organisation aller Elemente des anspruchsvollen Projekts für die SHMH mit Bravour bewältigt, das nur dank einer großzügigen finanziellen Förderung durch die Behörde für Kultur und Medien Hamburg in der realisierten Form möglich geworden ist. Für die Stiftung Historische Museen Hamburg hat sich die Ausbringung der Veranstaltungsreihe eCulture-Salon in Summa als außerordentlich lohnend erwiesen, da sich trotz spezieller Rahmenbedingungen viele Impulse für eine gerade angesichts der eigenen Erfahrungen der Corona-Zeit noch deutlich zu überprüfende beziehungsweise zu konturierende Digitalstrategie ergeben haben. Auch wenn in den letzten Monaten vieles bewegt wurde, so hat der Prozess der Digitalisierung für uns doch gerade erst richtig begonnen. Es ist unsere Hoffnung, dass von dieser Publikation wichtige Anregungen für einen weit über die Teilnehmer*innen der Veranstaltungsreihe hinausreichenden Rezipient*innenkreis ergeben können. Und vielleicht erweist sich ja das analoge gedruckte Buch gerade in einer „post-Corona-Ära“ als das richtige Medium für eine tiefergehende Reflexion über die Digitalisierung und ihre Auswirkungen.
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FORMWECHSEL UND KONTINUITÄT
CHANCEN UND RISIKEN FÜR DIE GESELLSCHAFT
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RÜCKKOPPLUNG NACH VORNE CARSTEN BROSDA
Dr. Carsten Brosda ist Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und Co-Vorsitzender der Medien- und Netzpolitischen Kommission des SPD-Parteivorstands. Zuvor war er in Hamburg Staatsrat für Kultur, Medien und Digitales und Bevollmächtigter des Senats für Medien.
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Die Digitalisierung hat bei den Informations- und Kommunikationssystemen angefangen und ist nun bei der Durchdringung unseres Alltags mit digitaler Technologie angelangt. Was bedeutet das für die künstlerische Produktion, die Präsentation und die Rezeption von Kunst und Kultur?
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nser Denken muss konkret werden!“, hat der Schriftsteller Max Frisch einmal gefordert. „Man müsste sehen, was man denkt, und es dann ertragen oder seine Gedanken ändern, damit man sie denken darf.“1 Das ist eine markante Forderung, die in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung eine zusätzliche Pikanterie erfährt. Informationen aus aller Welt sind permanent verfügbar und alles – oder nichts? – scheint uns etwas anzugehen. Zudem hat uns die Corona-Krise nur allzu deutlich wieder einmal vor Augen geführt, dass die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen enorm sind. Aber wie gehen wir um mit dieser Entgrenzung und dieser Komplexität? Wie kann uns die Rückkopplung des Abstrakten an die eigene Erfahrung gelingen und so sinnvolles Handeln ermöglichen? Denn darum geht es ja letztlich, weil Gesellschaft nicht nur theoretisch, sondern vor allem ganz praktisch im Miteinander gelingen muss. Max Frisch wäre nicht Max Frisch, wenn er nicht auch einen Hinweis für uns hätte: Die Künste (aus seiner Sicht natürlich insbesondere die Literatur) könnten diesen Brückenschlag zwischen Abstraktion und Konkretion leisten. Kunst könne das Wesentliche, das Lebendige zum Ausdruck bringen und so das Abstrakte ins Anschauliche wenden. Dass dies gelingt, liegt paradoxerweise wohl gerade an ihrer Neigung zum Spekulativen, zum Anarchischen, zum Kritischen und zum Utopischen. In seiner New Yorker Poetikvorlesung formulierte Frisch es wie folgt: „Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden“.2 Wenn Kunst und Kultur es vermögen, das Abstrakte konkret – im wahrsten Sinne des Wortes also anschaulich – zu machen, wie verhält es sich dann mit der Kunst und Kultur im Sinne einer eCulture? Das Medium beinhaltet zunächst einmal eine Abstraktion, wir haben es im Netz immer mit einer mittelbaren statt einer unmittelbaren Erfahrung zu tun. Die Orte, die wir uns dort ansehen, können wir nicht mit allen Sinnen und in der Zeit erleben; die Menschen, mit denen wir dort kommunizieren, können wir nicht anfassen und riechen; die Theaterstücke, die wir dort sehen, erleben wir allein vor dem Computer anstatt mit 500 anderen Menschen, die manchmal an anderen Stellen lachen als man selbst und manchmal an den selben. Gerade zu Beginn der CoronaPandemie haben viele Kultureinrichtungen, Künstlerinnen und Künstler die Chancen des Digitalen genutzt, zum einen aus der Not, weil sonst nichts mehr möglich war, zum anderen aber auch aus Neugier. Sie haben herumexperimentiert und neue Formate entwickelt, um den Verlust der direkten Kunsterfahrung im Lockdown zu kompensieren. Bei aller lobenswerten Offenheit von Kulturschaffenden und Publikum, kann man wohl doch als Zwischenbilanz eine leichte Ermüdung feststellen. Dies hat vermutlich drei Gründe: erstens die ganz banale Tatsache, dass die meisten Menschen es als anstrengender empfinden, einem Konzert vor dem Bildschirm zu lauschen statt im Konzertsaal, zweitens die pragmatische Feststellung, dass sich bisher noch keine bewährten Bezahlmodelle für Kunstangebote im Netz etabliert haben und drittens der Umstand, dass die
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digitale Kunsterfahrung überwiegend eher als Kompensation wahrgenommen wurde, denn als adäquater Ersatz. Das Konkrete des unmittelbaren Kunsterlebnisses entspricht den meisten Menschen offenbar mehr als das digitale Pendant. Interessanterweise hat sich dennoch, trotz mancher, teils auch berechtigter Vorbehalte, etwas in Bewegung gesetzt. Kultureinrichtungen verkaufen beispielsweise, zum Teil ergänzend zu analogen Veranstaltungen, begrenzte eTickets für Lesungen oder Theateraufführungen. Digitale Vorträge und Diskussionen werden vom Publikum gut angenommen und haben zudem den Vorteil, dass aufwendige Reisen erspart bleiben. Und ich bin sicher, dass auch genuin digitale Kunstprojekte zunehmend selbstverständlicher und raffinierter werden. Wir haben uns also auf den Weg gemacht, auch wenn wir noch nicht wissen, wohin die Reise führt. Wir haben es bei der eCulture letztlich mit drei großen Bereichen zu tun. Der erste Bereich befasst sich mit den digitalen Möglichkeiten, Kulturangebote zur Verfügung zu stellen: die Archive, die Bestände in den Museen oder das Repertoire in den Theatern. Die Idee ist, all die kulturellen Schätze zu sichern und verfügbar zu machen. So bewahren wir unser kulturelles Erbe für die Zukunft und machen es weltweit zugänglich. In Hamburg investieren wir im Bereich der Museen in die Digitalisierung und Inventarisierung der Sammlungen, in der Hoffnung, im Jahr 2035 damit fertig zu sein. Entscheidend ist dabei, dass wir es als Stadt schaffen müssen, dass diese Vielzahl von Möglichkeiten nicht Einzelprojekte einzelner Institutionen bleiben, die auf zwei oder drei Jahre angelegt sind, sondern dass das systematisch in den Strukturen verankert wird. Die Digitalisierung der Museumsbestände zeigt uns übrigens auch, dass sich manchmal Möglichkeiten eröffnen, über die man vorher gar nicht nachgedacht hat. Welche Bedeutung Digitalisate im Gegensatz zu analogen Karteikarten haben, wird in den aktuellen Bemühungen um die Provenienzforschung zu kolonialen Sammlungsbeständen als Voraussetzung und mitunter Initiierung von Restitutionen deutlich. Hintergrund ist, dass in den Herkunftsgesellschaften oftmals nicht mehr das Wissen darüber vorhanden ist, was einmal im eigenen Land war. Wenn wir digital offen legen, um welche Objekte es sich handelt, kann man leichter als zuvor prüfen, ob es unter Umständen restituiert werden oder im Rahmen einer Dauerleihgabe zurückgeführt werden sollte. Der zweite große Bereich der eCulture befasst sich mit den Möglichkeiten digitaler Techniken, Bürgerinnen und Bürger darüber zu informieren, welche kulturellen Angebote in einer Stadt oder einer Gemeinde zur Verfügung stehen. Es geht also darum, die neuen kommunikativen Möglichkeiten für Kulturinstitutionen so nutzbar zu machen, dass man neben den bisherigen auch neue Besuchsgruppen erreicht. Der Trailer zur Theaterpremiere oder ein virtueller Gang durch eine aktuelle Ausstellung können Appetit machen auf das Original. Dass das eine dem anderen keine Konkurrenz macht, hat uns die Übertragung von Fußballspielen im Fernsehen schon beispielhaft gezeigt. Als die in Mode kam, fürchteten manche auch, dass die Menschen dadurch nicht mehr ins Stadion gingen. Wir wissen heute, dass die Sorge unberechtigt war. Das analoge Erlebnis mit allen Sinnen ist nicht ersetzbar – wir können es aber kommunikativ vorbereiten und sinnvoll ergänzen. Der dritte große Bereich ist vielleicht der anspruchsvollste: Wie werden digitale Techniken selber zu einem Modus der Kunst- und Kulturproduktion? Trotz unserer Erfahrungen mit
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der Medienkunst stehen wir hier immer noch relativ weit am Anfang und wissen noch nicht so genau, wohin es uns führt. So scheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass Games im 21. Jahrhundert das sein werden, was im 20. Jahrhundert der klassische Film war. In den Games werden audiovisuelle Welten mit narrativen Strukturen erschaffen, die nicht nur technisch, sondern auch erzählerisch ein anspruchsvolles Niveau erreicht haben. Weil wir dabei aber statt als Betrachtende eines Films plötzlich als Teilnehmende solcher virtueller Welten selbst zum Akteur oder zur Akteurin werden, betrachten wir sie bisher mehr als Unterhaltung und nur sehr eingeschränkt als Kunst. Langsam setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass auch die Games eine Kulturtechnik sind. Virtual und Augmented Reality öffnen als Formen digitalen Kunst- und Kulturschaffens wichtige neue Möglichkeiten. Die Faszination, virtuelle Räume mittels VR-Brille begeh- und erlebbar zu machen, könnte im Digitalen der Brückenschlag von der Präsentations- zur Kunsttechnik, vom Abstrakten zum Anschaulichen sein. So wie viele Jahre darüber diskutiert wurde, ob Fotografie Kunst ist oder nicht, diskutieren wir nun darüber, ob VR-Projekte Kunst sind oder nicht. Unabhängig davon, scheint die Verlockung von Filmemacher Dani Levi bis hin zum Bildenden Künstler Jonathan Meese jedoch groß zu sein – beide haben sich in dem Medium bereits versucht. In allen drei Bereichen müssen wir kulturpolitische Akzente setzen. In der aktuellen Lage sind dabei vor allem die Vermittlungsfragen für die Kultureinrichtungen entscheidend und dringlich. Es ist inzwischen Konsens, dass Marketingaufgaben wie Audience Development und Customer Relationship zwei zentrale Aufgaben auch in der Kultur sind. „Kultur für alle!“ hieß der kulturpolitische Schlachtruf von Hilmar Hofmann in den 1970er Jahren – jetzt, über fünfzig Jahre später sagen immer noch viel zu viele: „Für mich nicht.“ Wir wissen von Nichtbesucherstudien, dass 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger keine öffentlich geförderten Kultureinrichtungen besuchen. Diese Studien legen auch nahe, dass viele Menschen nicht deshalb nicht in solche Kultureinrichtungen gehen, weil es sie nicht interessieren würde, sondern weil sie sich nicht gemeint oder im schlimmsten Falle sogar unerwünscht fühlen. Deswegen spielt die Frage, wie man durch die Digitalisierung mit ganz unterschiedlichen und vor allem neuen Zielgruppen in Kontakt kommen kann, eine große Rolle. Sie bietet zahlreiche Möglichkeiten, Barrieren abzubauen und Interesse bei denen zu wecken, für die die Angebote bisher nicht plausibel erschienen. Aber auch beim bereits zugewandten Publikum werden die digitalen Wege immer wichtiger. Zum einen weil die tradierten journalistischen Mittler umworbener sind – die lokalen Tageszeitungen verkleinern ihre Kulturressorts und das Radio sendet weniger Wortbeiträge –, zum anderen weil sich das Informations- und Rezeptionsverhalten deutlich verändert hat. Viele haben ihr Smartphone immer bei sich, sie erledigen eine Vielzahl von Aufgaben und verbringen ihre Freizeit damit: Bankgeschäfte tätigen, Einkäufe erledigen, Hausaufgaben verschicken, Verabredungen treffen, Essen fotografieren oder Musik hören und Filme schauen. Vermutlich dauert es auch nicht mehr allzu lange, bis das Internet der Dinge eine Verknüpfung der realen und der virtuellen Welt erreicht. Auf all diese Entwicklungen sollten Kultureinrichtungen reagieren und digitale Präsenz zeigen. Kultureinrichtungen sollten
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sich also vermehrt darüber Gedanken machen, wie sie Social Media in ihrer Kommunikation nutzen oder welche digitalen Zusatzangebote sinnvoll sind. Das setzt die Bereitschaft voraus, Neues auszuprobieren und neugierig auf die Interessen und Bedürfnisse der Menschen zu reagieren. Darin steckt eine riesige Chance. Denn idealerweise sind die Häuser, die Museen, Konzertsäle und Theater, Orte eines lebendigen Diskurses der Stadtgesellschaften. Jürgen Habermas beschrieb in seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit die frühbürgerlichen Gespräche über Kunst sogar als ein Mittel der Selbstaufklärung und somit als Vorbereitung auf eine politische Öffentlichkeit.3 eCulture bietet die Möglichkeit, diesen Prozess der Demokratisierung weiter voranzutreiben. Über die Digitalisierung bekommen potentiell mehr Menschen Zugang zu Kunst und Kultur. Die Reichweite ist viel größer als jemals zuvor. Die Herausforderung der digitalen Kommunikationskanäle besteht dabei aber womöglich darin, dass es im digitalen Raum im Vergleich zum analogen bislang weitaus schwieriger ist, das gesellschaftliche Gespräch zu organisieren. Die klassischen Institutionen, seien es die Medien oder die Kultureinrichtungen oder die Universitäten, haben ihre Deutungshoheit ein Stück weit eingebüßt und der öffentliche Meinungsaustausch findet breiter und vielfältiger statt – das ist ein Vorteil. Andererseits ist es ein Nachteil, dass wir noch keine wirklich überzeugende Methode gefunden haben, hier vom bloßen Statement zum echten Gespräch zu kommen. Hybridformen können in den Kultureinrichtungen daher ein guter Weg sein, die Chancen und Vorteile von beiden Formen – dem Analogen und dem Digitalen – zu nutzten und fruchtbar werden zu lassen. Formate des elektronischen Publizierens wie beispielsweise eWissensprodukte oder eMagazine, die kostenfrei oder günstig umsetzbar sind, werden bereits vielfach von den Hamburger Kultureinrichtungen realisiert. Es zeigt sich jedoch, dass für elaboriertere und medienspezifische redaktionelle Beiträge die Mittel und personellen Ressourcen derzeit noch fehlen, gerade auch bei kleineren kulturellen Einrichtungen mit stark begrenzten personellen und finanziellen Möglichkeiten. Hier klafft eine Lücke zwischen dem Anspruch an die Entwicklung von professionellen Produkten und dem Status Quo. Dennoch mischen auch die kleineren Einrichtungen mit und haben erkannt, dass sie ohne entsprechende Formate den Anschluss an die digitale Entwicklung verlieren könnten. Es ist wichtig, vor Ort wie auch digital auf die diversen Nutzergruppen und ihre unterschiedlichen Ansprüche und Bedürfnisse einzugehen. Einrichtungen der Kunst und Kultur haben als Begegnungsstätten und Reflexionsräume eine unmittelbare Relevanz für den Zusammenhalt in der Gesellschaft und bei der Gestaltung einer lebendigen Stadt. Dabei können digitale Angebote den Resonanzraum erweitern, die Besucherbindung erhöhen und neue Publikumsgruppen erschließen. Bei aller Begeisterung für die digitalen Möglichkeiten, sollten wir uns aber das Bewusstsein dafür bewahren, dass das reale Aufsuchen konkreter Orte, an denen man unerwartete Erlebnisse und Einsichten haben kann sowie auf andere Besucherinnen und Besucher trifft, nicht ersetzt werden kann. Das sinnliche Erleben in Kino, Konzertsaal, Theater oder Museum wirkt inspirierend auf den Intellekt. Sei es das haptische Gefühl vom abgegriffenen Plüsch der Theatersessel, der olfaktorische Eindruck von tonnenweise verkauftem Popcorn im Kinofoyer, der akustische Reiz von lyrischer Sprache in einer Lesung, die
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körperliche Wirkung eines großen Orchesters im Konzertsaal, das visuelle Erleben von raumgreifenden Tanzstücken oder großformatigen Ölgemälden oder das Pausengespräch bei einem Getränk – all das lässt sich nicht einfach auf zweidimensionale 15 Zoll zusammenzurren. Deswegen wäre es ein Fehler, das Hauptaugenmerk auf den Nutzen der Digitalisierung für die Kulturindustrie zu lenken. Digitale Techniken können uns vielmehr dabei helfen, Kunst und Kultur als Impulsgeber für das gesellschaftliche Gespräch zu stärken. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist zweifelsohne ein innovativer Motor für Wachstum und Beschäftigung, es kann aber nicht nur um die Erschließung von neuen, lukrativen Marktsegmenten wie beispielsweise eBooks gehen. Die Dynamik der Digitalisierung verändert schließlich auch unsere Gesellschaft – diesen Transformationsprozess sollten wir ganz sicher nicht nur unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilen und gestalten. Dass dies ein Weg ist, der immer mal wieder nachjustiert werden muss, zeigt auch die IT-Strategie der Freien und Hansestadt Hamburg. Die Hamburger Behörde für Kultur und Medien hat 2016 mit der sogenannten eCulture-Agenda 2020 begonnen, mittels digitaler Technik innovative Wege zu erschließen, um den gesellschaftlichen Auftrag von Kultureinrichtungen zu erfüllen. Ziel sollte sein, allen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu kulturellen Objekten und Inhalten auf digitalem Wege zu ermöglichen. War zunächst geplant, dass sich die Arbeit auf die Retro-Digitalisierung der Sammlungen und Bestände in den Museen sowie die Entwicklung von kulturellen Online-Angeboten konzentrieren sollte – wurde doch schnell klar, dass die Digitalisierung einen Strukturwandel auslöst, von dem alle Bereiche des Kultursektors erfasst werden. Wir schreiben deshalb die eCulture Agenda 2020 kontinuierlich fort. Mittlerweile haben wir gelernt, dass es nicht damit getan ist, den Ausbau von IT-Infrastruktur zu fördern. In der gerade fertig gestellten Strategie der Behörde für Kultur und Medien, die nun BKMdigital heißt, geht es um viel mehr: Wir haben alle Komponenten in den Blick genommen und alle Abteilungen, alle Kunstsparten, alle Ämter einbezogen und angefangen, uns neue Felder zu erschließen. Damit soll auch ein Handlungsrahmen zur Umsetzung entsprechender Projekte geschaffen werden. Dieser Handlungsrahmen muss dynamisch sein und bleiben und digitale Trends der jeweiligen Kulturbereiche aufgreifen, wie beispielsweise die Beschäftigung mit Künstlicher Intelligenz. In 2019 haben wir zudem eine neue Initiative gestartet, die wir Innovationsoffensive Museen genannt haben. Die Museumsstiftungen der Stadt bekommen zusätzliche Mittel, die wir in einem schlanken Verfahren ausbringen und die für innovative Maßnahmen eingesetzt werden können. Damit werden nicht nur beispielsweise neue Vermittlungsformate ausprobiert, die natürlich auch interessante digitale Formate beinhalten, sondern auch Prozesse, Workshops und Beratungsleistungen gefördert. Das Digitale kommt zum Analogen hinzu, beides muss zusammen gedacht werden und kann sich im besten Fall sinnvoll ergänzen. Derzeit fehlen noch zusammenhängende Strategien für den Kultursektor, Strategien die sich um digitale Transformationsprozesse ranken und sich ganz allgemein der Frage stellen, was Kultureinrichtungen in Zukunft ausmachen wird, für welche Programmatik sie stehen wollen. Die Behörde für Kultur und Medien kann und will den Weg dafür nicht vorgeben. Wir können aber unterstützen, den eigenen Weg
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dorthin zu finden und ihn dann gemeinsam bestreiten. Dafür wollen wir den Kulturinstitutionen die nötigen Mittel zum Experimentieren, Ausprobieren, Scheitern und wieder neu Probieren an die Hand reichen. Die Innovationsprozesse gerade der Kultur müssen offen und agil sein. Wir wollen, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung in den Häusern und in den Strukturen so intensiv ausprobiert werden, dass wir selber die Hoheit darüber haben, wie wir die digitalen Techniken nutzen. Dann kann es uns gelingen, den Transformationsprozess der Digitalisierung aktiv zu gestalten und für unsere konkreten Vorstellungen und Bedarfe zu nutzen.
1 Max Frisch (1985): Tagebuch 1946-1949, Frankfurt am Main, S. 194 2 Max Frisch (2008): Schwarzes Quadrat: Zwei Poetikvorlesungen (herausgegeben von Daniel de Vin), Frankfurt am Main 3 Jürgen Habermas (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main
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DAS FREMDE UND DIE FREIHEIT DER KUNST HANNO RAUTERBERG
Dr. Hanno Rauterberg ist stellvertretender Leiter des Feuilletons der ZEIT und schreibt vor allem über Kunst, Architektur und Städtebau. Er ist promovierter Kunsthistoriker, Absolvent der Henri-Nannen-Journalisten-Schule und seit 2007 Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Zuletzt erschien von ihm: wie frei ist die kunst? der neue kulturkampf und die krise des liberalismus (Suhrkamp), die kunst und das gute leben. über die ethik der ästhetik (Suhrkamp) und wir sind die stadt! urbanes leben in der digitalmoderne (Suhrkamp).
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Mit der digitalen Technik haben sich die Vorstellungen von Raum und Zeit rasant verändert. Auch die Gesellschaft blickt nun, im fortschreitenden Überwachungskapitalismus, anders auf sich selbst als zuvor. Damit wandeln sich die Grundlagen für das, was man den kulturellen Diskurs nennt. Der Kunst kommt der Resonanzraum abhanden, der sich seit dem Beginn der Moderne aufgebaut und als konstitutiv erwiesen hatte. Und je mehr die Ideen der Autonomie und Authentizität durch die digitale Technik an Bedeutung verlieren, desto brüchiger wird die bisherige Praxis der Kunst.
M
it der Digitalisierung, die kaum einen Lebensbereich ausspart, verändern sich die Bedingungen für Kultur und Kunst, ihre Produktions-, ihre Distributions-, mehr aber noch ihre Rezeptionsbedingungen. Diese sind seit dem 18. Jahrhundert eng verknüpft gewesen mit der Idee einer Gesellschaft, die mit sich selbst im lebhaften Gespräch ist. Kunst, so die verbreitete Vorstellung, entsteht nicht per höfischem oder klerikalem Dekret, sie entsteht im Diskurs. Sie muss nicht länger akademischen Regeln gehorchen, sie kann sich ihre Sujets und Methoden frei wählen, doch kommt sie gerade deshalb nicht ohne eine Öffentlichkeit aus, in deren Reaktionsmustern sich abbildet, welche Neuformulierungen tragen könnten und wo ein künstlerisches Experiment ins Leere läuft. Ohne Resonanz entsteht kein Wertebild, und ohne Wertebild ist die Kunst ein Spiel ohne Gegenüber. Mit der fortschreitenden Digitalisierung verliert sich ein solches Gegenüber und es bilden sich andere Strukturen von Öffentlichkeit. Bislang setzte der Begriff der Öffentlichkeit voraus, dass ihm ein starker Begriff von Privatheit und also von geschützter, sich abgrenzender Individualität entgegengestellt werden konnte. So war für Georg Simmel dieser klare Dualismus geradezu konstitutiv: „daß der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, bildet die positive Bedingung dafür, daß er es mit anderen Seiten seines Wesens ist“. Insbesondere die moderne Kunst bezog aus dieser Polarität viel von ihrer Spannung. Erst im Austausch mit einem konträr gedachten Gegenüber gewann sie eine ihrer wesentlichen Funktionen: als ein Raum, in dem noch die intimsten Regungen, Erfahrungen von Liebe, Angst, Begehren oder tiefem Zweifel sich aus der abgeschirmten Privatheit lösen und zu etwas Allgemeinen und also allgemein Verhandelbaren werden konnten. Hierin lag nicht zuletzt die emanzipatorische Kraft der Kunst: dass sie Verborgenes sichtbar und formulierbar machte. Um diesen Raum produktiv gestalten, um ihn gelegentlich auch verlassen oder gedanklich niederreißen zu können, braucht es allerdings Grenzen, die diesen Raum als Raum erst konturieren, sicht- und spürbar werden lassen. Zum einen sind es die Grenzen des Gesetzes, die der Kunst eine besondere Freiheit ermöglichen, zum anderen die Grenzen einer Gesellschaft, in der das Öffentliche sich vom Privaten unterscheidet. Die digitale Technik unterläuft diese Unterscheidung, und das auf verwirrend paradoxe Weise. Sie gestattet einerseits ein hohes Maß an Anonymität, weil sich beispielsweise im Diskurs des Netzes niemand zu erkennen geben muss. Hier gibt es Marktplätze der Meinung, auf denen alle, die wollen, eine Maske tragen dürfen. Andererseits erweitern sich die Möglichkeiten der Enttarnung – und damit der Entprivatisierung des Privaten – in einem nie gekannten Umfang. So ist etwa die Technik der Gesichtserkennung, auch wenn sie längst
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nicht flächendeckend eingesetzt werden darf, so weit vorangeschritten, dass selbst TechKonzerne vor ihrem uneingeschränkten Einsatz warnen. Wer immer meinte, sich in einer großen Menschenmenge unerkannt durch einen Bahnhof oder eine Einkaufsstraße bewegen zu können, sieht sich nun, in der Digitalmoderne, damit konfrontiert, dass ihn das kalte Auge der Kameras erfasst und sein Gesicht auslesen könnte wie einen Strichcode. Umgekehrt verwandelt sich Privatheit in eine Form von Öffentlichkeit, weil erstaunlich viele Menschen ihr intimes Leben arglos hinaustragen in die Weiten des Netzes und beispielsweise das Selfie als unverzichtbare Möglichkeit begreifen, die eigene Existenz zu beglaubigen und ihr Befinden kundzutun. Es etabliert sich eine neue Ordnung des Sichtbaren und des Unsichtbaren, und in dieser Ordnung wandelt sich das Verständnis dessen, was Öffentlichkeit konstituiert. Dazu gehört ganz wesentlich die Idee des mündigen Bürgers, die auch in den Diskursen der Kultur als feste Größe verstanden wurde. Denn erst die Annahme, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen mündig seien, erlaubte einen offenen, freien Austausch, in dem es nicht auf Stand und Status ankommt, sondern auf gute Argumente und auf die Bereitschaft der Einzelnen, sich ein eigenes Urteil zuzutrauen und es mit dem der anderen abzugleichen. Diese Mündigkeit aber geht in dem Maß verloren, in dem eine Kultur des Verdachts um sich greift und die Mitglieder einer Gesellschaft weniger als verantwortungsvoll, denn als potentiell gefährlich betrachtet werden. In der Moderne gehört es zur Idee des mündigen Bürgers konstitutiv dazu, ihm diese Mündigkeit staatlicherseits zuzutrauen. Die Bürger sind der Staat, und der Staat sind die Bürger. Würden sich diese hingegen selbst für unmündig halten, also für verantwortungslos und damit für grundverdächtig – und glaubten sie, man müsse sie anlasslos kontrollieren und bewachen, da sie andernfalls nicht im Zaum zu halten seien, dann wäre es rasch vorbei mit der Vorstellung, das Volk tauge zum obersten Souverän; jedenfalls wäre es eine absurde, höchst fragile Idee. Allerdings wächst mit den Möglichkeiten der Kontrolle und Einhegung auch das Verlangen, diese Möglichkeiten zu nutzen. „Das individuelle bzw. faktische Nicht-Verfügen über ein potenziell Verfügbares transformiert offensichtlich Unverfügbarkeit in Ohnmacht und Unsicherheit“, schreibt Harmut Rosa. Und also wächst die Unsicherheit proportional mit der Anzahl von Überwachungskameras, Warnanlagen und Schutzzäunen. Zudem gibt es eine stärker werdende Neigung, auf die schwindende Bedeutung nationaler Grenzen und die digital beschleunigte Globalität, die den Austausch von Daten, Waren, Menschen begünstigt, mit digitalen Versuchen der Einschränkung zu reagieren. Ob Terror oder Wirtschaftskriminalität, die Sicherheit der Allgemeinheit soll per technischer Durchleuchtung der Einzelnen gewahrt bleiben. Damit jedoch geht der modernen Kunst jene Basis verloren, die sie erst möglich und reizvoll erschienen ließ. Eine überwachte und dauerdurchleuchtete Gesellschaft büßt ihre Liberalität ein, denn zu dieser Liberalität gehört neben der Mündigkeit auch die Anonymität. Die urbane Öffentlichkeit, die im 19. Jahrhundert zusammen mit den bürgerlichen Schauplätzen der Museen, Theater und Bibliotheken entstand, war von einer überaus spannungsreichen Ambiguität bestimmt: Alle lebten hier dicht gedrängt, blieben jedoch
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trotz der Nähe auf Abstand. Das moderne Subjekt tauchte ab in der Menge, war im Zweifel gemeinsam einsam und genoss es, niemanden grüßen und kennen zu müssen. Es galt das Prinzip: Alle dürfen anders sein und gehören doch zusammen. Erst so konnten sich die Einzelnen als autonom erfahren. Erst in der Anonymität der Masse erschienen sie ungebunden und gleich – und also gemeinsam und auf unterschiedliche Weise dazu aufgerufen, sich in jenes Resonanzverhältnis zur Kunst zu setzen, ohne das sie nicht sein kann. Diese Art der Gleichgültigkeit, einer moralischen Indifferenz, wurde oft als Herzenskälte beschrieben. Dabei verdankt sich ihr ganz wesentlich jene demokratische und immer auch kulturbewusste Öffentlichkeit, die von ebenjener gleichen Gültigkeit getragen wird. Hier stehen die Bürgerrechte allen zu, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Ansehen. Und potentiell alle waren berechtigt, sich im Medium der Kultur miteinander ins Benehmen zu setzen und sich dabei bildend den Werken und auch einander zuzuwenden. Das Angesehenwerden durch überwachsende Maschinen zersetzt dieses grundlegende Prinzip des öffentlichen Lebens, es schleift die Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre und diskreditiert damit das Grundgefühl der urbanen Öffentlichkeit, anonym, unerkannt und damit auf besondere Weise gleich und frei sein zu dürfen. Gleich sind die Menschen nun vornehmlich im durchdringenden Blick der Bewacher, die in allem Fremden und Abweichenden eine mögliche Gefahr erblicken und somit verkennen, dass sie damit just den Wert dieser Fremdheit gefährden. Dieser Wert liegt in der Unabsehbarkeit der urbanen Erfahrung, die mit der ästhetischen Erfahrung der Kunst eng verwandt ist. Doch ist Unabsehbarkeit im Kontrollraum der Digitalgesellschaft nicht vorgesehen, weil sie stets und auch reiner technischer Notwendigkeit den ordnenden und vertrauten Mustern verpflichtet ist. Die Erkennungsapparate verlangen Normierung, und so müssen alle die getreuen Repräsentanten ihrer Gesichter, Bewegungen und Gesten sein, die erfasst und darauf hin analysiert werden, ob mögliche Abweichungen eine Gefahr bedeuten könnten. So liegen die Widersprüche, in die eine digital bestimmte Öffentlichkeit gerät, offen zu Tage. Eine solche Öffentlichkeit verwischt die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Leben und unterläuft damit die alten Vorstellungen von angemessenem Verhalten, die je nach Sphäre verschieden sein können. Zugleich führt sie mit der Überwachungstechnik, die nicht nur vom Staat installiert wird, sondern auch von privater Seite zum Einsatz kommt, etwa durch Kameras an der Haustür, eine neue Idee der Angemessenheit ein, denn ohne Normativität, also die dualistische Unterscheidung zwischen gefahrlosem und potentiell gefährlichem Verhalten, könnte die Maschine die gewünschte Kontrollfunktion nicht ausüben. Solche Schizophrenien, als Herrschaftstechnik eingesetzt, bleiben nicht ohne Folgen für das, was man das öffentliche Bewusstsein nennt – und verändern damit auch den Blick auf die Kunst. In der Moderne verband sich mit diesem Blick ein Freiheitsversprechen: Was die Kunst vortrug, musste nicht geglaubt und gewürdigt werden, man durfte ihren Sinn anzweifeln oder verwerfen, und anders als in feudalen Zeiten ließ sich ihre Bedeutung nicht autoritär verfügen. Im öffentlichen Bewusstsein war diese enge Verschränkung von Meinungsund Kunstfreiheit unabdingbar: Frei waren die Künstler in dem, was sie dachten und formten; frei war ebenso das Publikum, sich spiegelbildlich zu verhalten und
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zustimmend, ketzerisch, abwägend die Kunst zu bewerten oder sich jedes Urteils zu enthalten. Dieses Freiheitsverständnis, ohne das sich Öffentlichkeit im modernen Sinne kaum denken lässt, verliert jedoch in einer Gesellschaft ohne starke Gegensätze an Kraft und Glaubwürdigkeit. Die Öffentlichkeit erscheint einerseits offener denn je, und erweist sich zugleich als verschlossen und ferngesteuert. Sie ist nicht länger ein Raum, in dem etwas gewonnen wird, beispielsweise ein geteiltes Bild von Gesellschaft in ihren Differenzen und ihrer Übereinkunft. Sie wird vielmehr zu einem Raum der Enteignung, für die Einzelnen und die Vielen. Das beginnt damit, dass digitale Technik zwar mehr Menschen die Möglichkeit eröffnet, als Autoren ihres Lebens aufzutreten, sich mit anderen auszutauschen und im Netz ihre Interessen und ihren Lebensstil auf vielfältige Weise zu gestalten. Doch geht diese Freiheit einher mit einem Zwang, denn mit den Möglichkeiten wächst auch die Verpflichtung. Weil sich das Private im tradierten Verständnis auflöst, bleibt den Einzelnen kaum die Wahl: Sich dem Netz zu entziehen, hieße, sich von der Welt abzuschneiden, mit den entsprechenden sozialen und ökonomischen Folgen. In der Digitalmoderne ist der öffentliche Mensch ein medialisierter Mensch und wer es nicht sein will, nimmt sich aus dem Spiel. Die verpflichtende Selbstmedialisierung geht einher mit einer weiteren Unfreiheitserfahrung: Weil in den digitalen Foren das Öffentliche und das Private dazu neigen, verwechselbar zu werden und in eins zu fallen, erscheint jede öffentliche Äußerung zugleich als eine private. Umgekehrt kann jede private Äußerung als eine öffentliche gedeutet werden, die sich an die Allgemeinheit richtet. Damit wird einerseits das politische Argument, vorgetragen in der Öffentlichkeit, entwertet, weil es nun nicht länger allein um dessen Stichhaltigkeit geht; weit wichtiger als zuvor wird jetzt der private Hintergrund desjenigen, der es vorträgt, denn dieser Hintergrund kann ein Argument als valide oder unglaubwürdig erscheinen lassen. Der freie Diskurs von Gleichen unter Gleichen wird auf diese Weise empfindlich gestört, weil sie gleich nur dort sind, wo die Öffentlichkeit als ein nichtprivater Raum fungiert. Andererseits wird der private Raum und dessen Freiheit eingeschränkt, weil er in vordigitalen Zeiten auch ein leichtfertiges Sprechen gestattete, das nun in vielen Fällen als ein Sprechen in der Öffentlichkeit verstanden werden kann. Die Unterschiedlichkeit der Sprechakte, beide auf ihre Weise für das öffentliche Leben wichtig, geht unter den Bedingungen eines Anti-Dualismus verloren. Die Folge ist uneigentliche, also unfreie Rede. Hinzu kommt, dass der medialisierte Mensch seine Freiheit im Netz als verzweckt erfahren muss. Im Unterschied zur herkömmlichen wird die digitale Öffentlichkeit von einer Infrastruktur getragen, die ökonomischen Interessen folgt. Der Diskurs wird zum wertvollen Gut, weil Daten entstehen, die von einer Künstlichen Intelligenz ausgewertet und von Internetkonzernen für ihre Absichten genutzt und in einen geldwerten Vorteil verwandelt werden kann. Auch jene, die ihr digitales Leben gegen fremde Zugriffe wappnen, wissen zugleich, dass sie wie in einem Haus ohne Haustür leben. So hatte die Firma Clearview AI, wie 2020 herauskam, mehr als drei Milliarden Portraits aus dem Netz gezogen, um sie mittels eines Algorithmus realen Menschen zuordnen zu können. Schon seit den NSA-Skandalen ist es allgemein bekannt, dass Datenspuren permanent
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gespeichert und überwacht werden. Zudem hört man regelmäßig von globalen Digitalkonzernen, dass Passwörter oder E-Mail-Daten in die Hände Dritter geraten seien. Mögen Einzelne auch über Kontrollverlust klagen, ist die digitale Öffentlichkeit doch von kontrollierenden Mächten geprägt. Es ist eine unsichtbare Herrschaft, von der alle wissen, ohne sie recht zu kennen. Und dieser Verdacht nährt den Zweifel, ob die Freiheit wirklich frei sei oder nur einer mehr oder weniger undurchschaubaren Verwertungslogik verpflichtet ist. Dieser Zweifel trifft auch die Kunst, sie ist angewiesen auf die idealistische Vorstellung einer Öffentlichkeit, die im freien Gespräch mit sich selbst das Gegenstück zur freien künstlerischen Produktion bildet. Ohne dieses freie Gespräch ist auch die Kunst nicht frei, sie braucht die Resonanz der offenen Gesellschaft, will sie modern sein und also eingebunden in einen übergeordneten Diskurs; ansonsten ist sie kaum mehr als das Privatvergnügen der Reichen und Mächtigen. Sie wird als „Siegerkunst“ (Wolfgang Ullrich) wahrgenommen, als außerdemokratisches Mittel, um die eigene Macht und Überlegenheit zu demonstrieren. So durchziehen die Widersprüche und Schizophrenien einer postdichotomischen Welt ebenso die Künste wie die Gesellschaft. Wie die Produktion der Künstler weiterhin an die Vorstellung gebunden bleibt, es gebe ein verantwortliches Subjekt, das für sich selbst befindet, was als akut, bedeutsam und formwürdig gelten solle, so kommt auch die offene Gesellschaft nicht ohne das Ideal der mündigen Bürger aus. Und bedarf es für die Rezeption der Kunst, in der sich ihr Wertebild herauskristallisiert, das Ideal des offenen Diskurses, so ist auch die liberale Demokratie angewiesen auf eine Öffentlichkeit, der allgemein eine möglichst unabhängige Entscheidungsfindung zugetraut wird. Dieses Zutrauen jedoch schwindet – in der Kunst wie in der Gesellschaft, sobald die Idee des freien Willens sich verabschiedet und von einem kollektiven, evolutionär gedachten Determinismus abgelöst wird. Dieser Determinismus speist sich aus unterschiedlichen Quellen: Da ist zum einen die Biotechnik. Diese Technik verheißt den Menschen alle möglichen Formen der Selbstverwandlung, Eingriffe in die genetische Keimbahn machen es ebenso möglich wie Tissue-Engineering und Prothesen jeglicher Art. Zugleich sagt ihnen die Bio- und Neurowissenschaft, dass diese Selbstverwandlung in die Irre führt, weil es da kein Selbst gibt und nie gegeben hat. Und wer sich einbildet, er besitze einen eigenen Willen, fällt nur auf eine Vorspiegelung von Bewusstsein herein. Dann ist da die Idee der Singularität, also die Vorstellung, Maschinen könnten in absehbarer Zeit die Herrschaft übernehmen. Auch in dieser digital gedachten, transhumanistischen Perspektive hat die Zukunft kein treibendes Subjekt mehr, hier wird das Individuum in seinem Status eingeholt von hyperintelligenten Apparaten, die dem Einzelnen die Mühe abnehmen, wissen zu wollen, was er will. Denn die Maschine weiß es, ehe er es weiß. Drittens ist in der Kunst die Vorstellung des autonomen Subjekts lange schon unter Verdacht geraten, sie gilt vielen als bürgerliches Konstrukt, mit dem die Künstler, gefangen in ihrem Autonomie-Kokon, daran gehindert werden sollen, gesellschaftlich aktiv und auf verändernde Weise wirksam zu werden. „Der Autor ist tot“ (Roland Barthes) und also erübrigt sich jeder Stolz auf das einst als unbeugsam und unbedingt frei begriffene Individuum namens
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Maler, Schriftsteller, Musiker. Diese Dekonstruktion durch unterschiedliche Akteure bedeutet für die Zukunft der Kunst, dass ihr gewissermaßen die Geschäftsgrundlage abhandenkommt. Wo der freie Wille nicht länger greift, wo Authentizität, Autonomie und Reflektion als obsolet gelten oder bestenfalls als rührende Atavismen, da schließen sich die Räume, die seit dem Beginn der Moderne weit geöffnet waren. Dort, wo das Ich nicht mehr als Souverän seiner selbst begriffen wird, das in der Lage ist, sich zumindest im Medium der Kunst von seiner Geschichte, seiner Geschlechtlichkeit und anderen Prägungen zu lösen, dort entfällt jede Notwendigkeit, öffentlich über die Ausprägungen dieser Souveränität zu diskutieren und sich in ein Verhältnis zu den Selbstbildern einer Gesellschaft zu setzen. Die Fragen nach Tradition und Zukunft entfallen, weil sie sich nur stellen und einen öffentlichen Diskurs befeuern, solange die Idee greift, dass sich der Blick auf die Tradition wandelt, die Idee der Zukunft gestalten lässt und zwar deshalb, weil der Mensch es will. Ohne diesen Willen, ohne den „Geist als das menschliche Vermögen der Selbstbildfähigkeit“ (Markus Gabriel), hat sich die Vorstellung einer offenen, weil sich selbst gestaltenden Gesellschaft erübrigt. Dann gewinnt der Illiberalismus mit einem Mal an Attraktivität, der die Individuen von den Zumutungen einer scheinhaften Freiheit entlastet, weil er von vornherein einräumt, dass sich die Idee vom selbstbewussten Bürger im Zeitalter der künstlichen Intelligenz überholt habe. Ein Illiberalismus, der viele westliche Demokratien bedroht und der die Freiheit der Kunst, von der man dachte, sie werde in digitalen Zeiten grenzenlos werden, empfindlich einengt.
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AMBIVALENZEN ZWISCHEN MENSCH UND MASCHINE PETER SEELE
Prof. Dr. Peter Seele forscht und lehrt an der Universität der italienischen Schweiz in Lugano als Professor für Wirtschaftsethik. Seit 2012 beschäftigt er sich mit Fragen der Digitalisierung und der Technikethik. Zuvor arbeitete er als Assistenzprofessor an der Universität Basel, PostDoc am KWI Essen und als Unternehmensberater. Doppelstudium in Wirtschaft und Philosophie in Oldenburg, Delhi, Witten/Herdecke und Düsseldorf.
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Die Digitalisierung nimmt ihren Lauf, der nicht mehr aufzuhalten sein dürfte. Dabei entstehen auch ethische Herausforderungen zu Fragen wie Privatheit, Datenschutz, Überwachung, Manipulation, Nachhaltigkeit oder Verdrängung von Arbeitsplätzen. Der Beitrag nähert sich diesen Fragen mit Überlegungen zu Künstlicher Intelligenz und Chatbots sowie deren Verwendung und Vernetzung.
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in digit ist ein einstelliges Zahlzeichen und die reduzierteste Form ist die Übersetzung in binäre Informationen als Zahlzeichen, also in 0 und 1. Indem analoge Informationen also digitalisiert werden, passiert zunächst nichts anderes, als das analoge Ding, Phänomen oder allgemeiner die Information zu erfassen und in einen Zahlencode, in lange Reihen von Nullen und Einsen, zu übersetzen. Bei Bildern geschieht dies beispielsweise, indem ein definierter Ausschnitt, sagen wir innerhalb eines Rahmens, in sehr viele einzelne Bildpunkte übersetzt wird, die mit einem standardisierten Farbcode versehen werden. Das Ölgemälde, das genau aus dem Zerfließen und Ineinanderfließen der trägen Ölfarbe mit tiefer Viskosität besteht, wird in Abermillionen Punkte unterteilt. Um die Räumlichkeit des Bildes zu erfassen, lassen sich zudem noch Reliefinformationen des Bildpunktes in Entfernung zur Grundfläche der Leinwand numerisch ausdrücken. Das Ganze der analogen Wirklichkeit wird im Digitalen zur Summe seiner Teile – und genau diese Teile sind je ein ‚digit‘. Diese besondere Eigenschaft, dass das Ganze in die Summe seiner Teile übersetzt wird, hat eine wesentliche Folge: Das analoge Unikat ist nahezu unendlich reproduzierbar in der digitalen Dimension, die somit zum Spiegel der analogen Welt und ihrer Dinge wird. Doch inzwischen ist die digitale Welt keine statische Ansammlung einzelner digits mehr, sondern durch regelbasierte und automatisierte Rechenoperationen verarbeitete Einzelinformationen. Dies nennt man je nach Zeit und Komplexität ein ausführendes Programm (deshalb das Dateikürzel .exe), einen Algorithmus oder in der bislang höchsten Form und Konsequenz eine Künstliche Intelligenz und es ist diese Datenverarbeitung im Digitalen und des Digitalen, die in der neuen und gespiegelten Welt derartige Innovationen und Veränderungen mit sich bringt, dass sich Begriffe wie Disruption oder Digitale Transformation herausgebildet haben, und – neben allen Neuerungen und Fortschritten im positiven Sinne – ethische Herausforderungen für die analoge und die digitale Welt sowie deren Vermengung. Eine derart grundsätzliche und die Grundsätze erschütternde Neuerung wie die Digitalisierung stellt Individuum, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor gänzlich neue Herausforderungen normativer und ethischer Natur. Die wichtigsten betreffen sowohl das Individuum, als auch Gesellschaft im Allgemeinen mit ihren Subsystemen Wirtschaft, Recht oder Kultur. privatheit und datenschutz: Indem mit Hilfe von Mikrofonen, Scannern, Kameras und anderen Sensoren nahezu alles digitalisier- und replizierbar ist, werden persönliche und intime Daten nahezu unendlichfach kopierbar. Sie sind somit nicht mehr geheim, denn die Augen, Ohren, Fühler und andere Sensoren begleiten uns auch im privaten Heim auf Schritt und Tritt. Diese Datenpunkte werden nicht nur gesammelt, sondern insbesondere von den großen Plattformunternehmen der Digitalisierung ausgewertet, zu digitalen
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Profilen zusammengesetzt und auf Kommerzialisierungspotenzial hin berechnet. Für jeden Nutzer ist ein digitales Double angelegt, das mit Vorhersagealgorithmen berechnen lässt, was der Nutzer bevorzugt und kauft und wie er bewegt werden kann, mehr zu kaufen. Der Gründer von Facebook, Marc Zuckerberg, sprach also auch nicht ohne Eigennutz davon, dass die Privatsphäre abgeschafft worden und Privatheit tot sei. Diese Wild-West-Haltung trifft zugleich auf ein Rechtssystem, das mit der technischen Möglichkeit noch nicht ersetzt wurde, obwohl es auch hierfür schon erste Anzeichen geben könnte. Die Daten zu schützen ist eine Antwort auf die ethische Herausforderung der Nutzung ungeschützter Daten, allerdings ist sowohl ethisch wie rechtlich noch keine umfassende oder zufriedenstellende Lösung in Sicht. verzerrungen und künstliche intelligenz: Eine der größten ethischen Herausforderungen der Digitalisierung ist die automatisierte und standardisierte Verarbeitung von persönlichen Daten durch Algorithmen oder Künstliche Intelligenzen, die gleichwohl nicht objektiv und neutral verläuft, sondern hochgradig verzerrt (englisch: biased) ist. So liegen Forschungsergebnisse vor, die belegen, dass die Auswirkungen durch verzerrende Auswertung einige der klassischen ethisch-moralischen Grundprobleme der Gesellschaft neu und grösser erschafft: Diskriminierung zählt dabei zu den sichtbarsten und prominentesten. Zahlreiche Algorithmen, die automatische Erkennung von Gesichtern vornehmen, liefern verzerrende Ergebnisse, die diskriminierend sind. Spektakuläre Fälle wie die Gesichtserkennung, die zwei schwarze Menschen in den USA als Affen erkannt hat, haben eine große Öffentlichkeit erzeugt (mehr dazu in meinem Buch künstliche intelligenz und die maschinisierung des menschen). Weniger spektakulär aber gleichwohl nicht weniger besorgniserregend sind die Algorithmen, die einige Unternehmen in der Personalabteilung einsetzen zur Rekrutierung von neuen Mitarbeitern, die einen Bias für die Kriterien Geschlecht oder Alter haben. Die zunehmende Durchdringung von Algorithmen bringt allerdings weit subtilere Diskriminierungen ans Tageslicht. Nicht nur im Online-Shopping, auch an Tankstellen oder in einigen Supermärkten werden bereits Algorithmen verwendet, um dynamische oder persönliche Preise zu ermitteln. Dabei wird neben dem Güterstand und der vermuteten Zahlungsbereitschaft von einigen Algorithmen auch erhoben, mit welchem Gerät gesurft wird oder wie alt jemand ist. Letzteres ist dabei ein klassischer Fall von Altersdiskriminierung. manipulation und überwachung: Die beiden vorangegangenen Themenkreise führen zu einem dritten Komplex, der sich mit Manipulation und Überwachung beschreiben lässt. Die Masse an Daten, sowie die verzerrende Auswertung dieser Daten, lassen sich auch instrumentell nutzen. Historisch gesehen sind somit Möglichkeiten der Überwachung in einem noch nie dagewesenen Maße erreicht worden. Wie der britische Philosoph Jeremy Bentham bereits im 16. Jahrhundert anhand der Überwachungsarchitektur des Panoptikums ausführte, verhalten sich Personen, die wissen, dass sie überwacht werden, dementsprechend angepasst. Foucault hat im Rückgriff auf Bentham in seinem Buch Überwachen und Strafen die Dimension der Herrschaftsausübung behandelt – auch, inwieweit der Machtdiskurs von Mechanismen der Überwachung geprägt wird. Denkt man etwa an die Manipulation von Wahlen oder die Echokammern und Filterblasen in den Sozialen Medien, so wird schnell
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deutlich, dass die Möglichkeiten des Digitalen insbesondere nach gegenwärtiger Fasson auch in den Dienst der Überwachung und Manipulation gestellt werden können. Bezieht man diese Möglichkeiten stärker auf die Sphäre der Wirtschaft, so ist der Überwachungskapitalismus, den die Autorin Shoshana Zuboff ausgeführt hat, ein wichtiges Element zum Erfassen der ethischen Herausforderungen unserer Gegenwart. arbeitsmarkt und arbeitslosigkeit: Nicht direkt technisch bedingt, aber als Folge der technologischen Neuerungen und Transformationen, ist auch der Arbeitsmarkt betroffen. Viele, insbesondere repetitive Arbeiten können zunehmend einfacher und kostengünstiger von algorithmen-betriebenen Maschinen ausgeführt werden. Dieser Umstand, den verschiedene Studien mit verschieden starken Ausprägungen untersucht und bestätigt haben, führt auch dazu, dass Digitalisierung und Künstliche Intelligenz als Bedrohung angesehen werden. Ein eindrückliches Beispiel, das auch für Museen von Belang ist, sind etwa die automatisierten Reisepasskontrollen an Zollstationen und Flughäfen: Unsere menschliche Identität ist erfasst in der maschinenlesbaren Sprache, wie sie im Ausweisdokument verwendet wird. Diese Information wird von einer Maschine gelesen, unser Gesicht, vielleicht auch unsere Fingerabdrücke oder andere biometrische Daten werden von einer Kamera erfasst und so wird die im Pass behauptete digitale Identität mit der vorgeführten analogen, biologischen Identität verglichen und abgeglichen. Gleichzeitig wird die formale Identität mit den gängigsten Datenbanken nationaler und internationaler Sicherheitsdienste abgeglichen und innerhalb von Sekunden kann die Unbedenklichkeit einer Einreise bestätigt und durch ein automatisiertes mechanisches Gattersystem auch physisch vollzogen werden. Dieser Vorgang, der bisher weder so schnell noch so datentief durchgeführt werden konnte, involvierte jedoch bisher mindestens einen Kontrolleur und aber auch gleichzeitig eine Vielzahl von Datenmanagern und -verarbeitern, die in diesem voll-automatisierten Prozedere nicht mehr von Bedeutung sind. Die Reihe ließe sich fortsetzen, wichtig für das Thema der Ethik der Digitalisierung sind dabei aber weniger die sozial-ökonomischen Implikationen, als vielmehr der Verlust von Vertrauen und das Steigern der Angst und Sorge. Dies führt nicht nur in fiktionalen Kontexten wie Literatur oder Film zu einer Wir-gegen-Sie-Haltung, die als anthropologische Wahrnehmung und Gefährdung gesehen werden kann, wenn der Mensch, die (selbstbehauptete) Krone der Schöpfung, eine neue Intelligenz geschaffen hat, die ihn auch eines Tages übertrumpfen könnte. Dieser Moment würde dann die technische Singularität genannt werden – ist aber aus heutiger Sicht noch ein bis zwei Paralleluniversen entfernt. Neben ethischen Herausforderungen für individuelle und gesellschaftliche Problemstellungen, ist auch der Großkomplex der nachhaltigen Entwicklung von der Digitalisierung betroffen. Allerdings muss man besonders hervorheben, dass es insbesondere auch Chancen und Möglichkeiten sind, welche die Digitalisierung der Förderung und Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung bietet. Ist die Nachhaltigkeit eine der großen offenen Fragen der Gegenwart, so kann die Digitalisierung helfen, weitere Lösungsansätze zu entwickeln. Allerdings kann auch die Digitalisierung nicht das Hauptproblem der Nachhaltigkeit lösen: Das Umsetzungsproblem, das die Menschheit bekanntermaßen hat. An gesichertem Wissen, Studien und Evidenz mangelt es nicht. Es mangelt an der
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Umsetzung der Erkenntnisse und dies bedeutet in erster Linie eine Veränderung des Verhaltens. Was allerdings die Umsetzung mit und durch digitale Daten und Algorithmen angeht, so können einige der ethischen Themenkreise, die oben angesprochen und als ethisch problematisch vorgestellt wurden, für die Förderung der Nachhaltigkeit durchaus von Interesse sein. Die Überwachung etwa von Ressourcenverbrauch, Konsumverhalten oder Logistik kann dank Algorithmen eine Transparenz erlangen, die vormals so nicht möglich war. Kombiniert man diese Form der Kontrolle beispielsweise mit dem oben angeführten Preis-Algorithmus, der hier allerdings den Preis aufgrund von Nachhaltigkeitsindikatoren berechnet, dann hätte man ein von der Digitalisierung hervorgebrachtes System mit stärkerer Nachhaltigkeit, wie es erst die digitale Transformation ermöglicht. Da die Digitalisierung eine elektronische Kunst ist, benötigt sie viele Daten und für deren Auswertung braucht sie Elektrizität in erheblichem Maße. Auch die Gerätschaften, die zur Durchführung der informationsverarbeitenden Rechenoperationen erforderlich sind, müssen produziert und unterhalten werden. Mit anderen Worten: Die Digitalisierung selbst ist ebenso ein Thema der Nachhaltigkeit, beziehungsweise bedeutet das Betreiben der Digitalisierung ein weiteres Bündel an Aktivitäten, die zur Nachhaltigkeitskrise beitragen. Um dieses Problem anzugehen, haben immerhin einige der großen Digitalunternehmen klimaneutrale Server-Farmen ausgelobt. Dies bedeutet, dass der Stromverbrauch der Großrechneranlagen und -speicher immerhin aus regenerativen Energiequellen stammt: aus grüner Technologie wie Wasser oder Solar; eine der größten Computerfarmen der USA wurde in unmittelbarer Nähe eines Wasserkraftwerkes errichtet. Damit wird die Technik, gerade auch, wenn sich die Technik eines Tages selbst verwalten sollte, eine permanente, regenerative Energiequelle haben (solange der Fluss fließt). Der gegenwärtig größte und sichtbarste Bereich der Digitalisierung ist die Künstliche Intelligenz. Die Bezeichnung allerdings ist schamlos übertrieben. Vordergründig geht es um das automatisierte Erfassen und Auswerten von digitalen Daten entlang einer vorgefertigten Regel. Je mehr Daten erfasst und ausgewertet werden, desto passgenauer sollen die vorgeschlagenen Lösungen sein. Der Algorithmus lernt und verbessert sich also durch Übung. Deshalb spricht man technisch treffender auch von maschinellem Lernen. Maschinelle Intelligenz als nächster Schritt wäre dabei das selbstständige Erlernen von neuen Anwendungsfeldern. Dies wird mitunter auch als maschinelle Intelligenz bezeichnet und umfasst gegenwärtig die Speerspitze des technisch Möglichen. Die Verheißung einer Künstlichen Intelligenz hingegen ist eine Übertreibung, die eher als Projektion denn als Errungenschaft bezeichnet werden muss. Wenn hingegen ein Algorithmus die Regeln der Kommunikation lernt, dann öffnen sich gänzlich neue Parameter, da diese Maschine, dieser Roboter, mit Menschen kommuniziert und damit die Frage nach der Identität und Person gestellt sind. Diese KI-Maschinen werden Chatbots genannt, da sie mit Menschen Konversation führen können (engl. to chat) und damit unweigerlich die Frage nach (Selbst-)Bewusstsein ebenso angesprochen ist wie die nach Reflexivität, Erinnerung und Charakter. In wiederkehrenden Standardsituationen wie einfacher Auskunftei oder dem Abfragen von eindeutigen Datenpunkten wie Öffnungszeiten, Wetterdaten oder Sportereignissen, sind Chatbots eine Alternative. Geht es jedoch über
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den reinen Sachinhalt einer wiederkehrenden Abfragesituation hinaus, dann werden schnell die Grenzen der Künstlichen Intelligenz deutlich, da Doppeldeutigkeiten, Ironie, Spiel mit Ambivalenzen oder andere menschliche-allzu-menschliche Eigenschaften hoch situativ, interpretativ und adaptiv sind. In dem Buch Künstliche Intelligenz und Maschinisierung des Menschen habe ich dieses Spiel mit zwei prämierten Chatbots aufs Äußerste getrieben und die Algorithmen sowohl in Persönliches wie auch Philosophisches verwickelt. Wenn es um die großen und damit offenen Fragen geht, ist das Ende der KI-Fahnenstange relativ schnell erreicht. Auch die aktuellste GPT-3-Version (KI-Sprachmodell, Anm. d. Red.) des Unternehmens OpenAI – so täuschend echt und tiefsinnig die Konversation auch sein mag – schafft diesen letzten Sprung hin zum Bewusstsein und zur reflexiven Intelligenz noch nicht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Chatbots nicht sehr geeignete Helfer und Dienstleister sein können, auch und gerade in der definierten Situation einer musealen Darbietung. Während das klassische Exponat, wie beispielsweise ein Gemälde, an der Wand hängt, womöglich noch in chronologischer Hängung, wurde und wird es von einem Erklärtext im näheren Umfeld begleitet. Seit Jahren kennt man den Audio-Guide, der nichts anderes als einen vorgefertigten Erklärtext wiedergibt, sobald eine zum Exponat gehörige Nummer gedrückt wird – oder ein Nahfeldchip automatisch den richtigen Text zum Gemälde einspielt. Mit der aktuellen Generation von Chatbots bieten sich allerdings neue Möglichkeiten: das in ihnen hinterlegte Hintergrundwissen hat, zusammen mit Datenbankwissen, nicht mehr nur instruktives Erklären zum Gegenstand, es kann auch ein Gespräch oder zumindest ein thematischer Austausch stattfinden. Zahlreiche Museen bieten bereits die Dienste eines Chatbots an. Damit diese gehypte Technologie auch fruchtet, sind allerdings einige Bedingungen zu erfüllen, die weit über die reine Verschlagwortung von themenaffinen Begriffen hinausgehen. Die wichtigsten Kriterien wären: 1. Der Chatbot sollte mit einer künstlichen Persönlichkeit ausgestattet sein: So wie Siri oder Alexa, die bekanntesten Heim-Chatbots von Apple oder Amazon, eine wenn auch vage definierte Identität haben, so wäre auch ein Museums-Chatbot im Idealfall mit einem Persönlichkeitsprofil ausgestattet. Hier würde sich eine typologische Charakterisierung von menschlichen Museumsführern empfehlen. 2. Der Chatbot sollte von sich aus eine dialogische Responsivität aufweisen: Er sollte die Fragen und Hintergründe, die der besuchende Chatpartner „preisgibt“, aufgreifen und informationell verarbeiten. Anstatt lange Kennenlerngespräche durchzuführen, wäre hier auch die Verwendung einer digitalen ID zu überprüfen, die von den digitalen Werbeunternehmen heute schon verwendet wird. 3. Die Vernetzung vieler Museen kann Kulturpräferenzen des Besuchers ermitteln: Weshalb sollte also jedes Museum jeweils erneut per eigenem Chatbot herausfinden, welche Vorlieben und Interessen der menschliche Besucher hat, die ihn oder sie in das Museum führen? Eine plattformübergreifende Lösung könnte ein Ansatz sein.
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4. Museumsbesuchshistorie durch standardisierte Präferenzerfassung: Die meisten Museumsbesucher gehen häufiger in Museen. Der Chatbot könnte idealerweise auf die vorangegangenen Museumsbesuche zurückgreifen und sogar inhaltliche Verbindungen zwischen Exponaten des vorigen Besuchs und Exponaten der aktuellen Ausstellung herstellen. Gleiches gälte ebenso für Empfehlungen zukünftiger Museumsbesuche oder anstehender Sonderausstellungen. Dies würde gleichsam eine Datenbank der verschiedenen Exponate in verschiedenen musealen Kontexten bedeuten. Technisch wären diese Schritte umsetzbar, indem etwa ein Chatbot-Anbieter einen neutralen Museums-Chatbot entwickelt, der von jedem teilnehmenden Museum mit Informationen über die Exponate ausgestattet werden würde. Natürlich wäre es auch möglich, dass jedes Museum einen eigenen Chatbot konstruieren lässt, aber davon wäre wohl abzuraten, da die dialogischen Möglichkeiten eher an die replikativen Dialoge basaler Chatbots heranreichen würden. Als weitere und vielleicht wahrscheinliche Lösung wäre es ebenso denkbar, dass die bereits etablierten großen Chatbots der digitalen Plattformunternehmen Erweiterungen auch für museale Kontexte bekommen könnten. Allerdings würde das wieder in den Problembereichen stehen, die oben als die ethischen Herausforderungen der Digitalisierung angesprochen wurden. Das Fortschreiten der Digitalisierung und das Vordringen Künstlicher Intelligenz in nicht nur datenseitig einfach standardisierbare Anwendungskontexte sind nicht aufzuhalten. Die Vernetzung von Wissen – wozu Inhalte musealer Kontexte ebenso zählen – schreitet damit einhergehend ebenso voran wie die ethischen Herausforderungen. Solange allerdings die Regulierung den Grauzonen unterlegen ist und ihrer Eroberung durch mittlerweile gigantische Plattformunternehmen, stellt die Digitalisierung auch ein Risiko für die in der analogen Welt geregelten Grundrechte dar. Museen gerade wegen ihrer reichen Sammlungen von Exponaten – in der Welt des Digitalen nichts anderes als wertvolle und von Menschen nachgefragte Datenpunkte – sind dabei per se Teil der Informations- und Kommunikationstechnologie. Bei aller Fortschrittlichkeit hingegen ist es gerade im Hinblick auf ethische Herausforderungen auch eine Überlegung wert, dass (manche) Museen den umgekehrten Weg gehen könnten: Was im individualtherapeutischen als digital detox bezeichnet wird, die bewusste Vermeidung der Exposition mit digitaler Technologie, könnte im Sinne der Konzentration und Förderung der Achtsamkeit auch ein Konzept für Museen sein. Avantgarde durch die Abwesenheit von jeglicher Digitalität, Vernetzung und Datenoptimierung.
Literatur: Peter Seele (2020): Künstliche Intelligenz und Maschinisierung des Menschen. Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses 1, Köln Peter Seele/ Lucas Zapf (2017): Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis, Heidelberg
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DIGITALE ÖKOLOGIE, OFFENE GESELLSCHAFT HARALD WELZER
Prof. Dr. Harald Welzer studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft in Hannover. Nach der Promotion 1988 habilitierte er 1993 in Sozialpsychologie, 2001 in Soziologie. Seit 2012 ist Welzer Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg und leitet dort das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research. Als Mitbegründer und Direktor von Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit arbeitet und schreibt er außerdem mit dem Schwerpunkt alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen und gibt das Politik- und Zukunftsmagazin taz.Futurzwei heraus.
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Mitten in der Coronakrise kommt man nicht umhin, ein paar Worte zur Krisenbewältigungsfähigkeit Offener Gesellschaften einerseits und zur Rolle der Digitalisierung in der Pandemie andererseits zu sagen.
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enn natürlich ist die Frage aufgekommen, ob denn eigentlich Demokratien oder Autokratien besser mit der Pandemie umgehen können – China, so scheint es, hat die Infektionszahlen brutal, aber schnell eingedämmt. Die Chinesinnen und Chinesen hatten auch nicht die Wahl, wie etwa in Berlin oder Stockholm oder Zürich, das Virus nach Belieben zu ignorieren, und von seltsamen Coronaleugnern hat man aus Autokratien auch nichts gehört. Dagegen taumeln die Offenen Gesellschaften des Westens von einer Pandemiewelle in die nächste und suchen ihr Heil in einer Impfung, wobei das Absehen von einer Impfpflicht zum Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaats zählt, es andererseits aber der erwünschten Herdenimmunität vielleicht im Wege steht. Aber daraus abzuleiten, dass die Offenen Gesellschaften aufgrund der mit ihr verbundenen Individualisierung und ihres Bestehens auf der Autonomie ihrer Bürgerinnen und Bürger wenig krisentauglich sind, ist etwas vorschnell: Denn erstens ist in einer langfristigen Betrachtung noch nicht entschieden, wer die Prüfung mit welchen Verlusten bestanden haben wird und zweitens wissen wir das wegen einer zentralen Eigenschaft von Autokratien und Diktaturen womöglich auch nie: Denn sie lügen ja, besonders wenn es um negative Fakten in ihren kollektiven Beglückungswelten geht. In einer längerfristig eingestellten Beobachterperspektive haben die Offenen Gesellschaften des westlichen Nachkriegstyps so wunderbare Dinge wie ausgebaute Gesundheitssysteme, steigende Lebenserwartung, Absenz von Krieg, Absinken von Gewalt, phantastischen Wohlstand auf der Habenseite zu verbuchen – und dies alles gepaart mit einer individuellen Freiheit, die es in dieser Ausprägung und in diesem Ausmaß historisch erstmalig gibt. Normativ gesprochen: Die Offene Gesellschaft ist die zivilisierteste Form von Gesellschaft, die es jemals gegeben hat. Natürlich ist sie keine perfekte Gesellschaft, in ihr gibt es Ungleichheit, Ungerechtigkeit, häusliche Gewalt, Kriminalität, Leiden, Depression, Selbstmorde. Der Grund: Es gibt einfach keine perfekte Gesellschaft. Es kann auch keine geben, weil Leben darin besteht, dass alle physischen und sozialen Umwelten sich permanent verändern, siehe Corona. Nur was tot ist, verändert sich nicht mehr. Diktaturen und andere Formen totalitärer Herrschaft haben eine prinzipielle Schwäche, die sie nie überwinden können: Sie können auf Veränderung und Krisen nur mit Gewalt reagieren, weil ihr Ziel und Daseinsinhalt die Zementierung ihrer eigenen Herrschaft ist. Und da es im Leben eben keinen veränderungsfreien Zustand gibt, greifen sie regelmäßig zu Gewalt, anstatt auf die Veränderung mit Modernisierung zu reagieren. Die unperfekte Offene Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsform, die sich aus sich heraus modernisieren kann. Und damit ist sie, aller vorschnellen Kritik in Sachen Coronakrise und zu schwerfälligem Reagieren auf den Klimawandel zum Trotz, insgesamt nachhaltiger als Diktaturen, die mit der Sklerose ihrer Herrschaft unterzugehen pflegen. Der Mechanismus, mit dem die Offene Gesellschaft verhindern kann, dass notwendige Veränderungen nicht geschehen, ist simpel: Regierungen können abgewählt werden. Für
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den Philosophen der Offenen Gesellschaft, Karl Popper, basiert ein vernünftiges Gesellschaftssystem auf dem „Prinzip einer demokratischen Politik“: „Ich neige zur Ansicht, daß Herrscher sich moralisch und intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befinden. Und ich halte es in der Politik für ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir können, für das Ärgste vorbereiten, obschon wir natürlich zur gleichen Zeit versuchen sollten, das Beste zu erreichen. Es scheint mir Wahnsinn, alle unsere politischen Bemühungen auf die schwache Hoffnung zu gründen, daß die Auswahl hervorragender oder auch nur kompetenter Herrscher von Erfolg begleitet sein wird.“ Seine Alternative: „Regierungen, deren wir uns ohne Blutvergießen, zum Beispiel auf dem Weg über allgemeine Wahlen, entledigen können; die sozialen Institutionen sehen also Mittel vor, die es den Beherrschten gestatten, die Herrscher abzusetzen.“1 Das kann manchmal ein bisschen dauern; ich zum Beispiel hätte in der Coronakrise die veranwortungslose Riege der Kultusministerinnen und Kultusminister liebend gern abgesetzt gesehen, aber dafür müssen eben noch ein paar Landtagswahlen stattfinden. Apropos: Warum gerade diese Personengruppe zum Problem wurde, hat direkt etwas mit der Digitalisierung und ihrem spektakulären Nicht-Einsatz in den Schulen zu tun. Denn während in sehr vielen Organisationen, unter anderem auch in den Ministerien, vor allem aber in den Unternehmen, Verwaltungen, Universitäten die Arbeitsabläufe mit Hilfe digitaler Technologien reorganisiert wurden und ein großer Teil davon ins Home Office verlegt wurde, beharrten die Schulministerien auf analogen Präsenzunterricht auch dann noch, als man die Schülerinnen und Schüler zu allem Überfluss noch mit „Lüftungsmanagement“ behelligen musste. Mehr noch: Es wurde nahezu flächendeckend versäumt, aus der ersten Welle der Pandemie die Defizite der Digitalisierung von Schule und Unterricht so auszuwerten und zu beseitigen, dass man in der zweiten einen sozial gerechten und pädagogisch sinnvollen hybriden Unterricht mit Präsenz in Kleingruppen und virtuellen Lehr- und Lerneinheiten hätte machen können. Diese Erfahrungen wiederum hätte man post-pandemisch nutzen können, um die Schule und den Unterricht auch im Hinblick auf die kulturelle Tatsache zu modernisieren, dass uns die Digitalisierung – Krise hin, Krise her – nie mehr verlassen wird. Mit anderen Worten: Unter dem forcierten Zwang der Krise hätte man die Schulen digital zukunftsfähig machen können (und müssen), und zwar nicht unter dem albernen Motto, den Kindern „Medienkompetenz“ beibringen zu wollen (durch weitgehend medieninkompetente Lehrkräfte), sondern unter der Maßgabe, digitale Technologie als das einzusetzen und zu verstehen, was sie ist: ein Werkzeug und Hilfsmittel zu definierten Zwecken, hier also zu pädagogischen. Und genau an dieser Stelle ist man mitten im Zentrum der Notwendigkeit, über Digitalisierung anders zu sprechen als im Modus der unbedingten Adoration auf der einen oder ihrer kulturpessimistischen Ablehnung auf der anderen Seite. Denn so wie ein Algorithmus zur Tumorerkennung derselben Logik folgt wie einer zur Gesichtserkennung, lassen sich digitale Technologien und Programme im Sinn einer Erziehung zur Mündigkeit einsetzen oder eben auch gegen sie. Das heißt: Jeder Technikeinsatz, so auch der von digitalen Technologien, ist die abhängige Variable. Die Gesellschaft befindet nach Maßgabe ihrer Ordnung, ihrer Werte und ihrer Zukunftsperspektiven, warum sie wie welche Technologien einsetzen will.
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Dieses simple und für Demokratien gültige Handlungsprinzip ist leider in der Phase II der Digitalisierung, die durch die Markt- und Überwachungsmonopole charakterisiert ist, völlig unter die Räder gekommen.2 Denn die Wirtschaftspolitik ist orientiert am Paradigma der Wettbewerbsfähigkeit und deshalb um jeden Preis für KI-Entwicklung und jeden Blödsinn wie autonom fahrende Autos oder Flugtaxis und spricht bereitwilligst bis zur Selbstaufgabe die Texte nach, die im Silicon Valley und in China formuliert werden. Und die landläufige Kritik ist vor allem mit Warnungen vor negativen Folgen der digitalen Invasion befasst, anstatt die Digitalisierung als das zu nehmen, was sie ist: ein Werkzeug, mit dem man richtige oder falsche Dingen tun kann. Eines freilich wird gar nicht gehen: Ignorieren wird man sie nicht können, weil sie aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften solche wirtschaftlichen Chancen bietet, dass sie invasiv ausnahmslos alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen wird, manche langsamer, andere schneller. Und das Interessante ist ja, dass gerade die Coronakrise der Transformation nicht nur der Arbeitswelt, sondern auch der mit ihr verbundenen Mobilität eine Dynamik verliehen hat, dass umstandslos in zehn Monaten Veränderungen eingetreten sind, die unter der alten Normalität mindestens zehn Jahre gedauert hätten. Das betrifft den Boom des Onlinehandels genauso wie die Reorganisation so komplexer arbeitsteiliger Prozesse wie den Bau eines Hochhauses oder der Herstellung einer gedruckten Wochenzeitung – alles das geschieht, bis am Ende dann gebaut oder gedruckt wird, jetzt vollständig digital. Und das hätte man in Architekturbüros vor einem Jahr noch ebenso für unmöglich gehalten wie in Zeitungsredaktionen. Viele Leserinnen und Leser dieses Textes werden es am eigenen Leib erfahren haben, dass die digitalen Kommunikationsmedien vieles in den Arbeitsvollzügen leichter gemacht und obendrein enorm Zeit eingespart haben. Zahllose Reisen zu Meetings, Konferenzen, Kundenbesuchen und so weiter und so sofort sind coronabedingt entfallen, die Meetings, Konferenzen, Verhandlungen et cetera haben aber trotzdem stattgefunden. Und fast überall, wie eine kleine empirische Studie des Rates für Digitale Ökologie schon vor der Endauswertung zeigt, wurde mit Verblüffung registriert, dass Gruppenprozesse, die früher (also vor ein paar Monaten) als zu komplex für die Verlagerung ins Netz schienen, ganz wunderbar reibungslos auch dann funktionieren, wenn alle Beteiligten in ihren Wohnoder Arbeitszimmern sitzen oder, je nachdem, sogar auf einer schönen Insel im Atlantik. Das einzige, was unisono beklagt wird, ist die Entsozialisierung der Arbeit: Der Small Talk in der Teeküche fehlt genauso wie das Zuzwinkern oder Augenverdrehen als Kommentar zu einem Redebeitrag, es fehlt der Humor, der Flirt – kurz: alles Informelle, was zu Arbeitsprozessen traditionell dazugehört und vielleicht einen nicht geringen Teil der Energie und Freude ausmacht, den Arbeitende in den Prozess einbringen. Was nun übrig bleibt, ist eine Reduzierung auf die Funktionale und unter kapitalistischen Bedingungen ist erwartbar, dass diese neue Funktionalität die Arbeit der Zukunft weit mehr prägen wird als die Gewohnheiten der Vergangenheit. Denn hier hat sich eine Rationalisierungschance eröffnet, die kaum ein Unternehmen ohne Not wieder aufgeben wird. Und die im Übrigen jede Menge ökologischer Chancen birgt, denn die Dienstreisen werden ebenso abnehmen wie der Pendlerverkehr; ländliche Räume werden wieder
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attraktiver werden und die Innenstädte zugleich öder. Und wenn man an dieser Stelle einen durch die Pandemie getriggerten und durch die Digitalisierung getriebenen Strukturwandel sieht, der unsere Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beschäftigen wird, drängt sich unmittelbar das Erfordernis nach einer gesellschaftlichen Gestaltung des Strukturwandels auf. Das betrifft konkrete Fragen wie die, ob man in Zeiten des Home Offices nicht Co-Working-Spaces in den ländlichen Gemeinden braucht, um die Vereinzelung der Tastenarbeiterinnen und -arbeiter räumlich aufzuheben. Es betrifft Fragen des Arbeitsrechtes, zu dem ja der Bundesarbeitsminister schon einen Vorstoß gemacht hat, solche der familiären Organisation und auch der Infrastrukturen – etwa jenen der Mobilität, der Energieversorgung, der Versorgung mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Man kann sich das gut an dem Beispiel klarmachen, dass der Raum Stuttgart durch die gemeinsamen Wirkungen von Struktur- und Klimawandel (Niedergang der Autoindustrie bei gleichzeitiger Erhitzung der städtischen Räume) künftig als Wirtschaftsstandort und attraktiver Lebensort an Bedeutung verlieren wird, während klimatisch günstigere und industriell anders aufgestellte Regionen im Norden Deutschlands deutlich gewinnen werden. Wir erleben gerade eine große Transformation – was irgendwann die „neue Normalität“ sein wird, wissen wir nicht. Aber wir sind Teil einer dynamischen ökologischtechnischen Transformation, die mehr denn je die Aufgabe klar macht, dass Technologie in einer Demokratie nicht über einen kommt wie eine göttliche Sendung, sondern dass sie gestaltet werden muss und werden kann. Das wäre Phase III der Digitalisierung, die Phase ihrer Politisierung. Statt wirtschafts- und reklamegetrieben durch die Tech-Konzerne forciert zu werden, braucht es einen erwachsenen Umgang mit ihr, der einerseits auf die Normen und das Selbstverständnis der Offenen Gesellschaft bezogen ist und andererseits in der Lage ist, Zusammenhänge zur Grundlage des Politischen zu machen und nicht die Einzelphänomene. Anders gesagt: Es geht nicht um das Flugtaxi, sondern um ein ökologisches und soziales Mobilitätssystem, das mit digitaler Technologie hervorragend orchestriert werden kann. Es geht nicht um das Herabregnenlassen von iPads auf Schulen, sondern um ein Curriculum, das Einsatz und Folgenabschätzung digitaler Technologie so erlaubt, dass die Schule als Ganzes davon profitiert. Es geht nicht um die „smart city“, sondern um sozial und ökologisch intelligente Lebensräume, in denen digitale Technologien dienende Funktionen haben. Eine digitale Ökologie meint vor dem Hintergrund des bisher Umrissenen also nicht allein, wie Wirkungen und Nutzen digitaler Technologie für Fragen der Demokratie oder der Nachhaltigkeit ausfallen. Sie ist vielmehr die Definition einer Betrachtung der Digitalisierung im Zusammenhang. Bislang sind wir gewohnt, Digitalisierung segmentär, also jeweils ausschnitthaft anzuschauen: Hier wirkt etwas auf die Privatheit, dort macht eine App das Leben leichter, hier ergeben sich neue Chancen für Kriminelle, dort Frühwarnsysteme für Suizide, hier werden Lieferketten optimiert, dort E-Roller angemietet, hier Stadtplanung leichter, dort die Abläufe in Krankenhäusern – der Beispiele sind Legion. Dass sich alle, auch die Zuständigen in der Politik und in den Administrationen permanent getrieben fühlen durch all die Innovationen und neuen Probleme, ist Ergebnis solcher segmentärer Betrachtungen.
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Nötig wäre demgegenüber eine ökologische Perspektive, durchaus im Sinn der klassischen Definition Ernst Haeckels: als Betrachtung der Beziehung von Lebewesen untereinander und zu ihrer unbelebten Umwelt. Erst in einer solchen Optik können wir nicht nur Chancen und Risiken der globalen Digitalisierung besser bestimmen, sondern einen Blick dafür gewinnen, dass Digitalisierung nicht nur eine soziale Tatsache ist, sondern als solche alle Beziehungen der Menschen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt durchdringt, zum Besseren oder zum Schlechteren. Aber erst im Zusammenhang erschließt sich die politische Dimension digitaler Anwendungen, mithin die Sinnfälligkeit oder eben der Unsinn ihres Gebrauchs. Anders formuliert: Erst wenn wir eine Perspektive digitaler Ökologie einnehmen, sind wir in der Lage, aus dem Modus des Überwältigt- und Getriebenseins herauszutreten und Gesellschaft als unabhängige Variable zu betrachten, die diese Technologie (wie jede andere) als abhängige Variable erkennt. Und mit Gründen nutzt.
1 Karl Popper (1945): Die Paradoxien der Souveränität, in: David Miller (Hg.) (2015): Karl Popper Lesebuch, Tübingen, S. 309-315 2 Phase 1 bezeichnet aus meiner Sicht die heute komplett enttäuschten Demokratisierungs- und Teilhabe-Utopien, die zunächst mit der Digitalisierung verbunden waren.
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AUFBRUCH UND VISIONEN
VORAUSSETZUNGEN FÜR KUNST UND KULTUR HEUTE
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SPIELBEIN UND STANDBEIN ROBIN MISHRA
Dr. Robin Mishra ist seit September 2018 Leiter der Stabsstelle Kommunikation und Digitalisierung sowie der Projektgruppe Digitalisierung bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Zuvor leitete der promovierte Jurist von 2015 bis 2018 im Auswärtigen Amt das Wissenschaftsreferat der Deutschen Botschaft in Washington D.C. und war von 2010 bis 2015 Pressesprecher des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
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Auch wenn es für eine Rundum-Bilanz sicher zu früh ist, lässt sich schon jetzt sagen: Die harte Realität des Lockdowns hat die Debatten über die Digitalisierung des Kulturbereichs geerdet. Sie dreht sich nun nicht mehr um das grundsätzliche Ob, sondern vielmehr um das pragmatische Wie des strukturellen Wandels im Kulturbereich. Die BKM hat diesen Digitalisierungsschub massiv unterstützt. Ein Meinungsbeitrag.
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er die Digitalisierung für das Spielbein eines eigentlich analog funktionierenden Kulturbetriebs gehalten hat, stellt fest, dass sie in der Krise zum (zeitweise einzigen) Standbein geworden ist. Die noch weitergehende These, das Digitale trübe oder zersetze gar das analoge Kulturerlebnis, befindet sich auf dem Rückzug. Zwar stimmt der Vergleich des Generaldirektors der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen Bernhard Maaz, das Digitalisat verhalte sich zum originalen Kunstwerk wie eine Speisekarte zum wirklichen Essen: „Satt wirst du nur vom Original.“1 Man darf diesen Satz aber nicht bewusst missverstehen. Wenn das Restaurant geschlossen ist, nährt allein die digitale Speisekarte die Sehnsucht, dort endlich wieder dinieren zu dürfen. Sie mindert also nicht die Lust am Restaurantbesuch, sondern steigert sie sogar. Und ja, inzwischen existiert Digitalität auch als eigene Kunst- und Vermittlungsform – bildet also selbst das Original, das satt macht. Zur Wirklichkeit des Lockdowns gehört jedoch auch: Der Druck, die Kultur so schnell und effektiv wie möglich ins Netz zu bringen, hat neben beeindruckender Kreativität Bruchstellen sichtbar gemacht: Noch immer steht der großen digitalen Aufbruchstimmung ein gewaltiger Nachholbedarf gegenüber. Vielfach hapert es in Kultureinrichtungen und bei den einzelnen Künstlerinnen und Künstlern an der technischen Infrastruktur. Die Digitalisierung von Archiven, Beständen und Sammlungen ist und bleibt eine Mammutaufgabe, die Strategien und Schwerpunktsetzungen erfordert. „Irgendwie digitalisieren“ können viele, dies auf hohem Niveau zu tun, verlangt hohen finanziellen und personellen Einsatz sowie langen Atem. Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für digitales Arbeiten im Kulturbereich sind dünn gesät. Digitalexperten und -expertinnen sind rar und in der bestehenden Gehaltsstruktur kaum für die Arbeit in Kultureinrichtungen zu gewinnen. Finanziell hapert es aber leider nicht nur auf der Ausgaben-, sondern auch auf der Einnahmenseite. Die Krise hat kaum neue Geschäftsmodelle hervorgebracht. Zwar erlöste ein bekannter und erfolgreicher Autor wie Saša Stanišic mit den ersten dreien seiner unterhaltsamen und inspirierenden Wohnzimmerlesungen 35.000 Euro2, der Träger des Deutschen Buchpreises 2019 behielt davon aber keinen Cent für sich, sondern spendete das Geld für die Seenotrettung oder medizinische Hilfe für Geflüchtete. Ein Gedankenspiel: Wäre das Echo ähnlich groß gewesen, wenn er für seine eigene schöpferische Leistung ein Entgelt erbeten hätte? Wäre möglicherweise sogar eine Neiddebatte darüber entbrannt, dass ein bekannter Schriftsteller seinen Ruhm zu Geld macht, während den Unbekannteren diese Chance verwehrt ist? Von den Hauskonzerten Daniel Hopes bis hin zur digitalen Uraufführung des zauberbergs im Deutschen Theater Berlin zeigte sich das gleiche Bild – hochkarätiger Kunstgenuss zum Nulltarif. Der spendable Umgang der Kreativen mit ihrer Arbeit und die damit einhergehende Gewöhnung des Publikums an die freie Verfügbarkeit digitaler
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Kulturproduktion erinnert fatal an die anfangs freigiebige Öffnung journalistischer Inhalte durch die Zeitungsverlage. Bis heute hat sie nachhaltig die Bereitschaft der Nutzerinnen und Nutzer untergraben, für sorgfältig recherchierte Informationen zu bezahlen. Wenn Beispiele wie die (kostenpflichtige) Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker nicht stärker Schule machen, werden zum Schaden der Kreativen Einkünfte ausbleiben und die Digitalisierung jedenfalls im materiellen Sinne ein Verlustgeschäft bleiben. Ohne den Mut gerade der Branchengrößen, für eine erstklassige digitale Performance die dafür angemessene Gegenleistung zu verlangen, wird weder in den Köpfen der Kreativen noch in denen des Publikums ein Bewusstseinswandel einsetzen. Zu den positiven Wirkungen der Krise gehört, dass der aktuelle Digitalisierungsschub und zusätzliche finanzielle Hilfen von staatlicher Seite ineinandergreifen. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) hat dabei vor allem im Rahmen ihres Zukunftsprogramms neustart kultur Millionensummen für die Digitalisierung bereitgestellt. Einer der vier Bausteine der Kulturmilliarde ist dabei ausdrücklich der „Förderung alternativer, auch digitaler Angebote“ vorbehalten und mit insgesamt 150 Millionen Euro unterlegt. Die Palette der Unterstützungsmaßnahmen ist breit, sie reicht von der Anschaffung notwendiger Hardware über die Beratung bis hin zur Entwicklung wegweisender Konzepte.3 Bei der Gestaltung der Hilfen ging es dem Bund darum, schnelle Unterstützung mit möglichst nachhaltiger Wirkung zu versehen. Ausdruck davon sind unter anderem zwei mit jeweils zehn Millionen Euro geförderte Programme, die von erfahrenen Partnern durchgeführt werden. Bei dive in. programm für digitale interaktionen der Kulturstiftung des Bundes4 ging es darum, einen Anstoß zur Entwicklung besonders innovativer digitaler Dialog- und Vermittlungsangebote zu geben. Während dive.in eher auf beispielgebende Projekte zielt, hat das Programm kultur.gemeinschaften der Kulturstiftung der Länder5 vor allem die Fläche im Blick. Es unterstützt gerade kleinere, auch ehrenamtlich geführte Kultureinrichtungen und Projektträger bei der Entwicklung vielfältiger und sichtbarer digitaler Angebote. Beide Programme, das lässt sich an der großen Zahl der eingegangenen Anträge ablesen, haben einen Nerv getroffen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie über eingeschaltete Jurys einen hohen Qualitätsstandard sichern. Ein wichtiges Signal beider Programme ist zudem, dass sie spartenübergreifend ausgeschrieben waren und so eine enorme Vielfalt der Antragstellerinnen und Antragsteller angezogen haben. Der aktuelle Digitalisierungsschub beschränkt sich aber nicht auf eine inhaltliche und finanzielle Dimension: Die unabweisbare Notwendigkeit, digital zu denken, befördert insgesamt den notwendigen strukturellen wandel im Kulturbereich. Überkommene Organisationsweisen wie starre Hierarchien, die sich nicht nur, aber auch im Kulturbetrieb verfestigt haben, geraten noch schneller und stärker unter Druck. Künftig, so ist zu hoffen, wird es mehr Raum für agiles und vernetztes Arbeiten geben. Digitalisierung verträgt sich zudem schlecht mit Inseldenken und Einrichtungs-Egoismen. Möge also die kooperative Suche nach gemeinsamen Lösungen – national, aber auch international – zum neuen Goldstandard werden. Um den inhaltlichen und strukturellen Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen, hat sich die BKM schon weit vor der Corona-Pandemie organisatorisch neu
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aufgestellt: Im September 2018 verankerte Kulturstaatsministerin Monika Grütters das Thema in einer bei ihr selbst angesiedelten Stabsstelle, in der die projektgruppe digitalisierung in kultur und medien ihre Arbeit aufnahm. Sie bündelt zum einen das Wissen diverser Gruppen des Hauses und macht Digitalisierung damit zur Querschnittsaufgabe. Zum anderen setzt sie eigene Impulse, unter anderem durch die Förderung besonders innovativer und transformativer Projekte, die beispiel- und modellhaft Wege aufzeigen, die Digitalisierung im Kulturbereich voranzubringen. Eine wichtige Funktion nimmt die Projektgruppe auch als Anlaufstelle im Kreis der Bundesressorts wahr. Im Namen der BKM stellt sie bei allen wesentlichen Digitalaktivitäten und -programmen der Bundesregierung, in denen Kultur und Medien nicht immer von vornherein mitgedacht werden, ihren Fuß in die Tür.6 Sie setzt sich außerdem für die Berücksichtigung von Kultur- und Medienthemen beim jährlichen Digital-Gipfel ein, einer Art Fortschrittsbarometer der Politik und Leistungsschau der Digitalbranche. 2019 und 2020 waren Kulturstaatsministerin Monika Grütters sowie hochkarätige Vertreterinnen und Vertreter aus dem Kultur- und Medienbereich prominent und mit prononcierten Aussagen zu den Themen plattformökonomie und nachhaltigkeit auf der Agenda vertreten. Nicht selbstverständlich ist auch die Beteiligung der BKM an der Strategie Künstliche Intelligenz (KI) der Bundesregierung, handelt es sich dabei doch vor allem um ein Programm zur Förderung einer (Hoch-)Technologie. Anfangs gar nicht auf dem Radar, hat die BKM inzwischen in allen drei bisherigen Tranchen Mittel für KI-Projekte bekommen. In der gerade veröffentlichten Fortschreibung der KI-Strategie wird ausdrücklich auf Kultur und Medien Bezug genommen. Der Weg von der künstlerischen zur Künstlichen Intelligenz ist kürzer als es auf den ersten Blick scheint. In Kultureinrichtungen ermöglicht KI zum Beispiel die intelligente Erschließung von Beständen. So untersucht das Haus der Geschichte mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) seine Zeitzeugeninterviews auf darin zum Ausdruck kommende Emotionen – und erweitert so die Wahrnehmung historischer Ereignisse. Im Medienbereich hilft KI bei der Verifizierung von Inhalten und schützt so die Meinungsfreiheit. Beispielsweise wird mit Mitteln der Strategie das Deutsche-Welle-Projekt ki gegen desinformation gefördert. Das Ziel: Journalistinnen und Journalisten sollen Nachrichtenmanipulationen künftig besser erkennen. Einen Schwerpunkt des Jahres 2021 wird für die projektgruppe digitalisierung in Kultur und medien die Arbeit an einer Digitalisierungsstrategie des Bundes für den Kulturbereich bilden. Dabei geht es der BKM gemeinsam mit dem Projektpartner Deutsche Nationalbibliothek und im Zusammenspiel mit vielen (Bundes-)Kultureinrichtungen zugleich um eine Bestandsaufnahme und um künftige Handlungsfelder. Grundlinien dieser Strategie hat Kulturstaatsministerin Grütters am 7. Oktober 2019 in einem Artikel für den tagesspiegel formuliert: Sie wolle Kunstgenuss für möglichst viele attraktiv und zugänglich machen, so Grütters. „Das war vor allem meine Motivation, als ich dem Thema Digitalisierung in einer bei mir persönlich angesiedelten Stabsstelle höchste Priorität gegeben habe. Damit ist ein inhaltlicher Anspruch verbunden. Wenn sich die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Länder, die Kommunen und viele Kultureinrichtungen im ganzen Land für Digitalisierung einsetzen, dürfen wir nicht nur
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das allgegenwärtige Mantra und das ökonomische Diktat nachbeten, wonach heute alles in Echtzeit digital konsumierbar und kommerziell verwertbar werden müsse. Ich bin überzeugt: Digitalisierung ist im Kulturbereich genauso notwendig wie in Wirtschaft oder Wissenschaft, wir brauchen aber unsere eigenen Wege und verbindliche Werte.“7 Als „Dreiklang“ benennt sie die Ziele der Vermittlung, der Vernetzung und der Verständigung. Mit vermittlung ist gemeint, dass die Digitalisierung der Schlüssel dazu ist, bisherige Zielgruppen zu binden und neue (vor allem jüngere!) zu erschließen. Die vernetzung bezeichnet den Schritt, die Grenzen einzelner Kultureinrichtungen oder bestimmter Sparten zu überwinden und Querbezüge herzustellen. Der Begriff der verständigung rekurriert auf die Wertedebatte, die der Kulturbereich zu einer dynamischen technologischen Entwicklung wie der Digitalisierung beitragen muss. Mit ihrer Digitalisierungsoffensive fördert die BKM Projekte, die diesen inhaltlichen Anspruch unterlegen. Eines der sichtbarsten Projekte der vermittlung ist das Verbundprojekt museum4punkt0. Bisher haben schon sechs Kultureinrichtungen unterschiedlicher Größe und Ausrichtung mit digitalen Technologien für das Museum der Zukunft experimentiert. Das Projekt wird im Jahr 2021 mit weiteren zehn Millionen Euro gefördert, wobei weitere Projektpartner in das Netzwerk aufgenommen werden. Das führt zum Aspekt der Vernetzung, für den aus Sicht der BKM weiterhin die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) eine wichtige Rolle spielt. Sie fungiert als Plattform für Bestände und Sammlungen vieler Einrichtungen. Indem sie von Bund, Ländern und Kommunen gefördert wird, kommen hier auch die staatlichen Ebenen zusammen. Wie museum4punkt0 hat die DDB zusätzliche Millionenmittel aus dem Programm neustart kultur bekommen, die eine an den Nutzerinnen und Nutzern orientierte Neustrukturierung unterstützen sollen. Der Aspekt der Verständigung spielt in vielen BKM-geförderten Projekten eine Rolle. Im Mittelpunkt steht er bei #anstanddigital, organisiert von der Katholischen Akademie in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Kulturbüro der Evangelischen Kirche Deutschlands. Hier werden konkrete Vorschläge von Expertinnen und Experten erarbeitet, um im digitalen Zeitalter Respekt und Etikette zu wahren. Die Digitalisierung des Kulturbereichs, so viel steht fest, wird Bund, Ländern, Kommunen und Kulturakteuren und -akteurinnen weiterhin alles abverlangen. Der Zugang zur Kultur, ja zum Wissen insgesamt, verändert sich weiter rasant. Die berechtigte Erwartung der Öffentlichkeit an einen transparenten Umgang mit Beständen und Sammlungen wächst. Digitalisierung ist kein Thema, das in absehbarer Zeit als bewältigt gelten könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Daueraufgabe, deren Bewältigung zuweilen mühsam und mit Rückschlägen behaftet ist, die aber die Chance auf schöne und sichtbare Erfolge bietet. Ebensowenig wie die Digitalisierung vor der Krise Anlass zu Kulturpessimismus gab, sind von ihr angesichts der Pandemie Wunderdinge zu erwarten. „Wir brauchen Digitalisierung, um unserer Mission gerecht zu werden“, so formuliert es Max Hollein, Direktor des Metropolitan Museum of Art.8 Während der bitteren Schließungen der Kulturorte während der Corona-Pandemie haben digitale Angebote manche Lücke schneller geschlossen, manche Mission besser erfüllt, als zu erwarten gewesen wäre. Mit guten Ideen in Kombination mit passgenauen Fördermitteln haben viele kleine, mittlere und
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große Kultureinrichtungen einen spürbaren Sprung nach vorne gemacht. Der Bund hat einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass sich heute sagen lässt: Der Kulturbereich hat die Chance, im Bereich der Digitalisierung stärker aus der Krise herauszukommen als er hineingegangen ist. Etwas Zuversicht sei erlaubt. Der Rückweg in die alten Denkmuster und Schablonen ist verbaut. Digitalisierung wird für Kreative und Kultureinrichtungen in der Zukunft eine noch wichtigere Rolle spielen. Eine selbstverständlichere Rolle dazu – als Standbein und Spielbein zugleich.
1 Bernhard Maaz (2020): Digitalisierung wird uns das Denken nicht abnehmen, auf: www.digi.bayern/bayern 2 Nach Angabe von Saša Stanišic, auf: www.twitter.com/sasa_s/status 3 Überblick unter den Suchbegriffen Neustart Kultur und Hilfsangebote auf: www.bundesregierung.de 4 Nähere Informationen dazu auf: www.kulturstiftung-des-bundes.de 5 Nähere Informationen dazu auf: www.kulturgemeinschaften.de 6 So ist die BKM in der Umsetzungsstrategie der Bundesregierung zur Gestaltung des digitalen Wandels mit sieben Flaggschiff Projekten vertreten – von der Digitalisierung des Filmerbes über die Deutsche Digitale Bibliothek bis hin zu museum4punkt0. 7 Monika Grütters (2019): Vermittlung, Vernetzung, Verständigung, auf: www.bundesregierung.de 8 Max Hollein (2019): Neue Technologien. Mit dem künstlichen Auge ins Museum, auf: www.sueddeutsche.de
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ROADMAP ZUM KULTURWANDEL MARTIN LÄTZEL
Prof. Dr. Martin Lätzel ist Publizist, Kulturwissenschaftler und Hochschuldozent und promovierte im Grenzbereich von praktischer Theologie, Soziologie und Kulturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2008 bis 2013 war er Verbandsdirektor des Landesverbandes der Volkshochschulen in Schleswig-Holstein, dann Referatsleiter für Kulturentwicklung und stellvertretender Leiter der Kulturabteilung im Kulturministerium. Seit 2019 ist Martin Lätzel Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und beauftragt mit dem Aufbau eines Zentrums für Digitalisierung und Kultur. Er ist Honorarprofessor am Fachbereich Medien der Fachhochschule Kiel.
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Die kulturellen Aushandlungsprozesse über das Wesen der Gesellschaft sind identitätsstiftend, Kunst- und Kultureinrichtungen in der Gesellschaft unentbehrlich: Sie sind Diskursräume und pflegen Ästhetik und Unterhaltung während ihre Angebote einen originären Bildungsauftrag in einer unübersichtlich gewordenen Welt erfüllen.
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urch die digitale Transformation in der Gesellschaft entsteht ein neues Ökosystem: Bisher beobachten wir eine gesteigerte Medienaffinität gepaart mit Filterblasen, Silobildung und einer starken Fragmentierung, eine Individualisierung und die daraus resultierende Spaltung der Gesellschaft. Die Globalisierung stellt uns vor komplexe Fragestellungen, der Populismus verspricht einfache Antworten. Institutionen haben Vertrauen eingebüßt, die Frage nach Wahrheit wird zentral, Wissenschaft kontroverser. Auf der Metaebene unserer Gesellschaft finden somit tiefgreifende Veränderungen statt und sie sind weder abgeschlossen noch in ihren Auswirkungen absehbar. Welche Rollen und Aufgaben ergeben sich aus diesen Entwicklungen für Kultureinrichtungen? Welche Funktion können digitale Instrumente übernehmen? Die kulturellen Aushandlungsprozesse über das Wesen der Gesellschaft sind identitätsstiftend. Kunst- und Kulturangebote schaffen Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Kunst und Kultureinrichtungen sind deswegen für eine Gesellschaft unentbehrlich. Sie erfüllen darin einen originären Bildungsauftrag, regen an zur Reflektion und sind Diskursräume für die passende Haltung. Schleswig-Holsteins digitaler masterplan Kultur ist an dieser Stelle nicht weniger als eine Roadmap der digitalen Transformation für die kulturelle Infrastruktur des Landes. Er beschreibt die Rahmenbedingungen für Beratung und Förderung und skizziert den Aufbau eines Zentrums für Digitalisierung und Kultur an der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek. Diese inhaltliche und die technische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und deren Einfluss auf Arbeitsweisen, Methoden und Rezeption sind von zentraler Bedeutung für die Zukunft dieser kulturellen Infrastruktur. Das gilt für das operative Geschäft ebenso wie für das Selbstverständnis und die Metaebene des jeweiligen Auftrags. Für die Produktion, die Rezeption und das Marketing von Kunst und Kultureller Bildung bringt die Digitalisierung große Veränderungen mit sich. Sie öffnet neue Möglichkeiten für die Erschließung und den Erhalt von Kulturschätzen sowie für neue Erstellungsmethoden und Vermittlungsformate aller Sparten. Noch wichtiger ist jedoch die Interdependenz zur kulturellen Entwicklung der Gesellschaft zu sehen. Kennzeichen einer solchen kultur der digitalität (Felix Stalder) in der kulturellen Infrastruktur sind eine geographische und zeitliche Entgrenzung, zugänglich unabhängig von Räumen und Öffnungszeiten, die selbstbestimmte und selbst organisierte Auswahl und Rezeption von zuvor durch Expertise aufbereitetem Content sowie Interaktion und Vernetzung. Die kulturelle Infrastruktur ist der Darstellungsraum für gesellschaftliche Fragen: Indem sie sich auf Inhalte konzentriert, kann sie mit ihren Angeboten die Relevanz für Gesellschaft herausarbeiten und die ist eng verbunden mit der Motivation des Einzelnen als Teil der Gesellschaft. Da Kulturinstitutionen in ihrem Angebot Bildung, Kunst und Unterhaltung verbinden, gelingt es ihnen seit jeher, Menschen durch einen spielerischen Charakter auf der intrinsischen Ebene zu erreichen. Daran ändert die
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digitale Transformation nichts, ganz im Gegenteil. Sie führt den Auftrag mit anderen Voraussetzungen und anderen Anwendungen fort. Allerdings bedarf sie einer gewissen Lenkung. Diese Aufgabe übernehmen digitale Strategiepapiere, -konzepte oder -programme – wie der digitale masterplan kultur. Der Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und FDP, der die Grundlage des Kabinetts Günther in Schleswig-Holstein für die Arbeit von 2017 bis 2022 ist, sieht einen eigenen Vorhabensbereich zur Digitalisierung vor. In Bezug auf die Kultur heißt es dort: „Digitalisierung ist Chance und Herausforderung für eine zeitgemäße Kulturpolitik. Hierzu gehören insbesondere die Realisierung von webbasierten Marketing- und Öffentlichkeitsmaßnahmen, die Vermittlung kultureller Inhalte und die Nutzung von Anwenderdaten. Konkret sind dies die Auflage webbasierter Kulturführer sowie die Digitalisierung von Museumsobjekten, Bibliotheks- und Archivbeständen, um die Allgemeinzugänglichkeit zu erhalten und ermöglichen. Um diese Chancen zu nutzen, werden wir einen digitalen Masterplan Kultur zu Marketing, Vermittlung und Datenschutz in der kulturellen Infrastruktur erstellen und über eine schwerpunktorientierte Programmförderung die Realisierung der Digitalisierungsmaßnahmen fördern, und dabei digitale Insellösungen vermeiden.“1 Auf dieser kulturpolitischen Grundlage wurde der Digitale Masterplan Kultur des Landes verfasst.2 Der Fokus bei der Erstellung lag auf der Sensibilisierung der Gesellschaft und damit auch der gesellschaftlichen Akteure und Akteurinnen und Institutionen im Bereich Kultur und kultureller Infrastruktur für die herausfordernden Aspekte und Handlungsfelder der digitalen Transformation. Der Plan wurde im Jahr 2018 von verschiedenen Experten und Expertinnen im Auftrag des Landes Schleswig-Holstein verfasst. Um den Ausgangspunkt zu konsolidieren, entwickelten sie im Digitalen Masterplan zunächst eine begriffliche Schärfe, die den Plan im Weiteren kennzeichnet. Der Begriff digitalisierung findet bis heute häufig eine unspezifische Verwendung, da unter ihm Methoden ebenso verstanden werden wie Prozesse, Anwendungen oder gesellschaftliche beziehungsweise kulturelle Strömungen. Digitalisierung bezeichnet umfassend den Vorgang, in dem sich unsere Gesellschaft befindet und der sämtliche Lebensbereiche umfasst. Für den Masterplan wurde auf Grundlage der Schriften von Felix Stalder auf den Begriff der Digitalität abgehoben. Digitalität wird gesehen als ein neues Wesensmerkmal der Kultur, weil diese von der Digitalisierung beeinflusst wird, sich Kreativität und Rezeption ändern und neue digitale Kunstformen entstehen. Unter Digitalität ist also die Art und Weise zu verstehen, wie die Digitalisierung vonstattengeht und welche Veränderungen sie im individuellen Denken und Leben und im kollektiven Miteinander evoziert. Digitalität hat mittlerweile in einem solchen Maß Eingang in die Alltagswelt und gesellschaftliche Abläufe gefunden, dass sie kulturprägend ist. Dem gegenüber stehen globale Unternehmen (die vier großen digitalen Konzerne Facebook, Google, Apple und Amazon), die – weil sie agiler sind, als staatliche Systeme – bereits jetzt entscheidende gesellschaftliche Veränderungen bedingen. Allerdings steht dabei nicht das Gemeinwohl im Vordergrund, sondern das ökonomische Interesse der Konzerne – auch an kulturellen Daten. Dies erfordert politisches Handeln und politische Initiative.
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Innerhalb der Bewahrung und Erschließung des kulturellen Erbes haben wir es unter dem allgemein als Digitalisierung apostrophierten Begriff mit dem Prozess zur Herstellung von Digitalisaten zu tun. Streng genommen sind dies Speichermethoden, wie sie seit Jahrtausenden vorgenommen wurden mit dem Unterschied, dass die nun verwendeten Medien auf einem binären Code basieren und Strom benötigen, um ausgelesen zu werden. Um einer undifferenzierten Interpretation der Digitalisierung entgegenzuwirken, verwendet der Masterplan die Bezeichnung der digitalen transformation, um den allgemeinen Prozess zu beschreiben, in dem sich unsere Kultur zu einer Kultur der Digitalität verwandelt. Im Masterplan werden die Merkmale dieser Entwicklung wie folgt charakterisiert: „So verstanden ist die digitale Transformation zuerst ein kulturelles Phänomen. Mit ihr stellen sich erneut die großen Fragen: Wie wollen wir leben? Wie soll sich Gesellschaft entwickeln? Welche Werte sollen gelten? Wofür und wogegen setzen wir uns ein? Wie können wir den Zusammenhalt sichern und wie kommunizieren wir dafür? Auf welchen Wegen erreichen wir Menschen und was wollen wir transportieren? Wie kreativ sind wir und welche Wege nutzen wir dafür?“ Fortlaufende technische Neuerungen erfordern den ständigen Erwerb neuer Kompetenzen, um mit dem steten Wandel flexibel umgehen und ihn nutzen zu können. Das zentrale Entwicklungskriterium digitaler Anwendungen sollte daher die kulturelle Infrastruktur im Sinne der Reflexion, des Dialogs von Identitäten und des Gemeinwohls sein, kurz: der gesellschaftliche Mehrwert. Die Voraussetzungen, um diesen Auftrag zu erfüllen, sind die Erarbeitung digitaler Strategien, die Qualifizierung der Akteure und Akteurinnen für den Einsatz neuer digitaler Methoden und die Bereitstellung der notwendigen Hard- und Software. Das Prozessdesign zur Erarbeitung des digitalen masterplan kultur muss dabei auch selbst die veränderten Bedingungen der Digitalisierung reflektieren. Damit die dafür notwendigen neue Impulse, Perspektiven und Bedarfe flexibel im Prozessverlauf eingebunden werden konnten, kombiniert das Design Elemente klassischen Projektmanagements mit agilen Methoden. Für die Erarbeitung des Masterplans haben sich drei Gruppen wechselseitig ergänzt und sichergestellt, dass gleichermaßen internationale best practices wie die lokale Spezifik berücksichtigt werden: Als exemplarische Vertreterinnen und Vertreter der kulturellen Infrastruktur des Landes waren zum einen Einrichtungen am Prozess beteiligt, die bereits besonders erfolgreiche Schritte auf dem Weg zu einer Digitalisierungsstrategie unternommen haben – beispielsweise im Rahmen des seit 2016 laufenden kultursphäre-projekts, das eine wichtige Grundlage für den Masterplan darstellt. Zum anderen waren Einrichtungen in die Projektgruppe eingebunden, die geeignet und interessiert waren, zukünftig modellhaft an neuen Ansätzen von digitalen Projekte mitzuwirken. Und schließlich brachte eine Gruppe internationaler Experten und Expertinnen ihre Kompetenzen auch dahingehend ein, dass die für das Land entwickelten Standards auf der Höhe auch überregionaler Projekte waren. So erreichte die Projektgruppe in drei Arbeitszyklen zunächst einen Überblick über Kernthemenfelder, analysierte ausgewählte Themen darauf vertiefend und führte abschließend die Ergebnisse im Masterplan zusammen. Der Digitale Masterplan Kultur Schleswig-Holstein beschreibt in einem ersten, grundlegenden Kapitel die digitale Transformation als Herausforderung für die kulturelle
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Infrastruktur und dient damit dem „Ziel der Landesregierung Schleswig-Holstein, eine proaktive und konstruktiv-kritische Entwicklung in der kulturellen Infrastruktur zu unterstützen“. Zunächst geht es hier um die notwendige Strategiebildung, dann um die operative Arbeit mit Audience Development, schließlich um den wichtigen Punkt der Personalund Organisationsentwicklung und die Aufgaben der Digitalisierung und Archivierung von Kulturgut. Im Zuge der Veröffentlichung des Digitalen Masterplans wurde außerdem das Kompetenzzentrum für Digitalisierung und Kultur gegründet. Die Umsetzung der digitalen Transformation verläuft anhand der zuvor aufgestellten Strategie und den damit verbundenen Zielen. Die dafür benötigten Instrumente können erst identifiziert werden, nachdem die Ziele oder zumindest eine zugrundeliegende Haltung (Mission, Vision) formuliert wurde.7 Die Verständigung darüber, welche Haltung und welche Ziele eine Einrichtung unter Zuhilfenahme welcher digitalen Instrumente realisieren will, ist ein Teil des Change-Managements. Für diese Prozesse ist die Offenheit für agile Methoden unumgänglich. Auf jeden Fall benötigen Kultureinrichtungen diverse Unterstützungsangebote, diesem Zweck dient das im Masterplan beschriebene Kompetenzzentrum für Digitalisierung und Kultur an der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek. Der Masterplan kann naturgemäß nur ein übergeordneter Handlungsleitfaden sein, der selbst eine ständige Überprüfung erfordert. Um ihn fortzuschreiben, wurde eine Reihe von weiteren Handreichungen angekündigt, von denen bislang drei erschienen sind. Die erste Broschüre hat Christian Henner-Fehr aus Wien verfasst. Der Co-Autor des Digitalen Masterplans widmet sich darin dem Thema Audience Development: Wer es betreibt, verfolgt das Ziel, neues Publikum für die eigenen Angebote zu gewinnen. Neu soll aber nicht nur das Publikum sein, auch die Kultureinrichtungen müssen sich ständig neu erfinden. Erst recht in Bezug auf digitale Angebote. Neue Techniken haben dazu geführt, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist. Partizipation und Teilhabe haben deshalb einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Neue Strukturen und Angebote werden deshalb im Idealfall nicht mehr für ein neues Publikum geschaffen, sondern gemeinsam mit diesem. Dafür verwendet das Audience Development Ansätze aus den Bereichen Marketing, PR und Vermittlung. Die Broschüre bietet eine Übersicht über diese Bereiche und vermittelt für Kultureinrichtungen konkrete Anwendungs- und Umsetzungsmöglichkeiten.8 In der zweiten Broschüre befasst sich Co-Autor Martin Zierold aus Hamburg mit dem Veränderungsdruck auf Kultureinrichtungen in der Digitalisierung. Dies drückt sich einerseits in einer wachsenden Zahl von Projekten und Initiativen aus, die ausdrücklich Innovationsund Veränderungsbereitschaft in Kulturorganisationen fördern wollen, andererseits auch in der in manchen Städten bereits sichtbar schwindenden Akzeptanz und Legitimation der Kulturförderung. Innerhalb der Institutionen wächst der Wunsch nach mehr Beweglichkeit und Innovation. Viele Kulturmanagerinnen und -manager klagen mehr oder weniger lautstark darüber, wie schwierig Veränderungen auf den Weg zu bringen sind und wie groß zugleich die Sehnsucht danach ist. Vor diesem Hintergrund wird die Fähigkeit, Veränderung zu gestalten, zu einer zentralen Zukunftskompetenz, ja zu einer der Schlüsselqualifikationen für das Kulturmanagement im 21. Jahrhundert.9 Viele Kultureinrichtungen haben bereits damit begonnen, ihren digitalen Wandel zu gestalten. Dabei tauchen häufig
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Fragen auf, welche technischen Anwendungen für die jeweilige Einrichtung inhaltlich wirklich sinnvoll seien. Die Auswirkungen des digitalen Wandels in allen Bereichen einer Institution erfordern jedoch eine weitgehende und individuelle Auseinandersetzung. Wer seine grundlegenden strategischen Ziele kennt, kann ein passendes Konzept für digitale Aktivitäten entwickeln. Daher ist die Entwicklung grundlegender strategischer Ziele im Rahmen eines allgemeinen Change-Management-Prozesses prioritär. Was eine digitale Strategie ausmacht, beschreibt die Co-Autorenschaft in der dritten Handreichung.10 Auf Grundlage des Masterplans soll die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek sich zu einer Schnittstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickeln, um hier Beratungsangebote für die digitale Transformation der kulturellen Infrastruktur zu organisieren, Schwellenängste vor der Digitalisierung bei Bürgern und Bürgerinnen abzubauen und eine neue Kultur im Zeitalter der Digitalisierung zu prägen. Ziel der Einrichtung ist die erlebbarkeit und anwendbarkeit der Digitalität als kulturelles, individuelles und soziales Phänomen. Die Landesbibliothek bietet sich dazu in Schleswig-Holstein an, da sie per se mit Medien und Daten operiert und bereits zuvor die Notwendigkeit eines Umgestaltungsprozesses bestand. Mit der neuen Institution bekommt sie einen Vorbild- und Experimentiercharakter für weitere Initiativen im Land, aktuelle Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft ebenso zu erkennen, aufzugreifen und zu verfolgen. Mit Bildungsangeboten, Treffpunkten, Projekten, Beratungen, Publikationen und der Initiierung von Forschungsvorhaben für die kulturelle Infrastruktur diskutiert das Zentrum die entsprechenden Fragestellungen und präsentiert Lösungsansätze. Die Landesbibliothek bietet sich aber auch deswegen an, weil sie ein zentraler Ort schleswig-holsteinischer Identität und des kulturellen Erbes des Landes ist und hier schon in ihrer ursprünglichen Funktion auf ihren originären Beitrag für eine Identifikation hinweist. Sie bietet die Möglichkeit, Institutionen, Einrichtungen und Anbieter zu beraten, Ideen zu entwickeln sowie Pionierin in der digitalen Transformation der kulturellen Infrastruktur zu sein. Die Landesbibliothek ist darüber hinaus ein Ort, in dem Digitalisate erstellt, angeboten und vermittelt werden. Mit einem eigenen virtuellen und digitalen Angebot wie der Darstellung der Landesgeschichte in einem digitalen Haus der Geschichte wäre die Landesbibliothek überdies authentische Akteurin der digitalen Vermittlung der Kultur- und Mentalitätsgeschichte im Land. Dafür wird im Haus eine Art Cockpit zur Projektsteuerung eingerichtet. Mit dem Zentrum entsteht momentan ein Denkraum, in dem, in der Auseinandersetzung mit Technologie über und für die Gesellschaft von heute und morge nachgedacht wird und die Erkenntnisse für die kulturelle Infrastruktur aufbereitet werden. Die Verbindung mit der Historie bildet ein stabiles Fundament angesichts vielfacher Veränderungen, es soll also zuvorderst nicht um den Erwerb technischer Fähigkeiten gehen, sondern darum, über den Erwerb dieser Fähigkeiten zu einer kulturellen Kompetenz zu gelangen, die eine Reflektion über die Technik und ihre Auswirkungen auf die Zivilisation überhaupt möglich macht. Der strukturelle Auftrag hingegen leistet eine kulturelle Moderation der digitalen Transformation beziehungsweise die Unterstützung dieser Moderation durch die kulturelle Infrastruktur. Eine geplante enge Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Kiel schafft einen Raum auf dem Westufer der Kieler Förde und ermöglicht eine enge
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Verbindung der Hochschule mit den Bürgern und Bürgerinnen. Die neue Landesbibliothek wird ein Standort für Citizen Science, der zeigt, welchen wichtigen Beitrag die Bevölkerung beim Weiterentwickeln von Forschungsthemen der Fachhochschule leisten kann. Das Wissen beider Seiten wächst zusammen – das methodisch in der Forschung entwickelte und das durch engagierte Bürger und Bürgerinnen erarbeitete. Der Digitale Masterplan Kultur bekommt mit der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek einen konkreten Erlebnisort.
1 Siehe Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode des Schleswig-Holsteinischen Landtages (2017-2022) zwischen der CDU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, S. 95 2 Suchbegriff Digitaler Masterplan Kultur, auf: www.schleswig-holstein.de 3 Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Frankfurt am Main 4 Digitaler Masterplan Kultur, S. 5 5 www.kultursphäre.sh 6 Digitaler Masterplan Kultur, ebenda 7 Vgl. Martin Lätzel (2020): Das Aschenputtel-Prinzip: Wie Kultureinrichtungen zu einer digital-analogen Strategie kommen, Kiel 8 Suchbegriff Audience Development, auf: www.shlb.de 9 Suchbegriff Broschüre Veränderung, auf: www.shlb.de 10 Vgl. Anm. 7
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AN DER SCHWELLE 5 NACH 12 THOMAS SCHLEPER
Prof. Dr. Thomas Schleper studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und Geschichte. Er lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal und arbeitete als Kurator und Museumsleiter beim Landschaftsverband Rheinland (LVR). Dort leitet er seit 2017 den Fachbereich Zentrale Dienste/Strategische Steuerungsunterstützung im Kulturdezernat.
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Im Titel kommt ein paradoxes Zeitverhältnis zur Sprache: die frühe Verspätung. Noch im Aufbruch und doch schon überfällig zu sein, beschreibt eine Situation unserer Tage, die an Sisyphos erinnert. An den schweren Mythos des antiken, Steine wälzenden Helden: Kontrast zu all den Konditionen smarter eCulture.
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m Dezernat für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) arbeitet eine eCulture-Abteilung namens Digitales Kulturerbe. Diese Abteilung legte bereits 2015 eine Handreichung für die Politik namens Digitale Agenda vor1 und mittlerweile wird mit den eigenen Museen, Institutionen der Regionalforschung, der Fort- und Medienbildung, der Denkmalpflege und Kulturförderung an deren Fortschreibung bis 2025 gearbeitet.2 Dabei zeigt sich einmal mehr: Der Megatrend Digitalisierung ist ein Querschnittsthema auch der Kulturarbeit geworden. Mit der Vorbild- und Unterstützungsfunktion des LVR für die Kommunen der Region hat sich bestätigt, dass, neben erheblichen finanziellen Ressourcen, der Erfolg der Agenden auch davon abhängt, wie diese mit Expertise und Haltung der Mitarbeitenden, und das heißt auch mit selbstbewusstem Engagement, gelebt werden. Vier Gedanken zur bisherigen Erfahrung mit eCulture aus dem LVR stützen diese Annahme. Die Pandemie fungiert als Trendbeschleuniger wie als Lackmus-Test: Beschleunigt hat sie die bereits laufenden Bestrebungen im Kulturbetrieb zur Digitalisierung der Bestände, zur Nutzung von ressourcensparender Tele-Arbeit, zur „Begrünung“ der Verwaltung durch das „papierlose Büro“ und zur Partizipation der „Kundschaft“, die ihr Besuchsprogramm per App zum Teil eigenständig zeitlich und thematisch planen kann. Hierbei werden auch behindertengerechte, in diesem Sinne inklusive Bedienungen angeboten. Entscheidend sind auch die erheblichen Anstrengungen zur Modernisierung der Öffentlichkeitsarbeit mit Open-Source-Angeboten, Onlineredaktion und der Nutzung von Social Media. Begriffe wie Ticketing, Digitorial, Usability werden geläufig. Dabei liegen die Häuser des LVR im Trend: Mittlerweile, Stand Herbst 2020, haben über 80 Prozent der europäischen Museen ihre digitalen Angebote ausgebaut.3 Als Lackmus-Test hat hingegen die Corona-Krise insofern fungiert, als sie schonungslos Mängel in der infrastrukturellen Ausstattung und personellen Kompetenz im gesamten Bildungssektor offenlegte, nicht zuletzt in den öffentlichen Einrichtungen der kulturellen Bildung, der Schulen etwa, aber auch in den Bildungsstätten der beiden Landschaftsverbände.4 Die Fortschreibung der digitalen Agenda hat zudem immer deutlicher gemacht, dass sich die Einbeziehung digitaler Techniken, ihre Sammlung, Erschließung und Kommunikation noch anders darstellt als eine neue kultur der digitalität, auf die all das hinauszulaufen scheint – beziehungsweise hinauslaufen könnte, an deren Schwelle wir aber erst stehen. Digitalität meint im ambitionierten Verständnis nicht die Fortführung bisheriger Kulturarbeit mit neuen Mitteln, sondern zielt in einem noch offenen Austauschprozess auf eine qualitative Transformation im Selbstverständnis von Kultur und ihre Agent*innen.5 Eine kultur der digitalität könnte eine wirkliche Veränderung bewirken und sich nicht nur unter dem Label innovationsführer einem keineswegs
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pauschal zu verdammenden technischen Fortschritt anpassen. Die bevorstehende beziehungsweise mögliche Veränderung wäre freilich nicht als radikaler Bruch zu verstehen. Zwar wird gern gemäß Starhistoriker Yuval Noah Harari von „digitaler Revolution“ gesprochen6, von „revolutionärer Digitalisierung“, gar vom „revolutionären, quasi-religiösen Mythos unserer Tage“, so der Zukunftsforscher Matthias Horx.7 Doch ist die gemeinte neue kultur nicht allein auf die digitalen Techniken zurückzuführen, selbst wenn jene katalytisch beschleunigend und motivierend auf sie einwirken: Die neue Kultur ist bereits analog klimatisiert worden, weil Hilmar Hoffmann in Oberhausen und Hermann Glaser in Nürnberg in den 1970er Jahren das utopisch ambitionierte Fahnenwort „Kultur für alle“ sehr erfolgreich propagiert hatten. Denn seither ist die demokratisierende Agenda einer neuen kulturpolitik unterwegs. In diesem Sinne schreitet der LVR seit der ersten Agenda auf dem Weg voran, die Sachund Archivbestände zu digitalisieren und über eine webbasierte Thesaurusdatenbank8 zu erschließen, etwa im Blick auf Archäologie, Denkmalpflege und auch Kulturlandschaft. Im Bereich der angewandten Forschung nutzt eine Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut zurzeit den innovativen Einsatz von speziellen Software-Systemen zur Rekonstruktion fragmentierter Datensätze.9 In der Außenwendung, das heißt Vermittlungsarbeit, ist nicht nur das neue Portal ClickRhein mit größerer Usability in Vorbereitung10, es ist zudem eine neue Architektur der Vermittlung auf der Agenda: ein gemeinsames Dach-Portal auf Dezernatsebene, das die Angebote der verschiedenen Ämter, Institute und Museen zusammenführt und für die Publika kommunikativer und übersichtlich aufbereitet. Hierbei kommen die Möglichkeiten der Mehrsprachigkeit, der leichten und einfachen Sprache zum Zuge, die differenziertere Adressierungen erlauben. Und schließlich wird auch das immer stärker nachgefragte Prinzip Responsivität mit Co-Creation-Anteilen in der Zusammenstellung von Touren und Routen, etwa über eine Progressive Web App (PWA), im Kontext von neu zu erprobenden Media-Guide-Funktionen am soeben neu ausgerichteten LVR-Landesmuseum Bonnavisiert – dem ältesten Museum im Rheinland, das gerade 200 Jahre alt geworden ist. Dies alles geschieht in einem Klima, das für interdisziplinäre Koordination und multimediale Öffentlichkeitsarbeit äußerst günstig ist. Und auch die Synergieeffekte und Kooperationserfahrungen erfolgreicher Verbundprojekte des Dezernats bereiteten bereits inhaltlich und operativ das Feld für eine vieldimensionierte Angebotsstruktur – so etwa im Projekt 1914. mitten in europa. das rheinland und der erste weltkrieg. Das Projekt schloss erstmals branchenübergreifend historische Häuser, Kunstmuseen und Forschungsinstitute im Rheinland zu einem Verbund zusammen, an dem der LVR auch Institutionen außerhalb seiner Trägerschaft beteiligte. Besonders weitreichend und verflochten aber war die Verbundkooperation bauhaus 100 im westen. Damit und mit den laufenden Vorbereitungen zur Neuaufstellung von Industriekultur unter dem Label #futur_21 sind die Tore weit geöffnet für die Potenziale digitaler Nutzanwendung in Bezug auf Organisation, inhaltlichen Austausch, effektiver Verwaltung und möglichst breiter wie vertiefender Vermittlung.
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Was nun das Verbundprojekt bauhaus 100 im westen betrifft, widmeten sich erstmals beide Landschaftsverbände in NRW, der LVR und der Landschaftsverband WestfalenLippe (LWL) sowie das Ministerium für Kultur und Wissenschaft zusammen mit der Architektenkammer NRW in über 50 Veranstaltungsorten im ganzen Bundesland einer gemeinsamen Themenstellung – ohne die Hilfe neuer Techniken wären deren programmscharfe Annoncen wie landesweite Profilierung, insbesondere aber auch deren Konnex zum Veranstaltungsreigen des bundesweiten Gedenkjahres kaum zu bewerkstelligen gewesen. So war die komplexe und interagierende Verbundstruktur zum nationalen Jubiläum von Bauhaus als „historisches Labor der Moderne“ auf Instrumente der digitalen Moderne unbedingt angewiesen, vom einfachen Mailing oder Doodle über TeamnetApplikationen und Telekonferenzen bis hin zu Social Media. Mehr noch: Es hat sich gezeigt, wie viel mehr noch möglich und wie viel leichter vieles zu bewerkstelligen gewesen wäre, hätten wir schon über bessere Dienste und Instrumente im Digitalen verfügt. Mit den Projekten ist also nicht nur der Bedarf erkannt, sondern auch der Wunsch geweckt worden, in der Vernetzung und Kooperation, im Austausch, in der individualisierten Zielansprache und Reichweite mittels Digitalität weiter voranzukommen. In diesem Kontext wurde eine Art Repolitisierung von Kulturarbeit sichtbar. „Die Welt neu denken“ war das ambitionierte Motto des Bauhausjahres, das wir in NRW nicht nur auf Kunst und Design bezogen haben, sondern auch auf Tanz und Theater, Städtebau und Medien, vor allem aber auf Politik und Gesellschaft, was nicht zuletzt der Untertitel gestaltung und demokratie11 hervorhebt. Daraus haben wir gelernt: Die in CoronaZeiten verstärkt diskutierte, gar bestrittene12 Systemrelevanz von Kultur scheint umso mehr bestätigt, je deutlicher die Herausforderung für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel – einen Wandel in Bewusstsein, Haltung und Lebensführung – in den Zuständigkeitsbereich Kultureller Bildungsarbeit fällt. Hierbei tun sich mindestens vier systemrelevante Aktionsfelder auf, die im Sinne weiterer Relevanzverstärkung digital zu befördernd sind: ein defensives und drei progressive. Erstens: Die geübte Kulturarbeit-Praxis der Vernetzung, Interdisziplinarität und Transinstitutionalität bietet sich an, um eine kritische Korrekturfunktion zu übernehmen, weil sie den demokratiegefährdenden Auswüchsen des Mediensystems und ihren „Machtmaschinen“13 Paroli bietet: der Schwächung des Qualitätsjournalismus, der Erstarkung von Desinformation und Populismus sowie der Orientierung am Maximalgewinn beziehungsweise der Meinungsmacht der Intermediären wie Google, Facebook oder auch Springer. Hier sei ein Hinweis auf eine Besprechung des Architekturkritikers Niklas Maak erlaubt, der anhand der neuen Springer-Zentrale von Rem Koolhaas in Berlin ein Bauwerk an der Schwelle zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung beschreibt: ein Monument für Berlin und seine Geschichte, gar ein möglicher Prototyp für das Arbeiten der Zukunft. „Wenn der Konzern sich das denn leisten wollte“, und nicht nur dem Weg der (digitalen) Ökonomisierung folgte, schreibt Maak in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).14 Hier sind alle öffentlichen Bildungseinrichtungen, gern auch im Verbund mit der Qualitätspresse, sozusagen zu Verteidigungsanstrengungen gegen den Ökonomismus aufgefordert.
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Zweitens: Den Narrativen der Diversität in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) kritisch zu folgen, um unangenehme Gerechtigkeitsthemen zu bearbeiten, wie etwa im Zusammenhang postkolonialer Auseinandersetzungen über Provenienzen und Narrative oder mit Blick auf Geschlechterfragen, sowie in der spezifizierten Adressierung von Publika ist nicht der geringste Dienst, den engagierte Kulturarbeit bereits leistet.15 Ist Kultur nicht geradezu dazu aufgerufen, sich der Vielfalt zu widmen, dabei das Außerordentliche zu verteidigen, auch die Ausnahme von der Regel, dem ansonsten Unsichtbaren notfalls gegen den Mainstream eine Bühne zu geben – sich dem von Algorithmen überproportional befeuerte Populären, der Hype-Maschine Social Media entgegenzustellen?16 Auch der bis zum Einschnitt der Pandemie boomende physisch-analoge Kulturtourismus hat sich neben der Ansprache der möglichst Vielen ja ebenso an den Besonderheiten, den Spezialitäten, den Alteritäten orientiert.17 Das schließt freilich selbstkritische Diskussionen über die auch ökologischen Grenzen eines Wachstums an immer mehr Sonderangeboten nicht aus.18 Drittens: Denn es käme nicht zuletzt darauf an, Spuren des Universalen, des Solidarischen, eines „Wir“ zu erkunden, zu stärken beziehungsweise zur Diskussion zu stellen. Über die Berücksichtigung von Diversität und Alterität hinaus bedarf es nicht zuletzt einer großen Kollaboration der Willigen, um die analog-ökologische Bedrohung des Planeten noch rechtzeitig abwenden zu können oder wenigstens die erwartbaren Schadensbilanzen abzudämpfen. Gerade aus der in geübten Kooperationen erwachsenden Kompetenz, kritische Orientierung zu bieten, könnte in der Kultur- als Bildungsarbeit ein neues Selbstbewusstsein erwachsen, nämlich Zusammenhänge herzustellen mit modernsten Mitteln der Kontextualisierung, Veranschaulichung und Präsenzerfahrung, gerade im digital vertieften Meer der Fakten und vor schier endlos aufragenden Wissensbergen. Kultur verstünde sich als Antwort auf die allenthalben beklagte Informationsüberlastung samt dadurch geförderten Aufmerksamkeitsdefiziten und vor allem als Kontra zur sogenannten confirmation bias, also zur nicht nur aber vor allem in sogenannten Kommunikationsblasen verbreiteten Neigung, vorgefasste Meinungen immer nur bestätigt zu finden. Hat nicht soeben der Anthropologe und ehemalige MaxPlanck-Direktor Michael Tomasello gemeinsame Aufmerksamkeit und „kollektive Intentionalität“ als herausragendes Kennzeichen der Menschwerdung beschrieben? Was man im Sinne anspruchsvoller Bildungsarbeit kulturkritik nennt, käme darin zum Zuge: die „Reflexion auf Kultur durch Kultur“.19 Es darf in diesem Zusammenhang als ein Fingerzeig auf zukünftig technische, nicht nur dystopisch zu nutzende Möglichkeiten gelten, dass in der KI-Forschung jetzt offenbar die Aufgabe des Textverständnisses, des Verständnisses von Ironie, Dialekt und Synthesen auf dem Programm steht.20 Viertens: Die demokratierelevanten Optionen nicht nur der gezielten Ansprache, sondern wirklicher Beteiligung der Vielen, stellen die Kulturarbeit vor ganz außerordentliche Herausforderungen, die ein qualitativ Neues anpeilen. Denn: Sobald sich Kommunikation über die Netze verändert, verfügen die Institutionen nicht mehr über
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die Informations- und Deutungshoheit ihrer Angebote21, so dass spätestens ab hier eine „Kultur für möglichst viele“ unterwegs ist zu einer „Kultur von möglichst vielen“.22 Die Partizipation als co-creation ist längst das dazu vielfach diskutierte Stichwort.23 Damit ist eine neue Interaktion von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit gemeint, steigt doch schon in Zeiten des exponentiell wachsenden Erkenntnisgewinns aus der Sicht der Wissensvermittlung der Bedarf an Austausch zwischen Forschung und Öffentlichkeit. Eine kluge und vielfältige Wissenschaftskommunikation scheint also notwendiger denn je – bezogen auf Kulturarbeit ist damit aber sicherlich mehr gemeint, als die beliebte Einladung, sich spielerisch und zugleich das Ambiente schonend in bereits fertige Ausstellungen und deren ausgeklügelte Mit-Mach-Sets einzubringen. Das wäre gemäß Christian Holst, Experte für Kulturmanagement, wenig mehr als eine „Placebo-Partizipation“. Wenn aber nicht mehr Defizitausgleich von oben, sondern eine Kultur im Dialog erfolgen soll, ist auch das Scheitern einzukalkulieren – Stichwort: Fehlerkultur. Man dürfte von einer wirklichen Revolution sprechen, weil dies den bisherigen Aufbau von Institutionen und ihr hierarchisiertes Verantwortungsgefüge samt eingebauter Mechanismen für Planungssicherheit in Frage stellte. Sie würde womöglich die bisherige Praxis juristisch abgesicherter Solidität in Frage stellen, sofern es den riskanten Umgang mit öffentlichen Geldern betrifft. Andererseits: War der bislang immer nur erfolgreich beziehungsweise fehlerlos und risikofrei? Aufklärende Bildungsarbeit bleibt auch in Anwendung neuerster Techniken dem Mythos verhaftet und arbeitet sich immer weiter an beschriebener Schwelle und deren Überschreitung ab. An dem Paradox, fundierte Expertise mit intuitiver Usability zu verbinden, zwecks aktiver Teilhabe möglichst großer Publika. Über optische Klammern à la StyleGuides oder systemische Content-Management-Verbundarchitekturen hinaus geht es – weiterhin wie Sysiphos Steine wälzend – um inhaltliche Erschließung kohärenter Verständigungsformen mit dem einen Ziel: die Lust am gemeinsamen Lernen zu befördern, also Mythen zu überwinden! Ein soeben ausgerufenes, nicht zuletzt auf forcierte Digitalität setzendes Neues Europäisches Bauhaus befindet sich just an seiner Schwelle. Der in der FAZ abgedruckte Gastbeitrag von Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, zum Green Deal ist einerseits eine ermutigende und anspornende Ansage in Richtung Kultur und Bildungsarbeit.24 Andererseits ist sie vermutlich nicht ehrgeizig genug: Klimaneutralität erst 2050, also bereits „nach 12“.25
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1 FB 92, Abteilung Digitales Erbe LVR, Broschüre: Digitale Agenda 2020 für das LVR-Dezernat Kultur und Landschaftliche Kulturpflege. Ziele, Handlungsfelder und Maßnahmen 2016 bis 2020 2 FB 92, Abteilung Digitales Erbe LVR, Entwurfsmanuskript: Digitale Agenda 2025. Ziele, Dimensionen und Schwerpunkt 2021-2025 3 Hans Walter Hütter (2020): Museum neu denken, in: museums magazin 3, S. 6-11 4 In NRW ist der Landschaftsverband-Westfalen-Lippe (LWL) das westfälische Pendant zum LVR. 5 Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Berlin 6 Marc von Lüpke, Florian Harms im Gespräch mit Yuval Noah Harari: Im schlimmsten Fall kollabiert die Weltordnung, auf: www.t-online.de/nachrichten/wissen/geschichte 7 Matthias Horx: Das postdigitale Zeitalter, auf: www.zukunftsinstitut.de 8 didiCULT.xtree 9 Dabei geht es um Mustererkennung und Datenmanagement. 10 Es soll das eher wissenschaftliche Portal Kuladig (Kulturlandschaft digital) für Ausflügler, Ausflüglerinnen und Schnellinformierte übersetzen und überarbeiten. 11 Joachim Henneke, Dagmar Kift, Dagmar, Thomas Schleper (Hg.) (2020): die welt neu denken. Beiträge aus dem Symposion „100 jahre bauhaus in westen“, Münster 12 In Bamberg will man wegen Steuerausfällen die Mittel für Kultur um 25 Prozent kürzen. So berichtet Simon Strauss in der FAZ vom 27.10.2020: Lasst die Theater offen. Beispiel Bamberg: Der Verteilungskampf ist eröffnet 13 Viktor Mayer-Schönberger, Thomas Ramge (2020): Machtmaschinen, Hamburg 14 FAZ vom 08.10.2020 15 Bsp: Birgit Bosold, Dorothée Brill, Detlef Weitz (Hg.) (2015): Homosexualität(en). Im Auftrag des Deutschen Historischen Museums und Schwulen Museums zur Ausstellung 26.6.–01.12.2015, Dresden 16 Sinan Aral (2020): The Hype Machine, London 17 Armin Klein, Yvonne Pröbstle, Thomas Schmidt-Ott (Hg.) (2017): Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachs- tumsmarkt, Bielefeld, S. 10 18 Norbert Sievers (2020): Freiheit im Widerspruch. Komplizenschaft als Problem, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 170, S. 57-60 19 Benjamin Jörissen (2019): Digital/Kulturelle Bildung: Plädoyer für eine Pädagogik der ästhetischen Reflexion digitaler Kultur, auf: www.kubi-online.de 20 FAZ vom 12.10.2020 21 Kristine Honig (2017): Blogger, Twitterer, Instagrammer & Co.: Inhalte nutzen und aktiv initiieren, in: Klein et al. Bielefeld, S. 307-330 22 Jan-Paul Laarmann/Jens Nieweg (2017): Temporäre Reiserouten und metakuratorisches Erzählen, in: Klein et al., S. 331-343 23 Christin Holst (Hg.) (2020): Kultur in Interaktion. Co-Creation im Kultursektor, Wiesbaden 24 FAZ vom 18.10.2020, Rubrik Meinung 25 Petra Pinzler: Runter in die Zukunft. Im Kampf gegen die Klimakrise überwiegt der Pessimismus. Dabei ist das Umsteuern alles andere als utopisch, wie zwei neue Studien zeigen, in: DIE ZEIT, 29.10.2020, S. 7
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KULTUR IN NEUEN RÄUMEN DIRK PETRAT
Dr. Dirk Petrat studierte Rechtswissenschaften in Saarbrücken, Lausanne und München. Nach der Referendarzeit beim OLG München wurde er Assistent der Geschäftsführung bei der Handelskammer Hamburg (1989-92), bevor er als Referatsleiter beim Bremer Wirtschaftssenator (1992-94; 1997-2006) tätig wurde. Es folgten Stationen als nationaler Experte bei der EU-Kommission in Brüssel (1994-97), als Amtsleiter für Medien, Tourismus und Marketing in der Hamburger Verwaltung (2006-10) und als Verwaltungsleiter der Hamburger Kulturbehörde (2010-11/20). Seit November 2020 ist Dirk Petrat Chief Digital Officer der Hamburger Behörde für Kultur und Medien.
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Die Hamburger Kultur- und Kreativlandschaft ist auf dem Weg in die digitale Welt – und die Behörde für Kultur und Medien unterstützt diese Findungsphase mit einem definierten Handlungsrahmen: Die Strategie bkm.digital schafft einen virtuellen Zugang zur Kultur, was nicht nur die Reichweite und die Relevanz dieser Angebote innerhalb Hamburgs steigert.
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it der Frage, wie Kultur künftig in einer digitalen Welt angeboten werden soll, hat die Behörde für Kultur und Medien den Einfluss der Digitalisierung auf das kulturelle Leben früh erkannt – schon im Jahr 2013 legte Hamburg seine eCulture-Agenda 2020 vor und war damit das erste Bundesland mit einer ämter- und spartenübergreifenden behördlichen Digitalstrategie für den Kultursektor. Das wesentliche Ziel dieser Agenda war und ist, allen Bürgern die Kulturgüter der Stadt auch digital zugänglich zu machen und die verschiedenen Kulturbereiche auf ihrem Weg in die digitale Welt zu begleiten, Kultureinrichtungen besser zu vernetzen, barrierefreie Angebote zu schaffen und Verbindungen zwischen der Medien- und IT-Branche und wissenschaftlichen Einrichtungen herzustellen. Die 2019 aktualisierte Strategie präzisiert diese Aufgabenstellung noch weiter und nimmt die Gesamtheit der Hamburger Kultur- und Medienlandschaft mit ihren über 400 Einrichtungen sowie die Kunst- und Kreativwirtschaft in den Blick. Deren Handlungsrahmen bezieht sich dabei aber nicht nur auf die digitale Darstellung des kulturellen Erbes mit seinen Sammlungen und Bauwerken aus vielen Epochen, sondern auf die digitale Abbildung des Kulturlebens insgesamt. In der ersten Umsetzungsphase galt es, in zahlreichen Praxisbeispielen aus dem Kultursektor Erfahrungen im Einsatz von digitalen Werkzeugen zu sammeln und herauszufinden, wie sich der gesellschaftliche Wandel durch Digitalisierung auf den Kultursektor auswirkt und welche Konsequenzen eine digital wahrnehmbare und erfahrbare Kultur hat. Dabei wird kein Wettbewerb zwischen digitalen oder analogen Kulturerlebnissen eröffnet. Es geht nicht um ein „Entweder-oder“ und das analoge Kulturerlebnis nach und nach durch digitale Angebote zu ersetzen, sondern darum, Antworten darauf zu finden, wie es gelingen kann, das analoge Kulturerlebnis durch digitale Möglichkeiten zu verstärken. Aus der Medientheorie ist bekannt, dass neue Medienformen traditionelle Angebote nicht ersetzen, sondern diese ergänzen. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf digitale kulturelle Angebote übertragen. Damit besteht die Chance, die Reichweite eines regionalen kulturellen Angebots digital zu erweitern. Die Digitalstrategie setzt auch deshalb auf eine enge Vernetzung über regionale, nationale und internationale Partnerschaften. Hier geht es sowohl um einen fachlichen Austausch mit digitalen Projekten an anderen Orten, als auch eine Integration in überregionale Netze und Portale. Seit dem Start der eCulture-Agenda 2020 sind rund 150 Vorhaben umgesetzt oder auf den Weg gebracht worden. Viele Einrichtungen betraten dabei Neuland, so dass sich die Erfolgsfaktoren für neue Digitalprojekte erst im Laufe der Zeit herauskristallisierten. Aus den bisherigen Erfahrungen lassen sich inzwischen aber grundlegende Erkenntnisse ableiten, die in die Fortschreibung der Strategie bkm.digital1 eingeflossen sind und sich thesenhaft zusammenfassen lassen.
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1. Digitaler Wandel ist ein auf Dauer angelegter Prozess und wird erst nach und nach alle Dimensionen des Kulturlebens beeinflussen. 2. Digitalisierung ist nicht nur ein neues Instrument des Marketings, sondern sichert auf Dauer die Relevanz einer Einrichtung. 3. Sie löst einen Entwicklungsprozess innerhalb einer Organisation aus. Interne Abläufe verändern sich auf allen organisatorischen Ebenen. 4. Umfassende IT-Vorhaben sollten schrittweise angegangen werden. 5. Die Dynamik bei technologischen Entwicklungen verlangt ständige Trendbeobachtung, um auf der Höhe der Innovation zu sein. 6. Spezialisiertes Fachwissen sollte als Umsetzungseinheit in Digital-Teams konzentriert werden, bei denen die Planung von IT-Vorhaben und der Betrieb technischer Anlagen in enger Abstimmung mit externen Dienstleistern liegen. 7. Die digitale Transformation gleicht einem Strukturwandel in der Wirtschaft, was den Einsatz zusätzlicher Finanzmittel erfordert. 8. Eine stärkere Vernetzung von Bildungsträgern mit den digitalen Angeboten von Kultureinrichtungen bietet Chancen für eine verbesserte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. 9. Die Aufgabenstellung, einen digitalen Zugang zur Kultur zu schaffen, erfordert auch Kooperationen auf überregionaler und nationaler Ebene. Die übergeordnete, gesamtstädtische Digitalstrategie für Hamburg aus dem Jahr 2019 ist der Rahmen für fachbehördliche Teilstrategien und treibt damit auch Querschnittsthemen voran, die die Entwicklungen in digitalen Räumen verstärken. Die aktualisierte Digitalstrategie der Behörde für Kultur und Medien passt sich in diesen Rahmen ein und baut auf bisherigen Erfahrungen auf. Mit der Vision einer digitalen kulturellen Daseinsvorsorge und Teilhabe werden die Ziele der eCulture-Agenda 2020 fortgeschrieben. Die zentrale Aufgabe der Strategie bleibt jedoch, allen Bürgern den Zugang zu und die Auseinandersetzung mit kulturellen Objekten und Prozessen zu ermöglichen und über digitale Wege neue künstlerische, kreative und kulturelle Prozesse anzustoßen. Stärker akzentuiert werden nun digitale Perspektiven in einzelnen Kultursparten, die Digitalisierung von behördlichen Arbeitsabläufen, Prozesse der Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und die Schaffung gemeinsamer Infrastrukturen. Diese Zielvorstellungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erhalt und Relevanzsteigerung durch verstärkte digitale Präsenz: Bereits seit vielen Jahren digitalisieren Museen und Archive mit großem Engagement ihre Bestände. Inzwischen liegt ein beachtlicher Fundus an Digitalisaten vor, der für die Aufarbeitung von Sammlungsgut, zum Beispiel aus kolonialen Kontexten, genutzt werden kann und in Teilen etwa über Internetpräsentationen der Einrichtungen, über die Deutsche Digitale Bibliothek oder auch über das Angebot von Google Arts & Culture zugänglich ist. Demokratisierung durch niederschwellige und inklusive Zugänge: Der Zugang zu Angeboten in der Stadtteil-, Kinder- und Jugendkultur, aber auch die Förderung kreativer Milieus in benachteiligten Quartieren soll über digitale Kanäle erleichtert werden. Zielgruppenorientierte Angebote: Es wird inhaltlich verstärkt darum gehen, für unter-
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schiedliche Zielgruppen differenzierte und barrierefreie digitale Angebote bereitzuhalten. Vernetzung innerhalb des Kultursektors: In den zurückliegenden Jahren ist eine stärkere Vernetzung innerhalb einzelner Kultursparten zur Durchsetzung gemeinsamer digitaler Anliegen gelungen. In einer nächsten Stufe sollen diese Aktivitäten mit denen privater Träger und mit Inhalten verschiedener Kulturgattungen verzahnt werden. Informationelle Selbstbestimmung: Leitlinien der Digitalstrategie sind Aspekte der Sicherheit und der Selbstbestimmung von Dateneigentümern über die Nutzung ihrer Daten. Die digitale Transformation im Bereich Kultur und Medien wird auch von den gesetzlichen Vorgaben im Bereich OZG-relevanter Verfahren im Kulturgut- und Denkmalschutz bestimmt. Basis für die Zugänglichkeit zu behördlichen Informationen ist zudem das Hamburger Transparenz- und Archivgesetz. Ein weiteres Aufgabenfeld ist die Digitalisierung von Verwaltungsverfahren innerhalb der Behörde selbst und nach außen gerichtet die Digitalisierung von Antrags- und Zuwendungsverfahren im Bereich der öffentlichen Kulturförderung. Das Konzept der Digitalen Räume ist ein wesentliches Merkmal der digitalstrategie für hamburg. Ziel ist, die verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche miteinander zu verknüpfen. Die Integration und Verknüpfung von Kultur mit Lebensbereichen anderer digitaler Räume ist ansatzweise wie folgt vorstellbar: Der Digitale Raum wissen & bildung beschäftigt sich mit allen Aspekten des lebenslangen Lernens von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und bezieht alle denkbaren Lernorte ein, auch solche der außerschulischen Bildung. Hierzu zählen insbesondere die Hamburger Bücherhallen sowie Kultur- und Ausbildungseinrichtungen. Vordringliche Aufgabe ist, digitale kulturelle Bildungsangebote und -dienste barrierefrei zugänglich zu machen. Im Idealfall bilden sich hierfür vereinheitlichte Dienste heraus, die über Plattformen erreichbar sind. Eine weitere Dimension des digitalen Bildungsraums ist der Onlineunterricht durch Kultureinrichtungen. Das Hamburger Konservatorium hat hierzu mit dem Projekt KON-Plugin bereits eine interaktive Plattform für Musikunterricht geschaffen, auf der Kinder, Jugendliche und Erwachsene über ein mobiles Gerät den individuellen Lernfortschritt mit dem Lehrer austauschen können. Der Digitale Raum urbanes leben befasst sich im Schwerpunkt mit dem Einfluss des digitalen Wandels auf die Nutzung von Flächen und städtischen Räumen. Zur Darstellung von Kultur in diesem Raum gehören zum Beispiel virtuelle historische Stadtansichten, digitale Informationen zur Stadt- und Baugeschichte und historisches Material des Denkmalschutzes. Ein weiteres Beispiel für Kultur in urbanen Räumen ist die App kulturpunkte hamburg, in der sich geolokalisiert Kulturinformationen abrufen lassen. Auch die App fundpunkte des Archäologischen Museums Hamburg präsentiert Orte unter anderem in den Kategorien Archäologie, Gärten und Streetart. Unter der Kategorie wirtschaft & arbeitswelten findet sich ein Digitaler Raum, bei dem die Behörde für Kultur und Medien dazu beiträgt, dass Breitbandanschlüsse in der Stadt vorhanden sind und der neue 5G-Mobilfunkstandard zur Verfügung steht. Denn eine digitale Stadt funktioniert nicht ohne leistungsfähige digitale Infrastrukturen. Genauso wichtig ist die Zusammenarbeit der Akteure aus dem Kulturleben und dem Sport- und Freizeitsektor. Sie verknüpfen ihre Kompetenzen im digitalen Raum
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kultur, sport und freizeit, was neue verstärkende Chancen bietet: Durch eine Vernetzung wird die Transparenz von Angeboten aus den verschiedenen Teilbereichen erhöht, und es besteht die Erwartung, dass neue Formen der Interaktion mit Bürgern, aber auch mit einzelnen Akteuren dieser Bereiche entstehen. Die Strategie der Behörde für Kultur und Medien befasst sich ausführlich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die verschiedenen Sparten des Kultur- und Mediensektors. So setzen die Museen die Digitalisierung von Sammlungsbeständen weiter fort, wobei die Strategie verstärkt Augenmerk auf eine Kontextualisierung legt, was auch die Kombination von Wissen mit anderen Museen, Bibliotheken und Archiven vorantreibt. Die digitalen Bestände präsentieren sich über geeignete Vermittlungskonzepte einem breiteren Publikum niedrigschwellig und ermöglichen so eine stärkere Interaktion mit den Besuchern. Schließlich werden zur Präsentation von Sammlungen und zur Begleitung des Museumsbesuchers vermehrt digitale Techniken eingesetzt. Digitalisierung vollzieht sich auch in Theatern auf verschiedenen Ebenen. Neben dem Einsatz von Soft- und Hardware in der allgemeinen Theaterarbeit gehören die digitale Ausstattung des Theaterraums und zunehmend auch die digitale Unterstützung der Produktions- und Probenphase dazu. Vor allem vor dem Hintergrund, künftig auch ein junges Publikum erreichen zu wollen, gewinnt digitale Vermittlungsarbeit in der Theaterpädagogik an Bedeutung. Im Kontakt mit dem Publikum werden inzwischen auch Content Management Systeme eingesetzt. Mit der Plattform theater-hamburg.org ist es bereits gelungen, die Hamburger Bühnen im Netz stärker sichtbar zu machen. Auch die vielen anderen Institutionen des Hamburger Kulturlebens verzeichnen eine Evolution des Digitalen: Mit der eBuecherhalle stellen die Hamburger Bücherhallen bereits seit vielen Jahren digitale Medien wie eBooks, ePaper, eMusik, Datenbanken und eLearning-Kurse zur Verfügung. Hinzu kommen Musik- und Filmstreamingdienste. Perspektivisch werden alle Kundenkontakte online möglich sein. Die spezifische Ausrichtung im Bereich Bildende Kunst hingegen liegt vor allem in der künstlerischen Gestaltung, bei denen neue Technologien maßgeblich die Kreativprozesse und Ausspielformen beeinflussen. Und auch die Musikwirtschaft hat die Digitalisierung längst erreicht. So haben sich Streamingdienste zu einem zentralen Ausspielkanal entwickelt und im Live-Entertainment-Bereich sind interaktive Elemente inzwischen etabliert. Das Planetarium Hamburg nimmt beim Einsatz von digitalen Elementen in Live-Veranstaltungen eine überregionale Vorreiterrolle ein. Über Kooperationen mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen werden dort stetig neue audiovisuelle Präsentationstechniken entwickelt. Es lässt sich festhalten, dass die Mehrzahl der Teilmärkte der Kreativwirtschaft bei der Produktion von Inhalten längst auf digitale Technologien setzt. Unternehmen der Filmwirtschaft zum Beispiel erbringen ihre Leistungen heute als Querschnittstechnologie für die Computerspielbranche, für Digital-Agenturen und für industrielle Anwendungsfelder. Als digitaler Zugang zur Literatur haben sich neben dem eBook Weblesungen, Podcasts und Videomitschnitte etabliert.2 Doch so heterogen sich die Kulturlandschaft mit kleinen, mittleren und großen Einrichtungen auszeichnet, so vielgestaltig ist auch das Bild der
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IT-Ausstattung. Das ist nicht immer förderlich, denn je nach Kultursparte werden oft unterschiedliche IT-Verfahren mit verschiedenen Formen und Formaten eingesetzt, die zudem untereinander häufig nur unzureichend kompatibel sind. Wenn es also darum geht, dass Kultur digital zugänglich sein soll, besteht die strukturelle Herausforderung darin, Interoperabilität zwischen diesen unterschiedlichen Ausstattungsgraden über geeignete Schnittstellen und flexible Strukturen herzustellen. Als Lösungsszenario ist in der Hamburger Digitalstrategie die Entwicklung einer hybriden Cloud unter der Bezeichnung eCulture-Cloud als Element staatlicher Daseinsvorsorge vorgesehen. Hiernach sollen individuelle Speicherkonzepte in unterschiedlichen Cloud-Angeboten unter Wahrung der digitalen Souveränität zusammengeführt und Dienste und Arbeitsinstrumente über das Internet abgerufen oder angesteuert werden. Ziel ist ein Angebot an Verbundlösungen in einem System von vernetzten und gemeinsam nutzbaren Infrastrukturen, an dem alle Hamburger Kultureinrichtungen teilnehmen können, gleich ob öffentlich oder privat finanziert. Wenn das funktioniert, könnte dieses Cloud-Angebot auf andere städtische Fachbereiche übertragen werden, was nicht weniger als die große Chance birgt, einen einheitlichen Datentraum Kultur mit neuen Formaten zu schaffen, die die digitale kulturelle Vermittlung für Schulen, Hochschulen, soziale Einrichtungen und auch die Tourismusbranche erleichtern können. Erste Arbeiten in Hamburg zeigen, dass dieses Ziel erreichbar ist. Die Hamburger Museen haben ihre Arbeitsabläufe bereits daraufhin analysiert, wie sich interne Geschäftsprozesse digitalisieren lassen. Die Ergebnisse, Ablaufdiagramme und Prozessschemata, sind nun Basis für die weitere Standardisierung von IT-Software und Infrastruktur in der Hamburger Museumslandschaft. In nächsten Stufen folgen Prozessanalysen für weitere Teilbereiche des Kultur- und Mediensektors, um medienbruchfreie Verbindungen untereinander herzustellen. Die Digitalisierung im Kultursektor wird dazu beitragen, dass der Kontakt zu einer jüngeren Generation nicht verloren geht, die sich nach und nach von einzelnen Kulturangeboten entfernt. Ohne Digitalisierung steht zu befürchten, dass die Relevanz eines eher klassischen Kulturangebots auf der Zeitschiene verlorengeht. Die Digitalisierung im Kultursektor erhöht darum die Chance, dass das Interesse einer interaffinen jungen Bevölkerungsgruppe an der gesamten Breite des kulturellen Angebots und Geschehens erschlossen werden kann. Die Hamburger Erfahrungen zeigen, dass sich technologische Fragestellungen und Prozessabläufe im Kulturbereich von Institution zu Institution oft wenig unterscheiden, so dass Kooperationen innerhalb von und über Kultursparten hinweg in Fragen der Digitalisierung den Prozess eines digitalen Austauschs mit dem Publikum insgesamt befördern können. 1 Digitalstrategie der Hamburger Behörde für Kultur und Medien ausführlich, auf: www.hamburg.de/bkm/eculture/ 2 Weitere Beispiele der Digitalisierung im Kultur- und Mediensektor sind nextMedia.Hamburg als führende Unterstützungsplattform für die Medien- und Digitalwirtschaft, die über neue Kommunikationskanäle, Produkte, Dienstleistungen und Werbeformen informiert. Das Netzwerk kulturelle Bildung ist der virtuelle Einstieg für Multiplikatoren der kulturellen Bildung und stellt eine thematische Plattform für Anbieter und Interessenten an Kulturprojekten im Kooperationsfeld Schule und außerschulische Partner dar. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist im Netz mit vielfältigen Informationen zu unterschiedlichen Orten und Themen der Erinnerungskultur präsent. Das Hamburger Denkmalschutzamt erfasst seine Datenbestände in einem Fachinformationssystem und wird diese perspektivisch in Teilen digital zugänglich machen. Die digitalen Bestände des Staatsarchivs können Externe über das Modul scopeQuery recherchieren. Erschließungsinformationen und Digitalisate stellt aber auch die Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) zur Verfügung. Mit dem Trans parenzportal Hamburg betreut das Staatsarchiv einen weiteren digitalen Kanal für Open Government Data.
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DIGITALE EVOLUTION REINHARD ALTENHÖNER
Reinhard Altenhöner absolvierte erst ein geisteswissenschaftliches, dann ein postgraduales Studium zum Bibliothekar. Nach Stationen in Bonn (DFG), Münster (FHB), Mainz (WStB/ÖB) und Frankfurt/Leipzig (DNB) arbeitet er seit 2015 in der Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz als ständiger Vertreter der Generaldirektorin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Digitale Services und Technologien, Auf- und Ausbau der Digitalen Bibliothek, Contentstrategie, Prozessentwicklung, Projektmanagement und -organisation sowie Beratung und Publikationstätigkeit.
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Im Jahr 2017 wurden in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zwei Chief Digital Officers (CDO) im Nebenamt eingesetzt. Nur drei Jahre später wurde dieses Konstrukt mitsamt seiner personellen Expertise wieder aufgelöst. Ein Resümee zu einem vermeintlichen Misserfolg.
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ie gesellschaftlichen Entwicklungen in den Bereichen digitale Technologie, Medien und Praktiken führen zu veränderten Erwartungen an Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen wie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK).1 Diese Entwicklungen, namentlich die digitalisierung, bieten andersherum aber auch erhebliche Potentiale zur Erfüllung dieser Erwartungen – und damit zugleich des gesetzlichen Auftrags der Stiftung. digitalisierung meint dabei nicht nur die Überführung des Kulturguts in digitale Form und darauf basierende Angebote oder seit Jahrzehnten etablierte Arbeitsabläufe zum Beispiel bei der Erschließung von Medien. Es geht auch darum, die Kernfelder der SPK am digitalen Zielraum auszurichten, also um Aufgaben der Vermittlung, der Services der Forschungs- und Wissensinfrastruktur, der Wissenskommunikation und der Dimension Bildung und Kultur mit den sie unterstützenden diversen Aufgaben. Ziel ist also ein umfassender Veränderungsprozess. Diese Ausgangslage beschäftigt seit einigen Jahren viele Einrichtungen des Kulturerbes und auch den privatwirtschaftlichen Sektor: Die zahlreichen und breit gefächerten Veröffentlichungen und Beratungsangebote zu der Frage, wie Unternehmen und öffentliche Hand die digitale transformation bewältigen (können), zeigen, dass der Terminus nicht mehr zur Beschreibung eines eindeutig definierten Vorgehens taugt. Es geht nicht nur darum, Angebote und Anwendungen stringent auf digitale Arbeitsstrukturen umzustellen, sondern auch, Vorhaben von vornherein auf den digitalen Raum zu zentrieren oder so aufzusetzen, dass sie auf Dauer stabil und mit geringen, respektive beherrschbaren Aufwänden betrieben werden können. Alle Einrichtungen der SPK sind in der Nutzung IT-gestützter Verfahren erfahren, die jeweiligen, autonom verantworteten digitalen Angebote und IT-Strukturen sind aufgrund eigenständiger Schwerpunktsetzungen historisch gewachsen. Einige grundlegende IT-Dienstleistungen werden unter Synergie-Aspekten von einer Einrichtung für andere erbracht. Die SPK ist eine drittmittelstarke Einrichtung und so entstehen neue Dienste, die allerdings oft solitär nebeneinanderstehen und deren dauerhafter Betrieb einschließlich Weiterentwicklung mit hohen und oft nicht abgesicherten Aufwänden verbunden ist.2 Im Februar 2016 lag der Stiftungsleitung ein Papier vor, in dem der Autor den Start einer Initiative und die Einführung eines einrichtungsübergreifend tätigen CDO vorschlug, verbunden mit Hinweisen auf wesentliche Ausgangs- und Rahmenbedingungen. Konkret handlungsleitend sollte sein, die Arbeit der Stiftung auf ihr Wirken im digitalen Raum auszurichten, ihre Ziele mit übergreifend einsetzbaren digitalen Mitteln zu erreichen und ihre digitalen Abläufe systematisch auszugestalten. Kurz: Die SPK sollte sich organisatorisch weiterentwickeln, um Innovationen anzuregen, aufzunehmen und nachhaltig so umzusetzen, dass sie in verlässliche digitale Angebote einmünden. Im Hintergrund standen dabei die Erfahrungen der Staatsbibliothek beim systematischen Aufbau von IT-Strukturen, die über zehn Jahre hinweg nicht nur zu einer stabilen Rechenzentrums-Infrastruktur geführt hatten, sondern auch zu einem Vorgehensmodell, Instrumenten, digitalen Services und
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geeigneten Arbeitsmethoden. Grundbedingung für einen erfolgreichen Ansatz war unter anderem die Erhöhung der Investitionen. Trotz möglicher Einspareffekte durch den Verzicht auf solitäre Lösungen war insgesamt mit deutlichen Mehrkosten für Sachinvestitionen und Personal zu rechnen. Auch ein Verständnis der Digitalisierung als ganzheitlichem Prozess war grundlegend: Die Digitalisierung ist ihrem Ansatz nach zentral und wirkt prinzipiell homogenisierend, eine Vielzahl von Einzellösungen für ähnliche Anforderungen ist auf Dauer hingegen nicht finanzierbar. Schließlich erzwingt die Digitalisierung in erhöhtem Maße ein prozessorientiertes Handeln mit klaren Entscheidungswegen und deren Einhaltung. Daraus folgt, dass die CDO-Arbeit auch erhebliche organisatorische Anteile hatte, wie klare Kompetenzen und Vollmachten sowie eine enge Anbindung an die Stiftungsspitze mit Wirkbereich nach innen und außen.3 Aus diesen Vorüberlegungen schälte sich im folgenden Diskussionsprozess, in den auch Ergebnisse mehrerer Design-Thinking-Workshops der erweiterten Stiftungsleitung und der Kommunikationsund Marketingverantwortlichen der Stiftung eingingen, das Aufgabenportfolio der CDO heraus. Zum Ende des Jahres 2016 wurde ein Set-Up-Papier der beiden CDO4 erstellt und abgestimmt. Nach Diskussionen unter Einbeziehung externer Expertisen bildete dies die Basis für den Start im Jahr 2017 – unter dem Titel digitale agenda startete der Aufbau des Teams und die Akquise einer externen Beratungsleistung. Im Mittelpunkt der Arbeit stand zunächst eine erste Aufnahme der Ausgangssituation in den einzelnen Einrichtungen, um Kernfragen und -projekte zu identifizieren und eine Verständigung über die Grundziele der Stiftung im digitalen Raum zu beginnen. In der praktischen Umsetzung der festgelegten Schritte ergaben sich schnell Schwierigkeiten: Sowohl die Beauftragung der externen Beratungsleistung als auch der Aufbau des Teams verzögerten sich zum Teil bis in das Jahr 2018 hinein das angeforderte Sachmittelbudget von 400.000 Euro pro Jahr konnte nicht bereitgestellt werden, erst für das Haushaltsjahr 2020 gelang die Einrichtung eines Finanzierungsplans für Aktivitäten der CDO auf deutlich reduziertem Niveau für einige konkrete Projekte. Parallel zur schrittweisen Formierung des Teams und den ersten Bestandsaufnahmen konzipierten die CDO und das CDO-Team ab Herbst 2017 mit einer externen Beratung zwei Herangehensweisen: Den klassischen Ansatz: Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme wird ein Handlungskatalog entwickelt, priorisiert und dann in konkreten Schritten umgesetzt. Wesentlich ist, aus einem Nebeneinander aller Handlungsbedarfe die wichtigsten zu identifizieren und die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Es wurde schnell deutlich, dass hier prinzipielle Fragen zur Ausrichtung der Stiftung insgesamt, zur Formulierung einer (übergreifenden) Strategie und zur Governance der Gesamtorganisation auftauchen. Und den systemischen Ansatz: Die Arbeit konzentriert sich auf die Etablierung einer digitalen Kollaborationsstruktur, die zu hierarchiefreier Partizipation einlädt und auf deren Basis Freiräume für ein neues Verständnis von digitalen, agil ausgerichteten Problemlösungsstrategien entsteht. Dazu wurde das Bild des digital gardenings5 von der Idee des guerilla gardening abgeleitet, das die Schaffung von Ermöglichungsräumen in den Vordergrund stellt und Platz schafft für die versteckten kreativen Ansätze in der SPK. Es wurde zum Bild für die Digitalisierung in der Stiftung und versinnbildlichte so das
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Change Management in diesem Themenfeld. Übergreifendes Ziel war dabei, eine grundlegende Wertediskussion in Gang zu setzen. Neben diesen stark auf die Binnenkommunikation in der Stiftung ausgerichteten Aktivitäten identifizierten die CDOs ihre Schwerpunkte außerdem in der Personalentwicklung/-beschaffung, der IT-Infrastruktur, der digitalen Vermittlung und Kommunikation, dem Wissensmanagement und Open Access. Zu den so entstandenen Grundwerten der internen Digitalisierung verabschiedete die Stiftungsleitung 2018 das Digitale Manifest. Der moderierte Verständigungsprozess dahin bildet nun den werte-kompass für die Verortung der SPK im digitalen Raum.6 Ein entscheidender Grundsatz des Manifests ist der explizite Verzicht auf eine Hierarchie zwischen Digitalem und Analogem, ein Grundsatz, der in Folgediskussionen in vielen Veranstaltungen zum Manifest eine wichtige Rolle spielte. Auf dieser Grundlage wurde bei aller Unschärfe der Begriff des digitalen kulturguts eingeführt, an den die überregionale Verantwortung der SPK-Einrichtungen für die dauerhafte Verfügbarkeit dieser Objekte anknüpft. Zugleich bildet es auch ein klares Statement der erweiterten Stiftungsleitung, wonach die Digitalisierung insgesamt eine wesentliche Leitungsaufgabe darstellt und im Bekenntnis zu Open Science als zukunftsleitendes Selbstverständnis kulminiert. Das Manifest selbst folgt den gesetzlich verankerten Aufgaben der Stiftung und transponiert diese in die digitale Welt. Neben grundlegenden Aufgaben formuliert es aber auch, wie die Stiftung in Zukunft die interne Zusammenarbeit und jene mit Partnern gestalten will.7 Eine besondere Herausforderung stellte die Formulierung des Statements zum Open Access dar. Hier spiegelt sich die weite Spanne der Einrichtungen, aber auch der Zwänge, unter denen die Stiftung steht, wenn es etwa um die Refinanzierung der Stiftungsarbeit durch den Verkauf von Lizenzen geht.8 Aufgrund der Dringlichkeit für weitere Klärungen wurde zu diesem Thema eine Arbeitsgruppe gebildet, die einen abgestuften Weg zur schrittweisen Umsetzung des Open Access entwickelte, der sich noch in der Umsetzung befindet. In der sich anschließenden Diskussion über das weitere Vorgehen schlug das CDO-Team die Etablierung von übergreifenden Entscheidungsstrukturen und den Aufbau entsprechender Prozesse vor, um auf diese Weise die Schwerpunkte für Investitionen und neue Aktivitäten identifizieren zu können. Mit der erweiterten Stiftungsleitung wurde in einer mehrstufigen und über viele Monate andauernden Abstimmungsphase die Erarbeitung einer Digitalstrategie eingeleitet, relevante Handlungsfelder definiert und entsprechende Arbeitsgruppen gebildet. Ihre Aufgabe ist es, den Status Quo zu erheben, eine Umfeldanalyse vorzunehmen, eine Sollbeschreibung zu entwickeln und konkrete Handlungsvorschläge zu formulieren. Einige Arbeitsgruppen haben ihre Arbeit inzwischen abgeschlossen bzw. werden nach einer Zusammenführung einzelner Gruppen mit veränderter Ausrichtung fortgeführt. Die Handlungsfelder sind die Digitalisierung analogen Kulturguts, digitale Verwaltung und Bürokommunikation, digitale Angebote für die interne wissenschaftliche Arbeit und für externe fachwissenschaftliche Zielgruppen ausbauen, Open Science sinnvoll erweitern, digitale Kommunikationsformen und Vermittlungskanäle für die Zielgruppen der SPK erweitern und die Infrastruktur zur Erzeugung und Nutzung von Daten verbessern, bessere Schnittstellen für die Präsentation und externe Datennutzung anbieten und die Langzeitverfügbarkeit von Daten sichern. Die
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Zusammenführung der Ergebnisse in einer Digitalstrategie ist nach der Evaluierung durch den Wissenschaftsrat einerseits und einer inzwischen erfolgten Neuausrichtung der Aktivitäten des CDO-Teams anderseits noch offen. Diese Weichenstellung stellt gegenüber der Anfangsplanung eine stärkere Akzentuierung des oben beschriebenen klassischen Ansatzes dar. Die Metapher des digital gardenings hat sich zwar etabliert und wird in Aktionen wie dem digitalen donnerstag, an dem Mitarbeitern nun schon 16 Mal einzelnen digitalen Projekten über die Schulter schauen oder der Konzipierung eines (auch physischen) Erprobungsraums für innovative (digitale) Ideen unter dem Arbeitstitel SPK-werkstatt konkret. Die „genetische“ Essenz dieser Maßnahmen folgt der Idee eines zweiten Netzwerks durch eine armee der freiwilligen jenseits traditioneller Hierarchien – ohne deren Wert zu bezweifeln.9 Eine wichtige Aktivität bezog und bezieht sich – durch die Corona-Pandemie stark befördert und nachgefragt – auf die Evaluierung, Auswahl und Einführung von digitalen Kollaborationswerkzeugen und begleitenden Multiplikatorenfortbildungen sowie auf diverse Beratungsleistungen, zum Beispiel für das Humboldtforum zu Medienstationen, zu Ausschreibungen für neue Vermittlungsformate, zur Langzeitverfügbarkeit digitaler Objekte, zu Normdaten oder auch die Begleitung des NFDI-Prozesses in der Stiftung. Dennoch hat sich der Arbeitsschwerpunkt des CDO-Teams verlagert und konzentrierte sich, zunächst auf die Digitalstrategie als fundierte, fachliche Diskussionsgrundlage klassischer Ausrichtung. Die Idee für neue „Spielregeln“ im Kontext des Veränderungsprozesses Digitalisierung machte die Klärung der Balance zwischen zentralen und dezentralen Aufgaben und Verantwortungsbereichen aus der Perspektive der Stiftungsleitung dringlicher, bestätigt durch die Ergebnisse der Evaluierung durch den Wissenschaftsrat und dessen Hinweisen auf die komplexe Struktur der Stiftung und ihrer inneren Verfasstheit10. Konsolidierungsdruck zur Reorganisation verwaltungsnaher Themen ergab sich außerdem aus einschlägigen Revisionsberichten des Bundesrechnungshofs, aber auch durch konkrete Vorgaben der aufsichtsführenden Behörde für die Stiftung (BKM), und des Stiftungsrates der SPK. Vor dieser Folie wurde das Thema IT-Governance zunächst von der Stiftungsleitung aufgegriffen und dann auch von ihrer Erweiterung forciert, um Verständigungsprozesse zu IT-Fragen neu aufzusetzen und zu verbindlicheren Strukturen und Entscheidungen zu kommen. Sie legte den Schwerpunkt weiterer Aktivitäten auf die IT-Infrastruktur als Handlungsfeld der Stiftung insgesamt, zog zunächst externe Expertise aus dem semi-wirtschaftlichen Umfeld (Fusionierung von Rechenzentrumsdienstleistern von Krankenkassen) hinzu und formulierte daraus mit dem CDO-Team und den Einrichtungen ein Projekt zur Etablierung einer IT-Governance und eines Chief Information Officers (CIO) für die Stiftung. Planerisch in die neue Einheit integriert wurde eine stiftungsweit wirksame hauptamtliche CDO-Position, die aber noch nicht umgesetzt ist. In der Stiftung steht nun die Straffung und der Umbau der bestehenden, verteilten Organisations- und Ressourcenstrukturen im IT-Bereich im Vordergrund. Die Weiterentwicklung der einzelnen Einrichtungen in den digitalen Raum hinein bleibt als Aufgabe dort bestehen. Das tiefgreifende Veränderungsmanagement von Ausrichtung und Wirksamkeit im
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digitalen Raum hat deutlich gemacht, wie dringlich eine stabile IT-Infrastruktur und verlässliche Dienste in diesem Bereich für die Stiftung sind – und damit deren Leistungsfähigkeit auf eine geeignete Grundlage gestellt, die den funktionalen ausbau ihrer Digitalisierung erfolgreicher macht. Jedoch: Schon die Vorstöße im Bereich der Prozessentwicklung hatten gezeigt, dass Veränderungen hier schnell als Risiko erlebt werden, zumal es an der Messbarkeit der unmittelbaren Auswirkungen und deren Bewertung mangelt. Der von den CDO begonnene, auf Offenheit angelegte Prozess ohne vorfestgelegte Planvorgaben und Masterpläne und die damit intendierte systemisch angelegte Veränderung der Organisation ohne verbindlich vorweg formulierte Zielsetzung als best off von Möglichkeiten, erwies sich im Angesicht der Zwänge nach dem Evaluierungsergebnis des Wissenschaftsrats als nicht tragfähig. Dabei spielte sicher auch eine Rolle, dass die Anbindung der CDO an die großen Einrichtungen der SPK immer wieder ein Glaubwürdigkeitsproblem offenbarte: Vertreten der oder die CDO die Interessen ihrer Einrichtung und stecken die Interessen der Stiftung dagegen zurück? Folgende Schlüsse und Hinweise lassen sich bei einer insgesamt positiven Bilanz formulieren: Der Einstieg in ein Veränderungsmanagement bedarf der Absicherung der „Baufreiheit“. Schwierigkeiten beim Aufbau einer Arbeitsstruktur, die fehlende Finanzausstattung, mangelnde Klarheit über die Verantwortungsreichweite, auftretende Konkurrenzen und Unsicherheiten bei den bestehenden Verantwortungsstrukturen beschäftigten das Team bisweilen über Gebühr. Das Wirken des CDO-Teams war andererseits wie gewünscht katalysatorisch: positiv, weil es gelang, eine gemeinsame Wertegrundlage zu formulieren, viele gemeinsam formulierte Akzente zu setzen und neue Initiativen zu starten; herausfordernd, weil Unsicherheiten und unterschiedliche Vorstellungen zur Aufgabenverteilung zwischen Einrichtungen und Stiftungsleitung deutlicher zu Tage traten. Diese werden nun – vor dem Hintergrund der Empfehlungen des Wissenschaftsrates – systematisch geklärt. Die damit aktuell verbundene enge Fokussierung auf die organisatorische Neuordnung der IT-Infrastruktur wird absehbar weiteren Klärungsbedarf zu Verantwortungsstrukturen auch in anderen, bislang an verteilten Stellen erbrachten Leistungen nach sich ziehen. Veränderungsmanagement braucht einen langen Atem und Konzentration. Es ist deutlich geworden, dass verschiedene Faktoren die Arbeit der CDO beschränkten. Diese hatten nicht nur mit konkreten Widerständen in der Stiftung zu tun, sondern oft mit steigendem Druck auf die SPK von außen und mit der Entscheidung, in der bestehenden Systematik organisatorische Lösungen zu suchen, um dem deutlichen Veränderungsdruck zu begegnen. Zugleich lohnt sich im systemischen Sinne die Beschränkung: Ein zu breiter Ansatz verunklart das Vorgehen und wirkt verwirrend. Und auch die Rolle der CDO im Nebenamt hat sich nicht bewährt: Nicht nur Priorisierungskonflikte sind kritisch, sondern auch Vorannahmen zu möglichen Rollenkonflikten der CDO als Diskussionstreiber haben die Arbeit erschwert. Die Digitalisierung ist ein wesentlicher und geeigneter Ausgangspunkt für Veränderung. Der aktuelle Bedarf zur Nutzung digitaler Kollaborationswerkzeuge verstärkt noch Tendenzen zur Auflösung traditioneller Informations- und Kommunikationshierarchien.
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Insofern leben fruchtbare Ansätze weiter, die auf lange Sicht wirken. Als ein konkreter Hebel erweist sich die Mitwirkung der SPK an der nfdi4culture bzw. die Teilnahme an weiteren NFDI-Konsortien, deren Ausrichtung auf die Bedarfslagen von Wissenschaft und Forschung hilft, viele begonnene Arbeitsstränge konkret in Dienste zu überführen.11 Deutlich geworden ist aber auch, dass unterschiedliche Ausgangsbedingungen der autonom agierenden Einrichtungen – in Verbindung mit einem hohen Informationsbedarf zu Strategie und Planungen der jeweils anderen – die Formulierung und Umsetzung gemeinsamer Initiativen erschweren, vor allem dann, wenn der Handlungsrahmen gegenüber der Stiftungsleitung nicht klar genug ist.
1 Überblick mit dem Suchbegriff Profil der SPK, auf: www.preussischer-kulturbesitz.de 2 So bieten Stiftungseinrichtungen im Web über 300 Dienste an, circa 230 Domains werden unterhalten. Viele dieser Angebote sind nicht aktuell, laufen auf veralteten technischen Plattformen und stellen manchmal unter Sicherheitsaspekten bereits ein Risiko dar. 3 Dieses Vorgehen sollte die Umsetzung einer (stiftungsweiten) Online-Strategie ermöglichen, für die der CDO nicht nur Dienste weiterentwickeln, sondern auch ein Arbeitsumfeld mit eigenen personellen Ressourcen verantworten sollte, das neue Ideen aus der Stiftung generiert für Marketing, Öffentlichkeitsarbeit und die oberste Leitungsebene mit der Stiftungsleitung und der Leitung der Institutionen. Angedacht war außerdem die Schaffung eines Chief Information Officers (CIO), der mit dem CDO die technisch-operative Umsetzung und die Verfügbarkeit der entsprechenden Infrastruktur sicherstellt. 4 Im Klärungsprozess mit der Stiftungsleitung wurde deutlich, dass die Einrichtung der CDO-Position als eigene Position aus Ressourcengründen nicht leistbar war; daher wurde entschieden, die Position nebenamtlich zu besetzen und aufzuteilen; neben dem Autor wurde daher die Ständige Vertreterin des Generaldirektors der Staatlichen Museen, Frau Prof. Dr. Christina Haak eingesetzt. 5 www.pausanio.com/kolumne/digital-gardening 6 Die Entscheidung, diesen Prozess als Top-down-Aktivität der Leitungsebene durchzuführen, hat zu nachvollziehbarer Kritik geführt. Auch deshalb wurde das Manifest in vielen Veranstaltungen in der Stiftung vorgestellt und diskutiert; die Möglichkeit zu Änderungen wurde eröffnet. Die Aufnahme war überwiegend positiv, zahlreiche Anregungen und weiterführende Überlegun gen für Projekte entstanden. 7 Das Manifest benennt – nach einer grundlegenden Präambel zum Selbstverständnis - folgende Punkte: Sammeln, Bewahren und Langzeitverfügbarkeit, Wissenschaft und Forschungsinfrastruktur, Vermitteln, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Standards, Open Access, Teilhabe, Kooperation, Technologiemanagement, Fortentwicklung, Ziele und Lernen. Das Manifest wurde im September 2018 verabschiedet und Mitte 2019 veröffentlicht. Es wird flankiert von einer Übersicht zu den vielfältigen Aktivi täten der Stiftungseinrichtungen im digitalen Raum. Das Manifest ist einsehbar auf: www.preussischer-kulturbesitz.de 8 So sind die Bildagentur Preußischer Kulturbesitz als Abteilung der Staatsbibliothek und mit ihr das Bildarchiv sowie die Gips formerei der Staatlichen Museen zur Selbstfinanzierung aus Einnahmen verpflichtet. 9 Vgl. Kotter, John P. (1996): Leading Change, Boston 10 www.wissenschaftsrat.de 11 www.nfdi4culture.de
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GEDEIHEN IN DER DIGITALEN WELT COSMINA BERTA
Cosmina Berta studierte Betriebswirtschaftslehre und schloss nach dem Diplomabschluss in Industriewirtschaft ein MBA-Studium ab. Sie arbeitete für die central and eastern online library, wo sie sich um Partnerakquise und Lieferungen an Europeana kümmerte. Seit Juli 2013 ist sie für die Deutsche Digitale Bibliothek in der Servicestelle und im Metadatenmanagement tätig, wo sie das Projekt verbesserung der qualität der metadaten und der prozesse der verarbeitung in der DDB leitet. Cosmina Berta ist seit November 2020 auch Mitglied des Europeana Members Council.
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2020 war ein Jahr der Herausforderungen. Ein anstrengendes Jahr für jeden von uns, eine Zeit der Sorge aber auch des Lernens – eine Lektion, die wir hoffentlich gelernt haben, ist, dass die digitale Kluft tiefer ist, als wir dachten. Wenn es also eine Zeit gab, digitale Diskrepanzen zu überbrücken, war diese Zeit jene der Pandemie.
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s wurde oft gesagt, dass wir uns mitten in der 4. industriellen Revolution befinden. Digitale Technologien üben eine transformative Kraft aus, wie sie seit über einem Jahrhundert nicht mehr gesehen wurde. Dies bringt sicherlich Herausforderungen mit sich, bietet aber auch enorme Chancen für unsere Wirtschaft und Gesellschaft.“1 Ich stimme hier Mariya Gabriel, der EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend, zu. In einem Gespräch mit Europeana reflektiert sie, dass die Krise, wenn sie offen und innovativ angegangen wird, nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance für den Kultursektor darstellt, um die digitale Transformation erheblich zu beschleunigen. Sie sagt: „In den letzten Monaten habe ich gesehen, dass wir einerseits über außergewöhnliche Mobilisierungs- und Kreativitätskapazitäten verfügen, andererseits aber werden Ressourcen, gezielte Investitionen und größere Unterstützung in kritischen Momenten benötigt.“ Die Frage, die sich hier also stellt, ist: Wie gut sind wir für Veränderungen gerüstet? Kultur hat einen inneren Wert und erfordert stetiges Engagement in Bezug auf Gesetzgebung, Finanzierung und interkulturelle Zusammenarbeit – darüber sind sich alle, die an der Entwicklung des kulturellen Erbes beteiligt sind, weitgehend einig. Dies ist auch eine der Prioritäten Deutschlands während es die Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union inne hat. Die Präsidentschaft legt den Rahmen für die Unterstützung der Kultur in dieser Zeit fest und betont auch die Notwendigkeit, den von der Pandemie besonders betroffenen Kultursektor wirksamer zu unterstützen. Das ist sehr ermutigend, aber wie sieht die Situation aus, wenn wir genauer hinschauen? Das digitale Erbe spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines tieferen Verständnisses für uns selbst und füreinander und kann dazu beitragen, eine boomende Kreativwirtschaft anzukurbeln. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn die Kulturobjekte unter geeigneten Lizenzbedingungen digital verfügbar sind und mithilfe standardisierter Metadaten aufgefunden werden können. Jedoch: Laut einer Umfrage von Enumerate aus dem Jahr 2015 wurden 90 Prozent des europäischen Kulturerbes noch nicht digitalisiert. Wie gehen wir mit diesem riesigen Prozentsatz um? Wer und was kann helfen? Lassen Sie uns über zwei Akteurinnen im Bereich des digitalen Kulturerbes sprechen: Europeana und die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB). Europeana ist das Ergebnis einer inspirierenden Idee, die die Schaffung einer virtuellen europäischen Bibliothek forderte, um das kulturelle Erbe Europas für alle zugänglicher zu machen. Sie wurde in einem gemeinsamen Brief von sechs Staatsoberhäuptern am 28. April 2005 dem Präsidenten der Europäischen Kommission vorgestellt. Der Brief trug dazu bei, die Arbeit zu unterstützen, die die Direktion für Informationsgesellschaft und Medien der Europäischen Kommission bereits in den letzten zehn Jahren durchgeführt hatte, wie das Projekt telematics for libraries. Heute befähigt Europeana
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Kulturerbe-Einrichtungen, ihre Sammlungen in digitaler Form jeder Person zugänglich zu machen. Die Idee ist Realität geworden. 58 Millionen Kulturobjekte von rund 4.000 Institutionen aus ganz Europa sind inzwischen über Europeana verfügbar. Aber diese Zahlen allein erzählen nicht die ganze Geschichte. Das wichtigste Ergebnis ist die Einführung von Strategien und Standards, die sich im Einklang mit den EU-Richtlinien entwickeln und die europaweite Angleichung der Digitalisierung des kulturellen Erbes ermöglichen. Die oberste Priorität innerhalb der Strategie für die Jahre 2015 bis 2020 war die Verbesserung der Datenqualität, welche vor allem demonstriert, warum die Plattform Europeana mehr ist als Google, mehr als Flickr und mehr als Pinterest. Dabei ist der wichtigste Unterschied, dass erstere Originalmaterial anbieten, das von Branchenexpert*innen authentifiziert und kuratiert wird. Sie sind so viel mehr als eine Suchmaschine! Sie sind zuverlässige und vertrauenswürdige Quellen, insbesondere in Bezug auf die Lizenzierung der Inhalte. Und was ist die Priorität von Europeana bis 2025? Die erste Priorität ist die Stärkung der Infrastruktur. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Schwächen in der technischen Struktur korrigiert werden und Institutionen durch Innovationen und neue Technologien ihre Sammlungen problemlos über Europeana teilen können. Dies wurde bereits vor der Covid-Krise beschlossen, und natürlich bleibt diese Priorität weiterhin bestehen. Aber was kommt jetzt, in den Coronazeiten, noch hinzu? Europeana hat einen Bericht in Auftrag gegeben, um zu verstehen, wie sich die Krise auf den Kultursektor auswirkt und wie man neue Perspektiven und Ideen einbezieht und welche Schritte Europeana in der kurzfristigen Zukunft unternehmen kann.2 Dieser konstatiert mit Blick auf die fünf relevanten Perspektiven Individuum, Organisation, Netzwerk, Sektor und Gesellschaft: „Wenn wir uns darauf konzentrieren, persönliche Fähigkeiten und Selbstvertrauen aufzubauen, passiert das im Rahmen einer Organisation. Diese wiederum wird von Netzwerken beeinflusst – seien es kleinere, informelle Gruppierungen im GlamBereich […] oder größere formale Netzwerke wie Europeana […]. Diese Netzwerke schließlich operieren innerhalb eines Kultursektors und unterstützen diesen, was dann noch im breiteren gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss.“ Das EuropeanaÖkosystem selbst baut auf einem Netzwerk nationaler und thematischer Aggregatoren auf, deren Hauptziel die Unterstützung kultureller Institutionen und der Zugang zu authentischen, vertrauenswürdigen und stabilen Daten und Inhalten ist. Diese Arbeit umfasst zwei Bereiche: Zum einen geht es um die Verarbeitung und Bereitstellung von Inhalten für Europeana, auf der anderen Seite um die Zusammenarbeit mit Inhaltsanbietern, die die Qualität der Daten und Dokumentationen an der Quelle verbessern und so die Datenqualität nachhaltig beeinflussen. So kommen wir zur Rolle der DDB, die ursprünglich als nationaler Aggregator für Europeana eingerichtet wurde. Sie arbeitet eng mit Hunderten von kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen zusammen, um authentische und vor allem vertrauenswürdige Daten zu sammeln und auf ihrer eigenen Online-Plattform3 sowie auf Europeana der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zusammen mit anderen Aggregatoren trägt die DDB damit aktiv zur Gestaltung von Europeana bei und bietet, als wichtige Quelle
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digitalen Fachwissens, ihren Datenpartnern, Europeana und anderen Aggregatoren fachkundige Unterstützung, wodurch sie schließlich auch die Synergien konstruktiv nutzen kann, die sich aus dieser Zusammenarbeit ergeben. Von Anfang an war die DDB damit ein wichtiger Partner von Europeana und wirkte bei der Gestaltung des aggregator forums4 mit. Sie nimmt aktiv am europeana management board5, members‘ council und nicht zuletzt an vielen Expert*innen-Task-Forces und Arbeitsgruppen teil. Das jüngste derartiger Gemeinschaftsprojekte war das europeana common culture (ECC)6, innerhalb dessen sich die DDB an der Erstellung eines Pilotprojekts beteiligte, um damit die Effizienz der Datenworkflows zwischen Aggregatoren und Europeana zu steigern: Dieser Pilot ermöglichte die Prüfung der Daten vor der Weitergabe an Europeana auf Qualität und Gültigkeit – der gesamte Prozess war dadurch zeitlich nahezu halbiert! Nachdem dieses Projekt von den DDB-Fachstellen und den an der ECC beteiligten Aggregatoren mit großem Erfolg getestet wurde, soll es nun innerhalb anderer Projekte weiterentwickelt und ausgedehnt werden. Dadurch steigerten sich auch Qualität und Quantität der Inhalt und Metadaten, die Europeana von der DDB zur Verfügung gestellt bekam: Die Güte der Digitalisate und Lizenzierung der digitalisierten Objekte, die Anreicherung der Metadaten, die Entwicklung und der Aufbau der Infrastruktur bis hin zur Verbesserung des technischen Metadaten-Mapping-Prozesses. Auch die Anzahl der Objekte, die die DDB Europeana zur Verfügung gestellt hat, hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt – von 1,3 Millionen Objekte auf 3 Millionen. Es ist das Ergebnis einer besonders intensiven Arbeit seitens der DDB, der DDB-Fachstellen und des FIZ Karlsruhe, technischer Anbieter der DDB. Ich möchte an dieser Stelle besonders die Bedeutung der Metadatenqualität für Unternehmungen wie Europeana und DDB hervorheben – es gibt einen guten Grund, warum diese für beide in ihren jeweiligen Strategien eine hohe Priorität hat: Natürlich ist die Qualität der Metadaten für die Auffindbarkeit von digitalen Objekte von zentraler Bedeutung, aber die größte Herausforderung besteht darin, die Heterogenität der Daten, die die DDB von den Kultur- und Wissenseinrichtungen bekommt, zu überwinden. In der Tat ist Heterogenität ein Wort, das die DDB am besten charakterisiert – wir haben ein heterogenes Publikum (von den beteiligten Institutionen selber bis zu Student*innen, Forscher*innen und Kreativen) und wir haben heterogene Datenpartner aus allen Kulturbereichen, die uns heterogene Daten liefern. Die Konsolidierung dieser heterogenen Daten und ihr Mapping auf das DDB-interne Format (DDB-EDM) ohne Qualitätsverlust, das ist ein technisches Kunstwerk, das Tausende von Arbeitsstunden in Anspruch nimmt und dessen Aufwand nur wenigen bekannt ist. Am Anfang habe ich über die digitale Diskrepanz gesprochen und ich komme auf zwei der Empfehlungen im Culture24-Bericht zurück. Unter den „Empfehlungen für Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene“ subsummieren die Autor*innen: „Verbesserung des Zugangs – Verständnis und Umsetzung der Verantwortlichkeiten von glams bei der Bewältigung der technischen und sozialen Hindernisse, die die digitale Kluft ausmachen.“ Die Empfehlungen auf persönlicher Ebene: „Seien Sie ein Agent des Wandels – wo immer Sie sich in Ihrem Unternehmen befinden, können Sie digitale Fähigkeiten und Kapazitäten aufbauen und Veränderungen ankurbeln.“ Ich ziehe diese Schleife, da die DDB genau
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dies in ihrem neuen Projekt neustart kultur plant, bei dem der Fokus auf den Benutzer*innen liegt. Da es bei der Überbrückung der digitalen Kluft nicht nur darum geht, Datenworkflows und den Betrieb der KWEs aufzubauen oder darum, die Technologie zu verbessern. Es geht auch – oder in erster Linie – um Denkweisen, um Menschen und um Fähigkeiten. Reaktionsfähigkeit ist eine wichtige Eigenschaft, wenn wir belastbar sein wollen. Und genau das ist das Ziel des neuen Projekts der DDB, bei dem Nutzer sowie kulturelle und wissenschaftliche Organisationen im Mittelpunkt einer Aktion zur Überbrückung der digitalen Kluft stehen. Neustart Kultur möchte eine Lektion sein, die wir in einer Welt gelernt haben, in der wir eine neue Realität gestalten wollen, da wir – und der gesamte Kultursektor – die Krise neu organisieren, anpassen und als Gelegenheit nutzen. Die Deutsche Digitale Bibliothek erhält für ihr Projekt „Nutzerorientierte Neustrukturierung der Deutschen Digitalen Bibliothek“ Mittel des Förderprogrammes neustart kultur der Bundesregierung. Damit soll das Nutzungserlebnis für alle Nutzer*innen intuitiv und auf unterschiedliche Bedürfnisse abgestimmt, gestaltet werden. Neue Formate und Medien für eine interaktive Teilhabe und partizipative Kulturvermittlung stehen im Vordergrund. Gleichzeitig werden die Partnerinstitutionen der Deutschen Digitalen Bibliothek mit Mitteln bei der Digitalisierung ihrer Bestände unterstützt. Kulturstaatsministerin Monika Grütters erklärt: „Wir wollen die DDB als die zentrale digitale Plattform stärken, die frei von wirtschaftlichen Interessen Bestände vieler Kultur- und Wissenseinrichtungen aus ganz Deutschland online zugänglich macht. Einfache Handhabung, ansprechendes Design, partizipative Elemente – das sind die Schlüsselfaktoren, damit möglichst viele Menschen diese Informationen auch regelmäßig nutzen. Das neue Programm soll der DDB helfen, wichtigen Zielgruppen, beispielsweise Jugendlichen oder Lehrkräften, ein noch attraktiveres Angebot zu machen.“ Interaktive Teilhabe und Orientierung in der Sammlungsvielfalt: Um Objekte und Sammlungen und ihre vielfältigen Inhalte für Nutzer*innen verständlicher zu machen, werden leicht bedien- und rezipierbare Angebote zur Kulturvermittlung entwickelt, die interaktive Teilhabe und Orientierung in der Vielfalt des Kulturgutes ermöglichen. So sollen die vorhandenen Informationen mit vielfältigen redaktionellen und partizipativen Elementen angereichert und unterschiedliche Medienformate entwickelt werden. Bezüge zwischen Objekten und Sammlungen ermöglichen zukünftig neue Einstiege in das Portal. Es soll neu strukturiert werden und beispielsweise einen navigierenden Zugang zu geographischer Herkunft, Entstehungszeitraum, Objektgattung und -material anbieten. Das im Herbst 2019 erfolgreich gestartete Projekt ‚Virtuelle Ausstellungen‘, mit dem Partner der Deutschen Digitalen Bibliothek ihre Bestände selbstständig kuratieren, wird weiter ausgebaut. Vernetzungsprojekte – Partizipative Kulturvermittlung: Schulen, Universitäten, Kulturinteressierte sowie kleine und diverse Institutionen werden zu Kooperationsprojekten eingeladen. So soll ein partizipatives Kuratierungstool für Lehre und Jugendarbeit entstehen, mit dem Jugendliche in Eigenregie digitale Sammlungen gestalten können. Gemeinsam mit Lehrkräften für Universitäten und Hochschulen sollen Anwendungen mit digitalem Kulturgut zur Vorbereitung von Vorlesungen und Seminaren entstehen. Aber auch
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für kleinere, oft von ehrenamtlichen Engagement getragene Kultureinrichtungen, werden Projekte für die breite Nutzung des kulturellen digitalen Erbes durchgeführt. Digitalisierung – finanzielle Förderung für Partnereinrichtungen der Deutschen Digitalen Bibliothek: Wesentlicher Inhalt des Projektes ist es, die Kooperationspartner der Deutschen Digitalen Bibliothek bei der Sichtbarmachung ihrer Bestände und Sammlungen stärker als bisher zu unterstützen. Damit Partnereinrichtungen zukünftig mit ihren Inhalten das reichhaltige Panorama des in der Deutschen Digitalen Bildung verfügbaren Kulturerbes noch attraktiver abbilden können, wird ein Förderverfahren zur Digitalisierung von Kulturgut aufgelegt: Dabei stehen rechtefreie und hochaufgelöste Objekte, die Highlights von Sammlungen oder Einrichtungen interaktiv erlebbar machen, im Vordergrund. Für registrierte Einrichtungen der Deutschen Digitalen Bibliothek dürfte dieser Projektbestandteil besonders interessant sein, weil neben der Digitalisierung auch die Anreicherung der Metadaten ebenso wie die Unterstützung beim Projektmanagement, bei der Qualitätskontrolle und beim Hosting der Digitalisate angeboten wird. Es wird oft die Meinung geäußert, dass der Kultursektor – im Gegensatz zu den großen Software-Unternehmen zum Beispiel – im Kern nicht flexibel, sondern konservativ sei, weil er sich auf die langzeitige Erhaltung konzentriere. Um in der digitalen Welt und in der neuen „Post-Covid-Realität“ nicht nur zu überleben, sondern auch zu gedeihen, muss die Kulturwelt die digitale Kluft überwinden, Kapazitäten aufbauen und ein positives digitales Verhalten modellieren, um eine reife Beziehung zu ihrem Publikum aufzubauen. Und jede Änderung beginnt damit, dass jemand sagt: „Wir könnten auch versuchen, zu…“
1 Zitate aus dem Europeana makesense Workshop: Digital transformation in the time of COVID-19, durchgeführt von Culture24, Juni–Juli 2020, auf: www.pro.europeana.eu 2 Den Bericht hat Culture24 in enger Zusammenarbeit mit Europeana und 64 Teilnehmern aus 22 Ländern im Juli 2020 erstellt. 3 www.deutsche-digitale-bibliothek.de 4 www.pro.europeana.eu/page/aggregators 5 www.pro.europeana.eu/post/introducing-europeana-network-association-s-2019-2021-management-board 6 Das Projekt lief vom 01.01.2019 – 31.12.2020 mit ambitionierten Zielen, wenn es heißt, die gemeinsame Aggregationsinfrastruktur harmonisieren und gemeinsame und harmonisierte Standards, Richtlinien und technische Anweisungen entwickeln zu wollen. Weiter heißt es im Selbstverständnis des Projekts: „Die teilnehmenden Nationalen Aggregatoren (NAs) der Europeana Common Culture (ECC) werden dafür sorgen, dass die Daten sich zur (Wieder-)Verwendung für Endnutzer, Pädagogen, Forscher und kreative Fachkräfte eignen. Die Hauptaktivitäten bestehen auch darin, mehr als 1,5 Millionen neue Objekte zur Verfügung zu stellen, das Bewusstsein für Europeana zu schärfen und die Grundlage für langfristige Nachhaltigkeit zu schaffen.“
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IM NORDEN WAS NEUES
INTERVIEW MIT CHRISTIAN PFROMM
Christian Pfromm ist Chief Digital Officer für Hamburg. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker ist nach Stationen als Projekt- und Programmleiter bei namhaften Banken seit 2011 Bereichsleiter der IT-Abteilung der BHF-BANK und dort verantwortlich für die Neuausrichtung der IT. Seit 2018 verantwortet er den Ausbau Hamburgs zur digitalen Stadt und die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung.
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Wirtschaft, Innovation, Medien, Kultur, Politik, Wissenschaft… Sie möchten die Digitalisierung dieser Bereiche erlebbar machen – wie können wir uns das Ergebnis vorstellen? Mir geht es darum, dass wir die Digitalisierung noch mehr aus der Sicht der Nutzer und Nutzerinnen betrachten. Mit der „Digitalstrategie für Hamburg“ haben wir eine Grundlage geschaffen, mit der wir beispielsweise das Silodenken überwinden und zu übergreifenden Ansätzen kommen. Hier zeichnet sich das „Erlebbarmachen“ ab, denn es beginnt für mich mit dem Zusammenbringen von Menschen und unterschiedlichen Disziplinen – hier passiert etwas. Digitalisierung und Kollektivität – wo sehen Sie hier Zusammenhänge? Insbesondere in der Pandemie-Situation hat sich gezeigt, dass Digitalisierung Menschen verbinden und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken kann. Ich denke da an die ganzen tollen, digitalen Kulturangebote, die innerhalb kürzester Zeit entstanden sind. Deutlich wird dies am banalen Beispiel der Fülle an Daten, die im Grunde der Gesellschaft gehören und ihr zunutze sein sollten. Bewegungsdaten werden erfasst und in real time ausgewertet, um den Verkehr sinnvoll für alle zu steuern. Dies hat auch Grenzen, die wir gemeinsam ausloten müssen und die unter dem Begriff Daten-Souveränität deutlich an Relevanz gewinnen. In Hamburg hat die Pandemie dazu geführt, dass Ämter und Behörden sich längst überfälligen strukturellen Modernisierungsmaßnahmen angenommen haben. Wo profitiert die Hamburger Bevölkerung noch von dieser Entwicklung? Die Hamburger Verwaltung zeigt eindrucksvoll, dass sie handlungsfähig ist und der Gesellschaft die nötige Stabilität gibt, die in solchen Krisen unerlässlich ist. Einmal mehr tritt die Verwaltung aus ihrem Schatten und zeigt sich agil und innovativ. Es ist unser Anspruch, die Bürgerinnen und Bürger der Stadt als glaubwürdige und zuverlässige Partnerin durch diese Herausforderungen zu bringen. Mein Wunsch wäre ein nahezu „kontaktloser“ Ansatz, in dem die Verwaltung proaktiv mit Bürgern und Bürgerinnen in den Dialog tritt, also push statt pull. Dem gegenüber hing Deutschland den globalen Fortschritten technischer Transformation bislang hinterher; woran liegt das ihrer Ansicht nach und wird sich das nun ändern? Ich nehme es nicht so wahr, dass Deutschland den technischen Fortschritt verpasst. In vielen Bereichen und da möchte ich ausdrücklich das Gesundheitswesen nennen, liegen wir vorn. Ein wichtiger Aspekt sind sicherlich auch die Chancen, die sich durch die Digitalisierung in Bezug auf Klimaschutz ergeben. Es macht Sinn, dass der Weltkongress intelligent transport systems 2021 in Hamburg stattfindet und wir gemeinsame Lösungen für klimaschonende Mobilität diskutieren werden. Hamburg hat 2021 den Vorsitz des IT-Planungsrates inne, der die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in Fragen der Informationstechnik koordiniert. Hamburg ist, wenn man Studien und Wettbewerben trauen darf, in der Digitalisierung Vorreiterin und wird die Zeit nutzen, um Impulse zu setzen.
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Was ist unter dem digital-tag zu verstehen und in welchem personellen Kontext ist dieses Konzept entstanden? Bei uns ist jeder Tag digital-tag, aber am 18. Juni 2021 setzen wir, an der Seite des Bundes, der Länder und verschiedener Institutionen, beim bundesweiten digital-tag ein Zeichen. Es ist wichtig, dass wir für eine Sichtbarkeit der Digitalisierung gemeinsam werben und niemanden ausgrenzen, alle sind eingeladen und sollten sich einbringen. Wie sieht Ihre Idee einer „digitalen Stadt“ aus, zu der Sie in Ihrer Funktion als Leiter des Amtes für IT und Digitalisierung der Senatskanzlei Hamburg ja machen wollen? Die Impulse für die Digitale Stadt kommen aus der Gesellschaft und wir nehmen diese Impulse auf, modellieren sie in dem Kontext einer modernen und innovativen Metropole. Die Lebensqualität der Bürger und Bürgerinnen steht ebenso im Mittelpunkt, wie die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Hamburg. Wenn es eine Aufgabe gibt, die mich reizt und für mich auch ein Zurückgeben ist, dann ist es diese: den Ansprüchen einer dynamischen Gesellschaft mit einer agilen und serviceorientierten Verwaltung zu begegnen. Inwiefern würden Sie sagen, dass eine „digitale Stadt“ lebenswerter ist als eine „analoge“? Wir erinnern uns alle an Steve Jobs, der mit einer Leichtigkeit über das Display eines ersten Smartphones gewischt hat. Es ist auch diese Leichtigkeit, die für „lebenswert“ steht. Die Gesellschaft wünscht sich fluide Strukturen, losgelöst von Zeit und Raum, bedeutet, es ist egal, wann ich beispielsweise Konzertkarten kaufe – ich stehe gerade davor und mir ist nach einem Museumsbesuch, also benutze ich mein Handy als Eintrittskarte. Auf den Raum bezogen, Navigation kann einem doch auch ein Guide sein, wenn man beispielsweise vor dem Hamburger Rathaus steht und historische Daten auf dem Handy erscheinen.
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KONTEMPLATION UND TATENDRANG WIE SICH MUSEEN NEU ERFINDEN
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eCULTURE. UND KEINE ALTERNATIVE GUIDO FACKLER
Prof. Dr. Guido Fackler ist Leiter der Professur für Museologie an der Universität Würzburg. Nach seinem Studium der Volkskunde, Musikwissenschaft und Völkerkunde in Freiburg (Mag. Phil 1991) begann er ein Volontariat am Badischen Landesmuseum Karlsruhe und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde an den Universitäten Regensburg und Würzburg. Ab 2010 folgte dort der Aufbau der Museologie. Seine Schwerpunkte sind Museumswissenschaft, Ausstellen, Publikumsforschung, Landschaft/Kanalwesen (Habilitation 2011) und Musik im NS-Lagersystem (Promotion 2000).
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Erst spät entwickelte sich die Digitalisierung im Museumsbereich zum grundlegenden Paradigmenwechsel. Zwar beschäftigen sich Museen schon länger mit der Schaffung digitaler Angebote, doch eher projektbezogen. Die Frage ist: Wie lassen sich die notwendigen Kompetenzen aufbauen und wie setzt man digitale Medien in physischen Ausstellungen erfolgreich ein?
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in Blick in die Geschichte zeigt, dass Museen die Digitalisierung schon seit längerem einläuten: vom EDV-Einsatz für Büro- und Verwaltungstätigkeiten über die computerbasierte Inventarisierung, Homepages, Blogs und Social Media bis zum Einzug digitaler Medien in Dauer- und Sonderausstellungen. Um die Jahrtausendwende kam es durch Online-Sammlungspräsentationen und virtuelle Museen sogar zu einer Ausweitung des musealen Raums ins Virtuelle. Doch wurde die Digitalisierung eher projektbezogen und als neue Technologie betrachtet. Auch museologisch sah man das „virtuelle außerhalb des Realen, wenn es ihm nicht gar diametral entgegengesetzt“ und lange wurde das „Auftauchen von Medien im Museumsraum [als] Sonderfall und Ausnahmezustand“ verstanden.1 Vergegenwärtigt man sich nun die Entwicklung, die sich durch die Corona-Pandemie beschleunigt, hält die Digitalisierung schon heute viele Angebote für Besucher*innen bereit: vor, bei und nach dem Museumsbesuch. Und so wie die Digitalisierung unser aller Alltag zunehmend durchdringt und unsere kulturellen Praktiken massiv verändert hat, evoziert sie für Museen einen fundamentalen Paradigmenwechsel und erfordert als Querschnittsdimension eine „ganzheitliche Herangehensweise“2. Allerdings fällt es vielen Häusern nicht immer leicht, diesen Wandel nachzuvollziehen: „Ja, die Digitalisierung nervt. Sich gerade als Alteingesessener […] aufs Neue anhören zu müssen, dass man sein Geschäftsmodell grundlegend überdenken muss, ist ermüdend. Doch eine Alternative dazu gibt es nicht.“3 Wie also können Museen angesichts knapper Ressourcen digitale Kompetenzen aufbauen? Meist ist die Rede von einer übergreifenden digitalen Strategie als „grundsätzliche, langfristige und nachhaltige […] Querschnittsaufgabe“, die in unterschiedlicher Intensität alle Bereiche eines Museums und die digital aktiven Museumsbesucher*innen betrifft sowie im Leitbild verankert ist.4 In ihr werden, am besten plattformübergreifend, „alle mit digitalen Angeboten verknüpften Strukturen, Maßnahmen, Ressourcen, Kompetenzen und Wertigkeiten, aber auch deren Kosten und Nutzen, definiert, kontrolliert und in ein optimales Miteinander geführt“, heißt es dazu in dem Band das erweiterte museum.5 Neben einer Bestandsaufnahme sind konkrete Ziele und Visionen zu benennen und umzusetzen, aber auch die „Entwicklung einer eigenen Medienkompetenz und Data Literacy im Haus“ aufzubauen, braucht es „mehr digitale Kompetenz und Professionalität in der Organisation, Steuerung und Lenkung der Kultureinrichtungen“.6 In jedem Fall verändert die digitale Transformation ein Museum und diverse Leitfäden unterstützen diesen Prozess.7 Zugleich bedarf es mit dem Medienwissenschaftler Dennis Niewerth dringend einer „Grundsatzdiskussion über Digitalisierung und Virtualisierung“,8 die sich kritisch mit Erkenntnissen der Digital Humanities wie der Medien-, Kommunikations- und Informationswissenschaften, aber auch mit anderen museologischen Paradigmenwechseln auseinandersetzt.
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Was machen jedoch Häuser, die hierfür nicht genügend Ressourcen haben? Damit setzten sich 2019 der Museumsverband Sachsen-Anhalt und die Hochschule Harz auseinander. Pragmatisch rieten sie insgesamt von einem „allumfassenden 10-Jahres-Plan“ ab: Stattdessen könne man „kleinere Projekte mit überschaubaren Aufgaben und Zielvorstellungen definieren (z.B. den Aufbau einer Präsenz auf einer Social Media-Plattform oder die Digitalisierung von 100 Exponaten für museum-digital), diese ohne eine allzu umfangreiche Vorplanung starten, wertvolle Praxiserfahrungen sammeln, die Ergebnisse regelmäßig evaluieren und die Vorhaben entsprechend fortführen, neu gestalten oder wieder einstellen.“9 Überdies sei es trotz eventueller Fördermittel ratsamer, die Digitalisierung nicht über outsourcing einzukaufen, sondern sie selbst anzugehen, um eine nachhaltige und zum Haus passende Vorgehensweise zu entwickeln. Um dem Digitalisierungsdruck konstruktiv zu begegnen, kann man dabei auch das Wissen von Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen nutzen. Freilich ist zu bedenken, dass Museen im digitalen Raum oft „keine Deutungs- und Kommunikationshoheit mehr besitzen“ und die Vorgaben kommunaler Träger vielerlei Beschränkungen mit sich bringen können.10 Bevor man die Digitalisierung „aussitzt“ ist es daher besser, sich ihr mit kleinen Schritten im Rahmen seiner Möglichkeiten zu nähern. Wie sieht es nun mit der eCulture in jenem Arbeitsbereich von Museen mit der größten Publicity aus? Ohne „selbst Museumsdinge zu sein“, ergänzen digitale Medien in physischen Ausstellungen hier schon seit Jahrzehnten zunehmend das „Präsentationsgefüge“.11 Den Blick für den inhaltlichen, didaktischen und gestalterischen Mehrwert digitaler Medien schärft die Differenzierung hinsichtlich ihrer Funktion: ob sie lediglich allgemeine Auskünfte liefern, materielle Exponate oder Objekte erläutern, davon unabhängige Bedeutungsträger darstellen oder Teil der Gestaltung physischer Ausstellungsräume sind.12 So gibt es objektunabhängige informationssysteme wie Homepages, Social Media, Videostationen oder Infoterminals. Dazu zählen mediale Anwendungen, die unabhängig von einem konkreten Exponat zur Kommunikation mit Besucher*innen eingesetzt werden. Sie beinhalten allgemeine Besuchsinformationen, indem sie eine inhaltliche Einführung geben oder durch die Ausstellung leiten. Auch informationsträger zu objekten wie Audio-/Media-Guides, Infoterminals, Touchmonitore, Multi-Touch-Tables oder Medieninstallationen geben digitale Zusatzinformationen und bieten gegebenenfalls individuelle Vertiefungsebenen in unmittelbarem Zusammenhang zu den Exponaten oder zugehörigen, aber deponierten Objekten: Sie bringen diese zum „Sprechen“, veranschaulichen und erläutern sie mit Blick auf ihre Geschichte, Funktionalität, Materialität, Gebrauch, Produktion, Eigentümer oder diverse Kontexte und richten sich an alle Besucher*innen oder spezifische Zielgruppen wie Kinder, Anderssprachige, Gehörlose et cetera. Aufwendige Medieninstallationen wie Hör-, Film-, Tast- und Geruchsinstallationen stellen komplexe Zusammenhänge dar, die allein durch Objekte nicht oder nur schwer zu vermitteln sind und repräsentieren diese emotional-sinnlich. Dann gibt es die objekt unabhängigen, autonomen bedeutungsträger. Digitale Medien werden zu eigenständigen Bedeutungsträgern, wenn sie unabhängig und an Stelle zu kleiner oder zu großer, fehlender oder unvollständiger Objekte Informationen transportieren und als „künstlerische Formen mit Eigenwert“ den Charakter eines Exponats erlangen
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können.13 Hierbei steht die „Medieninformation“ im Vordergrund, wobei Stefan Iglhaut unterscheidet zwischen „Modellen“ und „Substituten“ wie Animationen, Simulationen oder den Darstellungen technischer Vorgänge und Medien mit dokumentarischen Funktionen und Qualitäten, etwa audiovisuelle Medien mit Bild-/Tonaufnahmen oder filmische Darstellungen historischer Ereignisse.14 Schließlich können digitale Medien auch Teil der ausstellungsgestaltung sein, wie zum Beispiel bei AV-Medieninstallationen. Solch „immersive Medieninstallationen und Medienräume“ dienen – oft mittels Projektionen – primär der Ausstellungsgestaltung und -dramaturgie: Als „mediale Erzählungen“ können sie unabhängig von Objekten sein und sogar einen „lebendigen Kontrast“ zu diesen generieren.15 Digitale Medien stehen expositorisch also in unterschiedlicher Korrelation zu musealen Inhalten, materiellen Objekten und physischen Räumen. Welche Faktoren machen nun einen gelungenen Medieneinsatz aus und welche Perspektiven sollte die Data Literacy miteinbeziehen? Aus kuratorischer perspektive bleibt festzustellen, dass Museen den Wettlauf um immer spektakulärere Medienangebote gegenüber kommerziellen Freizeiteinrichtungen kaum gewinnen können. Digitale Medien sollten kein Selbstzweck sein, sich nicht in den Vordergrund drängen oder gegenseitig kannibalisieren, sondern reflektiert in das Ausstellungsnarrativ integriert sein, besteht doch „bei schlechter kuratorischer Handhabung zugleich das Risiko, dass Ausstellungsräume zu reinen Projektionsflächen für Medientechnologien verkommen, gegen deren hyperreale Erlebnisqualität sich die eigentlichen Exponate nicht mehr behaupten können.“16 Werden digitale Medien mit ihrem kognitiven und affektiven Potential medienspezifisch eingesetzt, bieten sie gegenüber klassischen Ausstellungstexten erweiterte Möglichkeiten: (inter)aktive Beteiligung, Kommunikation mit und zwischen Besucher*innen, Kontextualisierung und multiperspektivische Aufbereitung der Exponate, Langzeitverfügbarkeit und individuelle Vertiefung von Informationen (multimediale Kiosksysteme), Verknüpfung getrennter Objekte, Veranschaulichung geographischer und zeitlicher Entwicklungen, Vernetzung mit anderen Einrichtungen, Visualisierung immaterieller Themen, zeit- und ortsunabhängiger Zugriff auf die Ressourcen eines Museums.17 Entscheidend ist, ob der Dialog zwischen Medium und Exponat gelingt und sich Verweildauer und Envolvement verbessern. Im Hinblick auf den sozialen Austausch können digitale Medien aber auch ablenken und isolieren, insbesondere bei Geräten, die man alleine oder nur mit wenigen Personen bedient: Hier kann man Inhalte auch durch Projektionen oder zusätzliche Bildschirme mehr Besucher*innen zugänglich machen. Aus gestalterischer perspektive folgen digitale Medien dem Grundsatz „form follows content“ und haben eine eher dienende Funktion: Sie sind „mittlerweile zu integrierten [und dramaturgischen] Mitteln der Ausstellungsarchitektur geworden“18, indem sie analoge Exponate mit digitalen Informationen verbinden, das Narrativ unterstützen und inhaltliche Aussagen sinnlichemotional erfahrbar machen. Dabei scheinen Videos, Bewegtbilder, digitale Plattformen und Kommunikationsmedien immer raumgreifender zu werden. Aus didaktischer perspektive wird von Museen seit dem Aufkommen der visitor studies und der Auseinandersetzung mit der visitor experience das Publikum verstärkt in den Mittelpunkt gerückt: Anstatt im Museum nur zu lesen und zu schauen, werden die
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Gäste deshalb vermehrt aktiv einbezogen. Hier differenziert Uwe Brückner autoaktive, interaktive, reaktive, raumgenerierende und performative Medien beziehungsweise Mediensysteme.19 Berücksichtigt man verschiedene Besuchsmotivationen und Lernstragegien, versteht man das informelle Lernen im Museum nicht länger als nur kognitivrational (kopfgesteuert), sondern erkennt die Bedeutung emotionalen Lernens (bauchgesteuert) mittels eigener Erlebnisse und Erfahrungen unter Einbezug möglichst vieler Sinne: Die explorativen Besucher*innen möchten den Inhalt selbst herausfinden und entdecken, die ludischen sind auf der Suche nach einem spielerischen Zugang, die narrativen benötigen einen roten Faden und die faktischen Besucher*innen sind mit der schnellen Beantwortung ihrer Fragen zufrieden. Digitale Technologien erlauben diesbezüglich die individualisierte Aufbereitung von Inhalten20 ebenso wie die selbstständige Auswahl der Informationen nach Art und Dichte durch die Gäste selbst. Sie eignen sich ferner zur gezielten Bildungsvermittlung wie zu legitimen Unterhaltungs- und Spielzwecken, wobei Storytelling und Gamification neue konzeptionelle Wege weisen. Mit der konstruktivistischen Wende sollen Besucher*innen die Möglichkeit haben, ihr Wissen in einer Ausstellung selbst zu entdecken, es sich anzueignen und zu erarbeiten anstatt es, wie bisher, instruktivistisch-autoritär vorgesetzt zu bekommen. Digitale Medien, die kontextsensitiv, dynamisch, multisensorisch sowie interaktiv bedienbar sind, unterstützen dieses Ziel. Im Sinne einer besucher*innengerechten Vermittlung sind digitale Medien dem Forschungsprojekt EyeVisit zufolge intuitiv, individualisiert/personalisiert, interaktiv, kontextualisiert, multimedial, partizipativ und kollaborativ zu konzipieren.21 Teilhabeangebote rücken wiederum das Konzept Partizipation in den Vordergrund: das Publikum wird nicht auf das passive Konsumieren vorgeplanter Interaktionsformate reduziert, sondern im Sinne von user generated content aktiv einbezogen und ermächtigt mitzureden.22 Mittels Feedback- und KommentarFunktionen können digitale Medien eine Beteiligung von Besucher*innen generieren. Über einen ferngesteuerten Roboter mit wechselseitiger Bildübertragung können bettlägerige Menschen im Rahmen des Programms museum visit with robot des van Abbe-Museums Eindhoven sogar inklusiven Museumsführung beiwohnen.23 Aus der Perspektive von Besucher*innen frustrieren defekte Geräte. Deshalb sind beim Einsatz digitaler Medien neben ihrer Funktionalität und Bedienbarkeit auch niedrige Fehlerraten, Verlässlichkeit und Sicherheit für einen Publikumserfolg wesentlich.24 Diesbezüglich müssen genügend Fachkompetenz sowie finanzielle und personelle Ressourcen vorhanden sein, denn: „Wenn man viel Medientechnik hat, braucht man viele Medientechniker“25 Last but not least können Bedürfnisse, Erwartungen und Ängste von Besucher*innen nutzbar gemacht werden, um die oftmals kostenintensive Entwicklung und den späteren Einsatz digitaler Medien zu optimieren und zu evaluieren. Hierfür bietet sich die Methode des Contextual Design an: Insbesondere die Kombination aus offenen Interviews und offener teilnehmender Beobachtung öffnet die Augen für die visitor experience konkreter Besucher*innen und erweitert pragmatisch-zielorientiert das kuratorische, didaktische und gestalterische Fachwissen.26 Alles in allem umfasst Data Literacy in physischen Ausstellungen mehr als die Erfassung, Bereitstellung und Nutzung von Daten sowie medienimmanente oder technologische Aspekte. Sie sollte zudem kuratorische, didaktische, gestalterische und nutzerspezifische
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Belange berücksichtigen. Werden digitale Medien stimmig und reflektiert in Ausstellungsnarrativ und -gestaltung integriert, haben sie das Potential, Inhalte auch unabhängig von Exponaten anschaulich, dynamisch, personalisiert, multiperspektivisch und emotional zu vermitteln. Gewinnbringend ist es, mehrere Sinne anzusprechen und das Digitale durch interaktive, reaktive oder performative Mediensysteme mit dem Analogen (den Exponaten) zu verknüpfen. Gleichzeitig können digitale Medien Teilhabe und Partizipation generieren, indem sie Besucher*innen untereinander und mit Museumsmitarbeiter*innen in Kontakt und zur Zusammenarbeit bringen.
1 Dennis Niewerth (2018) : Dinge – Nutzer – Netze. Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen, Bielefeld, S. 18; Vgl. Hubertus Kohle (2018): Museen digital. Eine Gedächtnisinstitution sucht den Anschluss an die Zukunft. Heidelberg; Als Beispiel: Markus Walz (Hg.) (2016): Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart: Digitalisierung und das Digitale werden hauptsächlich im Kapitel „VII Kernaufgabe Dokumentieren” abgehandelt. 2 Verband der Museen der Schweiz (Hg.) (2019): Digitale Museumspraxis. Eine ganzheitliche Herangehensweise, Zürich 3 Benrath, Bastian: Irrige Hoffnung, FAZ vom 27.09.2019, S. 24 4 Regina Franken-Wendelstorf,/ Sybille Greisinger/Christian Gries/ Astrid Pellengahr (Hg.) (2019): Das erweiterte Museum. Medien, Technologien und Internet, in: MuseumsBausteine Bd. 19, Berlin, S. 36 5 Ebd., S. 36 6 Ebd., S. 39 und Christian Gries (2019): Was ist eigentlich … Data Literacy? In: KulturBetrieb. Magazin für innovative und wirtschaftliche Lösungen in Museen, Bibliotheken und Archiven Nr. 1, S. 50 7 Vgl. z.B. Verband der Museen der Schweiz (Hg.) (2015): Social Media für Museen. Entscheidungshilfen, Zürich; Helene Hahn (2016): Handreichung. Kooperativ in die digitale Zeit – wie öffentliche Kulturinstitutionen Cultural Commons fördern. Eine Einführung in offene Kulturdaten. Berlin; MFG Innovationsagentur Medien- und Kreativwirtschaft Baden-Württemberg (Hg.) (2016): OPEN UP! Museum. Wie sich Museen den neuen digitalen Herausforderungen stellen. Ein Leitfaden aus Baden-Würt- temberg, Stuttgart; Franken-Wendelstorf u. a. (wie Anm. 4); Verband der Museen der Schweiz (wie Anm. 2) 8 Niewerth (wie Anm. 1), S. 19 9 Tanja Praske (2019): Digitale Strategie & Langzeitarchivierung von digitalen Daten., auf: www.tanjapraske.de 10 Ebd. 11 Niewerth (wie Anm. 1), S. 54 12 Die folgenden Überlegungen gehen aus von Stefan Iglhaut (2006): Zwischen anklickbarem Exponat und Medieninstallation, in: Stephan Schwan/Helmuth Trischler/Manfred Prenzel (Hg.): Lernen im Museum: Die Rolle von Medien für die Restituierung von Exponaten (Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumsforschung Bd. 38), Berlin, S. 67-81 13 Ebd., S. 73 14 Ebd., S. 74f. 15 Ebd., S. 75, 73 16 Niewerth (wie Anm. 1), S. 54 17 Vgl. Markus Priebs (2009): Reales Objekt und simulierendes Medium, Diplomarbeit TU Dresden, S. 69-71 18 Iglhaut (wie Anm. 12), S. 74 19 Vgl. Uwe R. Brückner (2006): Szenografie als interdisziplinäres Medium zur Dialogisierung zwischen Raum und Objekt, zwischen Inhalt und Rezipient, in: Schwan u. a. (wie Anm. 12), S. 122-124 20 Vgl. Uwe Brückner: Information on Demand 21 Vgl. Abschlussbericht auf www.leibniz-gemeinschaft.de 22 Susanne Gesser/Martin Handschin/Angela Jannelli/Sibylle Lichtensteiger (Hg.) (2012): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 23 Vgl. museum visit with robot, auf: www.vanabbemuseum.nl 24 Vgl. Priebs (wie Anm. 17), S. 108 25 So Bernd Holtwick, DASA Dortmund, in einer Lehrveranstaltung. 26 Vgl. Guido Fackler (2018): Contextual Design als Weg zur publikumsorientierten Kulturvermittlung im Museum. In: Christine Ott/Dieter Wrobel (Hg.): Öffentliche Literaturdidaktik. Grundlegungen in Theorie und Praxis, Berlin, S. 223-239
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THE MATTER OF STORY JASPER VISSER
Jasper Visser is an international consultant and facilitator specialised in sustainable development, digital transformation, and community leadership in cultural and civic organisations. Currently he is a strategy consultant and partner at the design agency Vissch+Stam where he has worked on strategy development and audience engagement projects for a wide range of clients. Jasper Visser is project director of Stichting 2030, co-developer of Quantum Culture, Cards for Culture, the Digital Engagement Framework, blogger at The Museum of the Future, and associated lecturer at the Reinwardt Academy.
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The Covid-19 crisis has had a considerable impact on museums worldwide and will continue to do so for the foreseeable future. It is the possibility of change.
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he facts gathered in various reports tell a straightforward story. Early on in the Corona crisis, the Network of European Museum Organisations found that most museums in Europe reported significant losses due to the lockdown.1 In May, according to Icom and unesco, 95 percent of museums worldwide were closed.2 While some governments have stepped up to support the embattled sector with generous grants and subsidies, this hasn’t been enough for the tens of thousands of museum workers that have been furloughed or laid off. Furthermore, according to a follow-up study by icom and unesco, “almost all museums around the world will likely have to reduce their resources and activities” because of the crisis.3 These overwhelming statistics may hide the real impact of the crisis: To study what the lockdowns, travel restrictions, and other consequences of the situation meant for museums, we facilitated close to 100 group conversations with cultural leaders from every corner of the world. Some of these, such as the sense-making conversations we did with the Europeana network,4 looked specifically at how the crisis affected individual institutions and professionals as well as the future of the sector as a whole. Together, we tried to understand why museums and other cultural institutions were hit so hard by the Covid-19 crisis. Why did so many museums, even in rich countries, have to let go of staff? Why was the response of the sector so haphazard and incidental? What can we learn from this experience for our future, especially the digital transformation that many think holds the solution to our troubles?5 What we found in many cases, is that Covid-19 acted as a wake-up call for institutions that had left important issues unaddressed for too long. Made complacent by steadily increasing visitor numbers and ever more ambitious programming, the pandemic highlighted the cracks in a system in urgent need of an update. From the dependence on public funding, business models based on the monopoly of access to culture, to a blockbuster addiction, „We have to ask ourselves, what was acceptable in the past, is that still acceptable now?“ according to one participant in the conversations. More than one museum we spoke to had to rush to get the technical infrastructure in place to allow for remote working, for instance. While their teams were busy setting up cloud services and Zoom, museums that had gone through the digitization process earlier could immediately set up digital programs. This organizational digital divide is just one of many cracks that we discovered. Those museums that emerge out of the current situation with their collections, buildings, and teams more or less intact, may have the option to return to business as usual. However, this is also a moment for a decisive change in the museum sector. It is a possibility to effect change on many long-simmering topics within the realm of access, inclusion, social justice, health and well-being, the environment, digital transformation, and economic development. One area of particular interest for change, and an area underlying other possible developments, is the field of storytelling and participation. Every museum collection is a collection of stories. These stories tell us something about who we are, what we consider important and valuable, what we thought, think and imagine. What gives us joy, and what gives us
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sorrow. Museums tell these stories through objects (material heritage) and intangible and living heritage, such as experiences, events, and emotions. Many museums pride themselves in being great storytellers. But the greatest stories of our time, aren’t told in buildings through objects. They are not told by experts that act at an arms-length from society. Whether it is Covid-19 or climate change, BLM or biodiversity, the greatest stories of our time are told in public spaces (including digital spaces), and they are told by activists, entrepreneurs, and everyday citizens. These stories are part of a living culture that found many ways to express itself while museums were closed. They were presented as street art, pop-up installations, and especially as digital storytelling. 2020 has seen these public and shared stories confront the classical museum stories. One case in point is when the Black Lives Matter protests marched on the Pitt Rivers Museum in Oxford. The protesters demanded that the museum takes on a different role concerning its past. Already committed to changing its narrative and its relationship to its colonial history, the museum used the lockdown to make significant changes to the display of some contentious objects. While this shows intentions, it is a long way before the story that was being told in front of the museum will find its way into the galleries. As director Laura Van Broekhoven mentioned in an interview on the Returning Heritage website, the reimagining of the museum is „part of a long-term programme of curatorial work that will engage many stakeholders and stretch out over the years, probably decades to come.“6 Notably, the Pitt Rivers Museum had already committed to change before change showed up on their doorsteps. Although Covid-19 and its consequences came as a surprise to almost everyone, the demands it placed on museums have been long in the making. A case in point is the story of a very different museum: The House of European History in Brussels. The heh is a transnational museum. Its story covers the continent and beyond. Yet, up until the pandemic, its reach beyond the physical site in Brussels was limited. Because the ambition was in place, however, the team quickly managed to launch a collaborative online storytelling project: #makecovidhistory. The project was a moderate success and empowered the museum to rethink what it means to be a transnational storyteller in a digital, post-Covid-20 age. The crisis acted as a catalyst for a change that would have happened anyway, albeit much more slowly. The change museums had to go through and were forced to go through more rapidly because of Covid, is a change to a new type of storytelling. Museum will have to tell stories that are more participatory, more inclusive, and more reflective of the societies that museums serve and the challenges they face. Although ‘digital’ is a key word in this transition, telling these stories demands more than a digitisation of the museum; it demands the digital transformation of its organizational culture and operations. The classical museum story is a story about a collection and objects. In this story, the audience is a passive consumer. The museum telling the story is an expert in this story, with in-depth knowledge of the collection and the object. In a way, the museum is neutral. The story is told in a building. When a classical museum is digitised, it may present its collection online as a database on its own website. When I think of such classical museum storytelling, I think of the world’s most renowned institutions: The gallery of honour in the
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Rijksmuseum in Amsterdam, the beautiful rooms in the State Hermitage Museum in St. Petersburg, the Guggenheim in New York – all these museums also tell stories in very modern ways, but the image that shows up on Google when you search for them is of a classical museum. This storytelling is not limited to them, in any case. Countless small museums follow their example and engage in similar storytelling. In our Quantum Culture method,7 which is developed to help cultural organisations develop impactful strategies, we call this approach to storytelling market culture. Culture is a commodity that is sold on a marketplace to consumers. In exchange for an entrance fee, visitors can visit the museum’s story passively. During the pandemic, some of them charged for an online visit. What we have seen is that unless you have an iconic collection – of the stature of the Rijksmuseum, Hermitage or Guggenheim – this approach to storytelling is on its last legs. Covid-19 may well be the nail on its coffin. Instead, museums have been replacing this classical approach to storytelling with a practice focused more on creating experiences. In Quantum Culture, we call this approach relationship culture, and its storytelling is focused on unique and memorable experiences. Visitors are treated as special guests. The museum is no longer neutral but takes a particular interest in its visitors and society. Buildings are more open. In Germany, the Ruhr Museum is a prime example of an experience museum. When such a museum ‘goes digital,’ it is more likely to use social media or other practical platforms to share its story. What happened, of course, is that the experience approach to museums also suffers greatly from Covid-19. Visitors cannot be guests in a closed museum. In a world of abundant digital content, why would people interact with an online museum? And, when faced with protests against exclusion and racial injustice, it is not sufficient to be curious about the protesters. They will demand action. As a member of the #museumsforfuture8 network, which advocates for the role of museums in climate action, I regularly meet museums that are ambushed by climate protests even while they think they are taking action. When faced with a crisis of the magnitude of Covid-19, BLM or the climate, for that matter, curiosity is not enough. Consequently, a new approach to museum storytelling is on the horizon. This new approach is a museum telling stories about their audiences and the significant issues that confront them. This museum has storytelling at its heart and seizes every opportunity to tell a story and its audience is a participant in it. Maybe, the participant is the driver of the story. The museum takes responsibility for its audience and its role and place in society. Not as an expert, but as a trusted partner in diverse networks. The museum building is only one of many possible sites for the story. Clearly, this museum is ‘digital’ in a profound sense of the word: its organizational culture is one of collaboration, dynamic networks, and sharing. We call this approach open-source culture. The term pays homage to the open-source software community. The characteristics, values, and purposes of these communities apply to more than just software development. Decentralisation, peer production, collaboration, sharing, and collective decision-making are increasingly crucial in our globalised, urbanised and digitised communities. Especially when we’re faced with crises like the Covid-19 pandemic. The rise of the open-source society, in which organisations take
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responsibility for the well-being and prosperity of more than just themselves, affects every aspect of daily life. It is transforming financial institutions, political parties, the media, education, and every other conceivable industry. Museums are no exception. When I reflect on the Covid-19 crisis, some museums performed better than others. While for most museums, the pandemic caused significant disruption, as shown by the research from the introduction, some saw an opportunity to take responsibility for the well-being of their communities and tell new stories together. Museums such as the Queens Museum that went out of their way to support food banks.9 Or the Stedelijk Museum in Schiedam that set up a project that both helped the artists in their community and the community itself with art posters.10 Other museums have similarly decided to tell different stories differently in further crisis. The Frost Science Museum in Miami removes waste from the ocean.11 The Maritime Museum in Amsterdam engages in climate action against rising sea levels. And countless small museums around the world are taking a stand, together with their communities, on locally important issues. What we’ve seen from working with hundreds of organisations globally on reimagining their storytelling, is that this change happens in parallel with other changes in the organisation. Digital transformation is one of them. The open-source approach to culture centres round dynamic, open public spaces where people connect around the values, ideas, and practices of their community. Such organisations consist of audience-centred, inclusive, and hybrid collectives of people that initiate, produce, and finance a mixture of activities, events, and presentations. They do so in collaboration with businesses and other organisations that share similar values and goals. They operate within the economic, social, and cultural spheres and use public and private spaces. They seek meaningful engagement and take responsibility for their place in society and the people they call their audience. Storytelling in the post-Covid-19 museum is not merely a different kind of storytelling. It is a different kind of museum. This museum is not merely ‘digitised,’ but digitally transformed in every sense of the word. Said one participant in the Europeana process, „Changes have taken place [because of the Covid-19 crisis], but for a transformation to occur, these changes have to be permanent.“ Covid-19 triggers museums to rethink their storytelling and their strategies, but it demands urgent action to put this in place. The participant concluded, „I wish I could be confident this will happen, but I have doubts.“ Let’s prove them wrong. 1 cf. Covid-19 report, at: www.ne-mo.org 2 cf. museum and Covid-19, at: www.icom.museum 3 cf. follow up report museum and Covid-19, at: www.icom.museum 4 cf. workshops, findings and outcomes, at: www.pro.europeana.eu 5 returningheritage.com/pitt-rivers-makes-real-progress-towards-decolonisation 6 Ibid. 7 www.visschstam.com/quantumculture 8 www.museumsforfuture.org 9 cf. queens museum pantry covid-19, at: www.hyperallergic.com 10 www.stedelijkmuseumschiedam.nl/troostkunst-uit-schiedam 11 www.frostscience.org/marine-debris
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VISITOR JOURNEYS NEU GEDACHT
KATHARINA FENDIUS, CHRISTINA HAAK, BETTINA PROBST
Katharina Fendius studierte Kulturwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Humboldt-Universität und an der Freien Universität in Berlin. Nach ihrem wissenschaftlichen Volontariat am Museum für Kommunikation Berlin leitete sie dort die Überarbeitung der Dauerausstellung sowie die Neukonzeption des 2016 eröffneten Future Lab. Seit 2017 ist sie für übergeordnete Projekte der stellvertretenden Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin verantwortlich. Im Verbundprojekt museum4punkt0 verantwortet sie das Teilprojekt Visitor Journeys neu gedacht für die Staatlichen Museen zu Berlin.
Prof. Dr. Christina Haak ist seit 2011 Stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und war von 2010-20 als CDO mitverantwortlich für die Digitale Transformation innerhalb der Stiftung. Von 2009-11 war die promovierte Kunsthistorikerin Leiterin der Stabstelle Bau in der Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Berlin, von 2003-08 oblag ihr die Leitung der Stabstelle Projektmanagement bei der Museumslandschaft Hessen Kassel (ehem. Staatliche Museen Kassel). Seit Mai 2018 ist Christina Haak Vizepräsidentin des Deutschen Museumsbundes e.V.
Bettina Probst studierte Geschichte und Lateinamerikanistik mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Berlin und L.A. 1994 Volontärin im heutigen Deutschen Technikmuseum Berlin. Bis 2012 war sie zehn Jahre in der Generaldirektion der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden für internationale Ausstellungs- und Kooperationsprojekte verantwortlich. Als Stabs-und Projektleiterin in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz steuerte sie von 2012-2020 maßgeblich die Planung und Präsentation des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum. Seit 1. November 2020 ist Bettina Probst Direktorin im Museum für Hamburgische Geschichte.
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Das Teilprojekt visitor journeys neu gedacht. die digitale erweiterung des museumsbesuchs der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz untersucht im Rahmen des Verbundprojektes museum4punkt0, wie digitale Technologien den Museumsbesuch nachhaltig und sinnvoll erweitern können. Hierbei stehen die Diversität des Publikums, seine Erwartungen und Wünsche an den Museumsbesuch und digitale Anwendungen, sowie die dafür notwendigen infrastrukturellen und organisationalen Voraussetzungen im Fokus. Der Beitrag beschreibt die strategischen Ziele und das Vorgehen des Teilprojekts.
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ie digitale Transformation ist ein fortlaufender, in digitalen Technologien begründeter Veränderungsprozess, der sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche auswirkt. Der damit einhergehende, „tiefgreifende soziale Wandel, der eine Kultur der Teilhabe nach sich zieht, die sich in permanent wandelnden Formen der Kommunikation und einer ansteigenden Bedeutung von Partizipation und Vernetzung an und von Museen zeigt“1, lässt die gesellschaftliche Relevanz von Museen direkt mit der Frage nach ihrer (digitalen) Anschlussfähigkeit einhergehen. Die zielgruppengerechte (digitale) Ansprache und damit auch die Zugänglichkeit zu Museen dienen nicht nur der Erhöhung von Besuchs- und Besucherzahlen, sondern auch dem tatsächlichen Erreichen heterogener Publika. Museen müssen‚ attraktiv sein, damit sie besucht werden. Damit stehen sie vor der Aufgabe, ihre Zugänge aktiv und gemeinsam mit ihren Besucher*innen, deren inhaltliche Interessen und Zugänge individuell verschieden sind, auszuhandeln und bereitzustellen. Digitale Technologien sind von einem spezifischen Werkzeug für in sich abgeschlossene (soziale) Handlungen zu einem fast organischen Bestandteil sämtlicher Lebensbereiche geworden und somit Teil der sinnhaften Erschließung von (Um-)Welten. Die Auswirkungen der damit einhergehenden Entwicklung einer kultur der digitalität2 auf Museen und die museale Praxis sind immens und umfassen wesentlich mehr als die digitale Erfassung, Dokumentation und Bereitstellung der Bestände. Sie betreffen alle Bereiche der musealen Arbeit und sind eine umfassende Querschnittsaufgabe, die angepasste Prozesse und neue Werkzeuge erfordert. Das nationale Verbundprojekt3 museum4punkt0 vernetzt seit seinem Beginn im Mai 2017 Museen unterschiedlichster Größe und Ausrichtung4. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer digitaler Anwendungen, die das Besuchserlebnis im Museum gerade mit Blick auf Partizipations- und Individualisierungsansprüche von Besucher*innen erweitern. Im gemeinsamen Antrag haben die Projektpartner formuliert, als „visionär ausgerichtetes Pilotprojekt […] dem übergeordneten Leitbild des digital kompetenten Museums der Zukunft, das global vernetzt, dialogisch und damit ein sich kontinuierlich wandelnder Ort kultureller Begegnung ist“5, zu dienen. Mit diesem Selbstverständnis untersucht das Teilprojekt visitor journey neu gedacht. die digitale erweiterung des Museumsbesuchs der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wie digitale Technologien den Museumsbesuch nachhaltig und sinnvoll erweitern können. Die Grundannahme lautet, dass die Erweiterung des Museumsbesuchs mithilfe digitaler Technologien zu einem kontinuierlichen Ausbau methodischer Kompetenzen und
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technologischer Infrastrukturen in den Museen beiträgt und im Rahmen von museum4punkt0 einen nachhaltigen Wissenstransfer ermöglicht. Der Fokus liegt dabei auf den verschiedenen, analogen und virtuellen Kontaktpunkten zwischen den Museen und ihren Besucher*innen: der visitor journey. Das von der customer journey6 abgeleitete Konzept geht davon aus, dass sich das individuelle Besuchserlebnis in mehrere Phasen einteilen lässt. Diese zu analysieren und die damit einhergehenden Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche eines diversen Publikums an den Museumsbesuch und digitale Anwendungen herauszuarbeiten, ist ein grundlegendes Ziel im Teilprojekt. Gleichzeitig sollen auch mögliche Lücken oder negative Besuchserfahrungen aufgezeigt werden. Auf dieser Grundlage werden digitale Anwendungen entwickelt, die das Besuchserlebnis unterstützen und verbessern sollen. Um den veränderten Anforderungen an die Museumsarbeit angemessen zu begegnen, haben die Staatlichen Museen zu Berlin mit dem Projektstart ein interdisziplinäres Team mit fundierten Kenntnissen in den Bereichen Design, Technologie und Museumsarbeit zusammengestellt und die wissenschaftlichen Arbeitsmethoden mit aktuellen Ansätzen aus dem HumanCentered Design, Critical Design und transmedialem Erzählen ergänzt. Alle Entwicklungen finden in enger Zusammenarbeit zwischen den Projektmitarbeiter*innen und den Kurator*innen der Sammlungen sowie verschiedenen externen Partner*innen mit unterschiedlichen Fachexpertisen statt. Die verschiedenen Zielgruppen werden in die Entwicklungsarbeit einbezogen und sind so aktive Mitgestalter*innen des Museumserlebnisses. Auch der Erfahrungsaustausch innerhalb des Verbundes oder mit Fachkolleg*innen anderer Museen ist ein wichtiger Teil der Arbeit im Teilprojekt. In Workshops und kollegialen Gesprächen werden die gewonnenen Erkenntnisse geteilt und für die praktische Museumsarbeit aufbereitet. Im Sinne eines holistischen Verständnisses zeitgemäßer Museumsarbeit werden im Teilprojekt sowohl die Museumsbesucher*innen als auch die für den Besuch notwendigen, infrastrukturellen und organisationalen Voraussetzungen in den Fokus genommen. Die Bereiche besucherforschung, anwendungen und strukturmassnahmen, die in ihrem Zusammenspiel die Voraussetzungen für die vielfältigen Kontaktpunkte zwischen Besucher*innen von Museen – die visitor journey – schaffen, wurden daher als grundlegende Säulen definiert. Innerhalb des Teilprojektes gibt es zwei Stoßrichtungen: Im Modul xplore digital werden durch das Team vor allem sammlungsübergreifende Anwendungen für die Staatlichen Museen zu Berlin entwickelt. So wurden die Problemfelder orientieren, begleiten und kommunizieren definiert, innerhalb derer unterschiedliche Herangehensweisen bei der Erschließung und Vermittlung von Objekten erprobt und angewendet werden. Ziel ist, der Verschiedenartigkeit der Objekte und des (im)materiellen Kulturerbes der Staatlichen Museen zu Berlin sowie den damit verbundenen multiperspektivischen Erschließungs- und Betrachtungsmöglichkeiten über Sammlungs- und Institutionsgrenzen hinweg angemessen Rechnung zu tragen und so Verknüpfungen, Vergleiche oder Interaktionen zu ermöglichen. Das zweite Modul xstream digital befasst sich mit den Sammlungen der Staatlichen Museen im Humboldt Forum. Wesentliche Ziele des in das Humboldt Forum einziehenden Ethnologischen
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Museums und des Museums für Asiatische Kunst sind es, die Vielstimmigkeit von Kulturen hörbar und unterschiedliche Perspektiven sichtbarer werden zu lassen sowie die Partizipations- und Interaktionsmöglichkeiten von Besucher*innen zu steigern. Die zu entwickelnden digitalen Anwendungen sollten explizit diesen Zielen dienen. Im Rahmen der Säule besucherforschung werden mithilfe wissenschaftlicher und praktischer Instrumente, den verschiedenen Methoden der empirischen Sozialforschung oder UserTestings systematisch Daten erhoben. So können Erkenntnisse für die zielgruppenspezifische und besucherzentrierte Entwicklung digitaler Anwendungen gewonnen und die Basis für eine erfolgreiche Besucheransprache und -bindung geschaffen werden. Gleich zu Beginn von museum4punkt0 wurde aus dem Teilprojekt heraus eine umfassende Besucherbefragung innerhalb der Staatlichen Museen zu Berlin durchgeführt: In einem Methodenmix aus quantitativer und qualitativer Sozialforschung wurde untersucht, welche Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen sowie auch kritische Kontaktpunkte Menschen haben, wenn sie ein Museum besuchen und (digitale) Vermittlungs- und Kommunikationsangebote wahrnehmen. Die forschungsleitende Grundannahme der Untersuchung basiert auf dem von John H. Falk erarbeiteten Modell7, das Museumsbesucher*innen nach ihren Besuchsmotivationen unterscheidet. Der handlungsorientierte Ansatz von Falk erlaubt eine sehr individuelle Betrachtung von Besucher*innen – deren Besuchserfahrung „is not something tangible and immutable; it is an ephemeral and constructed relationship that uniquely occurs each time a visitor interacts with a museum“8. Museumsbesucher*innen nach ihren Besuchsmotivationen zu segmentieren, ist ein sinnvoller Ansatz, um möglichst übergreifende Publika zu erfassen. So wird die Frage „Warum sind Sie heute hier?“ beziehungsweise die Antworten der besucherzentrierten Variante der Frage „Warum bin ich heute hier und was bedeutet das für mich?“ sehr umfassend und spezifisch beantwortet. Die verschiedenen Kontaktpunkte innerhalb der Visitor Journey lassen sich so gezielt auf die sich immer wieder ändernden Motivationen und die daraus resultierenden Bedürfnisse und Herausforderungen evaluieren und im nächsten Schritt optimieren und mit Angeboten gestalten. Darauf aufbauend wurde der Bereich mit verschiedenen Rezeptionsforschungsprojekten – der Untersuchung der Virtual Reality Installation mit dem mönch am meer sowie der 360°-Anwendung im neuen museum, um die Analyse der konkreten Medien- und Museumserfahrung ergänzt, das heißt mit der Rezeption von digitalen Technologien durch verschiedene Besuchs- und Nichtbesuchsgruppen. Als logische Weiterentwicklung der Untersuchung der Bedürfnisse und Wünsche von Besucher*innen an digitale Technologien, hin zur Wirkung und Rezeption von digitalen Technologien im Museum, liegt der Fokus dabei auf dem, mit ihrem Einsatz möglichst einhergehenden und erwünschten mehrwert. Die digitalen anwendungen sind die zweite Säule und gleichzeitig Kern des Teilprojekts. Dabei steht der Mehrwert für den Wissenstransfer zwischen Museen, Objekten und Besucher*innen und nicht die Technologie selbst im Zentrum der Arbeit. Gleichzeitig sollen die Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet werden, den physischen Museumsraum mithilfe digitaler Technologien zu erweitern und so einen symmetrischen Dialog zwischen den Kunstwerken, Institution(en) und Öffentlichkeiten sowie eine Verbindung von
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analogem und digitalem Museumsraum herzustellen. Um die Potentiale digitaler Technologien in Museen zu erforschen, wurde innerhalb des Teilprojekts iterativ vorgegangen und die verschiedenen Anwendungen wurden mithilfe von unterschiedlichen technologischen Ausbaustufen entwickelt. Dabei sind nicht nur lauffähige Versionen, sondern ebenso Konzeptstudien und Low-Fidelity-Prototypen entstanden. Allen Studien und Anwendungen beziehungsweise Prototypen gemeinsam ist das Ziel, museale Objekte und Wissen mithilfe digitaler Technologien zu vermitteln und mit den Besucher*innen innerhalb und außerhalb des musealen Raums zu kommunizieren und zu interagieren. Der individuelle Mehrwert digitaler Technologien für die Vermittlung und Kommunikation im Museum ergibt sich dabei aus ihrem strategischen und konzeptionellen Anspruch. Je nach Zielstellung und Zielgruppe werden unterschiedliche Technologien- und Vermittlungsansätze eingesetzt. Die grundlegenden Leitlinien für alle Entwicklungen innerhalb des ersten Moduls sind Besucher- und Nutzerzentrierung, Wirkungs- und Handlungsorientierter Technologieeinsatz sowie strukturelle Nachhaltigkeit. Ein umfassendes Projekt im Modul xplore digital ist die Neukonzeption der OnlineSammlungen, die aktuell circa 250.000 Objekte im virtuellen Raum zeigt. Mit dem Ziel, die Online-Datenbank „smb-digital für ein breites Nutzerpublikum auszubauen“9, wurde auf die Ergebnisse der im Projekt erstellten Grundlagenstudie zurückgegriffen und durch das Projektteam ausgewertet, welche Erwartungen und Bedürfnisse speziell auf den Besuch von Online-Sammlungen übertragbar sind. Darauf aufbauend und aus dem Verständnis heraus, dass sich auch die Motivationen digitaler Besucher*innen unterscheiden, wurden dann unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu den Online-Sammlungen konzipiert und entwickelt. Mit den Themenformaten recherche, themen und touren wurden die Online-Sammlungen zu einem zeitgemäßen Instrument für die wissenschaftliche Sammlungsarbeit entwickelt, das um einen intuitiven, bedarfsorientierten Zugang zu den Objekten der Staatlichen Museen zu Berlin erweitert wurde. Die umfassende Neukonzeption wird durch eine Forschungskooperation mit dem Urban Complexity Lab der Fachhochschule Potsdam ergänzt, in der die Möglichkeiten der Visualisierung und Exploration heterogener Sammlungsbestände untersucht wird. Ein prägnantes Beispiel für das Nachnutzungspotential der entwickelten Anwendungen ist die im Teilprojekt entwickelte Progressive Web-App. Die ausstellungsbegleitende Anwendung ermöglicht Besucher*innen, dreidimensionale Objektmodelle eigenständig und explorativ auf dem eigenen mobilen Endgerät zu erschließen. Web-Apps werden als Webseiten angelegt, bieten jedoch die Vorteile nativer Apps: Sie lassen sich über einen Browser aufrufen und verwenden, ohne dass sie auf das Gerät heruntergeladen und auf dem Startbildschirm gespeichert werden. Zunächst im Rahmen der Sonderpräsentation humboldt-forum-highlights10 entwickelt, wurde die Anwendung in einem zweiten Schritt für die Ausstellung bronzen wie tiere11 im Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin eingesetzt. Durch eine weitere Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin wurde die App für die Sonderpräsentation der Beethoven-Sammlung diesen kuss der ganzen welt!12 nachgenutzt. Um auch anderen Museen und Kultureinrichtungen die Nachnutzung zu ermöglichen, wurde das Starterkit Display13 geschaffen. Mithilfe dieser
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Vorlage können 3D-Modelle in individuelle Ausstellungskontexte eingebunden werden. So wurde eine digitale Erweiterung der besucherzentrierten Vermittlungsarbeit im Museum geschaffen, die weit über das Projekt hinaus nutzbar ist. Mit der Anwendung future walk werden Besucher*innen eingeladen, die am Kulturforum angesiedelten Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin mit einem ortsspezifischen, auditiven Rundgang zu erleben. Die in die Erzählung integrierte Navigation führt durch vordefinierte Innen- und Außenbereiche und verbindet die überwiegend auditiv inszenierten Informationen zu einer gemeinsamen Geschichte. Indem sich die Orte, Sammlungen und die Objekte zusammenfügen und wie eine zweite Ebene über das Kulturforum legen, bietet die Anwendung ein aktives und immersives Museumserlebnis. Ziel ist, die aktive Selbsterkundung der Sammlungen vor Ort zu fördern, den Museumsstandort Kulturforum spannend und erlebnisorientiert zu vermitteln und so für ein breiteres Publikum zu öffnen. Im zweiten Anwendungsbereich des Teilprojektes, im Modul xstream digital, galt es eine auf den jeweiligen Ausstellungsraum bezogene prototypische Mixed-Media-Inszenierung zu entwickeln, die vor allem jüngere Besucher*innen in die Welt Ozeaniens eintauchen lässt, neue Narrative im Raum erforscht und die inhaltlichen Kontexte durch verschiedene digitale Medien erlebbar macht. Im sogenannten kubus boote im Ausstellungsbereich Ozeanien werden verschiedene Geschichten über die Objekte, hier die großen Südseeboote, erzählt. Die Frage, wie die Inhalte und Botschaften der Objekte zielgruppengerecht und spannend für Kinder und Jugendliche vermittelt werden können, stand dabei schon in einer sehr frühen Konzeptionsphase im Raum. Vor diesem Hintergrund ist das Virtual Reality Spiel zur Navigation in der Südsee ena wasawasa levu. auf dem weiten meer entstanden. Verortet wird das Spiel in einem Möbel nahe eines originalgetreu nachgebauten Bootes aus Fidschi, das auch Vorlage für das Boot im VR-Spiel ist. Die Anwendung zielt darauf ab, die jungen User mit den traditionellen Navigationstechniken Ozeaniens vertraut zu machen. Es geht nicht darum, diese im Detail zu erlernen, sondern darum, einen Einblick in die Kultur traditioneller Navigationstechniken in Ozeanien zu erhalten. Durch spielerisches Eintauchen in die virtuelle Welt schafft das Spiel einen Kontaktpunkt für die immersive Vermittlung dieses hoch komplexen Ausstellungsinhalts für Kinder und Jugendliche. Mit dem Projekt ar interactive guide tool wird im kubus häuser erstmals eine Augmented Reality-Technologie zur Erweiterung eines interpersonellen Vermittlungsformats im Museum – speziell im Kontext von Sonderführungen für Gruppen bis zu maximal 20 Personen – angewendet. Die Anwendung erweitert proaktiv die Möglichkeiten einer musealen Narration im Raum. Ihr zentraler Gegenstand ist das kulthaus der abelam, eines der bedeutendsten Großobjekte aus der Sammlung Ozeanien des Ethnologischen Museums, das in dieser Form zum ersten Mal im Humboldt Forum zu sehen sein wird. Da eine Begehung des Kulthauses nicht möglich ist, wird die AR-Anwendung auch dafür eingesetzt, schwer einsehbare oder nicht betretbare Bereiche für Besucher*innen zu öffnen und einzelne, im Haus befindliche Objekte als Gruppenerlebnis sichtbar zu machen. Die ar-Anwendung erleichtert die interpersonelle Interaktion des Guides mit der Gruppe und steigert die Partizipation der Teilnehmer*innen: Sie eröffnet Möglichkeiten zur
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individuellen Interaktion und Selbsterkundung des Objekts im virtuellen Raum. Indem die Gruppenmitglieder diesen Freiraum zur selbständigen Erkundung erhalten, wird ein eigener Zugang möglich und Neugier gefördert. Das traditionell-lineare Vermittlungsformat wird dadurch aufgebrochen und auf diese Weise ein neues, dialogisches Format für Gruppenführungen im Museum eingeführt. Eine zeitgemäße Kontextualisierung, Vermittlung und Kommunikation von Inhalten wie auch die Wissensproduktion selbst sind ohne die Unterstützung von digitalen Medien nicht mehr denkbar – nicht nur vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft. Für die Museen galt und gilt es deshalb umso mehr, Formate zu entwickeln, die die Umsetzung der Leitgedanken multiperspektivität, gegenwartsbezug und partizipation überhaupt erst ermöglichen. Analoges und Digitales sollten dabei als komplementäre Gestaltungsmittel eines Gesamterlebnisses verstanden und so eingesetzt werden, dass Inhalte, Exponate, Raum, Gestaltung und Medien – und nicht zuletzt die Besucher*innen – in ein spannungsreiches Verhältnis miteinander gebracht werden. Unter der dritten Säule des Teilprojektes, den strukturmassnahmen, werden sowohl der Auf- und Ausbau konkreter technischer Infrastrukturen und das Generieren und Dokumentieren von (Objekt-)Daten als auch Entwicklungen innerhalb der Organisationsstrukturen verstanden. Ziel ist es, die verschiedenen, innerhalb des Teilprojektes entwickelten Anwendungen durch eine nachhaltige Infrastruktur, die Etablierung effizienter und dynamischer Workflows sowie einen kontinuierlichen Wissenstransfer und den systematischen Ausbau methodischer Kompetenzen in den Museen zu ergänzen. Die Voraussetzungen für eine stetige Weiterentwicklung der digitalen Anwendungen werden durch konsequente, fachliche Beratung und Unterstützung bei Entwicklung und Ausschreibung14 geschaffen, aber auch durch eine vorausschauende Planung von Betrieb und Wartung. Gleichzeitig treibt dies den Ausbau von frei zugänglichem WLAN in den Ausstellungsräumen für den Einsatz digitaler Technologien in Museen voran: Neben konkreten WLAN-Projekten wurden Machbarkeitsanalysen für verschiedene Standorte und Museen umgesetzt, um auch hier eine strategische Planung zu ermöglichen. Zudem sind neue Formen der sammlungsübergreifenden Kollaboration und interdisziplinären Zusammenarbeit sowie iterative Arbeitsmethoden Teil der Projektarbeit. Die Erfahrungen, Erkenntnisse und Methoden werden durch das Projektteam systematisch aufbereitet und im Sinne eines strukturierten Inreach in den Staatlichen Museen zu Berlin etabliert. Durch den intensiven Fokus auf den kontinuierlichen Wissenstransfer und den systematischen Ausbau methodischer Kompetenzen in den Museen wird die Basis für einen kompetenten, kreativen und sinnvollen Einsatz digitaler Technologien innerhalb eines ganzheitlichen Museumsverständnisses geschaffen.
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1 Vgl. Digitale Strategie des Jüdischen Museums Frankfurt, auf: www.juedischesmuseum.de 2 Vgl. Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Berlin 3 Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien fördert museum4punkt0 aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. 4 Vgl. Personalübersicht auf: www.museum4punkt0.de 5 Verbundantrag museum4punkt0, S. 5 6 Vgl. Katerine N. Lemon/Peter Verhoef (2016): Understanding Experience Throughout the Customer Journey, in: Journal of Marketing 80 Vol. 6, AMA and MSI Special Issue of “Journal of Marketing” I Mapping the Boundaries of Marketing: What Needs to Be Known, S. 69-96 7 John H. Falk (2009): Identity and the museum visitor experience, CA: Left Coast Press. Überblick auf: www.slks.dk 8 Ebd. S.158 9 Formuliertes Erfolgskriterium des Teilprojektes 10 Anwendung zur Ausstellung Humboldt Forum Highlights auf der Museumsinsel. Highlight ist eine Maya-Vase, deren inhaltliche Zusammenhänge mithilfe von Erzählspuren nachvollzogen werden können. Mehr auf: www.xplore.museum4punkt0.de 11 Damit lassen sich Kleinplastiken, Medaillen und antike Münzen erkunden. Mehr auf: www.bronzenwietiere.smb.museum 12 Highlights sind der Scan der Lebendmaske Ludwig van Beethovens sowie der Scan der ergänzenden Takte zur Sinfonie Nr. 9 mit handschriftlichen Ergänzungen. Mehr auf: www.blog.sbb.berlin/wp-content/uploads/sbb-pwa/ 13 www.github.com/museum4punkt0 14 Beispielsweise im Anforderungsmanagement, Beratung für neueste Technologien und deren Möglichkeiten, Risikoanalyse, Betriebskonzepte, Vergaberecht
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DAS MUSEUM 2020 BERNHARD MAAZ
Prof. Dr. Bernhard Maaz hat unter anderem Kunstgeschichte studiert, war ab 1986 an der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin tätig, zuletzt als Stellvertretender Direktor. Ab 2010 Direktor des Kupferstich-Kabinetts und der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Er ist seit 2015 Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Seine aktuelle Publikation „Das gedoppelte Museum. Erfolge, Bedürfnisse und Herausforderungen der digitalen Museumserweiterung für Museen, ihre Träger und Partner“ erschien 2020.
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Die Digitalisierung hat die Museen und das Publikum verändert und die Corona-Pandemie hat diese Veränderung noch beschleunigt. Bevor sie jedoch endgültig durchgesetzt ist, gilt es, sie zu evaluieren: Wo liegen die Werte einer Digitalisierung für das analoge Museum – und warum bleibt die Begegnung mit dem Original doch das letztgültige Ziel?
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er Ordner mit Papieren, Dokumenten, Briefentwürfen, Abstimmungsmails, Zeitungsausschnitten mit Bezügen zur Digitalisierung ist vielfältig gefüllt. Er enthält Dokumente und Entwürfe zu Themen wie Datenbank museum plus, Datenschutz oder Online-Sammlung, darin liegen Statements zum institutionellen Versuch, ein OnlineTicket-System einzuführen (und zur Begründung des Scheiterns), aber auch Notizen zu gewandelten Berufsbildern für Museen des 21. Jahrhunderts, ja sogar Auflistungen, wie man die digitale Kommunikation optimieren kann. Dieser Ordner dokumentiert nicht nur mancherlei abgebrochene Bemühungen und beiseitegelegte Einsichten in eigene utopische Vorstellungen, sondern zunächst auch die Fülle von Themen, die jede moderne Kultureinrichtung beschäftigen muss. Und er zeigt, dass selbst große Einrichtungen oft weder personelle noch finanzielle Ressourcen haben, um sich mit dieser in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Aufgabenfülle zu befassen. Eine gute Nachricht ist aber, dass heute an vielen Stellen Verantwortungsträger und Mitarbeiter auf diese unerledigten Aufgaben schauen: Sie haben längst Problembewusstsein und Lösungsvorschläge entwickelt. Aber sie benötigen verlässliche Handlungsspielräume und belastbare Handlungsgrundlagen. Zwischen den abgehefteten Bausteinen direktoral-digitalen Denkens liegt der Auszug aus den strukturempfehlungen für eine große deutsche Kultureinrichtung, der man bescheinigt, sie befinde sich hinsichtlich der Digitalisierung im Umbruch, doch sei sie hinter international vergleichbaren Einrichtungen zurück. Alles, was dort moniert wird, lässt sich auf zahllose Institutionen im Land übertragen, denn die Defizite sind nicht personalisierbar, sondern sozial begründet. Der Fakt des gesamtgesellschaftlichen Zurückbleibens zahlreicher deutscher Museen etwa gegenüber den Leuchttürmen der europäischen und anglophonen Museumswelt ist dennoch kein Trost – aber er relativiert grundsätzlich und wirft die Frage auf, weshalb es so ist, wie es ist. Es geht also um das gesellschaftliche Verständnis von Museum. Man muss immer neu betonen, dass Museen keine bloß erheiternden Freizeiteinrichtungen wie Spaßbäder sind, sondern Kontemplations- und Bildungseinrichtungen, die nicht nur der Wissensvermittlung dienen, sondern der ethischen und sozialen Kompetenz, der Wertediskussion. Eben deshalb ist das Museum als Debattenort für die ethische Bildung unentbehrlich. International ist das im gesellschaftlichen Bewusstsein weit stärker verankert als in Deutschland: „Museums assumed a responsibility that universities mostly set aside: that of continuing education. You go to a museum to experience remarkable art but also to learn. The pedagogical and contemplative modes of museums are not contradictory”, wie der französische Kunstkritiker Donatien Grau in the art newspaper schreibt. Betrachtet man die finanzielle Ausstattung von Museen neben der von Universitäten, so muss künftig an vielen Stellen in Deutschland seitens der Träger justiert werden, damit dieser museale und gesellschaftliche Bildungsanspruch gelebt werden kann.
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An Gestaltungswillen, Phantasie und Kenntnissen zur digitalen Weiterentwicklung fehlt es den Museen nicht, namentlich bei der jüngeren Generation. Die drängende und bedrängte Nachdenklichkeit über Erreichtes und Ausstände, über Möglichkeiten und Pflichten hat öffentliche Debatten erreicht. Daraus erwächst endlich ein Diskurs, so etwa bei Christoph Schmälzle, der dies unter dem Titel was das netz kostet. digitale sichtbarkeit: museen müssen jetzt aus der online-erfahrung lernen, aber so einfach ist das nicht aufgegriffen und auf die Coronakrise bezogen hat. Er konstatiert und reflektiert mit Blick auf Museen, dass es „einen unleugbaren Widerspruch zwischen der digitalen Handlungsbereitschaft der Häuser und ihrer tatsächlichen Handlungsfähigkeit“ gibt. Woher kommt dieser Widerspruch? Er beruht auf technischen, juristischen und personellen Rahmenbedingungen und diese basieren auf dem, was Gesetzgeber und Zuwendungsgeber den Museen abverlangen und ihnen zugleich ermöglichen. Wie intensiv das Thema derzeit verhandelt wird, belegen neben zahlreichen Publikationen auch die Digitalisierungs-Debatten bei ICOM und dem Deutschen Museumsbund.1 Dass es einen gesamtgesellschaftlichen und speziell einen museumsinternen Diskurs braucht und nicht nur endlich neue Ressourcen, ist unübersehbar, wie auch der Blogger Christian Gries auf Iliou Melathron konstatiert. Als Christoph Schmälzles erwähnter scharfsinniger Beitrag nach einigen Wochen der kollektiven Corona-Lähmung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, hatten sich die Erwartungen der Öffentlichkeit, die die Museen ja wegen des Lockdowns nicht betreten durfte, verändert. Es war unübersehbar geworden, dass die Gesellschaft eine digitale Museumserweiterung ebenso braucht wie die Radiosender, die Musikprogramme mit klassischer Musik senden, wodurch aber lebendige Aufführungen im Konzerthaus und vor den Augen und Ohren der Zuschauer gespielte Oper nie überflüssig wurde. Auch die mögliche Kindle-Lektüre von Belletristik hat den Buchmarkt nicht erübrigt; eine kurze Flaute der Verkaufszahlen wurde von der konsolidierenden Selbstbehauptung des traditionellen Printmediums abgelöst. Niemand muss also fürchten, die digitale Erweiterung des Museums minimiere die physische Präsenz in den Museen. Warum ist das so? Man könnte den vom Autor dieser Zeilen andernorts gebrauchten Vergleich zur Hand nehmen, dass die bekannten illustrierten Speisekarten mancher asiatischer Lokale die Gäste nur auf eine dingliche Sache einstimmen und doch niemals sättigen können: Das Abbild ist nie das Original. Das Digitalisat als aus Pixeln generiertes Abbild von etwas in der dreidimensionalen Realität Erreichbarem bleibt zunächst hinter diesem Abbild zurück; dieses seinerseits hat Vorteile wie das, dass man – Stichwort Gigapixel – zuweilen bis in kleinste Details hineinzoomen kann und dass es ortsunabhängig jederzeit erfahrbar ist. Es führt also zum Original hin, nachvollziehbar zum Beispiel in der digitalen Rembrandt-Ausstellung auf Google Arts & Culture. Aber die zahlreichen und nur teilweise neu entwickelten digitalen Vermittlungsformen hatten ihr Recht und werden es behalten, etwa die digitalen Dialogführungen oder die gemeinsame Arbeit von Kunsthistorikern, Kommunikationsfachleuten und Vertretern von WikiMUC, ehrenamtlichen Wikipedianern aus München zur Sammlung Schack. Blickt man auf das Jahr 2020, so zeigt sich manches mit erfreulicher und (oder)
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bestürzender Deutlichkeit: Im sogenannten ersten Lockdown schnellten die Zugriffszahlen auf die digitalen Angebote nach oben; im zweiten befindet man sich noch. Nach der im späten Frühjahr gestatteten Öffnung blieben zwar die Touristen weg (die schon vor der ersten Schließung während der anrollenden Coronawelle signifikant abebbten) und fehlten den Museen die Kindergartengruppen und Schüler (deren statistische Relevanz eine soziale abbildet), aber Familien und Stammpublikum kamen wieder. Vor dem zweiten, im November vorgenommenen Lockdown hatte manches Haus bereits wieder enorm hohe Besucherzahlen erreicht, womit auf emotional berührende Weise sichtbar wurde: Die Museumsgäste such(t)en die vertrauten Begegnungen mit den Museumsschätzen, denn es sind gleichsam „ihre“ Museen und „ihre“ Schätze. Auch während des Lockdowns landen Besucher primär auf der Startseite, die wir mit digitalen Inhalten angereichert haben; sie sind also – auf der Suche! Dieses unerwartet hohe Ausmaß der inneren Bindungen von Menschen an museale Räume und Objekte ist eine bestärkende Erkenntnis. Die Museumsfreunde sehnten sich dennoch nach dem Erlebnis der Originale vor Ort; sie kamen sogleich nach Öffnung der Museen erfreulicherweise und erstaunlich zahlreich wieder, obgleich sie beflissen Abstand halten, Masken tragen und sich bei Führungen auf Kleinstgruppen beschränken mussten. Was ist es, das die Menschen so stark und so frühzeitig wieder in die Museen zog? Offenbar konnten die vielfältig verfügbaren, stark nachgefragten digitalen Formate den Hunger nach Wirklichkeit nicht stillen, obgleich Museen eine neue Fülle an Vermittlungsformaten auflegten. So hatten Museen in der jüngsten Vergangenheit – und teilweise schon lange vor der Corona-Pandemie – diverse Kooperationen mit Google Arts & Culture, mit ZDF Kultur und anderen Partnern an die Öffentlichkeit gebracht, also Digitalangebote, die unterhaltsam und informativ, klug und einladend sind. Und diese zielgruppenspezifischen digitalen Angebote bleiben notwendig, das ist eine zweite gute Aussage. Was hat 2020 also für das digitale Museumsleben gebracht? Es waren zahlreiche Formate, so beispielsweise digitale Dialogführungen mit Themen wie kunst und krise2, die ebenso fortgeführt werden wie der digital art salon in der Pinakothek der Moderne – Formate mit einer besonderen Aufmerksamkeit für die digitale Prägung unserer Welt und unserer Gegenwart, die darauf zielen, eine konstruktiv-kritische Weltwahrnehmung zu schulen. In den Zeiten der coronabedingten Schließung von Kultureinrichtungen sogen viele Menschen Nektar aus dem Netz; es gab alles vom improvisierten YouTube-Clip bis zur aufwendigen VR-Tour, wobei diejenigen Einrichtungen im Vorteil waren, die bereits zuvor Bestände online verfügbar gemacht hatten. Im Sommer 2020 stellte die Öffentlichkeit die plausible Frage: „Was bleibt von den neuen digitalen Formaten in Museen und Theatern?“3 Diese Bilanz wird man vielleicht im Folgejahr ziehen. Eine kluge über den ersten Lockdown wurde hingegen bereits 2020 erstellt, als erhellende Bachelorarbeit mit dem Titel „Museale Kunstvermittlung Online“.4 Sie belegt, dass im Bereich der musealen Vermittlungsarbeit die digitalen Vermittlungswege endgültig neben die personalen getreten sind. Und dass die Museumslandschaft zwar auf die rasche starke Akzentverschiebung 2020 unvorbereitet war, dieses Thema aber viele Facetten hat und als Dialogform zwischen Publikum und Museum, zwischen Menschen und Menschen wie
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auch zwischen Menschen und Objekten zu verstehen und zu differenzieren ist. Sie zeigt allerdings auch Grenzen der digitalen Wahrnehmung auf, die vielleicht eher im allgemein weit gefächerten Angebot als in der Thematik liegen mögen. Denn auch hier gilt, dass die Fülle der Angebote zur Selektion führen muss. Museen und Ausstellungshäuser entwickelten während der Reisebeschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen neue Mittel wie etwa den Ersatz menschlicher Kuriere durch digitale Beobachtung von Verpacken, Transport, Auspacken und Montage der ausgeliehenen Kunstwerke. Das ist ein Behelf, der den Mitarbeitern Zeit und Reiserisiken, den Leihnehmern Reisekosten und dem Erdball ein paar Gramm CO2 erspart. Ob sich das dauerhaft durchsetzen wird, muss die Zukunft zeigen. Die Risiken des Leihverkehrs werden dadurch etwas vom Menschen auf das Kunstwerk verlagert, denn die Sorge des Menschen, der die ihm anvertrauten Objekte persönlich begleitet und der bei Risiken vorausschauend agiert, ist digital kaum möglich: Digital kann man besser nachverfolgen als vorhersehen. Als Behelf war es gleichwohl wertvoll und überall dort einsetzbar, wo die technische Ausstattung gegeben war. Daneben gab es auch im innerbetrieblichen Organismus der Museen neue Formate. Die mit intuitiver Vorausschau bereits 2019 bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen eingeführte Software Teams zur Etablierung progressiver Arbeitsformen und -strukturen sowie zur arbeitsalltäglichen kommunikativen Abhaltung von Digitalschaltungen eroberte innerhalb kürzester Zeit den Alltag und ist nicht mehr wegzudenken. Die digital literacy der multiprofessionellen Mitarbeiterschaft war wie nie zuvor gefordert und muss fortwährend gefördert werden. Ein Allgemeinplatz sagt, dass Krisen etwas für sich haben. Ja: Die Corona-Pandemie wird zum Entwicklungsschub. Sie wird ein neues Bewusstsein in der Hinterfragung dessen zurücklassen, was sozial wünschenswert ist, beispielsweise: Homeoffice oder Direktkontakt? Nach einer Zeit häufiger Arbeit im Homeoffice wissen wir das direkte Gespräch neu zu schätzen. Geht das Museum also digital durch die oder aus der Krise? Der Sommer 2020 zeigte eine starke Rückbewegung zum Analogen: Die Originale waren nachgefragt, wurden aufgesucht, aufmerksam und gesprächsintensiv wie eh und je. Dies ist nicht dem geschuldet, dass bestimmte Personen sich dem Digitalen verweigern, sondern dem Hunger nach Begegnung mit anderen Menschen und den Objekten des Museums. Die anthropologische und soziologische Frage wird brisanter denn je: Warum verlangt es die Menschen nach der direkten Begegnung mit anderen Menschen und den Originalkunstwerken, den Sachzeugnissen in Schlössern, Technikmuseen, Parks? Dass diese Frage dem Faktischen entspringt, hat erst das Virus sichtbar gemacht hat, das mit Leid, Krankheit, Tod, Vereinsamung und teils traumatischen Ängsten verbunden war und wurde. Diese Beobachtung muss die Grundlage dafür werden, wie man digitale Angebote als sinnhaften Bestandteil musealer Tätigkeit und Aufgaben etabliert. All das täuscht nicht darüber hinweg, dass die musealen Finanz- und Personalressourcen deutschlandweit nicht genügen, auch nur innerhalb von zwei Jahrzehnten die Bestände komplett digital zugänglich zu machen. Die universitäre Forschung wünscht sich eine solche Verfügbarkeit verständlicherweise. Doch ist – die Frage sei gestattet – eigentlich ein Weg zur tieferen Erkenntnis nur dadurch zu beschreiten, dass alles vom Schreibtisch alias Bildschirm
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aus angeschaut werden kann? Ist die digitalisierende Museumserweiterung geeignet, eine Vertiefung der Erkenntnisse zu befördern? Sie ist es, sobald man neben den Zugängen zu den Beständen auch die zielgruppenspezifische Vermittlung in den Fokus nimmt. In einer aktuellen Studie5 wirft der Hamburger Kulturmanager und Archäologe Andreas Hoffmann die Frage auf, ob und warum Museen und Ausstellungshäuser als „digitalfreie Räume“ denk- und wünschbar sind, und er stellt die beschleunigende Digitalisierung gegen ein Zurück „zum entschleunigten analogen Museum“, das der Betrachtung von Kunst gleichermaßen Zeit und Raum zu geben vermag und damit der Emotionalität und Intellektualität statt der omnipräsenten und flüchtigen digitalen Rezeption hohe Aufmerksamkeit schenkt. Man ist hier zum philosophischen Diskurs eingeladen: Kann das Abbild von einem Bild genügen? Kann der Scan einer Skulptur hinreichen, selbst wenn sie als Rundumansicht aufgenommen ist? Es ist möglich, ein Objekt im 3D-Scan vor sich beliebig zu drehen und zu wenden; doch das ist eine inadäquate Betrachtung, denn es entspricht gar nicht der künstlerisch intendierten Rezeption, sondern wirkt wie ein modernes Digitalspielzeug. Gewiss, die Rissigkeit, Alterung und Farbigkeit des Elfenbeins einer Statuette, die Unterseite einer Porzellanfigur mit Manufakturmarke sind dadurch wahrnehmbar. Doch die kleinere oder größere Dimension des Objekts in der Vitrine eines Ausstellungsraumes, die Anmutung der Alterungsspuren, die kuratorisch inszenierte Begegnung mit anderen Objekten im gleichen Kontext oder gar die bewertende, mit modellierendem Effekt einhergehende Beleuchtung eines Kunstwerks, das sind Möglichkeiten, die jedes Museum fallweise evaluieren muss. “The best use of digital is not to make you aware of the technology, but to make you aware of the art.” So argumentierte Jane Alexander, Chief Information Officer im Cleveland Museum of Art, und: „Technology can act as a useful conversation starter.“6 Der Hunger der Museumsgäste nach dem Original im Raum hat viele Gründe. Jedes Gemälde hat einen Körper und Rahmen, die ebenso erfahren sein wollen wie etwa die sogenannte Hängehöhe als Teil der musealen Inszenierung. Die Werke dialogisieren mit den anderen im Ausstellungssaal. Andere Museumsgäste sind anwesend. Sind all das nicht subkutan einfließende Faktoren des Lebens und Bewegens in einem Museum? Der Mensch wird dadurch, dass er andere Menschen im gleichen Raum erlebt, kompetitiv, emotional und intellektuell aktiviert. Zu diesen erprobten und geschätzten Qualitäten des Aufenthaltes vor den Originalen gesellen sich komplementär die Angebote im digitalen Raum, die einen Besuch vor- oder nachbereiten, Kontakt mit dem Museum aus der Ferne ermöglichen, manche Zielgruppen gar erst zum Besuch motivieren können – etwa ein Prominenter, der seinen Museumsbesuch in den sozialen Medien teilt, wie jüngst David Garett. Museen und Gesellschaft müssen die digitalen Werkzeuge allerdings weiter schärfen, damit diese auch den Blick für die Kunst in den Museen schärfen. Der Bildschirm vereinzelt den Menschen als Rezipienten allzu leicht und macht ihn oft zum Konsumenten. Er stellt meist eine Einbahnstraße her und untergräbt den Austausch am und vor dem Objekt. Daraus ergibt sich keineswegs ein Plädoyer dafür, auf die digitale Erschließung zu verzichten. Es beglückt vielmehr, dass beispielsweise die Standortangaben bei Bavarikon endlich
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verbessert wurden; das dient dem Publikum zur Auffindbarkeit der Originale im konkreten Museumssaal. Digitalisierung ist aber nicht das Heil, sondern allenfalls das oben benannte Werkzeug der vertieften Erkenntnis und der optimierten Kommunikation. Die sonderbarsten, respektive anregendsten Auswüchse erfuhr die glücklicherweise endlich öffentlich sichtbare Debatte, indem die Kunstwissenschaftlerin Anika Meier in Monopol im November 2020 im Moment des zweiten Lockdowns aufdeckte, welch widerstreitende Positionen im Raume stehen. Sie führte die Haltung des anerkannten kritischen Geistes Peter Weibel in ihre Debatte ein, der zitiert wird: „Im Museum, wo sich die Leute vor den Bildern drängeln, die sich gegenseitig nicht kennen und sich gegenseitig nur auf die Nerven gehen, wird – wie im Konzertsaal oder Theater – eine Nähe beschworen. Diese Nähe ist eine fiktive, von der Massenindustrie erlogene. Sie dient bloß dem Zweck, möglichst viele Besucher im Museum, im Theater oder Konzertsaal zu haben. Doch diese Fiktion geht nun zuende.“7 Bemerkenswert ist, dass diese misanthropisch-skeptizistische Untergrabung des Museums aus dessen eigener Mitte und von einem KünstlerKunsttheoretiker kommt. Man könnte angesichts des sichtbaren rezenten Zuspruchs zum Museumsbesuch mutmaßen, es bedürfe keiner digitalen Aufbereitung der Museumsbestände. Doch sie ist notwendig für die Vor- und Nachbereitung des Museumsbesuchs, sie ist informativ über Werke und Künstler, Orte und Zugänglichkeit, sie bietet filmische und interaktive Möglichkeiten. Sie kann neue Besuchergruppen erreichen. Erst in der Zusammenschau aller Möglichkeiten entwickelt sich eine vernünftige Perspektive. Wenn das Gedränge vor den Kunstwerken überall so wie von Peter Weibel beschrieben wäre, dann hätte man ja eine Menge erreicht, nämlich ein großes Interesse an den Originalen, und man müsste die Museumsgäste nur ein wenig im Raum verteilen; aber das ist eine Gedankenkonstruktion. Das Gedränge vor Albrecht Dürer und Peter Paul Rubens, vor Caspar David Friedrich und Max Liebermann in deutschen Museen hält sich in Grenzen; es gibt es nicht. Sobald man die Kunstwerke digital tiefer erschließt, lassen sich für das Verständnis der hinter ihnen liegenden Weltbilder, Persönlichkeiten, Provenienz, Schicksal und Materialität eine Fülle von Einsichten gewinnen, die zeigen und erklären, weshalb man diese alten und doch jung gebliebenen Kunstwerke überhaupt anschauen solle (hierzu lassen sich Beispiele vom Städel-Museum in Frankfurt am Main über das dortige Jüdische Museum und bis zum Belvedere in Wien sowie solche der Staatlichen Museen zu Berlin oder auch einige unserer Google-Stories der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen nennen). Das nicht-digitale multisensorische Erleben von Kunstwerken, Museumsräumen, Interessentengesellschaften ist das Resonanzkapital der Museen. Das Museum als Bildungseinrichtung war seit der Aufklärung ein Ort lebendigen Gesprächs; das Opernhaus war ein Ort gemeinsamen Schweigens. An diese humanen Traditionen muss das Museum heute anknüpfen und dafür kann die digitale Aufbereitung seiner Inhalte und Objekte erheblichen Profit bereitstellen – geistigen, wissenden, zwischenmenschlichen. Wieso sind Konzertsäle nie unter diesem Legitimationsdruck, wieso sind es aber die Museen, bei denen der staatliche oder steuerzahlende Zuschuss pro Eintrittskarte weitaus geringer ist als in der Oper? Dies hat mit dem Bild des Museums in
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der Gesellschaft zu tun, das noch immer auf der Annahme basiert, im Museum hingen ja die Bilder ruhig, still und trocken an der Wand, und das koste weder Geld noch Geist. Eine Aufgabe des Museums wird im nächsten Jahrzehnt sein, nicht nur seine Legitimität zu dokumentieren und diskutieren, sondern seine soziale Notwendigkeit, seine Sozialrelevanz, seine Zwischen- und Mitmenschlichkeit, die über eine etwaige Systemrelevanz hinausgeht. Für diesen Gedanken bedarf es dessen, was der Philosoph Julian Nida-Rümelin eine „digitale Geisteshaltung“8 nannte, die weit über Marketing und Vermittlungsangebote hinausreicht: Dies meint Bereitschaft und Befähigung zum Nachdenken über Größe und Grenzen, Sinn und Unsinn des und im Digitalen, ja mehr noch – über Ethik und Hygiene des Digitalen.
1 Regina Franken-Wendelstorf u.a. (Hrsg.) (2019): Das erweiterte Museum, in: MuseumsBausteine Bd. 19, Berlin/München; Update (2019): Museen im digitalen Zeitalter, in: Museumskunde Heft 84; „Chancen und Nebenwirkungen – Museum 4.0“, siehe Bericht zur ICOM-Jahrestagung (2020), in: Mitteilungen Heft 42, S. 21–25 2 Julian Nida-Rümelin/Kathrin B. Zimmer (2020): Kultur im Zeichen von Corona. Chance und Herausforderung für Kulturinstitutionen, in: Avi so September, München, S. 30 3 Julia Greif (2020): Was bleibt von den neuen digitalen Formaten in Museen und Theatern?, auf: www.augsburger-allgemeine.de 4 Sandra Richter (2020): Museale Kunstvermittlung Online. Exemplarische Betrachtungen digitaler Vermittlungsangebote während der coronabedingten Schließung im Frühjahr 2020, Bachelorarbeit, Hochschule für Technik und Wirtschaft 5 Andreas Hoffmann (2020): Smart Art. Museen und Ausstellungshäuser in einer digitalisierten Gesellschaft, in: Handbuch Kultur management Ausgabe 69, S. 77 6 Manuel Charr (2020): How technology is bringing museums back to life, auf: www.museumnext.com 7 Anika Meier (2020): Kultur im Digitalen. Museen müssen die besseren sozialen Medien werden, auf: www.monopol-magazin.de 8 Julian Nida-Rümelin/Kathrin B. Zimmer (2020), wie Anm. 2, S. 33
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VON KONZEPTEN UND PROTOTYPEN JOHANNES C. BERNHARDT
Dr. Johannes C. Bernhardt ist Digital Manager am Badischen Landesmuseum und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Projekten zur Digitalisierung und neuen Methodenansätzen. Nach einer Dekade Forschung und Lehre an den Universitäten Freiburg, Mannheim und Bochum wechselte er 2017 ans Badische Landesmuseum zur Entwicklung eines Digitalisierungskonzepts für die Sammlung Friedrich Creuzer. Von 2018-20 leitete er das Projekt Creative Collections.
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Das Badische Landesmuseum verfolgt mit seinem neuen Museumskonzept die Redefinition der Besucher*innen als aktive Nutzer*innen. Erste Prototypen erproben das Zusammenspiel von analogen und digitalen Angeboten, während mehrere Innovationsprojekte auf die Synthese von Partizipation und Digitalität zielen.
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uch wenn es trivial sein mag: Digitalisierung und Digitalität sind nicht das Gleiche. Im Kulturbetrieb wird zwar nach wie vor viel über Digitalisierung gesprochen, je nach Kontext werden darunter aber sehr unterschiedliche Dinge verstanden. Einerseits kann man Digitalisierung als Megatrend fassen, der mehr oder weniger synonym die gesamte digitale Transformation umfasst1 und in einer langen Kontinuität die jüngste Antwort auf die Herausforderungen der Moderne darstellt.2 Andererseits wird mit Digitalisierung aber häufig nur die Produktion von Digitalisaten bezeichnet, sei es mit Blick auf die Einführung der E-Akte oder den Aufbau von Online-Sammlungen.3 Vor diesem Hintergrund geht der Begriff der Digitalität dezidiert einen Schritt weiter, meint von vornherein die Verschränkung von Analogem und Digitalem und ist von Felix Stalder als nukleus einer neuartigen kultur beschrieben worden: Nutzer*innen digitaler Medien bieten sich neue Möglichkeiten, eigene Referenzzusammenhänge zu bilden, sich in den Sozialen Medien zu vergemeinschaften und mit Hilfe von Algorithmen und Suchmaschinen die potentielle Informationsflut nach den eigenen Interessen zu ordnen.4 Für die strategische Neuausrichtung von Museen ist mit diesem Ansatz der Digitalität tatsächlich deutlich weiter zu kommen: Da er letztlich gleichbedeutend ist mit einem weitreichenden Empowerment der Nutzer*innen, stellt er an Museen die klare Forderung, digitale Angebote in sich schnell verändernden Sinnzusammenhängen zu situieren und sich zu gestaltenden Akteuren der Kultur der Digitalität zu entwickeln.5 Aus dieser Perspektive möchte ich im Folgenden das Badische Landesmuseum in den Blick nehmen. Als großes kulturhistorisches Museum für den Badischen Landesteil Baden-Württembergs bewahrt es kulturhistorische Artefakte aus 50.000 Jahren Menschheitsgeschichte – und hat gleichsam aus der historischen Tiefe seinen ganz eigenen Weg in die Kultur der Digitalität entwickelt. Das Badische Landesmuseum ist momentan im Umbruch. Seit rund 100 Jahren ist es im Karlsruher Schloss untergebracht, das nach Evakuierung der Sammlungen und weitgehender Zerstörung in der Nachkriegszeit wiederaufgebaut wurde. Da seit vielen Jahren ein grundlegender Sanierungsbedarf besteht, wird das Schloss in den kommenden Jahren vollständig geräumt und als ein Großprojekt des Landes Baden-Württemberg modernisiert werden. Für das Museum bot sich dadurch die einmalige Gelegenheit, die Institution von Grund auf neu zu denken, so dass die kuratorischen Teams in einem länger währenden Prozess ein neues Museumskonzept entwickeln konnten.6 Im Zentrum des Konzepts steht ein neues Verhältnis zwischen den Sammlungen und den Besucher*innen. In den aktuellen Sammlungsausstellungen des Landesmuseums sind rund 13.000 Exponate zu sehen, denen etwa 500.000 Objekte in den Depots gegenüber stehen. Die große Mehrheit dieser Objekte war bislang nur Wissenschaftler*innen zugänglich. Um dieser Situation zu begegnen, folgt das neue Konzept aktuellen Trends und zielt
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auf die systematische Öffnung der Depots sowie die Rekonzeption aller Sammlungsausstellungen. In Anlehnung an Bibliotheken und Archive wird das Museum als archiv der dinge neu gedacht, in dem die Besucher*innen Zugang zu allen Sammlungsobjekten erhalten.7 Herzstück dieser Neukonzeption ist das Format der expothek, das wie ein Schaudepot eine Vielzahl an Objekten sichtbar aufbewahrt und wie in Lesesälen direkt zugänglich macht. Besucher*innen werden somit konsequent als aktive Nutzer*innen ihres kulturellen Erbes verstanden.8 Das neue Museumskonzepts ist in eine umfassende digitale Strategie eingebettet.9 Einerseits wird die Digitalisierung der Bestände und der Aufbau eines digitalen Katalogs vorangetrieben, um die Objekte für die Nutzer*innen auffindbar und zugänglich zu machen. Andererseits ist ein neues System zum Management der Nutzer*innen eingeführt worden: Die traditionelle Eintrittskarte wird durch einen für ein Jahr gültigen Nutzerausweis und ein individuelles Nutzerkonto ersetzt. In den Nutzerausweis integriert ist ein NFCChip, der hinterlegte Daten wie Postleitzahlen und Sprachauswahlen abruft, die bisherigen Interaktionen mit Objekten im Nutzerkonto speichert und künftig sowohl onsite als auch online zahlreiche Servicefunktionen bieten wird. Schon diese ersten Schritte in Richtung Neudefinition der Besucher*innen sowie die Begegnung mit den Nutzer*innen auf Augenhöhe ist durch eine enge Verzahnung von analoger und digitaler Infrastruktur bestimmt. Im Sommer 2019 wurde die Sammlungsausstellung archäologie in baden als Prototyp für die Umsetzung des neuen Museumskonzepts eröffnet.10 Inhaltlich liegt der Schwerpunkt der Ausstellung auf der Ur- und Frühgeschichte und Funden aus der Region Baden. Die konkrete Ausgestaltung entwickelten Studierende zweier Hochschulen aus Konstanz, die gezielt unterschiedliche fachliche Hintergründe der Architektur, des Kommunikationsdesigns und der Informationswissenschaft eingebracht haben. Zentrale Aufgabe der interdisziplinären Teams war es, die Ausstellungsfläche von rund 600 Quadratmeter in drei Räume zu untergliedern sowie analoge und digitale Zugänge auf innovative Weise miteinander zu verknüpfen. Der erste Raum präsentiert die Highlights der Sammlung: Beim Betreten des Raumes werden die Nutzer*innen von einem großen Bildschirm begrüßt, der sie anhand ihres Nutzerausweises auf einer Karte lokalisiert und mit den ausgestellten Funden in Beziehung setzt. Dreizehn Vitrinen mit Highlight-Exponaten führen in die räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten ein und präsentieren Objekte von der Steinzeit und der Metallischen Revolution bis zu den Kelten, Römern, Germanen und Merowingern. Die Vitrinen-Bildschirme können mit dem Nutzerausweis aktiviert werden und zeigen Texte in Deutsch und Englisch oder eine Kinderspur. Sie bieten zudem die Möglichkeit, jederzeit neue Inhalte zu aktuellen Forschungen oder Geschichten zu laden, so dass die Nutzer*innen immer auf aktuelle Informationen zurückgreifen können. Im zweiten Raum befindet sich die expothek. Der Raum ist auf beiden Seiten von raumhohen Vitrinen gesäumt, in denen sich rund 1.500 Objekte befinden. In der Mitte des Raums sind drei Medientische mit je vier Arbeitsplätzen aufgestellt. In der Expothek sind stets sogenannte Explainer anwesend – ein neu eingeführtes Mitarbeiterprofil, das die Nutzer*innen bei der Erkundung der Objekte unterstützt. Da es in der Ausstellung
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keine Objektschilder mehr gibt, können die Besucher*innen die Objekte mit Hilfe von expophones und augmented reality direkt an den Vitrinen identifizieren. Legt man die expophones auf einen der Medientische, können die gesammelten Objekte genauer recherchiert oder spielerisch Angebote genutzt werden. Vor allem dient die Infrastruktur aber dazu, den Nutzer*innen Zugang zu den ausgestellten Objekten zu geben. Mit dem eigenen Nutzerausweis und dem digitalen Katalog können Objekte wie in einem Lesesaal bestellt, bei einem persönlichen Termin mit den Explainern aus den Vitrinen genommen und direkt vorgelegt werden – im Gespräch können sie dann untersucht und in vielen Fällen sogar in die Hand genommen werden. Im dritten Raum befindet sich das expolab. In drei Vitrinen werden Objekt-Ensembles präsentiert, etwa die Ausstattung eines Kriegergrabes. Zwei Virtual-Reality-Brillen pro Ensemble ermöglichen ein immersives Erlebnis der Vergangenheit: Setzen die Nutzer*innen die Brillen auf, werden sie gemeinsam mit den Objektensembles in die ursprünglichen Kontexte zurückversetzt. In dieser virtuellen Vergangenheit erleben die Nutzer*innen längere Geschichten, etwa die Ereignisse, die zum Tod eines Kriegers führten. Um die Szenen möglichst greifbar und auch für Gruppen erfahrbar zu machen, sind an einer Wand des expolabs Monitore angebracht, die in Echtzeit übertragen, was einzelne Nutzer*innen gerade in der virtuellen Vergangenheit erleben. Mit ihrer neuartigen Infrastruktur ist die Sammlungsausstellung archäologie in baden ein Prototyp, der eine vertiefte Auseinandersetzung mit den musealen Objekten ermöglichen soll. Bisher wird er sehr gut angenommen und von der museumseigenen Abteilung für Besucherforschung fortlaufend evaluiert. Tatsächlich nähert sich die Ausstellung nicht nur Nutzungsszenarien der Kultur der Digitalität an und bietet mit der Vorlage von Originalen neuen Mehrwert, sie bietet zugleich auch eine Vielzahl an Ausgangspunkten, um die Nutzer*innen aktiv an der Neuausrichtung des Museums zu beteiligen. Das von 2018 bis 2020 vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg geförderte Projekt creative collections setzt genau an diesem Punkt an. Erklärte Zielsetzung war und ist es, Digitalität und Partizipation systematisch zusammen zu denken, die digitale Infrastruktur des Museums weiterzuentwickeln und die Nutzer*innen in die Entwicklung neuer Digitalformate einzubeziehen. Seit 2018 sind daher neue Partizipationsformate im Museum etabliert worden. So konnten sich Bürger*innen in einer offenen Ausschreibung bewerben, um Mitglieder eines Beirats zu werden. Nachdem zehn Mitarbeiter*innen des Museums zu Design-Thinking-Moderator*innen ausgebildet worden waren, haben sie mit den rund 50 Beirät*innen Ideen gesammelt und in mehreren Teams jeweils eine Idee zu einem einfachen Prototypen weiterentwickelt.11 Zudem ist das Format des museumcamp eingeführt worden, das ein offenes Forum für die Diskussion über das Museum der Zukunft bietet. Im November 2018 fand das erste museumcamp statt, in dessen Rahmen rund 90 Teilnehmer*innen ihre Themen und Ideen zur Diskussion gestellt und rund 30 Sessions selbst moderiert haben.12 In der Weiterführung dieser Prozesse ist 2019 das museum x eingerichtet und eröffnet worden. Das „x“ ist programmatisch gemeint: Es geht nicht um vorgegebene Antworten, sondern um die gemeinsame Frage, wie die Zukunft des Museums aussehen soll und was
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es mit dem „x“ auf sich hat. Daher ist es bewusst als offener und kostenfrei zugänglicher Raum konzipiert, der auch für eigene Veranstaltungen genutzt werden kann. Lokalisiert ist es im Museum beim Markt direkt im Stadtzentrum Karlsruhes, um das Badische Landesmuseum mit der Stadt und ihren Bürger*innen zu verbinden.13 Damit schließt das museum x an die schon länger laufende Debatte über dritte orte an und bietet neben der archäologie in baden eine zweite Testfläche für die Neukonzeption des Museums und die Erprobung digitaler Konzepte.14 Neben Themenzyklen etwa zu Gaming im Museum mit Workshops und Vorträgen fand dort eine Vielzahl an Kooperationsveranstaltungen mit der Bürgerschaft statt. Schließlich wurde im museum x auch der erste ganz aufs Museum bezogene Hackathon durchgeführt, auf dem 15 Teams in 32 Stunden zu den Ideen und Bedarfen der Bürgerschaft aus den partizipativen Veranstaltungen Prototypen programmiert haben.15 Aus diesen Prozessen ist eine Vielzahl an innovativen Digitalformaten, Prototypen und Ansatzpunkten hervorgegangen, von denen 2020 eine Auswahl umgesetzt worden ist. Konnte bereits 2019 mit Unterstützung des Freundeskreises des Badischen Landesmuseums ein Pepper-Roboter im museum x aufgestellt werden, ist dieser vom Projektteam um eine Quiz-App und ein an die Stimmungslage der Nutzer*innen anpassbares Führungsformat erweitert worden. Die Web-App dein geschenk ermöglicht es, das eigene Museumserlebnis zu teilen, Touren zu entwerfen und als persönliches Geschenk zu verschicken. Komplementär bietet die App mein objekt einen inhaltlich-emotionalen Zugang, indem die musealen Objekte selbst zum Sprechen gebracht werden: In einer an Tinder angelehnten Mechanik können die Nutzer*innen Objekte nach den eigenen Interessen auswählen, einen Chat mit ihnen beginnen und sie im Museum treffen. Im Anschluss an den Hackathon befindet sich schließlich eine eigens auf das Museum zugeschnittene App für Schatzsuchen und Escapegames in Entwicklung. Alle diese Projekte setzen an konkreten Bedarfslagen an, zielen auf die Umsetzung möglichst flexibel verwendbarer Frameworks und nähern das Museum und seine Inhalte weiter an die Nutzungsgewohnheiten der Kultur der Digitalität an. Die Situierung des Badischen Landesmuseums in der Kultur der Digitalität ist ohne Veränderungen in der institutionellen Struktur nicht zu erreichen. Experimentiert das Haus schon länger mit referatsübergreifenden beziehungsweise -unabhängigen Konstellationen und organisiert Projektarbeit in Matrix-Modellen, sind für die Archäologie in Baden mit den Explainern neue Stellenprofile eingeführt worden, um die Nutzer*innen in der digital gestützten Auseinandersetzung mit den Objekten bis hin zur direkten Vorlage der Originale zu unterstützen.16 Waren im Projekt creative collections zunächst zwei Digital Catalysts zur Verbreitung von Digitalthemen in Haus angesiedelt, hat das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg 2020 die Etablierung von zwei festen Stellen fürs Digital- und Datenmanagement freigegeben, die die angestoßenen Prozesse nun weitertragen und die Gesamtstrategie des Hauses weiterentwickeln.17 Ein Ziel muss in dieser Hinsicht zweifellos sein, über die Referate hinweg Kompetenzen und digital literacy bis hin zu einer breit getragenen digitalen disposition aufzubauen, die ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Digitalen und die
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flexible Beherrschung sowohl klassischer Prozesse als auch agiler Methoden miteinander verbindet – in einer langfristigen Perspektive ließen sich damit die Grundlagen für ein prozessuales und dynamisches Verständnis von digitaler Transformation legen.18 Für die Weiterentwicklung der digitalen Strategie haben sich zudem wichtige Impulse aus der Erschließung des Themenfeldes Künstliche Intelligenz ergeben. Nachdem das Thema bereits in der ersten Projektphase der creative collections in Hintergrundgesprächen mit Expert*innen eine Rolle gespielt hatte, gewinnt es in der Kulturszene zunehmend an Boden und kann zur Adressierung vieler Bedarfe aus den Partizipationsprozessen genutzt werden.19 Das Weiterdenken der creative collections hat daher ziemlich organisch zur Entwicklung des explorativen Projekts creative user empowerment geführt. Dabei ist der zentrale und auch schon frühere Umsetzungen leitende Gedanke, die Besucher*innen nicht nur als aktive Nutzer*innen, sondern als echte Mitgestalter*innen des Museums zu begreifen und das Museumskonzept konsequent weiterzudenken. Das Projekt beginnt 2021 mit einer Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und zielt in drei Jahren Laufzeit auf die Entwicklung und Implementierung von KI-gestützten Assistenzsystemen, um die Nutzer*innen in der Kuratierung ihrer eigenen Inhalte zu unterstützen. Komplementär zum Weiterdenken des Museumskonzepts setzt das Projekt museum x.o an einem weiteren Grundproblem der digitalen Transformation an: der Geschwindigkeit. Während die Kultur der Digitalität durch kurze Aufmerksamkeitszyklen, schnelle technische Entwicklungen und ständiges Experimentieren geprägt ist, sind klassische Museumsformate wie Ausstellungen oftmals mit mehreren Jahren Vorlauf verbunden und können höchstens auf längerfristige Trends in der Gesellschaft reagieren. Auch in der Covid19-Pandemie ist diese Problematik erneut deutlich geworden. Inzwischen haben zwar viele Museen interessante Angebote entwickelt, aber auch größere Häuser mit voll entwickelten digitalen Strategien tun sich nach wie vor schwer, schnell auf die Spezifika neu eintretender Situationen zu reagieren. Das Projekt museum x.o zielt daher auf die Entwicklung einer digitalen Plattform, mit der man in Rapid-Response-Szenarien aktuelle Themen aufgreifen, Dialoge zwischen Museen und ihren Nutzer*innen auf Augenhöhe ermöglichen und die co-kreative Entwicklung neuer Experiences umsetzen kann; aufbauen kann das Plattformprojekt auf der bereits vorhandenen Infrastruktur und ist zugleich verknüpft mit einem Innovationsprojekt in Kooperation mit dem Karlsruher Institut für Technologie und dem Sugar-Netzwerk.20 Durch die assoziierte Partnerschaft im Verbund museum4punkt0 läuft auch dieses Projekt 2021 an. Es bleibt also spannend – mit dem weiteren Kompetenzaufbau, der Erschließung Künstlicher Intelligenz und neuen Formen der Kommunikation mit dem Publikum setzt das Badische Landesmuseum seinen Weg in die Kultur der Digitalität entschieden fort.
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1 Oliver Faber ( 2019): Digitalisierung – ein Megatrend: Treiber & Technologische Grundlage, in: Michael Erner (Hg.): Manage ment 4.0 – Unternehmensführung im digitalen Zeitalter, Berlin, S. 3–42; Henning Mohr/Christoph Constantin Nieman/ Katharina Knapp: Time to Change. Von welchen gesellschaftlichen Herausforderungen sind Museumsorganisationen betroffen?, in: Deutsches Bergbau-Museum (Hg.). Hidden Potential. Bochum, S. 6–11 2 Armin Nassehi (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 3 Zum Stand der Debatte: Udo Andraschke/Sarah Wagner (Hg.) (2020): Objekte im Netz. Wissenschaftliche Sammlungen im digitalen Wandel, Bielefeld; Holger Noltze (2020): World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution, Bielefeld; Black, Graham (Hg.) (2020): Museums and the Challenge of Change. Old Institutions in a New World, London 4 Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Berlin 5 Mit dem Empowerment der Nutzer und Nutzerinnen lässt sich an die schon lange laufende Partizipationsdebatte anschließen; vgl. Nina Simon (2010): The Participatory Museum. Santa Cruz; Anja Piontek (2017): Museum und Partizipation, Bielefeld; Susanne Gesser/Nina Gorgus/Angela Jannelli (Hg.) (2020): Das subjektive Museum. Partizipative Museumsarbeit zwischen Selbstvergewisserung und gesellschaftspolitischem Engagement, Bielefeld 6 Eckart Köhne (2021): Museumsbesucher zu Nutzern machen! Ein neuer Umgang mit den Sammlungen, in: Badisches Landesmuseum (Hg.). Geschichte und Geschichten, Karlsruhe, S. 63–67 7 Vgl. Thomas Thiemeyer (2018): Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken, Wien/Köln/Weimar 8 Vgl. auch Historisches Museum Frankfurt (Hg.) (2019): Cura 19: Digitale Museumspraxis, Frankfurt a. M. 9 Vgl. Christian Gries (2020): Digitale Strategien in wissenschaftlichen Sammlungen, in: Udo Andraschke/Sarah Wagner (Hg.): Objekte im Netz.- Wissenschaftliche Sammlungen im digitalen Wandel, Bielefeld, S. 71–78; Mirjam Wentzel (2019): Das postdigitale Museum, in: Landesstelle für die nicht-staatlichen Museen in Bayern (Hg.). Im digitalen Raum. Das erweiterte Museum. München, S. 26–29 10 Vgl. www.landesmuseum.de/expothek 11 Ausführlicher Johannes C. Bernhardt/Marius Schmidt (2021): Design Thinking im Museum, in: Badisches Landesmuseum (Hg.). Cultural Thinking, Karlsruhe 12 Ausführlicher: Johannes C. Bernhardt (2019): Creative Collections., in: Badisches Landesmuseum (Hg.), Tätigkeitsbericht 2016–2018, Karlsruhe, S. 26–30 13 Ebd. 28f. 14 Ray Oldenburg (1989): The Great Good Place, New York; Birgit Mandel (2017): Das Museum als Treffpunkt und „guter Nachbar“. Erweiterung der Aufgaben und Programmatik von Museen durch Kooperationen. In: Standbein Spielbein – Museumspädagogik aktuell 2/2017, S. 30–35 15 www.hackathonx.de 16 Vgl. auch Henning Mohr/Christoph Constantin Nieman/Katharina Knapp (2019): Interview on Agile Management in Museums. Gespräch mit Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin, in: Deutsches Bergbau-Museum (Hg.). Hidden Potential. Bochum, S. 52–59 17 Zur Entwicklung von Stellenprofilen: Art Fund (Hg.) (2017): The 21st-Century Curator. A Report into the Evolving Role of the UK Museum Curator, and Their Needs for the Future, Chippenham; Sebastian Ruff (2019): Digitale Transformation im Museum, in: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern (Hg.). Im digitalen Raum. Das erweiterte Museum, München, S. 36–37 18 Vgl. Lalla Merlin (2019): Digital is Key. Carolyn Royston of Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum, auf: www.blooloop.com sowie Sejul Malde/Anra Kennedy/Ross Parry: One by One. Building Digitally Confident Museums Phase Two Report: Understanding the Digital Skills & Literacies of UK Museum People, Leicester 19 Stiftung Niedersachsen (Hg.) (2019): Kultur gestaltet Zukunft. Künstliche Intelligenz in Kunst und Kultur, Hannover; Oonagh Murphy/ Elena Villaespesa (2020): AI. A Museum Planning Toolkit, London; ferner die Projektseite des Qurator Projekts auf: www.qurator.ai/projekt 20 www.sugar-network.org
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FAST FORWARD NEULAND
HELMUT GOLD, ANNABELLE HORNUNG, ANJA SCHALUSCHKE
Dr. Helmut Gold ist Direktor des Museums für Kommunikation Frankfurt am Main und Kurator in der Funktion eines Generaldirektors der Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Der studierte Historiker und Literaturwissenschaftler war zuvor für verschiedene Museen und als Referatsleiter für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln tätig.
Dr. Annabelle Hornung ist Direktorin des Museums für Kommunikation Nürnberg. Die studierte Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin war zuvor als Projektleiterin Ausstellungen und Veranstaltungen an der Goethe-Universität/Frankfurt tätig.
Anja Schaluschke ist Direktorin des Museums für Kommunikation Berlin und Ständige Vertreterin des Kurators der Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte und war zuvor Geschäftsführerin des Deutschen Museumsbunds.
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Die Museen für Kommunikation in Berlin, Frankfurt und Nürnberg erweitern ihre Angebote seit vielen Jahren in den virtuellen Raum. Dabei umfasst die digitale Strategie alle Kernaufgaben der Museumsarbeit. Im Fokus steht, die Zugänglichkeit zu erhöhen, das kulturelle Erbe nutzbar zu machen und verschiedene Zielgruppen zu erreichen.
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er März ist innerhalb der „Museums-Jahreszeiten“ die Zeit des Aufbruchs. Die Ausstellungssaison beginnt. Im Berliner Museum für Kommunikation bedeutete das für 2020 die Eröffnung von briefe ohne unterschrift. ddr-geschichte(n) auf BBCradio und im Frankfurter Haus den Beginn der Präsentation #neuland. ich, wir und die digitalisierung. Doch dann kam statt des Aufbruchs der Umbruch, die Pandemie. Über die Entscheidung zum Lockdown gab es großes Einvernehmen, denn es war klar, dass das öffentliche Leben unverzüglich heruntergefahren werden muss. So schlossen zwar die Museen, die Ausstellungen jedoch waren fertig, wollten eröffnet, erlebbar gemacht und kommuniziert werden. Wie sollte man damit umgehen? Die Lösungen waren abhängig von den jeweiligen Umständen: Die Berliner Eröffnung, zu der zahlreiche ältere Zeitzeug*innen hätten kommen sollen, wurde absagt, in Frankfurt entschied man sich für einen anderen Weg: Die Ausstellung #neuland. ich, wir und die digitalisierung, ein gemeinsames Projekt mit der Nemetschek-Stiftung, widmet sich der ohnehin aktuellen, aber gerade in Coronazeiten noch virulenteren Frage, wie die digitale Transformation unser Leben verändert. Die Schau war gleich zu Beginn des Lockdowns fertiggestellt worden und damit die erste Ausstellung der Stiftung, die digital mit Filmbeiträgen, Statements und Einblicken eröffnet wurde – jedoch als aufgezeichnete Version und nicht im Live-Stream. Als ab 12. Mai 2020 der Publikumsverkehr wieder beginnen konnte, erfolgte unmittelbar eine Aktualisierung mit der sogenannten corona-spur. Sie widmet sich den Auswirkungen der Pandemie auf die zentralen Themen der Ausstellung: Kommunikation, Identität, Beziehungen und Wissen. „Die Ausstellung ist so aktuell wie eine solche Schau nur sein kann“ schrieb die FAZ am 20. Mai 2020 und kennzeichnete damit den Umstand, dass hier die Gegenwart unmittelbar in der Ausstellung reflektiert und kontextualisiert wurde. Im Berliner Haus sollte im März ein neues Programmformat starten – die wavy lates, ein After-Work-Angebot. Die geplanten Programmpunkte ersatzlos ausfallen zu lassen, kam nicht in Frage. So wurden aus den Angeboten eines Abends eine Reihe verschiedener digitaler Formate, vom Video-Artist-Talk in der Ausstellung Like you! über das Audiofeature kunst in der isolation bis zur Ausstellungsführung als Digital-Comic. Die ersten Monate der Pandemie entwickelten sich so zu einem kreativen Experimentierfeld. Für die Ausstellung briefe ohne unterschrift entstanden zehn Videoführungen, in denen das Ausstellungsteam inhaltliche Aspekte vorstellte. Der expotizer (digitale Erweiterung mit virtuellen Inhalten für Smartphone, Tablet oder Desktop, Anm. d. Red.) zur Ausstellung wurde sukzessive erweitert, unter anderem durch eingelesene Briefe und eine VideoExpress-Führung. Die so entwickelten Angebote boten zugleich Kommunikationsanlässe, denn bei geschlossenen Häusern galt es im Gespräch und im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bleiben. Hier erwies sich in Berlin die bereits Anfang Februar gestartete Kampagne #100jahre100postings als Glücksfall, mit der auf die im Herbst beginnenden
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Ausstellung on air. 100 jahre radio aufmerksam gemacht wurde. Alle drei Museen posteten zudem ihre Angebote über #closedbutopen und wurden damit Teil der globalen Kommunikation der Museumscommunity. Einen besonderen Einblick in den Zeiten der Pandemie bot das Blog des Projekts leben und lernen x.0: Hier bloggten im ersten Lockdown täglich, später mehrere Male monatlich Museumskolleg*innen über ihre Arbeit in Zeiten von Covid-19 sowie über die Tätigkeiten der drei Museen für Kommunikation. Diese Plattform zeigt, wie Co-Working auch über drei Standorte hinweg digital gut funktioniert. Und auch die Nutzung der Internetseiten änderte sich durch den Lockdown: Während der Traffic auf den Serviceseiten einbrach, die üblicherweise zur Vorbereitung des Museumsbesuchs genutzt werden, verdoppelten sich die Zugriffe beispielsweise auf expotizer und andere inhaltlich geprägte Angebote. Die Museumwebseiten wurden daher in kürzester Zeit so umgebaut, dass die digitalen Angebote und Zugänge zu den Sammlungsdatenbanken Priorität bekamen und Serviceinformationen in den Hintergrund rückten. Mit einem Online-Programmierkurs für Kinder ab 10 Jahren und verschiedenen Mitmachaktionen haben die Museen ein Kinderangebot auf ihren Webseiten geschaffen, das auch während des Lockdowns, bei geschlossenem Museum für die Hauptzielgruppe erreichbar ist. Kinder und Familien gehören zu den wichtigsten Besuchergruppen der drei Museen. Diese spricht vor Ort zum Beispiel die Kinderwerkstatt an – der Hands-On-Bereich für vier- bis zwölfjährige Besucher des Museums in Frankfurt. Neben einer Rohrpost und einer Druckwerkstatt ist eine Erfinderecke integriert, in der Kinder entsorgte Elektroteile umbauen und neu verwenden können. Die so entstehenden „Schrott-Roboter“ können die Kinder im Museum ausstellen. Zugleich startete die Museumspädagogik eine bis jetzt laufende stiftungsweite Mitmachaktion: Ein Erklärvideo zeigt, wie Kinder (oder interessierte Erwachsene) auch zuhause aus Umverpackungen und Elektro-Fundstücken einen „Schrott-Roboter“ bauen können. Der Aufruf, die so entstandenen Upcycling-Kunstwerke zu fotografieren und einzusenden, fand großen Zuspruch, wie die virtuelle Ausstellung belegt. Im Sinne des DIY-Ansatzes entwickelte das Frankfurter Museum außerdem für seinen Museumsshop To-go-Tüten mit kindgerechten Bastelinhalten rund um das Thema Kommunikation. Während die erste Zeit der Pandemie davon geprägt war, das analoge Angebotsspektrum auch digital abzubilden und zu erweitern, stellte sich nach der Wiedereröffnung im Mai schnell heraus, dass bei weitem nicht alles so war wie vorher. Angesichts der jeweiligen Beschränkungen und Abstandsgebote erwiesen sich die klassischen Formate als ungeeignet für eine unveränderte Fortführung. Es bedurfte der Ergänzung. Unser Anliegen war, dass die Museen als soziale Orte erlebbar und zugleich ein breiteres Publikum auch über den jeweiligen Museumsstandort hinaus erreicht würde. Livestreaming bot sich als integrierendes Format und als Beitrag zur Nachhaltigkeit an, denn das entstandene Material kann auch später noch auf den diversen Videoplattformen der Museen aufgerufen und angesehen werden. So fanden in Berlin verschiedene Veranstaltungen analog und digital als Livestream statt – wie eine Lesung oder Diskussion in einem nur kleinen Kreis von Teilnehmer*innen. In Frankfurt und Nürnberg entwickelten sich bewährte
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Veranstaltungsreihen zu hybriden Formaten: Der debatten-dienstag und der datendienstag wurden digital mit virtueller und interaktiver Partizipation. Gemäß dem Motto „Wir müssen reden!“ wurde der debatten-dienstag im Museum für Kommunikation Frankfurt als Veranstaltungsreihe so konzipiert, dass er den offenen Dialog und die Diskussionskultur zwischen Interessierten und Expert*innen fördern kann. Das Format der Veranstaltung ist wandelbar und sowohl als hybride, als auch als reine Onlineveranstaltung durchführbar. Der daten-dienstag ist eine Veranstaltungsreihe rund um das Thema Datenschutz, die das Museum für Kommunikation Nürnberg in Kooperation mit dem Bayerischen Landesamt für Datenschutzaufsicht und dem Bundesverband der Datenschützer realisiert. Nach dem ersten Lockdown wurde entschieden, die Termine in der zweiten Jahreshälfte digital beziehungsweise hybrid zu veranstalten. Die Vorträge wurden aus den Museen gestreamt, die Gäste konnten nur virtuell teilnehmen. Der zur Veranstaltung gehörige Dialog mit den Expert*innen und die lebendige Diskussion im Chat ließ sich während des Streamings aber direkt an das Podium herantragen – dieser Teil des Austausches ließ und lässt sich also ins Virtuelle übertragen. Neu war, dass sich das Publikum nun nicht mehr nur auf Franken, sondern auf das ganze Bundesgebiet erstreckte und die Reichweite sogar bis ins deutschsprachige Ausland erhöht wurde. Nachdem im Frühjahr die Eröffnungen nur digital, ganz ohne Publikum stattfanden, waren im Sommer und Herbst wieder Eröffnungen mit Gästen in kleinem Rahmen möglich. Zum Auftakt von on air. 100 jahre radio in Berlin lag es nahe, eine dem Thema adäquate Form zu wählen, und so fand die Eröffnung am 1. Oktober 2020 als live gestreamte Radiosendung statt. Vor Ort nahmen rund 90 geladene Gäste im großen Lichthof des Museums an der Eröffnung teil, bevor sie die Ausstellung in zwei Time Slots anschauen konnten. #neuland: ich, wir und die digitalisierung wanderte im Oktober vom Frankfurter in das Nürnberger Haus. Die Eröffnung wurde aufgrund der wieder steigenden Coronazahlen hybrid geplant, aufgezeichnet und über zwei Tage verteilt: Am 27. Oktober waren 20 Gäste im Museum präsent, die nach digitalen Grußworten, einer Diskussion und einem kurzen Input die Ausstellung besuchen konnten. Zwei Tage später folgte der zweite Teil der Eröffnung und damit der Beginn der neuen Live-Gaming-Reihe #nueworld des Museums für Kommunikation Nürnberg. Diese Erfahrungen haben gezeigt, dass hybride Formate viele Vorteile aufweisen: Durch die größere Reichweite beim Streaming und die Möglichkeit des Erhalts durch die Aufzeichnung lösen sich Probleme mit Raumgrößen und man kann unendlich viele Menschen erreichen. Trotz des erhöhten personellen und finanziellen Aufwands lohnt sich die Erweiterung ins Digitale und hybriden Formaten gehört sicher die Zukunft. Ähnlich wie on air.100 jahre radio in Berlin sollte auch die zweite große Ausstellung der Stiftung im Herbst 2020, back to future. technikvisionen zwischen fiktion und realität, in Frankfurt als besonderes und gleichzeitig sicheres Live-Erlebnis eröffnet werden – verteilt über vier Tage und mit unterschiedlichen Gästegruppen und Time Slots. Als am 30. Oktober die erneuten Museumsschließungen erfolgten, war eine sofortige Umplanung erforderlich. Ziel war nun, komplett im digitalen Format zu denken und die Gäste der Eröffnungen aktiv einzubeziehen mit allen Möglichkeiten der Videokonferenztechnik und allen Chatmöglichkeiten. Entlang eines eigens gefertigten Drehbuchs wurden bei
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einem Gang durch die Ausstellung deren Konzept und ausgewählte Exponate im Dialog mit den zugeschalteten Gästen präsentiert. Es gab die Möglichkeit, Fragen zu stellen und vertiefend mit den Expert*innen zu sprechen. Ziel war, auch digital ein unmittelbares dialogisches Erlebnis im virtuellen Museum zu schaffen. Das Fazit im Chat eines Besuchers bestätigte dies: „Es gibt in der gegenwärtigen Situation selten schöne Lösungen. Aber unter den nicht ganz so schönen Lösungen präsentiert dieser Abend sicher eine der schöneren“. Mit dem Konzept erreichte das Museum ein größeres Publikum als bei den klassischen Eröffnungen in Vor-Coronazeiten: Live waren rund 370 Personen zugeschaltet und in den Tagen unmittelbar nach der Eröffnung stiegen die Abrufe auf YouTube auf über 3.500 Personen. Im Frühjahr pandemiebedingt auf den späten Herbst verschoben, verwandelte sich das Festival der comicinvasion in Berlin notgedrungen in ein komplett digitales Format. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Comicverein präsentierten sich Comicverlage und die Preisträger*innen des Comic-Stipendiums ein Wochenende lang im Museum für Kommunikation Berlin in zwei mehrstündigen Live-Streamings: mit vielfältigem Rahmenprogramm wie Lesungen oder Mitmachangeboten für Kinder, digitalem Quiz in Echtzeit und digitaler Plattform, die die Präsentationsmöglichkeit für die Verlage ersetzte. Rund 2.000 Besucher*innen erlebten die comicinvasion so zwar aus einem leeren, aber dennoch belebten Museum. Im Nürnberger Haus begann parallel zum zweiten Lockdown das Rahmenprogramm der Ausstellung #neuland. Aufgrund der Erfahrungen des Sommers hatten die Museen die Begleitveranstaltungen zum größten Teil bereits digital geplant oder ihnen zumindest die Option eines hybriden Formates gesichert. Zunächst erweiterten sie den expotizer um einen Ausstellungs-Teaser, der eine öffentliche Führung zwar nicht ersetzen, aber einen guten ersten Eindruck geben kann, worum es in der Ausstellung geht. Das Rahmenprogramm startete dann mit einem digitalen Talk anlässlich der Eröffnung der bundesweiten aktionsstage netzpolitik und demokratie sowie der Teilnahme am Nürnberger Digitalfestival Remote. Bei der Veranstaltungsreihe together@home werden Aktivitäten angeboten, wie zum Beispiel ein Kochkurs oder eine Yogastunde, die man gemeinsam von zu Hause aus erleben kann. Grundsätzlich zeigt sich, dass es sich bei den digitalen Formaten lohnt, Kooperationspartner*innen zu gewinnen, um mehr Reichweite zu generieren und um von der gemeinsamen Erfahrung zu profitieren. Der Dezember ist für das Nürnberger Haus, mit seinem Teilschwerpunkt auf der Nutzung historischer Fahrzeuge (Postbus und Postkutschen), eine wichtige Zeit. Der weltberühmte Christkindlesmarkt ist seit Jahren ein wichtiger Outreach-Bereich des Hauses. Auf dem Markt ist das Museum sonst mit Kutschenfahrten und einer Kinderpost samt Mitmachangeboten präsent. Die Vorweihnachtszeit im ersten Coronajahr aber verschönerte das Museum seinen Gästen mit einem digitalen Weihnachtsprogramm: Neben Konzerten und Anleitungen, unter anderem für das Schreiben eines Briefes an das Christkind, gab es Ausmalbilder zum Runterladen, basierend auf historischen Weihnachtskarten aus der Sammlung oder eine dreiteilige virtuelle 360-Grad-Fahrt mit der Museumspostkutsche auf dem Kutschbock, die das Onlinepublikum entweder als Film
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schauen, oder von der aus es sich mit der Maus oder mit einer VR-Brille in 3D umsehen kann. Als digital bereits gut aufgestellte Stiftung lösten Pandemie und Lockdown bei uns Schock und Kreativität gleichermaßen aus. Der anfängliche Versuch, analoge Angebote möglichst direkt ins Digitale zu übersetzen, war nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu neuen hybriden Formaten und Teil des Lernprozesses, sich konsequent an den neuen digitalen Rezeptionswegen zu orientieren. Zugleich wuchs die Sehnsucht nach analogen Erlebnissen und dem Museum als realem Ort der Begegnung. Was wird bleiben vom Digitalhype nach Corona? Was führen wir weiter? Eine Evaluation der Angebote nicht nur hinsichtlich der Reichweiten, sondern auch des Aufwandes wird zu diesen Fragen sicher hilfreiche Hinweise geben. In der gesamten Museumslandschaft herrschen im Moment sehr viel Kreativität und kollegialer Austausch. Diese Form von Experimentierfreude sollte sich bewahren, wenngleich die Branche, die Träger sowie die Politik nicht ignorieren dürfen, dass verstärkte digitale Angebote neben einer besseren technischen Ausstattung auch eine neue Qualifikation der Mitarbeiter*innen voraussetzen. Das digitale Angebot wird den Museumsbesuch vor Ort nicht ersetzen, aber sinnvoll erweitern. Das galt auch bisher schon so, war aber oft wenig dialogisch und partizipativ gedacht. Dabei kann der digitale Museumsbesuch auch als soziales Erlebnis gestaltet werden, wenn wir es teilen, interagieren und uns vernetzen. Umgekehrt kann der analoge Besuch im Museum selbst durch virtuelle Angebote erweitert werden. Diese Entwicklung wäre auch ohne die Pandemie gekommen. Covid-19 hat sie lediglich beschleunigt. Die Kompetenzen, die wir als Museen dabei im Eiltempo ausbauen, werden uns künftig nützen, um analoge und digitale Angebote noch besser zu verknüpfen – im Interesse des Museumspublikums und im Hinblick auf eine nachhaltige Museumsarbeit. Digitalbereiche mfk-berlin.de/digital mfk-frankfurt.de/digital mfk-nuernberg.de/digital lebenx0.de/blog/ mfk-nuernberg.de/weihnachten/ mfk-berlin.de/comicinvasion/ Sammlung online sammlungen.museumsstiftung.de/ briefsammlung.de/ historische-telefonbuecher.de/ Expotizer briefe-ohne-unterschrift.museumsstiftung.de/ radio.museumsstiftung.de/ back-to-future.museumsstiftung.de/ ausstellung-neuland.de/ Vermittlung mfk-berlin.de/kategorie/kinder/ mfk-frankfurt.de/kategorie/kinder/ mfk-nuernberg.de/kategorie/kinder/
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OFFENE BEZIEHUNGEN
INTERVIEW MIT MIRJAM WENZEL
Prof. Dr. Mirjam Wenzel ist seit 2016 Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt und seit 2019 Honorarprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2007-15 koordinierte sie im Jüdischen Museum Berlin die (digital)mediale Vermittlung jüdischer Geschichte und Kultur. Mirjam Wenzel ist Autorin etlicher kulturtheoretischer Schriften und Herausgeberin von Publikationen zur deutsch-jüdischen Kunst- und Kulturgeschichte.
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Frau Dr. Wenzel, Was hebt die Digitalisierungsstrategie des Jüdischen Museums in Frankfurt von denen anderer Museen ab? In den letzten Jahren hat sich zunehmend die Haltung durchgesetzt, dass der OnlineZugang zu Sammlungen zugleich eine Nachnutzung der Digitalisate ermöglichen, also dem Open-Access-Gedanken verpflichtet sein sollte. Beides bildet den Kern der digitalen Strategie des Jüdischen Museums, die 2016 verfasst wurde und bis 2021 projektiert ist. Die Grundgedanken dieser ersten digitalen Strategie bestehen im Ausbau der Kommunikation und der Vernetzung des Museums via Social Media, in der Entwicklung von digitalen Bild- und Vermittlungsangeboten zu den Themen des Museums mit Onlineausstellungen, digitalen Ausstellungen und einer App, in der Verschränkung des Ausstellungsbesuchs mit dem Besuch der Website durch die RFID-Anwendung museum to go und in dem Onlinezugriff auf ausgewählte Sammlungsobjekte. Ein entscheidender Unterschied zu den digitalen Strategien anderer Museen ist, dass diese Grundgedanken von vornherein bereichsübergreifend angelegt waren und an ihrer Verwirklichung unsere Sammlungs- und Ausstellungskuratorinnen und -kuratoren ebenso mitgewirkt haben, wie die Kollegen und Kolleginnen aus den Bereichen Bildung, Vermittlung und Kommunikation. Dieser bereichsübergreifende Ansatz war und ist nur deshalb möglich, weil ich den digitalen Wandel an unserem Museum als Direktorin selbst gesteuert habe. Ich bin der festen Überzeugung, dass digitale Strategien nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn sie von der Museumsleitung gestützt und zur Priorität gemacht werden. Inwiefern ist die Onlineplattform des Jüdischen Museums ein „Spielort“ der Vermittlung und der Kommunikation? Unsere 2018 gelaunchte Website fungiert sowohl als ein Ort der Information über alles, was wir im realen Raum anbieten, wie auch als Knotenpunkt für unsere digitalen Angebote. Ein großer Teil dieser Angebote ist andernorts, etwa auf Social-Media-Plattformen, Google Arts & Culture oder im Online-Shop anderer Anbieter zu finden, wird aber über die Museumswebsite auffindbar gemacht. Für einen anderen Teil unserer digitalen Aktivitäten, etwa für unseren Blog, den Mediaguide zum Museum Judengasse, unsere App unsichtbare orte oder unsere Onlinesammlung haben wir eigene Anwendungen entwickelt, deren Programmierung und Gestaltung wir selbst verantworten. Ein Spielort der Vermittlung und Kommunikation stellt unsere Website vor allem für die neue RFID-Anwendung Museum to Go dar: Wir schenken unseren Besuchern und Besucherinnen mit dem Ticket an der Kasse unseres neuen Museums eine Karte in Form eines Lesezeichens. Mit dieser Karte können sie in jedem Raum der Dauerausstellung Filme, Objektinszenierungen und vertiefende Informationen in einen personalisierten Bereich der Website aktivieren und sich dort dann nach dem Museumsbesuch in Ruhe ansehen. Mit dem Code des Lesezeichens erhalten sie Zugang zu diesem personalisierten Bereich, der so etwas wie eine spielerische Erweiterung der Ausstellung darstellt. Auch unsere Onlinesammlung umfasst spielerische und kommunikative Elemente. Sie ermöglicht es den Usern und Userinnen, nicht nur in unserer Sammlung zu stöbern, sondern digitalisierte Objekte auch als Favoriten zu markieren und in hochaufgelöster Form zu betrachten oder
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runterzuladen. Zudem präsentiert sie Geschichten zu unseren Themen, die Objekte unserer Sammlung mit anderen digitalen Angeboten wie etwa Youtube-Filmen verbinden, die in Teilen nicht vom Museum selbst entwickelt wurden. Was unterscheidet eine Sammlung, die prädestiniert ist, online gezeigt zu werden, von einer, die das nicht ist? Die Diskussion um die Digitalisierung von Sammlungen wurde lange Zeit von den Kunstmuseen dominiert. Werke der Bildenden Kunst eignen sich, zumal wenn sie gemeinfrei sind, in besonderem Maße für die Nachnutzung, weil das Betrachten von Kunst ohnehin die Einbildungskraft anregt. Welche kreativen Möglichkeiten sich hier bieten, zeigt insbesondere das Beispiel des Rijksstudio, eine Anwendung des Rijksmuseums, die dazu animiert, mit den hochaufgelösten Digitalisaten von Kunstwerken aus der Sammlung eigene Kreationen zu schaffen. Mit seiner Open-Access-Strategie ist es dem Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zum ersten Mal gelungen, Furore mit dem digitalen Zugang zu einer Sammlung der angewandten Kunst zu machen. Nicht nur gemeinfreie Kunstwerke, sondern auch Alltagsgegenstände eignen sich dafür, in digitaler Form von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Einen etwas anderen Status haben Digitalisate von Büchern und Archivalien. Der Online-Zugang zu ihnen hat in erster Linie die Funktion, Wissen zugänglich zu machen. Ihre Nachnutzung geschieht deshalb vor allem im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Recherchen und Publikationen. Stichwort Digital Storytelling – wie können Museen Beziehungen aufbauen? Für das Jüdische Museum Frankfurt spielt Storytelling eine zentrale Rolle: Die beiden Dauerausstellungen im Museum Judengasse und im Rothschild-Palais erzählen Geschichte in Geschichten – wie unsere digitalen Angebote auch. Auf Social Media betreiben wir MikroStorytelling zu Ereignissen, Personen und Objekten, auf unserem Blog und in unserer Onlinesammlung sind die Geschichten komplexer angelegt. Uns geht es im Digitalen wie im Ausstellungsraum stets darum, Nähe zu Menschen und Dingen herzustellen, ihre Geschichte in der Gegenwart erfahrbar zu machen, ohne kitschig oder theatralisch zu werden. Eben diesen Gegenwartsbezug des Geschichtenerzählens haben wir mit dem Kampagnen-Motto zu unserer Eröffnung unterstrichen: „Wir sind jetzt!“ Storytelling ist aber nicht die einzige Form, mit der Museen Empathie wecken und begeistern können, eine andere sind partizipative Konzepte. Wir haben beispielsweise vor unserer Eröffnung mehrere PopUp-Plattformen mit partizipativen Ausstellungselementen entwickelt, die neben neuen Erscheinungsformen im öffentlichen Raum auch Veranstaltungen sowie Zielgruppenworkshops und Befragungen der Besucher und Besucherinnen zu einzelnen Aspekten unserer zukünftigen Dauerausstellung umfassten. Bestimmte Fragen – etwa, wie unser Museumsvorplatz heißen soll – haben wir auf Pop-Up-Plattformen zur Abstimmung gestellt und das Votum dann umgesetzt. Deshalb lautet die neue Adresse des Jüdischen Museums Frankfurt nun Bertha-Pappenheim-Platz 1. In unserer neuen Dauerausstellung haben wir diese direkte Form der Ansprache aufrecht erhalten und bitten mit mehreren partizipativen Displays darum, uns die Erfahrung mitzuteilen. Wir bekommen darauf stets viel Resonanz.
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Inwiefern hilft eine gelungene digitale Strategie den Museen, dass neue Gäste – auch aus unterschiedlichen Motivationen heraus – in die Häuser kommen? Digitale Strategien sind stets besucherorientiert, also von deren sich wandelnden Erwartungen und Nutzungsgewohnheiten geprägt. Sie führen dazu, dass Museen sich zunehmend öffnen und zu sozialen Orten werden, an dem diverse Besucher und Besucherinnen unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten vorfinden, die sich im digitalen Raum widerspiegeln müssen – vom Livestreaming über Learning-Angebote bis hin zu digitalen Ausstellungen und kommunikativen Foren. Ich bin eine Vertreterin des post-digitalen Museums, also der Verschränkung von digitalem und physischem Raum, die das soziale Erlebnis eines Museumsbesuchs ins Zentrum rückt. Pioniergeist braucht Offenheit, Klarheit, Neugier, Anti-Nostalgie. Welche Attribute brauchen museen ihres Erachtens, um künftig relevant zu sein? Meines Erachtens sind und bleiben Museen vor allem dann relevant, wenn sie zukunftsorientiert agieren. Das gilt sowohl für den Ausbau der eigenen Sammlung, wo es stets um die Frage gehen sollte, was für zukünftige Generationen von Bedeutung sein wird. Das gilt aber auch für die Formen, in denen Museen die Entwicklungen der Gegenwart reflektieren und ihre Gäste ansprechen: die digitalen Formate, die Ausstellungsthemen und Präsentationsformen, die Bildungs- und Vermittlungsprogramme. Zur Zukunftsorientierung gehört auch eine gewisse Flexibilität in der Organisationsstruktur. Museen, die sich zukunftsfähig organisieren, achten schon jetzt darauf, diverse, junge Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an sich zu binden und die digital literacy im eigenen Team auszubauen. Ich denke aber auch, dass die Frage der Relevanz nicht für alle Museumsgattungen gleichermaßen beantwortet werden kann. Naturkundliche Museen, die sich etwa mit den Themen Klima und Biodiversität beschäftigen, sind heute relevanter denn je. Dies gilt auch für Jüdische Museen, wenn sie vor dem Hintergrund der jüdischen Erfahrung und angesichts der Zunahme von Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ihre Stimme erheben und die Frage adressieren, wie wir in einer zunehmend diversen Gesellschaft zusammenleben wollen. Was hat Digitalisierung mit Verantwortung zu tun – im musealen Kontext – aber auch mit Blick auf die politische und gesellschaftliche Dimension? Der digitale Wandel führt zu Beschleunigung und Proliferation von Informationen, die häufig eher Meinungen, Mutmaßungen oder schlicht Falschmeldungen sind. Dieser Erosion müssen Museen als „trusted source“ entgegen wirken. Was sie kommunizieren und vermitteln, basiert auf wissenschaftlich fundiertem Wissen, das einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ich denke, die besondere Verantwortung von Museen besteht darin, inmitten der zunehmenden Polarisierung gesellschaftlicher Debatten ein verlässlicher Ort für differenzierte und respektvolle Formen der Begegnung mit Geschichte, Kunst, Natur und anderen Menschen zu sein.
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SINN UND SINNESWANDEL
NEUE RÄUME DES KULTURBETRIEBS
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WAS REIMT SICH AUF CORONA? CHRISTIAN HOLST
Christian Holst ist Studiengangskoordinator des Master Arts and Cultural Management, den die Leuphana Universität Lüneburg in Kooperation mit dem Goethe-Institut anbietet. Darüber hinaus ist er als Dozent und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen tätig, darunter die HAW Hamburg und die Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Holst ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der stARTconference e.V. sowie Mitorganisator des Hamburger stARTcamps.
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Ein paar Wochen nach der ersten Covid-19-bedingten Schließung der Kultureinrichtungen kursierte ein Gag im Netz, wer die digitale Transformation in Unternehmen vorantreibe: Der CEO, der CTO oder COVID-19? Das lässt sich problemlos auf den Kultursektor übertragen – auch hier setzten Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung einen Digitalisierungsschub frei.
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ie im Frühjahr 2020 zahlreich bereitgestellten digitalen Angebote waren mehr1 oder weniger2 gelungen – und eine Herausforderung, weil digitale Medien bislang vor allem genutzt worden waren, um über Kulturangebote zu sprechen, nicht aber um sie digital zu präsentieren. Digitale Medien wurden vor allem als Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten angesehen, insbesondere auch in der Hoffnung, dort vermehrt junge Menschen ansprechen und „abholen“ zu können. Die Multimedialität digitaler Medien schien besonders geeignet, um das eigentliche Kulturerlebnis im analogen Raum anschaulich und „schmackhaft“ zu machen.3 Digitale Angebote als genuine, den traditionellen Formaten gleichgestellte Angebote zu entwickeln, war jedoch die Ausnahme. Das gilt insbesondere in den darstellenden Künsten, in denen die Kopräsenz von Künstlern und Publikum oftmals als entscheidender Authentizitätsfaktor gesehen wird. Im Museumsbereich wird dieser Anspruch nicht ganz so hoch gehalten, manche Einrichtungen hatten ihren Auftrag des Forschens, Sammelns, Bewahrens, Ausstellens und Vermittelns schon vor Covid-19 auch digital umgesetzt. Grundsätzlich richtete sich aber auch hier wie in anderen Kultursparten die Aufmerksamkeit auf die künstlerisch-inhaltlichen Aktivitäten vor Ort. Über die Bemühungen der Kultureinrichtungen, digitale Angebote zu entwickeln, hieß es in einem Artikel aus dem Frühjahr 2020 daher folgerichtig, die Einrichtungen würden ins „digitale Exil“ gehen.4 Dieser Begriff – auch wenn er in dem Artikel nur beiläufig verwendet wird – unterstellt aber zwei Dinge hinsichtlich der digitalen Transformation des Kultursektors: Zum einen setzt er selbstverständlich voraus, dass die „Heimat“ der Künstler, die Bühne, der Ausstellungsraum, eben die analoge Welt ist. Die Shutdown-Maßnahmen lassen sich somit als Vertreibung aus dem natürlichen und angestammten Lebensraum verstehen. Bei der Verwendung des Begriffs Exil klingt zudem die Hoffnung mit, so bald wie möglich auch wieder in diese Heimat zurückkehren und das Exil hinter sich lassen zu können. Das ist bemerkenswert, da die Digitalisierung im Jahr 2020 auch im Kulturbereich kein neues Phänomen mehr war. Kultureinrichtungen hätten den digitalen Raum längst zur zweiten Heimat machen können, wenn sie gewollt hätten. Der digitale Raum ist jedoch ein fremder, in den die Kulturakteure durch äußere Umstände gezwungen wurden, den sie aber nicht aus intrinsischer Motivation heraus erkunden und erst recht nicht als zweite Heimat ansehen – und der eingangs zitierte Twitter-Gag verrät, dass dies ein auch über den Kultursektor hinaus bestehendes Problem ist. Wenn man also konstatieren muss, dass die Kultureinrichtungen sich bisher noch zu wenig mit der Frage beschäftigt haben, wie ihre Angebote für den digitalen Raum aussehen können, die Eindämmungsmaßnahmen gegen Covid-19 aber als Treiber für Innovationen in diesem Bereich gedient haben, dann stellen sich die Fragen, was Kultureinrichtungen aus der krisenhaften Situation über die Dauer der Pandemie hinaus lernen und welche während
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der Krise gemachten Erfahrungen sie nutzen können, um den digitalen Raum schließlich doch zur zweiten heimat werden zu lassen und wie er als Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten und einer Ausweitung des ästhetischen Spielfeldes dienen kann. An der hier geschilderten Situation lässt sich illustrieren, was der Organisationspsychologe Karl Weick als „Collapse of Sensemaking“5 beschreibt. Der Begriff Sensemaking wird laut Wörterbuch mit Sinnstiftung übersetzt. Diese Übersetzung trifft jedoch nicht präzise, was Weick meint. Er nutzt den Begriff eher im Sinne der deutschen Wendung, sich einen Reim auf etwas zu machen. Denn sie betont – wie der englische Begriff – stärker den Aspekt des Machens, des aktiven Hervorbringens. Handeln und Reflexion sind beim Sensemaking eng ineinander verzahnt und bedingen sich wechselseitig: Die Reflexion einer Ausgangssituation führt zu bestimmten Handlungsentscheidungen, die durch die bestehenden Rahmenbedingungen der Situation mitdefiniert werden. Die Ausführung der Handlung wiederum schafft neue Rahmenbedingungen, die erneut zu Reflexionen führen, aus der sich weitere Handlungen ergeben und so weiter. In diesem ständigen Wechselspiel entwickeln sich Überzeugungen, Werte, Glaubenssätze, Traditionen, Routinen und Jargons, die den Normalbetrieb einer Organisation konstituieren und effizient machen. Treten außergewöhnliche Ereignisse (typischerweise Krisen) ein, versagen diese Routinen jedoch. Das Sensemaking gerät aus dem Tritt und muss daher intensiviert werden. Stärker als sonst müssen sich die Akteure einen Reim auf die neue Situation machen und Lösungen finden, um in der neuen Ausgangslage wieder handlungsfähig zu werden. In diesem Sinne lassen sich auch die Aktivitäten beleuchten, mit denen die Kultureinrichtungen versuchten, sich einen Reim auf den Lockdown als krisenhafte Situation zu machen. Die folgenden vier Ansätze skizzieren, wie verschiedene Kultureinrichtungen damit umgegangen sind, dass sie ihrer gewohnten Präsentationsräume wie Ausstellungshäuser, Bühnen oder Foren beraubt waren. Auch diese Kategorisierung selbst ist im Sinne des Sensemakings zu verstehen, ist sie doch ein Versuch, sich einen Reim auf die Reaktionen zu machen – und wie alle Sensemaking-Aktivitäten per se vorläufig. Angesichts der Dauerhaftigkeit von Pandemie und Lockdown sowie der Vielzahl von unterschiedlichen Reaktionen und spartenspezifischen Rahmenbedingungen erhebt sie weder Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit, noch auf unbedingte Trennschärfe zwischen den Kategorien. Vielmehr scheint naheliegend, dass bemerkenswerte Aktivitäten oftmals dort passierten, wo die Schnittmengen der Kategorien besonders groß waren. Relativ leicht hatten es zweifellos diejenigen Einrichtungen, die bereits in den vergangenen Jahren digitale Bühnen oder Ausstellungsräume aufgebaut hatten, wie etwa die Berliner Philharmoniker ihre Digital Concert Hall, die Bayerische Staatsoper mit staatsoper.tv oder die digitalen Angebote und Ausstellungsräume des Städel Museums bei Google Arts & Culture. Diese Einrichtungen genossen in der Krise den „Vorsprung durch Technik“: Ihre Angebote hatten bereits zu Beginn des Lockdowns ein hohes technisches Niveau und waren professionell aufgesetzt, weil sie über die Jahre zuvor bereits entwickelt und erprobt worden waren. Einrichtungen, die auf solche Angebote zurückgreifen konnten, konnten von einem auf den anderen Tag eine hochwertige Alternative zum herkömmlichen Besuch anbieten und genossen eine hohe Sichtbarkeit während des
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Lockdowns, da ihre Angebote bereits bekannt und etabliert waren.6 Bei aller technischen Perfektion haben diese Angebote jedoch das Problem, immer das analoge, eigentliche Erlebnis abzubilden, dessen Authentizität aber nicht nachbilden zu können. Diese Angebote sind daher immer als Ersatz erfahrbar, im Unterschied beispielsweise zu Tonträgern, die nicht so deutlich auf die ursprüngliche Rezeptionsform, das Konzert, verweisen. Ein analoges Erlebnis abzufilmen heißt meistens auch, die Inhalte (zumindest in den darstellenden Künsten) nicht medienspezifisch aufzubereiten und anzupassen. Dadurch werden Ästhetik und Machart der Angebote nicht den Sehgewohnheiten und der Erwartungshaltung gerecht, die sich beim Publikum gegenüber Bewegtbildformaten herausgebildet haben. Dennoch ist technische Kompetenz und Qualität freilich eine Grundvoraussetzung für digitale Angebote. Ein anderer Ansatz des Sensemakings ist der der improvisation oder bricolage. Man findet ihn bei Akteuren, die vor der Pandemie noch keine Digitalsparte aufgebaut hatten. Hier geht es darum, mit den beschränkten Mitteln, die zur Verfügung stehen, aus einer gegebenen Situation das Beste zu machen. Der Vorsprung entsteht nicht in erster Linie durch ein technisches Konzept, sondern durch den originellen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Ein Beispiel dafür sind die Hauskonzerte von Igor Levit, die er während des ersten Shutdowns aus seinem Wohnzimmer per Facebook-Livestream übertragen hat. In Bezug auf Bild- und Tonqualität war auch das nur eine Notlösung und keinesfalls ein Ersatz für eine Aufführung im Konzertsaal. Aber das war hier auch nicht der Anspruch. Entscheidend war vielmehr, dass die Konzerte live gezeigt wurden und die Möglichkeit bestand, sich über die Kommentarfunktion des Streams auszutauschen. Auf diese Weise konnten die Konzerte ein Gemeinschaftserlebnis stiften. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Lesungen, die Sasa Stanisic über twitch.tv anbot. Weitere Beispiele für den Ansatz der Improvisation waren Führungen auf Instagram oder Do-It-YourselfAnleitungen, wie sie etliche Museen angeboten haben. In direkter Konkurrenz zum klassischen Kulturerlebnis können diese Angebote in der Regel nicht bestehen. In der Krisenzeit wurden sie jedoch mit viel Dankbarkeit aufgenommen. Ein weiterer, dem Improvisieren eng verwandter Ansatz ist der des experimentierens. Der Fokus liegt hier weniger auf dem kreativen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, als vielmehr auf der systematischen Entwicklung neuer Formate und Inhalte, die die Bedingungen und Möglichkeiten digitaler Medien auch ästhetisch nutzen. Es liegt in der Natur des Experimentierens, dass viel verworfen werden muss, und nur ein kleiner Teil des Produzierten wirklich ergiebig ist. Das führte dazu, dass einige Stimmen dafür plädierten, die Kultureinrichtungen konsequent zu schließen und sie in aller Ruhe am großen Wurf arbeiten zu lassen, anstatt viele ansatzweise interessante, aber unterm Strich unausgegorene Ideen herauszubringen.7 Eben diese Ideen aber sind die Experimente, die Versuch und Irrtum öffentlich machen, die mit der Entwicklung neuer Formate zwangsläufig einhergehen. Unfertiges, Unausgereiftes zur Diskussion zu stellen, als möglicher Ausgangspunkt für neue Formen und Inhalte, erfordert Mut, weil auch das Scheitern – anders als in der klassischen Kulturproduktion – öffentlich wird. Beispielhaft seien hier das Bewegtbildangebot des Mannheimer Nationaltheaters und der TikTok-Kanal des
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Museums für Naturkunde Berlin erwähnt. Statt des Streamings ganzer Aufführungen bot das Nationaltheater Mannheim circa halbstündige Zusammenschnitte aktueller Produktionen an. Dafür wurde mit dem Mitschnitt der Bühnentotale gearbeitet, der eigentlich für interne Zwecke aufgezeichnet wird. Mit Überblendungen, Schnitten, Farbeffekten sowie kurzen einleitenden O-Tönen der beteiligten Künstler wertete das Theater das Material ästhetisch auf. Aus einem reinem Arbeitsdokument entstand so ein Dokument, das Bühnenwerke in einem bislang unüblichen Format vorstellte – nämlich weder als vollständige Aufzeichnung, noch als kurzer Werbetrailer. Das Museum für Naturkunde erprobte mit TikTok dagegen einen Kanal, dessen Sinn und Zweck in der Museumswelt kontrovers diskutiert wird.8 Das Museum nutzte den Kanal für die Vermittlungsarbeit und gewann in kurzer Zeit 21.000 Abonnenten (Stand Dezember 2020). Als offizieller Social-MediaKanal wird er auf der Website des Museums allerdings (noch) nicht angegeben. Während der Ansatz des Experimentierens versucht, neue Formate und Inhalte mit den bestehenden Ressourcen der Einrichtung zu entwickeln, geht der vierte Ansatz, sich einen Reim auf die Situation zu machen, über die Grenzen der jeweiligen Institution hinaus: co-creation versucht, auch externe Ressourcen in die Wertschöpfung einzubeziehen und damit die Trennung zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption aufzuheben.9 Sie stellt einen Bruch dar mit der Vorstellung, eine Institution würde Werte schaffen, die dann von einem Publikum nachgefragt werden. Stattdessen wird die Kommunikation, der Austausch zwischen beiden, zum Schauplatz der Wertschöpfung.10 Das heißt, Einrichtungen bauen nicht nur auf die Ressourcen, die ganz unmittelbar in ihrem Einflussbereich liegen, sondern betrachten auch ihr Netzwerk als Ressource, die in die Wertschöpfung mit einbezogen wird. Mit #vorstellungsänderung und #wunschvorstellung entwickelte das Wiener Burgtheater ein co-creatives Theaterformat auf Twitter für die Lockdownzeit. Dabei wurde die Theatervorstellung, die lockdownbedingt nicht stattfinden konnte, in die Vorstellungswelt des Publikums verlegt: Follower des Burgtheaters twitterten, was auf der imaginären Bühne und rund um den Theaterbesuch stattfand. Durch vielfältige Interaktion, gegenseitige Inspiration und Bezugnahme entstand ein asynchroner, etwas chaotischer, aber zugleich vergnüglicher und unterhaltsamer Abend.11 Das Burgtheater fungierte – anders als sonst – weniger als Produzent denn als Moderator. Natürlich darf man hier nicht die gleichen ästhetischen und inhaltlichen Ansprüche wie an einen klassischen Theaterabend stellen. Aber auch der hat schon immer von Co-Creation gelebt, davon, dass das Publikum mitgeht, das Geschehen aktiv einordnet und interpretiert.12 Dieser Aspekt des Theaters wurde bei #vorstellungsänderung und #wunschvorstellung radikalisiert und in ein anderes Medium getragen. Ein Medium, das die co-creative Beteiligung vieler verschiedener Akteure unkompliziert und preiswert ermöglicht und begünstigt. Aber Co-Creation braucht nicht zwingend eine Organisation als Initiator: Ein frühes Beispiel aus der Zeit des Lockdowns war die Social-Media-Challenge #tussenkunstenquarantaine. Dabei waren Menschen eingeladen, berühmte Gemälde mit Alltagsgegenständen oder in Alltagssituationen nachzustellen. Freilich beschreibt keiner der vier Modi eine Arbeitspraxis, die sich aufgrund von Corona herausgebildet hätte. Alle Ansätze sind bewährte Modi der künstlerischen Arbeit.
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Die ersten zwei Aspekte bieten keine Antwort auf die sich angesichts der Pandemie besonders drängend stellenden Frage, wie das digitale Exil zur zweiten Heimat werden kann. Sie bilden Voraussetzungen dafür, bieten aber keine Perspektive, wie digitale Angebote einen eigenen Erlebnischarakter bekommen können oder wie ein spezifisches künstlerisches Angebot für den digitalen Raum aussehen kann. Das aber ist zwingende Voraussetzung, wenn künstlerische Inhalte nicht lediglich abgebildet werden sollen, weil sie nicht in ihrem ursprünglich intendierten Rezeptionskontext verfügbar sind. Das Experimentieren als Modus des organisationalen Lernens kann zu neuen inhaltlichen Ansätzen und Perspektiven für kulturelle Angebote führen, die die besonderen Voraussetzungen digitaler Medien berücksichtigen, mit ihnen spielen und sie ästhetisch nutzen. Co-Creation geht auch darüber hinaus, indem es einen Erlebnisaspekt unmittelbar in das digitale Angebot integriert. Die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit Kunst selbst zum kreativen Akteur zu werden, bietet die Perspektive, die Auseinandersetzung mit künstlerischen, ästhetischen Inhalten auch im digitalen Raum zum Erlebnis zu machen. Ästhetische Wertschöpfung muss nicht mehr in der Blackbox Kultureinrichtung stattfinden, sondern kann sich in der Kommunikation und im direkten Austausch mit den Anspruchsgruppen der Einrichtung ereignen. Diese Logik ist für den inside-out-orientierten Kultursektor ungewohnt, dürfte aber eine Art „klimatischer Bedingung“ in der zweiten Heimat sein, dem digitalen Raum. Diese Erkenntnisse und Versuche hätten prinzipiell keine Corona-Pandemie als Auslöser gebraucht. Die nötigen technischen Voraussetzungen und die Anspruchshaltung der Anspruchsgruppen waren bereits vorhanden. Teilweise hatten ja auch Versuche in den oben genannten Richtungen vor der Pandemie stattgefunden. Dennoch hat die Pandemie als Krise im Sinne Weicks dafür gesorgt, diesem Thema eine stärkere Dringlichkeit zu geben oder – anders gesagt – das Sensemaking zu diesem Thema zu intensivieren. Es ist klar, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist. Die Krise kann nur ein Anfangspunkt sein, sich verstärkt mit der Frage auseinander zu setzen, wie der digitale Raum auch über die Zeiten der Pandemie hinaus zur zweiten Heimat werden kann. 1 Alenka Barber-Kersovan/Volker Kirchberg (2020): Classical Music between lockdown and the pandemic revival, in: Intellect books, The Covid Files 2 Ane Hebeisen (2020): Macht lieber mal ein Meisterwerk!, auf: www.tagesanzeiger.ch 3 ChristianHolst/Martin Zimper (2017): Moving pictures moving audiences? Status quo und Potenzial der Bewegtbildkommunika tion von öffentlich bezuschussten Kultureinrichtungen in Kanton und Stadt Zürich, in: Zeitschrift für Kulturmanagement 3 (2), S. 151–163 4 Alisa Sonntag/Nora Theiser (2020): Was geht heute im Netz? Veranstaltungstipps für die Quarantäne-Wochen, auf: krautreporter.de 5 Karl E. Weick (1993): The Collapse of Sensemaking in Organizations: The Mann Gulch Disaster, Administrative Science Quarterly Vol. 38/No. 4, S. 628-652 6 Vgl. www.digitalconcerthall.com, www.staatsoper.tv und www.artsandculture.google.com/partner/stadel-museum 7 Ane Hebeisen (2020): ebd. 8 Anika Meier (2020): Kunsthäuser auf TikTok. Das Museum als Klassenclown, auf: www.monopol-magazin.de 9 Christian Holst (Hrsg.) (2020): Kultur in Interaktion. Co-Creation im Kultursektor, Wiesbaden 10 C.K. Prahalad/Venkat Ramaswamy (2004): Die Zukunft des Wettbewerbs: Einzigartige Werte mit dem Kunden gemeinsam schaffen, Wien 11 Christian Holst/Anne Aschenbrenner/Sebastian Huber (erscheint 2021): Vorstellungsänderung. Co-Creation in digitalen Theaterformaten. Eine Fallstudie, in: Zeitschrift für Kulturmanagement und Kulturpolitik, 7(1) 12 Jacques Rancière (2005): The emancipated spector, Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive, in: Texte zur Kunst, Heft 58
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SCHICKSAL, SCHEITERN UND CHANCEN MARCUS LOBBES
Marcus Lobbes ist seit Ende 2020 Direktor der Akademie für_Theater_und_Digitalität, der sechsten Sparte am Theater Dortmund. Er arbeitet seit 1995 als Regisseur und Ausstatter im Musik- und Sprechtheater, wo er neuartige kollektive Arbeitsformen mit den Ensembles erprobt. Seine Schwerpunkte sind kompromisslose Klassiker-Umsetzungen sowie zahlreiche Ur- und Erstaufführungen, oft in engem Kontakt zu zeitgenössischen Autor*innen und Komponist*innen.
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Bis Anfang 2020 war die theatrale Auseinandersetzung mit der digitalen Transformation vornehmlich theoretischer Natur: Einzelne experimentierfreudige Künstler*innen bildeten mit Expert*innen aus der Tech-Szene und gelegentlichen Leuchtturm-Projekten eine nur kleine und mit mäßiger Neugier wahrgenommene Szene. Was hat sich also verändert – und was können wir von der Zukunft der darstellenden Künste erwarten?
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ach den Erfahrungen, die unsere Branche mit der Pandemiezeit im Jahr 2020 machen musste, stellt sich die Frage, was Gemeinschaft online bedeutet und wie sich ein gemeinsamer neuer Raum definieren lässt, in dem wir künstlerisch agieren können. Zuerst einmal auf ganz praktische Art, denn: Die Häuser sind geschlossen, die Bühnen und Säle sind leer, der vielbeschworene Raum physischer Kopräsenz ist seit Monaten nicht mehr existent – doch der Traum vom Raum, in dem man gemeinsam Zeit verbringen möchte, bleibt. Das gemeinsame Bühnenerlebnis, die direkte Teilhabe an einer Debatte, gesehen und gehört zu werden, Feedback unmittelbar zu geben und zu empfangen, fehlt. Andererseits gab und gibt es vielfältige Versuche, sinnstiftende digitale oder sogar virtuelle Theatererlebnisse für ein (den Theaterschaffenden zuerst einmal weitgehend unsichtbares) Auditorium zu schaffen – und das seit März 2020 mit zunehmender Sensibilität für Formate, Kanäle und mit einem sich deutlich erkennbar weiterentwickelnden technischen Verständnis für die Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Bühne im Netz. Es stellt sich daher die Frage, ob diese neuen Formen der theatralen Ausspielungen bleiben, ob die künstlerischen und technischen Errungenschaften auch überdauern, sobald wieder in vollen Sälen gespielt, gesungen und getanzt werden darf. Die Antwort ist ein klares Ja! Letzten Endes auch, weil wir am Rande eines gesellschaftlichen Umbruches stehen, der technologisch getrieben ist und in den wir uns mit Neugier stürzen sollten, um nicht in absehbarer Zeit völlig ausgeschlossen zu sein von den – natürlich oft auch fragwürdigen – Entwicklungen, die die digitale Transformation mit sich gebracht hat. Eine Rückentwicklung in das vordigitale Zeitalter scheint kaum noch denkbar, denn diese Transformation betrifft alle Lebensbereiche, von Politik über Wirtschafft, Wissenschaft und Forschung bis hin in die letzten Bereiche des privaten Lebens und damit sollte und muss auch die Kunst sich auseinandersetzen, um ihrem Auftrag als Spiegel der Gesellschaft, als Sinnbild der Wirklichkeit gerecht werden zu können. Ein großes Missverständnis im Verhältnis von darstellender Kunst zu digitaler Transformation besteht leider allzu oft darin, vornehmlich in technischen Kategorien zu denken. Das können wir ändern, und wir können es jetzt ändern. Das alles ist keine ausschließliche Pandemie-Debatte, allerdings: Die mal mehr, mal weniger zaghaften Versuche auch der darstellenden Künste, mit neuen Formaten auf oder außerhalb der Bühnen zu spielen oder sich im Netz zu bewegen, erfahren derzeit eine Beschleunigung. Zu lange haben sich die altehrwürdigen Theaterinstitutionen künstlerischen und theatralen Formen in Kombination mit neueren Technologien widersetzen können, denn in Zeiten zusammengesparter Häuser argumentierte es sich leicht gegen Investitionen in teure Apparate, Fortund Weiterbildungsprogramme oder Schaffung neuer Stellen für bis dahin im Theater
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nicht vorkommende oder gar fest angestellter Spezialist*innen. Doch in dieser neuen, durch die Pandemie erzwungenen, extremen und eben auch gesamtgesellschaftlichen Situation können die Akteur*innen in den Leitungen der Häuser, in den technischen Gewerken, und in den künstlerischen Berufen lernen, was künstlerisch-technisch-digitales Denken und Handeln bedeutet. Wenn die eigenen Mitarbeiter*innen planvoll fortgebildet werden, wenn verschiedene Institutionen zusammen in Kollaboration gehen und teure, komplexe Hardware anschaffen, benutzen und weitergeben, wenn über den eigenen Horizont hinaus geschaut wird, wo andere Künste wie zum Beispiel die Medienkunst unterwegs sind und wie dann interdisziplinär gedacht und gearbeitet werden kann, wird sich etwas ändern. Es sollte dann zukünftig allerdings auch schon in der Ausbildung vermittelt werden, sich auf die neuen Technologien einzulassen, und sich bereits im Studium oder in der Lehre an der Erforschung der Räume und ihrer Bedingungen zu beteiligen. Doch zuerst hängt alles am gemeinsame Verständnis: Was ist gemeint, wenn von Onlineaktivität, Digitalisierung, digitaler Transformation, Digitalität, postdigitalem Zeitalter, Virtualität oder dem Cyberspace gesprochen wird? Was ist digitale Kopräsenz, was sind interaktive Feedbackschleifen? Wo und wie macht sich der Umgang mit KI bemerkbar? Was sind Chatbots und wann spricht man von Aktorik, wann von Robotik? Wenn nicht klar erkennbar ist, ob über das Gleiche gesprochen wird, wie soll dann gemeinsam gehandelt werden von den Theaterschaffenden? Das setzt voraus, dass eben jene die neuesten technologischen Entwicklungen nicht nur nutzen, wie es in der Geschichte der darstellenden Künste immer der Fall war, sondern sie zunächst einmal hinterfragen, am besten im Dialog mit einem neugierigen und begeisterungsfähigen Publikum. Das bedeutet nicht, dass jedes technische Gerät, jede Errungenschaft, jedes Gimmick eingesetzt werden sollte, nur, um mit der Zeit Schritt zu halten; die Verbindung, mit denen Technik und Kunst sich zu einem gemeinsamen Neuen entwickeln können, ist nicht ausschließlich den Fragestellungen technischer Gegebenheiten unterworfen, im Gegenteil: Es bedeutet, dass die Möglichkeiten, die die Welt den Kunstschaffenden bietet, erforscht und erkannt werden müssen. Die Aufgabe in den kommenden Jahren wird es daher sein, herauszufinden, wo in der jeweiligen künstlerischen Formung ein besonderer Bedarf an der betreffenden neuen Technologie liegen kann. Theater findet in sich wiederholenden kulturell geprägten Räumen statt und bildet sie ab, spiegelt, befragt, beantwortet und definiert sie. Sie wiederum geben bestimmte Erwartungen wieder und eröffnen differenzierte Handlungsmöglichkeiten – und sie lassen sich als Bühne nutzen, real oder als erfundene Realität. Bisher gab es nur drei Archetypen des Raumes: den inneren innenraum – das Zimmer, den inneren aussenraum – der Hof und den äusseren innenraum – der Platz. Diese Räume sind klar definiert und lassen sich von allen Menschen bestimmen, sie sind Teil der täglichen Erfahrung. Nun wird ihnen ein vierter, immaterieller Raum hinzugefügt, der mit unserem individuell geformten inneren, geistig-künstlerischen Raum verbunden ist, unserer eigenen Raum- und Handlungsvorstellung, die durch Kunst entsteht. Dieser vierte raum, der digitale Raum, wird der Bezugsrahmen sein, den es in Zukunft als weitere Bühne zu erobern gilt. Und das geht weit hinaus über die Übertragung von analog gedachten und hergestellten Formaten in den digitalen Raum.
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Es stellt sich die Herausforderung, einen nichtexistenten Raum, also mehr die Idee eines Raums oder Ortes als neuen gemeinsamen Erfahrungsraum zu bestimmen und zu verstehen. Als einen Ort, an dem ebenfalls die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Fragen der Zeit verhandelt werden. Im ersten Schritt haben die Theater diesen ideellen Raum, der sich ihnen bot, in seiner ihm eigenen Form weitgehend nicht erkannt: Ab Mitte März häuften sich die Streams von gefilmten Theateraufführungen im Netz, von End- und Hauptproben, von improvisierten Konzerten und auch aus Privaträumen vorgetragenen Performances. Diese Angebote sind in der Panik der ersten Pandemiewochen oft kontextlos abgefeuert worden, als Angebot an alle, abrufbar zu jeder Zeit – und dadurch oft unsichtbar, denn der Rahmen, in dem sich hier die darstellenden Künste gezeigt haben, war zu groß für den Inhalt. Bei den meisten der derzeit im Netz gezeigten Theaterformate handelt es sich nach wie vor um klassisch abgefilmtes oder filmisch produziertes Theater, das zu Hause am Bildschirm konsumiert werden kann. Die Qualität vieler Streamings und auch die Bereitschaft, ein Theaterstück auf einem Bildschirm zu sehen, ist durchaus wechselhaft. Zu zufällig scheinen oft die Konstellationen zwischen Produktion, Aufnahme, Ort des Streams und Teilnahme eines Publikums; und gerade wenn Produktionen ins Leere versendet werden, als Angebot an die gesamte Netzgemeinschaft, sind die Aufrufzahlen oft verschwindend gering. Die Aufgabenstellung zur Übertragungsform analogen Materials in den digitalen Raum lautete daher, Formate zu finden, in denen sich ein Besuch wie in der klassischen Theatersituation widerspiegelt, in der Repräsentationsform, für die das gezeigte Material ursprünglich angedacht war. Zum Beispiel durch ein Ticketing als bezahlte oder auch unbezahlte Variante, ein Einlassportal, eine Foyer-Situation, eventuell Begrüßung durch ein FoyerPersonal. Durch die Möglichkeit, sich umzuschauen, zu sehen, welche und wie viele andere Menschen am Ereignis teilnehmen möchten, sich zu verabreden und in der Pause oder hinterher auszutauschen. Doch wie lässt sich ein Erlebnis dessen erschaffen, was ein Publikum an einem analogen Theaterabend kennt und schätzt? Erst nach und nach haben sich die Verantwortlichen dem angenähert, was eine Ausspielung im Netz können sollte und wie das Gefühl eines Theaterbesuchs erzeugt werden könnte über das Angebot einer Ausspielung vor Ort hinaus. Zuerst müssen ein paar Rahmenbedingungen erfüllt werden: Ein Publikum muss wissen, was es gibt, wo es das gibt und wie es daran teilhaben kann – und hier, ganz an der Basis der Vermittlung, besteht noch großer Nachholbedarf. Da die Institution Theater zwar schon lange mit digitalen Hilfsmitteln operiert, zum Beispiel mit Ticketverkauf im Netz oder Kommunikation über eine Website, aber immer noch analog denkt, bleibt das Gros des Angebotes zur Zeit noch unsichtbar. So fehlt es oft an den einfachen Dingen, beispielsweise einem Hinweis auf der Startseite eines Theaters oder eine Art Spielplan der gerade geplanten elektronischen Ausspielungen. Ideal wäre hier eine Ein-KnopfLösung, um Schwellenängsten oder auch nur Ungeduld entgegen zu treten. Das ist das, was die Menschen aus dem plug-and-play seit 20 Jahren gelernt haben: Dinge müssen selbsterklärend funktionieren. Die Erfahrungen des Jahres 2020 haben aber auch sehr bald gezeigt, dass sich ein solches Theatererlebnis mit nicht besonders komplizierten Mittel herstellen lässt: Und das Publikum dankt es den Künstler*innen und Techniker*innen, dass das
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Theater als Produktionsstätte und gemeinschaftlicher Erfahrungsraum wieder sichtbar wird – nur, dass jetzt ein digitales, im besten Fall virtuelles Theater besucht und nicht nur abgerufen werden kann. Die durchaus positive Abgrenzung zu rein filmischen Formaten macht den Unterschied. Es gab bisher allerdings kaum die Möglichkeit des Eintauchens oder der Anteilnahme, denn ein Stream funktioniert erstmal wie ein Film oder das Fernsehen. Doch wie kann dieser Raum neu be- und gegriffen werden? Wir haben bisher noch kein zufriedenstellendes Äquivalent für eine direkte Reaktion gefunden, zum Beispiel für ein schlafendes, begeistertes, unruhiges, angespanntes, konzentriertes Publikum: Im Netz, auch wenn alle live dabei sind, fühlt sich zu schnell alles gleich an. Hierzu laufen aber schon die ersten Experimente und Forschungen, und es ist anzunehmen, dass es noch viel weitergehende Entwicklungen geben wird. Zum Beispiel dahin, sich in virtuellen, also digital gebauten Umgebungen zu treffen und dabei gleich selbst als Avatar zu gestalten wie in mozilla hubs – das bietet jetzt schon die Möglichkeit, Begegnungen zu kreieren, gemeinsam unterwegs zu sein, auch mit den Künstler*innen in Kontakt zu treten. Oder reaktive Systeme in Kleidungsstücken, die unter anderem Wärme oder Vibration erzeugen, um ein immersives Theatererlebnis zu schaffen. In virtueller, erweiterter oder gemischter Realität (VR, AR , MR beziehungsweise XR) werden über audiovisuelle Möglichkeiten sehr viel nähere Erlebnisse möglich, als eine Große Bühne sie bietet. Hier allerdings sind wir von einer anwendungsbezogenen Idee, die allen Interessierten gleichermaßen Zugang ermöglicht, noch weit entfernt und nur die Offenheit und Bezahlbarkeit der Hilfsmittel, die ein Publikum zuhause nutzen kann, entscheidet in diesem Kontext, was sich als Mittel der Kunst durchsetzen wird. Weil die Herangehensweisen an die Ereignisse jedoch noch sehr unterschiedlich sind, bilden sich derzeit neue Gemeinschaften. Doch es gibt auch Wegbereiter*innen: So hat unter anderem das Staatstheater Augsburg Pionierarbeit geleistet, in dem es schon 2002 VR-Brillen mit einem Lieferservice ans Publikum brachte – und das war begeistert. Letztlich aber muss es darum gehen, eine Vorstellung von der Vorstellung in den Köpfen des Publikums zu erzeugen. Auch weil der Bereich Gaming in den Theaterformaten eine immer größere Rolle spielt, sei hier kurz auf dort schon funktionierende Mechaniken verwiesen: Gerade im Online-Gaming konstituieren sich Gemeinschaften flexibel, spontan und oft auch sozial. Das liegt an der gemeinsamen Vorstellung von Zielsetzungen („besiege den Drachen“, „erobere die Flagge“ et cetera) und der, in diesem Fall, virtuellen Räume, die erobert, erfahren und oft auch gelernt werden müssen – auch wenn ich nicht an Punkt A bin, habe ich an Punkt B eine Vorstellung davon, was jetzt an Punkt A stattfindet. Dadurch ergibt sich ein sehr viel komplexeres Gesamtbild in meinem Kopf als es gerade ausgespielt wird. Gleichzeitig bilden sich Allianzen mit Menschen, die ich kenne (man kann sich online verabreden und ein Spiel gemeinsam besuchen) ebenso wie mit Fremden, die in diesem Augenblick das gleiche Ziel verfolgen. Selbstverständlich handelt es sich hier um Produkte der Unterhaltungsindustrie, die sehr viel mehr Budget als die Kulturschaffenden zur Verfügung haben und damit oft kein, so wie ich es von den Künsten erwarte, Sinnbild der Welt erschaffen. Doch von der Mechanik dahinter können wir viel lernen. Das Theater muss, um sich im Netz weitgefasster zu definieren, auch neue Wege gehen. Es muss vor allem lernen,
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dass es nicht linear analoge Vorgänge in digitale Wirkmechanismen pressen kann. Es muss lernen, digital zu denken, um digital zu spielen und sollte Spezialisierung und zielgruppenorientiertes Arbeiten zu seiner Maxime machen. Weil ohnehin nicht alles, was produziert und ausgespielt wird, auch alle erreichen kann, sollte in jeder Kommunikation die Lust am Experimentieren regieren, wofür es zuvor jedoch ein Umdenken in der Vermittlung braucht: Statt nur in Werbekanal-Kategorien zu denken, als Einbahnstraße für den Verkauf, gilt es, mit der Community zu kollaborieren, mit ihr Inhalte zu kreieren, zu reagieren. Die Idee, dass das schon Kunstvermittlung ist, nicht bloßes Marketing, wäre hierfür entscheidend – und zu begreifen, dass die Kommunikation und Verbreitung über die verschiedenen Ausspielkanäle der Sozialen Medien grundverschieden funktioniert. Sie stiftet nur neue Gemeinschaften, wenn man sie ernst nimmt, dazu aber müssen Budgets in die Kanäle und Ressourcen in die Kunst fließen und es muss allen Beteiligten klar sein, warum sie mit welchen Mitteln arbeiten wollen. Das Herausfordernde daran ist, auch hier zu erkennen: Nicht alle müssen alles können. Wir können Mut zur Spezialisierung beweisen und damit gleichzeitig eingestehen, was wir nicht vertreten können oder möchten. Was die Kunst angeht, so sollte sie sich den Luxus des Zeitnehmens leisten. Den digitalen Raum als neues Land nicht nur betreten, sondern aktiv gestalten. Mal ein Experiment mehr wagen, als es der analoge Jahresspielplan normalerweise zulässt, sozusagen nicht das Schicksal als Chance begreifen, sondern das Scheitern. Jetzt ist die Zeit, auch herauszufinden, was alles nicht funktioniert – künstlerisch und technisch. Dieses Lernen aber eben braucht Zeit. Zeit, sich über die Technologien, die man einsetzen möchte zu informieren. Zeit, um Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu bilden. Zeit, eine gemeinsame Sprache zu finden, denn auch wenn die künstlerische Idee und die technischen Anforderungen klar sind, müssen sie im gemeinsamen Arbeitsprozess auch genauso kommuniziert werden können, wie die Anforderungen der Bühnen- und Kostümbildner*innen an die Werkstätten – im Idealfall im Dialog der beteiligten Fachrichtungen Kunst und Technik. Letztlich braucht es für den digitalen und virtuellen Raum eine Konstituierung durch die Kunst gemeinsam mit dem Publikum – es wird, mit etwas Glück und Pioniergeist, eine neue Erfahrung ermöglicht und ein weiterer, erweiterter Raum definiert, der sich dann in theatraler Tradition als neue Plattform der (darstellenden) Kunst präsentieren kann. Die Theaterschaffenden haben sich immer, um auf die Welt wie sie ist, zu reagieren, an allen technischen Möglichkeiten schadlos gehalten: versenkbare Treppen in der Antike, aus der Seefahrt übernommene Seilzüge im Barock, Maschinen des industriellen Zeitalters, nichts davon hat das Vorherige hinweggefegt, aber die Erweiterung des Spiel-, Erfahrungsund Diskussionsraums sowie auch seiner Schauwerte war immer Thema. Die Einführung elektrischen Lichts in die Theaterhäuser wird heute kaum noch jemand als schweren Fehler bezeichnen – auch und gerade, weil es eben nicht nur um den technischen Aspekt der besseren Lichtausbeute oder um die Gefahrenvermeidung durch offenes Feuer gegangen ist -– sondern darum, den gemeinschaftlichen Raum anders zu erhellen. Eine schöne Behauptung dazu ist, dass das elektrische Licht erst in den Theater und dann auf den Straßen zur Verfügung stand. Wenn es nicht wahr ist, dann ist es gut erfunden.
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ORBIT DER MUSIK
MARKUS MENKE, MICHAEL PETERMANN
Markus Menke studierte Ökonomie, Klavier, Elementare Musikpädagogik. Der Pianist war Vorsitzender des Deutschen Tonkünstlerverbandes, der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendkultur und im Präsidium des Landesmusikrats tätig. Er engagiert sich für soziale Sicherung von Künstlern und Künstlerinnen sowie für den Kinderschutz im Berufsfeld Musik. Seit 2001 ist Markus Menke Direktor des Hamburger Konservatoriums.
Michael Petermann studierte Dirigieren und Kirchenmusik. Er war zuerst Kantor und Organist, dann freier Dirigent und Produzent und gründete anschließend die Formation Weisser Rausch im Medienbunker. Im Jahr 2011 war seine Klanginstallation blödes orchester im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg zu sehen, seit 2013 ist Michael Petermann Direktor des Hamburger Konservatoriums, seit 2017 Künstlerischer Leiter des Elbphilharmonie Publikumsorchesters.
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Eine digitale Plattform für Instrumentalunterricht, Gesangsunterricht und Musikstudium – was in Coronazeiten einleuchtend klingt, nimmt das Hamburger Konservatorium bereits vor fünf Jahren ins Visier. Dort macht man sich 2015 auf den Weg der Pioniere, ein hybrides Lernen zu entwickeln, das im Präsenzunterricht Beziehungen stärkt und online hohe Lernflexibilität bietet. Mit Erfolg.
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it dem heutigen technischen Fortschritt hat ein immer wieder trainiertes Modell Konkurrenz bekommen: Wie war es noch, als Lernen vorwiegend daraus bestand, bis zum nächsten Frontalunterricht bedrucktes Papier zu lesen? Nach scheinbar unumstößlicher Logik hatte Neues auf Bekanntes zu folgen: Seite für Seite, Note für Note, Stufe für Stufe. Auch heute noch genießt der sprichwörtliche gradus ad parnassum hohen Stellenwert im Musikunterricht klassischer Prägung. Jedoch ist der lernende Mensch nicht nur neugierig, sondern bisweilen auch ungeduldig. Kaum hat man vorn angefangen, verrät ein rascher Blick ans Ende des Lehrbuchs bereits das Ziel der Reise. Das kann motivieren, aber auch Langeweile erzeugen – oder dauerhaft entmutigen. Die Qualität eines solchen Unterrichts entlang festgelegter Reiserouten hängt entscheidend von der Fähigkeit der Lehrkraft ab, den logischen Zusammenhang des Stoffes so zu vermitteln, dass Schüler*innen den langen Weg durchhalten, den Wunsch nach dem sofortigen Sprung ans Ziel bis auf weiteres aufschieben, stattdessen den Nutzen wöchentlicher Teilerfolge erkennen und sich schließlich mit der Aussicht auf Größeres weiterhin Mühe geben und mindestens eine Woche lang zufrieden sind. Vielfalt und Allverfügbarkeit des Internets auf Smartphone und Tablet bieten jetzt Wege, sich dem Stoff auf beinahe aleatorische Weise aus verschiedensten Richtungen zu nähern, mit oder ohne Lehrkraft. Rasche Kontext- und Methodenwechsel erlauben es, sich Lerninhalte und Fähigkeiten intuitiv anzueignen, also auf organische Weise zu eigen zu machen. Immer schnellerer Lernerfolg wird zunehmend erwartet und gern auch in Aussicht gestellt – ein Versprechen, dessen Einlösung allerdings erst noch untersucht werden muss. Wie dem auch sei, Wissensvermittlung erfolgt jetzt auch im öffentlichen digitalen Erlebnisraum. Ein gängiges Vorurteil lautet, dass seit dem Siegeszug des Smartphones zumindest die Digital Natives „immerzu irgendwas mit dem Handy machen“ wollen, nach dem Motto: „Mit drei Klicks zum nächsten Kick!“ Besonders Lehrkräfte, die nicht mit Computern aufgewachsen sind, sehen sich an dieser Stelle herausgefordert und ihre bisherige Pädagogik infrage gestellt. Doch ist das bereits angesammelte Wissen ja nicht verloren. Es hat allenfalls seinen elitären, enzyklopädischen Charakter eingebüßt und entsteht heute eher durch das lockere Ansammeln von im Netz herumliegenden, frei zugänglichen Informationen. Jetzt hängt die Qualität des Unterrichts auch davon ab, wie das allgemeine Jagen und Sammeln im Netz so gesteuert werden kann, dass sich aus InfoHäppchen wieder logische Zusammenhänge bilden, wie aus losen, erst zu bestätigenden Fakten neue Fertigkeiten entstehen können, und zwar für Einzelne ebenso wie für volatile Netz-Communities. Kommen wir zurück zum Musizieren: In der populären Musik arbeiten Mitglieder von Bands gerne und schon lange mit der Möglichkeit, sich klingendes Material zu senden
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und daran orts- und zeitunabhängig gemeinsam zu arbeiten. So entsteht ein neuer Raum für Kreativität, der mittels digitaler Vernetzung Musik, künstlerische Produktivität und kreative Kollaboration einfacher möglich macht. Das immer gerne genommene Bild der Vereinsamung am digitalen Endgerät – es verschwimmt auch hier zum Vorurteil. Stattdessen offenbart sich ein erhebliches Potenzial: Das eingespielte musikalische Ergebnis steht denen zur Verfügung, die miteinander musizieren wollen, egal wo sie gerade sind und wieviel Uhr es ist. Auf die vom Hamburger Konservatorium entwickelte Plattform KON-Plugin können Musiker*innen, Laien und Profis gleichermaßen zugreifen. Sie können sich hier vernetzen, entsprechende Stimmen eines Werks oder eines Songs einstudieren und hochladen, können online untereinander proben (auch unter CoronaKontaktbeschränkungen) und über die Plattform auf Begleitstimmen zugreifen. Neue Ensembles und Arrangements können hier entstehen, weil gerade diese oder jene Gruppe von Instrumentalist*innen an einem bestimmten Song interessiert ist. Die Zeitfenster für Präsenz-Ensemble-Proben sind eng geworden, daher ist es umso wichtiger, den Sinn für das Zusammenspiel zu wecken und es dann auch zu ermöglichen. Die digitale Plattform des Hamburger Konservatoriums macht es auch virtuell attraktiv, seine Stimme beizutragen, weil sie online mit anderen Stimmen zusammengeführt werden kann. Am Ende entsteht gesellschaftlicher Zusammenhalt durch gemeinsam erlebte Lern- und Arbeitserfolge im digitalen und im analogen Raum. Erzwungen durch Corona müssen alle Beteiligten neues Verhalten in digitalen Räumen einüben, vor der Kamera und als Streaming-Publikum. Anders als im klassischen Konzertsaal funktioniert digitale Öffentlichkeit nur in eine Richtung. Die unmittelbare Erfahrung von tosendem Applaus schrumpft zur nachträglichen Auswertung von Klickzahlen und Likes. Das PerformanceNadelöhr verengt sich durch die ausschließlich mediale Vermittlung der Musik. Hingegen eröffnen sich für das Publikum neue Möglichkeiten von Lockerheit in seiner privaten Digital-Loge, bleibt es doch, anders als die Ausführenden vor der Kamera, die ganze Zeit unbeobachtet und kann seine Aufmerksamkeit nach Belieben dosieren. Bei all diesen Veränderungen gilt aber weiterhin die entscheidende Grundvoraussetzung für einen gelingenden Unterricht und gelingende künstlerische Produktion: Es ist und bleibt die Beziehungssituation, die für gemeinsames Musizieren und Lernen unabdingbar ist! Auch die analoge, physische Klangerfahrung, die so wichtige und einzigartige gemeinsame Interaktion, bleibt ein Muss. KON-Plugin ist ein zusätzliches Werkzeug, sich auch virtuell zu treffen und Proben, Unterricht, Musizieren online nach Möglichkeit motivierend und dynamisch zu gestalten. Und auch was den Probenturnus von Band, Chor und Orchester betrifft, bieten die modernen Kommunikationsmittel viel schnellere Feedback-Möglichkeiten als den Wochenturnus, der übrigens auch den traditionellen Instrumental- und Gesangsunterricht betrifft. Eine Woche warten zu müssen bis zum nächsten Unterricht, bis zur nächsten Probe oder wenigstens bis zum nächsten Feedback hat wirklich keinen Sinn mehr in einer Zeit, in der wir Zugriff auf neue Medien und Kommunikationsmittel haben. Stattdessen lassen sich Präsenz- und Onlineformate ineinander verzahnen, beispielsweise: Montag Präsenzunterricht – Dienstag üben – Mittwoch Online-Feedback – Donnerstag Probe – Freitag üben – Samstag Produktion, präsent oder
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online – Sonntag üben – Montag wieder präsent und so weiter. Das Hamburger Konservatorium vereint rund 11.000 Schüler*innen aller Altersstufen in der ganzen Stadt, 300 Studierende aus aller Welt und 280 Lehrende. Das sind statistische Daten, die nahelegen, dass ein Feldversuch in dieser Klientel auch Erkenntnisse darüber bringen kann, wie und warum sich gesellschaftliche Gruppen einen digitalen Raum erobern. Die kulturelle und generationelle Diversität unserer Institution steht paradigmatisch für die vereinfachende innere Dynamik des Musizierens in Band, Ensemble, Chor und Orchester: Beim Musizieren steht das gemeinsame Ziel im Fokus und um das zu erreichen, werden trennende Eigenschaften der Beteiligten außen vorgelassen. Parameter wie Alter, Nationalität oder Religionszugehörigkeit spielen keine Rolle. Der international gefeierte Dirigent und Pianist Daniel Barenboim formte so, und ganz präsent, ein Orchester mit Musikern aus Palästina und Israel zu einem Klangkörper für Konzerte. Mit diesem Antrieb führte das Hamburger Konservatorium zur Einführung seiner interaktiven Onlineplattform im August 2019 unterschiedliche Gruppen real zusammen, um ihnen im Anschluss die Möglichkeit zu geben, auch den digitalen Raum gemeinsam weiter zu nutzen. Junge Musiker*innen aus dem Haus der Jugend Steilshoop verwirklichten auf diese Weise Songs mit einer Bläsergruppe der Stadteilschule Blankenese und Rappern aus Bahrenfeld – zuerst bei einem gemeinsamen Treffen und anschließend, in den darauffolgenden Wochen über KON-Plugin. So ist eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen entstanden, die sich sonst nie getroffen hätten und: die diversen Gruppen bringen ebenso diverse Zugänge für die Aneignung des musikalischen Materials mit. Wie oben beschrieben, lernen sie zugleich angeleitet und aleatorisch und zeigen ihre Ergebnisse. Die eigene musikalische Idee einmal geteilt, zusammen musiziert, bearbeitet, mit Feedback versehen – das stiftet Zusammenhang. Erst im digitalen, dann im analogen Raum. Und die Gemeinschaft wächst: Im Sommer 2020 fanden die Aufnahmeprüfungen am Hamburger Konservatorium auf der Onlineplattform statt. Über 100 angehende Studierende mussten keine weiten Wege auf sich nehmen und aus fernen Ländern anreisen, um sich der Prüfung zu stellen. Sie haben im digitalen Raum ihre Erfahrung mit Hamburg gemacht und einige von ihnen werden nun real in diese Stadt ziehen. Und natürlich Corona – abgesagte Konzerte, abgesagter Musikunterricht, keine Proben für Chor, Orchester und Bands. Die Plattform unseres Konservatoriums hat geholfen, vieles aufrecht zu erhalten, weil ein gesicherter digitaler Raum zur Verfügung steht. Rund 400.000 Nutzungen in einem Jahr, Tendenz steigend, sind nicht nur ein statistischer Wert, sie bilden bereits eine digitale Öffentlichkeit ab, die das gemeinsame Ziel hat zu musizieren. In solch einer digitalen Öffentlichkeit wachsen nun Fähigkeiten, die über das Musizieren hinausgehen: Urteilskraft – wer ständig zu schnell spielt, erntet Kritik; Begeisterungsfähigkeit – für neue Ideen; Qualitätsbewusstsein – diese Melodie spricht mich wirklich an; Kommunikationsfähigkeit – wer äußert sich wirklich verständlich. So qualifizieren die Erfahrungen im digitalen Raum die Fähigkeiten der realen Community, die gemeinsame Nutzung einer Plattform wie KON-Plugin führt dann dieses Wissen und die Fähigkeiten zusammen. Im besten Sinne befeuert das digitale Werkzeug so einen Demokratisierungsprozess: Hier ist das musikalische Ergebnis Beweis und gleichzeitig Beispiel für eine
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digitale Öffentlichkeit, die sich nicht einfach nur in ihrer eigenen Meinungsblase befindet. Der digitale Raum ist ein Raum für Potenziale, die in dieser demokratischen digitalen Öffentlichkeit entstehen und hier überhaupt erst entstehen können. Die Plattform besteht aus verschiedenen technischen Bestandteilen, für die die Daten auf Servern in Deutschland gehostet, nicht zu kommerziellen Zwecken genutzt und Ende-zu-Ende verschlüsselt werden. Das macht daraus sichere, geschützte Werkzeuge und ihre Nutzung wird vom Hamburger Konservatorium administriert, wodurch unerwünschte Personen oder Organisationen weder auf Daten zugreifen noch diese mitlesen oder -hören können. Zum einen beinhaltet die Plattform ein Messenger- und Chatprogramm (KONapp) für Zweierund Gruppenkonversationen mit integrierter Videofunktion für Einzelgespräche und Onlinekonferenzen. Die Nutzer*innen können Textnachrichten, Termine und Umfragen erstellen und danach zusammen mit weiteren Dateien in anderen Kanälen teilen und verwalten. Ein weiteres Onlinetool ist das Vierspur-Mischpult (KONcorder) mit Loop- und Schneidefunktion für die Aufnahme von Instrumental- und Vokalspuren als offenes Projekt oder fertiger Downmix. Der Anfang ist damit gemacht, und der während der Corona-Pandemie entstandene Handlungsdruck beschleunigt die Entwicklung zusätzlich – auch über die Dauer eines Lockdowns hinaus. Digitalität auf jedem verfügbaren technischen Niveau ermöglicht im Augenblick vor allem hygienekonforme Unterrichts- und Konzertformate, die biologisches und kulturelles Leben retten können. Später aber muss und wird im neu entstandenen digitalen öffentlichen Raum ein geplantes und weiter ausdifferenziertes Handeln das allgegenwärtige Learning-by-Doing ersetzen. Die durch das neue Medium bedingten Narrative und Interaktionen, wie sie hier am Beispiel des gemeinsamen Musizierens beschrieben wurden, könnten eine neue Führungsdiskussion eröffnen, etwa mit der Frage: Wie lässt sich pädagogisches Handeln jenseits des frontalen Einzelunterrichts künftig als ein Führen hochgradig diverser, intelligenter Schwärme umsetzen, die sich zugleich im Klassenzimmer und im Netz aufhalten? Wir sind sicher, dass die Antwort darauf den realen gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und bereichern wird.
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IM KOMMUNIKATIONSDREIECK BURKHARD GLASHOFF
Burkhard Glashoff studierte Musikwissenschaft und Schulmusik und spielt Klavier, Klarinette und Saxophon. Er organisierte das Klassik- und Crossover-Programm für die EXPO 2000 und begann danach im Musikmanagment der Konzertdirektion Schmid. Als Musikpädagoge ist sein Schwerpunkt, das Interesse für klassischen Musik inbesondere bei den Nachwuchsgenerationen zu wecken. Heute leitet er mit Pascal Funke die Konzertdirektion Dr. Rudolf Goette.
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Zwei Themen dominierten im Winter 2019 den gesellschaftlichen Diskurs: der Klimaschutz und die Digitalisierung. Doch im März 2020 unterbricht die Schockstarre der Coronakrise alle diskursiven Versuche, die fortschreitende Digitalisierung in den Dienst des Klimaschutzes zu stellen. Die reflexartige Reaktion auf diese Pandemie war der Lockdown. Er hat auch den Konzertbetrieb unmittelbar und mit voller Härte getroffen.
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m ersten Lockdown war jeglicher persönliche Kontakt unmöglich und so meldeten sich einige Musiker, aus dem Klassikgenre zum Beispiel der Pianist Igor Levit, sehr schnell per improvisiertem Livestream aus dem heimischen Wohnzimmer. Im Laufe weniger Wochen folgten zunehmend Kulturinstitutionen wie Rundfunkorchester oder Opernhäuser und versorgten das sich nach Kultur sehnende Publikum mit digital vermittelten musikalischen Inhalten. Auch für die Veranstalter waren digitale Kanäle wie Social Media, E-Mail und Websites die einzige Möglichkeit, mit den Konzertbesuchern in Kontakt zu treten, da Vorverkaufsstellen und Abonnementbüros geschlossen waren und nicht von allen Kunden die vollständigen Adressdaten vorlagen. Die letzten neun Monate waren in dieser Hinsicht auch ein unfreiwilliger Praxistest, ob digitale Kanäle bereits belastbar genutzt werden können, um die Kommunikation auch in Zeiten eines Lockdowns aufrechtzuerhalten. Inwiefern sich hier nachhaltige Entwicklungen ergeben, müssen indes die nächsten Wochen und Monate zeigen. Im Folgenden geht es um die verschiedenen Aspekte und Herausforderungen der Digitalisierung im Konzertbereich, zunächst vermittels der Perspektive der Veranstalter, danach aus Sicht der Künstler. Abschließend steht dann die Frage zur Diskussion, ob die Digitalisierung den Konzertbereich über die Dauer der Pandemie hinaus verändern und gegen zukünftige Anfechtungen stärken kann. Die Digitalisierung gewinnt in verschiedenen Bereichen des Konzertbetriebs schnell an Relevanz. Offensichtlich ist dies im Kartenvertrieb und der Verwaltung der Abonnements, denen im Klassikbereich noch immer eine große Bedeutung zukommt. Das OnlineTicketing mit der bequemen Print-at-home-Funktion hat den traditionellen Kartenerwerb an einer Theaterkasse längst überholt, die marktdominierende Stellung der großen Anbieter wie CTS Eventim oder Ticketmaster belegt dies eindrucksvoll. Während der Kauf eines Tickets für ein singuläres Konzert-Event bereits seit vielen Jahren überwiegend über die Ticketing-Plattformen abgewickelt wird, gerät nun die Verwaltung der Abonnements über entsprechend angepasste Tools in den Fokus. In speziellen Onlineportalen können Kunden inzwischen ihre Abonnements selbst verwalten, sich Sitzplätze auswählen, Karten tauschen und viele zusätzliche Features nutzen. Konzertveranstalter, die zu Beginn der Krise bereits auf entsprechende Anwendungen zurückgreifen konnten, hatten eine wesentlich bessere Handhabe, mit den vielen kurzfristigen Konzertabsagen, Verschiebungen und Programmänderungen umzugehen, während ein überwiegend analog organisierter Vertrieb angesichts der Vielzahl der Veränderungen im Spielplan und der Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen in vielen Fällen an seine Grenzen gestoßen ist. In Anbetracht der Tatsache, dass Abonnementbüros und Theaterkassen über Monate geschlossen bleiben mussten und der direkte Publikumsverkehr verboten war, blieb im
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herkömmlichen Vertrieb der Postweg oftmals die als einzig mögliche, sehr aufwändige Abwicklung der vielen Stornierungen und Kartentäusche. Auch hinsichtlich des Zahlungsverkehrs bieten digitale Dienstleister vielfach einfachere und schnellere Möglichkeiten des Handlings. Da die Kunden in den ersten Monaten der Krise oftmals auf die digitalen Anwendungen angewiesen waren, hat in diesem Bereich zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der Materie stattgefunden. In der Folge werden viele Abonnenten die digitalen Optionen vermutlich weiternutzen, da sie gegenüber einem Beratungsgespräch in einem Abonnementbüro, am Telefon oder gar postalisch viele Vorteile bieten. Auch für die Veranstalter ist eine digitale Abonnementverwaltung vorteilhaft, da sie nicht nur Personalkapazitäten freisetzt, sondern auch ermöglicht, die Kunden über entsprechende Datenanalyse und Segmentierung besser kennenzulernen und Angebote sowie Preisgestaltung unter Berücksichtigung der Präferenzen der Kunden weiterzuentwickeln. Im Konzertmarketing sind die Vorteile der Digitalisierung daher ebenso offensichtlich, analoge Marketingmaßnahmen stoßen in Zeiten der Krise an ihre Grenzen – das führt die Tatsache deutlich vor Augen, dass in Hamburg im Herbst 2020 noch an vielen Litfaßsäulen Plakate für Veranstaltungen hingen, die im März desselben Jahres hätten stattfinden sollten: die Zeitvorläufe für Gestaltung, Druck und Hängung von Konzertplakaten oder die Schaltung von Anzeigen in Printmedien sind der Kurzfristigkeit der Entwicklungen nicht angemessen. Die mitunter sehr aufwändig produzierten Saisonbücher der Theater, Konzert- und Opernhäuser sind größtenteils Makulatur und haben allenfalls noch Sammlerwert, da wenige der Veranstaltungen so durchgeführt werden konnten wie abgedruckt, und als ab Mai 2020 wieder erste Vorstellungen vor Publikum möglich wurden, haben die Veranstalter für die Bewerbung der Konzerte fast ausschließlich auf digitale Medien gesetzt. Eine große Bedeutung nehmen dabei die Websites der Konzerthallen und Veranstalter ein, die Social-Media-Kanäle wie Facebook, Instagram sowie Newsletter sind unverzichtbar, um die Kunden tagesaktuell über die neuesten Entwicklungen und kurzfristige Angebote zu informieren und in den Onlineausgaben der meisten relevanten Tageszeitungen und Magazine lassen sich Anzeigen und Advertorials buchen. Der Vorteil von all dem liegt nicht nur in der Flexibilität, sondern auch in der Tatsache, dass online die Zielgruppen besser ausgewählt und „Gießkanneneffekte“ vermieden werden können. In dem Performance-Marketing-Kampagnen gezielt die Reichweite in den Sozialen Medien erhöhen, lassen sich neue und vor allem jene Publikumsgruppen ansprechen, die über traditionelle Kommunikationskanäle nicht erreichbar sind. Ein weiterer zunehmend wichtiger Bereich ist auch das Suchmaschinenmarketing. Die Herausforderung ist dabei, von den Milliarden Suchanfragen, die es täglich gibt, Webseitenbesucher auf die eigenen kulturellen Angebote zu lotsen. Je nach Art des Angebots bieten sich hierfür die großen Suchmaschinen wie Google, YouTube oder Amazon an, die entsprechende (zumeist kostenpflichtige) Marketingmöglichketen vorhalten. Zwar wurden im Konzertmarketing schon im Vorfeld der Coronakrise verschiedene digitale Medien genutzt, aber diese Entwicklung hat sich in den letzten Monaten deutlich beschleunigt, da die Nachteile der analogen Maßnahmen offen zutage getreten sind und auf der anderen Seite die Bereitschaft der Konzertbesucher zugenommen hat, sich mit
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digitalen Kanälen auseinanderzusetzen. Dieses ist insbesondere bei den älteren, in der Regel nicht so technikaffinen Abonnenten zu beobachten, die mangels analoger Alternativen lernen mussten, sich auf die digitalen Plattformen einzulassen; eine Entwicklung, die man durchaus als „Rosskur“ bezeichnen könnte. Die Bedeutung des digitalen Marketings im Kulturbereich geht jedoch weit über die Übertragung analoger Strategien auf die digitalen Medien hinaus. Während das analoge Marketing in aller Regel eine Kommunikations-Einbahnstraße darstellt (mit Ausnahme des persönlichen Gesprächs), haben die Kunden in vielen digitalen Medien die Möglichkeit, Feedback zu geben oder sogar direkt in einen Dialog mit den Anbietern oder anderen Kunden einzutreten. Der Kulturveranstalter kann auf diesem Wege seine potenziellen Besucher besser kennenlernen, deren Präferenzen analysieren und auch Kritik an seinen Angeboten herausziehen. Insofern bieten digitale Kanäle ganz neue Möglichkeiten für einen direkten und offenen Austausch zwischen den Anbietern und Nutzern kultureller Angebote und damit die große Chance für eine Weiterentwicklung von Inhalten und Präsentationsformen. Doch was bedeutet die Digitalisierung für die Künstler selbst? Wenn man sich vor Augen führt, dass das gängige Konzertformat in aller Regel auch heute noch dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten entspricht, könnte man annehmen, dass sich für sie durch die Digitalisierung nicht viel ändert. Tatsächlich müssen sich jedoch auch die Künstler jenen technischen Veränderungen stellen und mit einer veränderten Erwartungshaltung des Publikums auseinandersetzen: Während es in der Vergangenheit in der Regel ausreichte, dass Solisten und Dirigenten sich gelegentlich für einen Medientag zur Verfügung gestellt haben und verschiedenen Printmedien, Radiosendern oder Fernsehanstalten Interviews gegeben haben, wächst durch eine geänderte Erwartungshaltung der jüngeren Fans der Druck, sich in den Sozialen Medien selbst zu präsentieren, täglich mit neuen Posts und Tweets auf Facebook, Instagram und Twitter von sich reden zu machen, oder einen eigenen YouTube-Kanal zu betreiben. In vielen Fällen wird dies von spezialisierten PR-Agenturen professionell gehandhabt, aber die Künstler sind gefordert, sich mit einem hohen zeitlichen Aufwand einzubringen. Eine komplette Verweigerung wird in den meisten Fällen mit einer langsameren Karriereentwicklung bestraft, und ein großer Durchbruch junger und unbekannter Künstler ist ohne die Sozialen Medien heute nur schwer vorstellbar. Wie für die Veranstalter liegt aber auch für sie in der fortschreitenden Digitalisierung die Chance, mithilfe der Sozialen Netzwerke in einen engeren Dialog mit ihren Fans einzutreten. Auf Facebook und Instagram haben die Fans die Möglichkeit, sich mit ihren Kommentaren, Likes und Fotos einzubringen und in der Community sowie mit ihrem Idol zu interagieren. Auch hier kann das unmittelbare Feedback den kreativen Prozess beeinflussen und inspirieren. Die Sozialen Medien haben den Kulturschaffenden auch unmittelbar nach Eintreten des Lockdowns die Möglichkeit eröffnet, sich mit Live-Streams zu Wort zu melden und auf Facebook oder Twitter für ihre Fans zu spielen. Die Streams wurden zum Teil von einer sechsstelligen Zahl an Nutzern verfolgt, eine für klassische Musik vor der Coronakrise unvorstellbare Reichweite. Es wurden (und werden) hier vermutlich auch neue Zielgruppen angesprochen, die den Schritt in den Konzertsaal nicht gewagt hätten, das
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niederschwellige Onlineangebot aber gerne annehmen. Das Streaming hat sich dabei in den vergangenen Monaten enorm weiterentwickelt – inzwischen ist es Standard, Konzerte aus leeren Konzerthallen oder Opernhäusern mit teils erheblichem technischen Aufwand zu übertragen. Neue, digitale Angebote wie DG Stage der Deutschen Grammophone richten sich mit hochkarätigen Streamingangeboten an das klassische Konzertpublikum weltweit. Neu entwickelte Dienste wie the digital stage erlauben es auch Laienensembles, online zu proben und auf einer digitalen Bühne vor Publikum im Internet aufzutreten. Dabei gewinnen zunehmend auch hybride Konzertformate an Bedeutung, das heißt Konzerte, die vor einem reduzierten Publikum stattfinden und zeitgleich im Internet gestreamt werden. Durch das unmittelbare Feedback der Nutzer solcher Angebote wird eine direkte Verbindung zwischen dem auftretenden Künstler und seinem Fan hergestellt, und nicht selten nutzen die Künstler die Möglichkeit, sich auch direkt an ihre Community zu wenden. Die spannende Frage bleibt, ob die beschriebenen Phänomene im Wesentlichen den Zwängen der Coronakrise geschuldet sind oder ob sie über die aktuellen Einschränkungen hinaus an Relevanz gewinnen und den Konzertbetrieb dauerhaft verändern werden. Für die oben diskutierten Aspekte des Kartenvertriebs, der Abonnementverwaltung sowie des Marketings kann unterstellt werden, dass die Vorteile digitaler Anwendungen so offensichtlich sind, dass sie in Zukunft Standard werden und in vielen Fällen analoge Verfahren ergänzen oder gar komplett ersetzen werden. In allen besprochenen Feldern gab es bereits vor der Krise entsprechende Überlegungen, die an vielen Stellen auch schon umgesetzt wurden. Die langen Phasen des Lockdowns beschleunigen diese Entwicklungen lediglich und wirken damit quasi als Katalysator. Um den Fortbestand des klassischen Musiklebens auch in Zukunft zu sichern, wird die Digitalisierung im Konzertbereich konsequent weitergeführt und auf ein den Inhalten angemessenes professionelles Niveau gehoben werden müssen. Darüber hinaus ist aber bereits jetzt abzusehen, dass die Digitalisierung den Konzertbetrieb auch strukturell und inhaltlich verändern wird. Durch die Tatsache, dass die Kommunikation im Dreieck von Künstler, Publikum und Veranstalter auf allen Achsen direkter wird und Fragen von Inhalten und Präsentationsformen zunehmend zwischen den Teilnehmern ausgehandelt werden müssen, definieren sich die Rollen der verschiedenen Seiten neu. Man könnte diese Entwicklung auch als eine Demokratisierung des Konzertbetriebs betrachten, in dem der Veranstalter die Rolle eines Moderators anstatt eines Impresarios alten Stils einnimmt und zwischen den Künstlern und dem Publikum vermittelt. Auch erstere werden sich in einem solchen Spannungsfeld wesentlich aktiver einbringen können (oder müssen), als dass in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Bei einer solchen Betrachtungsweise geht die Wirkung der Digitalisierung weit über eine rein technische Ebene hinaus. Die Coronakrise hat uns die Beschränktheit eines vorwiegend analogen Modells klar vor Augen geführt und uns digitale Alternativen erschlossen, die für die Zukunft ungeahnte Perspektiven bieten. Werden digitale Angebote also künftig das Live-Event verdrängen? Diese Befürchtung wird an vielen Stellen geäußert und damit einmal mehr der endgültige Untergang des klassischen Konzertbetriebs heraufbeschworen und historisch betrachtet,
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wurden solche Vermutungen immer geäußert, wenn sich neue Medien wie die Schallplatte, VHS-Kassette oder die CD und DVD durchgesetzt haben. Es gibt aber bereits jetzt, mitten in der Coronakrise, erste Anzeichen dafür, dass dieser Fall nicht eintreten wird. Ein Indiz ist das große Interesse an den digital vermittelten Angeboten, die für die meisten Nutzer vermutlich eher ein Surrogat darstellen dürften, das den Hunger nach einem geteilten Musikerlebnis noch steigern könnte. Es liegt weiterhin nahe, dass die digitalen Formate bei neuen Zielgruppen einen niederschwelligen Zugang zur klassischen Musik fördern und möglicherweise Lust auf den Besuch eines Live-Events machen. Die ersten Konzertangebote unter Coronaschutzkonzepten sind im Spätsommer und Herbst auf ein unerwartet großes Interesse beim Publikum gestoßen, und auch das unmittelbare Feedback der Abonnenten und Stammkunden deutet nicht auf eine Abwendung vom Konzertleben hin – bevor Corona dem Aufschwung des Musiklebens ein jähes Ende bereitete, steuerte das Jahr 2020 auf neue Verkaufsrekorde bei Konzertkarten für alle Genres zu. Das urmenschliche Bedürfnis, kulturelles Erleben mit anderen Menschen zu teilen, wird auch durch die Digitalisierung nicht erlöschen. Die Intensität, mit der Menschen gemeinsam mit anderen Musik in ihrem Schöpfungsprozess erleben, die magischen Momente, die in Konzerten immer wieder entstehen und doch so schwer zu erklären sind, üben auch in der digitalen Welt der Zukunft weiterhin eine große Faszination aus. Was nun die Post-Corona-Zeit anbelangt, kann einem möglicherweise der Blick zurück auf das Ende der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 wütete und unendliches Leid über die Welt brachte, erste Hinweise geben: Es folgten die Roaring Twenties, ein Jahrzehnt ungebremster Lebensfreude mit seinen zahlreichen kulturellen, technischen und gesellschaftlichen Errungenschaften. Auch vor hundert Jahren hat der rasante technische Fortschritt die Kreativität der Kunstschaffenden nicht gefährdet, sondern im Gegenteil beflügelt und das Publikum fasziniert.
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AUTHENTIZITÄT RELOADED INTERVIEW MIT MICHAEL STUDT
Michael Studt ist Kaufmännischer Geschäftsführer im Vorstand der Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen und Geschäftsführer der Bücherhallen Medienprojekte gGmbH. Er war viele Jahre bei der Gruner und Jahr AG & Co KG sowie der Financial Times Deutschland GmbH tätig, bis der studierte Diplom-Kaufmann und -Informatiker im Juli 2013 Kaufmännischer Leiter der Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen wurde. Seit Juli 2015 ist Michael Studt hier zuständig für kaufmännische Fragestellungen zu IT, Controlling, Liegenschaften, Inneneinrichtung und Bau, Buchhaltung und allgemeine Verwaltung sowie digitale Strategien und Contents.
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Welchen Bedarf gibt es heute in unserer hochmodernen Stadt mit Blick auf konkrete, haptische Begegnungsorte fernab abstrakter Digitalität – wie es die Bücherhallen in Teilen ja immer sein werden? Die Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen erfüllt eine wichtige Bildungsfunktion in Hamburg. Unseren Stiftungszweck, die Förderung der Volksbildung, verwirklichen wir durch ein stadtweites System Öffentlicher Bücherhallen als Informationsspeicher für alle bibliotheksüblichen Medien und als Informationsvermittler für die Bürger*innen. Wir unterstützen andere Bildungseinrichtungen bei der Verwirklichung von Lese-, Lern-, Orientierungs- und Bildungsinteressen und sind zugleich kultureller Ort und Mitträger der soziokulturellen Stadtteilarbeit. Grundlegende Voraussetzung für die Erfüllung unserer Aufgaben ist die permanente Weiterentwicklung unseres Bibliothekssystems, insbesondere wenn Stadtentwicklungsprozesse, Kund*inneninteressen, Mediennutzungsgewohnheiten sowie technische Infrastrukturen das erfordern. Gern nenne ich hier ein paar Zahlen: Unser Bibliothekssystem besteht aus der Zentralbibliothek, 32 Stadtteilbücherhallen, zwei Bücherbussen und den digitalen Angeboten der eBuecherhalle. 220.00 aktive Kund*innen leihen jährlich über 13 Millionen Medien aus, davon 1,9 Millionen eBooks und eAudios, über Stream mehr als 600.000 Musiktitel. Mehr als viereinhalb Millionen Besucher*innen und fast sieben Millionen Onlinekontakte verdeutlichen unsere Bedeutung als besucherstärkste Kulturinstitution in Hamburg. Teilhabe in einer Stadtgesellschaft, als Schlüssel zur Chancengleichheit, analoge und digitale Partizipation und ist damit für uns ein wichtiger Auftrag und eine große Herausforderung. Voraussetzung ist der effiziente Einsatz unserer Ressourcen, die in Angebote für Kund*innen umgesteuert werden, um den heutigen Anforderungen einer anspruchsvollen Stadtgesellschaft hinsichtlich Aufenthalt, Arbeitsplatzangebot, digitaler Vermittlung und anderen Angebotsformen der Lese- und Medienkompetenzförderung gerecht werden zu können. Deswegen gestalten wir unsere Räume nicht mehr als „Regalanbieter“, sondern eher wie ein stilvolles öffentliches Wohnzimmer. Gerade in einer modernen, digitalen und sehr großen Stadt wie Hamburg wächst der Wunsch nach Begegnung und Austausch in echten Räumen. Insbesondere unsere Bücherhallen können diesen Bedarf decken, denn sie haben sich in den letzten Jahren zu attraktiven Dritten Orten weiterentwickelt. Und inwiefern ist die digitale Automatisierung, wie sie zum Beispiel bei Ihrer Open Library zum Tragen kommt, für das Selbstverständnis einer aus analogen Medien erwachsenen Institution von Bedeutung? In den letzten Jahren haben wir die manuellen Kundenprozesse weitgehend vollautomatisiert, zum Beispiel Selbstausleihe, automatische Rückgabe, automatische Vorsortierung der Medien und Zahlvorgänge am Kassenautomaten. Die Öffnung unserer Bücherhallen montags bis samstags von 8 bis 20 Uhr haben wir ohne die Ausweitung der personalbesetzten Servicezeiten durch den Einsatz der Digitalisierung wie bei der Open-LibraryTechnik realisieren können. Was das konkret bedeutet? Kund*innen können mit ihrer Kundenkarte in dieser zusätzlichen Öffnungszeit die Bibliothek betreten und sich etwas ausleihen – ohne dass Personal anwesend ist. Kennen Sie eine andere Organisation, die
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vertrauensvoll freien Zugang zu ihren Angeboten ohne Personal vor Ort ermöglicht? Wir konnten dadurch die Öffnungszeiten verdoppeln! Auch der direkte Kundenkontakt wurde durch die Digitalisierung unterstützt, zum Beispiel Verlängerungen per digitalem Kundenkonto auch via App oder digitale Raum- und Arbeitsplatzbuchung. Ziel ist es, diese Prozesse in den nächsten Jahren fortzusetzen. So planen wir zum Beispiel OnlinePayment, Ticketing für Veranstaltungen und Navigation auf mobilen Endgeräten. Die Navigations-App wird Kund*innen der Zentralbibliothek – egal wo sie sich befinden – nach der Suche im Katalog direkt bis zum Regal führen; das ist einmalig in deutschen Bibliotheken. Smartphones oder Tablets werden immer mehr zu zentralen Endgeräten, so dass wir die Ausleihe mit mobilen Endgeräten zukünftig auch über Near Field Communication ermöglichen werden. Auch unsere internen Verwaltungsprozesse werden wir weiter digitalisieren und effizienter gestalten. Für alle diese Investitionen brauchen wir auch in Zeiten angespannter Haushalte eine verlässliche Finanzierung. Die Bücherhallen haben sich stadtweit zu Lernorten entwickelt, die digitale Services und eine gute technische Infrastruktur wie Kundenarbeitsplätze mit Internetzugang, Druckmöglichkeit und Standardsoftware, Smartboards und WLAN zur Verfügung stellen. Alle unsere Standorte wollen und müssen technisch immer eine Spitzenposition einnehmen, so dass sie für die Bürger*innen attraktive Orte der Orientierung und der kommerzfreien Informationsgewinnung und -vermittlung bleiben. Die Bedeutung der technischen Ausstattung und Digitalisierung ist elementar und immens, denn erst sie unterstützt und ermöglicht uns die optimale Wahrnehmung unserer Aufgaben. Erst die Vollautomatisierung hat die Neuausrichtung der personellen Ressourcen hin zu mehr inhaltlicher, konzeptioneller und visionärer Arbeit möglich gemacht. Insgesamt ist für unser Großstadtbibliothekssystem auch weiterhin eine moderne zeitgemäße IT-Ausstattung erforderlich, um Bürger*innen aller Altersgruppen, Lebenslagen und Ethnien beim Erwerb von Medien- und Informationskompetenz sowie dem individuellen Lernen zu unterstützen. Dennoch bieten die Bücherhallen Hamburg stets auch die Gewähr, persönliche Orte der Begegnung für alle zu sein und Kund*innen im direkten Kontakt kompetent zu beraten. Unter dem Hashtag #ichbinhier setzt sich die gleichnamige Aktionsgruppe seit Dezember 2016 für eine demokratische und tolerante Online-Diskussionskultur ein. Was haben die Bücherhallen damit zu tun? Hate Speech und Fake News sind in den sozialen Medien alltäglich, das ergab unter anderem auch eine Forsa-Umfrage: 47 Prozent der Befragten hatten bereits mit Hasskommentaren zu tun, bei den 14- bis 24-Jährigen waren es sogar 85 Prozent. Und auch die Bücherhallen werden immer wieder angegriffen, insbesondere bei der Frage, warum wir bestimmte Medien im Bestand oder bewusst nicht im Bestand haben. Die Art der Kommunikation über die Sozialen Medien, per E-Mail oder Telefon ist manchmal mehr als grenzwertig. Wir verstehen uns als demokratische, tolerante, Vielfalt unterstützende und teilhabeorientierte Kultureinrichtung, die hilft, Gefahrenpotentiale der Digitalisierung für unsere rechtsstaatliche Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu
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identifizieren. Deswegen steuern wir gegen die digitale Hassrede seit Herbst 2020 in einer Kooperation mit dem ich bin hier e.v., Deutschlands größter Counter-SpeechInitiative: Ziel des Projektes mit dem Titel #dubisthier ist es, Einzelpersonen und Menschen aus Politik, Social-Media und den klassischen Medien, aber auch Betroffenenorganisationen gezielt zu unterstützen, wenn sie Berührungspunkte mit Hate Speech im Netz haben und reagieren wollen und müssen. Zu diesem Thema organisieren wir verschiedenste Veranstaltungen, auch Bootcamps, in denen Teilnehmende jeweils die Position der Hass- und der Gegenredner*innen einnehmen und so gemeinsam üben, sich in den verschiedenen Social-Media-Kanälen aktiv für digitale Zivilcourage einzusetzen und Counter Speech zu betreiben. Darüber hinaus werden wir Informationsabende mit Akteur*innen unter anderem aus Behörden und Bezirken, Justiz oder Polizei in Stadtteilbibliotheken veranstalten. Ziel ist es, dadurch Handlungsspielräume zu eröffnen, wie ein vielfältiges Meinungsbild in der deutschsprachigen virtuellen Öffentlichkeit gestärkt, Debatten versachlicht und die Diskurskompetenz erhöht werden können. Und: Es wird in dezentralen Bücherhallen für die #dubisthier-Community Treffpunkte geben – ein analoger Austausch zu einem brisanten digitalen Thema geschützt im haptischen Raum einer Bücherhalle. Man kann der Digitalisierung unterstellen, was man will, ihren Verdienst in Sachen soziale und kulturelle Diversität kann man ihr nicht absprechen. Inwiefern entsteht durch diese technische Transformation auch eine neue Vielfalt in den Bücherhallen? Das Internet folgt, wie die Bücherhallen, den Prinzipien der Offenheit, Teilhabe und Partizipation. Wir begreifen die Digitalisierung daher als große Chance, soziale und kulturelle Vielfalt bei uns zu ermöglichen und weiter auszubauen. Teilhabe – unabhängig von Ort und Zeit – begann bei uns ja schon vor vielen Jahren mit unserer eBuecherhalle, also mit unseren digitalen Angeboten. So bieten wir unseren Kund*innen rund 150.000 eMedien wie eBooks, eMusik oder ePaper, außerdem über 1.000 digitale Datenbanken, das Streaming von Musik mit über sechs Millionen Einzeltiteln und über 1.500 Filmen, pressreader mit Zugriff auf tagesaktuelle und layoutgetreue Volltextausgaben von 4.000 Zeitungen und Magazinen aus 100 Ländern in 60 Sprachen und vieles mehr. Unser digitales Portfolio können Sie überall rund um die Uhr nutzen. Und wir bieten auch Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ein umfangreiches digitales Medienangebot, zum Beispiel 15.000 fremdsprachige eBooks. Der Zielgruppe der Berufstätigen offerieren wir mit unserem eLearning-Portal sehr qualifizierte Videokurse und Zugriff auf über 150 interaktive Onlinekurse aus dem Bereich EDV, Karriere, Kommunikation/ Management und Sprachen. Um die interkulturelle Öffnung der Bücherhallen zu unterstützen, haben wir uns bei der Kulturstiftung des Bundes erfolgreich für ein mehrjähriges Programm namens 360° – fonds für kulturen der neuen stadtgesellschaft beworben. Hier geht es um die analoge, aber auch um die digitale Öffnung, insbesondere für zugewanderte Menschen aller Altersgruppen und Herkunftsländer. Im Sommer 2020 fand in Kooperation mit audiyou, einem gemeinnützigen Internetportal für Up- und Download von Audiodateien, der
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Schülerwettbewerb Miteinander hören: Wie klingt Vielfalt? statt. Ein weiteres, schon länger bestehendes Angebot ist Dialog in Deutsch, unser stadtweites Angebot für Zugewanderte zum Deutschlernen mit über 100 kostenfreien, offenen Gesprächsgruppen pro Woche, moderiert durch 280 Ehrenamtliche. Seit Mitte 2020 setzen wir das auch digital um, so dass auch die Teilnahme von zu Hause aus ermöglicht wird. Die größte Hürde liegt darin, Menschen – völlig unabhängig von ihrem persönlichen Hintergrund – zu befähigen, mit digitaler Technik kompetent umzugehen und diese dann selbstständig und verantwortungsbewusst in ihrem Alltag einzusetzen. Hier unterstützen wir die verschiedenen Zielgruppen in vielfältiger Hinsicht: Online-Sprechstunden, TabletSchulungen, Recherchetraining oder mit Formaten, die in Kooperation mit Bildungspartnern wie jaf e.V., dem Chaos Computer Club und Fraunhofer-Institut, der HAW Hamburg und dem Goethe-Institut, der Körber-Stiftung, Mash oder kleineren Bildungspartnern entstehen. Ziel aller unserer Angebote, egal ob analog oder digital: Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenzuwirken, Chancengleichheit zu fördern und Teilhabe zu ermöglichen. Digitalisierung schafft hierbei neue Möglichkeiten und vergrößert unsere Reichweite in der Stadtgesellschaft, sie ist ein vertrauter Alltagsbegleiter und unentbehrlicher Bestandteil unserer Arbeit geworden. Die Bücherhallen beherbergen eine gigantische Masse kulturellen Kapitals für Hamburg. Welche Projekte befördern aktuell die Digitalisierung und den flächendeckenden Zugang zu ihnen – Stichwort Robotertechnik – und: wie holen Sie ihr Team an dieser Stelle ab? Das traditionsreiche Buch kann die Anforderungen an eine komplexe, crossmediale und vernetzte Aufbereitung verschiedener Medien – Text, Videos, interaktive Grafiken, Datensammlungen – nicht oder nicht mehr allein erfüllen, denn in einer digitalen Welt ist die Kombination aus virtuellen und physischen Medien die Zukunft. Wir haben deswegen in den letzten Jahren ein beachtliches digitales Angebot aufgebaut und aktuell werden in allen Standorten Veranstaltungen mit digitalem Bezug angeboten. Beispielhaft nenne ich den Bau von Bürstenrobotern, Programmier-Workshops ab dem Vorschulalter, 3D-Druck und 3D-Realisierungen wie die digitale speicherstadt oder die Plattform open roberta lab zur Sammlung erster Programmiererfahrungen. Wir realisieren digitale Veranstaltungen für alle Zielgruppen und aktualisieren unsere Angebote permanent. Speziell für Kinder haben wir Angebote wie klickerkids, eine Themenrecherche inklusive Gestaltung und Programmierung eigener Internetseiten, oder Lesetrainings für Kinder mit Leseförderbedarf per Messenger oder Videokonferenz im Programm. Auch interaktive Geschichtswerkstätten oder digitale Lesungen von Autor*innen gibt es bei uns. Für Senior*innen bieten wir analoge und seit 2020 auch digitale Schulungen zum Umgang mit Tablet, Smartphone und Co an: Hier ermöglichen wir älteren Menschen, mit ihren mobilen Endgeräten sozial und kulturell teilzuhaben, auch mit ihren weit weg wohnenden Kindern oder Enkelkindern. Ein aktuelles Beispiel für ein hybrides Format ist unser neues Projekt remote robo lab, das von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen des Programms dive in gefördert wird. Das Projekt ermöglicht die Vermittlung und Förderung des souveränen Umgangs
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mit Robotertechnologie. Es verbindet das Ausleihangebot und Veranstaltungen vor Ort in den Bücherhallen mit einer digitalen Plattform, auf der Interessierte neben Informationen und Lehrmaterialien auch Anregungen für eigene Roboterprojekte finden und in direkten Kontakt mit Robotern in den Räumen der Bücherhallen kommen. Die Bücherhallen stellen dafür eine vielseitige Auswahl an Robotern mit unterschiedlicher technischer Komplexität einem breiten Publikum zum Kennenlernen und Ausprobieren in der Bibliothek, zu Hause oder in der Schule zur Verfügung, um einen niedrigschwelligen Zugang, eine differenzierte Auseinandersetzung und einen souveränen Umgang mit Robotik zu ermöglichen und zu fördern. Digitale Teilhabe und die Vermittlung digitaler Kompetenzen sind essentielle Aufgaben für uns. Sie sind zeitintensiv in der Konzeption und Durchführung und erfordern eine hohe Qualifikation der Mitarbeiter*innen. Deswegen bieten wir spezifische Fortbildungen und Workshops an, um entsprechende Spezialist*innen und Multiplikator*innen aufzubauen. Diese organisieren wir in Einzelveranstaltungen als Curricula oder im Blended-Learning-Format. Das sind alles hochspannende Themen – ein großangelegtes Zukunftsprojekt allerdings ist das Haus der Digitalen Welt. Welche Rolle spielen darin die Bücherhallen und wie wird das Projekt finanziell gesichert? Mit dem Haus der Digitalen Welt will Hamburg einen neuartigen und vernetzten Ort des Lernens und der Information, Kommunikation, Diskussion und Begegnung für alle Hamburger*innen schaffen. Er soll niedrigschwellig und offen sein – im Analogen wie im Digitalen. Das Haus der Digitalen Welt wird neuer Standort der Zentralbibliothek und eine der modernsten Bibliotheken Europas werden. Auch die Zentrale der Hamburger Volkshochschule wird einziehen und Weiterbildungen ebenso wie spezifische digitale Bildung anbieten. Hochschulen können in diesem Haus Veranstaltungsformate etablieren, die die Forschung sichtbar und die digitale Transformation erlebbar machen. Die Angebote werden programmatisch so verzahnt, dass das Haus der Digitalen Welt konzeptionell vielen weiteren Akteur*innen offenstehen wird, so dass unsere Zukunft dort für alle erlebt, erlernt, erdacht und erbaut werden kann. Mit einem in Deutschland einmaligen, hochwertigen Angebot von Öffentlicher Bibliothek, Foren, Labs, Makerspaces, Studios und Showrooms wird das Haus der Digitalen Welt in Hamburg und weit darüber hinaus für einen offenen, verantwortungsvollen und chancenorientierten Weg in die digitale Zukunft stehen. Seine Flächen für Inspiration, Kreativität und freie Gestaltung machen daraus schließlich nicht weniger als einen Ort der Identifikation an zentraler und prominenter Stelle in der modernen Hamburger Bildungslandschaft, der den Bürger*innen lebenslanges Lernen als Selbstverständlichkeit bietet. Die Behörde für Kultur und Medien erarbeitet aktuell mit den Projektpartnern Bücherhallen, Volkshochschule und Hochschulen sowie der Senatskanzlei als auch der Bildungsund Wissenschaftsbehörde eine Konzeptstudie, die auch Fragen der Investition und der laufenden Kosten beinhaltet. Wir hoffen sehr, dass die Realisierung dieses innovativen Projektes trotz einer angespannten Haushaltslage in den kommenden Jahren möglich
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sein und der Stadtgesellschaft in absehbarer Zeit ein solcher Dritter Ort zur Verfügung stehen wird. Die Geschichte der menschlichen Kultur ist unweigerlich auch eine Geschichte des Buchdrucks, des für die große Nachwelt festgehaltenen authentischen Wortes. Sehen Sie in der Digitalisierung eine logische Weiterentwicklung dieser Geschichte oder eine Bedrohung der Authentizität und damit der Kultur selbst? Authentizität kann analog und digital erfolgen. Viele digitale Trägermedien werden durch die immer bessere Verfügbarkeit von Content im Netz überflüssig – im Gegensatz dazu stellen wir derzeit wieder eine Renaissance des Haptischen fest, die sich auch auf das erfreulich haltbare Trägermedium Buch erstreckt. So wird heute mehr gelesen als jemals zuvor, nur eben zusätzlich auch in neuen digitalen Kanälen, die gerade bei jungen Menschen einen enormen Zuspruch finden. Wir erleben aber auch, dass Bibliotheken, deren Angebote ohne Probleme digital erreichbar sind, trotzdem sehr lebendige, äußerst beliebte Begegnungs- und Austauschorte bleiben. Alle Kontakte in sozialen Netzwerken – mit bekannten Problemen wie der Missverständlichkeit – sind in der Lebenswirklichkeit auch jüngerer Generationen höchstens eine Ergänzung der physischen sozialen Kontakte. Wir verbinden Menschen und so wird auch das Buch seine hohe Symbolkraft sowie seinen unmittelbaren Nutzen behalten und der menschlichen Kultur noch eine ganze Weile erhalten bleiben.
#dubisthier und 360° Fonds für Kulturen werden gefördert von der Kulturstiftung des Bundes
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AUF DEM WEG ZU EINER KULTUR DER DIGITALITÄT RESÜMEE VON RITA MÜLLER
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ie Veranstaltungen im Rahmen des eCulture-Salons und die hier publizierten Beiträge machen deutlich, dass wir uns inmitten eines Transformationsprozesses befinden, der unsere Gesellschaft und unser kulturelles Leben durchdringt und einschneidend verändert. Felix Stalder, Professor für digitale Kultur an der Züricher Hochschule der Künste, spricht aus diesem Grund von der „digitalität der kultur“.1 Diese zeichne sich durch Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität aus.2 Mit Referentialität bezeichnet er eine Methode, „mit der sich Einzelne in kulturelle Prozesse einschreiben und als Produzenten konstituieren können.“ Mit Gemeinschaftlichkeit meint er einen kollektiv getragenen Referenzrahmen, der Bedeutungen stabilisiere, Handlungsoptionen generiere und Ressourcen zugänglich mache. Und unter Algorithmizität versteht er jene Aspekte der kulturellen Prozesse, die durch von Maschinen ausgeführte Handlungen (vor-) geordnet sind. Durch automatisierte Entscheidungsverfahren werde der Informationsüberfluss reduziert und geformt. Schließlich, so Stalder, bestimme unser Handeln, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden. Das Konzept der „Kultur der Digitalität“ dient vielen Autor*innen des vorliegenden Sammelbandes dazu, die Auswirkungen der digitalen Transformation auf Kunst und Kultur zu beschreiben. Viele sehen die Digitalität als ein neues Wesensmerkmal der Kultur (Martin Lätzel). Sie sind sich einig, dass die Digitalisierung die Produktion, Präsentation und Rezeption von Kunst und Kultur längst erreicht hat. Die Corona-Pandemie wird dabei von allen als Beschleuniger und Katalysator dieser Entwicklung wahrgenommen: „Wer die Digitalisierung für das Spielbein eines eigentlich analog funktionierenden Kulturbetriebs betrachtet hat, stellt fest, dass sie in der Krise zum (zeitweise einzigen) Standbein wurde.“ (Robert Mishra) Wenn das Digitale und das Analoge nicht mehr getrennt gedacht werden können, wenn die Zukunft kultureller Angebote im Zusammenspiel von virtuellen und realen Herangehensweisen besteht, wie sehen dann zukünftige Kulturerlebnisse aus? Wie findet Wissensvermittlung statt? Wie können wir unsere bisherige Kulturarbeit nicht nur mit anderen Mitteln fortführen, sondern wirklich neu denken? Wie können wir neue Formen der Partizipation und Teilhabe schaffen? was wollen wir? „Jeder Technikeinsatz, so auch der digitaler Technologien, ist die abhängige Variable. Die Gesellschaft befindet nach Maßgabe ihrer Ordnung, ihrer Werte und ihrer Zukunftsperspektive, warum sie welche Technologien einsetzen will.“ Ganz gleich, ob wir
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die Digitalisierung wie Harald Welzer mehr als Werkzeug oder als Prozess begreifen, wichtig ist die Frage, was wir wollen und welche Rolle beziehungsweise Aufgaben Kultureinrichtungen in einer Gesellschaft übernehmen sollen. Es besteht viel Einigkeit darüber, dass Museen, Theater, Bibliotheken – Kulturbetriebe insgesamt – vor dem Hintergrund der Globalisierung, fortschreitender Individualisierung, der Zunahme hochkomplexer Prozesse und zunehmender Orientierungslosigkeit als Orte der Begegnung, des Diskurses und der kritischen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. „Einrichtungen der Kunst und Kultur haben als Begegnungsstätten und Reflexräume eine unmittelbare Relevanz für den zusammenhalt der gesellschaft,“ resümiert Carsten Brosda. In den Bücherhallen gibt es bereits vielfach sogenannte Dritte Orte und auch in der Museumswelt erhalten kostenfrei zugängliche Räume für Begegnung, Aufenthalt und Diskurs nach und nach ihren Platz. Doch welche Rolle spielt das Digitale dabei? Welche Funktion können digitale Instrumente beziehungsweise Angebote dabei übernehmen? Mirjam Wenzel schlägt vor, über post-digitale Räume nachzudenken, also über Formen der Verschränkung von digitalem und physischem Raum, die das soziale Erlebnis eines Museumsbesuchs ins Zentrum rücken. Einen gemeinsamen neuen Raum jenseits der schon vorhandenen Räume, der bisherigen Theaterräume, zu schaffen, von dieser Idee ist auch Marcus Lobbes überzeugt. Sein Credo: Digital denken, um digital zu spielen. Die Vertreter*innen der Länder und Kommunen wie auch viele Kulturschaffende formulieren als oberste Ziele, das kulturelle erbe für die zukunft zu bewahren und den Prozess der demokratisierung weiter voranzutreiben, um damit mehr Menschen Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen sowie Wissen zugänglich zu machen. „Kultur für alle“, so konstatiert Thomas Schleper zu recht, ist zwar keine neue Forderung, aber die digitalen Techniken wirken beschleunigend und motivierend. Weiterhin müssen Barrieren abgebaut, neue Zugänge geschaffen und gemeinsam mit dem Publikum neue Strukturen und Angebote erarbeitet werden. Aus den Besucher*innen werden Nutzer*innen, aus den Akteur*innen werden Gestalter*innen. Das Publikum konsumiert nicht mehr, sondern ist kreativ aktiv, mischt sich ein, gestaltet mit und bildet damit im Sinne Felix Stalders eigene Referenzzusammenhänge und erweitert den Resonanzraum. wie wollen wir es tun? Das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien initiierte Verbundprojekt museum4punkt0 fördert das Experimentieren mit digitalen technologien und die Erforschung neuer formate der vermittlung. „Für die Museen galt und gilt es deshalb umso mehr, Formate zu entwickeln, die die Umsetzung der
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Leitgedanken Multiperspektivität, Gegenwartsbezug und Partizipation überhaupt erst ermöglichen. Analoges und Digitales sollten dabei als komplementäre Gestaltungsmittel eines Gesamterlebnisses verstanden und eingesetzt werden.“ So fassen Katharina Fendius, Christina Haak und Bettina Probst den Anspruch für den Projektpartner, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zusammen. Auch andere Museen experimentieren mit neuen Technologien, immersiven Medieninstallationen oder KI-basierten Anwendungen. Im Badischen Landesmuseum ermöglichen VR-Brillen ein solch immersives Erlebnis der Vergangenheit. Im neuen Museumskonzept des Hauses werden Analoges und Digitales, Digitalität und Partizipation zusammen gedacht. In einer Pilotausstellung können sich die Besucher*innen wie in Lesesälen Objekte auswählen und persönlich zeigen lassen. Über die Eintrittskarte und ein individuelles Nutzerkonto (Eintrittskarte) haben sie aber auch die Möglichkeit, sich Zuhause mit den Objekten zu beschäftigen. neues storytelling und neue rollen. Mirjam Wenzel, vor allem aber auch Jasper Visser fordern ein neues Storytelling mit mehr Gegenwartsbezug, um mehr „Nähe zu Menschen und Dingen herzustellen“, mit mehr Beteiligung und Inklusion. Dafür, dass Museen heute selbstverständlich aktuelle Themen aufgreifen und das Ohr am Puls der Zeit haben, ist die Ausstellung „#neuland. Ich, wir und die Digitalisierung“ des Museums für Kommunikation in Berlin ein gutes Beispiel, die zeitnah noch eine sogenannte Corona-Spur integriert hat. Visser geht noch einen Schritt weiter: In seiner Vision des „post-Covid-19 museum“ werden die Geschichten nicht mehr von den Kurator*innen erzählt, sondern von Aktivist*innen oder von den Menschen auf der Straße, auch von Menschen, die vielleicht gar nichts mit dem Museum zu tun haben. Damit stellen Museen nicht nur einen Raum für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen zur Verfügung, sondern geben zunehmend ihre Deutungshoheit ab. neue räume. Christian Holst bewegt die Frage, wie digitale Angebote einen eigenen Erlebnischarakter bekommen können und wie ein spezifisches Angebot für den digitalen Raum aussehen könnte, um diesen auch über die Zeiten der Pandemie hinaus zur zweiten Heimat zu machen. In der Co-Creation – als Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit der Kunst selbst zum kreativen Akteur zu werden – könne der Erlebnisaspekt unmittelbar in das digitale Angebot integriert werden. Mit KON-Plugin hat das Hamburger Konservatorium eine digitale Plattform geschaffen, die von Musiker*innen, Laien und Profis gleichermaßen genutzt wird, um sich zu vernetzen, online miteinander zu proben und auf Begleitstimmen zuzugreifen. Durch gemeinsam erlebte Lern- und Arbeitserfolge, im digitalen
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wie im analogen Raum, begegnen sich Menschen, die sich sonst nicht getroffen hätten, resümieren Markus Menke und Michael Petermann. Sie betonen aber auch, dass die Plattform nur ein zusätzliches Werkzeug sei, das die Erfahrung des gemeinsamen Musizierens nicht ersetzen könne. Und damit sind wir bei einem wesentlichen Punkt: Digitale Angebote werden weder den analogen Musikgenuss noch das analoge Ausstellungserlebnis verdrängen. „Das urmenschliche Bedürfnis, kulturelles Erleben mit anderen Menschen zu teilen, wird auch durch die Digitalisierung nicht erlöschen,“ formuliert es Burkhard Glashoff. hybridformen bieten deshalb eine gute Möglichkeit, die Chancen und Vorteile beider Formen – dem Analogen und Digitalen – zu nutzen und fruchtbar werden zu lassen. „Gewinnbringend sei es, mehrere Sinne anzusprechen und das Digitale durch interaktive, reaktive oder performative Mediensysteme mit dem Analogen (Exponaten) zu verknüpfen.“ (Guido Fackler) Bei der Tagung im Oktober 2020 im Museum der Arbeit betonte Jasper Visser, dass jede Kulturinstitution ihre eigene Mischung finden müsse: „Let’s mix & match“. Ein Beispiel für eine Hybridform wird sicherlich das „Haus der digitalen Welt“ sein, das in Hamburg entstehen soll. Es werde, so Michael Studt, eine Mischung aus hochwertigem Angebot von Öffentlicher Bibliothek, Foren, Labs, Makerspaces, Studios und Showrooms mit Flächen für Inspiration, Kreativität und freier Gestaltung bieten. Schließlich ist auch ein anderer Weg denkbar: digital detox, also die bewusste Vermeidung von digitaler Technologie, wie sie Peter Seele im Sinne der Konzentration und Förderung der Achtsamkeit vorschlägt. Denn je digitaler die Welt wird, desto größer könnte der Wunsch nach Analogem werden. Auch Michael Studt bestätigt die Renaissance des Haptischen, die sich auch auf das Trägermedium Buch erstrecke. Deshalb müssen Kultureinrichtungen, Museen wie Musik- und Theaterhäuser, auch in der Kultur der Digitalität weiterhin ihre analogen Stärken ausbauen. was brauchen die kultureinrichtungen, um ihre Zukunft aktiv gestalten zu können? Wie gut ist der kulturelle Sektor für die Transformation zu einer Kultur der Digitalität und damit für die Zukunft gerüstet? Bernhard Maaz konstatiert, dass nach wie vor in den Museen personelle und finanzielle Ressourcen für die Digitalisierung fehlen, dass ein Widerspruch zwischen digitaler Handlungsbereitschaft und tatsächlicher Handlungsfähigkeit bestehe. Was also braucht es? Die digitalen masterpläne der Länder und Kommunen schaffen die Voraussetzungen für die Entfaltung der Kultur, sie schaffen den Rahmen für die digitalen strategien und konkreten Handlungsfelder der Kulturein-
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richtungen; sie benennen Rahmenbedingungen und Ressourcen, die ein Land beziehungsweise eine Kommune zur Verfügung stellt. Das Ziel ist stets die Digitalisierung und Erhaltung des kulturellen Erbes verbunden mit dem Wunsch der kulturellen Teilhabe und Kunstproduktion. Im Mittelpunkt stehen die Herstellung und Verbesserung der technischen Infrastruktur und die Schaffung von Portalen. Die Digitalstrategie der Behörde für Kultur und Medien Hamburg verfolgt mit der Vision „einer digitalen kulturellen Daseinsvorsorge und Teilhabe“ (Dirk Petrat) das Ziel, allen Bürger*innen den Zugang zum Diskurs über kulturelle Objekte und Prozesse zu ermöglichen und über digitale Wege neue künstlerische, kreative und kulturelle Prozesse anzustoßen. Darüber hinaus verfolgt Hamburg das Ziel, ein System von vernetzten und gemeinsam nutzbaren Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, an dem alle Kultureinrichtungen teilnehmen können. Auf Bundesebene arbeitet das BKM zusammen mit einer Projektgruppe an einer Digitalisierungsstrategie: Als Eckpunkte nennt Monika Grütters hier erstens Vermittlung, um vor allem auch jüngere Zielgruppen zu erschließen, zweitens Vernetzung, um die Grenzen einzelner Kultureinrichtungen oder bestimmter Sparten zu überwinden und drittens Verständigung, um die Wertedebatte anzustoßen. Der ausbau der technischen infrastruktur ist Voraussetzung für die Digitalisierung des Kulturerbes. Seit vielen Jahren digitalisieren Archive, Bibliotheken und Museen ihre Bestände. Stand und Erschließungsgrad variieren. Während dieser Prozess in den Archiven weit fortgeschritten ist, fällt die Bilanz bei den Museen sehr unterschiedlich aus. Vielen, meist kleineren privaten oder kommunalen Museen fehlt es an der finanziellen und personellen Ausstattung. Daher ist es ihnen oft nicht möglich, ihre Bestände auf OnlinePortalen zu veröffentlichen. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt die Deutsche Digitale Bibliothek, die ursprünglich als nationaler Aggregator für die virtuelle Bibliothek Europeana eingerichtet wurde, um die Daten der wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen zu sammeln und sie im Anschluss der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Oberste Priorität habe die Stärkung der Infrastruktur, damit die Institutionen ihre Sammlungen über Europeana teilen können, betont Cosmina Berta. Die Schaffung der nötigen Infrastruktur betrifft aber auch weite Bereiche der Verwaltung, das Ticketing, das Marketing oder das mobile Arbeiten. Gerade bei Letzterem hat die Corona-Krise Schwachstellen und Defizite sichtbar gemacht, die jetzt peu à peu ausgeräumt werden. Um die Digitalisierung in den Kultureinrichtungen als grundsätzliche, langfristige und nachhaltige querschnittsaufgabe zu etablieren, müssen auch die digitalen
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kompetenzen in den Teams ausgebaut und die Voraussetzungen für die organisationsund personalentwicklung geschaffen werden. Reinhard Altenhöner – drei Jahre Chief Digital Officer bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz – resümiert die Digitalisierung als umfassenden Veränderungsprozess und macht auf die Schwierigkeiten und Hindernisse aufmerksam, wozu insbesondere auch die fehlende finanzielle und personelle Ausstattung zählten. Deshalb müssen die Kultureinrichtungen ihre Träger und die Politik überzeugen, die notwendigen finanziellen mittel für die digitale Transformation zur Verfügung zu stellen. politisches handeln ist aber auch in anderen Bereichen gefragt, unter anderem wenn es um das ökonomische Interesse jener Konzerne geht, bei denen nicht das Gemeinwohl im Vordergrund steht, oder um die Sicherstellung der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit. Hanno Rauterberg, der die veränderten Voraussetzungen für die Produktion von Kunst kritisch in den Blick nimmt, warnt vor dem Illiberalismus, der viele westliche Demokratien und damit auch die Freiheit der Kunst bedrohe: „Eine überwachte und dauerdurchleuchtete Gesellschaft büßt ihre Liberalität ein, denn zu dieser Liberalität gehört neben der Mündigkeit auch die Anonymität.“ Der öffentliche Mensch sei ein mediatisierter Mensch und wer es nicht sein wolle, nehme sich aus dem Spiel. Schließlich ist es an uns, um abschließend nochmals Felix Stalder aufzugreifen, die Kultur der Digitalität mitzugestalten und diese für unsere Aufgaben nutzbar zu machen. Wenn es uns gelingt, neue Räume zu schaffen, um Wissen, Bildung und Kultur möglichst vielen zugänglich zu machen, Partizipation und Teilhabe zu ermöglichen, Orientierung zu bieten, zur Reflexion und zum Diskurs anzuregen – dann bleiben wir für die Gesellschaft relevant.
1 Vgl. Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, Berlin, S. 13 2 Ebd., S.95
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HERAUSGEBERSCHAFT UND REDAKTION
PROF. DR. HANS-JÖRG CZECH
PROF. DR. RITA MÜLLER
Prof. Dr. Hans-Jörg Czech ist seit 2019 Direktor und Vorstand der Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH). Bereits vor Übernahme der Gesamtleitung war er von 2013 bis 2015 als Direktor des Altonaer Museums und von 2016 bis 2019 als Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte in leitenden Funktionen für die SHMH tätig. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Volkskunde an den Universitäten Münster, Wien und Bonn sowie einem Volontariat bei den Staatlichen Museen Kassel führten ihn weitere berufliche Stationen ab 2000 bis 2007 an das Deutsche Historische Museum in Berlin, wo Hans-Jörg Czech als Assistent des Generaldirektors, Kurator und Projektleiter für die Ständige Ausstellung wirkte. 2007 folgte er der Berufung als Gründungsdirektor des Stadtmuseums Wiesbaden in die hessische Landeshauptstadt.
Rita Müller ist seit 2014 Direktorin des Museums der Arbeit in der Stiftung Historische Museen Hamburg. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik, promovierte sie in Mannheim im Bereich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Nach Stationen am Landesmuseum für Technik und Arbeit, heute Technoseum, und am Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen war sie über zehn Jahre im Zweckverband Sächsisches Industriemuseum tätig, davon drei Jahre als kommissarische Leiterin des Westsächsischen Textilmuseums Crimmitschau, heute Tuchfabrik. Gebr. Pfau. Von 2008 bis 2019 war sie Sprecherin der Fachgruppe der Technikhistorischen Museen im Deutschen Museumsbund (DMB), seit Mai 2018 ist sie im Vorstand des DMB.
KAREEN KÜMPEL Kareen Kümpel arbeitet seit 2013 als Referentin für Bildung & Vermittlung im Museum der Arbeit. Zuvor war sie beim Museumsdienst Hamburg in der Programmredaktion tätig. 2012/2013 übernahm sie die kommissarische Leitung des Museumsdienstes. Kareen Kümpel ist Projektmanagerin von eCulture-Salon und eCulture-Salon@museum.
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JENNY V. WIRSCHKY Jenny V. Wirschky studierte von 2004 bis 2014 Philosophie in Bochum, Soziologie und Erziehungswissenschaft in Münster sowie Journalismus in Berlin. 2013 Ehrenamt im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster. Von 2018 bis 2020 war sie Chefredakteurin des Hamburg History Live Magazins der Stiftung Historische Museen Hamburg. Heute lebt sie mit Mann und Kindern in Hamburg und arbeitet als Redakteurin und in der Content–Konzeption.
TRANSFORMATION
STRATEGIEN UND IDEEN ZUR DIGITALISIERUNG IM KULTURBEREICH Als diskursiven Abschluss ihrer erfolgreichen Veranstaltungsreihe eCulture-Salon publiziert die Stiftung Historische Museen Hamburg diesen Sammelband mit dem Schwerpunktthema Digitalisierung des Kulturbetriebs. Die Digitalisierung der gesamten Branche gewinnt endlich an Fahrt! Das liegt nicht zuletzt an den Corona-Beschränkungen, denn die Errungenschaften der virtuellen Transformation sind im Zuge zweier Lockdowns schon jetzt zur notwendigen Bedingung für ein Weiterleben des Kulturbetriebs geworden. Dieser Sammelband soll ungeachtet der pandemischen Verhältnisse ein Anstoß sein für den Diskurs in Politik und Gesellschaft. Mit einmaligen Einblicken in die technischen Veränderungen der jüngsten Vergangenheit, neuen Gedanken und mit Anregungen zur Modernisierung gibt er den Retrospektiven und Forderungen von Kunst- und Kulturschaffenden einen freien Raum. Mit Beiträgen von Senator Carsten Brosda, Hanno Rauterberg, Mirjam Wenzel, Harald Welzer, Peter Seele u.a.