Digitalisierung im Mittelstand: Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation [1. Aufl.] 9783658292904, 9783658292911

Dieses Buch zeigt, was mittelständische Unternehmen benötigen, um sich den Herausforderungen der digitalen Transformatio

597 120 7MB

German Pages XXIX, 293 [299] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXIX
Front Matter ....Pages 1-1
Der Chief Digital Officer – ein Must Have? (Geeske von Thülen)....Pages 3-11
CIO + CDO = CIDO? – Wie bei Röchling der digitale Wandel gesteuert wird (Klaus-Peter Fett)....Pages 13-21
Die Rolle des Company Builder in der Digitalen Transformation (Fabian J. Fischer)....Pages 23-33
„Venture Capital und Company Building als Antriebsmittel der digitalen Transformation“ (Florian Resatsch)....Pages 35-41
Front Matter ....Pages 43-43
Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen Transformation (Stephan Biallas, Yilmaz Alan)....Pages 45-60
Wert und Zielbild eines transformativen Tech Stack im Rahmen einer digitalen Transformation (Bosse Küllenberg)....Pages 61-67
KPI, Digital Maturity, Dashboard oder Empathie: Wie sich Fortschritt und Erfolg der Digitalen Transformation messen und steuern lassen (Peter Bruhn)....Pages 69-83
Front Matter ....Pages 85-85
Die erfolgreiche Umsetzung eines Kulturwandels: Herangehensweise, Herausforderungen und Best Practices (Svenja Reinecke, Tobias Krüger)....Pages 87-91
Etablierung einer New Work Kultur bei HEMA (Marco Niebling)....Pages 93-105
Mitarbeiter, Kultur, Werte – von E-Commerce bis zur digitalen Prozessoptimierung (Vanessa Weber)....Pages 107-125
Kulturwandel in der digitalen Welt: Wie die Arbeitgebermarke den Entwicklungsprozess bei TransnetBW abrundet (Annett Urbaczka, Rotraud Diwan)....Pages 127-133
Digitalisierungsaffine Unternehmenskultur: Die Digitalisierung erfolgreich im Unternehmen umsetzen (Lisa Schrade-Grytsenko)....Pages 135-147
Was jedes Unternehmen von digitalen Playern abschauen sollte: Gestaltung von Kundenmehrwert am Beispiel der agilen Viessmann Design-Einheit (Moritz Rose)....Pages 149-154
Der Arbeitsraum – Mittelpunkt des Erfolges für die Digitalisierung im Mittelstand (Thomas Dienes)....Pages 155-164
Vom Getriebenen zum Gestalter – Arbeiten in einer Welt voller Ablenkungen und Möglichkeiten (Jelka Seitz, Jürgen Seitz)....Pages 165-174
Front Matter ....Pages 175-175
B2B Markenbildung digital (Mario Stockhausen, Gerhard Heilemann, Frank Boegner)....Pages 177-185
Haltung zeigen: Wie Sie eine starke Arbeitgebermarke entwickeln (Rotraud Diwan)....Pages 187-194
Front Matter ....Pages 195-195
Potenzialanalyse zur Chancenerkennung der Digitalisierung (Michael Dembski, Florian Hausner)....Pages 197-204
Digitalisierung in der mittelständischen Energiewirtschaft: Verstehen, Wertschätzung, echte Probleme lösen (Bert von Garrel)....Pages 205-214
Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene Vertriebssteuerung deutlich mehr Verkäufe erzielen (Stefan Kaas, Marcel Meyer)....Pages 215-224
Digitale Transformation einer Einkaufskooperation zum Servicedienstleister (Daniel Trost)....Pages 225-237
Informationsdigitalisierung und die Herangehensweise an die Transportautomatisierung (Marco Bauer)....Pages 239-247
IoT: Internet of Toilet (Bernhard Peßenteiner)....Pages 249-254
IoT #LikeABosch — in einem Fertigungswerk (Marco Keith)....Pages 255-267
Das Berufsbild des Radiologen im Wandel (Matthias Steffen, Maximilian Waschka)....Pages 269-278
Front Matter ....Pages 279-279
Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes (Martin Lundborg, Lisa Schrade)....Pages 281-293
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Digitalisierung im Mittelstand: Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation [1. Aufl.]
 9783658292904, 9783658292911

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Harald R. Fortmann Hrsg.

Digitalisierung im Mittelstand Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation

Digitalisierung im Mittelstand

Harald R. Fortmann Hrsg.

Digitalisierung im Mittelstand Trends, Impulse und Herausforderungen der digitalen Transformation

Hrsg. Harald R. Fortmann five14 GmbH Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-29290-4    ISBN 978-3-658-29291-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort des Herausgebers

Der Mittelstand ist das Rückgrat der Deutschen Wirtschaft, so ein bekanntes Sprichwort. 3,71 Millionen Unternehmen, sprich 99,95 % der Unternehmen gehörten 2018 den sogenannten KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) in Deutschland an.1 Davon weisen jedoch weniger als 0,3  % der Mittelständler einen Jahresumsatz von über 50 Mio. EUR aus. Unter Mittelstand fasst man diejenigen Unternehmen, deren Jahresumsatz 500 Mio. EUR nicht überschreitet. Sie treiben nicht nur die Wirtschaftskraft, sie sorgen auch mit 81,9 % – sprich 1,25 Millionen – der Auszubildenden für die Ausbildung des Nachwuchses und mit 58,3 % – sprich über 17 Millionen Arbeitnehmer – für die Arbeitsplätze in unserem Land.2 Mittelständische Unternehmen sind die wahren Erfolgsträger der deutschen Wirtschaft. Sie unterscheiden sich von Großunternehmen nicht nur durch ihre Betriebsgröße, sondern auch durch spezifische qualitative Besonderheiten wie eine spezifische Unternehmensund Führungskultur, größere Flexibilität und die Innovationskraft für die Deutschland über die Grenzen bekannt ist. Die Digitalisierung ist in mittelständischen Unternehmen in Deutschland noch stark ausbaufähig. Dies belegt der KfW-Digitalisierungsbericht Mittelstand 2018 der KfW Bankengruppe.3 Die Masse der mittelständischen Unternehmen schöpft demnach die bestehenden Digitalisierungs-­potenziale nicht aus. Die Mehrzahl der Mittelständler hinkt dem Stand der Technik hinterher und damit kann rund die Hälfte der Mittelständler als digitales Mittelfeld bezeichnet werden. Diese Unternehmen nutzen einzelne digitale Anwendungen, aber nur gut ein Viertel dieser Unternehmen verfügt über eine Digitalisierungsstrategie. Die digitalen Vorreiter – Unternehmen, die bereits Industrie 4.0-Projekte umsetzen oder  IfM Bonn, Angaben für das Jahr 2016 bzw. 2017; Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern bzw. 50 Millionen Euro Umsatz. 2  BMWi Broschüre Wirtschaftsmotor Mittelstand, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Mittelstand/wirtschaftsmotor-mittelstand-zahlen-und-fakten-zu-den-deutschen-kmu.html. 3  https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Digitalisierungsbericht-Mittelstand/KfW-Digitalisierungsbericht-2018.pdf. 1

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Vorwort des Herausgebers

digitale Produkte und Dienstleistungen anbieten – machen nur knapp ein Fünftel der Mittelständler aus. Die Digitalisierung wird als Megatrend wahrgenommen, der Mittelstand sollte daher an aktuellen Entwicklungen partizipieren. Das Problembewusstsein für diesen Megatrend Digitalisierung ist bei vielen alleine schon durch die mediale Präsenz des Themas vorhanden, im Detail gibt es jedoch kaum konkrete Vorstellungen zur Digitalisierung in Unternehmen und oftmals wird es den Mitarbeitern zugeschrieben, die als Bremser eingestuft werden, da sie keine „Digital Natives“ sind. Eine Digitalisierungsstrategie zu entwerfen und mit Leben zu füllen ist jedoch alleine Sache der Geschäftsführung bzw. des Vorstandes in Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat der Unternehmen. Und gerade hier fängt das Dilemma an. Aufgrund der nahezu über zwei Dekaden ungebrochenen Wirtschaftsentwicklung, sind die Unternehmenslenker – gefühlt – nicht der Meinung, dass sie ihr Unternehmen neu ausrichten müssen und verwechseln oftmals zudem eine Digitalisierungsstrategie mit einer IT-Strategie. Je nach Branche und Herausforderungen durch disruptive Startups mag das auch noch einige Jahre gut gehen – doch dann steht man oftmals vor der Wand und es gibt kein Zurück mehr. Genau dieses Phänomen ereilte die Traditionsfirma Kettler erst vor kurzer Zeit. Zu lange hatte man sich den neuen digitalen Herausforderungen in Marketing, Vertrieb und Produkt nicht gestellt und innovative Unternehmen wie z. B. Peloton erobern den Heimtrainer Markt mit digital vernetzen Produkten anstelle des 1949 gegründeten Unternehmen. Angespornt durch Gespräche mit mittelständischen Unternehmen anlässlich des alljährlichen Gipfeltreffen der Weltmarktführer in Schwäbisch-Hall im Januar 2019 wollte ich ein Buch herausgeben, dass in Interviews und Expertenbeiträgen darstellt, wie mittelständische Unternehmen sich bereits erfolgreich den Herausforderungen der digitalen Transformation gestellt haben. Liest man Gastbeiträge oder Interviews von Unternehmensberatern oder Agenturchefs, so versinkt man in das klassische deutsche Jammern oder die „German Angst“, wie die New York Times einst die Einstellung der deutschen zu Google titulierten. Genau das soll dieses Buch nicht sein. Im Gegenteil soll es Impulse geben, Fallstricke aufzeigen. Und dem Leser klarmachen, dass Digitalisierung sogar Spaß machen kann und am Ende nicht nur kurzfristig das EBITDA belastet oder im Anschluss verbessert, sondern vielmehr die Grundlage für die „Enkelfähigkeit“ dieser Unternehmen darstellt. Die Gespräche mit den Autoren und Interviewpartnern waren allesamt von einer positiven Grundstimmung gekennzeichnet. Es gab aber auch immer wieder Hinweise auf die extreme Belastung dieses Change Prozesses gerade für die Mitarbeiter. Hier besteht eine Fürsorgepflicht der Unternehmensführung für diese und ein damit oftmals verbundener Führungswechsel, hin zu mehr und vor allem transparenterer Kommunikation als bisher. Und auch Ruhephasen, wie Michael Dembski, Prokurist bei Gebr. Hilgenberger  – ein 1885 gegründetes Familien-Unternehmen aus Essen für kundenspezifische Lieferwünsche in den Bereichen abnorme Schrauben, Dreh-, Fräs-, und Sonderteile, Werkzeuge, In­ dustriebedarf und Wälzlager – im Gespräch betonte. Ein Hinweis, über den ich mir bis­ lang ehrlicherweise nie Gedanken gemacht hatte. Das Unternehmen belastet einen

Vorwort des Herausgebers

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­ nternehmensbereich nach einer erfolgten Einführung von digitalen Tools und Prozessen U erst mal nicht weiter und wendet sich einer anderen Abteilung zu, um den Mitarbeitern erst einmal Raum und Zeit für die Implementierung und Analyse der Veränderungen zu geben. Eine kleine, eigentlich schon logische, Maßnahme mit starker Wirkung. Und genau diese kleinen Dinge und Erfahrungen, die meine Autoren hier mit den Lesern teilen, sind es, die am Ende den Prozess der Transformation einfacher gestalten können. Digital hat nichts mit dem Alter zu tun. Mein Vater, der im Verlauf der Erstellung dieses Buches leider im Alter von 83 Jahren verstorben ist, war sein Leben lang von der Lehre bis zum Vorstandsposten bei der Mannesmann AG tätig und schon früh hatte er Computer im Arbeitsalltag. Zumindest auf dem Schreibtisch, denn er verließ sich lieber auf seine Assistentinnen. Und auch als er in Rente ging beschäftigte er sich nicht mit digitalen Tools während meine Mutter, alleine schon getrieben durch die Möglichkeit der Kommunikation mit ihren Kindern, Enkelkindern und Freunden in aller Welt sich diesen Themen annahm und das iPad und iPhone ihre Kommunikationszentralen wurden. Digital hängt direkt mit Begeisterungsfähigkeit und Neugier zusammen und ich bin sehr froh, dass ich selbst diese Eigenschaften von meiner Mutter mitbekommen habe. Und daher spreche ich immer lieber von Digital Enthusiasmus anstelle von Digital Natives, Digital Immigrants oder anderer Begriffe, die das Thema viel zu stark einengen und Menschen die ihre Neugier bewahrt haben ausgrenzen. Lassen Sie sich von den hier gesammelten Berichten ebenso begeistern, wie ich mich, und gehen Sie die Digitale Transformation an und scheuen sie vor allem nicht sich auszutauschen und Rat zu suchen. Wie immer im Leben gilt hier ganz besonders: Es gibt keine dummen Fragen und da die digitale Transformation ein Marathon und kein Sprint ist, ist auch noch keiner am Ziel angekommen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viele neue Erkenntnisse oder auch Bestätigung für den von Ihnen eingeschlagenen Weg beim Lesen dieses Buches und bedanke mich beim Springer Gabler Verlag für das Vertrauen nach „Arbeitswelt der Zukunft“ nun das nächste meiner Bücher zu publizieren, bei Geeske von Thülen für die unglaublich wertvolle Unterstützung – ich bin mir sicher, dass Geeske nach ihrem Masterabschluss eine tolle Karriere vor sich hat – und vor allem bei allen Autoren und Interviewpartner für die fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ihr Harald R. Fortmann

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Executive Partner five14 GmbH – Executive Search for the New Work Era Foto: Frank P. Wartenberg Der zweifache Vater und passionierte Läufer ist in Frankreich und Deutschland aufgewachsen und seit 1996 in der digitalen Wirtschaft aktiv. Er gilt, laut dem Branchenmedium W&V, als einer der bestvernetzten Manager der Branche und wurde als Unternehmer und Lehrbeauftragter mehrfach ausgezeichnet. Fortmann gründete sein erstes Unternehmen mit 23 und blickt auf internationale Erfahrungen als Startup Gründer ebenso zurück wie auf Stationen als Geschäftsführer einiger namhafter Unternehmen der Digitalbranche wie AOL und Pixelpark. Seit 2013 hat Fortmann sich der Personalberatungsbranche verschrieben und konnte so seine Leidenschaft für Menschen und Digitales verschmelzen. Bei der Personalberatung five14 ist der BDU/CERC zertifizierte Personalberater insbesondere für die Beratung von Konzernen und marktführenden mittelständischen Unternehmen bei der Neubesetzung von Führungsgremien zuständig und begleitet diese bei der strategischen Planung und Umsetzung ihrer digitalen Transformation. Über sechszehn Jahre engagierte er sich für die Branche im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. und gehörte zehn Jahre dem Präsidium an. Er gründete das Ressort Arbeitswelt der Zukunft und führte diesen bis Ende 2019 als Botschafter Arbeitswelt der Zukunft und setzte sich in Politik, Wirtschaft und Lehre für die Belange der digitalen Branche und die Etablierung von New Work Prinzipien ein. Fortmann hat sich bei zahlreichen Bildungsinstitutionen für die Einrichtung von digitalen Aus- und Weiterbildungsangeboten eingesetzt und vielfache Curriculares entwickelt. Seit vielen Jahren gibt er selbst als Lehrbeauftragter für Online Marketing und Digital Change an diversen Hochschulen sein Wissen gerne weiter und wurde u.a. bei der DDA als Dozent des Jahrzehnts ausgezeichnet. Er ist darüber hinaus, gemeinsam mit Barbara Kolocek, Herausgeber des 2018 beim Springer Gabler Verlag erschienenen Titels Arbeitswelt der Zukunft. 2019 hat Fortmann den mehrfach ausgezeichneten Fotoband Female Leadership Pictured mit Interviews und Gastbeiträgen rund um das Thema Frauen in Führungspositionen herausgegeben und publiziert und im September 2020 mit seiner Geschäftspartnerin Daniela Conrad das Herausgeberwerk The Unknown Is the New Normal – Was wir aus der Corona-Herausforderung IX

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

für die digitale Transformation lernen im Frankfurter Allgemeine Buch Verlag herausgebracht. Für Fortmann steht bei aller Digitalisierung und der eigenen Begeisterung für den digitalen Fortschritt immer der Mensch im Mittelpunkt. Ein großer Dank geht an Geeske von Thülen, die dem Herausgeber während dieses Projektes als herausragende Projektmanagerin zur Seite stand und auch das spannende Thema Der CDO – ein Must Have beigetragen hat. Es sind junge Nachwuchskräfte wie sie, die die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland und die notwendige digitale Transformation in den Händen haben. Dieses Buch widmet Harald R. Fortmann seinem Vater Rudolf W. Fortmann, von dem er seine Begeisterung für die Wirtschaft und deren Zusammenhänge übernommen hat.

Abb. 1  Harald R. Fortmann

Abb. 2  Dr. Yilmaz Alan, Partner bei Ernst & Young GmbH, München, Deutschland

Abb. 3  Marco Bauer, Geschäftsführer bei BAM GmbH, Weiden, Deutschland

Abb. 4  Stephan Biallas, Partner & Advisory Mid Market Leader Germany/ Switzerland/Austria bei Ernst & Young GmbH, Hamburg, Deutschland

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Abb. 5  Frank Boegner, Managing Partner bei oddity, Stuttgart, Deutschland

Abb. 6  Christoph Bornschein, Co-Founder and CEO bei Torben, Lucie und die gelbe Gefahr GmbH, Berlin, Deutschland

Abb. 7  Peter Bruhn, VP Digital Transformation/Senior Digital Advisor bei TAKKT AG, Weiterstadt, Deutschland

Abb. 8  Michael Dembski, Prokurist bei Gebrüder Hilgenberg, Essen, Deutschland

XI

XII Abb. 9  Dr. Thomas Dienes, Group Product Development Director bei USM AG, Münsingen, Schweiz

Abb. 10  Rotraud Diwan, General Manager bei Hi! Employer Strategies GmbH, Berlin, Deutschland

Abb. 11  Klaus-Peter Fett, Chief Information and Digital Officer bei Röchling SE & Co. KG, München, Deutschland

Abb. 12  Fabian J. Fischer, CEO/Founding Partner bei Etribes Connect GmbH, Hamburg, Deutschland

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Abb. 13  Hans Georg Hagleitner, Geschäftsführer bei Hagleitner Hygiene International GmbH, Zell am See, Österreich

Abb. 14  Gerhard Heilemann, Konzerngeschäftsführer bei Theo Förch GmbH & Co. KG, Neuenstadt, Deutschland

Abb. 15  Dr. Stefan Kaas, Geschäftsführer bei Pure Business Consulting GmbH, München, Deutschland

XIII

XIV Abb. 16  Marco Keith, Chassis Systems Control bei Robert Bosch GmbH, Blaichach, Deutschland

Abb. 17  Tobias Krüger, Bereichsleiter Kulturwandel 4.0 bei Otto Group, Hamburg, Deutschland

Abb. 18  Bosse Küllenberg, Chief Technology Officer bei ETERNA Mode GmbH, Passau, Deutschland (Foto: Antje Jochum)

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Abb. 19  Martin Lundborg, Leiter Kommunikation und Innovation bei WIK Wissenschaftliches Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH, Bad Honnef, Deutschland

Abb. 20  Marcel Meyer, Management Consultant bei Iskander Business Partner GmbH, München, Deutschland

Abb. 21  Marco Niebling, Projektmanager Und Coach bei Heermann Maschinenbau GmbH, Frickenhausen, Deutschland

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XVI Abb. 22 Bernhard Peßenteiner, Pressesprecher bei Hagleitner Hygiene International GmbH, Zell am See, Österreich

Abb. 23  Svenja Reinecke, Communication & Transparency Manager Kulturwandel 4.0 bei Otto Group, Hamburg, Deutschland

Abb. 24  Florian Resatsch, CEO bei V/CO (Viessmann Group), Berlin, Deutschland

Abb. 25  Moritz Rose, VP Design bei Viessmann Group, Berlin, Deutschland (Foto: Holger Talinski)

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Abb. 26  Lisa Schrade, Economist Kommunikation und Innovation bei WIK Wissenschaftliches Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH, Bad Honnef, Deutschland

Abb. 27  Jelka Seitz, Managing Director bei Digital Leaders Institute, Karlsruhe, Deutschland

Abb. 28  Prof. Dr. Jürgen Seitz, Professor für Marketing, Medien und Digitale Wirtschaft bei Hochschule der Medien, Stuttgart, Deutschland

Abb. 29  Matthias Steffen, Founder bei FUSE-AI, Hamburg, Deutschland

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XVIII Abb. 30  Mario Stockhausen, Managing Director bei oddity, Stuttgart, Deutschland

Abb. 31  Daniel Trost, Chief Digital Officer bei Select AG, Andernach, Deutschland

Abb. 32  Annett Urbaczka, Leiterin Unternehmenskommunikation bei TransnetBW GmbH, Stuttgart, Deutschland (Foto: Eva Schwarz)

Abb. 33  Bert von Garrel, EVP Sales & Operations Signifi Solutions Europe und geschäftsführender Gesellschafter Signifi Germany GmbH

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Abb. 34  Geeske von Thülen, Studentin Betriebswirtschaftslehre M.Sc. bei Ludwig-Maximilians-­ Universität, München, Deutschland & Unterstützende Projektmanagerin bei five14 GmbH, Hamburg, Deutschland

Abb. 35 Maximilian Waschka, Founder bei FUSE-AI, Hamburg, Deutschland

Abb. 36  Vanessa Weber, Gesellschafterin bei WerkzeugWeber GmbH& CO KG, Aschaffenburg, Deutschland

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Epilog zu einer Erfolgsgeschichte

Neue Risiken, neue Chancen – will man es wirklich einfach eindampfen, so lassen sich mit dieser Formel die Konsequenzen des aktuellen technologischen Wandels schon zusammenfassen. Das wirft die Frage auf, warum sich so viele Unternehmen so lange so schwer damit getan haben, adäquate Antworten darauf zu entwickeln. Doch wir kennen die Antwort, wir waren ja dabei: Viel zu lange wurde verkannt, wie grundlegend neu all die Risiken und Chancen sind, wie nachhaltig sie wirken und aus welchen überraschenden Richtungen sie kommen. Viel zu hartnäckig hielt sich die Hoffnung, man würde mit den Stärken, mit denen man das Thema Industrialisierung weitgehend durchgespielt hatte, auch in neuen Wertschöpfungssystemen glänzen. Mittlerweile jedoch hat sich die Erkenntnis breitgemacht, dass dies ein Irrglaube war. Wir diskutieren nicht länger darüber, ob uns dieser Wandel überhaupt betrifft. Wir diskutieren, wie wir ihn angehen. Und auch wenn sich die kleinteilige Industrie, die die deutsche Wettbewerbsfähigkeit ausmacht, einer komplexen Vielfalt an Szenarien gegenübersieht, bleiben diese zwei Fragen essenziell: die nach den Risiken und die nach den Chancen. Wie lassen sich bestehende Systeme auf Resilienz optimieren? Wie identifizieren und erschließen wir neue Wachstumsfelder? Innovation ist hier ein Schlüsselwort, gerade weil es so komfortabel unscharf ist. Es meint die originelle, letztlich trockene Optimierung ebenso wie den radikalen Gamechanger. Es meint praktische Forschung und Entwicklung ebenso wie die grundlegend neuen Perspektiven. Wo eine lange Erfolgsgeschichte dazu verführt, auf Basis alter Erfahrungswerte Annahmen über die Zukunft zu treffen, ist echte Innovation immer mehr als Ex­ trapolation, mehr als „wie immer, nur mit künstlicher Intelligenz“. Für den deutschen Mittelstand ist dieses „Mehr“ vor allem die horizontale wie vertikale Kooperation. Es ist der oft schwierige Schritt raus aus dem eigenen Besitzdenken, dem historischen Stolz, den Walled Gardens eigener Patente und Strukturen. Innovation ist Öffnung, Transparenz, Bandenbildung. Denn die entscheidende Herausforderung für Händler, Produzenten und CNC-Fräser sind eben nicht die anderen Händler, Produzenten und CNC-Fräser. Es sind Techunternehmen und Datenkonzerne, die sich mit smarten Cloud-Lösungen zwischen sie und ihre Kunden schieben – und deren Skalierungspotenzialen man mit Inhouse-Lösungen nur schwer beikommt. XXI

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Epilog zu einer Erfolgsgeschichte

Doch es gibt immer Gründe für Optimismus. In diesem Fall: Es gibt ihn ja, den digitalen Mittelstand. Es gibt ihn zum einen in Form traditioneller Unternehmen, die erwacht sind und an einem Update des gemeinsamen Betriebssystems arbeiten. Und es gibt ihn in Form neuer Anbieter digitaler Lösungen, dem Startupstatus längst entwachsen und auf dem Weg zum digitalen Hidden Champion. Beide brauchen wir auf dem Weg zu einer ernst zu nehmenden deutschen und europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Beide brauchen wir, um unsere fragmentierte und diffuse Wirtschaft, die so viel mehr ist und kann, als ein paar Weltkonzerne, digital anschlussfähig und global handlungsfähig zu machen. Neue Chancen, neue Risiken – neue Perspektiven. Christoph Bornschein

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Trends 1 Der Chief Digital Officer – ein Must Have?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3 Geeske von Thülen 1.1 Einleitung: Wohin geht der Trend? ��������������������������������������������������������������   3 1.2 Kernaufgabenfelder und unternehmensbedingte Varianzen��������������������������   4 1.3 Fachliche und fachübergreifende Kompetenzen – Was zeichnet den idealen CDO aus? ����������������������������������������������������������������������������������������   5 1.4 Ist der CDO unverzichtbar oder gibt es einen Plan B? ��������������������������������   6 1.5 Wie sehen mögliche Lösungen aus? – Praxisbeispiele aus dem Mittelstand��������������������������������������������������������������������������������������������������  8 1.6 Fazit��������������������������������������������������������������������������������������������������������������   9 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  10 2 CIO + CDO = CIDO? – Wie bei Röchling der digitale Wandel gesteuert wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Klaus-Peter Fett [Zusammenfassung]����������������������������������������������������������������������������������������������  21 3 Die Rolle des Company Builder in der Digitalen Transformation. . . . . . . . . .  23 Fabian J. Fischer 3.1 Darum scheitern so viele Unternehmen an der Digitalisierung��������������������  23 3.2 Die drei Säulen der Digitalisierung��������������������������������������������������������������  24 3.3 Säule 3 – Neue digitale Geschäftsmodelle (durch Innovationen)����������������  26 3.4 Sieben kritische Erfolgsfaktoren für das Company Building ����������������������  29 3.5 Fazit��������������������������������������������������������������������������������������������������������������  32 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  33 4 „Venture Capital und Company Building als Antriebsmittel der digitalen Transformation“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  35 Florian Resatsch

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Inhaltsverzeichnis

Teil II  Basics der digitalen Transformation 5 Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45 Stephan Biallas und Yilmaz Alan 5.1 Die aktuelle Herausforderung der Digitalen Transformation für den Mittelstand����������������������������������������������������������������������������������������������������  45 5.2 Die drei Horizonte der Digitalen Transformation����������������������������������������  47 5.3 Der digitale Reifegrad des Unternehmens als Startpunkt der Digitalen Transformation������������������������������������������������������������������������������  49 5.4 Identifikation der Digitalen Handlungsfelder und Definition der Digitalen Ambition des Unternehmens��������������������������������������������������������  51 5.5 Entdecken und Definieren von Digitalen Verbesserungspotenzialen und -maßnahmen für das Unternehmen��������������������������������������������������������  53 5.6 Evaluierung und Priorisierung der Digitalen Verbesserungsmaßnahmen������  55 5.7 Aufbau der Digitalen Roadmap für das Unternehmen ��������������������������������  58 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  60 6 Wert und Zielbild eines transformativen Tech Stack im Rahmen einer digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Bosse Küllenberg 6.1 Externe Integratoren vs. Interner IT Aufbau������������������������������������������������  62 6.2 Branchen-Fokus ist im Mittelstand sehr stark ausgeprägt����������������������������  62 6.3 „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – Agilität und Transformierbarkeit der Systeme als oberstes Gebot��������������������������������������������������������������������  63 6.4 Wann ist eine IT Architektur kompliziert und wann wird sie komplex?������  63 6.5 Seit über 10 Jahren in Diskussion: Cloud oder On-Premise? ����������������������  64 6.6 Microservices Oriented Architectur��������������������������������������������������������������  65 6.7 Best of Breed������������������������������������������������������������������������������������������������  66 6.8 Functional Requirements und vor allem Non-Functional Requirements im Zielbild ����������������������������������������������������������������������������  67 7 KPI, Digital Maturity, Dashboard oder Empathie: Wie sich Fortschritt und Erfolg der Digitalen Transformation messen und steuern lassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  69 Peter Bruhn 7.1 Eigenschaften digitaler Geschäftsmodelle����������������������������������������������������  69 7.2 Starten der digitalen Transformation������������������������������������������������������������  71 7.3 Den Fortschritt der Digitalen Transformation messen����������������������������������  74 7.4 Die digitale Transformation steuern��������������������������������������������������������������  80 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  82

Inhaltsverzeichnis

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Teil III  Kulturwandel und digitales Mindset 8 Die erfolgreiche Umsetzung eines Kulturwandels: Herangehensweise, Herausforderungen und Best Practices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87 Svenja Reinecke und Tobias Krüger 8.1 Der Kulturwandel 4.0������������������������������������������������������������������������������������   87 8.2 Wandel zwischen Kognition und Kickertisch ����������������������������������������������  87 8.3 Der Fisch stinkt vom Kopf����������������������������������������������������������������������������  88 8.4 Dezentrale Umsetzung bei gemeinsamer Verantwortung ����������������������������  89 8.5 Räume zur Veränderung schaffen und halten������������������������������������������������  90 8.6 Mit Mut den Marathon meistern ������������������������������������������������������������������  91 9 Etablierung einer New Work Kultur bei HEMA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 Marco Niebling 10 Mitarbeiter, Kultur, Werte – von E-Commerce bis zur digitalen Prozessoptimierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Vanessa Weber 11 Kulturwandel in der digitalen Welt: Wie die Arbeitgebermarke den Entwicklungsprozess bei TransnetBW abrundet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Annett Urbaczka und Rotraud Diwan 11.1 Ein großes Ziel: die Energiewende möglich machen���������������������������������� 128 11.2 Wachstum bringt Veränderung�������������������������������������������������������������������� 128 11.3 Strukturiertes Vorgehen������������������������������������������������������������������������������ 130 11.4 Die Arbeitgebermarke als Instrument der Organisationsentwicklung�������� 131 11.5 Fazit������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 132 11.6 5 Tipps für den Kulturwandel im digitalen Zeitalter���������������������������������� 133 12 Digitalisierungsaffine Unternehmenskultur: Die Digitalisierung erfolgreich im Unternehmen umsetzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Lisa Schrade-Grytsenko 12.1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 135 12.2 Modell der digitalisierungsaffinen Unternehmenskultur���������������������������� 136 12.3 Möglichkeiten für den Mittelstand�������������������������������������������������������������� 144 12.4 Ausblick������������������������������������������������������������������������������������������������������ 145 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 146 13 Was jedes Unternehmen von digitalen Playern abschauen sollte: Gestaltung von Kundenmehrwert am Beispiel der agilen Viessmann Design-Einheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Moritz Rose

XXVI

Inhaltsverzeichnis

14 Der Arbeitsraum – Mittelpunkt des Erfolges für die Digitalisierung im Mittelstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Thomas Dienes 15 Vom Getriebenen zum Gestalter – Arbeiten in einer Welt voller Ablenkungen und Möglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Jelka Seitz und Jürgen Seitz 15.1 Neue Welt – neuer Mensch? ���������������������������������������������������������������������� 165 15.2 Wie wir unseren Alltag wieder unter Kontrolle bekommen und Raum für Neues schaffen���������������������������������������������������������������������������� 167 15.3 Abschließende Gedanken���������������������������������������������������������������������������� 173 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 174 Teil IV  Die Marke im Fokus 16 B2B Markenbildung digital. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Mario Stockhausen, Gerhard Heilemann und Frank Boegner 16.1 Wir brauchen eine neue Nachhaltigkeit in der Markenführung������������������ 177 16.2 Marke hilft, Wandel zu gestalten���������������������������������������������������������������� 178 16.3 Ein eShop allein ist nicht die Lösung �������������������������������������������������������� 180 16.4 Verantwortung übertragen und Messbarkeit herstellen������������������������������ 181 16.5 Digitale Markenbildung hat ihren Schwerpunkt in digitalen Systemen ���� 183 16.6 Nahtlos von der Grundlagenarbeit ins Tagesgeschäft�������������������������������� 184 16.7 Unsere 4 Denkanstöße für ein digitales Markenbild im Wandel���������������� 184 17 Haltung zeigen: Wie Sie eine starke Arbeitgebermarke entwickeln . . . . . . . . 187 Rotraud Diwan 17.1 Gute Beziehungen brauchen Vertrauen������������������������������������������������������ 187 17.2 Entwicklung einer Employer Value Proposition (EVP)������������������������������ 188 Teil V  Digitale Geschäftsmodelle 18 Potenzialanalyse zur Chancenerkennung der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . 197 Michael Dembski und Florian Hausner 19 Digitalisierung in der mittelständischen Energiewirtschaft: Verstehen, Wertschätzung, echte Probleme lösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Bert von Garrel 19.1 Strom – eine Selbstverständlichkeit?!�������������������������������������������������������� 205 19.2 Der veränderte Energiemarkt setzt Anreize zur Optimierung aber unterliegt Begrenzungen ���������������������������������������������������������������������������� 206 19.3 Die Herausforderungen am Arbeitsmarkt treffen energiewirtschaftliche Unternehmen besonders aber in der Digitalisierung werden große Chancen gesehen���������������������������������������� 207

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XXVII

19.4 Die Reise der Digitalisierung fängt da an, wo die Unternehmen schon gut sind und unter Einbeziehung des Wissens der erfahrenen Mitarbeiter�������������������������������������������������������������������������������������������������� 208 19.5 Keine Disruption aber Veränderungen zwingen zum Handeln, Kundenbedürfnisse rücken in den Mittelpunkt, Wandel muss organisiert werden�������������������������������������������������������������������������������������� 209 19.6 Wie geht das ganz konkret in einem relevanten Umfeld?�������������������������� 210 19.7 Es kann dann weitergehen. Operative Daten und Wissenstöpfe der Systeme und der Menschen nutzbar machen���������������������������������������������� 212 19.8 Fazit: Das Wichtigste sind die Mitarbeiter, ein wertschätzendes Vorgehen, klare Führungsverantwortung und es dreht sich immer um den Kunden ������������������������������������������������������������������������������������������ 213 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 214 20 Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene Vertriebssteuerung deutlich mehr Verkäufe erzielen . . . . . . 215 Stefan Kaas und Marcel Meyer 20.1 Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene Vertriebssteuerung deutlich mehr Verkäufe erzielen�������� 215 20.2 Vertrieb ist wie Angeln – oder doch nicht?������������������������������������������������ 216 20.3 Neue Methoden und Ansätze sind unerlässlich, um erfolgreich zu bleiben�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 216 20.4 So funktioniert der datengetriebene Vertriebsansatz���������������������������������� 217 20.5 Durch webbasierte Adressgenerierung und „Predictive Lead Scoring“ die richtigen Zielkunden bestimmen ������������������������������������������ 218 20.6 Customer Insights – Je mehr der Vertriebsmitarbeiter VOR einem Kundengespräch über den Zielkunden weiß, desto besser kann er das Gespräch in seinem Sinne führen �������������������������������������������������������� 219 20.7 Identifikation der geeigneten Zeitpunkte („Compelling Moments“), zu denen der potenzielle Kunde besonders zugänglich für den Vertrieb ist�������������������������������������������������������������������������������������������������� 220 20.8 Steigerung der Vertriebseffizienz durch leistungsfähige Tools, die in ihrer praktischen Anwendung sehr einfach zu handhaben sind�������������� 221 20.9 Deutliche Steigerung der Vertriebsperformance und Kundenzufriedenheit durch den Einsatz der neuen digitalen Verfahren�������� 222 20.10 5 Schritte zur praktischen Umsetzung – wie Sie Ihren eigenen Vertrieb digital fit machen und sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen�������������������������������������������������������������������������������������������������� 223 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 224

XXVIII

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21 Digitale Transformation einer Einkaufskooperation zum Servicedienstleister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Daniel Trost 21.1 Allgemeine Informationen zum Unternehmen ������������������������������������������ 225 21.2 Zukunftssicherung der Einkaufskooperation durch digitale Transformation?!���������������������������������������������������������������������������������������� 226 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 237 22 Informationsdigitalisierung und die Herangehensweise an die Transportautomatisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Marco Bauer 22.1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 239 22.2 Digitalisierungsbasis schaffen: Kommunikationsinfrastruktur������������������ 240 22.3 Materialbeschaffung und -fluss in der Fertigung���������������������������������������� 241 22.4 Das Herzstück: Von der Konstruktion zur Kalkulation und Programmierung ���������������������������������������������������������������������������������������� 242 22.5 Das Sammeln von Betriebsdaten als Basis für neue Projekte�������������������� 244 22.6 Transportautomatisierung zur Reduzierung der Wegezeiten���������������������� 245 23 IoT: Internet of Toilet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Bernhard Peßenteiner 23.1 Klo-Report�������������������������������������������������������������������������������������������������� 249 23.2 Zuerst das Denken vernetzen, dann Dinge�������������������������������������������������� 250 23.3 Storytelling für Analog-digital-Wandler ���������������������������������������������������� 251 23.4 Der Nutzen folgt auf dem Fuße. Und auf den Fußball ������������������������������ 252 23.5 Compliance im Hand-Umdrehen���������������������������������������������������������������� 253 23.6 Spülerisch digitalisieren������������������������������������������������������������������������������ 254 23.7 Der Pulsschlag von Industrie 4.0���������������������������������������������������������������� 254 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 254 24 IoT #LikeABosch — in einem Fertigungswerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Marco Keith 24.1 Turbulente Zeiten���������������������������������������������������������������������������������������� 255 24.2 Strategieentwicklung���������������������������������������������������������������������������������� 256 24.3 Aufbau einer performanten IT-Architektur für maschinelles Lernen �������� 259 24.4 Datenanalysemöglichkeiten (Abb. 24.4)���������������������������������������������������� 263 24.5 Datengetriebene Organisation – „Digitale Tandems“ �������������������������������� 265 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 267 25 Das Berufsbild des Radiologen im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Matthias Steffen und Maximilian Waschka 25.1 Die Befundung mittels MRT���������������������������������������������������������������������� 269 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 277

Inhaltsverzeichnis

XXIX

Teil VI  Förderungen für den Mittelstand 26 Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes. . . . . . . . . . . . . . . . 281 Martin Lundborg und Lisa Schrade 26.1 Einleitung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 281 26.2 Digitaler Status Quo������������������������������������������������������������������������������������ 282 26.3 Künstliche Intelligenz �������������������������������������������������������������������������������� 282 26.4 Ist-Situation, Chancen und Herausforderungen������������������������������������������ 283 26.5 IT-Sicherheit������������������������������������������������������������������������������������������������ 287 26.6 Ist-Situation, Chancen und Herausforderungen������������������������������������������ 287 26.7 Fördermaßnahmen für mehr IT-Sicherheit�������������������������������������������������� 289 26.8 Fazit������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 292 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 292

Teil I Trends

1

Der Chief Digital Officer – ein Must Have? (Wofür) Braucht es einen Chief Digital Officer im mittelständischen Unternehmen? Geeske von Thülen

1.1

Einleitung: Wohin geht der Trend?

Eine chinesische Weisheit besagt: „When the wind of change blows, some people build walls, others build windmills.“ Der Wind der Veränderung weht schon lange und viele Unternehmen reagieren darauf mit Maßnahmen, die das Unternehmen digitalisieren oder sogar digital transformieren sollen. Hierbei stellt sich die Frage der organisatorischen Strukturierung des Vorgehens insbesondere in Bezug auf die Regelung der Verantwortlichkeit für die Strategieentwicklung und -implementierung. Viele, vor allem große, Unternehmen haben daher einen Chief Digital Officer (CDO), der in vielen Fällen auch abweichend betitelt wird, eingeführt. Besonders in Deutschland zeigt sich eine große Beliebtheit dieser Lösung. 48 % der Unternehmen haben hierzulande bereits einen Digitalverantwortlichen. Damit liegt Deutschland europaweit diesbezüglich nur hinter Frankreich, wo bereits 66 % der Unternehmen diese Rolle eingeführt haben [19]. Während im Jahr 2016 die meisten CDO Stellen geschaffen wurden, scheint diese Rate nun jedoch zurückzugehen. Als mögliche Ursache für diesen Rückgang wird angegeben, dass die Sichtweise auf die digitale Transformation sich geändert habe. Sie wird nun zunehmend als das ganze Unternehmen strategisch betreffend angesehen, die somit nicht mehr von einer diskreten Funktion ausgeführt werden sollte. Bei den Unternehmen, die bereits einen CDO etabliert haben, scheinen sich deren Erwartung an den CDO gewandelt zu haben. Cross-funktionales Arbeiten und technologische Kenntnisse rücken ins Zentrum der Anforderungen [15]. G. von Thülen (*) Ludwig-Maximilians Universität, München, Deutschland five14 GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_1

3

4

G. von Thülen

Dieses Kapitel wird einen Überblick darüber geben, welche Aufgaben ein CDO typischerweise übernimmt, welche Kompetenzen er hierfür benötigt, ob die Einführung eines CDO überhaupt erforderlich ist und welche Alternativen sich bieten.

1.2

Kernaufgabenfelder und unternehmensbedingte Varianzen

Die Suche nach einer einschlägigen Definition eines CDO erweist sich als erfolglos. Die konkreten Aufgabenbereiche unterscheiden sich von Unternehmen zu Unternehmen [5]. Allgemein lässt sich das Verantwortungs- und Aufgabenspektrum, welches typischerweise einem CDO zugeordnet wird, aber in drei Felder unterteilen. Die jeweiligen Schwerpunkte auf einzelne Bereiche können sich dabei im Zeitablauf ändern. 1. Als Entrepreneur verantwortet der CDO die Entwicklung und Implementierung einer Strategie, welche neue Innovationen ermöglicht und auf dem Einsatz aktuellster digitaler Technologien basiert. Dazu ist das Beobachten und Analysieren digitaler Trends fundamental. 2. Um die Implementierung im Unternehmen dann realisieren zu können, bedarf es der Unterstützung der Mitarbeiter. Hierzu ist es wichtig, die Mitarbeiter über die Aktivitäten zu informieren und hierin zu integrieren. Nicht nur die Akzeptanz, sondern auch das entsprechende „Digitale Mindset“ – eine begeisterte Einstellung gegenüber dem Vorhaben – muss bei den Mitarbeitern ausgelöst und verankert werden. Der CDO als Digital Evangelist übernimmt diese Aufgabe durch regelmäßige Kommunikation über die aktuellen Geschehnisse, oft auch begleitet von einem Kulturwandel. 3. Als bereichsübergreifender Koordinator verantwortet er die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens, indem Silostrukturen kontrolliert zu einem fachbereichsübergreifend zusammenarbeitenden Unternehmen gewandelt werden. Dabei zählt es auch zu seinen Aufgaben, Digitalisierungsinitiativen, die gegebenenfalls aus einzelnen Abteilungen heraus entstanden sind, zu koordinieren und mit der übergeordneten Digitalisierungsstrategie zu vereinen [5, 6, 22]. Grundlegend ist dabei festzustellen, dass der CDO den CEO unterstützt und daher organisatorisch nah an diesen angesiedelt sein sollte. Meist berichtet der CDO direkt an den CEO [7]. Dies ist auch dadurch begründet, dass durch eine Verankerung der Digitalstrategie auf oberer Führungsebene, deren Relevanz und Unterstützung durch das Topmanagement widergespiegelt wird und dadurch auch zu höherem Durchsetzungserfolg führt [22]. Wirft man einen Blick auf die Unternehmen, die einen CDO im Unternehmen etabliert haben, so fällt auf, dass es sich dabei vor allem um große Unternehmen handelt [1, 19]. Doch auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) gibt es die Rolle des CDO. Laut einer interviewbasierten Fallstudie von Becker et al. [1] sind der Aufgabenfokus sowie die spezifischen Aufgaben von CDOs abhängig von der jeweiligen Unternehmensgröße. Wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Bereich sind noch stark unterrepräsentiert, die

1  Der Chief Digital Officer – ein Must Have?

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genannte Studie liefert hier erste Erkenntnisse, um diese Lücke zu schließen. Die Ergebnisse zeigen, dass in größeren Unternehmen die Verantwortung der IT Architektur und Struktur sowie das strategische Management, insbesondere die Strategieimplementierung und Pflege von Partnerschaften die Hauptaufgaben des CDO sind. In KMUs liegt der Fokus ebenfalls auf Aufgaben des strategischen Managements (Strategieimplementierungsverantwortung, Personalförderung und Kulturwandel), anstelle von IT liegt hier der weitere Fokus hingegen auf Digitalisierungsmaßnahmen (Management der Digitalisierung, beratende Tätigkeiten in Digitalisierungsangelegenheiten, Entwicklung digitaler Geschäftsfelder und -modelle, Verankerung digitaler Kompetenzen innerhalb des gesamten Unternehmens). Im Programmmanagement unterscheiden sich die Aufgaben von CDOs in KMUs und großen Unternehmen kaum. Abweichungen wurden hier im Umfang der Verantwortung gefunden: In großen Unternehmen wird meist das gesamte Unternehmen betrachtet, während sich der CDO in KMUs meist auf Prozesse fokussiert. Im Marketing gibt es größere Unterschiede: In KMUs liegt der Fokus durch eine Neuausrichtung des Unternehmens auf der Neukundenakquise, während in größeren Unternehmen die bestehenden Kundenschnittstellen digitalisiert werden. Dieser Unterschied spiegelt sich wider durch die unterschiedliche Aufgabenfokussierung (IT in großen Unternehmen vs. Digitalisierungsmaßnahmen in KMUs) wider. Sowohl in KMUs als auch in großen Unternehmen wird der CDO von den anderen C-Level Managern unterstützt. Wichtig für die Umsetzung seiner Aufgaben ist es immer, dass der CDO über ausreichend Entscheidungsbefugnis und Handlungsspielraum verfügt. Hierzu gehört neben dem Rückhalt des CEO auch die Verfügung über benötigte Ressourcen [8].

1.3

 achliche und fachübergreifende Kompetenzen – F Was zeichnet den idealen CDO aus?

Für die erfolgreiche Ausübung seiner Aufgaben muss ein CDO über bestimmte Kompetenzen verfügen. Eine Untersuchung von Walchshofer und Riedl [22] von Stellenausschreibungen und Interviews mit CDOs zeigt auf, welche Kompetenzen für die Ausübung der Rolle des CDO gefragt sind. Dabei zeigt sich, dass sich diese in zwei Kategorien gliedern lassen: fachliche und fachübergreifende Anforderungen. Zu den fachlichen Anforderungen zählen hier ein technisches Grundverständnis, ein Verständnis von Geschäftsstrategien, digitale Kenntnisse und Wissen in relevanten Teilbereichen der Betriebswirtschaft, wie zum Beispiel in HR, Geschäftsprozessmanagement, Marketing und Vertrieb. Zudem sind folgende fachübergreifende Kompetenzen notwendig: Um die richtigen Entscheidungen zu treffen und umsetzen zu können, werden eine geschäftsorientierte Denkweise, Verhandlungsstärke, mediatorische Fähigkeiten und Durchsetzungsvermögen verlangt. Für die Implementierung sind zudem eine Frustrationstoleranz, Eigenmotivation, Durchhaltevermögen und Motivation trotz Rückschläge und Agilität wichtig. Für die Entwicklung der neuen digitalen Strategie werden funktionsübergrei­ fendes Denken, Innovationskraft und die Fähigkeit des „Out-of-the-box“- Denkens

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G. von Thülen

g­ efordert. Die Relevanz von Offenheit und Empathie erhöht sich für einen extern rekrutierten CDO besonders, denn dieser muss sich zunächst in das neue Unternehmen integrieren und sich in bestehende Strukturen hineinfinden, um die Kultur wandeln zu können. Für den Kulturwandel sind zudem kommunikative Fähigkeiten von großer Bedeutung [8]. Diese sozialen Kompetenzen sind auch für den Aufbau eines internen und externen Netzwerkes von Bedeutung, welches für die erfolgreiche Strategieimplementierung aber auch für das Entdecken neuer Innovationspotenziale außerhalb der Organisation eine wichtige Komponente darstellt [16]. Zudem benötigt der CDO Resilienz, um in bereichsübergreifenden Projekten agieren zu können [18].

1.4

Ist der CDO unverzichtbar oder gibt es einen Plan B?

Die Frage danach, ob ein CDO notwendig ist oder eine andere Lösung, den digitalen Wandel zu managen, besser geeignet ist, wird oft gestellt und lässt sich nicht pauschal beantworten. Die Meinungen hierzu sind kontrovers und bieten viel Diskussionspotenzial [14]. Viele Unternehmen betrauen den Chief Information Officer (CIO) mit den zusätzlichen Aufgaben und verzichten auf den Einsatz eines CDO [10]. Häufig taucht auch die Frage auf, wodurch sich ein CDO von einem CIO unterscheidet und ob der CDO eine Konkurrenz für den CIO darstellt. Die Aufgabenbereiche beider überschneiden sich teilweise. So sind beide an der Visions- und Strategieentwicklung beteiligt und explorieren neue Entwicklungspotenziale. Zudem ähneln sich die Aufgaben im IT-Projektmanagement und -controlling. Dennoch lassen sich die Rollen voneinander abgrenzen. Über das Erkennen von Trends und Potenzialen neuer Technologien hinaus ist der CDO auch dafür verantwortlich, Innovationen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die Strategie also zu implementieren. Die effizienzsteigernden- und Führungsaufgaben des CIO beziehen sich auf den IT Bereich und sind somit intern und angebotsseitig-orientiert. Er verantwortet die Weiterentwicklung der IT vor dem Hintergrund der steigenden Relevanz der IT-Sicherheit und dem wachsenden Bedarf an Vernetzung. Der CDO hingegen konzentriert sich nicht auf einen spezifischen Unternehmensteil, sondern verantwortet den Wandel im gesamten Unternehmen intern und extern. Er fokussiert sich vollends auf den digitalen Wandel als Hauptaufgabe. In all seinen Aufgaben arbeitet der CDO dabei stark nachfrageorientiert. Das bedeutet, dass er den Kunden in den Fokus stellt. Das Entwickeln von personalisierten Angeboten und das Verbessern der Kundenschnittstellen sind Beispiele zum Verbessern der Kundenerfahrung [6, 7, 16, 22]. Um den digitalen Wandel im Unternehmen bestmöglich voranzutreiben, wird beim Einsatz eines CDO ein kooperatives Zusammenarbeiten von CIO und CDO empfohlen, welches beide Expertisen kombiniert. Diese Zusammenarbeit wird von Haffke et al. [5] in einem vierten Aufgabenbereich des CDO berücksichtigt. Häufig hat der CIO keinen direkten Zugang zur Geschäftsführung. Als digitaler Befürworter agiert der CDO als Zusammenführer von Geschäftsführung und CIO, indem er die I­nteressen der IT auf der Managementebene vertreten kann und die Begeisterung für die Digitalisierung in beiden Bereichen in enger

1  Der Chief Digital Officer – ein Must Have?

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Zusammenarbeit verbreitet. Zudem stellt er sicher, dass die IT-Strategie und die übergeordnete Geschäftsstrategie gleichgerichtet sind. Fallstudien zeigen, dass bestimmte Faktoren für den Einsatz eines CDO sprechen. Einer dieser Faktoren ist ein hoher externer und/oder interner Innovationsdruck. Ausgehend von sich ändernden Kundenbedürfnissen, Druck durch Wettbewerber, die sich bereits digitalisieren und so besser auf die Kundenanforderungen reagieren können und dem Eintritt neuer Wettbewerber im Markt aber auch durch den sogenannten „technology-push“, das heißt, neue Möglichkeiten, die sich durch technologische Entwicklungen ergeben, entsteht ein Innovationsdruck, der von außen auf das Unternehmen wirkt. Innovationsdruck kann aber auch durch eine intrinsische Motivation des Unternehmens begründet sein, sich digital weiter entwickeln zu wollen und die Position im Markt zu stärken. Der Bedarf nach Orchestrierung der Änderungen innerhalb der Firma ist ein weiterer Faktor, der für den Einsatz eines CDO spricht. Dies ist bei einer starken Dezentralisierung der Fall, in der beispielsweise verschiedenen Digitalisierungsinitiativen aus unterschiedlichen Abteilungen heraus initiiert werden. Zudem hat der Wirkungsgrad der Digitalisierungsmaßnahmen auf die nach innen gerichteten Prozesse im Unternehmen (z. B. Logistik, IT) im Vergleich zu den nach außen gerichteten Prozessen (z. B. Marketing, Vertrieb) einen Einfluss auf die Entscheidung, ob ein CDO benötigt wird oder nicht. Besonders im B2B Bereich ist das Bedürfnis nach einem CDO geringer, wenn die Digitalisierung größere Auswirkungen auf die nach innen gerichteten Prozesse hat, als auf die nach außen gerichteten. Dies ist darin begründet, dass dann der Chief Information Officer (CIO) – sofern vorhanden – viele Aufgaben der CDO Rolle übernehmen kann. Das Rollenprofil des CIO und seine Reputation spielen ebenfalls bei der Entscheidung eine Rolle. In Fällen, in denen zu den Aufgaben des CIO neben anbieterorientierten auch nachfrageorientierte Aufgaben gehören und je mehr er in das strategische Management des Unternehmens involviert ist, desto geringer ist der Bedarf, die Rolle des CDO einzuführen. Dazu gehört aber auch die interne Reputation des CIO darüber, wie gut er den Aufgaben, die typischerweise einem CDO zugeordnet werden, nachkommt [5, 18]. Eine weitere Entscheidungskomponente über den Einsatz eines CDO ist die Phase der Digitalisierung, in der sich das Unternehmen befindet. Die Studie von Friedrich, Péladeau und Mueller [3] differenziert zwischen vier zeitlich aufeinander folgende Phasen, in denen ein unterschiedlich hoher Bedarf an dem Einsatz eines CDO vorliegt: Die Entdeckungsphase, in der erste digitale Anwendungen unkoordiniert eingesetzt werden; die Aufbauphase, in der das Unternehmen eine Vision für die digitale Transformation formuliert und Initiativen, Strukturen und Programme definiert und Standards setzt, die Industrialisierungsphase, in der die IT Funktionen transformiert werden, Messgrößen zur Datenanalyse definiert werden und digitale Anwendungen in den meisten Funktionen verwendet werden und in die Transformationsphase, in der die digitale Transformation vollzogen ist, was sich dadurch äußert, dass „digital“ zum Standard geworden ist und alle Funktionen und Wertschöpfungsketten digital sind. Während in der Entdeckungsund Transformationsphase kein hoher Bedarf an einen CDO festgestellt wurde, ist der Bedarf an einen CDO in den anderen beiden Phasen (Aufbau- und Industrialisierungsphase) akuter. Die in diesen Phasen genannten Aufgaben können typischerweise von einem CDO

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G. von Thülen

übernommen werden, um den Wandel zu forcieren. Eine weitere Option des Managements des digitalen Wandels ist in vielen mittelständischen Unternehmen zu beobachten, in denen lediglich der CEO als Entscheidungsträger des digitalen Wandels fungiert [21]. Von dieser Option rät Bozkowski [2] jedoch ab. Eine Handlungsempfehlung seiner Forschung ist, dass alle vorhandenen C-Levels (z.  B.  Chief Financial Officer (CFO), CIO, CDO) ebenfalls Entscheidungsbefugnis haben sollten. Zudem sollten der Aufsichtsrat und Beirat ebenfalls miteinbezogen werden. Auch externe Akteure wie Wissenschaftler und Berater sollten bei der Entscheidungsfindung mitwirken. Die Ausgestaltung der Rolle des CDO muss nicht immer als Einzelperson im Unternehmen verstanden werden. Vielmehr zeigt die Studie von Kienbaum [8] weitere organisatorische Ausgestaltungsmöglichkeiten. Dies kann ein cross-funktionales Digitalteam sein, ein Hybrid-Modell als CDO mit einem Team innerhalb und außerhalb des Unter­ nehmens oder eine ausgegründete Tochterfirma, bei dem der CDO die Geschäftsführung innehat.

1.5

 ie sehen mögliche Lösungen aus? – Praxisbeispiele aus W dem Mittelstand

Im Folgenden werden drei Unternehmensbeispiele kurz beschrieben, die sich bei der Ausgestaltung des Managements der digitalen Transformation unterscheiden. Im ersten Beispiel wird diese durch den Einsatz eines CDO verantwortet, im zweiten Beispiel hingegen übernimmt der CIO alle erforderlichen Aufgaben. Abschließend folgt ein Beispiel eines Unternehmens, indem zunächst die Verantwortung beim CIO lag und zu einem späteren Zeitpunkt an einen neu eingestellten CDO übergeben wurde. Das Unternehmen Ratioform, welches Verpackungen im B2B Bereich herstellt, hat im Jahr 2016 die Rolle des CDO durch eine extern rekrutierte Mitarbeiterin besetzt. Diese arbeitet ohne dediziertes Team, mit der Begründung, auf diese Weise das „not-­invented-­ here“-Syndrom zu vermeiden, welches eine Nichtbeachtung von nicht innerhalb des ­Unternehmens entstandenem Wissen beschreibt. Zusammengefasst unter der Digitalen Agenda werden Projekte zum digitalen Wandel in abteilungsübergreifender Zusammenarbeit durchgeführt, die sich zu 100 % am Kundenerlebnis orientieren. Die Digitalisierungsstrategie wurde vom Management initiiert und zentral aufgebaut. Dabei werden die Mitarbeiter permanent durch frühzeitige Kommunikation und individuelle Schulungen in das Geschehen miteinbezogen, was zum Erfolg der Projekte führt, da letztlich die Ergebnisse der Projekte zu veränderten Aktivitäten der Mitarbeiter führen. Ziel ihrer Aufgabe sieht die CDO dabei darin, sich selbst überflüssig zu machen, indem sie die Verantwortlichkeiten schrittweise an die einzelnen Unternehmensbereiche abgibt [4, 8, 13, 17, 20]. In diesem Fallbeispiel wird die Digitalisierung von Beginn an durch einen CDO verantwortet. Bei Cronimet werden die typischen Aufgaben eines CDO von der CIO übernommen. Diese wurde sogar zum CIO des Jahres 2018 im Mittelstand ernannt. In ihrer Rolle sieht sie sich dabei mehr als Coach denn als IT Chefin im klassischen Sinn. In cross-­disziplinären

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Teams wurden so Projekte der Digitalisierung im Rahmen eines entwickelten Digitalen Konzepts umgesetzt. Allen voran ein cloudbasiertes Händlerportal. Durch Empowerment der Mitarbeiter etabliert sie dabei eine Kultur, die Fehler toleriert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglichte es zudem, die Begeisterung für die neuen Arbeitsmethoden, wie Kanban, im ganzen Unternehmen zu entfachen. Die neuen Methoden werden von den Mitarbeitern nun ebenfalls gerne und schnell übernommen. Die Projektarbeit verlief sehr transparent, was zu einer Minderung der Ängste vor dem Wandel und höherer Akzeptanz bei den Mitarbeitern führte. Weitere Projekte im Rahmen des Digitalen Konzepts befinden sich bereits in der Entwicklung [11]. Dieses Fallbeispiel zeigt, wie der digitale Wandel ausgehend vom CIO im gesamten Unternehmen etabliert werden kann, indem die Aufgabenfelder des CDO, nämlich Strategieentwicklung und -implementierung, Kulturwandel und Schaffung einer unternehmensweiten Begeisterung sowie fachübergreifende Koordination vom CIO zusätzlich verantwortet werden. Ein Beispiel für ein mittelständisches Unternehmen, bei dem die digitale Transformation zunächst durch den CIO geleitet wird und später an einen CDO übertragen wird ist die Messe München. Die sich ständig ändernden Kundenbedürfnisse stellten eine Herausforderung für die Messe München dar. Nach einer Analyse des IT Bereichs, wurde 2015 eine IT-Strategie entwickelt, welche anschließend in die Gesamtstrategie integriert wurde. Die Projektverantwortung für die Strategieimplementierung lag hierbei beim CIO, welcher ebenfalls die Aufgabe als Vermittler zwischen Geschäftsführung, Fachbereichen und IT übernommen hat. Dadurch konnten in enger funktionsübergreifender Zusammenarbeit neben dem Betrieb des Tagesgeschäftes neue, digitale Kundenlösungen entwickelt werden. Zusätzlich führte der CIO Change Management Maßnahmen durch, mit denen er die  vorherrschende innovationshemmende Kultur durch individuelle Entwicklungsprogramme zu einer innovationsfreundlichen Kultur wandelte und die Mitarbeiter so aktiv eingebunden wurden [9]. Erst im Jahr 2017 dann gründetet die Messe München eine Digitaleinheit und besetzte die Stelle eines CDO, um die Digitalstrategie weiterzuentwickeln und umzusetzen [12]. Dieses Fallbeispiel zeigt, wie der digitale Wandel im Unternehmen erfolgreich vom CIO verantwortet werden kann, indem er zu seinen bestehenden Verantwortlichkeiten die Aufgaben eines CDO übernimmt und diese Verantwortung zu einem späteren Zeitpunkt an einen CDO übertragen werden kann. Eine weitere, neuartige Ausgestaltungsmöglichkeit, nämlich die Einführung der Rolle des Chief Information and Digital Officer (CIDO) bei der Firma Röchling, wird im Praxisinterview in Kap. 2 mit Klaus-Peter Fett dargelegt.

1.6

Fazit

Die typischen Aufgaben des CDO lassen sich in drei Bereiche einteilen. Die konkreten Aufgaben unterscheiden sich jedoch zwischen den einzelnen Unternehmen. Die Aufgabenbereiche von CIO und CDO überschneiden sich teilweise, dennoch liegt bei beiden typischerweise ein unterschiedlicher Fokus. Durch das Zusammenwirken von CDO und

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CIO ergibt sich ein vierter Aufgabenbereich des CDO. In vielen Unternehmen übernimmt der CIO die zusätzlichen Aufgaben vom CDO, was insbesondere die Strategieimplementierung, die Förderung der Akzeptanz und Begeisterung bei den Mitarbeitern, was oft mit einem Kulturwandel einhergeht und die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit ist. Wichtig ist, dass der verantwortenden Position genügend Handlungsfreiräume und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um ein effektives Wirken zu ermöglichen. Es sollte zudem in direkter Linie an den CEO berichtet werden, welche die Gesamtunternehmensstrategie verantwortet, um die Vereinbarkeit von Digital- und Gesamtunternehmensstrategie zu gewährleisten. Das Commitment des Topmanagements signalisiert zudem die Priorität mit der die Digitalisierung im Unternehmen verankert ist und führt so zu einer höheren Durchsetzungskraft. Es lässt sich beobachten, dass immer mehr Unternehmen einen CDO einsetzen. Die Frage, ob dies generell die richtige Entscheidung ist lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern muss auf Unternehmensebene individuell getroffen werden. Hierzu können verschiedenen Faktoren herangezogen werden. Der Grad des Innovationsdrucks, der Bedarf nach Orchestrierung, der Wirkungsgrad der Digitalisierungsmaßnahmen auf die nach innen gerichteten Prozesse und das Rollenprofil des CIO sowie seine Reputation spielen eine Rolle ebenso wie die Phase der Digitalisierung, in der sich das Unternehmen befindet. Es empfiehlt sich also, diese Faktoren zu bestimmen und in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Auch in der Forschung rückt der CDO immer mehr in den Fokus, jedoch gibt es hier noch Forschungslücken, die es zu reduzieren gilt.

Literatur 1. Becker, W., Schmid, O., & Botzkowski, T. (2018). Role of CDOs in the Digital Transformation of SMEs and LSEs-An Empirical Analysis. Beitrag präsentiert an der Proceedings of the 51st Hawaii International Conference on System Sciences. 2. Botzkowski, T. (2018). Digitale Transformation von Geschäftsmodellen im Mittelstand. Theorie, Empirie und Handlungsempfehlungen. Wiesbaden: Springer Gabler. 3. Friedrich, R., Péladeau, P., & Mueller, K. (2015). Adapt, disrupt, transform, disappear: The 2015 Chief Digital Officer Study. Strategy&, Dec, 13. 4. Garlet, U. (2019). Alles neu gepackt bei Ratioform. CRN. https://www.crn.de/software-services/ artikel-119136-3.html. Zugegriffen am 20.04.2019. 5. Haffke, I., Kalgovas, B. J., & Benlian, A. (2016). The role of the CIO and the CDO in an organization’s digital transformation. Beitrag präsentiert an der Thirty Seventh International Conference on Information Systems, Dublin. 6. Hess, T. (2019). Digitale Transformation strategisch steuern: Vom Zufallstreffer zum systematischen Vorgehen. Wiesbaden: Springer. 7. Horlacher, A., & Hess, T. (2016). What does a Chief Digital Officer do? Managerial tasks and roles of a new C-level position in the context of digital transformation. Beitrag präsentiert an der 2016 49th Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS), Hawaii. 8. Kienbaum. (2018). Digitale Titeljagd. Ein kritischer Blick auf die CDO-Funktion – CDO Studie 2017/2018. https://cdn-assets.kienbaum.com/downloads/180206_CDO-Broschu%CC%88reNEU_digital_k.pdf?mtime=20180223135351. Zugegriffen am 19.04.2019.

1  Der Chief Digital Officer – ein Must Have?

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9. Köppler, S. (2018). Messe München CIO verbessert die Experience für Besucher und Aussteller. Computerwoche. https://www.computerwoche.de/a/messe-muenchen-cio-verbessert-die-experience-fuer-besucher-und-aussteller,3591629. Zugegriffen am 20.04.2019. 10. Krill, M. (2016). Warum Osram keinen CDO hat. CIO. https://www.cio.de/a/warum-osram-keinen-cdo-hat,3260557. Zugegriffen am 20.04.2019. 11. Mesmer, A. (2018). Cronimet CIO Falk ist mehr Coach als IT-Chefin. Computerwoche. https:// www.computerwoche.de/a/cronimet-cio-falk-ist-mehr-coach-als-it-chefin,3591622. Zugegriffen am 20.04.2019. 12. Messe München. (2017). Dr. Markus Dirr wird Chief Digital Officer (CDO) der Messe München. https://messe-muenchen.de/de/presse/presseinformationen/pressemitteilungen/dr-markusdirr-wird-chief-digital-officer-cdo-der-messe-muenchen.php. Zugegriffen am 20.04.2019. 13. MTI. (2018). Alles neu gepackt bei Ratioform. https://de.mti.com/wp-content/uploads/2018/06/ Anwenderbericht-ratioform.pdf. Zugegriffen am 20.04.2019. 14. Pause, C. (2018). CDO? HR? Am besten alle gemeinsam. New Management. Haufe. https://newmanagement.haufe.de/leadership/cdo-hr-am-besten-alle-gemeinsam. Zugegriffen am 20.04.2019. 15. Péladeau, P., & Acker, O. (2019). Have we reached „peak“ chief digital officer? strategy+business. https://www.strategy-business.com/blog/Have-we-reached-peak-chief-digital-officer?gko= 2443a. Zugegriffen am 20.04.2019. 16. Rickards, T., Smaje, K., & Sohoni, V. (2015). ‚Transformer in chief‘: The new chief digital officer. McKinsey & Company. https://www.mckinsey.com/business-functions/organization/our-insights/transformer-in-chief-the-new-chief-digital-officer. Zugegriffen am 20.04.2019. 17. Schareike, N. (2018). Die Frage ist, ob Digitalisierung sanft sein kann. WirtschaftsWoche. https:// www.wiwo.de/erfolg/management/ratioform-cdo-elke-katz-die-frage-ist-ob-digitalisierungsanft-sein-kann/22780914.html. Zugegriffen am 20.04.2019. 18. Singh, A., Barthel, P., & Hess, T. (2017). Der CDO als Komplement zum CIO. Wirtschaftsinformatik & Management, 9(1), 38–47. 19. Strategy&, PwC. (2019). The 2019 Chief Digital Officer Study Global Findings. https://www.strategyand.pwc.com/media/file/2019-CDO-Study_Global-findings.pdf. Zugegriffen am 18.04.2019. 20. Trinkl, L. (2017). Unser Chief Digital Officer Elke Katz stellt sich vor. Ratioform Blog. https:// blog.ratioform.de/unser-chief-digital-officer-elke-katz-stellt-sich-vor/. Zugegriffen am 20.04.2019. 21. Vaske, H. (2017). Diese Unternehmen haben einen CDO. Computerwoche. https://www.computerwoche.de/a/diese-unternehmen-haben-einen-cdo,3331281. Zugegriffen am 20.04.2019. 22. Walchshofer, M., & Riedl, R. (2017). Der Chief Digital Officer (CDO): Eine empirische Untersuchung. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, 54(3), 324–337.

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CIO + CDO = CIDO? – Wie bei Röchling der digitale Wandel gesteuert wird Interview mit Klaus-Peter Fett, CIDO des Eigentümergeführten Kunstoffherstellers Röchlung Klaus-Peter Fett

Harald R. Fortmann: Herr Fett, Sie sind erst vor kurzer Zeit bei Röchling als CIDO eingestiegen, wie ist Ihre berufliche Laufbahn vor Ihrem Start bei Röchling verlaufen? Klaus-Peter Fett: Ich bin Wirtschaftsinformatiker und habe in den 90er-Jahren bei IBM angefangen. 2004 habe ich das Unternehmen IBM als Director für Software verlassen, in dem Bewusstsein – nach so vielen Jahren in einem sehr stark durch Shareholder Value getriebenen amerikanischen Konzern in einer Zeit, in der das Thema Mitarbeiter, Respekt und Werte durch Menschen nicht so ausgeprägt war, wie wir das heute definitiv in fast allen Firmen wahrnehmen („War of Talent“ war damals kein Thema)  – dass einer meiner nächsten Schritte in einem deutschen Eigentümergeführten Unternehmen sein wird. Das hat dann zwar noch 14 Jahre gedauert, aber jedenfalls habe ich das Ziel erreicht. Dazwischen waren Schritte, die mich sehr geprägt haben. Insbesondere natürlich der erste große Schritt nach 15 Jahren in ein anderes Unternehmen, in eine andere Kultur zu Mercury Interactive als Manager für den Finanzbereich für Deutschland zu wechseln. Mercury war in der Zeit die Perle der IT. Es war ein sensationelles Unternehmen, es war israelisch geführt, wo ich mir bestimmte Eigenschaften, die auch meinen persönlichen Eigenschaften entsprechen, sehr stark abgeschaut habe. Insbesondere die Themen Respekt, Loyalität, absolut Loyalty to Decision, Sales Support, die Geschwindigkeit, mit der man auf Kunden reagiert und die Fähigkeit, Kundenprozesse zu verstehen. Damals ging es um Business Process ­Optimization (BPO), was von Mercury geprägt war. Das konnte man in drei Strichen darstellen und jeder hat verstanden „Wow, endlich geht die IT den Weg, das Business stärker K.-P. Fett (*) Röchling SE & Co. KG, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_2

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zu integrieren, um aus diesem unfassbaren Dilemma herauszukommen, was wir in den 90er-Jahren als IT-ler selbst geschaffen haben. Nämlich: weg von der relativ zentralen IT (die wir ja heute über die Cloud wieder kriegen) hin zu einer sehr destruktiven IT, die wir nicht mehr handhaben konnten.“ Das ganze Kleinserver-Prinzip, in dem sehr viel der IT Leistung auf den Client gebracht wird und durch dezentral zu managende Systeme in irgendeiner Form versucht wird zu handhaben, das ist in meinen Augen absolut gescheitert. Und das war auch kein Modell, was ich proklamiere – auch nicht für die Zukunft. Also Mercury Interactive und auch die Loyalität untereinander haben mich sehr geprägt. Es sind immer noch die gesamten Alumni und Kollegen irgendwo gemeinsam verstreut und man hat eine Gemeinschaft geschaffen. Das ist schon was Besonderes. Diese Firma wurde allerdings von Hewlett Packard aufgekauft, was dann mein nächster Schritt war. Die Anfangszeit bei HP war sehr gut. Die Firma hat sehnsüchtig auf so etwas wie Mercury gewartet. Meine Verantwortung lag dort auch im Finanzbereich inklusive Outsourcing, genau gesagt darin, einen Großkunden im Finanzbereich für das gesamte Portfolio zu betreuen. Ich habe insbesondere das Thema Data Center Transformation vo­ rangetrieben. Zu der Zeit hat man noch Outlook und Exchange als Premium Service verkauft. Nach kurzer Zeit habe ich aber feststellen müssen, dass durch Managementfehler die Kultur des Unternehmens sehr gelitten hat und sehr stark zerstört wurde. Ich habe dann für mich erkannt, dass dies in keiner Form meinen Werten und meinem Weg entspricht. 2009 hat dann Google zum zweiten Mal nach einer Zusammenarbeit gefragt. Sie wollten schon 2005 mit mir arbeiten, da hatte ich aber gerade den Wechsel zu Mercury hinter mir und auch das Potenzial von Google noch nicht erkannt. 2010 habe ich dann bei Google angefangen, vor dem Hintergrund, dass ich sehr von deren Technologie begeistert war. Und noch dazu hat die Unternehmensleitung von HP mir zu diesem Wechsel ebenfalls geraten und mich unterstützt. Zu denen habe ich auch heute noch eine gute Verbindung. Bei Google habe ich dann in einem kleinen Büro angefangen. Ich war zunächst für den deutschen Enterprise Markt, also sehr nah am Data Center und der Transformation, verantwortlich. Dann kamen Österreich und die Schweiz hinzu. Der Schweizer Markt wurde später von einem neuen Kollegen übernommen. Wir sind von damals einer Hand voll Leuten auf mittlerweile weit über 100 Mitarbeiter gewachsen. Ich habe sehr schnell festgestellt, dass das Unternehmen nicht das ist, was der Markt von dem Unternehmen denkt. Der Markt denkt häufig, Google sei eine Marketing Maschine oder eine Sales Maschine. Aber das trifft in keiner Weise zu. Google ist ein User-orientiertes Technologieunternehmen. Alles, was Sales bedeutet, ist dazu da, um geniale Entwickler zu unterstützen. Und natürlich herrscht auch eine extrem tolle Kultur vor, in der Art und Weise, wie man miteinander umgeht, wie man Mitarbeiter motiviert und wie offen man kommuniziert. Jede Woche gab es ein „Thank god it’s Friday“-Meeting (TGIF), wo mindestens einer der beiden Gründer und meistens sogar beide auf der Bühne waren, um in 10 Minuten in einer sehr angenehmen, wiederkehrenden Art einen Rückblick und Vorausblick für die Woche zu geben und die 300.000 neuen Leute zu begrüßen. Also wirklich, es war unglaublich und einfach sensationell. Was ich daraus gelernt habe, sind die Themen: Mitarbeiter mitnehmen, offene Kommunikation, no politics, data beats politics, innovation is no perfection,

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Toothbrush Test und so weiter. Es ist eine Maschine dahingehend, wie zusammengearbeitet wird, wie immer nur eine Single Source of Truth existiert, wie man mit dem Thema Respekt umgeht. Ich kann mich an eine Situation erinnern, da war Philipp Schindler, einer der Topmanager, in einem Büro, welches mein Kollege reserviert hatte. Und dann sagte der Kollege: „Sorry. Den Raum habe ich gebucht.“ Philipp Schindler entschuldigte sich daraufhin bei meinem Kollegen und ging raus. Stellen Sie sich das mal nur annäherungsweise in einem anderen Unternehmen vor. Da entschuldigt man sich, wenn man etwas sagt und nicht, wenn man widerspricht. Unglaublich, undenkbar. Und bei Google war es genau andersherum. Man hat zwei Dinge sehr, sehr gut etabliert, nämlich: Nicht der, der weiß wird incentiviert, sondern der, der das Wissen teilt. Eine der großen Schwierigkeiten unserer Zeit. Und das zweite war, dass man mit Fehlern komplett anders umgegangen ist. Dass man den Fehler zwar nicht gutgeheißen hat, aber, wenn man drüber geredet hat, war es ein Geschenk für alle. Und das hat man belohnt. Man sollte nicht zu viele Belohnungen bekommen. Toothbrush Test Der Toothbrush Test dient dazu, die Produkte von potenziellen zu akquirierenden Unternehmen dahingehend zu untersuchen, ob sie wie eine Zahnbürste mehrmals täglich verwendet werden.

Harald R. Fortmann: Wie sind Sie dann zu Röchling gekommen, wie kamen Sie zu Ihrer Rolle als CIDO und was beinhaltet diese? Klaus-Peter Fett: Mein Wunsch, irgendwann in einem Eigentümergeführten Unternehmen zu sein, war nach wie vor in mir. Und über meine damalige Rolle und das Mercury-Netzwerk, habe ich 2017 dann einen der Vorstände von Röchling, in dem Fall Erwin Doll, kennengelernt, der sagte, das Unternehmen bräuchte einen CDO. Bei Google war ich für das Thema Innovationsmanagement eigentlich seit 2012 immer als 20 Prozent-Projekt verantwortlich und 2016 sogar in kompletter Rolle. Das heißt ich bin sozusagen als Evangelist nicht nur auf den Bühnen der Welt gestanden, sondern auch zu den Unternehmen in die Vorstände gegangen und habe das Thema Innovation in jede Richtung gechallenged: kulturell, technologisch und vor allen Dingen auch konzeptionell, was das Thema Partnerschaften anbelangt. Und so habe ich das, was Frederik Pferdt als einer unserer Innovations-Gurus bei Google gemacht hat, in den europäischen Markt getragen. In den Verhandlungen zum Thema CDO, die später dann auch mit dem Vorstandsvorsitzenden bei Röchling, Herrn Professor Knaebel, stattgefunden haben, habe ich dann auch klar signalisiert, dass ich sehr viel CDOs kenne, die in einem künstlichen, destruktiven und vollkommen unnötigen Kampf zum CIO stehen und ich daher, die gesamte IT ebenfalls verantworten möchte oder den Job nicht ausführen werde. Man muss sich ja klar werden, was Digitalisierung ist. Ich denke, dafür brauchen wir keine PowerPoint und die Dinge, die wir verändern müssen, die kann man mit dem Gedanken Digitalisierung, Transformation und nur mit der IT gemeinsam verbinden und aufs Gleis bringen. Und daher war für mich klar: Wenn ich diesen Schritt gehe, dann eben als CIDO.  Wir haben den Begriff damals generiert. Soviel ich

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weiß, bin ich der erste CIDO. Ich weiß, dass es den Titel mittlerweile auch tatsächlich gibt. In manchen Fällen nennen sich die Kollegen dann eher „Leiter Transformation“ aber berichten an den CIO. Mir war auch sehr wichtig, dass ich nicht an Finanz berichte oder an einen der Unternehmensbereiche, sondern an den Vorstandsvorsitzenden. Harald R. Fortmann: Würden Sie sagen, es macht immer Sinn, einen CIDO einzusetzen, statt zwei paralleler Rollen: CIO und CDO? Klaus-Peter Fett: Die Verantwortung beider Bereiche führt zwar in manchen Situationen eventuell zur Schizophrenie, aber man hat ja dann immer noch die beiden Schultern, mit denen man reden kann und sagen kann: „Was meinst denn du dazu?“ Aber es könnte, wenn es ein harmonisiertes, funktionierendes Tandem unter gleichen Chefs, dem CEO, ist, kann die Aufteilung der Aufgaben gut sein, dann kann es auch durchaus funktionieren Aber nicht, wenn beide Rollen mit destruktiven Alfa Tierchen neu positioniert werden. Und diese Fähigkeit, die Personalerfahrung reinzubringen, ist meiner Ansicht nach eine extrem schwierige Aufgabe. Harald R. Fortmann: Wie ist die IT derzeit bei Röchling organisatorisch aufgestellt und was sind hier Ihre Hauptaufgaben? Klaus-Peter Fett: Die IT ist aktuell extrem dezentral auf fast 92 Standorte verteilt. Eine meiner Key Aufgaben ist es, diese IT zu einer einheitlichen IT zu harmonisieren. Nicht, dass sich die Standorte verlagern. Die IT hat die Aufgabe lokale Standorte, wie die Produktion, die Administration und so weiter lokal zu unterstützen. Bei der notwendigen Bestandsaufnahme des Unternehmens, um herauszufinden, wo das Unternehmen steht, ist mir das natürlich als allererstes aufgefallen. Es ist ein Unternehmen, was momentan durch lokale Kaufleute IT-seitig gesteuert wird. Wo man dem Prinzip folgte von Hunderten Schnellbooten und verschiedensten Gesellschaften mit relativ hoher Eigenständigkeit. Was zur Folge hat, dass wir IT-seitig momentan mit einer Vielzahl an nicht harmonisierten Systemen in verschiedenen Versionen und unterschiedlichen Kommunikationssystemen für die verschiedenen Divisionen zu kämpfen haben. So arbeiten wir in Automotive noch mit Lotus Notes, in den anderen Divisionen mit Microsoft. Und das zu harmonisieren, in eine Fähigkeit hineinzubringen, um überhaupt miteinander in guter und einfacher Form zu kommunizieren, das ist eine der Hauptaufgaben. Harald R. Fortmann: Was ist Ihre Meinung zum Einsatz sogenannter „Digital Labs“? Klaus-Peter Fett: Das Thema Lab ist schön für den Moment und als Case und um der Außenwelt zu zeigen: „Ich bin hipp, ich werde digital und ich habe es verstanden.“ Wertbeitrag ist da jedoch

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in der Regel weniger. Wenn nicht der direkte Bezug zum Business da ist und nicht das gesamte Business integriert wird über Rotationsprinzipien, intelligentes Kommunizieren und Integrieren der Leute, dann ist jedes Lab zum Scheitern verurteilt oder produziert eine Menge an Proof of Concepts (PoCs) oder Minimum Viable Products (MVPs), aber leistet letztendlich keinen Wertbeitrag. Denn insbesondere in einem Unternehmen, wie unserem, ist profitabler Wertbeitrag eine extrem wichtige Komponente, ein Key Performance Indicator (KPI) auch für unsere Tätigkeit IT oder digital. Wir machen keine IT zum Selbstzweck, sondern nur für das Business. Also dementsprechend ist das Thema Lab bei uns kein Thema. Aber trotzdem haben wir ganz bewusst zwei Standorte. München ist ein Standort, welcher durch die Nähe zu den Unternehmen, wie Microsoft, Google, Amazon und zu den großen Cloud-Anbietern sowie zur sehr renommierten technische Universität strategisch begründet ist. Die Nähe zur Universität bietet den Vorteil, dass man auch viel an Nachwuchskräften arbeiten kann. Und wir haben auch einen Standort in München, der sehr automotive-lastig ist. Das heißt auch hier wieder Nähe zum IT-Endkunden letztendlich. Daher finde ich, dass neben der Tatsache, dass in etablierten Unternehmen häufig übersehen wird, dass die digitale Transformation gar keine Technologie ist, sondern ein kulturelles Thema, ist das Aufsetzten solcher Labs nur bedingt sinnvoll. Ergänzend ist es sicherlich schön, wenn man da Democenter bauen kann, wenn man Kunden begeistern kann, wenn man Open Work Spaces hat, wo Kunden mitarbeiten und natürlich wenn die Ingenieure glücklich sind, für eine gewisse Zeit eine kreativere Umgebung zu haben, um dann wieder zurückzugehen und dort diese Transformation voranzutreiben. Das sind alles sinnvolle Modelle. Aber einen Elfenbeinturm als Lab, finde ich macht keinen Sinn. Harald R. Fortmann: Sind neue Geschäftsmodelle oder neue Monetarisierungsquellen auch ein Thema, was Sie momentan bearbeiten? Klaus-Peter Fett: Das ist definitiv Teil der Aufgabe, denn man muss sich ja nur mal überlegen: wenn wir tatsächlich alle Mitarbeiter in die Lage versetzen, besser miteinander zu kommunizieren, die Dokumente nicht mehr in der Version „3.1.finalPlatinVersionfinalfinal“ zum einhundertsten Mal zu versenden, wenn wir sie dazu kriegen, dass ein Dokument nur einmal existiert, die Kundeninformation nur einmal existiert, der Webshop nur einmal gebaut wird, dann bedeutet es doch als nächsten Schritt, dass ich eine gewisse Zeit gewinne, um mich auch endlich darauf zu konzentrieren, was ich an Geschäftsmodellen ändern kann. Und selbst eine Kommunikation ändert Geschäftsmodelle. Damit kann ich mich nämlich einerseits in die Lage versetzen, besser über meinen wirklichen Endkunden Bescheid zu wissen und auch aus dem Engineering-Gedanken heraus daraus Services bauen. Gleichzeitig, natürlich, wenn wir ein MVP oder CoP zum Thema Sensortechnik oder Self-­ Healing-­Surfaces bauen, dann ist es natürlich eine Möglichkeit, daraus Geschäftsmodelle abzuleiten. Für uns sind neue Geschäftsmodelle auch ganz wichtig. Unser Core ist Hochleistungskunststoff. Wir sind ein Produktionsunternehmen. Produktion und die Fähigkeit, hervorragende Produkte zu kreieren und Kunden an ihrem Bedürfnis anzubieten oder ihr

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Bedürfnis auch so zu befriedigen, ist unsere Core-Aufgabe. Drumherum allerdings gibt es Notwendigkeiten, die auch der Markt mittlerweile immer stärker von uns verlangt, nämlich die Möglichkeit, auskunftsfähig über die Herkunft der Stoffe zu sein, komplett transparent in den Produktionsschritten zu sein und bestimmte Regularien nachweisen zu können. Also sagen wir so: Wir werden uns jetzt nicht um 180 Grad drehen in dem, was wir als Produkt haben. Aber die Produkte werden intelligenter. Die Fähigkeit, anders an den Markt zu gehen, wird neu definiert und daraus ergeben sich immer neue Geschäftsmodelle. Unser Geschäftsmodell wird weiterhin aus Produktion und Vertrieb von Kunststoffen bestehen. Zusätzlich werden wir Services anbieten. Die Wertschöpfungstiefe werden wir vielleicht dahingehend verändern, dass wir Services, Dienstleistungen, Rücknahme anbieten. Diese Geschäftsmodelle können wir heute nicht ohne Digitalisierung bedienen. Daher ist es meine Aufgabe, diese grundsätzlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit wir die Geschäftsmodelle reformieren. Harald R. Fortmann: Sind sie auch aktiv in der internen Kommunikation zu den Mitarbeitern tätig? Klaus-Peter Fett: Ja, aber man muss dazu sagen: Wir sind gerade genau zu dem Thema im Aufbruch, die interne Kommunikation erst einmal zu ermöglichen. Momentan muss man es sich vorstellen, wie eine Produktion funktioniert: Eine Produktionsstraße, gerade in unserem Umfeld, besteht aus zig Nationen. Die besteht aus verschiedenen Zeitschichten im Schichtbetrieb. Dadurch hat man kaum Zeit, in irgendeiner Form digitale Informationen aufzunehmen. Das tut man dann abends auf der Couch oder auf dem Heimweg oder wie auch immer. Das heißt, wir müssen einen einfachen Weg finden, alle Leute zu erreichen. Und da arbeiten wir gerade dran. Gleichzeitig wird momentan über interne Zeitschriften kommuniziert. Und da bin ich natürlich auch sehr stark gefragt. Interviews mit der Fragestellung: „Was macht denn ein Google-Manager bei Röchling, bei einem Mittelständler in Deutschland?“ finden fast jede Woche statt. Und auch jetzt bei der Bilanzpressekonferenz war es ein Thema und auch das Handelsblatt hat berichtet mit dem Statement: „Herr Knaebel möchte unter anderem mit einem Google-Manager die Transformation vorantreiben.“ Daran erkennt man die Interaktion und die Wichtigkeit. Und das finde ich schon sehr bemerkenswert. Harald R. Fortmann: Wie arbeiten Sie mit den anderen C-Level-Positionen in ihrem Hause zusammen? Klaus-Peter Fett: Der Vorstand bei Röchling besteht aus einem Vorstandsvorsitzenden, CFO und mittlerweile nur noch einem Bereichsvorstand, statt wie bisher zweien. Herr Professor Knaebel ist mittlerweile in der Trippel-Funktion des Vorstandsvorsitzenden, des CEOs für Medical und des CEOs für Automotives. Ich bin Teil des Boardes, das heißt ich werde zu jeder Vorstandssitzung in das Board eingeladen, um über IT und Transformation zu sprechen. Da­ rüber hinaus gibt es das Management Board. Das ist das Top-Management der Unter­

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nehmensbereiche. Teil des Meetings sind ebenfalls die Sub-Unternehmensbereiche wie Components oder Composite und der Chief Operations Manager der Automotive Sparte, Andrea Rocca, zum Beispiel. Das ist ein Management Board mit einem, mindestens einmal monatliche stattfindenden intensiven Austausch, bei dem ich ebenfalls Teil bin. Zudem gibt es regelmäßige Aufsichtsratssitzungen, in denen ich dann unter anderem präsentiere, wo wir gerade stehen. Also beim Austausch auch in die Familie hinein und auch rückwärts aus der Familie heraus, besteht der direkte Draht. Und es war auch für mich damals eine Bedingung vor dem Anfang bei Röchling, die Familie und deren Gesichter zu kennen. Nicht nur Gesichter, sondern auch hinter die Gesichter zu schauen und dann den Schritt weiter zu gehen und zu hinterfragen, ob es wirklich das ist, was ich mir an Langfristigkeit wünsche und vorstelle. Harald R. Fortmann: Haben Sie irgendwelche Herausforderungen in der Kollaboration mit den Kollegen oder würden Sie sagen, dass das gesamte Board den digitalen Wandel forciert? Klaus-Peter Fett: Wir sind uns ja alle einig, das wurde mir erst vor kurzem noch mal bestätigt. Diese Einigkeit und die Notwendigkeit sind da und werden gesehen. Die Konsequenz allerdings, dieses Walk-the-Talk, ist noch verbesserungswürdig. Das ist auch eine große Schwierigkeit, denn es geht eigentlich immer um dieses Ur-Problem der Axt, nach dem Motto: „Ich kann die Axt nicht schärfen, weil ich bin gerade einen Baum fälle.“ Dieses Problem existiert in jedem Unternehmen. Jedes Unternehmen hat eine abwehrende Haltung gegen den „digitalen Firlefanz“ und denkt sich „Was bringt mir jetzt AI, wenn ich doch momentan mit meinem Handscanner keine Ware ausbringen kann? Oder wenn meine Maus nicht funktioniert? Oder wenn die Internetverbindung zu langsam ist?“ Diese Situation ist wahrscheinlich in vielen Unternehmen so vorhanden, aber natürlich ist in Familiengeführten Unternehmen noch mal stärker der Blick darauf gerichtet, was am Ende wirklich Sinn macht, wohin das Unternehmen geht, was es macht, wer es ist, was die Core Values sind und ob das wirklich alles notwendig ist. Es geht nicht um Shareholder, es geht nicht um eine breite Masse, sondern um eine Familie. Die momentane Herausforderung besteht in der Gleichzeitigkeit der Notwendigkeit, die IT und Basis Elemente wie Security, Governance und Portfoliomanagement zu harmonisieren, ohne dass der lokale Support an den 92 Standorten leidet und zugleich aber auch neue Transformationsthemen anzugehen, dass man zeigt, dass die IT einen echten Wertbeitrag leisten kann und Partner des Businesses ist. Hier besteht ein Dilemma der Priorisierung. Harald R. Fortmann: Wie beschreiben Sie die Kultur beim klassischen Mittelständler Röchling im Vergleich zu den Technologieunternehmen, bei denen Sie vorher waren? Klaus-Peter Fett: In beiden Unternehmen arbeiten Menschen. Wenn ich jetzt nur mal Röchling und Google vergleiche stelle ich fest, dass sowohl bei beiden ein hoher Prozentteil der Mitarbeiter

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Ingenieure sind. Insofern liegt auch bei Röchling eine technologische Denke vor und diese spiegelt sich auch darin wider, wie wir uns darstellen. Derzeit befinden wir uns auch im Re-Branding. Aber da muss man auch sagen, Röchling hat eigentlich die beständigere Fähigkeit bewiesen, durch Krisen durchzugehen, als es Google bisher getan hat. Röchling hat diese Krise erlebt, während Google wenig Krisenerfahrung hat. Röchling hingegen hat diesen Wandel eigentlich permanent vollzogen, sich selbst disruptiert und sich auf Unternehmensbereiche und auf neue Technologien konzentriert und fokussiert. Und dahingehend würde ich sagen, der wichtigste Unterschied, um eine Vergleichbarkeit auch für mich herzustellen, liegt darin, wie wir mit Menschen umgehen, wie wir Menschen in die Fähigkeit bringen, sich neuen Anforderungen anzupassen, wie wir mit Fehlern umgehen, wie wir mit Innovationskraft umgehen und wie wir mit dem Teilen vom Wissen der Mitarbeiter umgehen. Daher ist der Schritt ein irgendwie auch logischer Schritt. Denn die letzten 30 Jahre habe ich ja eigentlich damit verbracht, auf der anderen Seite den Leuten zu erzählen, was sie tun können. Jetzt bin ich in der Verantwortung dessen, was ich damals erzählt habe. Und das ist schon eine, finde ich, logische Konsequenz, die mir ja auch diesen Gegenschritt bringt und sagt: „Das, was ich die letzten acht Jahre über Transformation aber auch davor schon über Data Center Transformation erzählt habe und das, was meine Werte sind, ist das eigentlich real? Und lässt sich das umsetzen oder ist das der typische Berater, der es vielleicht nie selbst getan hat?“ Und daher war für mich, als sich diese Chance dann entwickelte, irgendwann der Schritt sehr einfach und konsequent. Harald R. Fortmann: Was sind Ihre Key Learnings oder erlebten Überraschungen aus Ihren ersten Monaten als CIDO? Klaus-Peter Fett: Tatsächlich ist eine große Überraschung für mich die Bestimmung dessen, wo die IT heute technologisch, im Ansehen und in der Umsetzung steht. Die Fähigkeit des Unternehmens, mit Produktion etc. umzugehen ist gut und es haben auch alle Verstanden, dass Digitalisierung wichtig ist, aber es bestand keine 100 prozentige Einigkeit darüber, ob wir für die Digitalisierung schon bereit sind und ob wir genug Kenntnisse darüber haben, was Daten bedeuten. Für die Zukunft, ist dieses Verständnis jedoch essenziell. Ich hätte gedacht, dass wir an dieser Stelle definitiv weiter wären. Auch die Fähigkeit, die Organisation kurzfristiger umzudrehen und neu auszurichten ist noch nicht gegeben. Hier bestehen, wie in vielen anderen Unternehmen auch, noch Beharrungskräfte, die mich doch ein kleines bisschen überrascht haben, obwohl ich das hätte wissen müssen. Den Satz „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Habe ich allerdings tatsächlich nicht so oft in der Deutlichkeit gehört. Vielleicht traut man sich das nicht, weil ich in der ersten großen Röchling Konferenz, einen Monat nach meiner Einstellung, gesagt habe: „Ich möchte das Wort „aber“ nicht mehr hören. Ich möchte das Wort „und“ hören.“ und auch die Anekdote erzählt habe, dass ich mit vielen Eigentümergeführten Unternehmen in den USA auf Silicon Valley Reise war und sich die Firmenlenker diesen Satz aufgeschrieben haben. Damals hat mich das sehr gewundert, heute verstehe ich, warum die Leute das aufgeschrieben haben:

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Weil es in unserem Kulturkreis tatsächlich nicht Gang und Gebe ist. Ein Mitarbeiter fühlt sich vielmehr ernst genommen und kommt mit seiner Idee auch wieder, wenn der Vorgesetzte fragt: „Ja und was brauchst du dafür? Ja und was bringt uns das? Ja und wie machen wir es dann?“ statt die Fragen mit einem „aber“ zu formulieren.

[Zusammenfassung] Das Vereinen von CDO und CIO in eine Rolle bietet den Vorteil, dass unnötige, destruktive Konflikte vermieden werden. Aber auch das Zusammenspiel von CIO und CDO in separaten Rollen kann unter bestimmten Voraussetzungen funktionieren. Als CIDO bei Röchling verantwortet Herr Fett die Harmonisierung der IT, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Monetarisierungs-Quellen und trägt zur internen Kommunikation zu den Mitarbeitern bei. Er berichtet direkt an den CEO und kommuniziert bei Vorstandssitzungen, im Management Board und bei Aufsichtsratssitzungen über den aktuellen Stand der digitalen Entwicklung wodurch eine direkte Kommunikation zur Inhaberfamilie besteht. Die digitale Transformation ist in erster Linie ein kulturelles Thema. Der Einsatz sogenannter Future Labs bietet nur bei direktem Bezug zum Business einen Wertbeitrag und sollte daher nicht inflationär eingesetzt werden. Wichtige Werte in der digitalen Transformation liegen im Umgang mit Menschen. Vor allem das Teilen von Wissen sollte incentiviert werden und Anpassungsfähigkeiten an Veränderungen sollten gestärkt werden. Dabei sollten Fehler offen angesprochen werden können, um gemeinsam hieraus zu lernen. Innovationskraft sollte nicht durch Negativformulierungen wie „Ja, aber…“ gebremst werden, sondern Mitarbeiter sollten durch ein „Ja und…“ zur Weiterentwicklung und Verbesserung ihrer Idee motiviert werden.

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Die Rolle des Company Builder in der Digitalen Transformation Fabian J. Fischer

Seit 2005 baue ich digitale Geschäftsmodelle und berate seit 2013 Unternehmen bei der digitalen Transformation. Auf diesem Weg habe ich schon zahlreiche Initiativen und Projekte gesehen: Von der Entwicklung digitaler Vertriebskanäle, über Innovation Labs, E-Commerce-Units bis hin zur Inkubation neuer Startups. Seit rund vier Jahren bin ich als Geschäftsführender Gesellschafter von Etribes tätig. Wir beraten mittelständische Unternehmen, deutsche Weltmarktführer und DAX-Konzerne bei der Digitalisierung und sehen uns dabei vor allem als Beschleuniger, wenn es um die konkrete Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen geht. So halfen wir auch der Otto Group bei der Inkubations der Fashion-Plattform About you, dem ersten E-Commerce-Unicorn aus Hamburg. Eine weitere persönliche und spannende Erfahrung war die Zeit, in der ich 2017 als Interims Managing Director und Mitgründer der Digital-Unit bei Hapag-Lloyd tätig war und hier ebenfalls dabei helfen durfte, die Digitalisierung des Logistik-Riesen maßgeblich voranzutreiben. Doch bevor ich näher auf die Königsdisziplin Company Building eingehe, möchte ich zunächst erläutern, warum die Digitalisierung allgemein bei so vielen Unternehmen scheitert.

3.1

 arum scheitern so viele Unternehmen D an der Digitalisierung

In meinen Augen haben wir Deutsche leider eine extreme Angst vor dem Scheitern. Statt auf Basis einer ersten Strategie loszulegen, setzen wir auf Workshops und eine weitere Runde Design Thinking. Diese Maßnahmen sind per se nicht falsch und ein neuer Impuls F. J. Fischer (*) Etribes Connect GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_3

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kann selbstverständlich noch mal die Planung optimieren; aber oft dienen zusätzliche Maßnahmen lediglich dazu, den Entscheidungsprozess hinauszuzögern. Denn eine Entscheidung trägt das Risiko des Scheiterns mit sich und auch wenn dies – wie so oft medial erwähnt – in Amerika zum guten Ton gehört, weiß ich: Niemand scheitert gerne. Auch nicht die Amerikaner. Die Angst vor Fehlern Die Angst vor Fehlern ist hierzulande tief in den Köpfen verankert und hindert die Entscheidungsträger daran, Prozesse verändern zu wollen. Dieser Umstand – in Kombination mit einer „Wir haben das schon immer so gemacht!“-Denkweise und Mitarbeitern, die keine Sichtbarkeit für ihre innovativen Lösungsansätze bekommen – kann eine nicht endende Paralyse für das gesamte Unternehmen bedeuten, was aufgrund des Potenzials der Ideen mehr als schade ist. Mangelnde Geschwindigkeit Zu der Angst vor Fehlern gesellt sich ein weiteres, daraus folgendes Problem: mangelnde Geschwindigkeit. Prominente Venture-Capital-Investoren haben erfolgreiche Startups untersucht und der wirklich entscheidende Erfolgsfaktor war nicht die Idee, das Produkt oder das Team, sondern das richtige Timing. Ein falscher Zeitpunkt lässt sich nur schwer kompensieren. Was ich beobachten konnte: In einer Welt, die sich schnell verändert, ist Geschwindigkeit entscheidend. Wir müssen selbst schnell sein, um überhaupt die Chance zu bekommen, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Zu klein gedacht: Gestartet, um zu scheitern Sehr oft scheitern die Vorhaben, weil es lediglich Feigenblatt-Projekte sind. Hübsch zum Vorzeigen, aber viel zu klein und kurzfristig gedacht. Oftmals findet dabei die Digitalisierung nur um der Digitalisierung Willen statt, aber es wird kein ganzheitlicher Ansatz verfolgt. Hier und da werden ein paar tausend Euro investiert oder ein internes Innovation Lab finanziert. Da das Ganze aber zu wenig abwirft, wird es nach einem kurzen Zeitraum wieder eingestellt und man versteckt sich hinter der Aussage, es ja versucht zu haben. Meiner Meinung nach werden diese Projekte oft nur gestartet, um sie wenig später scheitern zu lassen. Oftmals wird auch nicht verstanden, dass innovative Geschäftsideen einer komplett neuartigen kundenzentrierten Wertschöpfung unterliegen und Umsatzerlös-­ Modelle häufig erst zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden. Facebook, Instagram und Google sind hier prominente Beispiele.

3.2

Die drei Säulen der Digitalisierung

Bedingt durch die oben genannten und vielen weiteren Erfahrungen haben wir bei Etribes folgendes Modell kreiert, das jedem Unternehmen zeigt, welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet. Wir nennen das Ganze die „drei Säulen der Digitalisierung“ und sie sind

3  Die Rolle des Company Builder in der Digitalen Transformation

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für mich die Basis jeder digitalen Transformation; unabhängig davon, ob sich ein Unternehmen erst noch digitalisieren muss oder schon „mitten im Prozess“ ist (siehe Abb. 3.1). Zum besseren Verständnis dient hier je ein Beispiel: Säule 1 – Kerngeschäft Optimierung – Beispiel: Bestehende Vertriebskanäle (z. B. Außendienst) werden durch digitale Tools prozessual verbessert. Säule 2  – Digitale Geschäftsexpansion  – Beispiel: Ich betreibe ein Handelsgeschäft und erweitere dieses durch E-Commerce und expandiere in weitere Länder. Oder: Ich bin Hersteller und erschließe neue digitale Kanäle mit direkten Kundenzugang und nutze die gewonnen Kundendaten zur Erweiterung meines Produktangebots. Säule 3 – Digitales Neugeschäft – Beispiel: Ich baue ein komplett neues Geschäftsmodell in meiner Industrie, welches das Potenzial hat, mein existierendes Modell zu disruptieren (so geschehen zum Beispiel mit About You bei der Otto Group.) Dieses Säulen-Modell kann – wie eingangs bereits erwähnt – für jedes Unternehmen jeglicher Größe angewendet werden. Dabei steigt entsprechend das Risiko – bedingt durch Unsicherheit und Komplexität – von links nach rechts, aber auch die Höhe der Belohnung. Um zu identifizieren, mit welchem Schwerpunkt und auf welche Säule man sich im ersten Schritt als Unternehmen konzentrieren sollte, empfehle ich den folgenden Prozess: 1. Themen sortieren Zunächst machen wir als Berater bei dem jeweiligen Unternehmen eine Bestandsaufnahme und sortieren Ideen und bereits existierende Digital-Initiativen oder -Projekte den jeweiligen drei Säulen zu, um einen Überblick zu erhalten bzw. mangelhafte Ausgewogenheit festzustellen. Dies machen wir im Rahmen unseres eigens entwickelten „Digital Fitness Checks“, der sich über acht Dimensionen erstreckt und ein Querschnitt des Unternehmens aus digitaler Perspektive darstellt.

Abb. 3.1  Die drei Säulen einer erfolgreichen Digitalisierung nach der Etribes Erfahrung

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2. Roadmap Als Nächstes entwickeln wir gemeinsam mit dem Unternehmen eine Roadmap inklusive Maßnahmen zu der als passend analysierten Säule. Ist man bei der Digitalisierung noch am Anfang, sollte man ein erstes, erfolgversprechendes Projekt vorziehen, denn Erfolg schafft Vertrauen. Das Projekt selbst soll entweder das Kerngeschäft optimieren (Säule 1) oder die digitale Geschäftsexpansion vorantreiben (Säule 2). Ein neues, digitales Geschäftsmodell zu bauen (Säule 3), eignet sich in diesem Fall nicht, da das Risiko für einen schnellen Erfolg nicht kalkulierbar und nur schwer zu managen ist. 3. Team/Unit gründen Sofern noch nicht geschehen, ist im nächsten Schritt die Gründung einer eigenen Digital-Unit sinnvoll, die aus externen Partnern und internen Mitarbeitern bestehen kann. Cross-funktionale, interdisziplinäre Teams bestehend aus externen und internen Mitarbeitern bilden meiner Meinung nach die besten „Winning Teams“. Der Grund: die Kombination aus branchenfremdem und brancheninternem Know-how sorgt dafür, dass sich bereits gebildete Denkblasen auflösen. 4. Fokus Wichtig ist eine klare Zielsetzung und ein spitzer Fokus der Unit: Dieser sollte voll und ganz auf der Umsetzung des Projekts in der passenden Säule liegen. Es empfiehlt sich, andere Themen aus dem Tagesgeschäft nicht zu integrieren. 5. Erfolg sorgt für Akzeptanz und weiteres Scaling Bedingt durch den möglichen Erfolg steigt die Akzeptanz für die Digitalisierung im Unternehmen und das Vorhaben kann weiter skaliert werden. Skalierung im großen Stile ist ein ganz entscheidender Faktor, der in der Planung von vornherein bedacht werden sollte. Außerdem kann bei Erfolg die Digital-Unit ausgebaut werden. Sehen wir uns die dritte Säule nun genauer an.

3.3

 äule 3 – Neue digitale Geschäftsmodelle S (durch Innovationen)

Sofern bei einem Unternehmen die Digitalisierung fortgeschritten ist, bietet Säule 3 – das digitale Neugeschäft – ein immenses Potenzial abseits des eigenen Kerngeschäftsmodells (siehe Abb. 3.2). So kann es passieren, dass ein ursprünglich als Handelsgeschäft gestartetes Unternehmen auf einmal anfängt, mit Daten zu handeln oder eine Software zu vertreiben. In diesem Bereich ist die Unsicherheit hinsichtlich des Erfolges dieser Ideen sehr hoch, schließlich befindet man sich mit der neuen Geschäftsidee auf dem gleichen Spielfeld wie durch Venture Capital finanzierte Unternehmen. Dieses Spielfeld bedeutet auch: 80 Prozent aller Startups scheitern [1] und bei Venture-­ Capital investiert man häufiger nicht erfolgreich, um dafür aber mit wenigen erfolgreichen Investments überdurchschnittlich viel Geld zu verdienen.

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Abb. 3.2  Corporate Venturing als Kernbestandteil der dritten Säule

Die Entwicklung aktuell zeigt weltweit eine deutliche Tendenz nach oben bei Unternehmensbewertungen und Höhe der Finanzierungsrunden. Mit immer größeren „Mega Funds“ – wie sie zuletzt durch Softbank oder Andreesen Horowitz geraised wurden – wird mit immer mehr Kapital versucht, ganze Branchen zu disruptieren und die globale Markt-Dominanz zu forcieren, ohne dabei auf Profitabilität zu optimieren. Bestes Beispiel: UBER. Das Unternehmen ist seit zehn Jahren am Start und besitzt ein steiles Umsatzwachstum, ist selbst aber noch nie profitabel gewesen und führt dennoch zu einer Post-IPO-Unternehmensbewertung von 80 Milliarden Dollar [2]. Keiner weiß genau, ob sich dieses Skalierungs-Vorgehen eines Tages rechnet, aber eines ist klar: Dieses Denken ist meiner Erfahrung nach oft sehr schwierig vereinbar mit dem Mindset eines EBIT-getriebenen Managers eines Mittelständlers. Unternehmen sollten das Thema digitales Neugeschäft auf verschiedene Weise angehen die Inkubation neuer Geschäftsmodelle bzw. das Company Building ist etwa ein Teil des Ganzen. Bevor ich auf die kritischen Erfolgsfaktoren für dieses Vorhaben eingehe, möchte ich das komplette Spektrum des Corporate Venturing nachfolgend auf Basis eines Frameworks aufzeigen, welches sich mit der Frage beschäftigt, ob die vorhandenen Assets (Produkte, Technologien, Geschäftsmodelle, Patente) vom Mutterunternehmen „intern“ oder „extern“ kontrolliert werden [3]. Research & Development: Intern – Intern Dieses Corporate-Venturing-Vorhaben startet intern mit der Recherche bzw. Forschung und bleibt mit der Entwicklung auch intern. Gemeint ist damit: Die Entwicklung von Patenten, Business Plänen und Forschungsergebnissen führt im Erfolgsfall wiederum zu Pro-

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dukten und neuen Geschäftsmodellen, die dem Unternehmen helfen, sich selbst zu disruptieren. Incubation/Company Building: Intern – Extern Im Gegensatz zum gerade beschriebenen R&D bleibt die Forschung und die Entwicklung zwar intern, das Endergebnis – also die Gründung eines neuen Unternehmens – ist aber extern. Hierbei erfolgt die Gründung auch häufig mit externen Unternehmern, die die Leitung dieses Startups übernehmen und auch über Anteile entsprechend incentiviert werden. Dadurch, dass das Mutterunternehmen als Inkubator maßgeblichen Anteil an der Gründung des Startups hat, besitzt es meist ähnlich viele Shares wie üblicherweise Startup-­ Gründerteams. Um für Venture-Capital-Investoren ein attraktives Target darzustellen, muss der Cap Table – also die Darstellung der Besitzverhältnisse des Unternehmens – möglichst neutral sein. Das bedeutet, der Company Builder muss bereit sein, ab einem bestimmten Zeitpunkt seine Anteile in einem gewissen Maß zu verwässern, um für externe Investoren attraktiv zu sein. Sonst bleibt es eine Tochtergesellschaft eines Mittelständlers und dadurch wird es fast unmöglich, externes Venture Capital zu gewinnen. Accelerator: Extern – Intern – Extern Ein Accelerator ist ein gutes Beispiel für externe Innovation, denn die Startups werden unabhängig auf der grünen Wiese „geboren“ und bewerben sich bei einem bestehenden Unternehmen für ein zeitlich begrenztes Programm, dass nicht nur eine finanzielle Förderung beinhaltet, sondern auch Dinge wie Mentoring, Networking, Rechtsberatung oder technische Unterstützung. Somit entstehen die Assets zunächst außerhalb, wandern während des Programms innerhalb des Mutterunternehmens und verlassen es am Ende wieder nach außen. Durch die Bereitstellung eines Seed-Investments und des Acceleratoren-Programms erhält das Unternehmen oft Anteile am Startup, aber die Kontrolle bleibt in externen Händen, nämlich denen der Gründer. Venture-Capital: Extern – Extern Bein Investments in Startups hat man als Unternehmen so gut wie keinen Einfluss auf die Entwicklung, da es sich im Venture-Capital-Bereich um Minderheitsbeteiligungen handelt und demnach ist der Rückfluss an Learnings ins eigene Kerngeschäft auch stark limitiert. Das Unternehmen investiert dabei in ein bereits gegründetes Startup und bleibt bis zum Exit beteiligt. Dadurch bleibt die Kontrolle in beiden Fällen extern. Ein wichtiger Hinweis: Der Venture-Capital-Markt ist derzeit sehr aggressiv und Mega-­ Funds wie zum Beispiel von Softbank spülen in Finanzierungsrunden extrem viel Geld in den Markt, was es Mitbewerbern mit guten Teams, guter Idee etc. fast unmöglich macht, Marktanteile zu gewinnen. Nur als dominanter Marktführer habe ich eine Chance, meinen Kundenzugang eines Tages zu monetarisieren – „the winner takes it all“.

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Was dennoch für dieses Modell spricht, ist die Tatsache, dass das Unternehmen durch ein Venture-Capital-Investment viel lernen kann. Es bringt sie auf die Investoren-Seite. Diese Learnings helfen wiederum später dabei, eigene Startups durch einen Inkubator oder Accelerator zu fördern und „richtig“ für den Venture-Capitel-Markt aufzustellen. Mergers & Acquisitions: Extern – Intern Während das R&D-Modell ein bewährtes Vorhaben ist, um interne Innovation zu fördern, sorgt das M&A-Modell dafür, externe Innovationen in das Mutterunternehmen zu bringen. Hierbei werden Startups oder Unternehmen mehrheitlich aufgekauft und in die bestehende Firmenstruktur eingegliedert oder angedockt. Somit entstand die Innovation extern, durch den Kauf wird sie aber intern.

3.4

Sieben kritische Erfolgsfaktoren für das Company Building

Den größten Einfluss auf die ganzheitliche Digitalisierung hat die erfolgreiche Inkubation neuer Geschäftsmodelle. Die anderen Formen des Corporate Venturing stellen auch sinnvolle Optionen dar; aber im Erfolgsfall kann der Aufbau eines komplett neuen digitalen Geschäftsmodells abseits der Kernorganisation, aber im gleichen Marktumfeld, potenziell das gesamte Unternehmen in eine neue erfolgreiche Ära führen. Basierend auf meinen Erfahrungen und Ergebnissen der letzten Jahre, haben sich insgesamt sieben Faktoren herauskristallisiert, die für den Erfolg des Company Buildings essenziell sind und unbedingt im Vorfeld geklärt werden müssen.

3.4.1 Klare und eindeutige Governance Bereits das Setup ist beim Company Building extrem wichtig. Da man hier ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Startup innerhalb eines Unternehmens gründet, ist die Planung einer gesellschaftsrechtlichen Trennung frühzeitig notwendig. So ist nicht nur das Unternehmen nach Anteilen klar an die jeweiligen Protagonisten aufgeteilt, sondern es wird u. a. auch bei folgenden Investitionsrunden leichter für Venture-Capital-Investoren zu investieren, wenn die Bedingungen marktüblich sind. Ebenfalls notwendig: Eine klare Rollenaufteilung. Es sollte beispielsweise geklärt werden, welche Organisation welche Aufgaben übernimmt, bis wohin das Startup selbst ­agieren darf und wer die Entscheidungen über das nächste Funding trifft. Das Führungsteam sollte dabei aus mindestens einem starken CEO und – bei einem Geschäftsmodell mit Technologie-Schwerpunkt – zusätzlich aus einem exzellenten CTO bestehen. In Sachen Unabhängigkeit gibt es per se keine einheitliche Empfehlung, aber je weniger Vorgaben das Startup einschränken, desto besser. Im Falle von About You wählte man eine größtmögliche Unabhängigkeit, doch zunächst wurde das Inventar von Otto benutzt,

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um schlank zu starten. So eine Verbindung macht im Company Building definitiv Sinn, dennoch sollte man sehr stark darauf achten, dass das New Venture nicht bloß eine weitere Konzerntochter ist, sondern sämtliche Wege neu bestreiten darf. Auch die Einrichtung eines Advisory Boards ist notwendig, das als Moderator zwischen den Eigentümern (alte Welt) sowie den Gründern (neue Welt) fungiert. Später kann das Board dann erweitert werden um Branchenexperten und Investorenvertretern. Es unterstützt bei der Führung und kann Entscheidungen in einem schlanken Prozess auch teilweise alleine bzw. gemeinsam mit dem Gründerteam treffen.

3.4.2 Das richtige Mindset Während die eindeutige Governance ein recht formaler Vorgang ist, braucht es dennoch auch die richtige Vision und das richtige Mindset, damit das New Venture erfolgreich wird. So banal es klingen mag, aber alle beteiligten Personen müssen verstehen, was es bedeutet, ein digitales Neugeschäft selbst aufzubauen. Startups funktionieren und arbeiten anders als Mittelständler und Konzerne. Sie sind durch die schlanke Struktur deutlich wendiger in der Exekution und benötigen hierbei auch eine entsprechende Freiheit bei der Umsetzung. Auch der Venture-Capital-Markt tickt anders als das Marktumfeld eines klassischen Mittelständlers. Die Ziel-KPIs sind oftmals komplett andere und die Wachstumsgeschwindigkeit kann wesentlich wichtiger sein als die Profitabilität. Jedes digitale Geschäftsmodell hat seine eigenen spezifischen Kennzahlen (Unit Economics), die man zunächst verstehen sollte, bevor man über den Erfolg urteilt. Hierbei ist ein diverses Board hilfreich, das im Idealfall aus Mitgliedern aus der Startup-­ Welt und erfahrenen Venture-Capital-Investoren besteht. Das Board von About You in der Otto Group ist hier ein gutes Beispiel: Personen wie Christian Leybold von Eventures und Florian Heinemann von Project A brachten die Erfahrungen aus beiden Welten mit in das Unternehmen.

3.4.3 Talent Wie schon mehrfach angesprochen: Ein Startup funktioniert anders, als ein mittelständisches Unternehmen. Aus diesem Grund braucht man für die Umsetzung eines New Ventures die passenden und talentierten Leute, um das Schiff auf Erfolgskurs zu bringen. ­Gerade als alteingesessenes Unternehmen ist es besonders schwer, digitale Talente an Bord zu holen. Dabei kann eine Ausgründung helfen, um mit einer eigenen Identität eine Anziehungskraft für die richtigen Mitarbeiter zu schaffen, die den notwendigen „entrepreneurial spirit“ mitbringen. In der heutigen Zeit bedeutet das: Man braucht die Visionen eines starken Gründerteams, das die Vision vorlebt und dadurch auch neue Leute anzieht und das bestehende Team bei sich hält.

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Zudem empfiehlt es sich bei den Gründern auf Co-Founder zu setzen, die nicht nur Lust haben, die Welt zu verändern, sondern auch bereit sind, durch ein eigenes Investment das unternehmerische Risiko  – mit einer Wahrscheinlichkeit zu scheitern von 80  Prozent  – mitzutragen. So aufgestellt, sichert man sich automatisch einen Teil der Unabhängigkeit des New Ventures durch seine Gründer.

3.4.4 Unabhängigkeit vom Kerngeschäftsmodell Damit das digitale Neugeschäft den größtmöglichen Impact erzielen kann, darf das Kerngeschäft des Unternehmens das New Venture nicht einschränken. Beispielsweise wäre es fatal, wenn Restriktionen hinsichtlich Angebot, Zielgruppe oder der Operations existieren. Zudem muss dem Mutterunternehmen klar sein, dass man sich durch das New Venture durchaus auch einen eigenen neuen Konkurrenten baut, der den Markt belebt oder sogar die gleiche Zielgruppe anspricht. Ein gutes Beispiel ist hier Mercedes, das als Automobilhersteller das Ziel hat, viele Autos zu verkaufen. Aber zu ihnen gehört auch Car2Go, die wiederum das Ziel haben, dass sich die Menschen weniger Autos kaufen und Carsharing nutzen. Das ist für mich ein Paradebeispiel für die Unabhängigkeit eines New Ventures vom Kerngeschäftsmodell.

3.4.5 Rückendeckung von der Geschäftsführung Voraussetzung für den Erfolg des neuen Startups ist definitiv auch eine starke Rückendeckung für die handelnden Personen vom Vorstand und/oder von der Geschäftsführung sowie teilweise auch den Inhabern des Ursprungsunternehmens. Bei Mittelständlern ist dies besonders erfolgversprechend, wenn die Inhaber(-Familie) die Initiatoren sind. Hierbei sehe ich die Mittelständler auch im Vorteil gegenüber den großen Konzernen, denn Entscheidungen können schnell und pragmatisch getroffen sowie mit aller Konsequenz durchgeführt werden, ohne konzernpolitische Spielchen. Nur wenn die Geschäftsführung bzw. der Vorstand den Aufbau des digitalen Neugeschäfts wirklich – und damit meine ich den vollen Support über sämtliche unternehmensrelevanten Bereiche hinweg – unterstützt, nur dann gibt es überhaupt die Aussicht auf Erfolg. Steht jemand jedoch mit dem Fuß auf der Bremse, so sollte klar sein, dass das New Venture niemals an Fahrt aufnehmen kann.

3.4.6 Große, ambitionierte Ziele und ausreichend Budget Ich habe zum ersten Mal im Buch „Scaling Up“ [4] von Verne Harnish von einem mehr als interessanten Konzept gelesen: BHAG (gesprochen: Beehäg). BHAG ist die Abkürzung für „Big Hairy Audacious Goal“, zu Deutsch etwa große, kühne, ehrgeizige Ziele. Die

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Mondmission der NASA war ein klassisches BHAG. Vergleichbar ist das Ganze mit den Flugtaxis heutzutage. Oder mit der Vision von Elon Musk, der die Menschheit auf den Mars bringen will. Dabei hilft es aber nicht allein, nur groß zu denken und zu versuchen, das Problem einer ganzen Branche zu knacken. Wenn ich ein Unternehmen bin und 500 Millionen Euro Umsatz pro Jahr mache, sollte mein Anspruch sein, dass ich durch das New Venture ein neues Geschäftsfeld erschließe, das mir ebenfalls 500 Millionen Euro oder mehr einbringen kann und die Kraft hat, mein Unternehmen ins neue Zeitalter zu verhelfen. Bei der Otto Group war es About You, dass durch ein versprochenes Investment in Höhe von mehr als 250 Millionen Euro und den richtigen Leuten wie Tarek Müller und Sebastian Betz nach Otto.de und BonPrix zur drittgrößten Konzernbeteiligung aufsteigen konnte. Hätte man das Ganze nebenbei angeschoben und in reinen Konzernstrukturen ausgeführt, wäre es niemals abgehoben. Auch Car2Go (Daimler) und DriveNow (BMW) zeigen, dass das Company Building mit genügend Fokus und Willen klappen kann. Beide Services gehen zukünftig in dem übergeordneten SHARE NOW auf.

3.4.7 Transfer/Learnings für den Core nutzen Ein New Venture ist auch immer eine Chance für die Kernorganisation, Learnings und neue Technologien aufzunehmen, um sich selbst zukunftstauglich zu machen. Dieser Wissenstransfer muss ebenfalls strukturiert sein, um die bestmöglichen Spill-over-Effekte zu gewährleisten. Hierbei muss auch die Erwartungshaltung gegenüber dem New Venture klar sein. So darf man nicht davon ausgehen, dass der Co-Founder des neuen Startups automatisch Zeit einplant, um auch noch das Kerngeschäft des Unternehmens zu transformieren oder dafür zu sorgen, dass die alteingesessenen Mitarbeiter digitaler werden. In einer idealen Welt sollen die Learnings des New Ventures neue Rückschlüsse für die Kernorganisation bringen, ohne dass sie etwas beim New Venture aufhalten. Ein Beispiel: About You hat seine komplette Technologie von Grund auf alleine und losgelöst von der Kernorganisation entwickelt, welche heute exzellent funktioniert und schnelles Wachstum ermöglicht. Nun liegt es sehr nah, dass auch die Otto-Töchter diese neue Technologie und auch weitere technische Errungenschaften der Zukunft für sich einsetzen werden. Wichtig ist dabei ein klar definierter Prozess, der weder die Kernorganisation, noch das Startup behindert.

3.5

Fazit

Die Digitalisierung ist bereits in vollem Gange und definitiv nicht aufzuhalten. Für jedes Unternehmen – ganz egal welcher Größe – bedeutet das: Ärmel hochkrempeln und mit der Arbeit anfangen. Der Aufbau eines digitalen Neugeschäfts wie About You bei der Otto

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Group bietet ein immenses Potenzial, das eigene existierende Geschäftsmodell im Zuge der Digitalisierung zu disruptieren. Damit das für ein Unternehmen klappt, braucht es nicht nur die Rückendeckung und den Aufbruchswillen der Geschäftsführung/Inhaber, sondern auch ambitionierte Ziele, Budget und die richtigen Leute für die Umsetzung, sowohl innerhalb des New Ventures, als auch im Board. Dieses sollte immer aus Digital-Unternehmern und Venture-Capital-­ Investoren bestehen. Die Digitalisierung ist eine große Chance und bietet im Bereich Corporate Venturing neue Möglichkeiten, die alte Welt mit der digitalen Zukunft bestmöglich zu verknüpfen.

Literatur 1. Wildcat Venture Partners. (2011). Why 80% of all startups fail, and what you can do to succeed. https://medium.com/wildcat-venture-partners/why-80-of-all-startups-fail-and-what-you-can-doto-succeed-6a1ca11e3b79. Zugegriffen am 17.07.2019. 2. Newcomer, E., & Zaleski, O. (2019). Uber aims for $84 billion valuation in year’s largest IPO.  Bloomberg. https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-04-26/uber-seeks-to-raise-asmuch-as-9-billion-in-year-s-largest-ipo. Zugegriffen am 17.07.2019. 3. Lenet, S. (2017). Analyzing the spectrum of corporate innovation from R&D to VC. https://techcrunch.com/2017/04/21/analyzing-the-spectrum-of-corporate-innovation-from-rd-to-vc/. Zugegriffen am 17.07.2019. 4. Harnish, V., Ladanyi, N., & Chromik, R. (2016). Scaling Up Skalieren auch Sie! Weshalb es einige Unternehmen packen… und warum andere stranden. München: ScaleUp Institut.

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„Venture Capital und Company Building als Antriebsmittel der digitalen Transformation“ Interview mit Dr. Florian Resatsch, zu der Zeit Chief Marketing Officer (CMO) der Viessmann Gruppe und Chief Executive Officer (CEO) von VC/O Florian Resatsch Harald R. Fortmann: Stellen Sie Ihr Unternehmen bitte kurz vor. Was ist Ihr Kerngeschäft und inwiefern hat sich dieses im Laufe der Zeit gewandelt bzw. erweitert? Dr. Florian Resatsch: Viessmann hat derzeit rund 12.000 Mitarbeiter in 74 Märkten und bietet im Kern Klimalösungen an. Der Hauptumsatz wird nach wie vor mit Heizsystemen für Privathaushalte, gefolgt von Heizsystemen für gewerbliche Immobilien generiert. Dazu gibt es zwei weitere Geschäftsbereiche, die man oftmals nicht mit Viessmann verbindet. Zum einen Industrie Systeme, dort baut Viessmann Wärmekraftwerke oder Biogasanlagen und zum anderen den Bereich Refrigeration, also, Kühlsysteme wie man sie z.  B. in den Supermärkten oder auch in Imbissen sieht. Es gibt weitere Bereiche wie Lüftungen oder Fotovoltaik. Am Ende wollen wir bei Viessmann alles aus einer Hand anbieten, was man im Haus braucht, um Lösungen für möglichst intelligentes Energiemanagement zu betreiben. Das ist klar unser Fokus und unser Kerngeschäft. Mittlerweile werden der Fokus bzw. die Produktentwicklung durch die Märkte getrieben. Die Energiewende ist für uns nachfrageseitig spürbar, es werden von uns Komplettlösungen erwartet. Wenn jemand heute einen Tesla kauft, braucht er eine Batterie. Wenn man eine Photovoltaikanlage hat, benötigt man ebenfalls einen Stromspeicher, denn man muss die Option haben, das Fahrzeug auch dann zu laden, wenn die Sonne nicht scheint. Genau eine solche Gesamtlösung wollen wir in Zukunft ebenfalls anbieten. Das Ganze muss auf einer technologischen Basis aufgebaut werden, die eben vor drei Jahren noch nicht so da war. Alles im Haus ist konnektiert, um Dienstleistungen unsererseits zu ermögF. Resatsch (*) finleap GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_4

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lichen. Aber auch, um neue Geschäftsmodelle rund um diese neuen Möglichkeiten zu entwickeln. Auch neu ist, dass wir unsere Anlagen mittlerweile im „As a Service“ Modell, also wie Leasingfinanzierung anbieten; hier können auch Wartungspakete und weitere Dienstleistungen hinzugenommen werden. Das Kerngeschäft heute ist noch klar auf die Herstellung und den Vertrieb unserer Anlagen fokussiert. Perspektivisch jedoch werden wir alles aus einer Hand für unsere Kunden anbieten: vom Energie Cockpit über Finanzierungsdienstleistungen bis hin zu Heizkostensparmodellen. Die Anlagen sind der Kern des Angebotes und passende Services werden ergänzend angeboten. Dieser Wandel ist klar getrieben durch die Digitalisierung. Unser Vertriebsmodell ist Business-to-Business-to-Consumer (B2B2C), sprich wir verkaufen ausschließlich an den Installateur, der wiederum die Anlage beim Endkunden, privat oder gewerblich, einbaut. Der deutsche Markt ist hier zudem einzigartig im Vergleich zu unseren anderen 73 Märkten. In Deutschland ist alles eher starr. Zudem haben wir eine absolute Knappheit an Heizungsinstallateuren  – getrieben vom Fachkräftemangel, dem Mangel an Nachwuchs und einer starken Nachfrage durch die nach wie vor stark boomende Baubranche. Im Ausland ist es anders. Hier gibt es zum Teil deutlich mehr Handwerker, aber eben auch viele, die unter Umständen schlechtere Qualität aufgrund anderer Ausbildungen liefern. Harald R. Fortmann: Der Hauptsitz des Unternehmens ist am Standort Allendorf, bei Marburg an der Lahn. Wie wichtig war es, dass Sie die digitalen Bereiche in Berlin angesiedelt haben? Dr. Florian Resatsch: Wir sitzen in 74 Märkten an den unterschiedlichsten Standorten. Daher ist Berlin auch ein Standort wie jeder andere in der Gruppe. Es gibt aber Fähigkeiten, die im Unternehmen benötigt wurden, die wir nicht am Stammsitz in Allendorf oder zumindest nicht in einer gewissen Zeit bekommen hätten. Nehmen wir das einfache Beispiel Performance Marketing. In Berlin haben wir eine Chance, schnell gute Leute für uns zu begeistern und zu gewinnen. Es hätte auch eine andere „digitale Metropolen“ wie Hamburg werden können. In Breslau haben wir z. B. Entwickler sitzen. Wir verstehen es mit Remote Offices zu arbeiten  – also gehen wir da hin, wo wir die besten Talente für uns gewinnen können. Keinesfalls geht es aber darum, dass es Berlin wurde, weil es hip ist oder um ein Lab oder eine Garage zu starten, weil sich das so für einen Mittelständler, zumindest laut der Wirtschaftspresse, gehört. Ich selbst habe den Bereich also mit zwei ehemaligen Kollegen von Ströer aufgebaut und wir hatten weder einen Titel noch eine vorher klar definierte Aufgabe. Ich bin zunächst in der Organisation umhergewandelt, um zu verstehen, wo unsere Schwerpunkte derzeit sind. Was wir tun müssen, um besser zu werden Daraufhin haben wir angefangen Performance Marketing und erweitert Content Marketing aufzubauen und zu betreiben. Anschließend haben wir es um SEO erweitert und letztlich hatte ich hier ein Team von 15

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Leuten, die sich um Digital Marketing gemeinsam mit den Kollegen aus dem klassischen Marketing im Konzern kümmern. Wir haben dann festgestellt, dass es aus Berlin heraus für die Gruppe sehr gut funktioniert und haben dann weitere Funktionen, wie z. B. das Recruiting, am Standort aufgebaut. Hinzu kam dann im Verlauf noch der Bereich Corporate Venture Development, sprich Innovationen zu verfolgen, die nicht Teil des Kerngeschäftes sind. Harald R. Fortmann: Woher stammt der Impuls der digitalen Transformation? Gab es eine ad-hoc Schlüsselsituation oder eine langjährige Planung? Dr. Florian Resatsch: Viessmann steht für Qualität. Martin Viessmann steht für Null Fehlertoleranz. Das ist die Historie der Marke – dafür steht der Familienname auf den Geräten. Daher war sich Martin Viessmann bewusst, dass es schwierig ist, wenn er jetzt die Digitalisierung einläutet und zur Fehlerkultur aufruft. Daher ist parallel sein Sohn, Max Viessmann, ins Unternehmen gekommen. Es standen wegweisende Entscheidungen an. Sollte Cloud-Computing bei einer Heizungsanlage ein Thema spielen? Welche technischen Einrichtungen für die Connectivity muss ich in Anlagen in der Zukunft einbauen? Das sind ja Entscheidungen, die erst mal in solch einer Firma diskutiert werden müssen. Daher war es wichtig und richtig, dass Max Viessmann, zunächst als Chief Digital Officer (CDO) zu diesem Zeitpunkt ins Unternehmen gekommen ist. Der Startschuss zur digitalen Transformation kam somit definitiv von Max, aber mit dem Support der kompletten Familie. Harald R. Fortmann: Wie werden die Mitarbeiter zum Wandel motiviert? Wie wird die Akzeptanz gefördert und das Mindset entsprechend gesetzt? Dr. Florian Resatsch: Transparenz und Kommunikation sind hier die Grundlage für die digitale Transformation. Vi2Go ist eine interne App, die mittlerweile von 9200 Mitarbeitern bei Viessmann aktiv pro Monat genutzt wird, pro Tag besuchen 4000 Mitarbeiter die App. In der App gibt es z. B. das Succeed Programm. Das ist unser Transformationsprogramm. Da können sich Mitarbeiter zu Purpose, Vision und Strategie des Programms informieren und sich die Erfolgsfaktoren anschauen. Für uns ist es völlig normal so zu arbeiten, wir haben es nie anders gemacht. Aber es ist immens wichtig zu kommunizieren, was wir von unseren Mitarbeitern zu Themen wie Transparenz, Alignment, Cross funktionales Arbeiten, Leadership, etc. erwarten. Wir zeigen hier auch unsere Erfolgsgeschichten oder z. B. die Personas, die wir eingeführt haben  – Personas im Sinne von allgemein verständlichen Beschreibungen von stereotypischen Personen – um die Komplexität der Produktentwicklung am Kundennutzen zu optimieren. Hier haben wir z. B. eine Selfie Challenge veranstaltet, bei der die Mitarbeiter sich mit den Personas fotografieren konnten. Wir wollten

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hier spielerisch, aber auch inhaltlich die Identifikation mit diesen Personas ermöglichen und den Mehrwert aufzeigen. Dazu veranstalten wir auch eine Veranstaltung mit dem Titel „State of the World“ in der Kantine in Allendorf, wo sich jeder an einem anderen Standort per Videokonferenz einwählen kann. Hier werden aktuelle Entwicklungen und auch beispielsweise ein Rückblick der Messeaktivität gemacht. Denn nur informierte Mitarbeiter wissen, wie sie das Unternehmen unterstützen können. Harald R. Fortmann: Sprich, ihr nutzt hier verschiedene Medien, um diese Inhalte zu transportieren? Dr. Florian Resatsch: Ja, gerade Bewegtbild. Humor ist hier auch sehr wichtig. Manchmal finde ich auch die Wertschöpfung von Beratungsunternehmen in der digitalen Transformation überschaubar. Unser Team hat mal gemeinsam mit dem gesamten Vorstand aggregiert, was uns verschiedene Beratungen alles vorschlagen haben, was wir alles machen müssten und haben dies dann in einem Video humorvoll dargestellt. Wir produzieren auch Erklärvideos zu unseren Produkten und Innovationen. Das Ganze lässt sich heutzutage in bester Qualität für einen kleinen Preis produzieren und internationalisieren. Harald R. Fortmann: Wie werden passende Mitarbeiter rekrutiert? Dr. Florian Resatsch: Gutes Employer Branding ist der Schlüssel. Ich habe vor einiger Zeit einen Creative Direktor von FischerAppelt abgeworben und einen Content Strategen. Sprich wir haben zwei Köpfe, die sich nur um Content kümmern – das ist Luxus für ein mittelständisches Unternehmen. Wir setzen in der Kommunikation klar auf unser No Ego Standard. Wir sind Persönlichkeiten mit Demut und eben nicht das Startup „mit den dicksten Eiern“. Wir kommunizieren also weniger eine übertriebene Selbstdarstellung, sondern die Botschaft, dass wir gemeinsam etwas Gutes und Nachhaltiges erreichen wollen ohne die Bodenständigkeit dabei zu verlieren. Vor zwei, drei Jahren war Viessmann ein Mittelständler, den bspw. Im Bereiche digitales Marketing kaum einer kannte. Mittlerweile haben wir eine starke emotionale Employer Brand. Wir haben hart daran gearbeitet und ehrlicherweise hat Berlin als Standort auch dabei geholfen. Aber den Bogen von einer modernen Darstellung hin zum klassischen Arbeitsablauf zu schlagen, ist auch nicht so einfach. Dazu gab auch eine Out-of-Home-Kampagne. Harald R. Fortmann: Und wenn die Mitarbeiter bei Ihnen anfangen, spüren Sie dann auch den digitalen Wandel des Unternehmens? Dr. Florian Resatsch: Absolut. Jeder kann z. B. in Berlin arbeiten. Und da wir als Unternehmen darauf achten, im Einklang mit der Umwelt zu arbeiten und wirtschaftlich mit Reisekosten umzu-

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gehen, haben wir z. B. auf die Google Suite umgestellt. In jedem Konferenzraum ist ein Google Hangout, als deren Videokonferenztool, möglich. Das gesamte Unternehmen wurde nach und nach komplett auf die Google Produkte umgestellt. Pro Tag gab es absurde 50.000 neue Dokumente, die wir erstellt haben. Kopien von Kopien, die Versionen Bronze, Silber und Gold. Die Umstellung hat uns geholfen, weniger und auffindbare Dokumente zu erstellen. Harald R. Fortmann: Wie werden die Digitaleinheiten gesteuert? Chief Digital Officer (CDO) versus Digital Transformation Manager? Dr. Florian Resatsch: Wir haben auch einen CDO, der sich um Themen wie New Work kümmert. Aber: Die digitale Transformation muss auf den Schultern der Führungskräfte verteilt sein. Jeder hat in seinem Bereich Aufgaben; der Chief Sales Officer (CSO) beispielsweise hat digitale Transformationsaufgaben, die auch einfach bei ihm liegen müssen. So ist jeder „C-Level“ gefragt alles zu tun im Sinne der Transformation. Harald R. Fortmann: Was sind die Grundvoraussetzungen für die digitale Transformation? Was sind die First Steps, um das Unternehmen vorzubereiten? Dr. Florian Resatsch: Anfangs haben wir überlegt, welche die Ökosysteme sind, die heute funktionieren. Und eigentlich ist das beste Beispiel, das von Apple. Hier funktionieren alle Produkte harmonisch miteinander – im Sinne des Kunden. Die AirPods laufen auf dem iPad genauso wie auf dem Telefon. Unsere Grundlogik ist immer, dass wir ein Produkt als Basis haben. Wir haben Wärmepumpen Brennstoffzellen, ein Gaswandgerät oder einen Stromspeicher. Damit verdient das Unternehmen Geld. Die Herausforderung ist aber, dass man eine Plattformebene benötigt. Das wäre bei der Apple Analogie das iOS System. Bei uns ist es dann wibutler, unser Climate OS. So können wir Predictive Maintenance anbieten bzw. Fehler melden, wenn sie passieren. Dann gibt es die normalen digitalen Services, also in der Apple Analogie die Apps. Diese können auch von Drittanbietern kommen. Die Apps sind bei uns z. B. für den Endkunden ViCare – mit u. a. einer Dashboard Darstellung – oder für den Heizungsbauer Vitoguide. Da kann der Heizungsbauer sich auf eine Heizung einloggen und prüfen, was für den nächsten Wartungszyklus an Arbeiten anfällt. Dann gibt es, um bei der Analogie zu bleiben, auch Apple Services. Hier haben wir z. B. gerade mit dem HDI eine gemeinsame Police für das Smart Home entworfen. Und so hat man ein quasi digitales Ökosystem geschaffen, was für den Vertrieb weg von dem reinen Produkt ist und weitere Cross-­Selling-­ Ansätze bietet. Harald R. Fortmann:

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Viessmann hat multiple Unternehmen im Rahmen der digitalen Transformation gegründet. Können Sie uns ein wenig mehr über WATTx, Vito Ventures, Vito One und Maschinenraum berichten? Dr. Florian Resatsch: Der Kern ist der so genannte Maschinenraum. Das ist zunächst erst einmal nur ein physischer Ort mit 4500 Quadratmeter in Berlin. Coworking Spaces für den Mittelstand sind nur bedingt attraktiv. Sie brauchen, um erfolgreich zu sein, das Netzwerk untereinander. Der Maschinenraum greift genau da ein, wo WeWork & Co. nicht funktionieren. Wir bespielen hier die Fläche konzeptionell mit verschiedensten Themen, sodass man Mittelständler „Digital Business-ready“ macht. Den Maschinenraum gibt es erst mal nur in Berlin, aber andere Städte sind geplant, wie z. B. Frankfurt. Wir haben auch Räume in der Auguststraße in Berlin angemietet – der sogenannte Living Space. Hier führen wir beauftragte User Research durch. Im Gegensatz zu den klassischen User Research Unternehmen, die immer die gleichen 100 Leute befragen, kann man bei uns Produkte in den Living Space einstellen und einfach Passanten reinbitten und befragen. Wir sind klar keine Unternehmensberatung, wir sind ein Austauschformat. Wir füllen das, was wir „Strategy Execution Gap“ nennen. Also die Lücke zwischen den Folien, die die Beratungshäuser bauen, und dem letztendlichen Produkt für den Kunden. Innerhalb dieses Kontext gibt es dann noch WATTx als Servicedienstleister für uns selbst aber eben auch für anderen Unternehmen – Company Building as a Service. Von der Produkt- bzw. MVP Entwicklung über Designdienstleistungen wie User Experience (UX) und User Interface Design (UI), bis zu Beratung und Umsetzung kann hier alles übernommen werden. Das wollen wir über Maschinenraum auch anbieten. Sprich, ein Unternehmen kann zu uns kommen, wir bauen eine Abteilung oder ein Thema auf und das Unternehmen kann dann in Ruhe eigene Mitarbeiter suchen, die dann angelernt werden bevor das Projekt anschließend übergeben wird. Dazu haben wir auch verschiedene Investments. Harald R. Fortmann: Woher stammt die Inspiration für neue Geschäftsfelder? Was ist die Informationsquelle für neue technologische Entwicklungen? Dr. Florian Resatsch: Neue technologische Entwicklungen oder Produkte kommen immer von abseits des Kerngeschäftes, also in unseren unterschiedlichen Digitaleinheiten. So ist etwa der Digitale Förderprofi entstanden. Es gibt unglaublich viele Förderungsprogramme, gerade für Brennstoffzellen. Für normale Endkunden ist es jedoch völlig unmöglich diese durchzusehen oder gar zu verstehen. Das Winterpaket der EU-Kommission hat alleine z. B. über 4000 Seiten. Das heißt, wir helfen hier dem Kunden, eine Förderung zu bekommen und bieten zeitgleich die komplette Abwicklung dazu. Das ist ähnlich wie unser „Heating as a Service“ Produkt ­entstanden, nämlich im Venture Development, einer Abteilung außerhalb des Kerngeschäftes. Das Team in Berlin hat sich hier überlegt, wie man das Kerngeschäft unterstützen

4  „Venture Capital und Company Building als Antriebsmittel der digitalen …

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kann und der Digitale Förderprofi war dann das Ergebnis. Wenn solch ein Produkt aufgebaut ist, funktioniert und erste relevante Umsätze erwirtschaftet, dann wird es wieder ins Kerngeschäft zurück transferiert. Daran sieht man, dass die Transformation von außen gestartet, aber dann wieder ins Kerngeschäft integriert wird.

[Zusammenfassung] Digitale Transformation gelingt einem Unternehmen nur, wenn es von außen nach innen und ohne Rücksicht auf Historie arbeitet. Stets den Blick auf den Kunden haben, gepaart mit Prozessen, die neue Produkte und Dienstleistungen entlang des Kerngeschäftes ermöglichen, ist der Schlüssel zum Erfolg. Intern gelingt diese Transformation nur dann, wenn man Mitarbeiter motivieren kann. Dies geschieht vor allem durch Kommunikation und Transparenz, damit jeder im Unternehmen die Chance hat, sich über die Strategie zu informieren und diese auch verstehen kann. Viessmann hat eindrucksvoll bewiesen wie digitale Transformation gelingt und bietet seine Dienstleistungen nun auch anderen Mittelständlern an. So können aus den eigenen Fehlern und Erfahrungen gelernt diese bei Dritten vermieden werden. Ein aussichtsreicher Startpunkt für jedes mittelständische Unternehmen, welches sich aufmacht die digitale Transformation zu meistern.

Teil II Basics der digitalen Transformation

5

Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen Transformation Stephan Biallas und Yilmaz Alan

5.1

 ie aktuelle Herausforderung der Digitalen Transformation D für den Mittelstand

Digitalisierung hat eine unmittelbare Auswirkung auf das Geschäfts- und Betriebsmodell von nahezu allen Unternehmen. Die Ursachen für diese fundamentale Veränderung liegen im Wandel auf drei Ebenen: • Gesellschaftlicher Wandel: Digitalisierung ist zu einem wesentlichen Element der gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Sie nimmt zunehmend Einfluss auf das Kommunikations- und Konsumverhalten. So ist die Erwartungshaltung von Konsumenten an Produkte stark von Anforderungen an digitale Funktionen und einem entsprechenden Kundenerlebnis geprägt. • Ökonomischer Wandel: Etablierte Unternehmen und Branchen wurden mit der Digitalisierung einem hohen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. In mehreren Branchen haben beispielsweise Plattformbetreiber, deren Mehrwert in der sehr effizienten Allokation von Angebot und Nachfrage liegt, etablierten Unternehmen den unmittelbaren Kundenkontakt „abgenommen“. Mit diesen neuen Geschäftsmodellen gehen einerseits Chancen und Risiken für Unternehmen einher. Andererseits werden Unternehmensformen und Branchengrenzen durch diesen Trend verändert.

S. Biallas Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] Y. Alan (*) Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_5

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S. Biallas und Y. Alan

• Technologischer Wandel: Zu einem großen Teil ist die Realisierbarkeit von digitalen Geschäftsmodellen mit der Umsetzungsreife von disruptiven Technologien verbunden. Mit der Fähigkeit, durch künstliche Intelligenz, große und unstrukturierte Datenmengen in Echtzeit analysieren und autonome Handlungen durch Maschinen auslösen zu können, eröffnen sich immense Potenziale. In Kombination mit weiteren Technologien wie 5G und Internet of Things werden in naher Zukunft Geschäftsprozesse realisierbar sein, die heutzutage nur als Konzepte vorliegen. Auch der deutsche Mittelstand ist von diesem Wandel in hohem Maße betroffen. In der Studie „Digitale Transformation 2018“ der EY-Tochter etventure [1] wurde „Digitale Transformation“ von Entscheidungsträgern als eine der wichtigsten Prioritäten für das Management mittelständischer Unternehmen genannt. Über die Hälfte der Unternehmen haben in der gleichen Studie angegeben, dass sie nicht gut auf die Digitale Transformation vorbereitet sind. In Anbetracht dieses Gestaltungsbedarfs sehen sich Eigentümer und Geschäftsführer von mittelständischen Unternehmen immer häufiger mit der Frage konfrontiert: „Was bedeutet Digitale Transformation für mein Unternehmen und wie setze ich den richtigen strategischen Kurs und die richtigen Akzente im Thema ‚Digital‘?“. Die Vorbilder von erfolgreichen Startups (die für manche Unternehmen sicherlich auch manchmal Feindbilder sein können), die ganze Branchen, die seit Jahrzehnten erfolgreiche Geschäftsmodelle auf immer mehr Effizienz und Profitabilität getrimmt haben, plötzlich „disruptieren“, führen dazu, dass das eigene Geschäftsmodell auf seine Zukunftsfähigkeit hin hinterfragt wird. Neben den Chancen der Digitalisierung zur weiteren Erhöhung der Effizienz oder der Generierung neuer Umsatzkanäle wird auch das Risiko erkannt, durch neue Wettbewerber verdrängt zu werden. Schlagworte wie „Agilität“, „Prozessautomatisierung“ und „Künstliche Intelligenz“ lassen Zweifel an der digitalen Vision, am digitalen Reifegrad der eigenen Organisation und Unternehmenskultur, an der Prozesseffizienz, der IT und der Verfügbarkeit und Nutzung von Daten aufkommen. Gleichzeitig erleben viele mittelständische Unternehmen, dass die Mitarbeiter sich aktiv mit den neuen digitalen Technologien auseinandersetzen, was zum einen den Druck auf die Eigentümer und Geschäftsführer erhöht, sich mit der „Digitalisierung des Unternehmens“ auseinanderzusetzen und zum anderen oftmals zu einer Vielzahl von digitalen Initiativen und Pilot-Projekten führt, die wie Champions aus dem Boden des Unternehmens schießen. Da viele dieser Initiativen jedoch häufig nicht den gewünschten nachhaltigen Erfolg in puncto Effizienzsteigerung oder umsatzsteigernder neuer Produkte/Services bringen und im schlimmsten Falle zu Mehraufwand und Risiken seitens der Unternehmens-IT führen, kommen viele Unternehmen zu dem Schluss, dass „das Thema Digitale Transformation für unser Unternehmen keine Relevanz hat“. Gerade aber dem Mittelstand kommt aktuell eine zentrale Rolle beim Wandel der Wirtschaft hin zu mehr digitaler Innovationskraft zu, um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft – und damit auch unserer Gesellschaft- im Digitalen Zeitalter gegenüber dem inund ausländischen Wettbewerb sicherzustellen. Aus diesem Grund sind die Autoren

5  Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen …

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bestrebt, eine für den Mittelstand pragmatisch anwendbare Vorgehensweise aufzuzeigen, mit der mittelständische Unternehmen befähigt werden, eine Digitale Strategie bzw. eine sogenannte „Digital Roadmap“ für sich zu erstellen, die sowohl den kurz- als auch die langfristig-strategischen Aspekte der Digitalen Transformation Rechnung trägt.

5.2

Die drei Horizonte der Digitalen Transformation

In der Praxis hat es sich bewährt, wenn sich Unternehmen zunächst die drei unterschiedlichen Horizonte der Digitalen Transformation verdeutlichen, um hieran die Schwerpunkte zu definieren, auf die sich das Unternehmen bei seiner Digitalen Transformation fokussieren möchte. Abbildung Abb. 5.1 zeigt die drei Horizonte der Digitalen Transformation im schematischen Überblick: Das Konzept der drei Horizonte der Digitalisierung basiert auf dem Prinzip von Baghai et al. für die Definition von Innovationsstrategien [2]. Diesem Ansatz zufolge sollten Unternehmen Strategien für den kurz-, mittel- und langfristigen Planungshorizont entwickeln. In dieser ursprünglichen Variante des Modells werden Wertzuwächse für ein Un­ ternehmen durch die kontinuierliche Ablösung von Geschäftsmodellen in Phasen der Stagnation durch Innovationen generiert. Durch diese Ablösung wird eine neue Phase des Wertezuwachses eingeleitet. In dem hier vorgestellten Kontext der Digitalen Transformation sind die Horizonte nicht notwendigerweise aufeinander folgend zu bearbeiten. Digitale Innovationen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Umsetzung von Innovationen vergleichsweise schnell erfolgen kann. Daher muss beispielsweise die Umsetzung von Ideen, die dem dritten Horizont zuzuordnen sind, nicht notwendigerweise einen längeren Vorlauf benötigen als Ideen aus dem zweiten Horizont.

Abb. 5.1  Die 3 Horizonte der Digitalen Transformation

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S. Biallas und Y. Alan

Horizont 1: Verbesserung & Schutz des aktuellen Kerngeschäfts des Unternehmens • Nutzung von digitalen Technologien, um das volle Potenzial des heutigen Geschäftsund Wertschöpfungsmodelles zu heben • Der Fokus liegt hierbei auf der Optimierung der bestehenden Geschäftsprozesse (Kernprozesse und Unterstützungsprozesse) und der inkrementellen Innovation (z. B. durch Automatisierung von internen Prozessen in der Administration oder durch digitale Verbesserung der Produktionsprozesse) • Kurzfristig umsetzbare Maßnahmen mit einem unmittelbaren Return on Investment, um Cashflow freizusetzen, der z. B. zur Finanzierung von Maßnahmen der Horizonte 2 & 3 verwendet werden kann • Frühzeitiges Generieren von sog. „Leuchtturmprojekten“, d. h. von Projekten, die in positiver Art und Weise aufzeigen, wie digitale Maßnahmen funktionieren und wirken können und somit als motivierendes Element beim digitalen Kulturwandel unterstützen können Horizont 2: Erweiterung des heutigen Geschäftsmodells um angrenzende Services/ Produkte unter Nutzung digitaler Technologien/digitaler Geschäftsmodelle • Erweiterung des bestehenden Geschäftsmodells durch digitale Ansätze zur Schaffung von neuen/verbesserten Produkten und Services, die entweder im oder nahe am bestehenden Kerngeschäft liegen • Die Zielsetzung ist dabei oftmals die Verbesserung des Kundennutzens bzw. Nutzens des Geschäftspartners, um neue Umsatzpotenziale/neue Absatzkanäle zu schaffen Horizont 3: Definition und Entwicklung eines neuen (disruptiven/digitalen) Geschäftsmodelles • Auswahl neuer „Digitaler Spielfelder“, auf denen sich das Unternehmen zukünftig betätigen soll und Entwicklung von neuen (disruptiven) Geschäftsideen in diesen „Digitalen Spielfeldern“ • Entscheidung, ob die neuen Geschäftsmodelle über einen ‚build or buy‘– Ansatz, über Beteiligungen oder über ein Venturing entwickelt werden sollen • Oftmals kann gerade bei innovativen Geschäftsideen bzw. der Verwendung von neuen Technologien eine Optimierung der Finanzierung durch die Nutzung von öffentlichen Fördermitteln erreicht werden Die drei Horizonte der digitalen Transformation eignen sich sehr gut als Leitfaden für die Definition einer Digitalstrategie bei mittelständischen Unternehmen, weil sie klare Fokusbereiche vorgeben. Es ist die Aufgabe der zuständigen Unternehmensleitung, eine für die momentane Geschäftssituation adäquate Gewichtung der drei Horizonte vorzunehmen, die für die anstehende Phase der digitalen Transformation gelten soll. Zur Entscheidungsfindung bei der Gewichtung der Fokusbereiche wird das jeweilige Markt- und Wett-

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bewerbsumfeld, sowie der digitale Reifegrad des Unternehmens (vgl. Abschn. 5.3) und die unternehmensstrategische Ausrichtung herangezogen So liegt bei Unternehmen, die sich einem hohen Druck auf die Kosteneffizienz bzw. Profitabilität aufgrund der herrschenden Wettbewerbssituation ausgesetzt sehen, der Fokus zunächst auf dem Horizont 1. In diesem Handlungsbereich wird auf Aktivitäten fokussiert, die kurzfristig zu einem Return on Investment führen und unmittelbaren Business Case aufweisen. In der Regel wird innerhalb des ersten Horizonts insbesondere auf Potenziale zur Automatisierung vorhandener Geschäftsprozesse fokussiert. Der zweite Horizont sieht hingegen den Ausbau des bestehenden Geschäftsmodells mittels digitaler Technologien vor. Hier wird untersucht, in welchen Bereichen des Unternehmens sich Ausbau oder Bündelung von vorhandenen „Assets“ erschließen und neue Umsatzpotenziale aufbauen lassen. Oftmals liegen hierbei Potenziale in der zielgerichteten Analyse von Daten, die bereits heute produziert werden. So kann beispielsweise mit diesen Daten ein Verfahren zur prädiktiven Wartung, der Aufbau eines weiteren, digitalen Vertriebskanals für vorhandene Produkte oder der Ausbau von physischen Produkten um Digitaldienste angegangen werden. Maschinenbauer können somit – neben dem einmaligen Verkaufserlös  – auch wiederkehrende Umsätze durch beispielsweise Monitoring-­ Lösungen anbieten. Ähnlich dazu werden im Konsumgüterbereich Lösungen entwickelt, mit denen Konsumenten neben dem „eigentlichen“ Produkt auch von der Auswertung des persönlichen Nutzungsverhaltens profitieren. Horizont 3 umfasst eine tief greifende Transformation, mit der die höchste Umsetzungskomplexität einhergeht, da in diesem Handlungsbereich an dem Aufbau grundsätzlich neuer Geschäftsmodelle gearbeitet wird. Insofern liegt bei Unternehmen, deren Geschäftsmodell bereits Angriffen von digitalen Wettbewerbern ausgesetzt ist (bspw. klassische E-Commerce Händler, die von plattformbasierten Marktplatzbetreibern angegriffen werden), der Fokus auf diesem Horizont. Diese Gewichtung der Horizonte sollte spätestens alle zwölf Monate einer Überprüfung unterzogen und bei Bedarf neu kalibriert werden, um eine strategisch optimale Ressourcenzuteilung sicherzustellen.

5.3

 er digitale Reifegrad des Unternehmens als Startpunkt der D Digitalen Transformation

Als gutes Hilfsmittel zur richtigen Gewichtung der drei Horizonte der Digitalen Transformation hat sich die Ermittlung des digitalen Reifegrades des Unternehmens erwiesen. Hierbei wird – häufig mit externer Unterstützung – mittels einer strukturierten Datenerhebung der aktuelle Grad der Digitalisierung des Unternehmens entlang verschiedener Dimensionen erhoben und mit dem digitalen Reifegrad vergleichbarer Unternehmen in ­Bezug gesetzt. Zur Bestimmung des Reifegrades des Unternehmens empfiehlt es sich, verschiedene Perspektiven zur Beurteilung heranzuziehen. Nur durch eine Bewertung des

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S. Biallas und Y. Alan

aktuellen Digitalisierungsgrades aus verschiedenen Perspektiven kann gewährleistet werden, dass ein ganzheitlicher und fokussierter Ansatz bei der Definition der Digitalstrategie angesetzt wird. Zudem kann neben der Nutzung interner Informationsquellen auch auf externe Datenbasen zurückgegriffen werden. Im Einzelnen kommen hier die Unternehmensperspektive, die Kundenperspektive und die Marktperspektive zum Einsatz. Bei der Unternehmensperspektive wird der Digital-Reifegrad des Unternehmens zunächst durch Interviews mit dem Management und wesentlichen Stakeholdern bewertet. Üblicherweise werden ca. 10–15 strukturierte Interviews durchgeführt. Die Interviewpartner sollten aus verschiedenen Bereichen des Unternehmens sein, um ein repräsentatives Gesamtbild zu erlangen. Ein weiteres Element der Unternehmensperspektive ist die Beurteilung des aktuellen (Digital-)Projektportfolios. Mit der Bewertung laufender und geplanter Projekte anhand digitalstrategischer Prioritäten wird die Effektivität des Portfolios bewertet. Abschließend kann in gemeinsamen Workshops oder mittels eines digitalen Fragebogens, der an ausgewählte Mitarbeiter versandt wird, ein „Digital Maturity Assessment“ durchgeführt werden (siehe Abb.  5.2). Hierunter ist ein standardisiertes Instrument zu verstehen, das bei der Selbsteinschätzung des Unternehmens anhand relevanter Dimensionen hilft. Die Kundendimension hat eine besondere Bedeutung bei der Bestimmung des digitalen Reifegrads, weil mit ihr eine starke Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kunden des

Abb. 5.2  Beispiel für ein Digital Maturity Assessment

5  Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen …

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Unternehmens einhergeht. Aufgrund der hohen Bedeutung empfiehlt es sich, mehrere unterschiedliche und komplementäre Methoden einzusetzen. Beispielsweise können mit explorativen, persönlichen Kundeninterviews neben einer Einschätzung des Unternehmens aus Kundensicht auch potenzielle Ideen für neue digitale Services und Geschäftsmodelle erhoben werden. Die Marktperspektive bezieht sich auf die Beobachtung von Wettbewerbern, relevanten Start-Ups und der Entwicklung relevanter technologischer Trends. EY stellt beispielsweise Instrumente zur Verfügung, mit denen Beteiligungsverhältnisse von Marktteilnehmern transparent gemacht, Analysen vollzogen und Handlungsempfehlungen abgegeben werden können. Beispielsweise existiert mit dem „EY Trend-Radar“ ein Instrument, das zu strategisch relevanten Trends, Technologien und gesellschaftlichen Entwicklungen einen strukturierten Überblick bietet. Anhand des Trend-Radars können eine objektive Bewertung dieser Entwicklungen und eine Einschätzung der Relevanz für das eigene Unternehmen vorgenommen werden. Ein weiteres Instrument ist EmbrYonic, ein Tool zur Darstellung von Beteiligungsverhältnissen, das u. a. zur zielgerichteten Suche von potenziellen Kaufkandidaten, aber auch zur Analyse von Beteiligungen von Wettbewerbern genutzt werden kann. EmbrYonic eignet sich in besonderem Maße für die Identifikation von Start-Ups und Technologieunternehmen, die komplementäre Profile bieten. Aus den drei o. a. Perspektiven zur Bewertung des Digital-Reifegrads eines Unternehmens kann ein Gesamtbild zum digitalen Reifegrad des Unternehmens erstellt werden. Hierzu empfiehlt sich die Aggregation, der Ergebnisse innerhalb der Perspektiven. Mit einer weiteren Zusammenführung über die Perspektiven hinweg kann ein Informationsverlust oder ein Skalenbruch einhergehen, der nicht mit einem Mehrwert an Informationen gerechtfertigt wäre.

5.4

I dentifikation der Digitalen Handlungsfelder und Definition der Digitalen Ambition des Unternehmens

Ausgehend von dem Ergebnis des digitalen Reifegrades des Unternehmens identifiziert das Unternehmen nun die zukünftigen „Digitalen Handlungsfelder“, in denen es sich mittels der digitalen Transformation verbessern möchte. Hierbei hat es sich bewährt, zunächst mit den Leitern der Prozessbereiche des Unternehmens entlang der in Abb. 5.3 dargestellten vier Dimensionen • • • •

Kunde Unternehmen & Operativer Betrieb Lieferant Produkt-/Service-Angebot

und unterschieden nach den drei Horizonten die möglichen digitalen Handlungsfelder unpriorisiert zu sammeln und in den vier Quadranten zu verorten.

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S. Biallas und Y. Alan

Durch die die Differenzierung nach Dimensionen und Horizonten wird angestrebt, dass die digitalen Handlungsfelder möglichst unabhängig voneinander sind und sich gleichzeitig gegenseitig ergänzen. Für eine effektive Benennung der Handlungsfelder empfiehlt sich die Orientierung an drei Prinzipien: 1. Sichtung Best Practices: In der Regel existiert im Unternehmen bereits eine Fülle von Ideen für Maßnahmen, die sich in einem Handlungsfeld gruppieren lassen. Neben der Sichtung der vorhandenen Ideen ist unbedingt darauf zu achten, dass auch Handlungsfelder bewertet werden, die sich aus der Sichtung der Marktperspektive (vgl. Abschn. 5.3) ergeben. Nur hierdurch kann gewährleistet werden, dass die Potenziale zur Erhöhung des Digitalisierungsgrads ausgeschöpft werden. 2. Orientierung an Fachlichkeit: Die Identifikation und Benennung der digitalen Handlungsfelder sollten möglichst ausgehend von dem fachlichen Nutzen erfolgen. Demnach sollten die fachlichen Domänen des Unternehmens und die zugehörigen Geschäftsprozesse im Vordergrund stehen und nicht die Einführung von Technologien für die fällige Modernisierung der Systemlandschaft. 3. Freiraum für Experimente: In dieser frühen Phase der Benennung von Handlungsfeldern ist es meistens nicht möglich und auch nicht nötig, vollumfänglich die Maßnahmen zu den Handlungsfeldern zu spezifizieren. Es empfiehlt sich daher, die Handlungsfelder bedarfsorientiert zu benennen und innerhalb des Handlungsfelds Freiraum für Lerneffekte einzuräumen.

Abb. 5.3  Identifikation und Definition der Digitalen Handlungsfelder

5  Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen …

53

Abb. 5.4  Definition des Zielniveaus pro Digitalem Handlungsfeld

Im Anschluss wird dann pro digitalem Handlungsfeld das jeweilige Ambitionslevel bzw. das angestrebte Zielniveau definiert (vgl. Abb. 5.4). Hauptziele dieser Aktivität sind: • Erreichen einer gemeinsamen Vereinbarung und einer gemeinsamen Sicht innerhalb des Unternehmens auf das angestrebte Zielniveau für jedes digitale Handlungsfeld • Klärung, welche digitalen Handlungsfelder in den nachfolgenden „Discover Workshops“ weiter erkundet und ausdetailliert werden sollen • Schaffen einer ersten Basis, um eine grobe digitale Vision für das Unternehmen skizzieren zu können

5.5

 ntdecken und Definieren von Digitalen E Verbesserungspotenzialen und -maßnahmen für das Unternehmen

Basierend auf den priorisierten digitalen Handlungsfeldern aus dem letzten Kapitel werden in diesem Schritt die einzelnen digitalen Verbesserungspotenziale und konkreten Maßnahmen pro Handlungsfeld und Horizont identifiziert. Für die Maßnahmen der Horizonte 1 und 2 hat sich in der Praxis das Format der ­sogenannten „Discovery Workshops“ gut bewährt. Hierbei werden pro Handlungsfeld

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S. Biallas und Y. Alan

(z.  B. „Optimierung der Unterstützungsprozesse“) gemeinsam mit den Teilnehmern (z.  B.  Experten aus dem Unternehmen, die die Unterstützungsprozesse kennen, sowie Digital-Experten zur Optimierung der Unterstützungsprozesse) zunächst konkrete Beispiele mit den jeweiligen digitalen Verbesserungspotenzialen/-maßnahmen für das Handlungsfeld (z. B. Prozessautomatisierung des kreditorischen Rechnungsabwicklungsprozesses) besprochen. Anschließend werden die Anwendbarkeit dieser Maßnahmen und die möglichen Verbesserungspotenziale für das Unternehmen mit den Teilnehmern diskutiert und dokumentiert. Das Ergebnis ist somit eine erste Liste („Longlist“) von digitalen Verbesserungsmaßnahmen und deren zugehörige grob abgeschätzte Verbesserungspotenziale für jedes digitale Handlungsfeld der Horizonte 1 und 2. In der Regel lassen sich für Horizont 1 eine Fülle von Maßnahmen benennen, die oftmals aus einem Entwicklungsstau zur Automatisierung von Geschäftsprozessen resultieren. Daneben existieren in der Regel konkrete Ideen, wie das bestehende Kerngeschäfts gegen eine konkrete Gefahr durch den Wettbewerb optimiert werden muss. Für die Identifikation von konkreten Ideen in Horizont 2 empfiehlt es sich, das bestehende Geschäft „digitalen Fähigkeiten“ gegenüberzustellen. Zu diesen digitalen Fähigkeiten gehören beispielsweise • • • •

die Fähigkeit zur Verarbeitung großer Datenmengen, die möglichst breite Erfassung von Kundeninformationen, die Erhebung und Erfassung von Informationen über Sensorsysteme und die Anreicherung von intern erzeugten Daten mit externen Informationen.

Durch diese Gegenüberstellung kann zielgerichtet untersucht werden, welche Ausbaupotenziale in bestehenden Prozessen und Produkten existieren. Die Ermittlung der Maßnahmen und Potenziale für die Handlungsfelder des Horizont 3 ist dagegen oftmals etwas aufwändiger, weil hier Ideen für den Aufbau neuer Geschäftsmodelle entwickelt werden müssen. Zwar kann auch hier der Abgleich mit grundsätzlichen Fähigkeiten für den Aufbau digitaler Geschäftsmodelle helfen; dennoch findet hier die Analyse in einem sehr ergebnisoffenen und unstrukturierten Umfeld statt. In Anbetracht der Komplexität dieses Umfelds hat sich die Durchführung von sogenannten „Design Thinking Workshops“ mit dem Ziel der Erstellung eines sogenannten „Business Canvas“ (vgl.Abb. 5.5) für das neue Geschäftsmodell bewährt. Das Business Model Canvas ermöglicht die Formulierung eines Geschäftsmodells, die über die reine finanzielle Betrachtung hinausgeht. Das Geschäftsmodell wird hierbei bezüglich der nachfrage- und angebotsrelevanten Aspekte beleuchtet. Erst hierdurch wird gewährleistet, dass ergebnisrelevante Dimensionen des Geschäftsmodells nicht ausgelassen werden. Für die Durchführung dieser Workshops empfiehlt es sich zudem, einen in der Design Thinking Methodik ausgebildeten Coach zu einzusetzen.

5  Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen …

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Abb. 5.5  Business Model Canvas Methodik

5.6

 valuierung und Priorisierung der E Digitalen Verbesserungsmaßnahmen

Nachdem im vorangegangenen Schritt die „Longlist“ der möglichen digitalen Maßnahmen für die Horizonte 1 und 2 sowie die „Business Model Canvas“ für die Maßnahmen des Horizontes 3 definiert wurden, geht es in diesem Schritt darum, diese Maßnahmen genauer zu evaluieren und anschließend zu priorisieren, um die „Shortlist“ der digitalen Maßnahmen pro Handlungsfeld abzuleiten. Hierzu werden zunächst die digitalen Maßnahmen der Longlist in den Dimensionen „Wettbewerbsintensität“ und „Attraktivität“ bewertet. Die Wettbewerbsintensität drückt aus, in welchem Maße bei der Umsetzung der Maßnahme mit konkurrierenden Marktteilnehmen zu rechnen ist. Die Konkurrenz kann sich dabei auf etablierte Unternehmen mit Ausdehnungsambitionen aber auch auf Start-Ups mit relevantem Wachstumspotenzial ­beziehen. Die Attraktivität der Maßnahme leitet sich unmittelbar aus der Größe des adressierten Marktes und dem finanziellen Wertbeitrag durch die Maßnahme ab. Aus der Bewertung in den beiden Dimensionen kann eine Kategorisierung der Maßnahmen entsprechend Abb. 5.6 erfolgen. Die vier Kategorien lauten: • • • •

Potenziell bedrohliche digitale Maßnahmen Vorrangige digitale Maßnahmen Opportunistische digitale Maßnahmen Digitale Maßnahmen ohne Priorität

Daran anschließend werden die digitalen Maßnahmen jeder der oben genannten Kategorien gemäß des in Abb. 5.7 dargestellten Bewertungsschemas analysiert und priorisiert:

Abb. 5.6  Kategorisierung der digitalen Maßnahmen der Longlist

56 S. Biallas und Y. Alan

Abb. 5.7  Schema zur Bewertung und Priorisierung bestehender und neuer digitaler Maßnahmen des Unternehmens

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S. Biallas und Y. Alan

Die Summe aller nicht angehaltenen/gestoppten digitalen Maßnahmen ergibt dann die priorisierte „Shortlist“ der digitalen Maßnahmen für das Unternehmen. Diese Maßnahmen sollten nun hinsichtlich ihrer Verbesserungspotenziale detailliert untersucht und bewertet werden, um jeder Maßnahme ein realistisches (und durch die für die spätere Umsetzung der Maßnahme verantwortlichen Teams mitgetragenes) Verbesserungspotenzial zuzuweisen.

5.7

Aufbau der Digitalen Roadmap für das Unternehmen

Im letzten Schritt erfolgt dann die Umwandlung der in Abschn. 5.6 in der „Shortlist“ definierten digitalen Maßnahmen in die sogenannte „Digital Roadmap“. Zunächst wird für jede der definierten digitalen Maßnahmen eine sogenannte „Maßnahmen-­Charta“ definiert. Diese beinhaltet die wesentlichen Informationen zu folgenden Punkten der Maßnahme: • • • • • • • •

Priorität der Maßnahme Verantwortliche Mitarbeiter für die Umsetzung der Maßnahme Kurze Beschreibung der durch die Maßnahme zu erreichenden Ergebnisse Zeitraum, in dem die Maßnahme umgesetzt werden soll Ggf. Abhängigkeiten zu anderen Maßnahmen Zur Umsetzung der Maßnahme benötigter Aufwand und Ressourcen Zu erzielendes Verbesserungspotenzial der Maßnahme Mögliche Risken der Maßnahme

Sobald diese „Chartas“ vorliegen, werden die Maßnahmen unter Berücksichtigung ihrer Priorität, der identifizierten Abhängigkeiten, des Ressourcenbedarfs und der Höhe der Verbesserungspotenziale über der Zeitachse abgetragen. Die Gesamtheit aller über der Zeitachse abgetragenen digitalen Maßnahmen bildet dann die „Digital Roadmap“ des Unternehmens (siehe Abb. 5.8). Die Digital Roadmap ist als Orientierungshilfe für das Unternehmen bei der Umsetzung der Digitalstrategie zu verstehen. Um den größten Nutzen aus den vorherigen Schritten abzuleiten empfiehlt sich die Beachtung folgender kritischer Erfolgsfaktoren: • Flexibilität: Die Digital Roadmap hat Ihre höchste Gültigkeit zum Zeitpunkt Ihrer Erstellung. In Anbetracht der Dynamik und des hohen Wettbewerbsdrucks ist es erforderlich, die Roadmap rollierend (üblicherweise halbjährlich) zu überarbeiten • Offenheit: Erfolgreiche Digitalstrategien zeichnen sich u.  a. durch den Aufbau von Partnerschaften und die Einbettung des Geschäftsmodells in ein Ökosystem aus. Insofern ist bei der Definition der Digitalstrategie über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus darüber nachzudenken, wie mit Partnerschaften und Netzwerken Synergien gehoben werden können

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Abb. 5.8  Vorbereitung der digitalen Roadmap des Unternehmens

5  Die „Digital Roadmap“ als Wegweiser durch den Dschungel der Digitalen …

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S. Biallas und Y. Alan

• Commitment: Die Umsetzung der Digitalstrategie bedeutet – insbesondere in Horizont 3 – die Erschließung von neuen Geschäftsfeldern. Dem wird oftmals aus mehreren Gründen mit Ängsten und Zweifeln der Belegschaft begegnet. Die effektive Umsetzung erfordert neben einem systematischen Change Management auch die Begleitung der Maßnahmen durch die oberste Führungsebene.

Literatur 1. etventure. (2018). Studie Digitale Transformation 2018. https://service.etventure.de/digitale-transformation-2018. Zugegriffen am 09.07.2019. 2. Baghai, M., Coley, S., & White, D. (2000). The alchemy of growth: Practical insights for building the enduring enterprise. Reading: Perseus Books.

6

Wert und Zielbild eines transformativen Tech Stack im Rahmen einer digitalen Transformation Bosse Küllenberg

cc Tech Stack/Softwarestack ist der Kernsatz jener Technologien, Anwendungen und Plattformen, die zur Entwicklung und Implementierung von Lösungen in einem Team verwendet werden. Einem Produkt liegt immer eine bestimmte Auswahl (oder Stack) zugrunde. Ein Unternehmen kann aber natürlich auch verschiedene Stacks für verschiedene Produkte verwenden. Der Tech Stack ist damit quasi der Werkzeugkasten. Wer handwerklich aktiv ist wird mir wohl zustimmen, dass man an Werkzeug besser nicht sparen sollte und das falsche Werkzeug für eine Aufgabe die Erledigung beinahe unmöglich macht oder zumindest extrem erschwert. Bei einer digitalen Transformation wird der Tech Stack im Zielbild neu definiert. Wer jemals ein großes Projekt angegangen ist weiß, dass kein Unternehmensberater Pow­ erPoint startet, ohne ein Zielbild definiert zu haben. Der Wert und die Notwendigkeit eines solchen Bildes sind nicht zu unterschätzen und werden oft erst später im Projekt bewusst wahrgenommen, wenn man sich dann vielleicht fragt, ob man noch auf der Zielgeraden ist und warum nicht etwas mehr Mut und Gestaltungswillen in die Ausarbeitung eines verabschiedeten Zielbilds geflossen sind. Ich spreche dabei nicht von dem typischen Strategie-Schaubild mit dreieckigem Dach, den bekannten Säulen der Strategie, die auf einem rechteckigen Fundament sitzen und wichtige Sätze aus dem letzten Strategie- und Markenworkshop enthalten. Ich spreche von einem echten Zielbild, das mit Mut entwickelt wurde und mit Gestaltungswillen entworfen ist. Ein Bild, das eine echte Vision formuliert und vielleicht auch schon einen Hinweis auf den Weg dahin mitgibt. Ein Bild das auch Leidenschaft enthält. Denn das ist, was ich bei vielen digitalen Transformationen zu Beginn vermisse: eine echte Idee, wie das Unternehmen in Zukunft arbeiten soll. Eine echte

B. Küllenberg (*) ETERNA Mode GmbH, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_6

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B. Küllenberg

Idee wie das Produkt sich in einem digitalen Sinne weiterentwickeln soll. Und wie man sich vorstellen kann, dies zu betreiben. Das hört sich so an, als ob die digitale Transformation schon abgeschlossen sein müsste, noch bevor man den Startschuss abfeuert – aber das meine ich so nicht. Ich spreche nicht von einem Betriebskonzept und Zahlen und konkreten Methoden, sondern ich rede hier auch über ein Gefühl. Wie möchte man zukünftig arbeiten? Welche Arbeiten möchte man eigentlich selbst im Unternehmen durchführen und welche eigentlich nicht? Für welche Leistung möchte man als Unternehmen auch wahrgenommen werden und Anerkennung ernten? Ernten ist dabei ein gutes Beispiel, denn ich glaube, man kann solche Projekte in Teilen mit dem Anbau von Obst und Gemüse vergleichen. Ich kann dann die Frage stellen, ob ich mir ein Fertigprodukt kaufen möchte und nur noch die Rolle des Konsumenten einnehme oder ob ich lieber ein Team befähigen möchte, es selbst anzubauen oder zumindest die Mahlzeit selbst zuzubereiten. Auch in unseren digitalen Prozessen in der gesamten digitalen Transformation habe ich diese Wahlmöglichkeiten. Kaufe ich mir eine fertige Lösung ein und konzentriere mich auf die Anwendung der Systeme oder setze ich den Fokus schon einen Schritt früher und stelle die Lösungen selbst aus Open Source Komponenten zusammen oder gehe sogar aktiv noch einen Schritt weiter mit in die (Weiter-)Entwicklung von Komponenten?

6.1

Externe Integratoren vs. Interner IT Aufbau

Wie viel möchte ich mir von externen Integratoren vorgeben lassen? Fange ich an, eigene Zielbilder zu entwickeln und fange ich an, eine eigene Solutions Architektur zu entwickeln und diese mit Partnern zu besprechen oder lasse ich mir diese Konzeption vorgeben von Firmen, die mir eine neue Plattform oder Software verkaufen? Letzteres ist erstaunlicherweise im Mittelstand oft noch der Standard. Das Unternehmen selbst konzentriert sich auf die Funktionalitäten, die dann im Anforderungskatalog festgehalten werden und die gesamte Implementierung wird dann dem Anbieter überlassen. Das macht Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass es nur einen „korrekten“ Weg der Integration gibt. Doch dem ist nicht so – der Stil und die Architektur wird die spätere Landschaft und Transformierbarkeit entscheidend prägen!

6.2

Branchen-Fokus ist im Mittelstand sehr stark ausgeprägt

Diese Architektur-Fragen muss man sich also genauso zum Beginn des Projektes stellen, wie die Fragen nach der Funktionalität der neuen Komponenten, die man mit einem modernen Tech Stack in der eigenen System-Landschaft aktivieren möchte. Wieviel Wert hat ein supermodernes System, das mir komplett von externen Anbietern schlüsselfertig in die Firma gestellt wird? Ich kann die Mitarbeiter über Qualifizierungskonzepte darin schulen und sie in der Anwendung befähigen, aber am Ende habe ich ein Fertigprodukt. Ein Fertig-

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produkt, das zwar schnell eingeführt ist, aber aus Erfahrungswerten dann doch eher selten zu mehr als 40 % der Funktionalitäten genutzt wird. Speziell im Bereich Business Intelligence Anwendungen sieht man häufig Teams, die wirklich nur einen Bruchteil der teuer eingekauften Softwarekomponenten einsetzen. Ein typisches Beispiel, bei dem ich mir denke, hier wäre es vielleicht besser gewesen, mehr in die Befähigung der Mitarbeiter zu investieren und mit OpenSource Komponenten ein maßgeschneidertes Konzept zu entwickeln, wie Business Intelligence (BI) im mittelständischen Unternehmen eingesetzt werden kann. Denn Dashboards oder auch Predictive Analytics kann ich auch ohne die f­ ertigen „out of the box“ Systeme implementieren. Aus knapp 20 Jahren, in denen ich Softwareentwicklung und Anwendungsprogrammierung inzwischen begleite, weiß ich, dass heutzutage kaum ein fertiges Softwareprodukt mehr ohne die erfolgreichen Open Source Komponenten auskommt und sich das Konzept und „Open Source“ von der „Billigalternative“ zur quelloffenen „Performance-Variante“ entwickelt hat. Wer heute auf Open Source Produkte setzt und seine Teams befähigt, an der Entwicklung mitzuwirken, muss natürlich eine sehr viel höhere Komplexität meistern, aber erhält nicht nur sehr performante Produkte, sondern auch zu einem gewissen Grad eine eingebaute Garantie, dass die Systeme auch wirklich verstanden und genutzt werden.

6.3

„ Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – Agilität und Transformierbarkeit der Systeme als oberstes Gebot

Oberste Prämisse für einen modernen Tech Stack wird für viele eine Agilität oder auch eine transformierbare Architektur sein. Das ist toll und hat sich in den letzten Jahren sehr in Richtung Agilität geändert. Ich denke vor zehn Jahren war es noch viel verbreiteter in die Glaskugel zu schauen und die Zukunft zu planen oder einfach nur über den reinen Anforderungskatalog der IST-Situation zu entscheiden. Aber ich denke auch, wir müssen noch sehr viel mehr betonen wie hoch der Wert einer transformierbaren Landschaft ist. Rückblickend wird wohl jeder, der mit längerfristig angelegten IT Projekten in Kontakt war, bestätigen, dass so ziemlich alle Ansätze in die Zukunft zu orakeln nach hinten losgegangen sind und wir eigentlich jedes Mal danebenliegen. Was können wir daraus lernen? Eigentlich nur, dass wir wissen, dass wir nichts wissen. Und wir statt Mutmaßungen über die nächsten 10 Jahre, viel mehr modulare und transformierbare Systeme zur Beherrschung der neuen Komplexität benötigen. Diese Überlegungen sollten also unser Zielbild stark prägen.

6.4

 ann ist eine IT Architektur kompliziert und wann wird W sie komplex?

Der gefürchtete Spaghetti-Code in der monolithischen Anwendungsentwicklung oder die end-to-end Verbindungen von Schnittstellen in IT Landschaften sind kompliziert; eine moderne Systemlandschaft mit Micro Services Architektur und vielen API Zugriffen kann

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jedoch zudem sehr komplex werden. Mit Wissen kann man komplizierte Aufgaben lösen, aber nur mit Können wird man auch komplexe Aufgaben lösen. Dem Können muss man dann eben auch die richtigen Tools zuordnen – damit ist es dann sehr gut möglich, diese Komplexität zu meistern und charmanterweise oft mit geringerem Aufwand, als die vorher existente Kompliziertheit des unorganisierten Systems. Wenn ich dabei über eine erhöhte Komplexität schreibe, müssen wir eben entsprechend moderne Tools einsetzen, um diese zu beherrschen und weitestgehend zu automatisieren und zu überwachen. Ich denke, ein Enterprise Tech Stack, der aus mehr als acht verschiedenen Plattformen oder relevanten und Logik- oder Datenführenden Komponenten besteht, sollte ernsthaft darüber nachdenken, eine hochwertige Middleware einzusetzen. Ein modernen ESB mit API Management sollte allein schon zur Umsetzung von Security Richtlinien und zur Überwachung von API Zugriffen und Vereinfachung einer Anbindung unterschiedlicher Schnittstellen eingesetzt werden. Auf diesem Wege kann eine transformierbare Landschaft geschaffen werden, in der es auch möglich ist, Komponenten auszutauschen, ohne dabei die gesamte Landschaft an jedem einzelnen Endpunkt anpassen zu müssen. Ich erreiche eine Skalierbarkeit, in der ich auch mit neuen Systemen ein beherrschbares Bus-System (vgl. ESB Enterprise Service Bus) entwickele und nicht zuletzt auch für moderne Architektur Konzepte, wie eine Micro Services Architektur, den technologischen Ansatz und die entsprechenden Möglichkeiten biete, um dem hohen Kommunikationsaufkommen im eigenen Netzwerk oder einer hybriden Landschaft (On-Premise und Cloud-Architektur) gerecht zu werden. Zur Beherrschung dieser Komplexität von REST-orientierten (Representational State Transfer) Systemlandschaften benötigt man die entsprechenden Mittel und Methoden, um sauberes Batchprocessing und Queing, Monitoring von APIs und Schnittstellenkommunikation umzusetzen.

6.5

Seit über 10 Jahren in Diskussion: Cloud oder On-Premise?

Wenn ich über einen modernen Tech Stack und Transformierbarkeit schreibe, geht es mir gar nicht so sehr um eine Unterscheidung zwischen klassischen On-Premise oder Cloud Anwendungen. Das ist übrigens eine Diskussion, die man im Mittelstand überraschenderweise noch sehr häufig führt. Da sind einige Branchen noch eifrig am Diskutieren von Themen, die in der Technologie-Szene schon in den 2000er-Jahren ziemlich eindeutig beantwortet wurden und spätestens seit 10 Jahren doch eigentlich im Zielbild beantwortet sein sollten. Ich will mir bei dem Thema heute mal nicht die Finger verbrennen und halte mich etwas bedeckt. Für mich entscheidet hier mal wieder maßgeblich das Zielbild. Auf welche Themen möchte ich mich mit meiner digitalen Kompetenz stürzen? Wofür will ich Anerkennung erhalten, welche Themen möchte ich selbst in-house abbilden und welche lieber nicht? Und in dem Kontext nun die Frage: Möchte ich ein Hochsicherheits-­Rechenzentrum (oder gar mehrere) mit all den kalkulatorischen Risiken und Investitionen und all den wiederkehrenden Aufgaben von Serverpflege, An-

6  Wert und Zielbild eines transformativen Tech Stack im Rahmen einer digitalen …

65

wendungsupdates, Sicherheitschecks bis zur internationalen Skalierung und Load-Balancing selbst betreiben?

6.6

Microservices Oriented Architectur

Mein persönliches Lieblingskonzept ist ja das Zielbild der Microservice-Architektur. Für Jeden, der bisher noch nicht so viel Berührung damit hatte, versuche ich es im Folgenden kurz zusammenzufassen. Die Idee ist an sich ein Gegenentwurf zur integrierten Architektur – also zu einem monolithischen Aufbau und ist sowohl in der Softwarearchitektur als auch in einer Enterprise Architektur oder Enterprise Solutions Architektur anwendbar. Es geht darum, dass man eben keinen vollintegrierten monolithischen Architekturansatz wählt, sondern in vielen kleinen (Micro-) Services denkt, die alle sehr spezifische Aufgaben haben. Jeder Service kann in einer beliebigen Programmiersprache geschrieben sein und soll möglichst spezifische Aufgaben ausüben und sich eben auch auf nur diese beschränken. Mit dem Ziel, dass jeglicher, einzelner Service relativ schnell und ohne große „Schmerzen“ ersetzt werden kann. Ganz nach der berühmten Unix Philosophie von Malcolm Douglas McIlroy „do one thing and do it well“. Dadurch mache ich mich weniger abhängig von Technologien und werde transformierbarer in meiner Architektur. Bedeutet – wenn ein einzelner Service, der vielleicht dafür zuständig ist, Bilder neu zu berechnen, einfach keine gute Performance liefert, sonstige Schwierigkeiten macht oder aus anderen Gründen verändert werden soll, dann habe ich hier eine Situation vorliegen, die wenig komplex ist. Eine Code-Situation, die von vielen Menschen bearbeitet werden kann und auch von jemanden, der den Code vielleicht gar nicht geschrieben hat. Das ist besonders wichtig im Kontext von sogenannten Legacy Systems – also „Altsoftware“, die historisch im Unternehmen läuft, aber inzwischen vielleicht niemand mehr zur Verfügung steht, der diese Software weiter entwickeln kann oder die spezielle Programmiersprache schreiben kann. Dann ist es im Microservices Zielbild trotzdem möglich, diesen Service innerhalb weniger Tage oder Wochen, ohne noch größere Projekteinheiten zügig und überschaubar neu zu entwickeln. Die Gesamtheit von vielen, vielen, vielen kleinen Microservices ergibt dann ein extrem performantes System. Ein System, welches viele Spezialisten vereint, aber in einer monolithischen Architektur typischerweise in nur einer Sprache hätte umgesetzt werden müssen. Der monolithische Ansatz oder in der Architektur der vollintegrierte Architekturansatz ist für das initiale entwickeln manchmal sogar sehr einfach und vielleicht einfacher als eine Microservices Struktur, aber bei Systemen, die dann über viele Jahre von verschiedenen Menschen weiterentwickelt werden, ändert sich das schnell und die Aufgaben werden unüberschaubar und sehr kompliziert. Jeder von uns kennt wahrscheinlich den „Architektonischen Wildwuchs“, den gefürchteten Spaghetti-Code oder die wirren end-to-end-Schnittstellen und auch die Probleme mit Legacy Systemen, diese am Laufen zu halten und weiterzuentwickeln. Microservices sind hier – wie ich finde – ein super spannender Ansatz. Erst recht, wenn man das Konzept i­nnovativ weiterdenkt und nicht nur in einem skalierbaren System laufen

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B. Küllenberg

lässt, sondern gar irgendwann als Weiterentwicklung in Richtung eines Plattform Gedankens als Function-­as-­a-Service (FaaS). Dann wird der Software-as-a-Service (SaaS) Ansatz weiter nach dem Microservices Konzept abstrahiert und ein serverloser Cloud-Betrieb mit ­sekundengenauen Abrechnungsmodellen der einzelnen genutzten Funktionen/ Services theoretisch möglich. Für mich persönlich ein sehr spannender Ansatz, der in der Softwareprogrammierung ein großes Potenzial hat. Diese Design Patterns kann ich aber auch aus dem Kontext der Softwarearchitektur auf ein höheres Niveau der Enterprise Architektur heben.

6.7

Best of Breed

Der „Goldstandard“ in der Entwicklung einer neuen IT-Landschaft und eines Technologie Zielbildes ist bestimmt der viel beschworene „Best of Breed“ Ansatz. Also die Philosophie, in jedem Anwendungsbereich die beste Software, bzw. die beste Plattform hinzustellen, die ich bekommen kann und so meine vielen einzelnen Aufgaben mit Spezialistensystemen zu erledigen, anstatt sich nur auf einen Hersteller zu fokussieren. Scott Brinker erstellt seit dem Jahr 2011 eine beeindruckende Grafik, namens „Marketing Technology Landscape Supergraphic“ oder auch „Martech 5000“. In dieser jährlich aufgelegten Grafik werden alle relevanten Anbieter von Marketing Software mit ihren Logos abgebildet. Im Jahr 2011 war das ein beeindruckendes JPG mit ~150 verschiedenen Logos. Im Jahr 2019 sind die Logos in der Grafik kaum noch erkennbar, da die Anzahl der Systeme binnen 8 Jahre auf 7040 Anbieter gewachsen ist. Eine unglaubliche Geschwindigkeit und Dynamik und eine enorme Angebotsvielfalt für mögliche Best of Breed Lösungen im Bereich Marketing. Bei so vielen Spezialistensystemen und der damit einhergehenden hohen Entwicklungsgeschwindigkeit, die solche Systeme unter hohem Konkurrenzdruck annehmen, ist es schwer vorstellbar, dass ein einzelner Anbieter, die jeweils beste oder zumindest eine gleichwertige Lösung liefern kann. Mit dem Best of Breed Ansatz steigt aber auch wieder der Anspruch an die Kommunikationsfähigkeit aller Systeme. Ein Fakt, der dem einen oder anderen altgedienten ERP Anbieter das Leben heute etwas erschwert und dringend technologische Modernisierung nötig macht. Hier mein Appel, sich diese technologischen Aspekte genau anzusehen und technische Hygienefaktoren für die Auswahl der Systeme zu bilden und diese „Non Functional Requirements“ sehr ernst zu nehmen. Wenn man einen ERP Anbieter mal nach seinem User Interface Konzept und nach Beispielen der Informationsarchitektur gefragt hat und um ein paar Screenshots als Belege für gutes Oberflächendesign gebeten hat, weiß man, wie verdutzt diese reagieren und oft noch nicht einmal wissen, wie sie die Frage einordnen oder bearbeiten sollen – so gering ist der Stellenwert bei manchen Anbietern und Integrationshäusern. Man wird dann schnell als „Künstler“ oder „Feingeist“ abgetan und es wird argumentiert, dass es ja wohl auf andere Dinge ankäme als auf eine hübsche Oberfläche. Ja? Ist dem so?

6  Wert und Zielbild eines transformativen Tech Stack im Rahmen einer digitalen …

6.8

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 unctional Requirements und vor allem Non-Functional F Requirements im Zielbild

Es wird, mit Unterstützung der Unternehmensberatungen und IT Beratungen, sehr viel Zeit darauf verwendet, den Anforderungskatalog zu entwickeln. Produkte zur Ausschreibung zu bringen und über Funktionalitäten zu reden. Aber wer redet über die Softskills, die zukünftige Produkte besitzen sollen? Die Non-Functional Requirements? Wer redet darüber, wie sie programmiert sein sollen, nach welchen Richtlinien, nach welchen Kriterien und in welcher Güte? Wer redet über die Schönheit von Code oder die Konsequenz der Konzepte? Ich selbst habe so viele Software Projekte miterlebt, die tolle Ideen hatten, aber am Ende an schlecht geschriebenen Codes oder an alten Konzepten in der Architektur einfach gescheitert sind. Die Software hatte weder die Flexibilität noch die Performance noch die Konnektivität und hat sich einfach nicht gut in der Benutzung angefühlt. Natürlich rede ich dabei auch über Oberflächen und Mensch-Maschine-Schnittstellen bzw. User Interface Architektur. Aber ich beziehe mich auch erneut auf den Tech Stack, der zu einem guten Produkt führt und da graust es mich teilweise. Speziell im Bereich der ERP Software oder anderen backend orientierten Systemen, die im Enterprise Bereich laufen, ist es unglaublich, wie leidensfähig die Käufer und Nutzer aktuell noch sind. Dort sieht man veraltete Server-Client Architekturen und krampfhaftes Festhalten an Konzepten, die in anderen Segmenten, wie den Web-Anwendungen, schon lange als gescheitert gelten. Jeder von uns hat wahrscheinlich mehr Lust, sich durch einen Netflix Katalog zu klicken, als durch eine ELSTER Steuererklärung oder ein Enterprise PDM (Produktdatenmanagement) System und wohlgemerkt, ELSTER ist – im Vergleich zu einigen ERP-System Oberflächen – gar nicht mal so schlecht gestaltet. Wie will ich aber den Wert eines modernen User Interfaces oder einer modernen Softwarearchitektur an sich bewerten? Wie will ich diesen Aspekt quantifizieren und wie will ich eine Ausschreibung auf so weiche Faktoren wie ein User Interface und ein modernes Navigationskonzept und eine Informationsarchitektur legen? Wie kann ich darauf fokussieren? Wahrscheinlich über den Grad der Nutzung und die „Lust“ an der Nutzung der Systeme. Denn am Ende ist jedes neue System nur so gut, wie es auch genutzt wird. Und damit wird eine gute Usability zum Hygienefaktor und zu einem der wichtigsten Kriterien im Zielbild einer digitalen Transformation. Wenn von diesem kleinen Manifest für ein Zielbild innerhalb einer digitalen Transformation etwas hängen bleibt, dann soll es das Thema „Leidenschaft“ sein. IT und Technologie wird oft auf ihre Funktionalität reduziert und möglichst leidenschaftslos betrachtet, was ich persönlich als großen Fehler einschätze. Ich gehe sehr leidenschaftlich mit der Soft- und Hardware um, die ich jeden Tag nutze. An manchen Tagen fluche ich die Systeme an, an anderen Grinse ich über beide Ohren, wenn mir klar wird, was ich gerade dank guter Systeme erreichen konnte. Diese Leidenschaft muss gelebt und wieder salonfähig werden – auch in der Auswahl von Enterprise Lösungen. Da ich heute noch nicht weiß, welche großartigen neuen Lösungen mir morgen angeboten werden, steigt der Wert eines transformativen Tech Stack enorm und wird wahrscheinlich zum wichtigsten verfolgbaren Ziel.

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KPI, Digital Maturity, Dashboard oder Empathie: Wie sich Fortschritt und Erfolg der Digitalen Transformation messen und steuern lassen Peter Bruhn

7.1

Eigenschaften digitaler Geschäftsmodelle

In der heutigen VUCA-Welt1 garantieren die erfolgreichen Geschäftsmodelle und Vorgehensweisen der Vergangenheit keine profitable Zukunft für Unternehmen. Mehr als die Hälfte der Unternehmen, die im Jahr 2000 zu den Fortune 5002 zählten, gibt es heute nicht mehr [9]. Zu den größten Unternehmen gehören heute zahlreiche, die erst vor ein bis zwei Jahrzehnten gegründet wurden. Viele dieser Unternehmen zeigen Merkmale exponentiellen Wachstums. Sie wachsen nicht linear um beispielsweise 50 Mio. Euro pro Jahr, sondern um Faktor 2, verdoppeln ihren Umsatz somit jährlich (siehe Abb. 7.1). In den ersten Jahren ist die exponentielle Umsatzkurve neuer Unternehmen sehr flach, woraus gerne der falsche Schluss gezogen wird, dass solche Unternehmen keine Gefahr für die etablierten Konzerne darstellen. Nach einigen Jahren zeigt sich jedoch die Kraft des exponentiellen Wachstums. Der Vergleich der weltweiten Umsatzentwicklung von Amazon mit dem Einzelhandelsumsatz in Deutschland zeigt dies anschaulich (vgl. Abb. 7.2). Der Mensch kann sich lineares Wachstum vorstellen, nicht aber exponentielles Wachstum (siehe [6, 7]). Daher werden Startups oftmals zu lange von etablierten Unternehmen belächelt und unterschätzt, bis die jungen Unternehmen dann nach einigen Jahren unaufhaltbar davoneilen.

 VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Es beschreibt die für Unternehmen herausfordernde Welt, die von Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist. 2  Fortune 500 ist die Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Vereinigten Staaten, die die US-amerikanische Zeitschrift Fortune jährlich erstellt. 1

P. Bruhn (*) Deutsche Infrastructure S.A., Bettembourg, Luxemburg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_7

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Abb. 7.1  Lineares vs. exponentielles Wachstum 200

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20 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

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Einzelhandelsumsatz Deutschland (Mrd. EUR, ohne Kfz, Tankstellen, Brennstoffe, Apotheken, Quelle: [7]) Umsatz Amazon weltweit (Mrd. EUR, Umrechnung mit EZB-Referenzkurs Jahresdurchschnitt, Quelle: [1])

Abb. 7.2  Umsatzwachstum Amazon vs. Einzelhandel

Insbesondere Startups orientieren sich bei der Formulierung ihrer Ziele häufig an der von Google geprägten Denkweise 10x. Ihre Lösung soll nicht 10 % schneller oder 10 % effizienter sein, sondern zehnmal so gut. Nur eine solche Steigerung sorgt für ein radikal neues Denken. Wenn größer gedacht wird, also 10-fach das ganz große Ziel ist, entstehen echte Innovationen, weil bisherige Tools und Annahmen dazu nicht ausreichen. Diese

7  KPI, Digital Maturity, Dashboard oder Empathie: Wie sich Fortschritt und Erfolg der …

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Denkweise wird auch Moonshot Thinking bezeichnet, weil sie mit dem in Erfüllung gegangenen Traum von John F. Kennedy in Verbindung gebracht wird, Menschen auf den Mond zu schießen.

7.2

Starten der digitalen Transformation

7.2.1 Merkmale der digitalen Transformation Wenn Unternehmen beschließen, die digitale Transformation ernsthaft anzugehen und umzusetzen, bedeutet dies meist eine weitreichende Veränderung von Geschäftsmodell und Kultur. Eine solche Transformation ist ein komplexer, langjähriger Prozess, dessen Erfolg in der Bilanz erst nach mehreren Jahren abzulesen ist. Die Veränderung der Kultur, das Erlernen neuer Arbeitsmethoden und die Stärkung der Innovationskraft ist ein Prozess über viele Jahre. Neue Geschäftsmodelle und innovative Produkt- und Lösungsangebote brauchen Zeit, bis sie eine relevante Größenordnung erreichen. Dann können sie – insbesondere bei exponentiellem Wachstum  – entscheidend zum Ergebnis beitragen. Gleichzeitig beeinflussen die allgemeine Konjunkturentwicklung, ein sich änderndes Wettbewerbsumfeld und politische Entwicklungen die Bilanz. Welchen Umsatz- und Ergebnisbeitrag die digitale Transformation hat, lässt sich somit nicht trennscharf ermitteln. Daher stellt sich die Frage, wie während des Transformationsprozesses trotzdem kontinuierlich Transparenz über Fortschritt und Ergebnisse hergestellt werden kann, welche Kennzahlen ermittelt werden können und sollten, wie der digitale Reifegrad gemessen wird, und wie eine Steuerung und Priorisierung der Maßnahmen erfolgen kann. Hierbei gilt, dass bisherige Steuerungs- und Kontrollmethoden nicht unreflektiert übernommen werden dürfen, sondern passend weiterzuentwickeln sind. Andernfalls kann dies zu falschen Entscheidungen und einer Behinderung statt Förderung der Transformation führen. Im Folgenden wird ein Vorgehen beschrieben, wie schrittweise eine passende Steuerungslogik aufgebaut werden kann, um schnell starten zu können und die Organisation nicht zu überfordern. Denn entscheidend sind nicht das Messen, sondern die durchgeführten Projekte und Veränderungen. Richtig gemacht, kann das Controlling durchaus den Mitarbeitern im Transformationsprozess hilfreiche Impulse geben. Falsch umgesetzt, hält nicht nur das Berichtswesen von der nötigen Arbeit ab, sondern Mitarbeiter erhalten falsche Anreize, sind demotiviert, und das Management trifft falsche Entscheidungen.

7.2.2 Vision und Purpose Im ersten Schritt gilt es, eine erstrebenswerte Vision zu formulieren und Sinn und Zweck, also den Purpose, den Mitarbeitern klar zu vermitteln. Dies ist ganz entscheidend für die Mitarbeitermotivation und Voraussetzung, um eine Kultur mit mehr Verantwortung auf Team- und Mitarbeiterebene erfolgreich umzusetzen. Beispielhaft sei die Vision der TAKKT AG genannt (siehe Abb. 7.3).

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Wir wollen unser E-Commerce-Geschäft bis 2020 verdoppeln. Dazu schaffen wir ein herausragendes Kundenerlebnis mittels Digitalisierung.

Wir werden bis zu 50 Millionen Euro bis 2020 in unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in neue Technologien investieren.

VISION 2020

Wir wollen unsere Organisation nachhaltig verändern, indem wir der Digitalisierung unseres Geschäftsmodells Vorrang geben und die sich laufend verändernden Bedürfnisse unserer Kunden in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen.

Mit der Umsetzung unserer Digitalen Agenda werden wir unser organisches Umsatzwachstum mittelfristig erhöhen.

Abb. 7.3  Vision der TAKKT AG

Für den Kunden verspricht die Vision der TAKKT AG ein herausragendes Erlebnis mittels Digitalisierung. In Mitarbeiter wird genauso wie in neue Technologien investiert. Die Verdopplung des E-Commerce-Geschäfts und ein höheres organisches Wachstum ermöglichen Mitarbeitern wie Investoren eine interessante Perspektive, bei der profitables Wachstum und nicht Kostensenkung/Effizienzsteigerung (was Angst vor Arbeitsplatzabbau auslösen würde) das Hauptziel ist. Das hilft, Mitarbeiter mitzunehmen und zu begeistern sowie Widerstände zu reduzieren. Wichtig ist, dass den Versprechungen dann auch positive Erlebnisse folgen. Praxisbeispiel zum Purpose

Die TAKKT AG beschreibt ihren Purpose in [11] mit „We make it easy to create great work environments“ statt mit Sätzen wie „wir sind Händler für Büro- und Geschäftsausstattung“. Denn das Interesse des Kunden ist nicht, Palettenhubwagen oder Büromöbel zu kaufen, sondern er will Güter in seinem Lager bewegen und Büros mit optimalen Arbeitsbedingungen schaffen. Je einfacher er hierfür eine Lösung bekommt, desto zufriedener ist er. Der Purpose ermöglicht es den Mitarbeitern, viele Entscheidungen in der täglichen Projektarbeit selbst zu treffen, anstatt auf Anweisungen des Chefs warten zu müssen. Intern lässt sich der Anspruch „easy“ und „great work environments“ übersetzen mit einfachen Prozessen, hoher Transparenz, schnellen Entscheidungen und moderner Büround IT-Ausstattung. Zusätzlich ermöglicht der Purpose eine Weiterentwicklung des Geschäftsmodells, da er nicht auf das klassische Versandhandelsgeschäft begrenzt ist, sondern jede Wertschöpfung zulässt, die großartige Arbeitsumgebung für den Kunden schafft, beispielsweise Planungs-, Installations- und Wartungsservices, aber auch digitale Onlineservices. Mitarbeiter sind motivierter, einen Beitrag zu einer großartigen Arbeitswelt beim Kunden zu leisten, als nur Aufträge zu erfassen, gemäß Vorschriften zu prozessieren

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und auszuliefern. Sie erkennen einen Sinn in ihrer Aufgabe – gerade für die jüngere Generation heute ein ganz entscheidendes Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers. ◄

7.2.3 Strukturierung der Digitalen Agenda Parallel zur Erarbeitung von Vision und Purpose sollte eine Struktur mit verschiedenen Handlungsfeldern erarbeitet werden, wie sich die Maßnahmen der Digitalen Transformation inhaltlich gliedern lassen. Diese muss nicht perfekt sein, und die Handlungsfelder werden sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Wichtig ist, dass die Struktur längerfristig stabil bleibt, um Orientierung zu geben. Allen Beteiligten wird damit klar, welche Themenfelder adressiert werden und dass es sich bei der Digitalen Transformation nicht um ein IT-Projekt handelt, sondern dass diese vielen Aspekte im gesamten Unternehmen umfasst und alle betrifft. IT- und Technologiethemen wie neue IT-Systeme, Produktionsmaschinen oder Roboter sind folglich nur eines von mehreren Handlungsfeldern. Mögliche benachbarte Handlungsfelder wie Daten und Prozesse zeigen bereits auf, dass auch Prozesse neu gedacht werden müssen oder die Nutzung von Daten eine ganz andere Rolle und Wertschöpfung einnehmen kann. Beispielsweise ermöglichen Ende-­zu-­ Ende-Prozesse, die aus Kundensicht formuliert sind und ganzheitlich verantwortet werden, sowie personalisierte, aus Datenanalyse gewonnene Erkenntnisse ein viel besseres Kundenerlebnis. Customer Centricity kann ein weiteres Handlungsfeld darstellen mit dem Ziel, eine neue Qualität des Kundenverständnisses in allen Bereichen des Unternehmens zu etablieren. Selten ist eine Organisation kulturell und in ihrer Arbeitsweise so weit entwickelt, dass nicht auch hier größerer Handlungsbedarf bestünde. Dies umfasst die Methodenkenntnis und -nutzung auf Mitarbeiterebene (beispielsweise Scrum3 und Design Thinking4) genauso wie einen dazu passenden Führungsstil. Die richtigen Werte (nicht nur auf dem Papier, sondern von ganz oben in der Hierarchie vorgelebt) sind genauso entscheidend wie Arbeitsumgebungen mit Räumen, die beispielsweise kreatives Arbeiten und einen bereichsübergreifenden Dialog unterstützen. Auch Organigramme können und werden sich ändern, genauso wie das Geschäftsmodell. Fragen zum zukünftigen Geschäftsmodell, der Gestaltung der Wertschöpfungskette, zu möglichen Käufen und Verkäufen von Unternehmen(steilen) oder der Beteiligung an

 Scrum ist ein Vorgehensmodell für agiles Projekt- und Produktmanagement, welches ursprünglich in der Softwareentwicklung eingesetzt wurde, heute aber auch in vielen anderen Bereichen Anwendung findet. Es wird genutzt, wenn Projekte aufgrund ihrer Komplexität nicht im Voraus detailliert planbar sind. Daher erfolgt eine schrittweise Verfeinerung. 4  Design Thinking ist ein Prozess zur Förderung kreativer Ideen und Innovationen, die sich am Nutzer orientieren und dessen Bedürfnisse befriedigen. Es werden Vorgehensweisen aus dem Design-Bereich genutzt, welcher explizit nutzerorientiert arbeitet. 3

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Startups lassen sich in einem Handlungsfeld Strategie bündeln. Je nach Unternehmen und Industrie können sich noch weitere Handlungsfelder ergeben, wenn beispielsweise regulatorische Themen oder Forschung und Entwicklung eine hohe Relevanz für die zukünftige Entwicklung spielen. McKinsey & Company hat sechs Bausteine für ein hoch performantes digitales Unternehmen in [4] beschrieben. Diese Bausteine, die Abb. 7.4. zeigt, eignen sich gut als strukturierende Handlungsfelder für die digitale Agenda.

7.2.4 Standortbestimmung und Maßnahmen der Digitalen Agenda Bevor Maßnahmen definiert werden, kann es hilfreich sein, eine erste (Selbst-)Einschätzung der relevanten Stärken und Schwächen vorzunehmen, um Bereiche mit besonders großem Handlungsbedarf zu identifizieren. Hierbei kann der Digital Quotient von McKinsey & Company zum Einsatz kommen (siehe [2]) oder das DM3-Modell von diva-e und der Hochschule Aalen (siehe [1]). Dies ist der erste Schritt, intern ein grundlegendes und gemeinsames Verständnis zur Ausgangslage zu erarbeiten, und Bewusstsein für nötige Veränderungen zu schaffen. Auch entstehen erste Ideen zu Maßnahmen, wie der Handlungsbedarf adressiert werden könnte. Diese Ideen lassen sich dann priorisieren und den Handlungsfeldern zuordnen. Dies ist noch nicht der optimale Fahrplan für die Digitale Transformation, jedoch ein guter Startpunkt. Es gilt, zügig mit ersten Maßnahmen loszulegen. Es ist wichtiger, anzufangen und erste Ergebnisse und Erfahrungen zu erzielen, als lange ein perfektes Programm bis ins letzte Detail zu planen. Das Ergebnis lässt sich nicht vorab in einem Pflichtenheft detailliert beschreiben und dann entlang des Plans umsetzen. Vielmehr gilt es, Hypothesen beispielsweise zu Kunden- und Marktverhalten zu formulieren und in einem iterativen Prozess zu validieren, welche davon sich bestätigen und wo Änderungen entlang des Weges erforderlich sind. Auf Basis solcher Erkenntnisse erfolgt dann auch eine dynamische Anpassung der Digitalen Agenda. Ergänzt wird dies durch eine regelmäßige Reflektion, wie man die eigene Arbeitsweise und die Zusammenarbeit stetig verbessern kann.

7.3

Den Fortschritt der Digitalen Transformation messen

Wenn Vision und Purpose formuliert sind, die Handlungsfelder der Digitalen Agenda eine Struktur geben sowie erste Maßnahmen gefunden und gestartet sind, kann die Mess- und Steuerungslogik schrittweise aufgebaut und optimiert werden. Wichtig ist, dass die digitale Transformation ihre Berechtigung nicht dadurch erhält, dass ein detaillierter Businessplan ein positives Ergebnis im Jahr x aufweist, sondern dass sie auf dem Verständnis basiert, dass sie richtig und notwendig ist. Nicht das Controlling darf nach (kurzfristigen) Return-on-Investment fragen, sondern der gesamte Vorstand muss vom Transformationsbedarf überzeugt sein. Er muss den Wandel nicht nur konsequent einfordern, sondern auch

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Abb. 7.4  6 Handlungsfelder, eigene Darstellung in Anlehnung an [4]

jeden Tag vorleben – bei großen Entscheidungen genauso wie bei kleinen Verhaltensweisen. Satya Nadella, der CEO von Microsoft, hat dies in [8] auf den Punkt gebracht: „I like to think that the C in CEO stands for culture. The CEO is the curator of an organization’s culture“. Aus der Praxis

Zitat eines Geschäftsführers eines großen Multichannel-Händlers: „Wir führen ein neuartiges Treueprogramm für unsere Kunden ein, weil wir davon überzeugt sind, dass dies strategische Bedeutung für die Kundenbearbeitung hat. Einen detaillierten Business Case rechnen wir zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht, dafür sind zu viele Unbekannte vorhanden. Erst wenn wir anhand des Produktes und der Nutzung belastbare Datenpunkte sammeln können, kann ein Business Case gerechnet werden. ◄

7.3.1 K  ennzahlensystem mit KPIs für operative Exzellenz und kulturellen Wandel Organisationen sind meist geübt darin, regelmäßig wichtige Kennzahlen (Key Performance Indicators, abgekürzt KPIs) zu erheben und im Management – und idealerweise auch mit den Mitarbeitern  – zu diskutieren. Somit liegt es nahe, auch für die Digitale Transformation zunächst ein KPI-Set zu definieren. Entscheidend hierbei ist, welche KPIs erhoben werden. Die KPIs müssen insbesondere den kulturellen Wandel unterstützen,

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­ inanzkennzahlen werden an anderen Stellen bereits ausreichend analysiert und sollten F nicht erneut abgefragt werden. Ein falscher Fokus kann den nötigen Wandel bremsen, die Transformation behindern und den Mitarbeitern ein falsches Signal senden. Wie kann ein solches KPI-Set gestaltet werden? Wichtig ist ein Gleichklang aus operativen Kenngrößen und kulturellen Indikatoren. Mit den operativen Kennzahlen kann beispielsweise die Wirksamkeit der Onlineaktivitäten gemessen werden: Wie erfolgreich ist das Onlinemarketing, wie viele Besucher der Webseite lassen sich in Käufer konvertieren, steigt das organische Ranking bei Suchmaschinen? Wichtiger, aber auch schwieriger zu definieren und zu messen sind Kennzahlen, die den Fortschritt bei der Transformation der Organisation abbilden. Hierbei kommt es nicht darauf an, höchst präzise zu messen, sondern vielmehr, den Mitarbeitern klar zu machen, welche Aspekte wertgeschätzt werden. Beispiel Fehlerkultur: KPI kann sein, wie viele Hypothesen entwickelt und mit welchem Ergebnis diese getestet wurden. Ziel und Erwartung ist hier ein gutes Verhältnis zwischen verworfenen und fortgeführten Ansätzen. Viele getestete Hypothesen werden sich gerade nicht bestätigen. Werden nur Themen angegangen, die fast sicher zum Erfolg führen, besteht zu geringe Risikobereitschaft und „Fehler“ – besser gesagt neue Erkenntnisse – werden gemieden. Innovationen entstehen nur, wenn viel getestet wird und Erkenntnissen, was nicht funktioniert, ein hoher Wert beigemessen wird. Der Fokus darf daher nicht auf den Erfolgen liegen, sondern auf dem ergebnisoffenen Testen. Die Botschaft lautet: Nicht der wird belohnt, der jedes Risiko meidet, sondern derjenige, der möglichst viele neue Erkenntnisse generiert. Historische Beispiele

Thomas Alva Edison hat viele kleine Kohlefäden ausprobiert – es heißt um die 9500 unterschiedliche – die alle die Glühbirne nicht dauerhaft zum Leuchten brachten, bis er den Faden fand, der funktionierte [10]. Auch Elon Musk hat viele Rückschläge erlebt und trotzdem stets weitergemacht: PayPal wurde 1999 unter die zehn schlechtesten Ideen im Tech-Bereich gewählt. Die ersten drei Raketen, die 2006, 2007 und 2008 an den Start gingen, explodierten. Viele seiner Firmen standen oftmals unmittelbar vor der Insolvenz, und die von ihm gegründeten Unternehmen Zip2 und PayPal musste er unfreiwillig verlassen [12]. ◄ Wenn Methoden wie Scrum und Design Thinking an Relevanz gewinnen, lohnt sich der Blick darauf, wie viele Mitarbeiter solche Methoden in der täglichen Praxis nutzen, oder wie viele interne Multiplikatoren es gibt (beispielsweise Scrum-Master). Ähnliches kann für das Thema Daten gelten. Nutzen nur wenige Experten, beispielsweise Data Scientists, die Tools, oder sind Werkzeuge für die Datenanalyse für eine breite Gruppe von Mitarbeitern verfügbar und werden auch aktiv genutzt? Wie wird mit Daten umgegangen: Sind diese unternehmensweit nutzbar, oder hat jeder Fachbereich sein eigenes, gut gehütetes Datensilo? Wie der Kulturwandel als Ziel verankert und der Weg dahin transparent gemacht und gemessen werden kann, ist keine Aufgabe für den Finanzbereich, der in der Vergangenheit

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die meisten KPIs definiert hat. Vielmehr kann der Kulturwandel bereits bei der KPI-­ Definition starten: Teams von Mitarbeitern identifizieren geeignete Kennzahlen. Womöglich ist es aufschlussreicher zu zählen, wie viele Kanban-Board5 täglich aktualisiert werden, als zu ermitteln, wie viele Teilnehmer eine Scrum-Schulung absolvieren. cc

Tipp zur Fehlerkultur  Das Thema Fehlerkultur lässt sich noch viel breiter betrachten

als nur mittels einer Kennzahl. So können Mitarbeiter den „Fehler des Monats“ wählen, der dann gefeiert wird. Dies kann sich auch gerade in Unternehmen anbieten, in denen Fehler sehr gefährlich oder teuer sind und traditionell nicht vorkommen dürfen – aber sich trotzdem nicht vermeiden lassen. Beispielsweise wird in der Berliner Klinik Charité regelmäßig der „Fehler des Monats“ gewählt, um Fehlerprävention und den offenen Umgang mit dem Thema zu fördern (siehe [3]). Im Intranet kann jeder Mitarbeiter die Fehler kommentieren, was intensiv genutzt wird. Die Hinweise und das gemeinsame Lernen aus der Fehleranalyse wird zur Entwicklung von Präventionsstrategien für den Pflege- und Behandlungsalltag genutzt.

7.3.2 D  igital Maturity – Reifegradmodell für die digitale Transformation Eine erste Standortbestimmung mit einer kurzen Selbsteinschätzung, eine Digitale Agenda mit zahlreichen Maßnahmen sowie ein KPI-Set sind hilfreiche Instrumente für die erste Phase der digitalen Transformation. Ihnen gemeinsam ist, dass es sich vor allem um einen Blick zurück handelt: Wo steht die Organisation, welche Projekte wurden gestartet, wie sind diese vorangekommen, was ist bereits geschehen? Entscheidend ist jedoch der Blick nach vorne. Was gilt es zu erreichen, was muss zusätzlich getan werden, um diese Ziele zu erreichen, und wie können die knappen Ressourcen bestmöglich verteilt werden? Um diesen Blick nach vorne zu fördern, kann ein digitales Reifegradmodell helfen. Damit lässt sich ein gemeinsames Verständnis der Ambitionen in den unterschiedlichen Handlungsfeldern schaffen sowie der aktuelle Stand objektiv ermitteln. Aus der Differenz zwischen Ist und Soll lässt sich dann der Maßnahmenbedarf für die Zukunft ableiten. Wie kann so ein digitales Reifegradmodell aussehen? Zunächst werden für die einzelnen Handlungsfelder mehrere Hebel definiert, die für das Unternehmen relevante Teilaspekte eines Handlungsfelds adressieren. Im Handlungsfeld IT können dies beispielsweise die wichtigsten IT-Systeme wie ERP oder CRM sein und Themen wie IT Strategie, IT Sicherheit und IT Governance. Je nach Größe und Komplexität des Unternehmens sind je

 Eine Kanban-Board ist ein agiles Projektmanagement-Tool, das entwickelt wurde, um die Arbeit zu visualisieren, die Anzahl gleichzeitig durchgeführter Tätigkeiten zu begrenzen und die Effizienz durch optimierte Abläufe zu maximieren. Kanban-Boards werden oft in die drei Spalten „Angefordert“ (to-do), „In Bearbeitung“ (in progress) und „Erledigt“ (complete) unterteilt, in die dann jeweils Haftnotizen mit den jeweiligen Aufgaben kommen.

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Handlungsfeld drei bis sechs Hebel eine sinnvolle Anzahl. In Summe ergeben sich so 20 bis 30 Hebel. Weiterhin ist zu klären, wie viele Reifegrade unterschieden werden sollen. Sinnvoll sind 4 oder 5 Stufen, von nicht vorhanden oder Nachzügler bis hin zu einer führenden, im Wettbewerb nachhaltig differenzierenden Position. Es ergibt sich dann eine Matrix aus den Handlungsfeldern, die sich jeweils in mehrere Hebel unterteilen, und den Reifegradstufen. Nun gilt es, für jeden Hebel konkrete Kriterien für die unterschiedlichen Reifegradstufen zu finden, die möglichst einfach und objektiv messen, wo das Unternehmen steht. Bei IT-Systemen können dies Kriterien sein wie die Nutzung von Cloudtechnologien und APIs,6 beim Themenfeld Kunde Kriterien wie die Transparenz über die Kundenzufriedenheit (beispielsweise Nutzung des Net Promoter Score)7 oder die Anwendung von Konzepten wie Persona und Customer Journey. Tab. 7.1 zeigt einen Ausschnitt eines beispielhaften digitalen Reifegradmodells. Es gibt kein allgemeingültiges Modell. Jedes Unternehmen sollte für sich die Themen aufnehmen und die Kriterien abbilden, die Relevanz für das eigene Geschäft haben. Dabei gilt es stets, den Blick weit genug über den eigenen Tellerrand hinaus zu haben. Ein Automobilhersteller sollte also nicht nur Kriterien für Verbrennungsmotoren aufnehmen, sondern auch für weit darüberhinausgehende Mobilitätskonzepte. An der Erstellung des Reifegradmodells sollten die jeweiligen Fachbereiche und Experten aktiv mitwirken. Der Weg ist mindestens genauso wichtig wie das Ziel. Bereits die Erarbeitung kann viele fruchtbare Diskussionen hervorbringen. Außerdem ergibt sich so ein gemeinsames Verständnis, welche Kriterien in der Realität wirklich relevant sind, und wie diese zu interpretieren sind. Ist es erforderlich, in der Cloud zu sein, um einen hohen Reifegrad zu erreichen, oder kommt es nicht vielmehr darauf an, IT-Systeme so zu konzipieren und zu betreiben, dass sie hochgradig skalierbar und redundant sind? Ist es hilfreich, wenn möglichst viele Mitarbeiter eine Zertifizierung für eine bestimmte Methode wie Scrum oder Design Thinking haben, oder sollte der Blick auf andere Kriterien gerichtet werden, die besser zeigen, wie Agilität und Kundenorientierung gelebt werden? Die intensive Auseinandersetzung mit dem Reifegradmodell sorgt für ein besseres und gemeinsames Verständnis sowohl zwischen Management und operativer Ebene als auch horizontal zwischen den Fachbereichen. Dieser Dialog ist regelmäßig fortzuführen, denn auch das Reifegradmodell ist nicht statisch. Da sich das Umfeld mit der Wettbewerbssituation ständig ändert und die technologische Entwicklung rasant voranschreitet, sind auch die Kriterien regelmäßig an die neue Realität anzupassen.

 Die Abkürzung API steht für Application Programming Interface und bezeichnet eine Programmierschnittstelle. Sie dient dazu, Informationen zwischen einer Anwendung und einzelnen Programmteilen standardisiert auszutauschen. 7  Der Net Promoter Score (NPS) misst die Loyalität bzw. Zufriedenheit von Kunden. Er berechnet sich als Differenz aus dem Anteil der Menschen, die ein Unternehmen oder ein Erlebnis wie einen Produktkauf positiv beurteilen und weiterempfehlen (die sogenannten Promotoren), und dem Anteil der Menschen, die das nicht tun (Detraktoren). 6

[...] Daten

[...] [...]

[...] Kundenfeedback

Kundeninteraktion

Stufe 1: Bewerten Segmentierung anhand Merkmalen wie Umsatz, Region, Branche

Transaktionsorientiert Wie erfolgt die Interaktion mit dem Kunden? [...] [...] [...] Wie wird Feedback eingeholt, ausgewertet und genutzt?

Handlungsfeld Hebel Fragestellung Kunde Kundensegmentierung Wie wird die Kundenbasis segmentiert?

Tab. 7.1  Digitales Reifegradmodell (Ausschnitt)

[...] [...]

Stufe 2: Reagieren Kundenbasis wird mittels Personas nach qualitativen Attributen (Bedürfnissen, Motivation, Verhalten, etc.) kategorisiert [...]

[...] [...]

[...]

Stufe 3: Agieren Personas werden genutzt, um Kundenerlebnisse gemäß jeweiliger Kundenbedürfnisse zu gestalten

Hochgradig personalisiert mit umfassender Kenntnis des Kunden [...] [...]

Stufe 4: Führen Durchgängige Nutzung von Personas für alle Kundenerlebnisse in allen Kanälen und Kontaktpunkten zur Maximierung der Kundenzufriedenheit

7  KPI, Digital Maturity, Dashboard oder Empathie: Wie sich Fortschritt und Erfolg der … 79

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7.3.3 Ermittlung des Reifegrads Wenn das Reifegradmodell erarbeitet und alle Kriterien abgestimmt sind, kann der aktuelle Reifegrad der Organisation ermittelt werden. Für jeden Hebel lässt sich dann checklistenartig anhand der Kriterien ermitteln, wie weit fortgeschritten das Unternehmen oder die jeweilige Geschäftseinheit bereits ist. Die einzelnen Hebel innerhalb eines Handlungsfelds lassen sich gewichten, so dass ein gewichteter Mittelwert für jedes Handlungsfeld berechnet werden kann. Als nächste Aggregationsstufe lassen sich dann die Handlungsfelder gewichten, so dass ein Gesamtwert berechnet werden kann. Somit stehen für unterschiedliche Zwecke jeweils passende Detaillierungslevel zur Verfügung. Insbesondere bei einem Portfolio mehrerer Tochterunternehmen, für die jeweils der digitale Reifegrad ermittelt wird, lässt sich so schnell erkennen, wer in einzelnen Handlungsfeldern besonders weit vorne oder hinten liegt, ohne sich in Details zu verlieren.

7.4

Die digitale Transformation steuern

7.4.1 Festlegen der Ambitionen Das digitale Reifegradmodell eignet sich sehr gut, um die richtigen Prioritäten zu setzen und die notwendigen Maßnahmen für eine erfolgreiche digitale Transformation voranzutreiben. Ausgehend von einer guten Einschätzung der zukünftigen Marktsituation und den Kompetenzen, die auch neue disruptive Wettbewerber im Markt mitbringen, lassen sich die Unique Selling Points für das eigene Unternehmen bestimmen, die zukünftig besonders relevant und wichtig sind. Damit lässt sich die Frage beantworten, welcher Reifegrad im jeweiligen Handlungsfeld erforderlich ist, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Es gibt Handlungsfelder, in denen eine besonders hohe Reife erforderlich ist, um sich damit im Markt vom Wettbewerb zu differenzieren, und Handlungsfelder, bei denen eine branchenübliche Kompetenz ausreicht. In jedem Aspekt der Beste zu sein ist weder wirtschaftlich sinnvoll noch praktisch zu erreichen. Bestehen viele langfristige Kundenbeziehungen und steht ein reicher Schatz wertvoller Daten aus bisherigen Transaktionen zur Verfügung, kann sich daraus ein Wettbewerbsvorteil ergeben, sofern vorhandene Daten, moderne IT-Systeme und führende Datenanalysemethoden erfolgreich kombiniert werden. Für das Handlungsfeld Daten kann sich daraus die Ambition ergeben, hier einen besonders hohen Reifegrad zu erreichen. Setzen Unternehmen wie Amazon Standards bezüglich eines besonders kundenfreundlichen Einkaufserlebnisses beispielsweise im Retourenfall [5], so kann dies wichtig sein, um für das Handlungsfeld Kunde das notwendige Ambitionsniveau zu finden. Für jedes Handlungsfeld, idealerweise auch für jeden Hebel innerhalb der Handlungsfelder, wird dann der Reifegrad festgelegt, der in den nächsten 3–4 Jahren erreicht werden

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muss. Außerdem werden die innerhalb von 1–2 Jahren zu erreichenden Reifegrade definiert. Diese sollten ausreichend ambitioniert sein.

7.4.2 Maßnahmen ermitteln Nun zeigt sich, welche Kriterien noch zu erfüllen sind, um die jeweiligen Ambitionen zu erreichen, und wo Prioritäten zu setzen sind. Die Kriterien des Reifegradmodells helfen unmittelbar, Projektziele zu formulieren und anschließend die jeweiligen Projekte zu starten. Bei der Umsetzung kommt es dann gerade nicht darauf an, vorab definierte Lösungen umzusetzen, sondern durch viel Testen und im engen Dialog mit dem Kunden die Lösung zu finden, die ein echtes Kundenbedürfnis optimal adressiert. Der Weg, welchen die Projektteams nehmen, um das Ziel zu erreichen, wird daher nicht vorab festgelegt. Auch bei der Zusammenstellung der Projektteams sollte bewusst nicht in Abteilungen und Verantwortlichkeiten in der Hierarchie gedacht werden. Bereichs- und hierarchieübergreifende Teams, die viele unterschiedliche Erfahrungen, Kompetenzen und Herangehensweisen kombinieren, finden meist bessere und innovativere Lösungen. Dies gilt insbesondere dann, wenn kleine Optimierungen des aktuellen Status nicht ausreichen, sondern größere Sprünge notwendig sind, die in Abschn. 7.1 mit der Denkweise 10x bzw. Moonshot Thinking beschrieben wurden.

7.4.3 Motivierend messen Die Projekte benötigen Gestaltungs- und Entscheidungsfreiraum innerhalb klar definierter Grenzen und können beispielsweise die Scrum-Methode nutzen. Dies erfordert eine dazu passende Steuerung, die keine Kontrolle im herkömmlichen Sinn darstellt. Eine Diskussion darüber, was nötig ist, um ein Projektziel schnell zu erreichen, und wie das Management das Team bestmöglich unterstützen kann, ist weitaus zielführender als die Suche nach einem Schuldigen für einen schlechten KPI-Wert. Wichtig ist, eine so gute Vertrauensbasis in der Organisation aufzubauen, dass offen und ehrlich über die Schwierigkeiten und Hindernisse gesprochen wird. Vorgesetzte nehmen die Rolle eines Coachs und Mentors ein, schaffen die nötigen Voraussetzungen und beseitigen Hindernisse. Der Kulturwandel sollte vom Management auch dadurch vorgelebt werden, dass der ganze Prozess anders gestaltet wird als heute in vielen Unternehmen üblich. Anstatt KPIs über verschiedene Hierarchieebenen und Geschäftseinheiten hinweg zu konsolidieren und dann hinter verschlossenen Türen im Management über aggregierte Statusberichte zu sprechen, sollte ein regelmäßiger Dialog zwischen Geschäftsführung und den Projektmitarbeitern stattfinden und größtmögliche Transparenz für alle geschaffen werden. Der Dialog gibt dem Management nicht nur ein besseres Verständnis und Gefühl für den wirklichen Fortschritt und Hindernisse als eine Tabelle mit Zahlen, sondern ist auch ein großes Zeichen von Wertschätzung für die Mitarbeiter.

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7.4.4 Reifegrad nutzen und weiterentwickeln Wie in Abschn. 7.3.2 beschrieben, ist das Reifegradmodell regelmäßig inhaltlich zu aktualisieren. Das, womit ein Unternehmen heute führend in seiner Branche ist, kann bereits ein Jahr später veraltet sein. Die Auseinandersetzung mit Vorreitern und guten Beispielen aus der eigenen und benachbarten Industrien hilft nicht nur, die Kriterien des Reifegradmodells zu aktualisieren, sondern liefert auch viele wertvolle Impulse. Halbjährlich oder jährlich kann dann auch der aktuelle Reifegrad des Unternehmens ermittelt werden. Hierbei gibt es selten größere Sprünge. Es kann sogar Rückschritte geben, wenn andere Unternehmen schneller vorankommen und daher die Messlatte schneller höher wird, als die eigene Fähigkeit, diese zu erreichen. Wichtig ist die Frage, welche Kriterien für die als Ambition festgelegte Stufe noch zu erfüllen sind, und ob die laufenden Maßnahmen geeignet sind, diese überhaupt und schnell genug zu erreichen. Dementsprechend ist die Digitale Agenda anzupassen. Insbesondere, wenn das aktuelle Geschäft noch profitabel läuft, ist in der Organisation oftmals wenig Bewusstsein und Verständnis für Veränderungen vorhanden. Die aufgezeigten Instrumente wie das Reifegradmodell sollten genutzt werden, um in der gesamten Organisation möglichst viel Transparenz herzustellen und den Blick für die zukünftige Wettbewerbssituation zu schärfen. Der Erfahrungsaustausch über das eigenen Aufgabengebiet hinweg ist wichtig und richtig, auch wenn auf den ersten Blick die Erledigung des Tagesgeschäfts wichtiger erscheinen mag. Der Wert von Kommunikation und Diskussion sowie Offenheit und Transparenz wird von vielen Unternehmen unterschätzt. Hier gilt es, jede Initiative zu fördern, insbesondere Ideen für Kommunikationsformate und -wünsche, die von den Mitarbeitern kommen.

Literatur 1. Brenner, A., & Gentsch, P. (2016). Mit System digital transformieren. In T. Schwarz (Hrsg.), Leitfaden Digitale Transformation (S. 51–64). Waghäusel: marketing-BÖRSE. 2. Catlin, T., Scanlan, J., & Willmott, P. (2015). Raining your Digital Quotient. McKinsey Quarterly, 2015(3), 31–43. https://www.mckinsey.com/quarterly/the-magazine/2015-issue-3-mckinsey-quarterly. Zugegriffen am 22.07.2019. 3. Christ-Steckhan, C. (2010). Aus Fehlern lernen. Heilberufe, 62, 22–24. https://doi.org/10.1007/ s00058-010-0123-5. 4. Desmet, D., Duncan, E., Scanlan, J., & Singer, M. (2015). Six building blocks for creating a high-performing digital enterprise. McKinsey Digital, 2015, 26–33 . https://www.mckinsey.com/ business-functions/organization/our-insights/six-building-blocks-for-creating-a-high-performing-digital-enterprise. Zugegriffen am 22.07.2019. 5. Fuchs, J. (2019). Amazon verändert mit Retouren-Erleichterungen wieder den Markt. T3N. https://t3n.de/news/amazon-veraendert-markt-1176866/. Zugegriffen am 13.07.2019. 6. Kurzweil, R. (2001). The law of accelerating returns. https://www.kurzweilai.net/the-law-of-accelerating-returns. Zugegriffen am 12.07.2019.

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7. Kurzweil, R. (2005). The singularity is near: When humans transcend biology. New York: Viking Adult. 8. Nadella, S. (2017). Hit refresh. The quest to rediscover Microsoft’s soul and imagine a better future for everyone. London: William Collins. 9. Nanterme, P. (2016). Digital disruption has only just begun. World Economic Forum. https:// www.weforum.org/agenda/2016/01/digital-disruption-has-only-just-begun/. Zugegriffen am 12.07.2019. 10. Scheucher, G. (2014). So lange zündeln, bis der Funke kommt. KarriereSPIEGEL. https://www. spiegel.de/karriere/erfindungen-gelingen-nur-durch-mut-zum-scheitern-a-932332.html. Zugegriffen am 12.07.2019. 11. TAKKT AG (2019). Unternehmensziele und -strategie. Geschäftsbericht des TAKKT-Konzerns, 2018, 44–47. 12. Vance, A., & Musk, E. (2015). Elon Musk : Tesla, PayPal, SpaceX – wie Elon Musk die Welt verändert ; die Biografie. München: FinanzBuch.

Teil III Kulturwandel und digitales Mindset

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Die erfolgreiche Umsetzung eines Kulturwandels: Herangehensweise, Herausforderungen und Best Practices Svenja Reinecke und Tobias Krüger

8.1

Der Kulturwandel 4.0

Im Dezember 2015 traten die Gesellschafter Dr. Michael und Benjamin Otto sowie die sieben damaligen Vorstände der Otto Group auf einer Veranstaltung in der Hamburger Konzernzentrale vor mehreren hundert Mitarbeitern. Sie stießen dort einen Prozess an, der die tief greifendste Veränderung in der 70-jährigen Unternehmensgeschichte werden sollte: Den Kulturwandel 4.0. Dieser fordert und fördert das Umdenken bisheriger Denkund Verhaltensweisen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um die (Zusammen-)arbeit im Konzern nachhaltig zu verändern. Und er erfordert Kraft, um alle Unsicherheiten und Herausforderungen, die im Prozess unweigerlich verankert sind, auszuhalten. In diesem Beitrag werden die Herangehensweise an einen solchen umfassenden Veränderungsprozess und dazugehörige Herausforderungen beschrieben, sowie erste Best Practices und die Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Erfolgsfaktoren skizziert.

8.2

Wandel zwischen Kognition und Kickertisch

Der Kulturwandel 4.0 nimmt die raschen Veränderungen in der (digitalen) Wettbewerbsarena in den Blick, denn die digitale Transformation wird die Gesellschaft, die Wirtschaft und insbesondere den Händler- und Dienstleistungsmarkt in den nächsten Jahren viel schneller und disruptiver verändern, als das heute erkennbar ist. Digitalisierung ist das Buzz Word der Stunde – und ist dabei weit mehr als eine technologische Veränderung. Die Möglichkeiten der digitalen Innovationen scheinen schier grenzenlos, so dass wesentlich S. Reinecke (*) · T. Krüger (*) Otto Group, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_8

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S. Reinecke und T. Krüger

höhere und schnellere Anpassungsleistungen erforderlich sind, um auch in der Zukunft die Wünsche und Anforderungen der Kunden zu erfüllen. Unerlässlich ist also die Erkenntnis, dass der Kulturwandel die Basis für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg bilden wird – es gibt kein „Entweder Kulturwandel oder Erfolg“, es gibt nur „Erfolg durch Kulturwandel“. Es gilt sich daher die Fragen zu stellen: Warum soll es unser Unternehmen jetzt und in 20 Jahren noch geben? Wie wollen wir wirklich sein? Wie wollen wir (zusammen-)arbeiten und wie wollen wir unsere Zukunft gestalten? Dabei braucht ein Kulturwandel weit mehr als strategische Konzeptpapiere, die Einführung neuer Technologien und deren Finanzierung. In der öffentlichen Darstellung wird Kulturwandel auch häufig mit dem Aufstellen eines Kicker-Tisches und dem Anstreichen der Bürowände verbunden. Die Einrichtung ist jedoch nur das Offensichtliche, was am Ende nicht entscheiden ist. Nötig sind stattdessen neue Arbeitsmethoden, mehr Kollaboration und zwischenmenschliche Vernetzung, um die Möglichkeiten der Digitalisierung wertschöpfend nutzen zu können. Im Zentrum der Transformation stehen unumkehrbare Veränderungen von Haltung und Verhaltensweisen. Es geht darum, sich von klassisch Bewährtem zu verabschieden und das Prinzip der Fehlervermeidung, den Drang zur Perfektion und Optimierung, Silodenken, Hierarchien und starr definierte Prozesse mit langen Entscheidungswegen zu minimieren. Das mag in der Vergangenheit gut funktioniert haben – in einer Welt, in der Ursache und Wirkung noch im direkten Zusammenhang standen. Durch Digitalisierung und Plattformökonomie erleben wir jedoch eine tief greifende Disruption bestehender Strukturen und Prozesse. Die heutige Welt ist komplex und vernetzt. Wer darauf aus einem klassisch hierarchischen Unternehmen reagieren will, ist schlichtweg zu langsam. Es gilt Metakompetenzen aufzubauen und zu stärken, um auf all das Unvorhergesehene vorbereitet zu sein, was die Digitalisierung mit sich bringen wird. Digitaler Wandel wird also nur dann erfolgreich, wenn dieser von den Menschen gemacht wird. Diese wissen in der Regel sehr genau, was in der heutigen Welt nicht mehr funktioniert. Und benennen ebenso klar die Handlungsfelder, die es zu meistern gilt. Und doch scheitern viel zu häufig Veränderungsprozesse und Initiativen. Dies liegt nicht daran, dass die Menschen die Notwendigkeit für Veränderungen kognitiv nicht verstehen, sondern daran, dass sie nicht bereit sind, die eigenen Muster und Haltungen zu hinterfragen. Veränderungen sind im Kern keine Sache des Kopfes, sondern eine des Herzens.

8.3

Der Fisch stinkt vom Kopf

Eine Veränderung der Unternehmenskultur lässt sich nicht mit „Na, dann machen Sie doch Kulturwandel“ delegieren – zumindest, wenn man darunter mehr versteht als ein nettes Miteinander und schicke Büros. Dort wo eine neue Art der Zusammenarbeit entstehen soll, braucht es ein Umdenken und eine Umgestaltung der inneren Haltung, allen voran vom Management der Organisation. Nur mit dessen vollstem Engagement und dem sichtbaren Vorleben einer Veränderung kann es gelingen, alle Mitarbeiter zu aktivieren und einen unverhandelbaren Rahmen zu schaffen, in dem Kulturentwicklung stattfinden kann.

8  Die erfolgreiche Umsetzung eines Kulturwandels: Herangehensweise …

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Entscheidend ist dabei die Bereitschaft, traditionelle Muster zu hinterfragen und offen in einen Dialog zu treten. Zu Beginn des Prozesses sollte sich die Unternehmensführung öffentlich und glaubwürdig dafür aussprechen mit den Mitarbeitern gemeinsam die aktuelle Kultur zu erkunden und so diesen Prozess legitimieren. Diese Phase kann sehr unangenehm sein, denn hier geht es darum, sich der Wahrheit der Situation zu stellen. Gleichzeitig ist sie sehr wertvoll, denn endlich werden hier Verhaltensweisen sichtbar, oder sogar in Worte gefasst, die in der Vergangenheit nie ausgesprochen wurden. Die Führungskräfte sind herausgefordert, traditionelle Führungs- und Zusammenarbeitsmuster dort, wo noch vorhanden, in eine neue Offenheit zu verwandeln. Damit ist ein Kontrollverlust verbunden, den es als Gewinn anzunehmen gilt. Das setzt die Fähigkeit voraus, sich selbst neu zu definieren, Ängste und Sorgen auszuhalten. Fragen, die sich eine Führungsmannschaft beispielsweise stellen sollte, sind: Wie müssen wir uns sichtbar verändern? Wie arbeiten wir in Zukunft zusammen? Wie transparent sind wir? Befähigen und ermächtigen wir unsere Mitarbeiter genügend? Leben wir vor, was wir von unseren Mitarbeitern einfordern?

8.4

Dezentrale Umsetzung bei gemeinsamer Verantwortung

Wenn den Mitarbeitern Neugierde und Lust zum Aufbruch und eigener Veränderung gemacht werden soll, sollte ein Top-Down- um einen Bottom-Up-Prozess ergänzt werden. Nur dieser kann die Mitarbeiter über alle Firmen-, Hierarchie-, und Bereichsgrenzen ermuntern, die Verantwortung aufzuteilen und die Frage zu stellen: Was kann ich in meinem eigenen Wirkungskreis verändern? Indem jeder sein eigenes Wirken und Handeln hinterfragt, in den offenen Dialog und Austausch tritt sowie mutig ist und mitgestalten mag, treibt er den Kulturwandel voran. Damit geht einher, dass ein Vertrauensvorschuss durch die Führungsebene unabdingbar ist, ebenso wie die Erkenntnis, dass ein Kulturwandel ein intensiver Prozess wird, bei dem weder die Art und Weise noch die zeitliche Dauer absehbar sind. Der kulturelle Reifegrad und die Veränderungsgeschwindigkeit und -bereitschaft der verschiedenen Unternehmen eines Konzerns, aber auch einzelner Bereiche oder Teams einer jeden Organisation sind gänzlich unterschiedlich. So bedarf es beispielsweise heterogene Formate für die Mitarbeiter in der Verwaltung, für gewerbliche Mitarbeiter in der Logistik oder im Kundenservice. Kulturwandel fängt in den jeweiligen Lebensrealitäten an – für diese unzähligen Prozesse kann also niemand, der zentral einen Kulturwandelprozess steuert, der Experte sein. Mit diesem Bewusstsein geht die Einsicht einher, dass sich kultureller Wandel nur schwer messen lässt. Es geht um die Veränderung von Beziehungsqualitäten zwischen Individuen. Diese sind gleichzeitig nur Momentaufnahmen. Der Prozess selbst lebt diese neuentwickelten Qualitäten und wird von ihnen beeinflusst. So kann beispielsweise in einer Mitarbeiterbefragung sichtbar werden, dass sich die Erwartungshaltung der Mitarbeiter erhöht, sie etwa kritischer mit Führungsverhalten umgehen als noch zwei, drei Jahre zuvor. Das bedeutet, dass sich Maßstäbe individuell verschieben – was offensichtlich und gewünscht ist und somit nur schwer eine Vergleichbarkeit oder Quantifizierung zulässt.

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S. Reinecke und T. Krüger

Damit im Veränderungsprozess jedoch eine gemeinsame Orientierung gewährleistet wird und die Energie in eine Richtung fließen kann, empfiehlt sich ein gemeinsames Leitbild, ein Purpose, der bestenfalls partizipativ aus der Mitte der Kollegschaft entsteht. Solch ein Leitbild wird durch die Aktivitäten des Kulturwandels zum Leben erweckt.

8.5

Räume zur Veränderung schaffen und halten

Bei aller Dezentralität spielen jedoch Ganzheitlichkeit und Gleichzeitigkeit eine entscheidende Rolle: Zur Mitwirkung am Kulturwandel werden alle Mitarbeiter eingeladen. Es lohnt sich an dieser Stelle Spielregeln zu formulieren, zum Beispiel: „Alle haben die Möglichkeit, ihre Sicht zu äußern und gehört zu werden. Sie tun dies freiwillig. Und sie kennen ihre Bedürfnisse.“ So werden auch ganz von selbst die Personen sichtbar, die wirklich Lust auf den Wandel haben und Energie für Veränderungen in sich tragen. Diese energetischen Pioniere eignen sich perfekt, um mit ihnen ersten Themen anzustoßen. Um die Energie des Veränderungsprozesses zu Beginn hochzuhalten, sollte man nicht versuchen, Zweifler und Skeptiker zu bekehren. Wirft man jedoch einen Blick auf das System, nach dem eine Organisation funktioniert, sollten strategische Unterstützer beispielsweise aus den Bereichen Personalentwicklung, Organisationsentwicklung, Betriebsrat, interne Kommunikation und anderen Schlüsselfunktionen eingebunden werden. Nur so kann im Sinne der Nachhaltigkeit gewährleistet werden, dass wertvolle Impulse oder angestoßenen Projekte mit disruptivem Charakter zu einem geeigneten Zeitpunkt in die Regelorganisation überführt werden und so zu einem selbsttragenden Element im bestehenden System werden. Durch Verankerung in bestehende Prozesse und Übergabe der Themen in die „Natural-Ownership“ können geschaffene Räume gehalten werden, Veränderungen ritualisiert und neue Methoden, wie agile Prozesse, institutionalisiert werden. Darüber hinaus sorgen alle Schlüsselfunktionen und -personen, die frühzeitig eingebunden werden und an ersten Erfolgen des Kulturwandels teilhaben, für den gewünschten Multiplikatoreneffekt. Daneben steht die konkrete Skalierung der Veränderungsimpulse durch distribuierfähige Produkte, die konkrete Mehrwerte schaffen und sich in den Arbeitsalltag integrieren lassen. Einfach verteilen lassen sich beispielsweise Veranstaltungs- oder Workshop-­ Konzepte, Prozessdokumentationen, Informationsmaterialien, Erklärvideos und sogenannte Workhacks. Workhacks – abgeleitet von Lifehacks und damit englisch für Kniffe im Arbeitsleben – sind Methoden und Tools, die die Art wie wir (zusammen-)arbeiten verändern. Sie helfen im Arbeitsalltag dabei, ein Problem zu lösen, ein Ziel auf eine ungewöhnliche Weise zu erreichen oder die Effektivität und Wirksamkeit zu erhöhen  – vom kleinen Trick in Microsoft Outlook bis hin zum bereichsumfassenden FeedbackWorkshop.

8  Die erfolgreiche Umsetzung eines Kulturwandels: Herangehensweise …

8.6

91

Mit Mut den Marathon meistern

Deutlich wird, dass es für einen Kulturwandelprozess Mut bedarf. Der kommunikative Umgang mit Mut ist außerdem eine geeignete Methode, das abstrakte Konstrukt „Kulturwandel“ zu operationalisieren. Denn Mut ist in der digitalen Transformation ein wichtiger Wert. Es gilt, die Mitarbeiter einzuladen, neue Dinge auszuprobieren, sich einzumischen, Ideen oder Innovationen auf den Tisch zu bringen. Durch Formate wie beispielsweise einer sogenannten „Fuck Up Night“, bei der Mitarbeiter aus allen Hierarchieebenen von Fehlschlägen und Erkenntnissen daraus berichten, wird deutlich gemacht, dass Fehler erlaubt sind. Eine Experimentierkultur wird gestärkt. Die Otto Group hat in ihrem Kulturwandel 4.0-Prozess bisher viel Mut bewiesen und schon einiges erreicht. Wenn wir jedoch den ganzen Prozess mit einem Marathon vergleichen, befinden wir uns gerade erst bei Kilometer vier von 42. Es liegt also noch ein weiter Weg vor uns. Während der letzten vier Kilometer sind wir ziemlich häufig gestolpert, ab und an auch richtig hingefallen – doch immer wieder aufgestanden und gestärkter ­weitergelaufen.

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Etablierung einer New Work Kultur bei HEMA Interview mit Marco Niebling, Projektmanager und Coach bei HEMA Marco Niebling

Geeske von Thülen: Bitte beschreiben Sie den Kulturwandel bei HEMA und was diesen auszeichnet. Welche Rolle nehmen Sie hierbei ein? Marco Niebling: Im Januar 2014 haben wir von der klassischen hierarchischen Führung umgestellt hin zu einer Selbstorganisation mit autonomen Teams. Der Grund hierfür lag darin, dass wir Budgets und Zeitpläne in unseren komplexen Projekten oft nicht einhalten konnten und deswegen viele Projekte defizitär abgeschlossen haben. Auf Dauer hätten wir das nicht durchgehalten und daher haben wir für uns erkannt, dass wir etwas ändern müssen. Der Anstoß war hierfür schon ein riesiger Auftrag aus Russland im Jahr 2012, wo es darum ging ein Projekt in der Größenordnung eines Jahresumsatzes auf zwei Jahre zusätzlich abzuwickeln. Das war dann auch der der Zeitpunkt meines Einstiegs bei HEMA. Zuvor war ich beim Maschinenbau-Konzern Trumpf als Produktmanager tätig. Bei HEMA habe ich die Projektleitung für das Russlandprojekt übernommen mit der zusätzlichen Aufgabe, mich um Verbesserungspotenzial im Projektmanagement und im Service-Geschäft zu kümmern. Zu dem Zeitpunkt wurde bereits erkannt, dass Veränderungsbedarf besteht, eine mögliche Lösung oder Herangehensweise war aber nicht definiert. Das Russlandprojekt wollten wir ursprünglich klassisch starten. So, wie ich es auch vom Studium und von ­meinen bisherigen Arbeitgebern kannte. Ich habe zunächst ein tolles Projekthandbuch ­geschrieben, habe mir unsere Prozesse genau angesehen und Gespräche geführt und habe dann hinterfragt, ob es nachher überhaupt gelesen wird und wem es in dieser Form etwas bringt. Zufällig bin ich dann auf den agilen Ansatz gestoßen und war sofort begeistert. Ich M. Niebling (*) Heermann Maschinenbau GmbH, Frickenhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_9

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M. Niebling

habe daraufhin die Verantwortliche von dem Unternehmen, bei dem ich den agilen Ansatz gesehen hatte, zu HEMA eingeladen und auch mit dem Geschäftsführer des Unternehmens gesprochen. Nach den Erstgesprächen folgte die Erkenntnis, dass sich das Konzept nicht eins zu eins kopieren lässt, da es keine klassische Methode ist, sondern es vielmehr darum geht, alle Mitarbeiter mitzunehmen. Der erste Schritt dabei ist es, sich selbst zu beantworten, wozu man diesen Ansatz einführen möchten und Vertrauen als Grundlage zu setzen. Unsere Geschäftsführung hat sich im Sommer 2013 dann dazu entschlossen, den Ansatz auszuprobieren und zu konzipieren, ohne dabei final zu entscheiden, ob wir den Ansatz schlussendlich wirklich verfolgen werden. Wir haben damit begonnen, Workshops in unserem Unternehmen mit allen Mitarbeitern durchzuführen und uns Gedanken zu machen, wie so eine Selbstorganisation bei uns aussehen kann. Das fertige Konzept haben wir dann am 1. Januar 2014 ausgerollt und gesagt: „Okay, jetzt starten wir mal.“ Und „starten wir mal“ heißt: es gibt keine Führungskräfte mehr. Die Führungskräfte sind zwar nach wie vor in unserem Unternehmen, fungieren aber als Spezialisten. In einem Coaching Gespräch wurde dazu zuvor besprochen, wer in welchen Bereichen Interessen, Stärken und Präferenzen hat. Dennoch war es sehr wohl ein großer Schritt für die Führungskräfte, da sie ihren Status als Führungskraft erst einmal – und vermutlich für immer – ablegen mussten. Und deswegen wussten wir auch im Januar 2014 nicht, ob wirklich alle den Weg mitgehen und nach der Weihnachtspause wiederkommen. Aber es kamen alle und es sind auch noch alle Führungskräfte im Unternehmen. Aufgrund der Tatsache, dass alle Mitarbeiter im Russlandprojekt involviert waren, sind wir zunächst mit funktionalen Teams statt interdisziplinärer Teams gestartet. Das heißt wir haben erst einmal die Funktionen Montage, Fertigung und Konstruktion als jeweils ein Team deklariert. Circa anderthalb Jahre später haben wir aufgrund des hohen Organisationsaufwandes auf Wertschöpfungs-Teams umgestellt. Das heißt es gibt jetzt drei Wertschöpfungsbereiche: Das ist zum einen der Standard-Maschinen-Bereich, der nicht mehr so groß aber immer noch ein Standbein ist. Weiterhin ist es das After Sales Team, ein Bereich, der zuvor nur reaktiv genutzt wurde und seit der Umstellung durch die Nutzung von Synergien im Service sehr stark gewachsen ist. So haben wir beispielsweise das bestehende Kundennetzwerk und die Expertise des Montagemeisters dahingehend genutzt, dass dieser dann auch als Ansprechpartner bei technischen Problemen für die Kunden fungiert. Der Dritte Bereich ist der Sonderbereich, in dem wir weitere positive Effekte feststellen, wie beispielsweise, dass wir Engpässe jetzt viel früher erkennen, weil sich die Mitarbeiter schon frühzeitig mit dem, was sie tun, identifizieren und sich bereits im frühen Stadium mit ihren Erfahrungen einbringen. Dadurch können wir bevorstehenden Engpässen schon frühzeitig entgegenwirken, indem wir zum Beispiel zusätzliche Mitarbeiter auf einem Projekt einsetzen oder Baugruppen vorziehen, wodurch dann Montagen schon in kleinen Baugruppen abgeschlossen werden können, sodass nachher der Zusammenbau schneller geht. Im Ergebnis haben wir dadurch unsere Liefertreue stark erhöht und kommen auch mit den Budgets wieder zurecht. Neben der Änderung der Zusammenarbeit, spielt auch die strategische Ausrichtung und das Befassen mit unseren Stärken eine Rolle. Dadurch, dass die Mitarbeiter mehr Verantwortung übernommen haben, hat die Geschäftsführung die Möglichkeit, sich aus dem

9  Etablierung einer New Work Kultur bei HEMA

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operativen Geschäft zurückzuziehen und sich auf die strategische Ausrichtung von HEMA zu konzentrieren. Am Anfang war es das große Projekt in Russland, das uns Rückenwind gegeben hat, aber was danach kam, wussten wir nicht und auch eine strategische Ausrichtung hatten wir nicht. Wir haben eigentlich alles gemacht, was an uns herangetragen wurde. Und dann haben wir erkannt, dass wir diesen Spagat auf Dauer wahrscheinlich nicht mehr durchhalten. Daraufhin kam eine Ausrichtung hin zu diesen hochwertigen Leichtbau- und Dämmstoffen, auf die wir unsere Maschinentechnik hin spezialisiert haben, Innovationen entwickelt haben und dadurch den Kunden einen klaren Mehrwert bieten. Hier wollen wir auch Engpässe bedienen, die dem Kunden so noch gar nicht richtig bewusst sind. Daraus ist dann auch die Vision entstanden, dass wir Weltmarktführer in der ressourcenschonenden Verarbeitung von Leichtbaumaterialien und hochwertigen Dämmstoffen sein und damit einen nachhaltigen Beitrag für die Umwelt leisten möchten. Und das Ganze wollen wir nach wie vor am Rande des technisch Machbaren machen. Das heißt, es ist nicht immer von vornherein klar, ob das Projekt ein Erfolg wird. Aber wir lernen auch aus Projekten, die nicht so gut laufen, beziehungsweise können dann die Erkenntnisse in Folgeprodukte einfließen lassen. Geeske von Thülen: Wie dokumentiert und organisiert ihr eure Erfahrungen und macht diese dann auch für andere Kollegen sichtbar? Marco Niebling: Es gibt regelmäßig „Lessons learned“, in denen wir Projekte reflektieren. Die Punkte dafür werden schon während des Projektverlaufs gesammelt. Dafür gibt es Charts, mit denen man die gesamten Informationen für das Projekt transparent sammelt: Liefertermine, Budgets, Verkaufszahlen, Herausforderungen. Hierbei wird schon mitdokumentiert, was gut lief und was schlecht lief. Am Ende des Projekts gibt es dann einen Projekt Review, zu dem ich alle Beteiligten einlade. Hier ist es wichtig, dass die Personen im Review Meeting auch tatsächlich dabei sind. In dem Meeting wenden wir uns den Fragen „Was lief gut? Was läuft weniger gut? Und was machen wir zukünftig anders?“ zu. Entweder sammelt zunächst jeder für sich selbst und schreibt seine Punkte auf einen Post-It oder es gibt diese Post-Its schon auf der Tafel, die im Projektverlauf eingesetzt wurde. Anschließend diskutieren wir darüber und clustern diese Aspekte dann, um zu definieren, was wir zukünftig anders machen. Daraus machen wir ein Bild und legen dieses ab. Sehr pragmatisch dokumentiert. Aber durch das Gespräch ist es auch verinnerlicht und dadurch auch wieder abrufbar. Es gibt bei uns keine Wiki Datenbank und kein Managementsystem, wo wir das sammeln, sondern es geht bei uns viel um das persönliche Gespräch und um das Abladen in dem Moment, wenn es noch aktuell ist. Es ist uns wichtig, nicht nach Fehlern zu suchen, wenn wir ein Problem haben, sondern erst mal nach einer Lösung zu suchen und im Nachgang zu reflektieren, ob diese Lösung richtig war und was der Auslöser für das Problem war. Und genau dazu nutzen wir die Retrospektiven als Diskussion über die Zukunft, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Geeske von Thülen:

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Wie stellt ihr sicher, dass das Wissen für neue Mitarbeiter verfügbar ist? Marco Niebling: Zum einen hat jeder neue Mitarbeiter einen Mentor, über den wir versuchen, die neuen Mitarbeiter gezielt an ihre Arbeit heranzuführen. Bei uns geht es sehr viel um Spezialistenwissen. Das heißt für die neuen Mitarbeiter erst mal: mitarbeiten, zuschauen, diskutieren, auch mal selber ausprobieren und erste Erfahrungen sammeln. Generell stellen wir bei uns fest, dass man nicht der beste Spezialist sein muss, wenn man zu HEMA kommt, sondern man braucht einfach die richtige Haltung. Das heißt, offen zu sein und Hilfe anzunehmen ist ein ganz wichtiges Element. Wir erwarten realistisches von unseren Kollegen. Ich unterstütze diesen Prozess als Coach und Personalentwickler. Diese Rolle habe ich von Mitarbeitern zugeschrieben bekommen, weil ich aus ihrer Sicht der richtige hierfür bin. In meiner Rolle führe ich Gespräche, wie zum Beispiel einen Erwartungsabgleich in der frühen Phase und Beurteilungen, bei denen man eine Rückmeldung aus dem Team darüber bekommt, ob die ursprünglichen Erwartungen auch eingetroffen sind bzw. was man sich vom neuen Mitarbeiter noch wünscht. Das dient auch dazu, dass der neue Mitarbeiter sagen kann, was er an Unterstützung braucht. Und so entwickeln wir neue Mitarbeiter bei HEMA. Die neuen Mitarbeiter müssen nicht immer junge Mitarbeiter sein. Wir haben auch sehr viele ältere, die bei uns eingestiegen sind und sehr gut zurechtkommen. Und so versuchen wir uns gegenseitig zu qualifizieren. Auch Planungsphasen entstehen bei uns in einem Dialog. Das heißt, es wird etwas vorgestellt und jeder kann ­präsentieren, wie er es umsetzen würde. Dadurch kommen wir zu einer realistischen ­Abschätzung darüber, wie viel Aufwand wirklich darin steckt. Wir haben uns auch schon spielerische Methoden herangezogen, wie zum Beispiel „Planning Poker“, wo man dann sich erst mal zu dem Aufwand committen muss und dann danach darüber diskutiert und gemeinsam den Aufwand verabschiedet. Das haben wir anfangs ausprobiert, aber heute brauchen wir keine Karten mehr. Trotzdem stellen wir fest, dass wir heute wesentlich realistischer planen. Und wenn mal was aus dem Ruder gerät, weisen mehrere Personen darauf hin. Geeske von Thülen: Wie rekrutiert und selektiert ihr neue Mitarbeiter? Marco Niebling: Rekrutiert wird eigentlich sehr viel über Empfehlungen. Zunächst stellt das Team erst mal einen Bedarf an neuen Mitarbeitern fest. Das Budget wird dabei gemeinsam mit der Geschäftsführung diskutiert. Wir erstellen dann keine klassischen Stellenanzeigen mehr, sondern Rollenbeschreibungen, wodurch wir die Zielgruppe erweitern. Das heißt, es bewerben sich dann auch exotischere Personen bei uns, da wir nicht so klassisch aufs Z ­ eugnis oder auf den Werdegang schauen, sondern auch Quereinsteigern gegenüber offen sind. Und dann lernen wir erst mal den Menschen und seine Werte kennen und schauen, ob diese zu unseren Werten passen. Wenn wir dann beim Erstgespräch ein gutes Gefühl hatten, kommt die Person in die Teams, wo sie erst einmal Probe arbeitet. Dadurch bekommt der Bewerber die Möglichkeit, das Team kennenzulernen, aber auch andersherum be-

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kommt das Team die Möglichkeit, den Bewerber kennen zu lernen. Die Entscheidung darüber, wer nachher genommen wird, liegt beim Team. Das heißt es sind nicht immer meine Favoriten oder die Favoriten der Geschäftsführung, aber das sind viel akzeptiertere Bewerber, die dann auch besser angelernt werden. Sie kommen auch eher in ihren Teams zurecht und man übernimmt dann auch gerne die Mentorschaft, da man ja für die Einstellung dieser Personen bei HEMA auch gestimmt hat. Wir hatten zum Beispiel auch schon einen Barkeeper, der innerhalb von nur einem Jahr eine Umschulung zum Industriemechaniker gemacht hat und sich auf eine Stelle als Monteur bei uns beworben hat. Ich bin selbst auch ursprünglich gelernter Industriemechaniker und habe drei Jahre verkürzt die Ausbildung gemacht. Da haben wir erst mal diese Vorurteile gehabt, da wir dachten, es könne ja wohl nicht sein, dass man das in einem Jahr lernt und dachten, dass er bestimmt nichts können wird. Trotzdem haben wir uns dazu bekannt, ihn einzuladen, um uns die Geschichte mal anzuhören. Er hat uns dann erzählt, dass er sich aus privaten Gründen verändern musste. Er hat einen pflegebedürftigen Sohn, der immer größer wird und seine Frau wird der Sache nicht mehr alleine gerecht. Und dann hat er sich seiner Leidenschaft als Barkeeper abwenden müssen und benötigte einen geregelteren Job. Die Umschulung hat er auch sehr gut abgeschlossen und wir haben bei uns festgestellt, dass er ein total genialer Kundendienstleiter ist. Wir haben uns also für den Bewerber entschieden, haben gesehen, dass er das will und kann, dass er super zuhört, bei unseren Kunden super ankommt und deswegen sehr erfolgreich in unserem Team ist. Und das trotz einer so kurzen Ausbildung von nur einem Jahr. Das heißt, auch hier haben wir wieder festgestellt: Die Haltung ist das entscheidende, das Technische kann man lernen, wenn man die Hilfe von den Kollegen annimmt. Und dadurch gibt es auch unkonventionelle Wege, die man bei uns eingeschlagen hat und wir sind dann auch als Unternehmen dadurch erfolgreicher geworden, weil das Qualifikationen sind, die heute sehr gefragt sind. Geeske von Thülen: Wie haben die Mitarbeiter auf die Veränderungen und die erhöhte Verantwortung reagiert? Marco Niebling: Man hat ja teilweise Angst vor der Verantwortung, aber es haben alle erkannt, dass wir etwas ändern müssen. Es war nicht die Frage, ob wir etwas ändern müssen, sondern die Frage, wie wir den neuen Anforderungen gerecht werden können und wer wie viel Verantwortung tragen kann ohne, dass er sich selbst überbelastet. Da gab es nämlich schon ein paar, die sich erst mal persönlich überlastet haben, denen man dann im Gespräch bewusst machen musste, dass sie nicht alleine verantwortlich sind, sondern dass das gesamte Team die Verantwortung trägt und sie sich mit ihren Kollegen über das zukünftige Vorgehen austauschen sollten. Bei jedem Einzelnen war es also ein persönlicher Lernprozess. Es war immer sehr viel Mitbestimmung dabei. Das heißt, wenn es um spezielle Rollenbesetzungen ging, hat man nicht bestimmt, wer es macht, sondern danach entschieden, wer Lust darauf hat. Man hat Rollen vorgestellt, wie zum Beispiel den Gruppensprecher und Moderator, der in den einzelnen Teams den Überblick behält, Informationen sammelt, weiter-

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gibt und dann auch wieder zurückbringt. So haben wir versucht, den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Es ist natürlich unterschiedlich im Umfang, wer wie viel an Verantwortung übernimmt, was auch okay ist. Es gibt Rollen, die schwerpunktmäßig eher noch im operativen drin sind, die dann entweder mutieren oder einen guten Job als Spezialist machen und es gibt dann andere Rollen, die eher generalistisch sind, die auch mehr Mitsprache bei strategischen Themen haben. Und so hat eigentlich jeder einen Weg bei uns gefunden. Ein paar Mitarbeiter haben das Unternehmen altersbedingt 2015 verlassen und wollten daher auch nicht mehr so richtig beim Wandel mitmachen. Das hat man dann auch akzeptiert. Aber auch die haben selber gesehen, dass relativ schnell Erfolge sichtbar waren und dass es für sie auch keine Gefahr war. Und wenn jemand generell Probleme mit der Arbeitsweise hatte, dann haben wir die entsprechende Person auch gebeten, sich nach anderen Jobs umzusehen, da wir diesen Weg definitiv einschlagen werden. Dabei haben wir festgestellt, dass gerade jüngere Mitarbeiter, eine klassische Vorstellung von Karriere hatten, disziplinarische Führungskraft werden wollten und bestimmen wollten, was andere tun sollen. Darauf haben wir gesagt, dass wir das nicht bei uns wollen, weil wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gesehen haben, in welche Situationen uns das gebracht hat und dass es notwendig ist, dass sich die Verantwortung besser verteilt, dass wir niemanden überlasten und in unserem komplexen Umfeld die Initiative von jedem brauchen. Und dann haben zwei junge Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Das haben wir natürlich akzeptiert und die Stellen mit neuen Mitarbeitern besetzt, die genau in der Art zusammenarbeiten möchten, wie wir es tun und die von der Haltung besser zu uns passen. Interessant war, dass teilweise auch die jungen Mitarbeiter, die HEMA zunächst verlassen hatten, wieder zurückgekommen sind, da sie bei den neuen Arbeitgebern festgestellt haben, dass unser Weg doch nicht so schlecht war. Geeske von Thülen: Spiegelt sich die erhöhte Verantwortungsübernahme durch die Mitarbeiter auch in Gehaltsanpassungen wider? Marco Niebling: Wir haben erst mal die Gehälter so belassen, wie sie waren. Das heißt keiner hat Abstriche gemacht, selbst wenn er weniger Verantwortung hatte. Und wenn jemand mehr Leistung bringt oder mehr Verantwortung übernimmt, dann wird es auch gesehen und das spiegelt sich dann auch dementsprechend mittelfristig im Gehalt wider. Wir haben aber nicht über jede Rolle ein Gehalt definiert. Das heißt, an erster Stelle motiviert hier die sinnvolle Arbeit. Wenn wir dann feststellen müssen, dass die Arbeit erfolgreicher wird, dann entlohnen wir auch. Aber hier nicht in erster Linie Einzelpersonen, sondern wir versuchen, dass wir gemeinsam am Erfolg entlohnt werden. Das heißt bei guten ­Projektabschlüssen gibt es eine Gratifikation für alle und nicht nur einen Bonus für den Vertriebler. Bei einem herausragenden Jahresabschluss verteilen wir beispielsweise dann vier Prozent für alle. Jeder kriegt also gleich viel, unabhängig vom Einkommen. Aber auch Gehaltsanpassungen sind möglich. Auch hier haben die Mitarbeiter Mitsprache, wie wir das umsetzen

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wollen. Aber auch andersherum gibt es das Verständnis, dass es keine Erhöhungen gibt, wenn wir mal nicht so erfolgreich sind. Geeske von Thülen: Woran stellt ihr denn aktuell die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit dem neuen Konzept fest und woran würdet ihr eventuelle Unzufriedenheiten erkennen? Marco Niebling: Es gibt jetzt viel mehr Personen, die mitbekommen, was gut oder was weniger gut läuft. Jeder hat auch die Pflicht zu melden, wenn etwas nicht gut läuft. Vom Jammern wird sich nichts verändern. Es ist uns gelungen, dass Dinge angesprochen werden, wenn sie nicht gut laufen. Das wird dadurch erreicht, dass auch wirklich etwas passiert, wenn etwas angesprochen wird. Wir machen das zum einen systematisch durch regelmäßige Retrospektiven zu Technik und Zusammenarbeit in den Projekten aber auch dadurch, dass immer eine offene Tür da ist, wenn es was zu diskutieren gibt. Es wird auch viel mehr auf Augenhöhe mit den Kollegen ausdiskutiert, denn wir haben festgestellt, dass in der Vergangenheit viele Konflikte sehr viel Produktivität gekostet haben, weil der Meister sie nicht gesehen hat und sie einfach akzeptiert wurden. Jetzt, wo es auf einmal keinen Meister mehr gab, waren wir gleichberechtigt. Und dadurch sind viele Sachen angesprochen worden, bei denen es sehr wichtig war, dass sie mal auf den Tisch kommen. Das war zwar nicht sehr harmonisch, aber es war erst mal da. Und dann haben wir uns überlegt, was wir mit der neuen Erkenntnis machen, vor allem vor der Frage, ob wir in den Teams wie bisher weiter zusammenarbeiten können oder ob wir Umbesetzungen vornehmen müssen. Es gab dann zwar ein paar Umbesetzungen, aber es waren nur sehr wenige. Entscheidend war, dass das Problem erst mal transparent war und dass es geklärt wurde. Die Offenheit und das Gespräch zu suchen sind wichtige Elemente. Hier gibt es immer die Empfehlung: Überlege dir, ob du emotional dazu in der Lage bist. Das heißt: Ist es ist ein guter Zeitpunkt darüber mit einem Kollegen zu sprechen oder vielleicht später? Hierbei unterstütze ich als Coach und Moderator gerne. Als Coach gebe ich erst mal Fragen mit, durch die der Mitarbeiter selbst agieren kann. Wenn er selber nicht weiterkommt, dann moderiere ich auch oder mache die Mediation zwischen den Konfliktparteien. In der Vergangenheit war es häufig so, dass diese Entscheidung immer von der Geschäftsführung getroffen werden musste. Das heißt, wenn Konflikte richtig eskaliert sind, sind selbst Kleinigkeiten zur Chefetage getragen worden. Die Chefetage hat dann einen von beiden Streithähnen Recht gegeben und das war auf Dauer nicht zufriedenstellend, sondern führte auch zu viel Frust und dazu, dass Personen sich eher zurückgezogen haben. Seitdem wir das anders machen, haben wir wirklich tolle Rückmeldungen von den Mitarbeitern bis hin zu den Ehefrauen, die sich bedanken, wie sich die Männer verändert haben. Und auch die Vereine, in denen sich unsere Mitarbeiter engagieren, stellen fest, dass diese ihre Ehrenämter auch erfolgreicher ausführen, weil sie durch die Arbeitsweise, die bei uns erforderlich ist, persönlich gereift sind. Geeske von Thülen:

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Kommt es oft vor, dass solche Gespräche geführt werden müssen oder überwiegt die Zufriedenheit der Mitarbeiter? Marco Niebling: Es kommt immer seltener vor. Am Anfang kam es oft vor, mittlerweile weniger als früher, wo nicht alles angesprochen wurde und weniger, als am Anfang. Wenn es Themen gibt oder wenn man mal nicht erfolgreich ist, wenn wir unter Volllast laufen, entstehen Konflikte und die Konflikte sind wichtig, aber sie werden nun auch geäußert. Geeske von Thülen: In welchen Fällen sind selbstorganisierte Teams wirkungsvoll, was sind deine Empfehlungen? Marco Niebling: Ich glaube man braucht Teams, in denen eine direkte Kommunikation möglich ist. Sprich, Unternehmen dürfen für so eine Selbstorganisation oder für Wertschöpfungs-Teams nicht zu groß sein. Da ist es ratsam, einen Teiler zu finden, in dem man es zunächst ausprobiert. Denn wenn so etwas nur autark in einer Abteilung läuft, hat es nicht die Wirkung. Das heißt das Unternehmen sollte sich schon Gedanken über sein Ziel und seine Vision machen und hinterfragen, ob diese für alle gültig sind. Wenn man feststellt, dass die Vision eigentlich nur verwaschen ist, muss man sich unterteilen. Das heißt bis hin zur Aufsprengung von großen Unternehmen in kleinere Tochtergesellschaften. Gore ist für mich ein tolles Beispiel. Die haben mittlerweile mehrere Tausend Mitarbeiter und sprengen sich immer bei 200 Mitarbeitern in zwei Unternehmen à 100 Mitarbeitern auf, weil Innovationen, direkte Kommunikation und die Begleitung durch Mentoren für sie sehr wichtig sind. Dabei arbeiten sie auch weitestgehend selbstorganisiert. Das zeigt, diese Methoden funktionieren nicht nur bei kleinen Unternehmen, sondern auch bei großen, hier jedoch mit relativ viel Konsequenz. Aber es lohnt sich. Und gerade der Automobilindustrie würde es natürlich auch gut tun. Aber die haben noch nicht so richtig den Bogen bekommen, obwohl es viele Programme gibt, die aber noch nicht die Wirkung haben, weil diese nicht ernsthaft umgesetzt werden. So sagen zwar die Führungskräfte, die Mitarbeiter sollen selbstorganisiert arbeiten, aber in Wirklichkeit sollen sie es dann doch nicht. Und da wünsche ich mir auch, dass den großen Unternehmen für das Ausprobieren die Augen geöffnet werden und dass sie, wenn sie da erfolgreich sind, so was auch wirklich mutig umsetzen. Denn in komplexen Geschäftsbeziehungen mit Prozessorientierung und methodischer Ausrichtung vorzugehen, das ist nicht so zielführend. Also das wichtige hier ist, dass Interaktionen entstehen. Prozesse und Methoden können hier unterstützen aber sie dürfen einen nicht regieren. Das ist auch noch eine wichtige Erfahrung, die wir gesammelt haben. Geeske von Thülen: Hat sich durch die Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams etwas bei der Arbeitsraumgestaltung oder bei der räumlichen Zusammensetzung der Teams geändert? Marco Niebling:

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Wir haben für so etwas relativ wenig Budget zur Verfügung. Was wir eingeführt haben sind Stellwände und die Möglichkeit, dass man sich regelmäßig unten in der Montage trifft, dass man auch unten mit dem Laptop arbeitet, dass man überall ergonomische höhenverstellbare Tische hat und Besprechungen überall abhalten kann. Aber wir haben jetzt zum Beispiel nicht die Konstruktion in die Montage umgezogen, um alle sehr nah räumlich beieinander zu haben. Der Grund hierfür ist, dass wir denken, dass es auch mal wichtig ist, sich wieder innerhalb des Fachteams auszutauschen. Daher sitzen die Konstrukteure alle noch in ihrem Büro und haben Zeit, sich mit wenig Unterbrechung um die kreativen Aufgaben zu kümmern. Und die Teams stellen dann auch selber fest, dass sie den Kollegen erst mal konstruieren lassen sollten und ihre Fragen gezielt zum nächsten regelmäßigen Synchronisationstermin oder zur Sprechstunde mitnehmen sollten. Das heißt, es gibt viele sichtbare kreative Elemente, die die Arbeit unterstützen, aber jeder ist noch an dem gleichen Platz. Das After Sales Team ist das einzige, bei dem jetzt alle zusammensitzen. Da hat man die räumliche Nähe gesucht, weil es dort Sinn macht mitzubekommen, wer mit wem telefoniert. Geeske von Thülen: Was sind die wesentlichen Änderungen und die größten Unterschiede in der Unternehmenskultur bei HEMA durch den Wandel? Marco Niebling: Die neuen wichtigen Elemente sind: Offenheit, Vertrautheit, Stärken-Orientierung, ein gemeinsames Ziel, sinnvolle Arbeit. Die alte Welt war hierarchisch und durch Anweisungen und Kontrolle charakterisiert. Diese Dinge gibt es bei uns nicht mehr. Geeske von Thülen: Wie lange hat der gesamte Wandel gedauert? Marco Niebling: Ein agiler Transformationsprozess ist nie abgeschlossen. Aber natürlich ist am Anfang in dem ersten halben Jahr viel passiert. In den darauffolgenden Jahren ist auch noch mal was passiert und jetzt sind es kleine Iterationen, zu denen man sich regelmäßig aus dem Tagesgeschäft rausnimmt. Wir veranstalten zum Beispiel zwei bis drei Mal jährlich einen interdisziplinären Strategieworkshop mit bis zu 18 freiwilligen Personen aus unterschiedlichen Abteilungen und Funktionen von HEMA, wo wir uns zwei Tage mit unserer Version beschäftigen, insbesondere vor den Fragestellungen: Wie weit sind wir schon gekommen? Wo wollen wir hin? Hat sich was verändert? Wo wollen wir in zehn Jahren sein? Wer hat welche Rolle? Durch diese Workshops werden auch immer wieder Dinge in Form von Zusammenarbeit, Struktur oder Visualisierung angepasst. Bezüglich der Teilnahme bei diesen Veranstaltungen ist zu erwähnen, dass die Mitarbeiter dabei nicht vergessen, dass das Geschäft zugleich noch geschafft werden muss und daher schicken sie einen Vertreter mit, der sie und ihre Interessen vertritt. Wir haben auch schon erlebt, dass Mitarbeiter, die mitgeschickt wurden, nicht richtig mit Informationen ausgestattet wurden, was dazu

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führte, dass das Ergebnis des Workshops nicht richtig akzeptiert wurde. Und dann haben wir es nach einem halben Jahr in einem neuen Workshop noch mal ausgebessert. Geeske von Thülen: Was sind eure nächsten Ziele in Bezug auf die neue Arbeitskultur und den Kulturwandel? Marco Niebling: Wir möchten in unserer Spezialisierung noch weiter voranschreiten. Hier arbeiten wir jetzt gerade daran, Industrie 4.0 – also gerade Innovationen – noch besser einzutakten und dann noch weiter nach vorne zu kommen und dadurch noch mehr Wettbewerbsvorteil gegenüber unseren Mitbewerbern zu haben. Da sind wir schon auf einem guten Weg. Von unseren Kunden erhalten wir die Rückmeldung, dass wir heute schon deutlich schneller und effizienter schneiden als unsere Mitbewerber. Aber auch hier wollen wir uns technologisch weiterbilden. Das heißt durch die Arbeitsweise bei Innovationen Rückenwind zu bekommen, sodass wir hier eine Zukunft haben. Denn wir wissen sehr wohl, dass man auf Dauer wahrscheinlich nicht mehr so viele Maschinen verkauft, sondern dass es dann andere Produkte sein werden, die hier entscheidend sind, bis hin zu digitalen Produkten. Das heißt hier wird es schwerpunktmäßig Innovationen oder Innovationsteams mit freiwilliger Beteiligung geben, sodass wir uns hier technologisch weiterentwickeln. Ein weiteres Thema ist die Frage danach, wie wir Nachwuchs ins Unternehmen rekrutieren bzw. wie wir langjährigen Mitarbeitern auch altersgerechte Arbeitsplätze bei uns gestalten können, damit man nicht permanent unter Stress arbeitet und die Arbeit nicht so viel Kraft kostet. Wir präferieren hier jetzt auch wieder die Ausbildung. Am Anfang der Transformation, wo es dann keine Meister mehr gab, haben wir dieses Feld erst mal ausgesetzt, haben dann aber beschlossen, dass wir wieder ausbilden wollen. Das hatten wir am Anfang auch schon im Zielbild mit eingebunden. Demnächst kommen drei Azubis zu uns, bei denen wir das Thema Ausbildung ohne eigene Grundausbildung integrieren wollen, sprich Projektspezifität und agile Projekte werden auch in die Ausbildung einfließen. Auch bei der Frage nach der Art der zukünftigen Zusammenarbeit, beim Geben von Freiheiten und Ausprobieren von Selbstständigkeit, sowie bei neuen Geschäftsfeldern für HEMA, sind wir sehr experimentierfreudig. Ich habe zum Beispiel auch eine Teilzeitstelle, das heißt ich bin nicht mehr fünf, sondern vier Tage im Betrieb, weil ich gesagt habe, dass nicht alles von mir abhängig sein darf. Das hat die Geschäftsführung auch eingesehen und jetzt bin ich noch einen Tag die Woche als Coach unterwegs und begleite auch andere Unternehmen. Und meinem Beispiel, das die Geschäftsführung auch für gutgeheißen hat, folgen nun noch weitere. Die Kollegen im Schaltplanbereich sagen zum Beispiel, sie möchten sich selbst weiterbilden und dies dann auch als Selbstständige anbieten. Hier spielt das Thema Netzwerk auch so ein bisschen rein: Bedarfsgerechte Projektkonstellation, externe Personen zu integrieren bis hin zur Zusammenarbeit mit Lieferanten, damit Innovationen entwickelt werden, die uns die Zukunft sichern. Geeske von Thülen:

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Welche Rolle spielt der Austausch mit anderen Unternehmen? Marco Niebling: Der Austausch mit anderen Unternehmen ist ganz wichtig. Auf Arbeitsebene ist es so, dass wir bei HEMA Praxistage anbieten. Das sind maximal zwölf Personen starke Netzwerktreffen, wo man die Arbeitsweisen von uns kennenlernt, sich mit Mitarbeitern austauscht und wir auch eine kollegiale Beratung bekommen. Die Teilnehmer können für sich dann auch reflektieren, inwiefern unser Weg auch was für sie sein kann. Da hatten wir bereits über 200 Gäste bei HEMA. Wir denken, dass die selbstorganisierte Community für die Etablierung eines angepassten Weges sehr wichtig ist. Dazu tragen wir unseren Teil bei, weil wir auch selber davon profitieren. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit den Kunden eigentlich das Wichtigste. Nah an den Kunden zu sein und diese auch in Workshops mit einzubinden, viel Kontakt mit ihnen zu pflegen und wenn es Innovationen gibt, den Kunden auch einzuladen, um die Innovationen dann auch aus Kundensicht bewerten zu lassen ist uns wichtig. In den letzten zwei Wochen hatten wir elf Kunden bei uns im Haus, die sich eine neue Entwicklung anschauen konnten und teilweise auch hier Versuche fahren konnten. Und damit sind wir sehr nah am Kunden dran. Zudem hinterfragen wir, welche Erwartungen oder welche Voraussetzungen wir im Unternehmen bezüglich Räumlichkeit und Ausstattung brauchen, damit wir gut zusammenarbeiten können. Gerade wenn die Mitarbeiter an den Themen dranbleiben, von denen sowohl der Kunde als auch der Mitarbeiter und das Unternehmen profitieren, dann sind wir auf der Erfolgsspur. Dann werden wir unserer Vision näherkommen. Dann wird das, was wir machen und wo wir unsere Energie investieren auch Sinn machen. Geeske von Thülen: Macht ihr das auch andersherum, dass ihr Impulse von anderen sammelt? Marco Niebling: Ja, ich war zum Beispiel in Würzburg auf der Konferenz „The Future Code“, wo ich Impulse gesammelt habe, die ich in unser Unternehmen einbringe. Zudem gibt es andere Fortbildungen, zu denen Einzelperson hingehen und das Gelernte als Impuls mitbringen. Zu Thema Industrie 4.0. habe ich mit Wittenstein ein intensives Gespräch über die Antriebe geführt, die wir verbauen. Wir haben Industrie 4.0 Projekte, in denen es um Digitalisierung von Maschinen und Auswertung von Maschinendaten geht und wo Zusammenhänge erkannt werden, bei denen wir Technik entdecken, die auch potenziell für uns interessant sein könnte. Ein weiterer Faktor sind Community Tage, zu denen die Geschäftsführung oder ich hingehen, wo man seine Fälle, die einen gerade beschäftigen, vorstellt oder auch anderen mit der Erfahrung von Arbeitsweisen oder technologischem Wandel Rückmeldung gibt. So sind wir relativ viel unterwegs, um uns nicht zu stark in der eigenen Suppe zu drehen, sondern uns den Blick über den Tellerrand offen zu halten. Geeske von Thülen:

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Welche Handlungsempfehlungen würdest du anderen Mittelständlern mitgeben, die jetzt auch den Wandel vollziehen möchten und noch ganz am Anfang stehen? Was sind deine Key Learnings? Marco Niebling: Mein Key Learning ist, dass man sich erst mal bewusst machen muss, wozu man das alles machen möchte. Es ist wichtig, auch wenn man immer noch erfolgreich ist, sich mit der Welt zu beschäftigen, um zu verstehen, wie sich die Welt gerade verändert. Zum anderen helfen Megatrends dabei, sich Gedanken zu machen, wie man mit diesen umgehen und davon profitieren kann, wenn man nicht so erfolgreich ist. Erst dann, wenn man sich das „Wozu?“ beantworten kann, ist man auch wirklich bereit, sich zu verändern. Viele Change Projekte misslingen, weil sich gleich Gedanken darüber gemacht wird, wie es zu machen ist und nicht warum. Ein Beispiel ist, Scrum als Methode einzuführen, ohne sich richtig bewusst zu machen, wozu es gebraucht wird. Wenn man da die Mitarbeiter oder die jeweiligen Betroffenen in dem Bereich mitgenommen hat, dann kann man sich gemeinsam Gedanken machen, wie man das Ziel erreicht uns was dabei helfen kann. Es ist wichtig, vieles auszuprobieren und wenn es wirkungsvoll ist, dann zu etablieren. Aber wichtig ist es auch, genauso das Wahlrecht zu haben, es anders zu machen oder einzustellen. Denn was letztendlich getan wird, das kann jeder mit einem klaren Ziel oder einer klaren Vision selber entscheiden. Da kann man sich raushalten, das muss man auch nicht kontrollieren. Zudem ist es ganz wichtig, zu vertrauen und alles dafür zu tun, dass Mitarbeiter dieses Vertrauen auch fühlen und sie nicht die ganze Zeit zu kontrollieren oder Anweisungen zu geben oder sich über deren Meinung hinwegzusetzen. Und da stellen wir fest, dass die meisten Unternehmen immer denken, dass es nur bei anderen funktioniert, sie selbst aber die falschen Leute haben und es daher im eigenen Unternehmen nicht funktioniert. Das ist aber der größte Trugschluss, den man haben kann. Jedes Unternehmen hat die richtigen Mitarbeiter. Aber teilweise haben sie Rahmenbedingungen nicht, die so eine Form der Zusammenarbeit zulassen. Das heißt es sind Rahmenbedingungen gemeinsam zu definieren, bei denen man sich ausprobieren kann und wo es ein klares Ziel gibt und das Unternehmen weiß, wo es eigentlich hin will. Denn wenn man in das private Umfeld der Mitarbeiter reinschaut, falls man Einblick hat, sieht man, dass sie es da schon genau so machen: Da bauen sie Häuser, ziehen ihre Kinder groß und übernehmen Verantwortung in Vereinen. Aber die Arbeit ist es häufig ein Ort, wo man das noch nicht darf. Und das halten Unternehmen auf Dauer nicht durch. Das ist auch ein bisschen historisch bedingt. Früher kamen die stark individuellen Bauern in die Industrie. Und denen hat man gesagt, dass sie jetzt funktionieren müssen, indem ihnen vorgegeben wurde was sie tun und was sie nicht tun sollten. Das ging viele Jahre lang gut, in denen man durch Effizienz die Zukunft sichern konnte. Heute, in einer globalen Welt mit starker Individualisierung, wo es um komplexe Produkte geht, weiß man nicht mehr, was man seinen Mitarbeitern sagt, was sie tun sollen. Das haben wir festgestellt. Und auf diese komplexe Welt müssen wir uns einrichten und dafür brauchen wir neue Herangehensweisen. Und die haben wir in unserer Arbeitsweise gefunden.

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Zusammenfassung Zu Beginn einer jeden Änderung sollte die Frage nach dem „Wozu“ beantwortet werden, statt sich auf das „Was“ zu stürzen. Die neue Arbeitskultur bei HEMA zeichnet sich durch Offenheit, Vertrautheit, Stärken-­ Orientierung, ein gemeinsames Ziel und sinnvolle Arbeit aus. Um Teams zur Selbstorganisation zu befähigen, sollte Vertrauen als Grundlage gesetzt und dieses den Mitarbeitern auch spürbar gemacht werden. Es ist wichtig, die Mitarbeiter schon bei der Entwicklung der Ideen für die Ausgestaltung der neuen Zusammenarbeit mit einzubeziehen. Die neuen Rollen in den Teams sollten stärkenorientiert und nach individuellem Interesse verteilt werden. Dies impliziert, dass sich die Mitarbeiter mit ihren neuen Rollen besser identifizieren und so auch bewusster und effektiver arbeiten und Probleme frühzeitig identifizieren und kommunizieren. Durch die Verlagerung der Verantwortlichkeiten von den Führungskräften auf die Mitarbeiter wird es den Führungskräften ermöglicht, sich strategischen Themen zu widmen. Bei der Wahl geeigneter Mitarbeiter steht die Haltung vielmehr im Vordergrund als das vorhandene Wissen, denn mit der richtigen Einstellung und zueinander passenden Werten, können lernwillige neue Mitarbeiter schnell von Kollegen lernen und sich effektiv in das Team einarbeiten. Hier ist ein harmonisches Zusammenwirken im Team sehr wichtig, weshalb die Personalentscheidung bei HEMA vom Team selbst getragen wird. Die Unternehmensgröße stellt einen wichtigen Faktor bei der Effektivität von selbstorganisierten Teams dar. Für größere Unternehmen empfiehlt es sich, sich ab einer gewissen Anzahl an Mitarbeitern in kleinere Tochterunternehmen mit eigenen Zielen und Visionen aufzugliedern.

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Mitarbeiter, Kultur, Werte – von E-Commerce bis zur digitalen Prozessoptimierung Interview mit Vanessa Weber, Geschäftsführerin des mittelständischen Familienunternehmens Werkzeug Weber Vanessa Weber

Harald R. Fortmann: Frau Weber, Sie haben das Unternehmen von Ihrem Vater mit 22 Jahren direkt nach Ihrer Ausbildung ungeplant übernommen. Wie beschreiben Sie diese Erfahrung? Vanessa Weber: Jeder weiß: Einfach ins kalte Wasser geschmissen, lernst Du am schnellsten das Schwimmen. Auch ich konnte dadurch sehr viel lernen. Zum einen darüber, Entscheidungen zu treffen, zum anderen auch: Wie bin ich so drauf? Wie will ich führen? Und was möchte ich mit dem Unternehmen machen? Wie diesem den Stempel meiner Persönlichkeit aufdrücken und zugleich das Wertvolle bewahren? Harald R. Fortmann: Wie hat sich das Geschäftsmodell unter Ihrer Führung geändert? Vanessa Weber: Unser Verkaufs- und Wirkungsgebiet war früher und ist auch heute noch recht klein, ich sag mal so 50 Kilometer um den Kirchturm Aschaffenburg herum. Aber unsere Geschäftsfelder und unsere Tätigkeiten haben wir stark erweitert. Wir haben schon immer Werkzeuge an die Großindustrie geliefert und waren dabei in der Region Mainfranken eher Automobil lastig. Und ich habe dann angefangen, auch an der Betriebseinrichtung etwas in Richtung „neue Arbeitswelt“ zu ändern. Das war so das erste, wo wir unseren Kunden dann auch angeboten haben, deren Räume zu gestalten. Zudem haben wir auch früh angefangen, 3D Zeichnungen für die Kunden zu machen, damit sie sich vorstellen können, V. Weber (*) Werkzeug-Weber GmbH & Co. KG, Aschaffenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_10

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wie die neue Raumgestaltung aussehen kann. Dies war ein entscheidender Vorteil gegenüber unseren Wettbewerbern, bei denen es meist nur Standardfarben wie resedagrün, blau und grau, enzianblau und lichtgrau gab. Man sieht, die Palette war sehr eingeschränkt. Und ich habe halt eher gedacht: „Wie kann ich mich jetzt in der Werkzeugwelt als Frau irgendwie doch erfreuen?“ Und da hat mir das Gestalten und Planen von Räumen großen Spaß gemacht, so dass ich dann auch mal gesagt habe: „Bosch Rexroth, ihr habt doch rot in der Firmenfarbe. Warum nehmen wir das nicht für eure Schubladen?“ Ich habe also angeboten, Betriebsausstattungen passend zur Corporate Identity anzubieten. Denn ich war auch schon immer marketingaffin. Und das habe ich dann auch so in die Kundschaft reingebracht und viel ausprobiert. Wir haben auch sofort als es Virtual-Reality-Brillen gab, diese für einen virtuellen Kundenrundgang mit 3D Rendering als Dienstleistung ausprobiert. Das ist aber irgendwie nie angenommen worden. Und obwohl auch 3D Druck nicht unser größter Umsatzbringer ist, zeigen wir dadurch, dass wir das Know-how und die Innovationskraft haben und dass wir uns mit solchen Themen beschäftigen und eben kein verstaubtes Unternehmen sind, dass nur an der Tradition festhält. Bei mir war es schon immer so, wenn ich eine neue Idee hatte, dass ich diese auch ausprobiert habe, auch um den Preis, vielleicht Pionier gewesen zu sein und mit der Idee zu scheitern. Aber ich will es immer zumindest versucht haben. Harald R. Fortmann: Im Bereich E-Commerce waren Sie Pionier Ihrer Branche im Werkzeughandel. Heute hingegen sind Sie nicht mehr im E-Commerce tätig. Wie sind Sie zum E-Commerce gekommen und was hat dazu geführt, dass Sie den Schritt wieder zurückgegangen sind? Vanessa Weber: Mit E-Commerce ging es durch zwei Aspekte los: Der erste war Redcoon, ein Aschaffenburger Unternehmen, welches eine der größten Plattformen für Elektrovertrieb im Bereich Computer etc. neben Amazon war. Ein Händlerkollege sagte dann zu mir: „Du, mir ist das irgendwie zu viel. Wir können die gar nicht so bedienen, wie die das wollen. Willst Du die Plattform nicht bedienen? Du bist doch da eher affin.“ Da habe ich sofort zugesagt. Das ist ein Geschenk des Himmels, denn die machen ja auch einen riesigen Umsatz. Dadurch haben wir uns auch schon viel mit Prozessen und Daten auseinandergesetzt, denn natürlich müssen Daten in einem Online-Shop in anderer Weise vorhanden sein und aufbereitet werden als wir die bei uns im System einspielen. Das waren schon die ersten Schritte. Wir mussten sehr auf Datenqualität achten. Der zweite Aspekt war das Amazon-Geschäft, bei dem unser Einstieg mittlerweile fast zehn Jahre her ist. Das kam über eine Freundin, die, weil ich so viele platzeinnehmende Bücher daheim hatte, zu mir sagte: „Weißt Du eigentlich, dass Du auf Amazon nicht nur Bücher kaufen kannst, sondern auch welche verkaufen? Und auch nicht nur Bücher, sondern alles Mögliche.“ Ich kannte die damals wie gesagt nur als Online-Buchhändler. Dann haben wir angefangen, gängige Boschmaschinen als Marketplace-Händler dort einzustellen und zu verkaufen. Und da das ja noch völlig fremd, aber eben auch neu war für alle,

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waren wir da natürlich schnell sehr erfolgreich. Weil so bis zu 100 Akkuschrauber und so ein Multimaster-Nachbau im Heimwerker-Bereich von Bosch, waren der absolute Renner. Und von den kleinen IXO-Geräten haben wir rund hundert im Monat verkauft. Daraufhin wurden wir zusammen mit den anderen besten Marketplace-Händlern von Amazon nach Leipzig eingeladen, um uns deren Logistik anzusehen und weitere Angebote zu erhalten. Anwesend war dort auch Peter Cummings aus Amerika, der eine hohe Position bei Amazon verantwortet und der uns sehr für unsere Arbeit gelobt hat. Schließlich halfen auch die Marketplace-Händler mit, Amazon als Plattform groß und bekannt zu machen. Beim Durchgang im Lager habe ich gesehen, dass da noch andere Bosch-Geräte stehen, die, wie mir auf Nachfrage mitgeteilt wurde, von irgendwelchen Händlern als Vendor-Geschäfte eingelagert waren. Werkzeuge und Maschinen waren ja da bei Amazon noch kaum existent. Und durch meine Nachfrage, ob eine Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit mir denn nicht auch interessant für sie wäre, haben sie mir den Kontakt zum damals ganz neu aufgebauten Do-it-yourself-Bereich gegeben, denen ich dann direkt zwei Tage später meine Expertise für den Bereichsaufbau angeboten habe. Mit unserem kompletten Katalogportfolio im Gepäck, ich glaube der Turm war 1,80 Meter hoch, sind wir dann angereist. Weil er gesagt hat, er will mal sehen, was wir an Portfolio können und damals gab es das auch noch nicht in digitaler Form. Und dann hat der Einkäufer gesagt, dass er alles von A bis Z anbieten will. Denn irgendjemand brauche ja schließlich immer was. Und besonders die weniger gängigen Produkte werden im Netz gesucht, denn wenn sie gängig wären, dann würden sie ja über den Laden gekauft werden. Und die Leute suchen eigentlich im Internet genau das, was sie eben nicht im Laden finden. Und deswegen wollten sie genau diese Artikel haben. Bei solchen Artikeln gibt es auch keine Saison, generell nicht bei Amazon; bei Amazon gehen Bikinis auch im Dezember. Irgendeiner fährt ja immer in Urlaub oder wohnt an einem See. Das ist das Grundverständnis von Amazon – immer alles verfügbar. Und dann haben wir tatsächlich angefangen, mit Amazon den kompletten Do-­ it-­yourself-Bereich aufzubauen und haben da auch ein recht großes Rad gedreht. Fast 50 Prozent unserer Umsätze gingen über Amazon. Und die hatten dann so Größenordnungen von 1000 Akkuschraubern im Monat. Wir waren vorher bei 100, um mal eine Größeneinordnung zu geben, was da auf einmal möglich wurde – 1000 Stück hatte mein Vater in seinem ganzen aktiven Geschäftsleben noch nicht verkauft. Wir haben das aber schon auch sehr, sehr „lean“ angefangen: mit einer Mitarbeiterin im Innendienst und einem Mitarbeiter für das Lagermanagement. Die Hersteller waren damals alle noch nicht in der Lage, die bürokratischen Anforderungen, die Amazon an die Anlieferung hatte, logistisch abzuwickeln: gewisse Packhöhen, gewisse Gewichte und so weiter. Amazon war ja schon immer sehr prozessoptimiert unterwegs, hauptsächlich eben mit Büchern. Aber Bücher sind halt kleinere Güter, da ist das auch ein bisschen einfacher. Wir haben dann von den Herstellern die Sachen bekommen, haben die umgepackt, umgelabelt und dort wieder hingeschickt. Insofern waren beide Parteien ja ein Stück weit von uns abhängig: Amazon, weil sie nicht direkt beliefert wurden von den Herstellern. Deren Internetgeschäft war noch nicht vorhanden und die haben es noch nicht als relevanten Markt gesehen, den sie selbst bedienen wollten. Das heißt, wir haben für die Hersteller da die ganze „Drecksar-

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beit“ gemacht. Allerdings muss man auch sagen: Zu dem Zeitpunkt konnten wir auch noch Preise nehmen, an denen wir gut verdienen konnten, denn es gab ja auch keinen Wettbewerb in dem Sinne. Schon da haben wir gelernt, sehr prozessoptimiert zu arbeiten. Denn einen Lieferschein und eine Rechnung für 1000 Akkuschrauber zu schreiben, ist wesentlich weniger Arbeit, als tausende einzelne Akkuschrauber zu verkaufen. Deswegen war für uns Marketplace schnell eh passé, denn da mussten wir diese hundert Akkuschrauber einzeln verpacken und hundert Mal eine Rechnung schreiben. Von daher war uns der Weg natürlich auch viel lieber. Da haben wir uns auch drauf konzentriert, bis dann Amazon sich irgendwann entschieden hat, sich vom Handel zu trennen und sich dann möglichst so verhalten hat, dass auch die Händler das Interesse an der Zusammenarbeit verlieren. Amazon forderte irgendwann von den Herstellern einen Werbekostenzuschlag und 20.000  Euro, damit diese überhaupt sichtbar werden. Und da konnte ich immer sagen: „Ich bin ja nicht der Hersteller, wo soll ich denn 20.000 Euro hernehmen? Und warum? Wenn ihr das Produkt gut findet, dann macht, aber ich kann da nichts zahlen. Es ist mir auch egal, ob Bosch bekannt wird oder nicht. Das ist nicht mein Problem.“ Und deswegen hatten die da auch keine weitere Ertragsquelle. Amazon forderte dann immer mehr Strafzahlungen und so weiter und sagten letztlich: „Einen Ansprechpartner gibt’s nur noch ab zehn  Millionen Euro Umsatz. Und ansonsten muss man alles per E-Mail einreichen oder die ausländischen Call-Center kontaktieren.“ Von der anderen Seite haben auch die Hersteller gemerkt, dass der Markt interessant ist und sie doch in Direktkommunikationen gehen sollten, weil sie das Gefühl hatten, dass sie ihr Geschäft und den Markt dann besser unter Kontrolle haben, was natürlich auch nicht der Fall ist und sie ja heute auch in große Schwierigkeiten bringt. Denn das Thema Preisverfall ist ja einfach da. Dadurch haben wir uns vor eineinhalb Jahren komplett aus dem Geschäft zurückgezogen. Natürlich war das ein riesiger Umsatzeinschnitt, aber ertragsseitig wiederum nicht. Zuletzt war es dann eher sogar aufgrund der Buchhaltungszeit etc. ein Minusgeschäft, denn man muss bei jedem Kleinstabzug gucken, wo er hingehört um warum er durchgeführt wurde und ggf. widersprechen. Also, die wissen schon, wie sie das machen. Amazon hat ja schon vor fünf Jahren ungefähr zu mir gesagt: „Frau Weber, Sie sind ein notwendiges Übel. Wir wollen Sie ja eigentlich nicht.“ Dadurch haben wir schon früh erkannt, dass das kein Geschäft für die Ewigkeit ist. Redcoon haben wir gemacht bis es an die Metro verkauft wurde und sie von Aschaffenburg weggezogen sind. Bis dahin war das für uns auch logistisch kein Problem. Nur, wenn man den statistischen Umsatz zwischen Amazon und Redcoon vergleicht, dann sieht man, dass Redcoon kein Zehntel von Amazon gewesen ist, obwohl die ja auch in ihrer Nische der größte Player waren, aber Amazon hat einfach alle überholt. Aufgrund der Zahlen beider Absatzmöglichkeiten habe ich dann auch für mich festgestellt, dass ich da mit meinem eigenen Online-Shop nie eine Relevanz erreichen werde. Viele Händler kamen damals in Goldgräberstimmung und sind ins E-Commerce eingestiegen. Ich habe dann gedacht: „Mit was für Geld? Womit sollte man denn gegen Amazon in den Wettbewerb treten? Wir als kleiner Handel können nicht die Retouren so zurücknehmen, wir können da nicht so kulant sein. Von Zahlungszielen angefangen oder auch überhaupt Zahlungen.

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Kauf auf Rechnung?“ Das sind alles riesige Hürden, so dass ich dann feststellen musste habe, dass das für uns nicht zielführend ist. Mit gewissen Nischenprodukten machen wir das noch, da, wo die anderen einfach keine Möglichkeiten haben. Und natürlich nutzen wir B2B E-Commerce als Kundenbindungsmittel. Hier haben wir tatsächlich auch sehr früh schon angefangen, mit Schnittstellen zu den Kunden zu arbeiten, mit SAP-­ Schnittstellen oder auf diversen Industrie-Plattformen, worüber sie einkaufen können und wo sie eine größere Auswahl haben. Da präsent zu sein, hat auf jeden Fall Sinn, wenn man das als E-Commerce bezeichnen möchte. Da sind wir nach wie vor tätig und wir haben den Kunden auch schon sehr früh diese Schnittstellen angeboten. Aber bei allem, was B2C betrifft, haben wir uns komplett herausgehalten. Und spätestens seit der DSGVO und dem Verpackungsgesetz ist es einfach komplett uninteressant geworden, sich da überhaupt noch mit auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, dass im Handel einfach nicht die Marge in den Produkten übrig bleibt, um groß mitspielen zu können. Das hat die Erfahrung gezeigt. Ich bin da auch dankbar, dass wir so „lean“ in den Prozess reingegangen sind, denn dadurch war das auch relativ gut rückbaubar, da ich die Mitarbeiter wieder an anderen Positionen einsetzen konnte. Hingegen habe ich auch ganz viele Händlerkollegen, die sich komplett auf dieses Geschäft gestürzt haben und bis zu 40–50 Millionen Umsatz gemacht haben, ein eigenes Logistikzentrum gebaut, richtig viele Leute eingestellt haben und so weiter. Und wenn dann, wie es bei uns der Fall war, ein Hersteller sagt „Wir wollen das nicht mehr über den Handel machen.“, dann ist von heute auf morgen ein Acht- bis Neun-Millionen-Euro-Hahn an Umsatz zugemacht, ohne dass man etwas dagegen unternehmen kann. Zudem habe ich eine Firma ausgegliedert: Die „IVA – Ich Verkaufe Alles GmbH“ oder „Internet Versand Aschaffenburg GmbH“. Denn ich wollte unser Stammgeschäft nicht schädigen und habe somit die Abhängigkeit von Amazon vermieden. Diesen Umsatzeinbruch haben wir gut für uns aufgefangen. --Harald R. Fortmann: Was sind Ihre Schlüsselerkenntnisse daraus? Vanessa Weber: Für den Handel sehe ich, dass die Ressource Mensch derzeit noch sehr wichtig ist. Was ich für mich unternehmerisch erkannt habe ist, dass wir mit vergleichbaren Produkten schon lange keine Rolle mehr spielen können. Jeder, der vergleichbare, und damit substituierbare Produkte anbietet, sollte sich überlegen, dass er eigentlich keine Relevanz oder keine Daseinsberechtigung mehr hat und bestenfalls noch Preiskampf zu erwarten hat. Für im Internet vergleichbare Produkte kann ich keinen Mehrwert bieten. Daher haben wir uns wieder mehr auf beratungsintensive Produkte fokussiert, was wir früher auch getan haben. Wir sind jetzt intensiv in die Zerspanungstechnologie eingestiegen. Ich habe das Glück gehabt, einen Zerspanungshändler, einen einzelnen mit langjähriger Erfahrung in dem Bereich, übernehmen zu können, dessen Inhaber jetzt bei uns als Anwendungstechniker in meinem Unternehmen mitarbeitet. Zudem habe ich in einen richtig guten Außendienstler und in einen Vertriebsleiter investiert, weil ich eben gesagt habe: „Wir müssen jetzt in das

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Thema beratungsintensive Produkte einsteigen, da ist noch Geld zu verdienen. Aber dafür brauche ich Fachleute. Ohne Fachleute geht es nicht“. Zwar bin ich auch selbst eine gute Vertrieblerin, das ist nicht die Frage, aber ich bin nicht diejenige, die dann ständig den Vertrieblern hinterherläuft und fragt: „Warst Du jetzt bei dem Kunden? Hast Du dieses oder jenes gemacht?“ Dafür habe ich mir einen Vertriebsleiter eingestellt, der zuvor als Vertriebsleiter für ganz Deutschland bei einem Werkzeughändler ähnlicher Unternehmensgröße und dann bei einem Handwerkzeughersteller tätig war. Es geht nur über die Beratung und die fachliche Expertise. Harald R. Fortmann: Wie gestaltet sich die Aufgabeneinteilung zwischen Ihnen und Ihrem Vertriebsleiter? Vanessa Weber: Sein Wunsch war gleich zu Beginn eine eingeschränkte Prokura, um handlungsfähig zu sein. Wir haben uns aber zunächst darauf verständigt, dass er sich rein auf den Vertrieb konzentriert. Da sind wir dann wieder bei dem Thema „Unternehmenswerte“. Am Anfang hat er noch viel im Bereich Personal mit gemanagt. Er führt heute auch noch Teamgespräche, denn er hat ja auch Personalverantwortung. Aber ich habe gemerkt, dass mir meine Mitarbeiter etwas entrückt sind und ich den Kontakt verliere. Das wollte ich dann auch nicht, daher habe ich diese Aufgabe jetzt wieder komplett zu mir zurückgeholt. Alles, was Mitarbeitergespräche und das Thema Entwicklungsgespräche betrifft, ist jetzt wieder in meiner Hand. Das hat auch dazu geführt, dass alles, was Innovationen und Marktneuheiten zu tun hat von mir angeschaut wird, um zu prüfen, was zu unserem Portfolio passen kann und was nicht. Ich bekomme so einfach mehr mit. Die Mitarbeiter können ohnehin immer ihre Ideen einbringen. Zusammen mit deren Erfahrungen und alle dem, was ich von Tagungen und Kongressen mitbringe, entsteht so ein großer Ideenpool, der uns hilft, die richtigen Weichen zu stellen. Ich sehe mich hauptsächlich in der Verantwortung für die Themen Mitarbeiterführung, Werte und Marketing und damit auch dafür, dass wir das, was wir als Innovation erkennen, dann auch wieder marketingtechnisch aufbereiten und kommunizieren: über Newsletter, Direktmailings, Anzeigen und so weiter. Da investieren wir auch gerade sehr intensiv, weil wir viele neue Leute neu ins Team bekommen haben. Ein paar wenige „alte“ Mitarbeiter sind weg, die auch die Veränderungen durch die Einstellung eines Vertriebsleiters nicht mochten und es unbequem fanden. Wir waren aber sowieso schon dabei, Teams für kleinere Einheiten zu bilden. Für jeden Außendienstler ein Innendienstteam, die dann alles von der Anfrage bis zur Reklamation machen und somit für alles, was für einen Kunden aufkommen kann, die Verantwortung tragen. Vorher war es so, dass jeder alles so ein bisschen gemacht hat. Durch den Wegfall von einer Mitarbeiterin, die zuvor allein dafür zuständig war, Aufträge einzugeben, mussten da dann auch die neu gebildeten Teams ran – mehr Verantwortung und mehr Selbstständigkeit sind nun gefragt und damit auch umfassendere, ganzheitlichere Aufgaben, die den Kunden besser zufrieden stellen. Das hat vor allem deswegen gut funktioniert, weil es sich diese Gedanken eta­

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bliert haben und wir jetzt zu einem guten System gefunden haben. Um die Mitarbeiter noch intensiver einzubeziehen, haben wir jetzt zusätzlich einen Werte-Workshop veranstaltet mit Cay von Fournier. Er gilt als Top-Experte in dem Bereich, bietet Trainings und Workshops zum Thema „Unternehmerenergie“ an. Ich kenne ihn schon viele Jahre über meine Tätigkeit als Vortragsrednerin. Unseren Workshop haben wir so aufgesetzt, dass wir ein umgekehrtes Unternehmensorganigramm entwickelt haben, sodass der Aufbau nicht mehr klassisch vom Chef top-down an oberster Position gefolgt von den führenden Mitarbeitern und dann den „normalen Mitarbeitern“ dargestellt ist, sondern dass wir den Kunden an oberste Stelle setzen. Dann folgen die Mitarbeiter, die mit dem Kunden Kontakt haben und in der Verantwortung ihm gegenüberstehen und dann erst die Vertriebsund Führungsmannschaft. Der Chef ist eigentlich ganz unten, allenfalls in unterstützender Funktion für die Mitarbeiter und das System. Um dieses Konstrukt mit Leben zu füllen, hat im Werte-Workshop jeder die Aufgabe bekommen, den Wert, der ihm für die Zusammenarbeit im Unternehmen am wichtigsten ist, aufzuschreiben. Hieraus haben wir dann für uns zwölf neue Werte kreiert, sodass wir uns jeden Monat auf genau einen dieser Werte konzentrieren können. Wir haben einen „Kernwert“, das ist die familiäre Gemeinschaft. Zudem haben wir drei Schlagworte definiert: Respekt, Vertrauen und zukunftsorientiert und dann noch mal drei erklärende Worte zu deren jeweiliger Bedeutung. Das haben wir zusammen im gesamten Team erarbeitet, darauf haben wir uns committet und das hat auch jeder Mitarbeiter unterschrieben. Das ist nichts Oktroyiertes. Es kam auch gut bei den Mitarbeitern an, dass wir das, was wir leben, in diesem Zusammenhang einfach noch mal verschriftlich und gefestigt haben und sich nun jeder darauf berufen und messen lassen kann. Ich hatte beispielsweise letzten Monat das Thema „Freundlichkeit“. Jeden Tag habe ich mir darüber Gedanken gemacht. „Warst Du freundlich genug zu den Kunden, den Lieferanten, den Kollegen? Warst du auch freundlich genug zu dir selbst? Was machst Du Dir für Gedanken den ganzen Tag? Sind die positiv, zielführend?“. Ich habe dabei viel gelernt und wieder neue Impulse für das Unternehmen abgeleitet. Demnächst befasse ich mit dem Thema „Verlässlichkeit“. Was bedeutet das überhaupt? Für mich, uns, die Kunden und andere? Wir können uns jetzt auf Basis der gemeinsamen Werte auch untereinander ganz anders ansprechen., schließlich ist ja jeder jetzt den gleichen Werten verpflichtet. Ich hatte kürzlich eine Situation, in der sich eine Mitarbeiterin über einen Kollegen geärgert hat, der ihr nur einen Zettel auf den Tisch gelegt hat mit einer Information. Sie möchte aber lieber persönlich angesprochen werden und hat ihn deswegen vor der Kundschaft öffentlich „angeblafft“. Durch unseren Wertekanon kann ich nun ganz anders Feedbackgespräche führen. Sie werden konstruktiver, klarer und führen schneller zu Verbesserungen für die Zukunft. Nur was eindeutig definiert ist, kann auch Verhaltensänderungen bewirken. Auch die Mitarbeitergespräche, in denen sich der Mitarbeiter selbst bewerten kann und dieses dann mit der Einschätzung der Führungskraft in Bezug auf Selbstbild und Fremdbild abgeglichen wird, finde ich nun besser. An den Werten können wir uns jetzt immer orientieren, auch dann, wenn neue Kollegen ins Team kommen. Wenn sich Menschen

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b­ ewerben, dann gucke ich immer darauf und hinterfrage, ob sie analog unserer Wertewelt passen oder nicht. Das ist ähnlich wie im Marketing: Drei Schlagworte definieren, die einen ausmachen und unterscheiden diese dann wie eine Schablone über jede Entscheidung drüberlegen. Es geht darum, Verhaltens- und Umgangsmaßstäbe zu schaffen – für die Unternehmenskommunikation nach innen und nach außen. Wenn dann etwas nicht stimmig ist, dann muss man es konsequent ablehnen und sich dagegen entscheiden. Entscheidungen werden dann klarer, eindeutiger. Das war ein wichtiger Schritt, um auch an dieser neuen Kultur zu arbeiten und an unserer digitalen Transformation, in der wir uns jetzt gerade befinden. Quasi weg vom E-Commerce, hin zum Kunden. Aber eben trotzdem digitalisiert. Das Thema 3D-Druck ist in diesem Zusammenhang beispielsweise interessant, also hochtechnologische Plattform, die wir über das Future Lab haben. Das Future Lab ist eine Gemeinschaftseinrichtung, an der wir mit anderen Unternehmen beteiligt sind, um Innovationen und Technologien in der Praxis zu erproben und weiterzuentwickeln. 3D-Druck ist auch für uns ein Zukunftsthema. So haben wir jetzt ganz aktuell „flying-parts“ als neuen Lieferanten von uns angeschlossen, der sehr große Bauteile erstellen kann. Mittlerweile bieten wir sogar Schulungen für unsere Kunden an, in denen wir deren Verfahrenstechniker 3D-Druck selber ausbilden. Wir haben in Lüdenscheid mit dem Institut, die sich mit 3D-Druck beschäftigen, vereinbart, dass wir da einen Lehrgang anbieten. Da gehen wir ganz tief in die Kundenstruktur und zu deren Kompetenzthemen hin. Und wir kümmern uns um das Thema Prozessoptimierung  – konkret: in Form von Tool-Schränken. Der Schrank bestellt automatisch Bestände nach und kontrolliert die Abgaben. Oder wir kümmern uns um das Thema Lean-Prozesse. Da wir sagen dem Kunden: „Wir machen Shadow-Boards für dich, dass Du siehst, was entnommen wird und es bei Schichtwechsel einfacher ist.“ Und Clean Station: Wie sieht so etwas „cool“ aus? Oder Aufkleber an Lochwänden befestigen. Überall da, wo wir rein können, um Zusatznutzen zu stiften und Dinge besser zu machen für den Kunden und wofür eine Beratung stattfinden muss, da sehen wir unsere Aufgabe. Es uns um bessere Arbeitswelten und um Zukunftssicherung durch Technologien. Das lässt sich rein über das Internet nicht abbilden. Das alles bieten wir natürlich auch weiterhin in Kombination mit einer Betriebseinrichtung an. Auch da gucken wir auf die neueste Technik und die neusten Standards. Aktuell entwickeln wir ein KI-Vertriebsprogramm, das Empfehlungen über eine künstliche Intelligenz zunächst durch Machine Learning auf historischen Daten basierend erstellen kann. Das ist extrem innovativ. Das können andere noch nicht. Denn zumindest für den Handel und den Außendienst in unserer Sparte gibt es solche Lösungen noch nicht. Wir wollen das umsetzen und testen es gerade. Wir befinden uns schon im Finetuning und probieren die Technik in der Praxis aus. Hierbei ist es immer wichtig, neue Möglichkeiten umfassend zu betrachten und einzubeziehen. Viele verstehen den Begriff Digitalisierung als: „Ich habe jetzt kein Papier mehr, sondern ich bekomme eine E-Mail.“ Aber das ist ja nicht Digitalisierung, wenn man es

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genau nimmt. Bei der Digitalisierung muss auch immer hinterfragt werden, welcher Arbeitsschritt hinter dem betrachteten Prozess liegt und ob es überhaupt sinnvoll ist, diesen weiterhin so abzubilden, oder ob es eine komplett andere Möglichkeit gibt. Zum Beispiel bekommen wir ein neues Dokumentenmanagementsystem, das auch gewisse Workflows abbilden kann und das nicht nur einfach digital ablegt. Bei Freigabeprozessen muss es ja heute nicht mehr so sein, dass die Buchhaltung mir eine Rechnung hinlegt und ich dann eine Unterschrift auf den Beleg mache. Stattdessen kommt eine E-Mail, ich klicke auf „Ja“ und zurück geht die Bestätigung, die ist sofort im Archiv und kann automatisch zur Zahlung freigegeben werden. Das System liest automatisch die Bankverbindung aus und kennt den Buchungssatz. Das ist ja ein lernendes System. Ich bin jetzt gerade dran, dass wir da so eine Art Sprachsteuerung etablieren, sodass ich sagen kann: „Such mir mal die Handwerkerrechnung XY“, weil ich beispielsweise gerade einen Versicherungsfall habe und ich mal gucken will, was die Tapete damals gekostet hat. Das finde ich zum Beispiel spannend und es ist auch technologisch nicht wirklich schwierig, bietet aber einen extrem hohen Komfort und vereinfacht das Arbeiten. Man muss nur ein Gerät haben, in das das man reinsprechen kann. Aber letztlich übersetzt es nur die Sprache in Text und das ist ja nichts anderes als eine Tastatur. Und diesbezüglich sind wir auch immer mit allen Herstellern, die uns Software anbieten, im Dialog darüber, wo und wie wir unser Verbesserungspotenzial haben und ausschöpfen können. Das ist für mich eigentlich das Thema der Digitalisierung: Was lerne ich denn daheim beispielsweise von Alexa und wie könnte ich das hier nutzen? Zum Beispiel: Voice-Orderings für unsere Kunden anbieten, so dass der Kunde seine Artikel per Sprachbefehl bei uns bestellen kann, ohne die Produktspezifikationen nennen zu müssen. Dadurch werden Fehlerquellen vermieden und administrativer Aufwand für den entsprechenden Mitarbeiter entfällt, da nicht mehr im Archiv nach den Produktspezifikationen gesucht werden muss. Die eingesparte Zeit kann der Mitarbeiter dann für Akquise-Telefonate oder eine wertvolle Beratung nutzen. Das passt auch zu diesem Thema: „Der Irrglaube ein Arbeitsplatz könnte wegfallen, weil eine Maschine ihn übernimmt.“ Das ist Quatsch, denn wir haben dank Technik einfach mehr Zeit für die wesentlichen Dinge, die wichtig sind, Zeit, zu beraten und dem Kunden Wünsche zu erfüllen. Gerade beim mittelständischen Handel finde ich das wichtig, weil alle anderen vielleicht vom Prozess her einfach besser sind als wir. Nur das Thema „Beratung“ und in die Tiefe gehendes Know-how haben die eben nicht. Oder wir haben eben spezielle Produkte oder Dienstleistungen, die die anderen nicht haben. Generell ist es ja so, dass die Aufgaben, die eine Person abarbeiten muss, immer mehr werden und deswegen ist es wirklich nur eine Hilfestellung, wenn man beispielsweise Shop-Bestellungen automatisch einliest und die Schnittstelle zur Datenpflege dort sinnvoll einsetzt. Da gibt es ja so viele Dinge, die getan und koordiniert werden müssen. Und danach gucke ich eben auch fast jeden Tag. Die Kernfrage dabei ist: Ist eine Anwendung praxistauglich? Das ist oft gar nicht so einfach zu beantworten. Denn wie oft habe ich mir ein Programm zur Arbeitserleichterung erdacht und jetzt liegt es halt da und keiner nutzt es. Harald R. Fortmann:

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Ist der Bestellkatalog in Ihrem Unternehmen noch nach wie vor ein Thema? Vanessa Weber: Ja, denn unsere Kunden sind nicht unbedingt die Einkäufer, sondern die Anwendungstechniker an der Maschine. Und die haben meist an ihren Arbeitsplätzen keine Computer und somit keine Möglichkeit, etwas digital nachzuschauen. Ein Beispiel ist das Bestellen von Wendeplatten für die Industrie: Der, der die Maschine wechselt, sitzt nicht am Schreibtisch und Smartphones dürfen sie in der Industrie nicht einsetzen. Oftmals herrscht Fotoverbot. Ihre privaten Geräte dürfen sie natürlich ebenso nicht einsetzen und von der Firma erhalten sie keines. Das ist es in der Industrie oft hochsensibel und deswegen ist der Katalog für uns durchaus noch ein Medium, was meiner Meinung nach auch nicht so schnell aussterben wird. Einen Handwerker hingegen kann ich durch das Smartphone abholen, denn für den ist sein Mobiltelefon mittlerweile der Dreh- und Angelpunkt seiner Tätigkeit, da er beispielsweise über WhatsApp seine Termine ausmachen und schnell etwas bestellen kann. Der Handwerker braucht ein Smartphone und arbeitet auch damit. Wir haben aber auch ein sehr gutes Programm, in dem nicht nur unsere Kataloge eingestellt sind, sondern auch alle Kataloge der Hersteller, die von diesen selbst auf Aktualität per Knopfdruck in Echtzeit gepflegt werden. Vor der Digitalisierung hingegen kam der Außendienst und hat die Märzaktion präsentiert, ist dann drei Wochen ins Land gefahren und dann war schon fast wieder April, bis er die Märzaktion letztlich präsentieren konnte. Und hochgerechnet auf alle unsere über 800 aktiven Lieferanten, mit denen wir arbeiten und unseren 2000 Lieferanten im Hintergrund, von denen wir nicht dauerhaft, sondern nur partiell etwas bestellen, erfahren wir dadurch eine große Erleichterung. Der Kunde geht bei uns auf die Plattform auf unserer Webseite und nutzt dort die herstellerbezogene Katalog-­Suchfunktion, welche sogar schneller als Google ist. Wenn er beispielsweise Akkuschrauber sucht, dann findet er sofort alle Hersteller und das Wort Akkuschrauber ist auch markiert. Dadurch muss er selbst nicht mehr blättern und suchen. Und im Gegensatz zur Google Suche erscheinen wirklich nur die für ihn relevanten Inhalte. Auch für unseren Innendienst stellt diese Informationsabfrage eine große Erleichterung dar. Den Kunden ist aber selbst überlassen, ob sie dies nutzen möchten oder nicht, denn wir bieten von der modernsten Technik bis zur „Brieftaube“ alles an Bestellmöglichkeiten an, denn es bringt nichts, die höchste Technologie anzuwenden, wenn der Kunde – und ich spreche hier auch von großen Konzernen – sie noch nicht nutzen kann oder will. Die Erfahrung hat gezeigt, dass wir da tatsächlich einmal viel zu früh und vor der Zeit waren. Ich hatte diese Idee der Werkzeug-Mietbox. Da bin ich ja sehr altruistisch unterwegs gewesen und habe gedacht, ich muss jetzt den Handel retten, da mit Elektrowerkzeugen kein Geld mehr zu verdienen war, weil man diese an jeder Straßenecke und an jeder Internetstraßenecke teilweise unter dem Handels-Einkaufspreis aus dem Ausland kaufen kann. Aber ich denke immer: „Jammern hilft ja nichts. Man muss lösungsorientiert denken: Was gibt es denn für Ansätze? Ich kann mich jetzt darüber beschweren, dass die Welt so ist, wie sie ist, oder ich kann mir überlegen, wie ich die Welt verändern kann oder die Umstände für mich nutzen.“ Und dann habe ich jemanden kennengelernt, der Erfinder dieser Box war und er hat gesagt, dass „Shared Economy“ und Müllreduktion wichtige Themen seien.

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Und so entstand die Idee, die teuren Geräte, die die Kunden sich vielleicht privat nicht kaufen würden über eine Mietbox 24 Stunden, 7 Tage die Woche anzubieten. Der Kunde kann jeden Tag online nachsehen, ob das Gerät verfügbar ist, zur nächsten Mietbox fahren, sich innerhalb von drei Sekunden sein Werkzeug stundenweise ausleihen, per EC-Karte zahlen, völlig anonym, und kann es wieder zurückbringen wann er will. Der Prozess ist hoch technologisch, hoch innovativ und extrem einfach für den Kunden. Ich finde die Idee immer noch genial. Aber sie kommt nicht an, weil man eben so viel Marketingbudget investieren müsste, um den Leuten überhaupt erst mal begreiflich zu machen, dass es einen Werkzeugautomaten grundsätzlich und in ihrer Nähe gibt. Daher haben wir jetzt auch gesagt, dass wir die Idee zunächst nicht weiterverfolgen. Das ist natürlich auch Geld, das man verbrennt. Mit den Ideen ist es, glaube ich, wie mit Startups: Nur eines von zehn wird erfolgreich und von zehn Ideen ist vielleicht auch nur eine erfolgreich. Da stellt sich schon oft die Frage: Muss man da wirklich immer der Innovationstreiber sein oder reicht es, Early Adopter zu werden? Die Second Mover sind ja doch meistens besser dran, wenn sich schon irgendwas als Idee oder Produkt etabliert hat. Das ist meine Schlussfolgerung. Dennoch versuche ich diese Erkenntnis noch immer mit meiner neugierigen Mentalität zu vereinen. Bei mir ist es so, dass ich alles, was neu ist, testen möchte und es dann auch schnell toll finde, weil es ist ja irgendwie eine neue Technologie ist. Wir verwenden jetzt beispielsweise ein CT-Druckverfahren, um mit höchster Präzision Einzelteile und komplexe Objekte zu erfassen. Und der Kunde nutzt es schon. Es kann sein, dass man sagt: „Warum steckt ihr da jetzt die Energie rein? Das braucht vielleicht jetzt keiner.“ Aber wir haben auch einen E-Commerce Manager eingestellt, als viele noch gar nicht gewusst haben, was ein E-Commerce Manager ist und weshalb man den in unserer Unternehmens- und Handelsgröße braucht. Ich habe viel Erfahrung auch aus Projekten, die nicht funktioniert haben, gesammelt und ich finde ich schon wichtig, weil gerade, wenn Dinge funktionieren und andere auf den Zug aufspringen, kann ich eben sagen: „Ich habe schon einen Erfahrungsvorsprung“. Das ist auch ein Glaubenssatz, den ich habe: Ich möchte so viel Erfahrungsvorsprung haben, dass wir mit Innovationen anders und schneller umgehen können als der Wettbewerb. Während andere noch in der Experimentierphase sind, kennen wir schon die Technologien und wissen, was wir tun und lassen müssen und können sie dann frühzeitiger und effektiver nutzen. Das ist zumindest das, was sich bisher auch gezeigt hat: andere denken jetzt, sie müssen einen super guten B2C E-Commerce Shop aufbauen und investieren Unmengen an Geld, wo ich eben sagen kann: „Lass es lieber, zumindest bei diesen vergleichbaren Produkten.“ Da muss man ja auch wieder unterscheiden: Wenn man ein eigenes Produkt hat, was man platzieren kann, dann sollte man es natürlich machen. Bei nicht standardisierten Produkten, wie zum Beispiel Fräser, die auf die Maschine individuell eingerichtet werden müssen, ist E-Commerce hingegen überhaupt nicht möglich. Aber ich spreche hier von Standardprodukten wie Hammer, Schraubendreher oder Zangen, bei denen nichts erklärt werden muss und die daher einfach per Klick überall und von jedem bestellt und geliefert werden können.

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Für den Hersteller ist das Direktgeschäft theoretisch ja auch sinnvoller, denn wenn sich der Kunde bereits für die Herstellermarke entschieden hat, ist es ihm egal, wo er sie kauft. Und wenn der Händler dem Kunden dann keinen zusätzlichen Mehrwert bietet, ist es für den Hersteller ja auch einfacher, die Handelsstufe einfach wegzulassen. Dennoch sollte beachtet werden, dass die Hersteller oft bei Innovationen nicht die Schlagkraft haben, über die der Handel verfügt. Man kann es aber keinem Hersteller verübeln, denn, dass der Online-­Handel wächst, war schon immer klar und deswegen auf der Handlungsagenda. Da sollte man sich schon im Anfangsstadium Gedanken darüber machen, was man unternimmt, um sein Überleben zu sichern und welche Hersteller man sich ins Boot holt, die nicht so sehr im Fokus stehen. Harald R. Fortmann: Wie verschaffen Sie sich letztendlich einen Überblick über die ganzen technologischen Neuerungen und Trends? Und woher nehmen Sie die Impulse für die Schaffung der Kundenmehrwerte? Vanessa Weber: Über das Internet, über Newsletter, Facebook oder Abonnements. Und durch Teilnahme an Netzwerkveranstaltungen, Tagungen und Kongressen und den engen Austausch mit Unternehmern auch aus anderen Branchen. Und natürlich durch das Netzwerk unseres Future Labs. Wir haben da so eine WhatsApp-Gruppe, da wird dann der Link zu interessanten Themen und Innovationen einfach rein gepostet. Beispielsweise wenn ein Industriekunde über eine Pro­ blemstellung berichtet, kann man überlegen, wie man dies auf die anderen Kunden übertragen und ein Produkt oder eine Dienstleistung daraus entwickeln kann. Um die passende Lösung zu finden, muss man stets Augen und Ohren offenhalten und Netzwerkveranstaltungen besuchen. Wir werden unter anderem im Herbst nach Tel Aviv reisen. Dort wird noch mal ganz anders mit Themen wie KI umgegangen und die Kommunikation darüber verläuft sehr viel offener als im Silicon Valley, besonders deswegen, weil die Unternehmen dort auch viele ausländische Mitarbeiter für internationale Markteintritte suchen. In Tel Aviv ist es wie eine Art Botschaft für Startups, ein Epizentrum für KI und ein Hub für Innovationen. Es gibt eine Website, auf der man themenspezifisch nach Startups suchen kann, Informationen zu Anfangsinvest Volumen, Mitarbeiteranzahl und Startup-Phase erhält und dann einen Besuch anfragen kann. Ich freue mich darauf, deren Denkstrukturen kennen zu lernen. Und da ich ja selbst viel publiziere, ist es auch oftmals so, dass Leute auf mich zukommen und mir ihre neuen Produktideen vorstellen und nach meiner Meinung fragen. Eine weitere Informationsquelle ist auch mein Startup-­Mentoring. Da übernehme ich nicht die fertige Idee, sondern schaue mir den Gedankengang und die Herangehensweise an und überlege dann, ob wir das für uns ebenfalls nutzen können. Dadurch bleibt man auch einfach immer frisch. Harald R. Fortmann: Wie kam es zu der Idee des Future Labs? Vanessa Weber: Die ist im Silicon Valley entstanden. Die Junioren, die ich lange geleitet habe, waren finanziell gut aufgestellt, weil ich immer sehr darauf geachtet habe, dass die Lieferanten

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uns finanzieren. Davon haben sie für die Mitglieder eine subventionierte Reise ins Silicon Valley angeboten. Und die Teilnehmer, die jetzt auch Gründer sind, haben dann durch den Austausch vor Ort diese Idee entwickelt und der Verband hat seine Unterstützung auch sofort angeboten. Denn ein Verband lebt ja nur mit gesunden Mitgliedern. Und gesunde Mitglieder habe ich ja nur, wenn ich auch das ein Stück weit voranbringe und ein bisschen „open minded“ bin. Und dann hat sich das formiert. Mein Bruder, der stellvertretend für mich mitgefahren ist, war dann in der Initiatorengruppe für das Future Lab auch dabei. Und da sie mein Netzwerk und meine Erfahrungen aus der Startup-Szene und mit der Mietbox auch mitnutzen wollten, wollten sie mich ebenfalls dabeihaben und so bin ich dann ebenfalls nachgerückt. Die involvierten Händlerkollegen stammen alle aus unterschiedlichen Bereichen und somit sind wir eine sehr heterogene Gruppe, aber dennoch ist die Problemstellung die gleiche: Wir haben Handelsgüter und wir müssen uns abheben und abgrenzen. Dazu müssen und können wir alle Technologien, die wir uns erdenken, hier einsetzen. Wir haben jedoch nur begrenztes Kapital und können daher keine hohen Risiken eingehen. Deswegen gehen ja auch Mittelständler ein bisschen konservativer an Dinge ran und vielleicht sind sie dadurch ein bisschen langsamer, aber ich denke auf jeden Fall nachhaltiger und vielleicht am Ende erfolgreicher oder zumindest bedachter. Gegenüber Startups haben Mittelständler den Vorteil, dass sie das notwendige Kapital haben, um mit einem Steuerberater oder Anwalt im Vorfeld sprechen zu können. In Bezug auf Nachhaltigkeit ist zu sagen, dass Unternehmen, die sich entscheiden, Know-how extern einzukaufen, beispielsweise durch den Kauf eines Startups oder Software, sich im Vorfeld genaue Gedanken darüber gemacht haben sollten, wie sie damit umgehen müssen und ob sie diese wirklich im Unternehmen nutzen können. Denn ansonsten führt es zu nichts außer zu hohen Kosten. Wenn sich für einen Kauf entschieden wird, stellt sich die Herausforderung nach der Wahl des richtigen Angebots. Es gibt ja eine Vielzahl an Software Angeboten, die sich schwer im Vorfeld qualitativ differenzieren lassen, was Entscheidungen unheimlich schwermacht. Hier wird sich oft auf Empfehlungen verlassen. Aber auch hier ist die Herausforderung, zu erkennen, ob diese Empfehlungen überhaupt real oder vom Software-­Hersteller selbst erstellt sind. Da hilft halt auch nur ausprobieren und sich ein Stück weit darauf einzulassen, dass die Welt sich verändert und man auch mal schief liegen kann. Bestmöglich sollte man im Austausch mit anderen bleiben oder sich auch einen guten Berater bei bestimmten Themen hinzuziehen, um sich dann gemeinsam h­ eranzutasten. Harald R. Fortmann: Welchen Einfluss und welchen Stellenwert haben die Mitarbeiter in der Wertschöpfungskette, gerade bei den digitalen Innovationen? Vanessa Weber: Die Mitarbeiter sind der absolut wichtigste Baustein. Denn das Thema der Kommunikation, der Kundenbindung und der persönlichen Beratung kann mir auch in Zukunft keine KI abnehmen. Ich kann den noch so ausgereiftesten Chatbot haben, eine persönliche Stimme ist halt doch noch einmal etwas anderes, sorgt für mehr Verbindlichkeit. Die

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Mitarbeiter sind für mich der Kern dessen, um was sich alles dreht. Inwieweit sie jetzt für das Thema Innovation eingesetzt werden müssen, finde ich eigentlich gar nicht so dramatisch wichtig. Es ist zwar nicht schlecht, wenn sie die Ohren und Augen offen halten, aber ich denke es reicht auch, wenn sich eine Person wirklich damit beschäftigt und die Ideen filtert. Und das ist schon bei der Geschäftsführung oder bei denjenigen, die für die Weiterentwicklung verantwortlich sind, gut angedockt. Wir haben auch festgestellt, dass das nicht jedem Mitarbeiter Spaß macht. Und bei denen ist es wichtig, sie über Schulungen und transparente Informationen mitzunehmen, wenn sie es denn wollen. Manchen reichen ja auch bereits oberflächliche Informationen, andere wollen es tiefergehend wissen und denen sollte die Möglichkeit geboten werden, nachfragen zu können. Harald R. Fortmann: Macht es in Ihren Augen Sinn, im Digitalisierungsprozess abteilungsweise vorzugehen? Wie ist Ihre Herangehensweise? Vanessa Weber: Ja, das ist wichtig und etwas, was ich mir auch ein bisschen antrainieren musste, etwas langsamer und schrittweise mit dem Thema umzugehen. Harald R. Fortmann: Bei Ihnen besteht ein großer Enthusiasmus, was ja auch ein großer Treiber bei der Digitalisierung ist. Überfordert man nicht die eigenen Mitarbeiter dadurch auch? Vanessa Weber: Absolut. Das ist auch eine große Gefahr. Auch in der Denkweise. Wenn man sich schon monatelang mit einer Sache befasst hat und diese dann den Mitarbeitern vorträgt, besteht die Gefahr, dass man nicht bedenkt, dass die Mitarbeiter vorher noch nichts davon gehört haben und man sie folglich überrumpelt. Bei uns hat es beispielsweise ein Jahr gedauert bis wirkliche Routine im Dokumentenmanagementsystem eingekehrt ist. Es ist ganz wichtig, Pausen zu setzen, soweit es geht. Natürlich drängt immer die Zeit. Das ist halt so. Wir sind sehr, sehr schnelllebig. Und da ist es dann die Aufgabe der Führung, dort die Waage in der Umsetzungsgeschwindigkeit zu halten. Evolution ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort, denn die Strategie wird durch das Feedback der Mitarbeiter ständig angepasst. Und es ist wichtig, diese Evolutionsschritte zuzulassen. Dieser Prozess ist unendlich, daher nennt man ihn ja auch KVP – Kontinuierlicher Verbesserungsprozess, das allerdings nicht nur beim Thema Digitalisierung. Harald R. Fortmann: Die hohen Ansprüche an Sie selbst haben Sie in der Vergangenheit zur Antriebslosigkeit geführt. Wie haben Sie es geschafft, sich aus Ihrem Motivationsloch zu befreien? Vanessa Weber: Mein innerliches Gedankenkarussell habe ich durch Schweigeseminare zur Ruhe bringen können. Vorher habe ich immer nur den scheinbar unüberwindbaren Berg an Aufga-

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ben gesehen und nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Entscheidend war, zu erkennen, dass ich mir Arbeit aufteilen und Schritt für Schritt angehen kann und dass manche Themen eben Zeit benötigen. Ich vergleiche das immer mit einem See. Wenn jemand permanent Steine hineinwirft, dann ist das Wasser ständig in Bewegung. So war das in meinem Kopf auch. Und am Ende des Schweigens war es halt ruhig und ich konnte überhaupt mal wieder einen klaren Gedanken fassen. Seit meiner 60-tägigen Auszeit, in der ich eine halbe Weltreise gemacht habe, bin ich auch aus dem Tagesgeschäft komplett ausgestiegen. Das kann ich wirklich jedem Unternehmer nur empfehlen. Manchmal braucht man auch mal eine Zeit, wo man sich über Innovationen Gedanken machen kann und das ist im täglichen Vertriebsgeschäft sehr oft nicht möglich, da man viel zu sehr durch die Ablaufaufgaben getrieben ist. Im Idealfall sollte der Unternehmer sich zumindest teilweise vom Vertrieb lösen und sich Zeiträume für Innovationen nehmen. Zwei Tage die Woche oder ein mehrtägiges Offsite-Event sind hierbei bereits ein guter Ansatz. Wenn der Unternehmer es selbst nicht kann, sollte er sich jemanden hinzuziehen, der das Thema Strukturaufbau und -überlegung übernimmt. Harald R. Fortmann: Was bedeutet für Sie Unternehmertum in einer Zeit, in der sich jeder als Founder bezeichnet, eigentlich noch? Und was muss es eigentlich sein? Vanessa Weber: Ich finde, hier muss man unterscheiden zwischen Startups und alteingesessenen Unternehmen. Ich finde, zu einem Unternehmen gehört auf jeden Fall, dass man Mitarbeiter hat und nicht nur eine Halbtags-Schreibkraft. Sonst ist man Selbstständiger. Damit kann man natürlich anfangen, aber letzten Endes unterscheidet man sich dann nicht von einem Nagelstudio oder einem Ein-Mann-Buchhaltungsservice. Das ist für mich nicht Unternehmertum. Unternehmertum bedeutet für mich, Verantwortung zu haben und zwar sowohl für Mitarbeiter als auch für die Gesellschaft. Ich halte auch viele Vorträge in Schulen für die Jahrgänge von der dritten bis zur neunten Klasse. Auf die Frage, wie sie sich einen Unternehmer vorstellen und ob ich aussehe wie ein Unternehmer, erhalte ich immer dieselbe Antwort: Das Bild eines Unternehmers ist erschreckenderweise immer als böse, mürrisch und schlecht gelaunt charakterisiert, was auch durch Zeichentrickfilme wie beispielsweise Lego Movie hervorgerufen wird. Auch die Tatsache, dass ich eine Frau in Turnschuhen und Polo bin, ist für die Kinder immer komisch – komisch im Sinne von unerwartet. Deshalb stehe ich auch dafür ein und halte Vorträge, damit ich eben auch sage: „Ihr Unternehmer müsst euch mal zeigen und zwar so, wie Ihr wirklich seid. Leidenschaftlich, engagiert und ganz natürlich. Und Ihr müsst zeigen, dass Ihr auch sehr viel für die Gesellschaft tut, ehrenamtlich Projekte fördert und nicht nur nach dem Profit strebt.“ Meine Motivation, mich sozial zu engagieren, ist intrinsisch begründet und nicht daraus, dass es mir in der Außenwirkung vielleicht etwas bringt, als besonders sozial wahrgenommen zu werden. Diese Authentizität ist ebenfalls entscheidend, denn Leute durchschauen ja sofort, wenn man eine Show für die Öffentlichkeit macht. Hier müssen einfach mehr positive Beispiele gezeigt werden, damit die Menschen verstehen, dass Wirtschaft und

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V. Weber

Kapitalismus eben auch die Grundlage dafür sind, soziale Tätigkeiten nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch durch Know-how- und Methodentransfer, betreiben zu können. Wir unterstützen zum Beispiel ein Projekt mit Schülern, in dem wir ihnen beibringen, Schokolade von Plant-for-the-Planet erfolgreich zu verkaufen, indem sie die Kunden als Verkaufsstrategie fragen, ob sie etwas Gutes tun wollen, indem sie eine Schokolade kaufen. Die Schüler erfahren dabei sowohl Erfolgserlebnisse als auch Niederlagen und lernen, dass Verkaufen nichts Böses oder Schlimmes ist, sondern dem Wohle aller dienen kann Das ist für mich Unternehmertum: gesellschaftlich, also bei den Mitarbeitern, einen Wandel im Kopf zu bewirken und zu zeigen, was Enkel-tauglichkeit und Werte bedeuten und diese Werte auch den Auszubildenden vorzuleben. Als Unternehmer hat man die Möglichkeit, in der Gesellschaft aufzutreten und zu zeigen, was einem wichtig ist, die Welt entsprechend ein stückweit nach seiner Vorstellung mitzugestalten und so einen positiven Beitrag zu leisten. Harald R. Fortmann: Frauen als Unternehmerinnen und als Führungskräfte sind ja leider immer noch eine Seltenheit. Sind Ihnen diesbezüglich in der technischen Männerwelt Herausforderungen begegnet? Vanessa Weber: Eher im Gegenteil: Wenn ich zu einem Kunden gehe, beispielsweise einem älteren Einkäufer, dann ist sein erster Gedanke: „Was soll die mir denn jetzt erzählen? Blonde Haare, blaue Augen, was soll dabei rauskommen? Von einem 18-jährigen Mädel erwarte ich jetzt nicht, dass die mir erklären kann, wie ein Fräser funktioniert oder dass sie überhaupt etwas Technisches erklären kann.“ Wenn ich jetzt hingegen 50 Jahre alt oder älter wäre, graue Haare hätte, ein Mann wäre und im Blaumann dorthin kommen würde, dann hätte er eine sehr hohe Erwartungshaltung und würde sagen: „Der muss mir jetzt aber alles detailliert erklären können. Der muss sich auskennen. Und wenn er das nicht kann, dann soll er wieder gehen.“ Man hat mir also vielmehr Fehler und fehlendes Wissen verziehen, weil die Kunden natürlich sagen: „Woher soll sie das denn wissen?“. Aber wenn man dann mit Wissen und Schulungen, die ich ja viel besucht habe, überzeugen konnte, dann ist man der bunte Hund im Kopf des Kunden. Auch, wenn man auf Veranstaltungen mit 300 Männern und fünf Frauen ist, bleibt man natürlich als Frau viel stärker in Erinnerung. Ich versuche immer das Positive und nicht das Negative in den Dingen zu sehen. Meine Chance daraus ist, dass ich in Erinnerung bleibe und mir mehr verziehen wird und deswegen ist es ja viel leichter, über so manche Hürde zu springen. Wenn aber Frauen mit Männern im Wettbewerb stehen, wird die Messlatte schon hochgelegt, dadurch, dass Frauen meist sehr empathisch sind. Ich finde es aber auch schwierig, zu pauschalisieren, denn jeder Mann und jede Frau ist ja auch unterschiedlich stark empathisch, aber im Globalen gesehen ist es schon so, dass Frauen in der Regel sehr empathisch sind, ein gutes Händchen für Mitarbeiterführung haben und kreativ sind. Ich sehe einen großen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Führung. Das Problem bei Frauen ist aber der stark ausgeprägte Konkurrenzkampf, sodass weniger in Seilschaften gearbeitet wird. Ohne die Scheu vor

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Netzwerken könnten sie wesentlich erfolgreicher sein. Aber seit den letzten zwei Jahren nehme ich hier eine positive Änderung wahr, und zwar dahingehend, dass Frauen zunehmend mehr Netzwerke bilden und dieses Konkurrenzverhalten ein bisschen abgelegen. Harald R. Fortmann: Denken Sie, Frauennetzwerke sind sinnvoll, wenn wir über das Thema Diversity sprechen? Vanessa Weber: Also ich bin vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie als Vorbild-­Unter­ nehmerin ausgezeichnet worden und die haben eine Studie in Auftrag gegeben, die zeigt, dass Frauen Verstärkungen durch andere Frauen eher annehmen können als von Männern. Sie fühlen sich da eher geborgen und können eher ihr Potenzial entfalten. Zudem zeigt die Studie, dass Frauen sich tendenziell eher unterschätzen als Männer und sich nicht so gut verkaufen. Sie haben Angst, aus ihrer Deckung raus zu kommen. In einem Frauennetzwerk können sie hingegen aufblühen und fühlen sich dann bestärkter. Daher denke ich, Frauennetzwerke sind wichtig, um solche Frauen aus der Deckung zu holen, auch wenn das Problem für mich persönlich schwer nachzuvollziehen ist, da ich in der Hinsicht anders bin. Ich finde aber reine Frauen- oder Männernetzwerke furchtbar, denn ich glaube, ein Austausch zwischen den Geschlechtern würde ebenso wie zwischen Branchen allen guttun. Daher denke ich, ein guter Mix aus gemischten und getrennten Netzwerken wäre das Gesündeste. Es muss immer zwischen allem eine Ausgewogenheit entstehen. Sobald eine Seite dominiert, ist es immer schlecht. Egal, was es ist. Auch bei der Personaleinstellung bin ich der Meinung, dass der- oder diejenige die Stelle erhalten soll, der oder die einfach der oder die Beste hierfür ist, egal ob Mann oder Frau. Es geht nicht um das Geschlecht, in das man zufällig geboren ist. Entscheidend ist, was die Position erfüllen soll und wer das am besten kann. Da ist auch die Gesellschaft wieder gefragt und deswegen sollten auch immer mehr gute Beispiele nach vorne, die zeigen, wie es eben gut funktionieren kann. Denn es gibt viele Bereiche, in denen noch keine Ausgewogenheit der Geschlechter herrscht. Wenn man sich beispielsweise die Szenen der Redner oder Spitzenköche anguckt, dann fällt auf, dass sie von Männern dominiert werden, weil es für Frauen hart ist, sich da durchzukämpfen. Hingegen gestaltet sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie heutzutage wesentlich besser. Jede Mutter hat heute viel mehr Möglichkeiten im Beruf mit Home Office und Shared Arbeitsplätzen weiterzuarbeiten. Das ist auch eine gute Möglichkeit für die Mütter, die gerne arbeiten möchten, die aber keinen Job finden, weil der Gesetzgeber leider außerhalb der 450-Euro-Kraft nicht so viel Rahmen bietet, in Teilzeit zu arbeiten. Ich finde, da muss sich aber noch mehr tun, dass man da mehr Flexibilität bekommt und auch als Arbeitgeber solchen Leuten eine Chance geben kann. Harald R. Fortmann: Welche Tipps haben Sie für andere Unternehmenslenker, um Kraft und Energie für die Aufgaben und Herausforderungen des digitalen Wandels zu gewinnen? Vanessa Weber:

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V. Weber

Für mich sind neue Dinge automatisch intrinsisch motivierend. Leute, die so geprägt sind, tun sich damit auch nicht schwer. Leute, die anders geprägt sind, die eher in der Zahlen-, Daten-, Faktenwelt unterwegs sind und sich stark an Beweisen orientieren, tun sich natürlich schwerer, neue Lösungen und Themen auszuprobieren. Die Kombination aus beidem ist wichtig. Ich muss mir daher immer jemanden mit zu Rate ziehen, der mehr zahlen-, daten- und faktenorientiert ist als ich. Die Motivation eines Unternehmers, sein Unternehmen nachhaltig zu führen, ist automatisch gegeben, denn er hat ja ein persönliches Interesse daran, sein Unternehmen enkeltauglich zu machen, um es an die folgenden Generationen weiter geben zu können – wenn er Kinder hat. Herausfordernd gestaltet sich das Dranbleiben, also eine Sache auch dann konsequent weiterzuführen, wenn der nächste Schritt erst in einem Jahr möglich ist. Es ist wichtig, hier geduldig zu sein und zu akzeptieren, dass sich viele Dinge nicht sofort umsetzen lassen. Change-Management Prozesse und Teambuilding erfordern Zeit, da sie aus mehreren Phasen bestehen. Diese können mal mehr und mal weniger Zeit in Anspruch nehmen, aber alle Phasen müssen durchlebt und teilweise durchlitten werden. Auch Rückschläge gehören dazu und sollten nicht als persönliche Niederlage aufgefasst werden. Wir ändern beispielsweise gerade unsere Corporate Identity. Dabei haben wir zunächst über eine Scha­ blone definiert, wo wir hinwollen und überlegen bezüglich des Umsetzungszeitpunkts jetzt ganz genau, welcher Zeitpunkt strategisch am geeignetsten dafür ist, statt die Dinge überstürzt anzugehen. Menschen, die eher introvertierter sind, empfehle ich, sich in Netzwerken vertrauensvoll auszutauschen und sich dabei bewusst zu sein, dass die vorliegenden Probleme normal sind und Unternehmen jeder Größe betreffen. Selten ist ein Problem ein Einzelfall. Wichtig finde ich auch Vorbilder. Dieses „Me-too-Thema“ ist gerade auch absolut beliebt in unserer Gesellschaft. Ich selbst sage anderen Leuten auch immer: „Guck mal, ich war sehr jung, hatte keine Erfahrung, habe kein Studium, aber es ist gut gegangen. Ich hätte auch sagen können: Nein, ich bin zu jung. Nein, ich habe nicht die Ausbildung. Nein, ich bin eine Frau. Ich hätte zu allem Nein sagen können. Und deswegen kann ich sagen: Wenn ich das geschafft habe, mit meinen mittelmäßigen Ausgangsvoraussetzungen, einfach nur mit dem Mindset „Ich kann das.“, dann kann das auch fast jeder andere.“ Das ist meine Botschaft.

Zusammenfassung Der reine Handel von Standradprodukten bietet keine Daseinsberechtigung mehr. In Zeiten von Online-Handel steigt der internationale Wettbewerb und Preiskampf. Daher muss der Fokus heute viel stärker auf die Kunden und deren Bedürfnisse ausgerichtet werden, sodass Mehrwerte für die Kunden generiert werden können. Beratungsintensive Produkte eignen sich gut, um solchen Mehrwert anzubieten. Ein Grund, weshalb bei vielen Unternehmen derzeit noch kein Fokus auf die Kundenbedürfnisse und auf das Entdecken neuer Innovationen gelegt wird, ist Zeitmangel. Die Digitalisierung von administrativen Prozes-

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sen kann helfen, mehr Zeit zu gewinnen, um Innovationspotenziale zu erarbeiten und auf die Bedürfnisse der Kunden zu hören. Bevor bestehende Prozesse jedoch digitalisiert werden, sollten diese zunächst hinterfragt und gegebenenfalls nicht nur digitalisiert, sondern optimiert oder sogar neu definiert werden. Um sich im Digitalisierungs-Dschungel einen Durchblick zu verschaffen, empfiehlt es sich, sich in Netzwerken auszutauschen und sich gegebenenfalls auch eine Beratung einzuholen. Als Unternehmer empfiehlt es sich, sich aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, um den Fokus auf das Entdecken neuer Geschäftsstrategien zu setzen. Der Einbezug der Mitarbeiter ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der digitalen Transformation, daher sollten Mitarbeiter immer die Möglichkeit erhalten, im Rahmen ihres Interesses über das aktuelle Geschehen frühzeitig informiert zu werden. Zum Unternehmertum zählt es, gesellschaftliche Verantwortung sowohl extern als auch intern für die Mitarbeiter zu übernehmen und einen Wandel im Kopf der Mitarbeiter hin zu nachhaltigen Unternehmenswerten zu bewirken. Die Definition gemeinsamer Werte, beispielsweise im Rahmen eines Workshops, kann hierbei unterstützen und die Zusammenarbeit folglich stärken.

Kulturwandel in der digitalen Welt: Wie die Arbeitgebermarke den Entwicklungsprozess bei TransnetBW abrundet

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Annett Urbaczka und Rotraud Diwan

Die TransnetBW GmbH betreibt das Strom-Übertragungsnetz in Baden-Württemberg, es spannt sich mit einer Länge von mehr als 3200  Kilometern über eine Fläche von fast 35.0000 Quadratmetern. Rund 80 Transformatoren verbinden das Übertragungsnetz mit den Verteilnetzen in Baden-Württemberg. Über diese Zugänge werden internationale Industrieunternehmen und mehr als 11 Millionen Menschen mit Strom beliefert – zuverlässig und rund um die Uhr. So sichert TransnetBW die Wirtschaftskraft und Lebensqualität im Südwesten Deutschlands. Darüber hinaus leistet das Übertragungsnetz einen wichtigen Teil des deutschen und europäischen Stromtransports: 35 Kuppelstellen integrieren das Netz der TransnetBW in das nationale und europäische Verbundnetz. Gemeinsam mit den angrenzenden Verbundpartnern in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz stellt die TransnetBW so auch die für den grenzübergreifenden Stromtransport erforderlichen Übertragungskapazitäten diskriminierungsfrei zur Verfügung. Die TransnetBW steuert und kontrolliert die Energieflüsse im Netz, sorgt für Instandhaltung, Netzplanung und Netzentwicklung. Zahlreiche Stromhändler, Kraftwerks- und Verteilnetzbetreiber im Inund Ausland zählen zu den Kunden und Partnern. An den Start gegangen ist die TransnetBW GmbH im März 2012, als die damalige EnBW Transportnetze AG – gegründet 1998 – in ein eigenständiges Unternehmen ausgegliedert wurde. Mit diesem Schritt folgte der baden-württembergische Energieversorger EnBW den Vorgaben der Europäischen Kommission zur Entflechtung des ­Energiemarktes.

A. Urbaczka (*) TransnetBW GmbH, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Diwan (*) Hi! Employer Strategies GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_11

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Deren Ziel war die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Transportnetzbetreiber und eine Stärkung des Wettbewerbs.

11.1 Ein großes Ziel: die Energiewende möglich machen Die Bundesregierung hat entschieden, dass bis 2050 mindestens 80 Prozent der Stromversorgung aus erneuerbaren Energien stammen sollen. Um vor diesem Hintergrund auch zukünftig eine stabile und sichere Stromversorgung gewährleisten zu können, müssen die Stromnetze an die Veränderungen der Erzeugungsstruktur angepasst werden. Zum Beispiel muss der Strom aus Windenergieanlagen in Norddeutschland in den Süden transportiert werden. Die politischen Entscheidungen im Rahmen der Energiewende haben TransnetBW Chancen geboten, die das Unternehmen engagiert ergriffen hat. Neben dem Ausbau des Netzes für Drehstrom (AC-Netzausbau) sind es vor allem national relevante Groß-­ Projekte, nämlich der Bau leistungsstarker Gleichstromleitungen in den Projekten SuedLink und ULTRANET, die das Unternehmen herausfordern. Gerade das Projekt SuedLink macht den Einfluss politischer Entscheidungen auf das Unternehmen gut nachvollziehbar: Die Leitung, die Windstrom aus Norddeutschland in den Süden und Südwesten bringen soll, war zunächst als Freileitung geplant – seit Anfang 2016 gelten aber komplett neue Planungsvorgaben: SuedLink wird als Erdkabelleitung realisiert. TransnetBW musste schnell reagieren. Umplanen, anders denken. Neu planen. Plötzlich waren nicht nur Augen in Baden-Württemberg auf den Netzbetreiber gerichtet, sondern es gab bundesweite Aufmerksamkeit. Wurde die anfangs geplante Freileitung scharf kritisiert, melden heute von den Baumaßnahmen der Erdkabellegung betroffene Bürger*innen großen Gesprächsbedarf an. Der Umgang mit Gegenwind, die Organisation und Durchführung von Bürgerdialogen und eine konsequent proaktive Informations- und Beteiligungspolitik stellen das Team der Öffentlichkeitsarbeit der TransnetBW vor neue Aufgaben. Mit den Großprojekten hat sich auch das Investitionsvolumen des Unternehmens entscheidend vergrößert  – und mit ihm die Anforderungen an die Kompetenzen der Menschen, die die Projekte umsetzen. Digitalisierung und nicht-reguliertes Geschäft kommen dazu. Unter dem Strich also eine ganz neue Gemengelage im Hinblick auf das Kern­ geschäft des Unternehmens, und damit ein klarer Auftrag, diese Veränderungen aktiv zu gestalten.

11.2 Wachstum bringt Veränderung TransnetBW muss sich verändern. Das macht nicht zuletzt auch das starke Wachsen der Belegschaft in den vergangenen Jahren notwendig: Seit der Gründung der TransnetBW hat sich die Zahl der Mitarbeiter*innen von 70 auf jetzt rund 700 verzehnfacht, allein 2018 gab es fast 100 Neueinstellungen. Mit fast 700 Kolleg*innen gut und wirksam

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z­ usammenzuarbeiten, braucht ganz andere Methoden und Maßnahmen als in einem eingeschworenen Team von 70, in dem man sich kennt. Kommunikation, Führung und Verantwortung innerhalb der Teams benötigen eine andere Steuerung als vorher. Und das Wachstum geht voraussichtlich weiter. Die Benennung eines CEO aus einem bis dahin gleichberechtigten Geschäftsführer-­ Trio im Jahr 2017 gab den Impuls zu einem internen Change-Projekt, das sich zunächst auf die strukturellen Veränderungen fokussierte. Denn neben der CEO-Benennung wurde auch ein Bereich aufgelöst, und seine Abteilungen anderen Bereichen zugeordnet. Fast 200 Kolleg*innen behielten zwar ihre Führungskräfte, fanden sich aber in einem anderen Organisationsrahmen wieder. Das Projekt wurde vom Start an von Unternehmenskommunikation und Personalabteilung mit Unterstützung durch externe Change-Experten gesteuert. Im Laufe des Projekts kristallisierte sich eine Erkenntnis heraus: Die notwendigen Veränderungen greifen tiefer als vermutet – und können nur erfolgreich implementiert werden, wenn sich die gesamte innere Haltung des Unternehmens verändert. Nach der Ausgründung 2012 hatte die Führungsmannschaft Mission, Vision und ein Leitbild für die TransnetBW entwickelt (siehe Abb. 11.1). Doch während Mission und Vision im Unternehmen bekannt waren und gelebt wurden, fand das Leitbild kaum Beachtung. Die Visualisierung der Verhaltens- und Führungsgrundsätze lag im Intranet im Dornröschenschlaf. Die Leitlinien waren komplex und vielschichtig, und kaum jemand konnte sie benennen. So ergab sich schon im ersten Projektjahr eine Werte-Debatte, zunächst auf der Führungsebene. Im Management Workshop im April 2017 haben die Führungskräfte die Werte „Zusammenarbeiten – Treiben – Liefern“ diskutiert. Passen die zum Unternehmen? Das Ja

Abb. 11.1  TransnetBW Vision und Mission

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war eindeutig, aber es war auch eindeutig, dass die Begriffe mit TransnetBW-Leben gefüllt werden sollten. Das war der endgültige Startschuss für die Werte-Debatte. In den folgenden Management Workshops haben die Führungskräfte die Werte präzisiert und klare Inhalte formuliert. So wurden aus Werten Handlungsanleitungen und Beurteilungskriterien, die in der Organisation verankert werden. 2018 wurde diese Werte-Debatte darum auch in die Belegschaft getragen. Einzelne Teams haben sich in eigenen Workshops mit den Werten beschäftigt. Gut 60 interessierte Mitarbeiter*innen haben an vier unternehmensweiten Werte-Workshops teilgenommen. Regelmäßig trifft sich eine Querschnittsgruppe – ebenfalls bereichs- und hierarchieübergreifend besetzt  – und bespricht Fragen und Ideen rund um die Werte-Diskussion. Sie tragen die Werte ins Unternehmen, spiegeln aber auch, wo es Fragen oder gar Widerstände gibt, und haben so die Funktion eines „Sounding Boards“. Gleichzeitig wurde das Projekt 2018 ausgeweitet auf die Themen Unternehmens- und Führungskultur. „Was ist gute Führung?“ lautet die Frage, die auch hier zunächst in verschiedenen Management-Zirkeln vertieft und sogar operationalisiert wurde und wird. Das Thema „Beweglichkeit“ als Kernkompetenz für den Umgang mit Veränderungen wurde ebenfalls als Anforderung in das Zielbild der Organisation integriert. Zudem wächst mit der Zahl der Mitarbeiter*innen auch die Vielfalt: Aus einem homogenen, familiären Team ist inzwischen eine in jeder Hinsicht bunte Gemeinschaft geworden. Aus Menschen, die immer schon „TNG“ waren (so das frühere Unternehmenskürzel im EnBW-Konzern), aus Menschen, die bei der TransnetBW in den Beruf einsteigen, und aus Menschen, die ihre Erfahrungen aus anderen Unternehmen mitbringen. Auch die Job-Profile haben sich stark verändert: Von Technikern und Ingenieuren, die vor Ort für das reibungslose Funktionieren der Anlagen sorgen, über IT-Experten, die die Datenverarbeitung in der Hauptschaltleitung verantworten, bis hin zu den neuen Anforderungen an Kommunikation, HR, Legal und Controlling. Auch in dieser fachlichen Hinsicht ist das Unternehmen heute viel breiter aufgestellt als noch vor ein paar Jahren.

11.3 Strukturiertes Vorgehen Um diese komplexen Veränderungen zu meisten, braucht es eine Organisationsstruktur, die in jede Richtung beweglich ist. Und Menschen, die sich in solchen Strukturen wohl fühlen und gemeinsam mit der TransnetBW diesen neuen Weg gehen wollen. Veränderungen bringen häufig Verunsicherungen mit sich – auf jeden Fall ganz individuelle Herausforderungen. Wenn in einer solchen Situation klar ist, wie die Menschen miteinander arbeiten und umgehen wollen – also welche gemeinsamen Werte dem Miteinander zugrunde liegen und wie die Kultur funktioniert – kann dies Klarheit und die für das Gelingen des Wandels notwendige Sicherheit vermitteln. An diesem Punkt schob sich zum wiederholten Male die zentrale Rolle des Menschen in der Organisation in dem Mittelpunkt der Diskussionen. Das war folgerichtig der Start-

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punkt der Partnerschaft zwischen Hi! Employer Strategies und TransnetBW. Denn allen war klar, dass die Veränderungsinitiativen die Mitarbeiter*innen wirklich erreichen, emotional ansprechen und mitnehmen müssen, damit die Transformation gelingt. Alles dreht sich um die zentrale Frage: Wo und wie kann der Veränderungsprozess kommuniziert und erlebbar gemacht werden? An diesem Punkt wurde als sinnvolle und notwendige Ergänzung und zur inhaltlichen Abrundung das Thema Arbeitgebermarke als Instrument der Organisationsentwicklung in den Prozess integriert.

11.4 D  ie Arbeitgebermarke als Instrument der Organisationsentwicklung Häufig wird die Arbeitgebermarke als reines Kommunikations- und Marketinginstrument genutzt. Richtig eingesetzt, bietet sie jedoch das Potenzial, die Prozesse der Organisationsentwicklung zu beflügeln. Das Ergebnis ist eine integrierte Kultur-, Führungs- und Entwicklungsarbeit, die transparent und schlüssig innerhalb der Organisation kommuniziert wird und an jedem Kontaktpunkt zwischen Mensch und Unternehmen erlebbar wird. Diese Konsistenz in kommunizierten Inhalten und dem täglichen Erleben fördert das gegenseitige Vertrauen – sie legt damit den Grundstein für eine starke Bindung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ausgehend von den Fragen: Was macht das Unternehmen einzigartig? Für wen wollen wir attraktiv sein? Wie wollen wir heute und in Zukunft arbeiten? durchlief die TransnetBW den Prozess der Identitätsklärung und formulierte mit der Unterstützung von Hi! Employer Strategies eine Arbeitgebermarkenpositionierung (Employer Value Proposition). Dabei wurden die Mitarbeiter*innen an zwei relevanten Prozessphasen beteiligt: Während der Analysephase wurden Fokusgruppen-Workshops durchgeführt, die den direkten Blick öffneten auf den Status Quo des Arbeitserlebens: Was läuft aus der Per­ spektive der Mitarbeiter*innen gut, was müsste sich verändern? Im Rahmen der Gruppendiskussionen kamen teils sehr unterschiedliche Perspektiven zutage – in der Unternehmenszentrale in Stuttgart stellten sich ganz andere Themen als relevant heraus im Vergleich mit Standorten in der Fläche oder am Standort der Hauptschaltleitung Wendlingen. Andere Themen zogen sich wie ein roter Faden durch die ganze Organisation. Der zweite Schritt der Beteiligung erfolgte nach der Entwicklung des ersten Vorschlags für die Employer Value Proposition: In der Validierungsphase wurden die Teilnehmer*innen aus der ersten Runde gebeten, Feedback zum Vorschlag zu geben. Wieder im Format der Fokusgruppe diskutierten die Gruppen über Themencluster, Aussagen und konkretes Wording der Formulierungen. Dieses Feedback floss in die Finalisierung der Employer Value Proposition ein. Einige der Teilnehmer*innen hatten sich bereits im Rahmen der Wertedebatte in den Workshops engagiert. Sie konnten die Verbindung dieser Projekte gut nachvollziehen und entwickelten einen Blick für das größere Ganze hinter dem Kulturwandel bei der TransnetBW.

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Die Employer Value Proposition enthält nach dieser Validierungsphase einerseits das Abgrenzungspotenzial, aber auch Aspekte der Kontinuität und der Veränderung. Dabei geht es jederzeit um Authentizität, denn nur, wenn sich die Mitarbeiter*innen emotional und rational mit der Marke identifizieren können, entwickelt sich die notwendige Bindungskraft. Dann kann die Marke zur vertrauensfördernden Stabilität beitragen, die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen fördern – und damit ihre Loyalität. Diese Zufriedenheit mit dem täglichen Erleben ist auch ein wichtiger Startpunkt für den Schritt nach außen: Die Arbeitgebermarke findet von innen heraus über die Mitarbeiter*innen als Markenbotschafter ihren Weg nach draußen. Über Familie, Freundeskreise und private wie berufliche Netzwerke. Dort hat sie dann eine wirklich herausfordernde Aufgabe zu meistern: Baden-­ Württemberg hat nahezu Vollbeschäftigung. Wer seinen Job wechseln möchte, hat relativ große Auswahl. Und wer (noch) nicht wechseln möchte, braucht starke Impulse, um sich mit einem Unternehmen als potenziellem neuen Arbeitgeber zu beschäftigen. Impulse, wie zum Beispiel einen stark sinnstiftenden Auftrag. Einen, wie die TransnetBW ihn hat: Das Unternehmen sorgt für Energie-Infrastruktur und sichert die Lebensqualität für die Menschen der Region. Mit dieser Botschaft sollen genau die Menschen erreicht werden, die nicht nur für ein monatliches Gehalt arbeiten. Menschen, die Veränderung gestalten wollen, die an eine positive Zukunft glauben und im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran mitarbeiten möchten. Der Prozess ist zurzeit am Punkt der internen Verankerung der Arbeitgebermarke innerhalb der Organisation. Die Kernaussagen der Marke werden in die internen Kommunikationsmaßnahmen integriert: Im Intranet bekommt die Arbeitgebermarke einen eigenen Bereich, in dem der Prozess der Markenentwicklung dokumentiert ist und die Kernaussagen zusammengefasst sind. Zudem finden die Themen Eingang in interne Maßnahmen – zum Beispiel in den Zukunftstag. Diese Veranstaltung für Mitarbeiter*innen macht die vielfältige Arbeit an innovativen Themen aus den einzelnen Geschäftsbereichen begreifbar und erlebbar. Beim Recruiting und Onboarding überlappen sich intern und extern – auch an diesen Punkten sind erste Maßnahmen geplant, um die neue Employer Value Proposition sichtbar und erlebbar zu machen.

11.5 Fazit Ausgehend von einem komplexen Organisationsentwicklungsprozess, der bei der Struktur angesetzt, sich über Leitbild, Kulturwandel und Führungsverständnis bewegt hat und sich jetzt in einer neuen Arbeitgebermarke manifestiert, zeigt sich die Haltung der TransnetBW zu einem der gesellschaftlich relevanten Themen der Zeit. Das Unternehmen positioniert sich klar im digitalen Zeitalter und stellt die Menschen mit ihrer Intelligenz und Wirkkraft ins Zentrum der ambitionierten Zukunftspläne der Organisation.

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11.6 5 Tipps für den Kulturwandel im digitalen Zeitalter 1. Kulturwandel ist Chef*innensache: Sichern Sie sich die aktive Unterstützung aus der Geschäftsführung. 2. Informieren und beteiligen Sie die Mitarbeiter*innen so früh wie möglich. Jede*r ist willkommen, in diesem Prozess aktiv mitzuarbeiten. 3. Organisieren Sie sich sinnvolle Unterstützung durch externe Partner. Sie haben die notwendige Neutralität, gerade bei kritischen Punkten die Diskussion zu fördern und zu moderieren. 4. Fangen Sie an und rechnen Sie mit Turbulenzen. Sie werden nicht alle Eventualitäten im Voraus klären können. 5. Sichern Sie die kontinuierlichen Rückmeldungen in die Tiefe der Organisation. Selbst wenn Sie nur von kleinen Teilschritten berichten können.

Digitalisierungsaffine Unternehmenskultur: Die Digitalisierung erfolgreich im Unternehmen umsetzen

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Lisa Schrade-Grytsenko

12.1 Einleitung Die Unternehmenskultur ist ein integraler Bestandteil und wichtiger Wettbewerbsfaktor von Unternehmen. Sie ist, wenn angemessen mit weiteren Faktoren wie Unternehmensstrategie und -strukturen verzahnt, ein entscheidendes Element für den Unternehmenserfolg, auch beispielsweise bei Veränderungsprozessen oder Transformationen. Dadurch, dass die Unternehmenskultur eher abstrakt und komplex ist, kann sie jedoch vergleichsweise langsam und nur bedingt geplant oder verändert werden. Dabei stellt sie einen wichtigen Faktor bei der Forcierung von Innovationen innerhalb des Unternehmens dar. Solch eine innovative Entwicklung ist auch die Digitalisierung. Nicht nur mittelständische Unternehmen weltweit haben sich immer stärker dem Megatrend der Digitalisierung zu stellen. Durch den grundlegenden Wandel, der ebenfalls die Gesellschaft durchzieht, wird auch von der vierten industriellen Revolution gesprochen. In Deutschland, einem der führenden Industriestandorte, ist die Digitalisierung deshalb in einem Maßnahmenpaket bis 2025 manifestiert – in der so genannten Digitalen Strategie 2025 [1]. In Zeiten solcher unumkehrbaren und unausweichlichen Entwicklungen ist es demzufolge sinnvoll und wirtschaftlich notwendig, sich mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Sofern also noch nicht geschehen, ist eine nähere Betrachtung und Implementierung der Digitalisierung anzuraten. Dabei ist der Veränderungsdruck wechselseitig: Er geht zum einen von den Anspruchsgruppen aus, wie zum Beispiel den Kunden oder Lieferanten, aber wirkt Richtung dieser ebenfalls prägend – wie zum Beispiel bei der Implementierung der Di­ gitalisierung im Unternehmen, gegenüber den Mitarbeitern. Vor diesem Hintergrund L. Schrade-Grytsenko (*) WIK Wissenschaftliches Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH, Bad Honnef, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_12

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b­ eschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit dem Zusammenspiel und der Zusammenführung der Digitalisierung und der Unternehmenskultur. Die Konsequenz beider Bereiche ist ein Spannungsfeld zwischen der sich vergleichsweise langsam verändernden und anpassbaren Unternehmenskultur und den eher schnell und disruptiv aufkommenden Veränderungen im Zuge der Digitalisierung. Um weiterhin als Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben und darüber hinaus Wettbewerbsvorteile generieren zu können, ist es also unabdingbar, diese beiden Disziplinen gewinnbringend miteinander zu verzahnen. Aus diesem Status Quo heraus ergibt sich der Anspruch, die beiden wichtigen Disziplinen Unternehmenskultur und Digitalisierung sinnvoll zusammenzuführen und sie als integrative Synergien zu verbinden. Hieraus entsteht auch der Begriff der Digitalisierungs­ affinität, welcher die Angepasstheit der Faktoren der Unternehmenskultur an die Digitalisierung deutlich machen soll. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht automatisch oder pauschal von einer Unternehmenskultur ausgegangen werden kann, welche sich im Rahmen der Digitalisierung als „brauchbar“ herausstellt. Vielmehr steht, besonders aus der Perspektive der Unternehmenskultur, das Problem im Fokus, dass die Unternehmenskultur bisher überwiegend allgemein und in großen Unternehmen untersucht wurde, und weniger in einem Digitalisierungskontext. Um die Unternehmenskultur im Hinblick auf die Digitalisierung zielführend zu untersuchen, auch für kleinere und mittelständische Unternehmen greifbar zu machen und solch eine digitalisierungsaffine Kultur implementieren zu können, ergibt sich folgende Frage: Welche Anforderungen muss eine digitalisierungsaffine Unternehmenskultur erfüllen?

12.2 Modell der digitalisierungsaffinen Unternehmenskultur Sowohl die Aspekte der Unternehmenskultur als auch die Aspekte der Digitalisierung bedürfen einer Identifizierung und Abstimmung aufeinander. Dazu wurden charakteristische Kriterien der Unternehmenskultur mithilfe einer Matching-Methode als „digitalisierungsaffin“ identifiziert. Auf die detaillierte Erläuterung der Methode wird an dieser Stelle aus Kapazitätsgründen verzichtet, sie ist in der weiterführenden Literatur erläutert [2].

12.2.1 Kriterien der Unternehmenskultur Die Ausgangslage bildet der erfolgskritische Aspekt der Unternehmenskultur, welche bisher hauptsächlich im allgemeinen Kontext des Unternehmens analysiert wurde und weniger im Kontext disruptiver Veränderungen, wie der Digitalen Transformation [3]. Auch gibt es hier bereits einige Untersuchungen und entwickelte Modelle, mit unterschiedlichem Fokus und Herangehensweisen. Bei der Erstellung eines digitalisierungsaffinen Unternehmenskulturmodells wurden die im Konsens der bisherigen Forscherinnen und  Forscher dominierenden Elemente herausgefiltert und eigens kategorisiert, wie in Abb. 12.1 dargestellt. Dabei weist jedes Modell in der wissenschaftlichen Literatur je nach

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Abb. 12.1  Kriterien der Unternehmensstruktur

Autor andere Kriterienschwerpunkte auf, bei vielen Kriterien, wie z. B. den Artefakten oder Werten, ist jedoch eine konsistente Nennung zu finden, was wiederum auch die Eignung zur Analyse und weiteren Verarbeitung gibt [4–6]. Grundsätzlich sind alle aufgeführten Gruppen von Kulturkriterien der Hebel für Veränderungen. Das bedeutet, dass jede dieser Komponenten in einem Unternehmen nicht nur vertreten sein, sondern auch auf verschiedene Arten angepasst werden können. Die erste Kriteriengruppe ist die der Artefakte, also etwas Gegenständliches, was von Menschenhand geschaffen wurde. Dabei ist das wirklich Gegenständliche gemeint, sprich Dokumente, hergestellte Produkte, Technologien, etc. Damit das Modell anwendbar und übersichtlich bleibt, wurde sich auf eine Auswahl der wichtigsten Artefakte konzentriert: Zum einen Produkte und Dienstleistungen, welche sowohl standardisiert als auch individualisierbar sein können. Zum anderen die Dokumente, bei welchen beispielsweise zwischen digitalen oder physischen unterschieden werden kann und welche wichtige Daten und somit auch den Datenfluss für das jeweilige Unternehmen beinhalten. Außerdem zählt hierzu die Architektur am Unternehmensstandort, welche offen oder geschlossen gehalten sein kann [4, 5]. Die zweite Kategorie ist die der Werte und Normen. Beide können durchaus als eigenständige Aspekte betrachtet werden, für das vorliegende Modell wurden sie jedoch zusammengefasst und eine übergreifende Auswahl an Unterkriterien festgelegt [7]. Wie in Abb.  12.1 deutlich wird, zählen hierunter gelebte und auch verschriftlichte (Unternehmens-)Werte, Rituale, Vorschriften und auch die so genannte Orientierung, welche eine Grundeinstellung im Unternehmen meint und eine unterschiedliche Ausprägung annehmen kann. So kann sie job- oder mitarbeiterorientiert sein, ein offenes oder geschlossenes

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System sein, strenge oder lockere Kontrolle anwenden und flexible oder rigide ausfallen [8]. Des Weiteren zählt zu dieser Kategorie auch die Organisationsstruktur, wobei hier zwischen funktionaler, divisionaler oder Matrixorganisation unterschieden wird [9]. Auch die jeweilige Strategie und die Ziele des Unternehmens, welche unternehmens-, geschäftsbereichs- oder funktionsbereichsweit sein können, fallen unter diese Kategorie. Die Werte als solche sind als gewünschte Soll-Verhaltensweisen der Mitarbeiter zu sehen. Hiermit werden also die vom Unternehmen gewünschten Maxime und Verhaltensweisen vorgegeben und im expliziten Fall ausformuliert, womit auch die Wichtigkeit der Werte begründet ist [10]. Die dritte Kategorie ist die der Führung, welche zwei erfolgskritische Faktoren im Hinblick auf die Unternehmenskultur beinhaltet. Diese wären zum einen die Führungskraft als Person und der von ihr angewandte Führungsstil. Unter Führungsstil wird im Allgemeinen verstanden, wie die Führungskraft die Führungsaufgabe wahrnimmt und wie sich die Führungsbeziehung zu den weiteren Mitarbeitenden gestaltet, besonders gegenüber Untergeordneten [5, 11]. Den Führungsstil wiederum kann man in verschiedene Stilarten unterteilen. Es wird hauptsächlich unterschieden zwischen dem autoritären Führungsstil, welcher sehr vorgebend und streng ist, sich dadurch auch für Krisensituationen eignet, dem demokratischen Führungsstil, welcher sich zu Konsensbildungen eignet und dem laissez-fair Führungsstil, welcher ausreichende Freiheitsgrade und Raum für das Ausprobieren und Lernen lässt [12]. Die vierte Kategorie ist die der allgemeinen Arbeitsbedingungen. Hierunter fallen alle äußeren Umstände, unter welchen die Arbeitenden ihre Arbeit zu verrichten haben. Dazu zählt neben dem Arbeitsort, der Arbeitszeit und -platz auch die Nutzung von Technologie sowie Bildung und Nutzung von (sozialen) Netzwerken. Der Arbeitsort ist vom Arbeitsplatz insofern zu differenzieren, als dass der Arbeitsort beispielsweise die geografische Lage und Gebäude(-art) meint, wobei mit Arbeitsplatz der eigentliche Platz im Gebäude gemeint ist, also die Art des Büros beispielsweise. Es kann unterschieden werden zwischen einem festen, stationären Arbeitsplatz oder einem mobilen Arbeitsplatz, welcher hinsichtlich Ort und Materialien flexibel und anpassbar ist. Außerdem ist zwischen einem Arbeitsplatz vor Ort, also im Büro und einem ortsunabhängigen, in den meisten Fällen Telearbeitsplatz, bzw. Home Office, zu unterscheiden sowie, ob es sich um einen Einzeloder Gruppenarbeitsplatz handelt. Mit Arbeitszeit ist neben der tatsächlichen Uhrzeit auch die Form gemeint, also ob es feste Arbeitszeiten oder Gleitzeit, oder weitere Arbeitszeitmodelle gibt. Dabei kann zwischen den traditionellen Arbeitszeiten (z. B. Schichtarbeit) und den flexiblen Arbeitszeiten (z. B. Gleitzeit) unterschieden werden. Die Arbeitstechnologie meint, mit welchen technischen Methoden, Verfahren und Tools im Unternehmen gearbeitet wird. Da dies vergleichsweise divers und individuell je nach Unternehmen ausfällt und um eine Anwendbarkeit für das Kulturmodell zu erhalten, wurde der Grad der Technologisierung in folgende Abstufungen vorgenommen: Level 1 bedeutet eine nicht bis nur gering vorhandene Verfügbarkeit von Technologien, einem nicht bis nur gering vorhandenen technischen Fortschritt im Unternehmen und einer schlechten technologischen Infrastruktur. Bei Level 2 sind genannte Aspekte gehoben, bzw. in mittlerem Maße

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verfügbar, wobei Level 3 bedeutet, dass es eine sehr gute Verfügbarkeit von Technologien, einen hohen technologischen Fortschritt und eine sehr gute technologische Infrastruktur im Unternehmen gibt. Das letzte Kriterium aus dieser Kategorie ist das Arbeitsnetzwerk, also ein meist soziales Netzwerk an Kollegen und Kontakten im Arbeitsumfeld. Dies kann dementsprechend klein oder groß ausfallen, wobei auch unterschieden wird, ob es viele oder wenige Austauschmöglichkeiten innerhalb des Arbeitsnetzwerks gibt [4, 5, 7, 9, 11]. Die letzte Kategorie ist die des so genannten Handlings. Diese Umschreibung meint, wie es auch aus dem Englischen übersetzt werden kann, eine vorherrschende Handhabung verschiedener Bereiche im Unternehmen. Darunter sind alle Aspekte gefasst, welche etwas mit Prozessen oder festgelegten Handlungsschemata zu tun haben. Dazu zählt zum einen die Handhabung bezüglich der Entscheidungsfindung im Unternehmen. Entscheidungen können zum Beispiel auf Basis einer systematischen und rationalen Wahl, einer begrenzt rationalen Wahl (schrittweises Entwickeln und Testen von Alternativen bis zur Lösungsfindung) oder inkrementell, also durch schrittweises Durcharbeiten durch Pro­ bleme bis zur Lösungsfindung, getroffen werden. Auch der Umgang mit Fehlern gehört zur Kategorie des Handlings. So kann Fehlern entweder tolerant oder intolerant gegenübergetreten werden. Ähnlich verhält es sich mit der Anwendung und Dosierung von Kontrolle im Unternehmen, also ob viel oder wenig kontrolliert wird im Unternehmen. Ebenso gehört das Konfliktverhalten zu dieser Kategorie und kann wie folgt unterteilt werden: Ein vermeidendes Konfliktverhalten kennzeichnet sich durch eine aktive oder passive Vermeidung eines Konflikts oder Ansprache eines Problems. Das dominierende Konfliktverhalten zeichnet sich durch eine progressive Vertretung des eigenen Standpunktes und Gewinn in einem Konflikt aus. Bei einem schlichtenden Konfliktverhalten werden zu Gunsten der potenziellen Gemeinsamkeiten entstandene Konflikte „heruntergespielt“. Das integrierende Konfliktverhalten basiert zwar auf einer Problemkonfrontation aber auch auf der Findung einer bestmöglichen Lösung für alle Parteien [4, 7, 13, 14]. Das Lernverhalten innerhalb eines Unternehmens zählt auch zum Handling, welches entweder praktisch nicht existent ist, über einen single-loop, also Lernen zum Zwecke der Anpassung innerhalb bestehender Richtlinien und Standards, oder einen so genannten double-loop, bzw. reflektierendes Wissen, Denkweise über bestehende Richtlinien und Standards hinaus, vertreten ist. Der letzte Unterpunkt innerhalb dieser Kategorie ist die Art der Kommunikation. Hier können drei Handhabungen unterschieden werden. Zum einen die persönliche Weisung, welche einen hierarchischen, vertikalen Informationsfluss abbildet. Außerdem wäre auch eine Selbstabstimmung möglich, was im Gegenteil zur persönlichen Weisung auf einem nicht hierarchischen, horizontalen Kommunikationsfluss basiert, welche auch eine direktere Kommunikation in der Operativen ermöglicht. Die Standardisierung ist eine dritte Möglichkeit, welche nicht die kommunizierende Person, sondern das Medium in den Fokus stellt, basierend auf Kommunikationsprogrammen und -plänen, welche situativ zum Einsatz kommen [9, 13]. Dies ist die Auswahl und Unterteilung der Kriterien, aus welchen sich die Unternehmenskultur zusammensetzt. Sie stellen, wie bereits erläutert, die möglichen Veränderungs-

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hebel eines Unternehmens dar. Es folgen die Kriterien der Digitalisierung, welche dann den soeben erläuterten Kriterien der Unternehmenskultur gegenübergestellt werden. Dadurch ergibt sich dann eine gezielte Änderungsmöglichkeit der Kriterien der Unternehmenskultur.

12.2.2 Kriterien der Digitalisierung Auch die Digitalisierung lässt sich in einige Kriterien und Charakteristika unterteilen. Je nach Literatur gibt es zwar verschiedene Schwerpunkte, jedoch ergibt sich im Allgemeinen eine Gruppe von konsistenten Anforderungen. Anzumerken ist auch, dass die Kriterien untereinander oftmals Schnittmengen aufweisen, was im Laufe der Erläuterungen deutlicher wird. Sie fokussieren sich auf organisations- und unternehmensrelevante Aspekte, um ein bestmöglich anwendbares Modell zu erhalten. Zwei Kriterien gilt es bereits digitalisierungsunabhängig zu erfüllen. Sie sind notwendige Voraussetzungen innerhalb eines Unternehmens, welche nicht nur speziell bei der Digitalisierung, sondern sowohl bei einer grundsätzlichen Technologieorientierung in einem Unternehmen erforderlich sind, als auch allgemein wünschenswerte Umstände sind: Vertrauen und Flexibilität. Vertrauen ist eine wichtige Voraussetzung, um auf dem Markt und in Unternehmen eine Ausgangsbasis für möglichst reibungslose Zusammenarbeit und Wertschöpfung zu generieren. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Vertrauen auch im Kontext der Digitalisierung eine notwendige Voraussetzung für Veränderung darstellt. Deshalb wird das Vertrauen im Folgenden nicht noch einmal explizit eingeordnet, sondern als gegeben vorausgesetzt. Flexibilität ist ebenfalls keine neue Anforderung auf dem Markt. Und besonders bei der Adaption von neuen Technologien in einem Unternehmen ist Flexibilität ein unabdingbarer Faktor. Dieser Faktor ist unternehmensübergreifend wichtig, sprich sowohl im Personalwesen, der Produktion, der Führung als auch in der Strategieausrichtung relevant. Aufgrund dessen und seiner andauernden Relevanz wird die Flexibilität als notwendige Voraussetzung betrachtet und weniger als digitalisierungsspezifisches Kriterium [15, 16]. Aus Abb. 12.2 gehen nun die weiteren, wichtigen Kriterien der Digitalisierung hervor, welche ebenfalls in Kategorien und Unterkriterien zusammengefasst sind [2, 15, 17–21]. Zum einen zählt hierzu die Mentalität. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Digitalisierung auch als Zukunftsthema zu sehen, welches keine vorübergehende Phase, sondern eine lang anhaltende und nachhaltig greifende Marktentwicklung ist. Dementsprechend ist eine Mentalität förderlich, welche Innovationen und eine Lernkultur zulässt. Viele Technologien und Arbeitsweisen im Zuge der Digitalisierung sind neu und nicht jedes Unternehmen hat hiermit schon Erfahrungen gesammelt. Dementsprechend ist Offenheit, Lernbereitschaft und damit verbunden auch eine hohe Fehlertoleranz, welche das nachhaltige Lernen erst ermöglicht, von Vorteil. Hinzu kommt die Agilität, was ein mittlerweile viel diskutierter Ansatz ist. Hierunter zählen zum einen agile Arbeitsmethoden, wie beispielsweise Scrum, welche immer häufi-

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Abb. 12.2  Kriterien der Digitalisierung

ger Zusammenhang mit der Digitalisierung aufkommen. Agilität, worunter übergeordnet die Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit zu verstehen ist, kann jedoch im Unternehmen auf verschiedenen weiteren Ebenen vorhanden sein. Zum Beispiel ist die projektbasierte Arbeit, wie sie auch schon bei Scrum dominiert, im Zuge der Digitalisierung im Unternehmen ein begünstigender Umstand. Projektbasiertes Arbeiten und agile Arbeitsmethoden sind jedoch grundsätzlich voneinander zu differenzieren, da projektbasiertes Arbeiten auch mit klassischen Arbeitsmethoden durchgeführt werden kann. An der Stelle sei auch darauf verwiesen, dass bei der Implementierung von agilen Arbeitsmethoden immer die Sinnhaftigkeit für das Unternehmen betrachtet werden sollte und agiles Arbeiten nicht um seiner selbst willen eingeführt werden sollte. Hieraus ergibt sich, dass es bei den Herausforderungen der Digitalisierung erweiterter und neuer Fähigkeiten bedarf. Digital Empowerment ist hier das Stichwort, was zusammenfassend das Ermöglichen der digitalen Handlungsfähigkeit des Unternehmens und der Mitarbeitenden sowie dementsprechendes technologisches und wissensbasiertes Aufrüsten bedeutet. Hierzu zählt auch die Expertise, welche im Zuge der Digitalisierung notwendig wird und somit im Unternehmen vorhanden sein sollte. Auch das Führungsverhalten kann die Digitalisierung im Unternehmen begünstigen oder hemmen, hier Digital Leadership genannt. Aus den bereits erwähnten agilen Arbeitsmethoden heraus ergibt sich, dass die Reduktion der Hierarchie im Unternehmen am günstigsten für die Digitale Transformation ist. Gleichzeitig wird ein Wandel, wie er im

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Zuge der Digitalisierung notwendig ist, durch eine stärkere Miteinbeziehung der Mitarbeitenden begünstigt. Die Führungskraft selbst sollte außerdem in der Lage sein, zwischen den Rollen zu wechseln. Einige Situationen verlangen beispielsweise eher einen Coaching-­ Stil ab, manche eine stärkere, autoritärere Lenkung und wiederum andere Situationen eine Führungskraft, die die Belegschaft vertrauensvoll schaffen lässt. Des Weiteren wird im Zuge der Digitalisierung und Verfügbarkeit von neuen Technologien die Kundenorientierung zunehmend wichtiger. Dazu zählt primär die Fokussierung auf den Kunden und seine Bedürfnisse, aber auch auf den letztendlichen Prozess, welcher zum Endprodukt oder der Endleistung für den Kunden führt. Die im Zuge der Digitalisierung mögliche Sammlung und Auswertung größerer (Kunden-)Datenmengen begünstigt ebenfalls eine gezieltere und individuellere Kundenorientierung. Dabei wird eine interdisziplinäre Arbeitsweise immer relevanter. Das klassische Silodenken, in beispielsweise einzelne Abteilungen, muss durchbrochen werden. Nur so können in solch einem schnelllebigen digitalen Zeitalter die Kundenbedürfnisse optimal bedient und eine nachhaltige Kundenzufriedenheit sichergestellt werden. Abschließend sind auch die Arbeitsbedingungen ein wichtiger Faktor im Zuge der Digitalen Transformation. Durch das Vorhandensein und die Weiterentwicklung neuer Technologien, welche auch im Arbeitskontext verwendet werden, wird das Arbeiten immer autonomer. Die Erläuterung der Digitalisierungskriterien macht deutlich, dass hier untereinander viele Schnittmengen und Abhängigkeiten zu finden sind. So hängt die Digitalisierung im Unternehmen von einer adäquaten Führung ab, was wiederum Auswirkungen auf die restlichen Kriterien hat. Von hier aus können Silodenken in Abteilungen und autonomere Arbeitsweisen forciert und die Digitalisierung somit begünstig werden. Diese wiederum machen agile Arbeitsmethoden und ein agiles, flexibles Management notwendig, welches sich auch auf die Mentalität auswirkt – Führungskräfte werden fehlertoleranter und Mitarbeitende arbeiten in einem Mindset der Lern- und Innovationsfokussierung ergebnisorientiert, kompetenzübergreifend, vernetzt und autonomer. Es gilt also: Digitalisierung bringt oben genannte sechs Oberkriterien mit sich, welche jedoch nur im Einklang miteinander den größtmöglichen Gewinn aus der Digitalen Transformation für Unternehmen holen.

12.2.3 Die digitalisierungsaffine Unternehmenskultur Wenn man alle im Vorfeld genannten Kriterien nun zusammenführt, ergibt sich sukzessive ein Bild, welches die digitalisierungsaffine Unternehmenskultur darstellt. Die bereits in den meisten Unternehmen bestehenden Faktoren der Unternehmenskultur wurden über ein Matching-Verfahren an die Kriterien, bzw. Anforderungen der Digitalisierung angepasst. Somit entsteht ein Modell, welches einen wünschenswerten Soll-Zustand der digitalisierungsaffinen Unternehmenskultur aufzeigt, wie in Abb. 12.3 dargestellt [2].

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Abb. 12.3  Die digitalisierungsaffine Unternehmenskultur

In der Kriterienkategorie der Artefakte wird deutlich, dass im Zuge der Digitalisierung die angebotenen Produkte und Dienstleistungen individuell gestaltet werden sollten, also möglichst auf den Kunden ausgerichtet. Als logische Konsequenz empfiehlt sich auch statt einer physischen, papierbasierten Dokumenten- und Datenverwaltung eine digitale Umsetzung. Auch begünstigt eine offene Architektur im Unternehmen die Digitalisierung und damit einhergehende Umstände. Gruppen- oder Großraumbüros sind mit ausreichend Ruhezonen eine mögliche Variante. Die Werte in einer digitalisierungsaffinen Unternehmenskultur begünstigen all die Faktoren, welche im Vorfeld als Voraussetzung zur Digitalisierungsimplementierung genannt wurden. Unternehmenswerte wie Offenheit, Lernbereitschaft und Kundenorientierung spiegeln auch die Eigenschaften der Mentalität im Zuge einer Digitalen Transformation wider. Einher geht dies auch mit der Orientierung im Unternehmen. Eine Mitarbeiterorientierung sowie eine Offenheit, Flexibilität und weniger Rigidität fokussierende Orientierung sind hier förderlich. Jedes Unternehmen besitzt auch eine Organisationsstruktur, welche unter anderem Arbeitswege und Unternehmenszugehörigkeiten festlegt. Durch die

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Lockerung der Hierarchie und den Abbau eines Abteilungs-, bzw. Silodenkens, ist die flache Struktur der Projektorganisation förderlich, jedoch mit einer leitenden Instanz, um nach wie vor Entscheidungen und Richtungen vorzugeben und einzuhalten. Die Ziele und die Strategie eines Unternehmens sollten somit ebenfalls über alle Abteilungen und Geschäftseinheiten hinweg gelten, bekannt sein und gelebt werden. Vor allem der laissez-fair Führungsstil in Kombination mit dem demokratischen Stil erweist sich als förderlich für die Implementierung der Digitalisierung im Unternehmen. Auch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen knüpft an die bereits erläuterten Punkte an. Mit der offenen Architektur geht einher, dass Gruppenarbeitsplätze mit der Möglichkeit zur mobilen Arbeit (von einem anderen Platz oder Ort) sich als wünschenswert erweisen, die Abwesenheit am Arbeitsplatz jedoch auch zu Komplikationen im Arbeitsfluss führen kann, bzw. an manchen Arbeitsplätzen grundsätzlich nicht möglich ist. Mit mobilen Arbeitsmöglichkeiten und neuen Technologien werden auch flexibilisierte Arbeitszeiten möglich und wünschenswert, sofern umsetzbar. Der Grad der Technologisierung im Unternehmen sollte nach Sinnhaftigkeit und weniger nach dem Maximum an Neuheiten streben. Somit sind ein gehobener bis hoher technologischer Fortschritt und eine gute bis sehr gute technologische Infrastruktur im Unternehmen empfehlenswert. Den Mitarbeitenden sollten im Zuge der interdisziplinären Arbeit mit abgeflachten Hierarchien die Möglichkeiten für einen großzügigen Austausch gewährt werden, wobei eine Netzwerkgröße von mindestens 3 Mitarbeitenden pro Person wünschenswert ist. Und auch in der Kriterienkategorie des Handlings lässt sich diese Richtung feststellen. Iterative Entscheidungsfindungen mit kurzen und sukzessiv aufbauenden Entscheidungszyklen sind hilfreich in der schnelllebigen Zeit der Digitalisierung. Außerdem erfordert die Digitalisierung einen toleranten Umgang mit Fehlern und einen auf ein Minimum reduzierten Einsatz von Kontrolle, wo möglich. Im Zuge der Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters ist ein integrierendes und schlichtendes Konfliktverhalten förderlich und die direktere und hierarchisch abgeflachte Kommunikation in Selbstabstimmung. Durch die offene und fehlertolerante Mentalität, welche ebenfalls gewünscht ist, ist auch das double-­ loop Lernverhalten wünschenswert, bei welchem Mitarbeiter über den bestehenden Tellerrand hinaus sehen und erarbeitetes Wissen reflektieren und anwenden.

12.3 Möglichkeiten für den Mittelstand Das Modell der digitalisierungsaffinen Unternehmenskultur zeichnet einen anzustrebenden Zustand. Das bedeutet, dass es als Ausgangslage genommen werden kann, um die Situation im eigenen Unternehmen zu analysieren und mit den aufgeführten Kriterien zu vergleichen. Dabei kristallisiert sich ein Delta heraus, also die Lücken zwischen dem Ist-Zustand im Unternehmen und dem dargelegten Soll-Zustand. Es lassen sich nicht immer alle Punkte problemlos umsetzen und schon gar nicht zeitgleich. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Unternehmenskultur eine nur schwer und langsam veränderbare Kom-

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ponente im Unternehmen ist. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen und deren Entscheider stellen sich also die Frage: Wie kann die vorherrschende Unternehmenskultur digitalisierungsaffin gestaltet werden? Das in diesem Beitrag erörterte Modell bietet dafür einen ersten Anhaltspunkt. Dabei sind einige Aspekte kurzfristiger umsetzbar als andere. Die Mentalität und Werte sind beispielsweise Kriterien, welche nicht unmittelbar nach Änderung oder Neuausrichtung die gewünschte Ausprägung und damit den gewünschten Effekt annehmen [4]. Nichtsdestotrotz sollte sich derer angenommen werden, jedoch in genau diesem Wissen und einer langfristigen Planung. Neben der Neuausrichtung der Werte spielt hier auch die adäquate Kommunikation und das „(Vor-)Leben im Unternehmen“ eine erfolgskritische Rolle. Andere Aspekte wiederum können kurzfristig umgesetzt werden und liefern einen direkten Mehrwert, wie zum Beispiel der Umstieg von physischen Dokumenten und Daten zur Digitalisierung derer, was in kleinem Umfang schon über die Anschaffung und Implementierung eines Warenwirtschaftssystems erreicht werden kann. Außerdem hat die Reduzierung der Abteilungs- bzw. Silodenke und gleichzeitiges Forcieren der Kundenorientierung einen direkten Einfluss auf den Leistungserstellungsprozess und die damit verbundene Zufriedenheit des Kunden mit gewünschtem Produkt oder Service. Mittelfristige Maßnahmen, welche zwar aufwändig aber effektiv sind, wären zum einen die Umgestaltung des Arbeitsumfeldes. Ein offener Arbeitsraum, welcher die Kommunikation der Kollegen untereinander erleichtert und trotzdem Ruhemöglichkeiten bietet, kann bereits durch die räumliche Zusammensetzung von relevanten Arbeitsteams oder das Einrichten von Gruppenarbeitsräumen erzielt werden. Vorausgesetzt, das Gebäude und die eigentliche Arbeit ermöglichen dies, was bei Fließbandarbeit oder generell in der produzierenden Operativen oder im Vertriebsaußendienst beinahe unmöglich ist. Genannte Aspekte, welche von Humanressourcen abhängig sind, also Mitarbeitende oder Führungskräfte, können größ­ tenteils über Fortbildungen und Weiterbildungsmaßnahmen abgedeckt werden. Hierzu zählen beispielsweise neben Führungskräfteseminaren auch technologisch orientierte Trainings für Mitarbeitende. Somit wird eine Befähigung auf Know-how-Ebene erzielt, es findet jedoch auch eine Sensibilisierung der beteiligten Personen statt, die die Digitale Transformation letztendlich im Unternehmen mittragen und gestalten.

12.4 Ausblick Die Unternehmenskultur und die Digitalisierung befinden sich in einem Spannungsfeld, welches es aus Gründen der Generierung von Wettbewerbsvorteilen und letztendlich der Gewinnmaximierung zu überwinden gilt. Denn die Unternehmenskultur kann einen signifikanten Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung von solch disruptiven Transformationen, wie es bei der Digitalisierung der Fall ist, leisten. Deshalb wurde das vorgestellte Modell als Tool entwickelt, welches die Anforderungen an eine digitalisierungsaffine Unternehmenskultur aufzeigen und dem Anwender im Unternehmen eine Idee vom gewünschten Soll-Zustand der Unternehmenskultur im Kontext der Digitalisierung geben soll.

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Es ist jedoch auch wichtig zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem Modell um eine Momentaufnahme handelt. Mit der Digitalisierung geht ein stetiger Wandel einher, der in zwei bis fünf Jahren bereits tief greifendere Dimensionen angenommen haben kann, sodass zukünftig nicht nur punktuelle Veränderungen, sondern unternehmensübergreifende und viel disruptivere Transformationen notwendig werden, als es zum heutigen Zeitpunkt der Fall ist. An dieser Stelle sei als Ausblick auf das Thema Arbeit 4.0 verwiesen, was durch die Digitalisierung ermöglicht und gefördert wird und viele Schnittmengen mit der Unternehmenskultur und damit verbundenen Organisationsentwicklung aufweist [22]. Im Rahmen dessen wird auch die Disziplin des Changemanagements immer bedeutsamer. Mithilfe von beispielsweise so genannten Cultural Transformation Tools können eben diese Thematiken, welche im Unternehmen einen Wandel hervorrufen, adäquat und gewinnbringend umgesetzt werden [23]. Die Frage ist also nicht, ob Unternehmen die Digitalisierung und all ihre Herausforderungen für die Unternehmenskultur annehmen, sondern in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt. Eine rechtzeitige, adäquate Ausrichtung des erfolgsentscheidenden Elements der Unternehmenskultur an die Anforderungen der Digitalisierung unterstützt die Unternehmen dabei, ihre Marktposition zu sichern, Wettbewerbsvorteile zu generieren und schlichtweg weiterhin zukunftsfähig zu bleiben. Es ist also im Interesse aller Unternehmen, sich beider Disziplinen anzunehmen und vorherrschende Spannungsfelder gewinnbringend abzubauen.

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Was jedes Unternehmen von digitalen Playern abschauen sollte: Gestaltung von Kundenmehrwert am Beispiel der agilen Viessmann Design-Einheit

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Moritz Rose

Harald R. Fortmann: Herr Rose, Sie führen die agile Design-Einheit von Viessmann, aber was gibt es bei einem Heizkessel schon zu designen? Moritz Rose: Egal ob auf Familienfeiern oder im Gespräch mit anderen Abteilungen – Design muss sich immer ein Stück weit rechtfertigen. „Es geht darum, wie es funktioniert.“ versuche ich ohne für Smalltalk übertriebene Fachtiefe stets zu erklären. „Aber Funktion macht doch der Ingenieur.“ bekomme ich meist erwidert. Und genau dann regt sich mein Kampfgeist, der jeden einzelnen Hüter von Allgemeinwissen auffordern möchte, sich die fast grenzenlose Dimension von Funktion und funktionieren vor Augen zu führen. Keine Angst: Das ist hier nicht der Ort hierfür. Es ist allerdings notwendig, dass wir eine einigermaßen angenäherte Definition von Design teilen. Ziel von Design ist es, dem Nutzer den besten Weg zur (Über-) Erfüllung seines (wissentlich oder unwissentlich vorhandenen) Bedürfnisses zu bereiten. Ergebnis dieses Designs – am Viessmann-Beispiel – sind Lösungen wie das welterste, höhenverstellbare Display für Wandgeräte oder eine ergonomieund wartungs-optimierte Aufteilung der Innenkomponenten, die den Service-Fall maßgeblich beschleunigt und einige Werkzeugschritte für den Installateur obsolet macht. Design gestaltet also im Wesentlichen Interaktion und schafft dabei quantifizierbaren Kundenmehrwert: Installationszeit in Stunden, Ergonomie-Bewertung der Nutzer in X/5 und mehr. Genau dieser Kundenmehrwert wird zur Unique Selling Proposition (USP) für den Vertrieb, zum Differenziator innerhalb der Branche und somit zum Grundstein nachhaltigen Wachstums und Unternehmensbestehens. Kurz – Design ist einer der entschei-

M. Rose (*) PwC IXDS GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_13

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M. Dembski und F. Hausner

dendsten Faktoren für ein erfolgreiches Produkt- und Dienstleistungsangebot. Jeder ­Unternehmer, der diese Ansicht teilt, fragt sich, wie er diese substanzielle Entwicklungsarbeit in seine Prozesse integrieren kann. Agentur oder Abteilung? Harald R. Fortmann: Und wofür haben Sie sich entschieden, Agentur oder inhouse? Und vor allem warum? Moritz Rose: Das 102-jährige, nordhessisch-internationale 12.000 Mitarbeiter Familienunternehmen Viessmann hat eine interne Evolution der Rolle von Design, über den Aufbau einer gruppenweit verantwortlichen Designabteilung in Berlin und über die zu überwindenden Hürden bei der Integration aller neuen Prozesse und Anforderungen ins Kerngeschäft hinter sich. Als studierter Diplomindustriedesigner und Gründer eines Ergonomiemöbelunternehmens kam ich aus der Kaderschmiede des deutschen Industriedesigns Phoenix Design in Stuttgart 2014 zu Viessmann. Ausgeschrieben war der Coporate Design Manager – eine Stelle im Marketing. Mit dem Unternehmen hatten mein Freundeskreis und ich privat quasi null Kontaktpunkte, B2B und „Heizkessel“ begeisterten im Vergleich zu B2C und Consumer Electronics tendenziell begrenzt und den Bereich Design überhaupt im Marketing zu verorten stimmte mich skeptisch. Was mich hingegen sehr neugierig machte, war, wie Viessmann in den 60er/70er-Jahren in Zusammenarbeit mit Anton Stankowski international zu einem der strahlenden Beispielunternehmen mit konsequentem Corporate ­Design wurde und was davon heute noch eine Rolle spielte. Spätestens nach dem ersten Gespräch am Headquarter in Allendorf war klar: hier durchströmt ein inspirierender und  wertstiftender Unternehmergeist das gesamte Unternehmen und ich könnte eine Menge lernen. Harald R. Fortmann: Und was genau ist Ihre Aufgabe heute? Moritz Rose: Mein Arbeitsalltag vor Viessmann war von rein gestalterischer Arbeit geprägt. Herausforderungen gemeinsam diskutieren und verstehen, Kunden zuhören, Ideen skizzieren, Prototypen bauen und mit den Kunden gemeinsam ausprobieren. Repeat. In meinem neuen Job als „Leiter Markengestaltung“ ab 2014 wurde schnell klar, dass Agenturen hier die Gestaltungsarbeit übernehmen würden und meine Aufgabe als Designverantwortlicher im Wesentlichen „Management“ wäre; also die Begleitung der externen Partner um schließlich ihre Ergebnisse zur Implementierung frei zu geben. Es gab drei Produktdesignagenturen, diverse Dienstleister zur Produktentwicklung, Partner für Smart Home Bausteine, Messe- und Ausstellungen, Homepage, Konfiguratoren, Web-Shops, Sponsoring, Drucksachen, Erklärfilme, Schulungsunterlagen, Corporate Architecture, HMI, Apps und das in Teilen noch verstreut über mehrere Dutzend Vertriebsländer und Produktionsstandorte. Jedes Einzelergebnis war nun plötzlich gestalterisch in meiner Verantwortung. Harald R. Fortmann:

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Corporate Design kann von einem Unternehmen respektive einer Person vorgegeben werden – aber gelebt wird es von den Unternehmensmitarbeitern. Wie integriert man das Verständnis hierfür? Moritz Rose: Corporate Design zielt als Disziplin traditionell auf Wiedererkennbarkeit beziehungsweise einen Geist, eine Haltung, die sich durch die vielen Markenkontaktpunkte zieht. Wie sollte ich als Einzelperson garantieren können, dass all die Einzelprojekte mit Urhebern unterschiedlichster Hintergründe und Absichten alle auf dieselbe Zielsetzung einzahlen? Um diese beabsichtigte Kohärenz des Unternehmensauftritts zu stützen, investiert jede größere Vereinigung früher oder später in die Erstellung von Richtlinien wie Verwendung von Wort-/Bildmarke, Primär- und Sekundärfarben, Schriften, Bildspracheregeln und gegebenenfalls Maßgaben zur formalen Ausgestaltung von Produkten und Architektur. Diese „Zutatenliste“ liefert aber nur im einzelnen wirkliche „Rezepte“, die gestalterische Arbeit rationalisieren, da genau vorgegeben ist, was wie aufgebaut ist. Beispiele wären Firmenvisitenkarten, Gebäudekennzeichnung, Broschüren-Cover etc.: Hier setzt man lediglich wechselnde Namen oder Inhalte in fixe Templates ein. Für jedes der vielen großen und kleinen, laufenden Projekte hingegen – sowie insbesondere für gänzlich neue, oft digitale Touchpoints – KÖNNEN diese Brandguides keine Vorgabe machen, da es entweder das erste Mal ist, dass das Unternehmen diese bespielt oder die Anwendungen von Fall zu Fall zu spezifisch sein müssen. Hinzu kommt, dass Unternehmen Interesse haben sollten, sich eine gewisse Entwicklungsfreiheit in ihrer Darstellung zu erhalten, die Wandel und Neuerfinden erlaubt und von zu strengen Vorgaben in die Stagnation gezwungen zu werden droht. Somit wird die Frage ans Design herangetragen: Wie sehr müssen sich die Aussagen überhaupt ähneln und was ist die tiefer liegende Absicht der Gesamtkommunikation auch übers Visuelle hinaus? So suchte ich, der 2014 in internen Terminen noch hier und da als „Farbsachverständiger“ vorgestellt wurde, das Gespräch mit der Unternehmenskommunikation und unseren Strategieabteilungen über den Kern der Marke. Mit unserem Entwicklungsleiter über die Zielsetzung unseres Dienstleistungsangebots für den Kunden. Sowie zunehmend in institutionalisierten „Designgesprächen“ mit unserem Vorstand und den Gesellschaftern selbst über das, was Viessmann zu Viessmann macht. Diese über cross-funktionale Teamarbeit schrittweise herausgearbeitete Zielsetzung von Qualität und Wert wird zu einer kollektiven Erwartungshaltung und muss operativ zum Leben erweckt werden. Hier hilft weder ein akribisch gepflegter Brandguide noch sorgfältig gebriefte Agenturen. Diese Herausforderung müssen Unternehmen intern meistern und die operative Auseinandersetzung mit Design zum inkrementellen Bestandteil ihrer Kultur machen. Harald R. Fortmann: Wir hat sich Corporate Design durch die Digitalisierung und der damit entstehenden neuen Produkte verändert? Wie bekommen Sie überhaupt Aufmerksamkeit von Design-Talenten? Moritz Rose: Von außen gegebenenfalls überraschend ist Viessmann eines der Industriemusterbeispiele für das Bewusstsein um den Wert guter Gestaltung und blickt auf eine Historie der Zusammenarbeit mit den Größen der Zeit zurück: Anton Stankowski, Hans

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Gugelot, Karl Duschek, Andreas Haug und viele weitere haben die Marke über die Jahrzehnte begleitet. All diese Gestalter sind als Vertreter ihrer großen Teams zu sehen. Diese wiederum bestehen aus weiteren Gestaltern, Entwicklern, Prozesspartnern und Experten, deren Leistungen sich ein Unternehmen in der Zusammenarbeit mit einkauft. Im Tagesgeschäft zeigt sich der bei Zusammenarbeit mit dezentralen Partnern entstehende Aufwand. Zeitfresser ist die Terminfindung, die zu größeren Abstimmungsintervallen zwingt. Geldfresser sind Reisekosten und – verglichen mit festangestellten Experten – weit höhere, laufende Kosten für Tagessätze und Aufschläge. Viel wichtiger allerdings, geht alles Wissen in der an Nutzerproblemen orientierten Arbeit für das Unternehmen durch externe Vergabe verloren. Die Entwicklung digitaler Tools erfordert eng vernetzte, agile Arbeitsweisen (…) um die sekündlich verfügbaren Feedback-Informationen fürsorglich in die Teamarbeit integrieren zu können. Gemeinsam mit Prof. Dr. Martin Viessmann und seinem Sohn Max Viessmann wurde daher ab 2015 die Möglichkeit untersucht durch einen Standort in Berlin Zugang zum internationalen Talente-Pool zu erschließen und bis dato externe Expertenleistungen ins kulturelle und fachliche Kollektiv der Viessmann Unternehmensfamilie aufzunehmen. Das Ziel war – neben Nähe zu potenziell relevanten Startups und interessanten Investmentchancen  – in erster Linie die Sicherung des Kerngeschäfts durch ein auch zukünftig exzellentes, digital erweitertes Dienstleistungsangebot. Ich selbst hatte über ein halbes Jahr Bewerber gesprochen, die sich auch am Headquarter in Allendorf vorstellen konnten, eine Anstellung als UI/UX-Designer anzutreten. Die immensen, fachlichen Unterschiede zu Bewerbern, die man in Berlin ansprechen konnte, waren wenig überraschend. Es gab und gibt in Berlin diverse Mobility-Labs und eCommerce-­Jobangebote. Industrie, Energiewende und Berlin hingegen ist ein Themenpaket, das bis heute weitgehend unbesetzt ist. Für die Zielgruppe Designer wirkt das hoch aktivierend, da die Arbeit realen Einfluss auf die Erreichung der Klimaziele des Planeten nimmt. Wir gestalten das Produktangebot des privaten und gewerblichen Wärmesektors, das in vielen Teilen für über 40 % der CO2-Emissionen zuständig ist. Was für ein Hebel! Als neuer Player in der Berliner Designszene präsentierten wir uns auf dem DMY-­ Designfestival 2016 im Berliner „Kraftwerk“ – einem durch die Energiewende außer Betrieb genommenen (!) und zur Location umfunktionierten Heizkraftwerk in Mitte. Zuvor hatten wir einen Studenten-Award ins Leben gerufen und unsere DMY-Standfläche den zehn Gewinnern zur Präsentation ihrer Digitalstudien überlassen. Auf unserer Fläche stand nicht ein Viessmann Produkt. Es gab auch keine Unternehmensdarstellung. Stattdessen Arbeitstische, Materialien zum Prototypisieren und tägliche Designarbeit. Gemeinsam mit dem ersten Berliner Designteam-Mitglied und UX-Designer Erik Berndt, unserem frisch eingestellten Head of Design Thinking Mito Mihelic, täglich wechselnden Design-­Professoren und Agenturfreunden arbeiteten wir mit den Studierenden und Besuchern an realen Herausforderungen. So entstanden für Viessmann innerhalb dieser Kickoff-Woche ganz nebenbei hoch interessante Ergebnisse zu Problemen der Klimawende, die wir direkt mit den vielen Menschen vor Ort testen konnten. Anschließend erreichte uns eine Flut von Bewerbungen, die den Aufbau des Teams massiv beschleunigte. Harald R. Fortmann:

13  Was jedes Unternehmen von digitalen Playern abschauen sollte: Gestaltung …

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Hat sich die Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens geändert? Moritz Rose: Fast forward: 2017. Das hundertjährige Jubiläumsjahr des Familienunternehmens. Unsere Berliner Designabteilung besteht aus drei Sub-Teams, die für ALLE Ergebnisse rund um Brand Design, UI/UX-Design und Industriedesign verantwortlich sind. Von externen Agenturpartnern sind wir quasi unabhängig. Marketing, F&E, IT und unser Entwicklerteam sind unsere wesentlichen Austauschpartner, die wir abwechselnd in Berlin, Allendorf oder Breslau treffen. Aber wann frage ich eigentlich den Designer? „Kannst du mal kurz …“ entpuppte sich zunehmend als Symptom der Krankheit, dass Design zum Schön machen am Schluss verdammt ist. Um sich jedoch sicher sein zu können, dass man entwicklungsseitig den für den Nutzer effizientesten Weg eingeschlagen hat, müssten Design und User Research schon in der Konzeptphase involviert werden. Ein Beispiel: „Hi Designteam, wir entwickeln aktuell eine neue App zur Abfrage von Betriebsdaten für eines unserer Lüftungssysteme. Könnt ihr das Design übernehmen? Wie lange braucht ihr für so was?“ Unser Bauchgefühl sagte uns, dass ein Newsfeed per eMail oder ein so genanntes Conversational für die schnöde Abfrage von Betriebsdaten viel komfortabler wäre. Der Nutzer könnte dann beispielsweise per WhatsApp mit seinem Lüftungssystem chatten. Dafür braucht man keine extra App. Man bräuchte allerdings etwas Zeit, um diese Hypothese zu stützen. Nun hat der anfragende Mitarbeiter eine gewisse Bringschuld überbracht, die subtil verdeutlicht: „Ihr müsst mir nur sagen, wie es aussieht. Ob App oder nicht, steht nicht zur Diskussion.“ Oft möchten Kollegen in solchen Fällen auch nur Zugriff auf eine Farb- und Icon-Bibliothek – Brandguide – um die App selbst „richtig“ zu „designen“. Uns geht es aber nicht um das konsistente Aussehen, sondern um den Kundenwert. Dieser ließe sich durch eine Kursänderung höchstwahrscheinlich besser und schneller erreichen. All die Vorarbeit der Abteilung ginge dann aber kurz vor der empfundenen Zielgerade verloren. Wir sahen uns in Zugzwang einen Weg zu finden, Themen rechtzeitig auf dem Radar zu haben, anstatt permanent Entwicklungsverzögerungen zu verursachen – Kundenmehrwert hin oder her. Jetzt – 2019 – arbeiten die Designer daher konkret verteilt auf die jeweiligen Fachbereiche. Brand Design fürs Marketing, Industrial Design mit F&E, UI/UX-Design mit der IT und den Entwicklern. Diese enge Vernetzung bringt Beschleunigung der Prozesse und einen Boost der Qualität im Endergebnis. Sitzen tut das Team weiterhin gemeinsam in Berlin und trifft die Kollegen entweder in täglichen Standups via Google Hangout, vor Ort oder am Headquarter. Harald R. Fortmann: Was sind ihre Erkenntnisse aus der bisherigen Tätigkeit bei Viessmann?? Moritz Rose: Für sicheren Stand in sich rasant wandelnder Umgebung, braucht ein Unternehmen ein omnipräsentes Markenerlebnis, das elegant den etablierten Gebrauchsgewohnheiten und Erwartungen folgt. Fühlt der Nutzer auch nur einen Hauch von fehlender Souveränität, wendet er sich vom einen Anbieter ab und springt zum komfortableren Weg, der in den meisten Fällen an der Wertschöpfungskette von Anbieter 1 vorbeigeht.

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Nun gibt es keine allseits gültige Antwort auf die Frage ob zentral oder dezentral, mit Agenturen oder Inhouse-Abteilung. Fest steht aber, dass Unternehmen nur bestehen, wenn es ihnen gelingt der permanent steigenden Erwartungshaltung ihrer Nutzer an einen reibungslosen Ablauf zu entsprechen. Genau dafür müssen Designer inkrementeller Bestandteil aller Prozessschritte der Produkt- und Service-Entwicklung sein.

Der Arbeitsraum – Mittelpunkt des Erfolges für die Digitalisierung im Mittelstand

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Interview mit Dr. Thomas Dienes, Produktentwickler beim modularen Möbelhersteller USM Thomas Dienes

Harald R. Fortmann: Wie sah Ihre berufliche Laufbahn vor Ihrer Zeit bei USM aus und welche Erfahrungen haben Sie hierbei schon mit neuen Arbeitsmethoden gemacht? Dr. Thomas Dienes: Ich habe Architektur an der Uni Karlsruhe mit dem Schwerpunkt Städtebau studiert und meine Diplomarbeit bei Fritz Haller gemacht. Das ist ein ganz wichtiger Baustein meiner Karriere, da ich heute, also etliche Jahre nach meiner Diplomarbeitszeit, bei der Firma arbeite, die durch Fritz Haller mitgeprägt worden ist. Dazwischen lagen viele Zwischenschritte. Angefangen habe ich meine Architektenkarriere als Industriebauarchitekt vor allen Dingen mit sehr funktionellen Bauprojekten, vorwiegend im Stuttgarter Raum für Unternehmen wie Robert Bosch, Daimler Benz und so weiter. Anschließend ging ich zurück an die Uni Karlsruhe, an den Lehrstuhl von Professor Ottokar Uhl für Partizipation in der Stadt-Bau-Planung. Hier ging es um den Einbezug der Nutzer in Planungsprozesse. An diesem Lehrstuhl war ich einer von nur zwei Architekten. Alle anderen Assistenten waren Sozialwissenschaftler und Psychologen. Das war eine ganz spannende Zeit für mich, in der ich Spielprozesse und -methoden entwickelt habe, mit denen man Nutzer in Planungsprozesse integrieren kann. Dazu gehörten ganz einfache Dinge, mit Themenstellungen wie zum Beispiel: wenn ein Planer mit Nutzer über seinen Plan sprechen möchte, aber überhaupt nicht merkt, dass der Nutzer nicht versteht, worum es geht, wie soll er dann mit dem Nutzer sinnstiftend darüber sprechen?

T. Dienes (*) USM AG, Münsingen, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_14

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Mein nächster Schritt war die Gründung eines eigenen Büros gemeinsam mit einer Psychologin. Hier waren wir in Projekten im Bau- und Städtebaubereich als Schnittstelle zwischen Usern und Planern tätig. Unser größtes Projekt, welches über etwa 10 Jahre ging, war die Stadtteil-Rahmenplanung Heidelberg, wo es darum ging, Bürger in Planungsprozesse zu integrieren. Mein nächster Schritt war dann wieder ein ganz anderer. Im Fraunhofer Office Innovation Center wurde ich damit beauftragt, das Thema New Work zu erforschen und auszuprobieren. Beim Fraunhofer IAO gab es zu der Zeit zwei große Projekte: Eines war Office 21, welches es heute noch gibt. Das andere war das Office Innovation Center, ein Verbund-­ Forschungsprojekt mit Unternehmen und weiteren Fraunhofer Instituten aus unterschiedlichen Forschungsbereichen. Das Office Innovation Center war ein konkretes, größeres Ambiente, in dem man neue Methoden auch ausprobiert hat. So konnten wir testen, wie zukünftiges Arbeiten aussehen könnte – beispielsweise durch mobiles oder non-territoriales Arbeiten. Und das mit einer Technologie vor dem Jahr 2000, die natürlich noch nicht so weit entwickelt war, wie heute. Ich habe so eine kleine Erinnerung: Ich war total stolz auf einen kleinen Palm Handheld, den ich damals hatte. Mit diesem konnte man E-Mails mobil abrufen indem man ihn per Infrarotverbindung mit dem Telefon koppelte. Dazu musste man den Palm auf einen Tisch in die Richtung des Telefons legen und das Telefon dabei auch richtig herum ausrichten. Das hat natürlich zu der Zeit generell in Unternehmen nicht funktioniert, aber das waren die ersten spannenden Anfangssituationen, in denen man so etwas ausprobiert hat. Im Jahr 2000 bin ich dann von USM abgeworben worden. Hier habe ich seitdem mehrere Positionen und Rollen innegehabt. Eingestellt wurde ich, weil ich mich bereits mit New Work beschäftigt hatte. USM hatte zu dieser Zeit ein Produkt speziell für die New Economy entwickelt. Es hieß „eleven22“. Hier war ich Berater für Firmen, die ich bei Change Management Prozessen begleitet habe. Später habe ich dann Organisationsentwicklung gemacht, internationale Marktentwicklung innerhalb von USM geleitet und habe dann, seit nun etwa acht Jahren, die Gesamtproduktverantwortung innerhalb von USM übernommen. Meine Arbeit zum Thema New Work hatte dabei mehrere Facetten. Zum einen hatte es etwas mit Architektur oder Modularität innerhalb der Architektur zu tun und zum anderen mit dem Umgang mit Menschen. Beides hat mich schon seit jeher beschäftigt. Die Herausforderung war es dann, diese beiden Bausteine in der Art und Weise, wie wir zukünftiges Arbeiten sehen, zu verbinden. New Work alleine ist vielleicht manchmal zu eng gefasst. Man denkt dann vielleicht nur an eine andere Art des Arbeitens. Daran, dass man keinen festen Arbeitsplatz mehr hat oder nur an die Digitalisierung desselben. Aber das allein ist es dann vielleicht doch nicht. Persönlich reflektiere ich die Stationen, die ich selbst durchlebt habe, in diesen Begriff hinein. Harald R: Fortmann:

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Was sind die größten Änderungen innerhalb des Unternehmens USM in den Produktbereichen aber auch in der Arbeitswelt? Dr. Thomas Dienes: Es gibt zwei Dinge, die sich stark bei USM verändert haben. Das eine ist unser Außenauftritt. In den 90er-Jahren sind wir in der Werbung meistens in Schwarzweiß oder in Grautönen aufgetreten und haben ein typisches Möbelstück gezeigt, wie beispielsweise ein Sideboard. Doch eigentlich haben wir ein modulares System, ähnlich wie Lego, mit dem man unendliche Welten bauen kann. Beworben haben wir jedoch eigentlich nur sehr klassische Möbel. Ich glaube in der Geschichte von USM war es wichtig, für eine bestimmte Zeit genauso vorzugehen, um einen bestimmten Bekanntheitsgrad zu erzeugen. Aber die Möglichkeiten, die hinter diesem System stecken, stellen wir erst seit ca. sieben Jahren in der Außenkommunikation dar. Der Hintergrund hierfür ist, dass wir durch unsere Modularität gut für die Zukunft gerüstet sind und uns an noch unbekannte Bedingungen stets adaptieren können. Hierfür müssen wir uns stets neue Anwendungsszenarien überlegen. Bei Präsentationen benutze ich oft ein Foto, das USM in den späten 60er-Jahren bzw. frühen 70er-Jahren zeigt. USM hat hier Fabrikationshallen am Standort und einen kleinen Pavillon, der als Verwaltung benutzt wurde. Dieser Pavillon wurde seinerzeit mit einem farbigen Open Space und lockerer Möblierung für etwa 25 Personen eingesetzt. Wenn ich dieses Bild Architekten zeige und sie frage, von wann dieses Foto ist, ist ihre erste Einschätzung immer, dass es sich um ein sehr modernes Foto handeln muss. Erst nach genauerem Hinsehen erkennen sie anhand der alten Telefone und fehlenden Computer, dass es aus den frühen 70er-Jahren kommt. Der ursprüngliche Zweck eines jeden Möbelbausystems war das Verstauen von Papier. Heute redet jeder über Digitalisierung und eben nicht mehr über Verstauen von Papier. Ich denke auf der einen Seite sind wir modular perfekt gerüstet für die Zukunft; auf der anderen Seite müssen wir uns aber natürlich immer wieder neu erfinden und uns dem gegenüber öffnen, was sonst noch alles mit diesem Baukastensystem möglich sein könnte. Wir müssen uns weiterhin auch in der Produktentwicklung fragen, was wir an zusätzlichen kleinen Ergänzungen erfinden oder integrieren können, um völlig neue Anwendungsszenarien zu ermöglichen. Das ist das, was mich treibt. Denn wenn wir nur bei der Anwendung Verstauen von Papier bleiben würden, dann hätten wir mit Sicherheit in Zukunft keine Aussicht auf Erfolg mehr. Das Möbelbausystem kann dann noch so modular sein, wie es will, es hat schlicht keinen Zweck mehr. Natürlich ist das immer ein Spagat zwischen einem klassischen Möbelstück einerseits und andererseits dem Versuch, etwas zu integrieren, um völlig neue Anwendungsszenarien zu entwickeln. Aber diesen Weg müssen wir gehen, denke ich. Harald R. Fortmann:

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Welche Rolle spielt für Sie der Arbeitsplatz im Zeitalter der digitalen Transformation in Bezug auf Strategie? Dr. Thomas Dienes: Ich liebe klare Grenzen. Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Diese Trennung schaffe ich aber nicht. Denn natürlich nimmt man Gedanken aus dem Arbeitsalltag mit nach Hause und wacht nachts auf und hat irgendwas im Kopf. Ich habe mich lange Zeit geweigert, zu Hause zu arbeiten. Mittlerweile öffne ich ab und zu auch zu Hause mein Notebook. Selbst im Urlaub nimmt man an Videokonferenzen teil und ich muss sagen, dass ich es hasse. Denn je mehr man in dieser digitalen Zeit bei zunehmender Geschwindigkeit der stetigen Kommunikation ausgesetzt ist, desto stärker wird der Druck. Und deshalb brauche ich natürlich auch meine Auszeiten. Ich möchte einen Ort haben, der frei von Arbeit ist, um einfach wieder runter zu kommen. Das ist vielleicht auch eine Botschaft an die jüngeren in der Gesellschaft: Ich glaube wir müssen die Balance in unserem Leben schaffen, denn in dieser digitalen Welt, in der die Geschwindigkeit einfach zunimmt, brauchen wir klar definierte Auszeiten. Vor kurzem habe ich bei einer USM Veranstaltung, dem USM WorkHouse, bei Berlin über zwei Wochen Workshop-Gruppen begleitet. Der Veranstaltungsort war sehr naturnah. Es gab einen rauschenden Bach und Vogelgezwitscher. Die jungen Teilnehmer aus Städten wie London, Kopenhagen oder Berlin waren sehr begeistert davon, dass sie Natur erleben konnten. Vögel zwitschern hören, in der Natur Tischtennis spielen und Spaß haben – das hat die Veranstaltung zusätzlich ausgezeichnet. Ich denke das sind einfach wichtige Punkte gerade in der Zeit, in der wir zunehmend mehr arbeiten. In dieser extrem durch Druck, durch Geschwindigkeit und durch Wechsel geprägten Welt, brauchen wir diese Ruhephasen, diese Erholungsphasen, diese Natur orientierten Phasen, um uns wieder zu finden. Das hat etwas mit Gefühlen zu tun, mit Kommunikation und mit sich treiben lassen. Harald R. Fortmann: USM Möbel werden heute nicht nur in Büroräumen, sondern auch in immer mehr Haushalten eingesetzt. Wie ist USM mit diesem Wandel in der Nachfrage umgegangen? Dr. Thomas Dienes: Der Markt hat sich dahingehend selbstständig entwickelt und wir haben diese Entwicklung dann erkannt und dann dahingehend sogar noch unterstützt. Eine völlig normale Entwicklung. Am Anfang wurde das Möbelbausystem für das Büro konzipiert. Die Entwicklung zur Nutzung auch im privaten Bereich lässt sich mit dem Umgang von Kindern mit Legosteinen vergleichen. Wenn man Kindern Legosteine gibt, um eine Burg zu bauen, bauen die Kinder meist doch irgendetwas anderes. Und so ist es mit dem USM Möbelbausystem auch. Durch die Flexibilität und Modularität entdecken Nutzer das Möbel irgendwann für völlig andere Bereiche. Nicht nur für den Home Bereich, sondern auch für Public Bereiche und Bibliotheken. Harald R. Fortmann:

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Hat sich durch diesen Trend in Ihrer Arbeitsweise bei der Produkterschaffung oder Kommunikation auch etwas verändert? Dr. Thomas Dienes: Den Begriff Trend mag ich nicht so sehr, denn Trend ist immer etwas Kurzfristiges. Und kurzfristig ist für ein modulares System eher tödlich oder hinderlich. Wenn ich zum Beispiel eine Trendfarbe integriere und sie nachher wieder aus dem Sortiment nehme, hätte ich ein Problem, wenn ein Nutzer, der ein Möbelstück in dieser Farbe kauft und 15 Jahre später etwas ergänzen möchte. Das passt nicht zur modularen Philosophie von USM. Und trotzdem merke ich – und das ist auch ganz spannend – dass der Wunsch der Menschen nach Individualisierung und schnellem Wechsel wächst. Die derzeitige große Frage ist wie wir beispielsweise in der Produktentwicklung, diesen Spagat zwischen dem zeitlosen, konstanten Grundprodukt des Mittelbausystems einerseits und dem Zulassen von Initialisierung andererseits, realisieren. Wenn sie heute mal nach Bern kommen und in den Showroom von USM und unserem Partner Teo Jakob gehen, dann sehen sie unser prototypisches Beispiel, bei dem wir versucht haben, das Möbelbausystem bezüglich Struktur, Oberflächen und Farben konstant im Standard Sortiment zu behalten. Aber zugleich arbeiten wir mit Oberflächen aus unterschiedlichen Holzarten und Ledersorten, die man bestellen und werkzeuglos in das System einklicken kann. So entsteht die Möglichkeit ein Möbel maximal zu individualisieren bei gleichzeitiger Reversibilität und ohne Einschränkung der Modularität des USM Möbels. Das wäre ein solcher Ansatz, um diese „Trends“ nicht zu negieren, ohne das Möbelbausystem zu verfälschen und dadurch langfristig zu zerstören. Harald R. Fortmann: Können Büroeinrichtung helfen, Zusammenarbeit effizienter zu machen? Und wenn ja, wie können sie das machen? Dr. Thomas Dienes: Büroräume können sicherlich auf die Art und Weise, wie sie in der Architektur oder durch die Einrichtung gestaltet werden, das Arbeiten unterstützen oder behindern. Aber ich glaube es sind einfach sehr vielfältige Faktoren, die zusammenkommen. Da darf man natürlich die Art und Weise der Möblierung auch nicht überschätzen. Dazu gehört auch die Verfügbarkeit der richtigen Technologien. In meiner Zeit bei Fraunhofer haben wir auch versucht, mobiles Arbeiten zu leben. Letztlich hat es damals aber nicht richtig funktioniert, da wir mangels Technologien zu früh waren. Heute hingegen sitze ich z. B. noch jetzt in einer kleinen Besprechungsnische, weil ich in meinem Team heute keinen Platz mehr gefunden habe und kann dafür in die Berge schauen. Durch den heutigen Technikstandard wie Mobiltelefon, Notebook und entsprechender WiFi Kommunikation ist das mobile Arbeiten heute ohne wesentliche Einschränkungen möglich. Nicht zu unterschätzen ist sicherlich auch die Organisationskultur. Durch diese kann man auch sehr viel erreichen oder sehr viel verhindern. Es ist wichtig zu verstehen, wie das Team funktioniert, ob es eher hierarchisch oder durch eigenverantwortliches Arbeiten geprägt ist. Diese

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­ aktoren sind gemeinsam maßgebend dafür, ob ein sinnvolles Arbeiten unterstützt oder F eher behindert wird. Die Architektur oder die Möblierung des Raumes sind sicherlich eine zusätzliche Facette, aber eben nur eine im Gesamtzusammenhang. Harald R. Fortmann: Wie sehen Sie die Entwicklung des Themas Work Space in Hinblick auf die Bürogröße? Was ist Ihre Quintessenz aus Ihrer Erfahrung heraus und was wäre die richtige Mischung? Wohin entwickelt sich diese Thematik? Dr. Thomas Dienes: Wenn man sich die Geschichte der Büroarchitektur anschaut, sieht man, dass der richtige Großraum – 200 bis 300 Personen auf einer Fläche – in den 60er-Jahren entstand. Dann kam das Kombibüro aus Skandinavien, sprich Einzelräume wurden mit einer öffentlichen Mittelzone kombiniert. Vor dem Großraum gab es das Einzel-, Zweier oder Dreier-­ Büro. Heute sind wir auf einem Stand, bei dem wir halbwegs überschaubare gegliederte Raumbereiche mit Gruppengrößen von 20 bis 40 Personen haben. In Hinblick auf die Zukunft bin ich mir sicher, dass das, was wir heute haben nicht das Ende der Entwicklung ist. Wir haben in der Fraunhofer Zeit das non-territoriale Büro und das papierlose Arbeiten sehr stark geprägt und haben prognostiziert, dass alle Mitarbeiter in allen Industrien irgendwann zukünftig nach diesen Modellen arbeiten würden. Der große Fehler, den wir gemacht haben, ist, dass wir vergessen haben, die Menschen mitzunehmen. Der zweite Fehler ist, dass man diese Modelle über alle Industrien, alle Arten der Tätigkeiten und über alle Mitarbeiter gleichermaßen gestülpt hat. Und das funktioniert eben auch nicht. Daher denke ich, man muss sich sehr spezifisch anschauen, welche Industrie, welche Kultur und welche Art der Tätigkeit des Mitarbeiters man vor sich hat. Man muss auch innerhalb eines Unternehmens Differenzierungen vornehmen, weil es auch innerhalb eines Unternehmens unterschiedliche Arten von Mitarbeitern, Generationen und Tätigkeiten gibt, wonach man sich sehr spezifisch ausrichten muss. Der one-fits-all Gedanke kann in Zukunft nicht mehr funktionieren, wenn er es je tat. Harald R. Fortmann: Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Rückzugsorte und Entspannung im Büro? Sehen Sie durch verlängerte Arbeitszeiten hierin einen steigenden Bedarf? Dr. Thomas Dienes: Ich glaube, dass Entspannung ein wichtiger Erfolgsbestandteil ist. Ob dann solche Entspannungsorte in Form von einer Schlafkabine im Büro die richtige Antwort sind, bezweifle ich. Denn das hat auch wieder etwas mit der Unternehmenskultur zu tun. Ich kenne Untersuchungen, in denen Unternehmen schon vor 15 bis 20 Jahren angefangen haben, so etwas einzurichten und dann festgestellt haben, dass diese Räume quasi nicht genutzt werden. Grund hierfür ist ein soziales Gefüge im Unternehmen, bei dem die Nutzung solcher Räume sehr kritisch gesehen wird. Und das behindert natürlich ganz massiv. Im städtischen Kontext hingegen, in denen die Grünflächen fehlen, könnte so etwas schon ein biss-

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chen wichtiger werden. Das hat natürlich etwas mit dem Umfeld zu tun, an dem der Arbeitsort ist. Hier, wo ich jetzt sitze, spielt es für mich keine Rolle. Wenn ich Entspannung brauche, mache ich die Tür auf und gehe nach draußen. Wir haben Natur rund um unseren Hauptsitz, ich setze mich bei gutem Wetter gerne auf eine Bank vor dem Büro. Ich würde nie in einen Raum gehen, einen Vorhang zu ziehen und dann einen Moment schlafen. Das ist irgendwie eine ganz eigenartige Vorstellung. Zudem frage ich mich auch, ob solche Orte in Unternehmen überhaupt notwendig sind oder ob das Problem im Zuge der Flexibilisierung und Mobilisierung der Arbeitswelt nicht automatisch schon gelöst ist? Das heißt ich arbeite in einer bestimmten Zeit und wenn ich müde bin, gehe ich beispielsweise in ein Café oder an auf eine Bank ins Grüne – dort, wo ich meine Gedanken schweifen lassen kann. Braucht es dann diesen Entspannungsort im Büro wirklich? Also ich stelle das ein bisschen in Frage; nicht die Entspannung, aber diese spezifischen Orte dafür. Die Flächen und Einrichtungen kosten ja letztendlich auch Geld. Harald R. Fortmann: Sehen Sie Coworking Spaces, bei denen sich sowohl Startups als auch mittelständische Unternehmen und Konzerne Arbeitsplätze mieten, auch als Arbeitsplatz der Zukunft mit langfristiger wirtschaftlicher Relevanz oder sehen Sie das als Zwischenschritt zu einer anderen Arbeitswelt? Dr. Thomas Dienes: Im Moment sehe ich schon den Hype, der rund um Coworking Spaces entstanden ist. Selbst im kleinen Bern gibt es in der Zwischenzeit fast 50 Coworking Spaces, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Unfassbar eigentlich. Das passt natürlich auch zu Einstellungen der Arbeitnehmer zur Arbeit, wie zum Beispiel, dass diese sich zunehmend als Freelancer dem Arbeitsmarkt anbieten. Dafür ist es natürlich förderlich, so einen Raum zu nutzen. Dass Großunternehmen solche Räume auch nutzen, ist ein faszinierender Gedanke und hat unterschiedliche Gründe. So kann man viel flexibler und schneller seinen Arbeitsplatz für Arbeitsgruppen eines großen Unternehmens verändern und muss dies nicht intern mit langen bürokratischen Wegen versuchen. Wenn ich mir die Geschichte der Arbeit im Ganzen anschaue, würde ich sagen, dass es sicherlich aber trotzdem nur eine Facette innerhalb der stetigen Veränderung ist. Ich frage mich bereits, warum man nicht die internen Strukturen des Unternehmens so verändert, dass eben auch grundsätzlich solche Arbeitsformen innerhalb eines Unternehmens möglich sind? Ist es nicht vielleicht sogar viel sinnvoller, dadurch kürzere Kommunikationswege zu erzeugen, als eine Arbeitsgruppe nach draußen zu schicken und dadurch sogar die internen Kommunikationswege noch zu verlängern oder Barrieren zu erhöhen? Wenn ich heute solche Nutzergruppen in Coworking Spaces anschaue, denke ich, dass es da viele Fragezeichen gibt. Einerseits ist es ein richtiger Weg, denn manchmal muss man auch Strukturen und Traditionen aufbrechen, aber ich glaube nicht, dass es die Endstufe dieser Entwicklung ist. Aber wie die nächste Stufe aussieht, wage ich auch nicht zu benennen. Harald R. Fortmann:

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Ist das Sofa für Sie der neue Mittelpunkt des Arbeitsraumes? Dr. Thomas Dienes: Wir hatten hier ein wunderschönes Ledersofa, welches ich schon gerne genutzt habe, aber ich würde jetzt nicht behaupten, dass es mein Mittelpunkt war. Es ist ein wichtiges Element, aber nicht unbedingt der Mittelpunkt. Bestimmte Orte oder bestimmte Gegenstände animieren natürlich eher zu bestimmten Tätigkeitsarten. Und ein Sofa ist sehr gut für Reflexionsphasen geeignet, in denen man ein bisschen vertiefter nachdenken und den Stress loslassen kann. Aber für Tätigkeiten in einer kleinen Arbeitsgruppe würde ich ein Sofa sofort wegstellen. Da wären kleine Hocker viel besser, weil ich dann viel agiler bin. Und für abarbeitende Tätigkeit eignet sich eher ein ganz anderer Ort. Also unterschiedliche Arten des Arbeitens werden eher durch unterschiedliche Ausstattungen oder unterschiedliche Räume unterstützt oder animiert. Harald R. Fortmann: Sehen Sie Agilität in der Umgestaltung von Arbeitsräumen auch als wichtiges Thema dieser Zeit an? Dr. Thomas Dienes: Ich denke schon. Ein wichtiger Aspekt ist der spielerische Umgang mit dem Raum, sodass ich diesen sehr schnell nach meinen Bedürfnissen gestalten oder verändern und anpassen kann. Und der zweite Aspekt ist die Einfachheit dessen, wie ich das machen kann. Wenn sie aber dann das Möbelbausystem sehen, dann merken sie, dass es Gewicht hat und man einen Monteur benötigt, um es umzumontieren. Und dadurch ergeben sich für unsere Produktentwicklung oder die Planung auch wieder neue Fragestellungen. So haben wir das Spielerische auf der einen Seite und zugleich die Fragestellung, wie wir unserem Konzept treu bleiben. Das USM Möbelbausystem ist für uns eher der Rahmen, den wir generieren. Die Architektur kann man auch nicht ständig verändern. Klar gibt es Überlegungen, auch Architektur mobil zu gestalten, wie zum Beispiel mittels Trennwandsystemen etc., aber es ist meistens den Nutzern dann doch zu aufwendig. Das heißt wir möchten mit den Möbelbausystemen einen Rahmen geben, der Offenheit zulässt indem sich Einbau-­Elemente spielerisch sehr schnell an individuelle Bedürfnisse anpassen lassen. Harald R. Fortmann: Wie wichtig ist für Sie das Thema Farbgebung? Dr. Thomas Dienes: Farbe ist immer mehr im Kommen, aber in Zusammenhang mit Planung für ein Office oder mit Produktentwicklung doch auch schwierig. Eines meiner ersten Projekte als Verantwortlicher für die Produkte bestand darin, das Sortiment der Tischoberflächen neu zu definieren. Dieses war im Laufe der Zeit über zehn, zwanzig Jahre gewachsen bis man sich irgendwann gefragt hat, ob das so noch Sinn macht. Wir haben uns daher zwei Externe, ein Designstudio und einen Architekten aus den USA, hinzu geholt und gemeinsam versucht, eine neue Palette von Oberflächen zu generieren. Seit diesem Projekt gehe ich das Thema Farben praktisch nie mehr an. Bei USM haben wir einen sehr demokratischen Entschei-

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dungsprozess, der vielleicht auch durch die Schweizer Kultur geprägt ist. Wir beziehen die Mitarbeiter aus den unterschiedlichen Märkten, gerade die Sales Mitarbeiter, in den Entscheidungsprozess ein. Das Thema Farben ist extrem subjektiv und sehr stark durch Trends geprägt. Wenn sie dann versuchen, einen konzeptionellen Gedanken, wie Oberflächenfarben, in ein Produktesortiment zu integrieren, wird es sehr schwierig. Das gleiche stelle ich mir in einem Raumambiente für Mitarbeiter vor. Wenn ich die Mitarbeiter fragen würde, welche Farbe sie bevorzugen, würde ich nie ein einheitliches Ergebnis erhalten. Letztlich ist das Unternehmen ja so aufgebaut, wie ich mir ein Bienenvolk vorstelle: Jeder hat eine Rolle im Gesamtorganismus. Und der Gesamtorganismus ist eben auch ein wichtiger Part. Es gibt immer noch eine Corporate Identity und dadurch eine Wiedererkennbarkeit nach außen. Das sind auch Aspekte, die bei Themen wie Farbgebung nicht vergessen werden dürfen. Es gibt Studien zu bestimmten Farben, die eher aggressiver sind und eher Unruhe erzeugen als andere. Auch das sollte man nicht ganz negieren. Aber trotzdem, Farbe im Zusammenhang mit einem demokratischen Prozess zu integrieren, halte ich für sehr schwierig. Harald R: Fortmann: Sehen Sie durch die sogenannte Clean Desk Policy eine Möglichkeit, den Tag besser gedanklich abzuschließen, indem man seinen Arbeitsbereich aufgibt und am nächsten Morgen neu anfängt? Dr. Thomas Dienes: Ich glaube das sieht jeder für sich ein bisschen anders. Aber man sollte nicht den Fehler machen und über eine Gesamtorganisation stülpen. Denn die einen räumen am Abend gerne auf, um am nächsten Morgen wieder frisch anzufangen, während die anderen am Abend etwas liegen lassen möchten, um bewusst am nächsten Morgen exakt an der Stelle wieder weiterzumachen. Und dann möchte ich diesen Freiheitsgrad auch zulassen. Bei uns ist die Clean Desk Policy immer eine ziemlich große Diskussion. Aber das hat eher zu tun, dass unser Büro auch gleichzeitig unser Showroom ist. Und es ist eher ein Spagat zwischen Showroom einerseits, was eher einen gewissen Aufräumgrad – nicht aber zwingend und überall Clean Desk Policy – voraussetzt. Und da ist eben auch manchmal an bestimmten Arbeitsorten ein bisschen Chaos oder ein bisschen zu viel auf den Tischen. Bei mir im Team wird viel mit reellen, physischen Materialien gearbeitet und wir dürfen ruhig zeigen, dass es ein Arbeitsort ist. Ich glaube jeder sollte innerhalb eines bestimmten Rahmens auch die Möglichkeit haben, entweder am Abend aufzuräumen oder aber auch seine Sachen liegen zu lassen. Wir haben uns jetzt innerhalb unseres Teams darauf geeinigt, dass fünf Arbeitsplätze über eine Clean Desk Policy verfügen, um zu ermöglichen, dass man sich am nächsten Morgen einen Ort aussuchen kann, der noch frei ist. So wird vermieden, dass Mitarbeiter die Sachen des anderen Mitarbeiters am nächsten Morgen aufräumen müssen und letzterer dann nach seiner Rückkehr nichts mehr wiederfindet. Es gehört ein bestimmtes Regelwerk mit Rahmenbedingungen dazu, aber diese sollte man innerhalb einer Abteilung individuell definieren dürfen. Unsere Philosophie ist es, einen Rahmen zu definieren, aber innerhalb dieses Rahmens auch Spielmöglichkeiten zu lassen. Und diese

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Philosophie spiegelt sich darin wider, wie wir unsere Organisation gestalten, wie das Möbelbausystem konstruiert ist und auch überall sonst in unserer Organisation.

[Zusammenfassung] In einer von Wandel geprägten Welt ist es wichtig, als Unternehmen wandlungsfähig zu sein. Änderungen im Markt, wie zum Beispiel sich ändernde Kundenbedürfnisse bieten Chancen, die es zu ergreifen gilt. Dabei ist eine offene Einstellung des Unternehmens nötig, die es ermöglicht, bestehende Produkte anzupassen. Der richtige Grad zwischen Kontinuität und Flexibilität ist hierbei eine lohnende Herausforderung. Doch nicht nur Produkte müssen anpassungsfähig sein, sondern auch Arbeitsplätze benötigen Vielseitigkeit und Flexibilität, um den sich ändernden Arbeitsanforderungen gerecht zu werden. Die Gestaltung von Büroräumen, deren Möblierung, die Verfügbarkeit von Technologien sowie die Organisationsstruktur und -kultur in Kombination sind wichtige Bausteine für die Gestaltung der zukünftigen Zusammenarbeit. Doch nicht nur für die interne Zusammenarbeit, sondern auch für den Außenauftritt spielen Raumgestaltung und Möblierung eine wichtige Rolle, da sie für Kunden und potenziellen neuen Mitarbeiter einen ersten Unternehmenseindruck vermitteln. Bei der Wahl des passenden Arbeitsmodells ist es wichtig, diese Entscheidung für jede Abteilung individuell treffen zu können, da verschiedene Abteilungen unterschiedliche Anforderungen haben, die es zu beachten gilt. Hierbei ist also immer auf die Sinnhaftigkeit zu achten, damit sich das neue Arbeitsmodell arbeitsfördernd und nicht arbeitsbehindernd auswirkt.

Vom Getriebenen zum Gestalter – Arbeiten in einer Welt voller Ablenkungen und Möglichkeiten

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Jelka Seitz und Jürgen Seitz

„It isn’t necessary to imagine the world ending in fire or ice. There are two other possibilities: one is paperwork, and the other is nostalgia.“ (Frank Zappa)

15.1 Neue Welt – neuer Mensch? Warum lernen wir die fürs (Arbeits-)leben wirklich wichtigen Dinge eigentlich nicht in der Schule? Zum Beispiel, wie man entscheidet, was man beruflich machen möchte, wie man ein Projekt managt oder auch sich selbst, wie man Konflikte und Probleme löst, wie man andere Menschen oder gar eine ganze Organisation führt, und das, ohne dabei selbst auf der Strecke zu bleiben. Was das mit Digitalisierung zu tun hat, fragen Sie sich nun? Eine ganze Menge. Aber der Reihe nach. Seit einiger Zeit ist klar, dass diese Digitalisierung doch etwas nachhaltiger ist. Mehr noch, es wird zunehmend deutlich, dass es hierbei nicht nur um Technologien geht, es geht um viel mehr: Es geht um uns. Uns Menschen.

J. Seitz (*) Digital Leaders Institute, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Seitz Hochschule der Medien, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_15

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Dabei standen zunächst diejenigen im Mittelpunkt, die den neuen Technologien eher skeptisch gegenüber stehen, genauso wie den damit einhergehenden Veränderungen. ­Damit sind häufig vor allem die älteren Generationen gemeint, von denen man sich das notwendige Mind & Skill Set wünscht.

15.1.1 Wir ALLE brauchen neue Kompetenzen Während das Verständnis von diesem Mind & Skill Set von Firma zu Firma variiert, kann man insgesamt sagen, dass es neben der Offenheit gegenüber und dem Beherrschen von Technologien den Unternehmen vor allem darum geht, dass ihre Mitarbeiter veränderungsbereit sind [1]. Bei Führungskräften zum Beispiel dahingehend, dass sie sich von der Rolle des fachlich getriebenen Managers hin zu einer echten Führungspersönlichkeit entwickeln, die sich in den Dienst seiner Mitarbeiter stellt. Entsprechend wird im Gegenzug von Fachkräften mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung erwartet. Jenseits der Frage, wie man seine Mitarbeiter, Kollegen oder auch sich selbst ent­ sprechend weiter entwickelt, beschleicht aber selbst die „Digitalisierungsbefürworter“ zunehmend die folgende Frage „Wie soll ich persönlich mit all dem umgehen?“ Mit der Schnelligkeit und Unsicherheit, den vielen Optionen und Informationen, der ständigen Erreichbarkeit und den potenziellen Ablenkungen, aber auch dem gestiegenen Leistungsund Erwartungsdruck sowie der schwelenden Angst, nicht mehr mithalten zu können. Sei es mit den Veränderungen am Markt, aber auch, was gerade intern passiert. Letzteres wird zwar dank Social Collaboration Tools theoretisch immer einfacher, erzeugt aber auch bei vielen die latente Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn man nicht ständig die verschiedenen Kanäle checkt. So erleben wir dann auch – und dabei ist es egal, ob wir mit Leuten aus mittelständischen Unternehmen, Startups oder Konzernen sprechen – vor allem eines: Die Menschen sind Land unter. Ein Projekt jagt das nächste, die To-do-Liste sowie Anzahl der „wichtigen“ internen Kanäle und Informationen, extern wie intern, scheint nicht enden zu wollen. Was die meisten von uns davon am meisten stresst, ist das anhaltende Gefühl – oder auch die Tatsache – durch den Tag getrieben zu werden, statt ihn proaktiv gestalten zu können. Immer mehr zeichnet sich also ab, dass wir alle neue Kompetenzen für das digitale Zeitalter brauchen, nicht nur die, die sich nicht unbedingt als Freund von Technologien und Veränderungen bezeichnen würden. Dass das Bewusstsein dafür immer stärker wird, spiegelt sich für uns in der Beobachtung wider, dass das Thema Achtsamkeit seinen Weg in immer mehr Firmen findet. Mit Achtsamkeit ist gemeint, dass wir im aktuellen Moment leben und nicht werten. Die bekannteste Praktik ist dabei die Mediation. Hatte das Thema früher eher einen esoterischen Anstrich, ist es heute salonfähig und die Effekte wissenschaftlich belegt [2]. Vor allem der TechGigant Google hat mit seinem Trainingsprogramm „Search inside yourself“ in der Unternehmenswelt zu dem Wandel in der Wahrnehmung beigetragen [3]. Google ist aus unserer Sicht vor allem deshalb so er-

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folgreich damit, weil sie Folgendes in den Vordergrund stellen: Wenn wir unsere Acht­ samkeit trainieren, trainieren wir unser Gehirn. Dahingehend, dass wir lernen wieder bewusst zu agieren und dadurch unsere Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit steigern. Hier sind wir dann wahrscheinlich auch am Kern des Problems, dem sich die meisten von uns heute gegenüberstehen sehen: Wir können Technologien im Alltag ganz gut bedienen, aber wer kann das schon von seinem Computer im Kopf behaupten? Dieser entstammt einer präindustriellen Zeit und ist für unseren aktuellen Kontext in der Basisauslieferung nicht optimal ausgestattet. So ist z. B. dessen Hauptziel, uns überleben zu lassen. Entsprechend gut funktioniert auch sein Alarmsystem. Dieses unterscheidet jedoch nicht unbedingt zwischen der Bedrohung durch einen Säbelzahntiger und der durch eine Deadline. Ein nicht gerade praktischer Mechanismus für den Büroalltag. Mit Achtsamkeitstrainings können wir aber u. a. diesen Mechanismus gewissermaßen „upgraden“ [3]. Wir selbst sind große Fans von Achtsamkeit. Jedoch erleben wir sowohl in Unternehmen als auch bei uns selbst, dass dies natürlich nur ein Puzzlestück zur Lösung der beschriebenen Probleme ist. So sehen wir dann auch die einen oder anderen ManagerInnen, zu denen wir auch selbst gezählt haben, die direkt von einem „Achtsam Führen“ Seminar in den normalen Arbeitsalltag treten und die neue Gelassenheit spätestens mit dem Erhalt der ersten Email verlieren. Was also sind die anderen Teile des Puzzles? Im Folgenden möchten wir Ihnen drei Ansätze vorstellen, die unserer Erfahrung nach wichtige Elemente sind, um aus der Situation des Getriebenen hin zu der eines Gestalters zu kommen. Spoilerwarnung: Diese Ansätze sind weitaus weniger spektakulär und sexy als auch wir es uns wünschen würden und daher weniger für große Pressemitteilungen geeignet, als für den Alltag.

15.2 W  ie wir unseren Alltag wieder unter Kontrolle bekommen und Raum für Neues schaffen Fangen wir am besten mit der Frage an, wie denn der typische Büroalltag heute aussieht. Statistisch gesehen, wie folgt: Mindestens 2,5 h Stunden beschäftigten wir uns mit Emails oder anderen digitalen Nachrichten. 2 h sitzen wir in Meetings, sind wir Führungskraft auch gerne mal bis zu 6 h [4]. Damit ist also für die meisten schon mal mindestens die Hälfte des Tages vorbei. Jeder möge an dieser Stelle selbst einschätzen, wie produktiv er diese Aktivitäten einschätzt. Studien bestätigen das ungute Gefühl, das Sie vielleicht gerade beschleicht. Was machen übrigens mehr als 90  % der Leute in Meetings? Emails schreiben [5]. Bevorzugt mit ihrem Smartphone. Apropos: Wie oft nervt es sie, dass Ihre Kollegen (oder andere Menschen) dank des kleinen Helfers nur physisch anwesend zu sein scheinen? Was früher nur bei Teenagern eine Unsitte zu sein schien, greift nun auch bei Erwachsenen immer weiter um sich. Smartphones sind aber auch einfach verlockend. Dank unseres besten Freundes erleben wir keine Langeweile mehr. Unser Smartphone ist eine unerschöpfliche Quelle an Input – die von TED Talks bis hin zu lustigen Katzenvideos reicht. Außerdem belegt die Wissen-

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schaft, dass unser Smartphone die gleichen Gefühle in uns auslöst wie bei einem ­Glücksspielautomaten [6]. Habe ich ein Like oder nicht? Enthält die Email, die gerade eintrifft, eine gute oder eine schlechte Nachricht? Wir sind ständig in Erwartung, dass dank des Smartphones irgendetwas passiert. Mit den entsprechenden Reaktionen unseres Körpers: Schweißausbrüche und Cortisolausstöße, also purem Stress. Bewusst ist uns diese Reaktion dabei oft gar nicht [7]. Aber wieder zurück zum Multitasking, wozu Emails schreiben während Meetings zählt. Insgesamt betreiben wir etwa 4 h am Tag Multitasking, je stärker wir das Gefühl haben, hinterher zu sein, desto häufiger. Multitasking ist nur leider etwas, wofür unser Gehirn überhaupt nicht ausgelegt ist (der Mythos, dass das weibliche Gehirn dies könnte, hält sich dennoch besonders hartnäckig). Statt eine Sache richtig und die andere halb zu erledigen, passiert bei uns im Kopf nur eines: Wir springen ständig von einer Aufgabe zur anderen, was uns nicht nur unproduktiv macht, sondern auch Stress erzeugt [8]. Aber selbst, wenn wir versuchen, uns mit nur einer Sache zu beschäftigen, gelingt uns das im Schnitt nur 10 Minuten lang [4]. Entweder unterbricht uns ein Kollege, eine Benachrichtigung  – auf dem Desktop oder dem Smartphone  – oder wir unterbrechen uns einfach selbst, weil uns mitten beim Erstellen der Präsentation einfällt, dass wir ja noch eine wichtige Email schreiben wollten. Anstatt dies zu notieren, schreiben wir sie dann lieber gleich. Erledigt ist erledigt. Wäre all dies nicht schon ernüchternd genug, kommt noch eine weitere Sache hinzu: Unser Gehirn braucht bis zu 23 Minuten, bis es sich wieder voll auf eine Sache konzentrieren kann. Der Experte nennt das „Aufmerksamkeitsrückstand“ [9]. Eine gute Gelegenheit sich diesen zu verdeutlichen ist folgende Situation: Man hat es gerade noch rechtzeitig ins Meeting geschafft. Nun zieht der Beginn komplett an einem vorbei, weil man selbst mental noch in der unschönen Email steckt, die man kurz zuvor erhalten hat. Das Resultat von all dem? Es entsteht eine Kultur der Oberflächlichkeit, in der wir zwar ständig irgendetwas tun, aber weder produktiv noch zufrieden sind.

15.2.1 Zeit und Raum zum Denken und Konzentrieren schaffen Der erste Hebel, durch den wir unseren Arbeitsalltag wieder in den Griff bekommen können, dreht sich um die Frage „Wie schaffen wir es, uns wieder ungestört den Dingen widmen zu können, die uns und unsere Firma voranbringen?“ Einen Schlüssel dazu fanden wir persönlich bei Cal Newport, der mit „Deep Work“ (im deutschen: Konzentriertes Arbeiten) einen internationalen Bestseller schrieb. Die Idee ist so simpel wie wirkungsvoll: Sich über einen bestimmten Zeitraum auf nur eine einzige Sache zu konzentrieren, die Werte schafft. Das Deep Work-Prinzip setzt auf ein heute sehr rares Gut: Die Möglichkeit Nachdenken zu dürfen. Wie viele Stunden, Euros und Energie sind in Firmen in unsinnige Aufgaben und Projekte investiert worden, schlicht deswegen, weil keiner die Zeit bekam, darüber nachzudenken, warum und was man da eigentlich gerade tut. Es musste schließlich

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schnell gehen. Diese Forderung nach Schnelligkeit übertragen wir in unseren gesamten Alltag und führt dazu, dass wir schnellst möglich die Tennisbälle zurückschlagen (in diesem Falle z. B. in Form von Emails und anderen digitalen Nachrichten), was uns noch mehr die Gelegenheit nimmt, uns konzentrieren und nachdenken zu können. Wenn wir dank Deep Work diesem Teufelskreis entgehen, passiert Folgendes: Am Ende des Tages haben wir (zurecht) das Gefühl wirklich etwas geleistet zu haben, statt reaktiv auf die verschiedensten äußeren Trigger reagiert zu haben. Der schöne „Nebeneffekt“? Konzentriertes Arbeiten geht in der Regel mit einem Flow-Effekt einher, der nicht nur im Jetzt, sondern auch insgesamt zu einer deutlichen Zufriedenheitssteigerung beiträgt. Wenn Sie Deep Work in Ihren Alltag und den Ihrer Mitarbeiter integrieren möchten, sind folgende Elemente wichtig: 1. Legen Sie bestimmte Uhrzeiten fest Deep Work Zeiten sollten ein fester Bestandteil Ihres Alltages, oder besser gesagt Kalenders, werden. Hinsichtlich Uhrzeit orientieren Sie sich am besten an Ihrem Energielevel. Die meisten von uns haben am Morgen, wann der beginnt ist jedoch unterschiedlich, am meisten Energie. Daher eignet sich diese Zeit am besten für konzentriertes Arbeiten. Grundsätzlich gilt aber: Herausfinden, was für einen am besten funktioniert. Planen Sie außerdem explizit Zeitfenster zur Bearbeitung Ihrer Emails/digitalen Nachrichten ein, statt sie ständig zwischendurch zu checken. Das macht Sie nicht nur produktiver, weil sie nicht ständig zwischen Aufgaben hin und her springen, es sorgt auch dafür, dass Ihr Stresslevel sinkt [4]. 2. Eleminieren Sie alle Unterbrechungen Stellen Sie grundsätzlich alle Benachrichtigungen für „Nicht-Notfall-Kanäle“ ab. Vor allem Töne! Die stören nicht nur Sie selbst, sondern auch alle anderen. Alternativ können Sie auch die „Nicht stören“ Funktionen der einzelnen Kanäle in ihren Deep Work Zeiten nutzen. Das Telefon ist auf stumm geschaltet und das Smartphone außer Reichweite. Nutzen Sie auf Großraumflächen Kopfhörer und signalisieren Sie nach Außen, dass Sie nicht gestört werden wollen. 3. Legen Sie fest, was Sie in der Deep Work Zeit erreichen möchten und hören Sie idealerweise erst auf, wenn Sie dieses Ziel erreicht haben. Deep Work Zeiten sind dazu da, die Aufgaben zu erledigen, die unsere vollen kognitiven Fähigkeiten erfordern. Während wir alle in Meetings sitzen und Emails schreiben, ist diese Tätigkeit für jeden von uns individuell. Im Grunde geht es darum, an den Dingen zu arbeiten, die den meisten Mehrwert liefern. Vielen von uns ist aber entweder gar nicht genau klar, welche Aktivitäten das sind oder wir kommen vor all den anderen (unwichtigen) Dingen einfach nicht dazu. Hier kommt uns außerdem der verbreitete Glaubenssatz „Mehr hilft mehr“ noch in die Quere. Mehr Projekte, mehr Aufgaben, mehr Meetings … Sie wissen schon. An dieser Stelle möchten wir Steve Jobs zitieren, der sagte „Viele meinen, sich zu fokussieren heiße, Ja zu sagen zu den Dingen, auf die man sich fokussieren muss. Es bedeutet das Gegenteil. Es heißt, Nein zu sagen zu den hundert anderen guten Ideen, die es gibt.“

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Je mehr Optionen es heute gibt, desto häufiger müssen wir Nein sagen. In diesem Zusammenhang kann sich folgendes Werkzeug als sehr nützlich erweisen: Die Stop-­ Doing Liste. Sie ist im Grunde das Gegenteil einer To-Do-Liste. Sie zeigt uns, woran wir nicht mehr arbeiten sollten oder auch welches Verhalten wir abstellen wollen (z. B. ständig Mails zu checken). Solch eine Liste zu erstellen, könnte eine Aufgabe für Ihre erste Deep Work Session sein. Interessanterweise gehört häufig nicht viel mehr dazu, als sich überhaupt mal Zeit dafür zu nehmen, sich einen Überblick zu verschaffen, womit man sich eigentlich alles beschäftigt. In der Regel merken wir recht schnell, was wir gar nicht tun sollten. 4. Den Arbeitstag richtig beenden Die meisten von uns sind quasi rund um die Uhr im Standby Modus. So verlassen wir das Büro, nur um gleich wieder unsere Mails zu checken. Idealerweise dann auch noch direkt vor dem Einschlafen, wenn man ohnehin nichts mehr tun kann, sich dafür aber den Schlaf raubt, weil man noch eine schlechte Botschaft erhalten hat. Unser Gehirn braucht Zeiten in denen wir uns nicht mit der Arbeit beschäftigen. Genauso wie ein Spitzensportler Zeit braucht, um seinen Körper regenerieren zu lassen. Daher ist es essenziell, den Tag richtig abzuschließen. Das tun wir am besten dadurch, dass wir uns notieren, was wir am nächsten Tag vorhaben. Alleine um zu verhindern, dass wir am nächsten Tag im Eifer des Gefechts wieder mit dem Dringlichsten, aber nicht unbedingt wichtigsten weitermachen. Es trägt aber auch dazu bei, dass unser Gehirn mit einer Sache abschließen kann und nicht durch „offene Enden“ belastet ist [10]. Nach Verlassen des Büros wird dann auch wirklich nicht mehr in Mailbox und Co. geschaut. Unsere Befürchtung, dass die Welt untergeht, wenn wir es nicht tun, hat selten etwas mit der Realität zu tun. Dass es bei kritischen Phasen oder Projekten Ausnahmen geben darf, ist keine Frage. Aber es darf nicht die Regel sein. 5 . Teamvereinbarungen treffen Während es schon herausfordernd genug ist, überhaupt wieder für sich selbst zu lernen, konzentriert zu arbeiten, da unser Gehirn mittlerweile auf das Gegenteil trainiert wurde, ist es ohne Teamabsprachen gerade zu unmöglich. Daher ist für alle, die Deep Work für sich implementieren wollen, eine zentrale Frage: Wie können wir es schaffen, dass alle konzentriert arbeiten können, vor allem, wenn das Team in einem Großraumbüro sitzt? Um konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen, müssen wir daher entsprechende Vereinbarungen im Team treffen. Dazu möchten wir Ihnen folgende Fragen und Anregungen mitgeben, die Sie bei Ihnen im Team diskutieren können: • Was sind unsere größten „Ablenker“? • Welche Reaktionszeiten erwarten wir auf den einzelnen Kommunikationskanälen? Was sind unsere Notfallkanäle, über die wir in dringlichen Fällen kommunizieren können? Was sind dringliche Fälle? • Wollen wir meetingfreie Zeiten festlegen? (z. B. Meetings finden erst nach 11 Uhr statt) oder wollen wir meetingfreie Tage testen? „Notfall-Meetings“ sind jeweils ­ausgenommen.

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• Wollen wir „Sprechstunden“ für Experten einrichten? Das bedeutet, sie werden nicht einfach angesprochen, wenn es für einen selbst gerade passt, sondern, wenn sie Zeit für uns haben. z. B. an bestimmten Wochentagen oder zu bestimmten Uhrzeiten. • Wie lösen wir das Thema außerhalb unseres Teams (Stichwort: flexible Arbeitsplätze) und im Großraumbüro? Idee: Verwendet das Bild einer Bibliothek. Jeder weiß, wie er sich dort zu verhalten hat. Und sprecht mit den Kollegen allgemein über das Thema. In der Regel leiden wir alle unter dem gleichen Problem und sind froh, wenn es adressiert wird! • Was machen wir im Falle der Missachtung unserer Vereinbarungen? Das Ziel dahinter: Es ist erlaubt bzw. sogar explizit gewünscht, dass wir uns gegenseitig daran erinnern, dass wir uns an die vereinbarten Regeln halten Hinsichtlich der Teamvereinbarungen möchten wir mit einer Sache schließen, die gleichzeitig zu unserem zweiten Ansatz überleitet. Es geht um die Gewohnheit, dass in den meisten Firmen zwar IM Team gearbeitet wird, aber nur ganz selten AM Team. Während ersteres die Frage in den Fokus stellt „Woran arbeiten wir inhaltlich?“, konzentriert sich letzteres auf die Frage „Wie wollen wir zusammen arbeiten“?

15.2.2 Nicht nur IM System arbeiten, sondern AM System arbeiten Jede Form der Zusammenarbeit basiert auf Annahmen, Überzeugungen, Prinzipien, Vorgehensweisen und Regeln, die die Grundlage unseres täglichen Handelns darstellen. Aaron Dignan, Autor des Buches Brave New Work, spricht in diesem Zusammenhang von dem Betriebssystem einer Organisation, das er mit deren DNA vergleicht [11]. Dieses System wird in der Regel kaum hinterfragt, es ist einfach da. Gleichzeitig prägt es massiv die Organisation. Denn Menschen orientieren sich immer am System. Das ist weder gut noch schlecht, es ist ganz einfach so. Bekanntestes Beispiel sind wohl Incentivierungssysteme. Je nach dem fördern sie Kollaboration oder Einzelkämpfertum. Zum System zählt aber auch die Gewohnheit für alles ein Meeting einzuberufen, oder dass erwartet wird, dass Emails/Nachrichten spätestens innerhalb von einer Stunde bearbeitet werden. Aber auch, dass Entscheidungsprozesse sehr lange dauern, weil so viele Leute involviert werden müssen. Dieses Betriebssystem neigt dazu entweder zu bürokratisch oder zu chaotisch oder auch beides – nur an verschiedenen Stellen – zu sein und führt im Alltag zu den entsprechenden Produktivitäts- und Energieeinbußen oder auch zu dem Gefühl, ständig auf der Flucht zu sein. Während jeder am System arbeiten kann, ist es vor allem die Aufgabe von Führungskräften, dies zu tun. In diesem Zusammenhang nennt Dignan die Fähigkeit ein(e) „OrganistionsdesignerIn“ zu sein als eine der Kernkompetenzen heutiger und zukünftiger Führungskräfte. Was genau macht ein(e) OrganisationsdesignerIn? Von der Grundeinstellung her, sieht er/sie sich nicht als der/diejenige, der/die bereits weiß, was alles verändert werden soll,

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sondern schafft den Rahmen, um gemeinsam die Themen zu erarbeiten. Dazu sind dann folgende Elemente wesentlich: Schritt 1: Identifizieren, was einen davon abhält, die bestmögliche Arbeit zu leisten Hier geht es darum, sich im Team zu fragen „Was hält uns auf?“, „Was kostet uns Zeit und Energie?“ „Was würden wir ändern, wenn wir es könnten?“. Dabei können natürlich Themen hochkommen, die man nicht so einfach oder auch gar nicht ändern kann. Aber darum geht es auch erst mal gar nicht. Es geht vielmehr darum, ein reales Abbild des Alltags zu schaffen. Es sind außerdem immer genug Punkte dabei, die man selbst, und meist auch relativ einfach, lösen kann. Das Problem liegt eher darin, dass die meistens Teams nicht darüber reden. Zum Beispiel Themen, die in die Bereiche Meetings oder Email/Messengerverhalten oder auch konzentriertes Arbeiten fallen. Solche Dinge scheinen erst mal zu banal, um sie zu adressieren, aber wie zu Beginn dargestellt, bilden sie den Großteil unseres Tages und damit die Realität der Leute ab. Wenn Sie möchten, können Sie natürlich auch erst mit „kleineren Themen“ wie Meetings, Emails oder konzentriertem Arbeiten starten, um nicht gleich das ganze Fass aufzumachen. Die Idee hinter der Maßnahme ist vor allem, dass man es sich zur Gewohnheit macht, die Spannungspunkte im Team zu adressieren und zu lösen. Schritt 2: Lösungen festlegen, die man ausprobieren will Wenn Sie nun die relevantesten Spannungen, die sie selbst lösen können, identifiziert haben, geht es wie folgt weiter: Erarbeiten Sie gemeinsam im Team eine Lösung, die Sie testen wollen. Das sollte zu Beginn etwas sein, das relativ leicht umzusetzen ist, um schnelle Erfolge zu erzielen und die Motivation hoch zu halten. Im Falle von zu vielen Unterbrechungen im Alltag könnte es zum Beispiel sein, erst mal keine Meetings in den Morgenstunden anzusetzen, damit jeder genug Zeit zum konzentrierten Arbeiten hat. Oder auch festzulegen, dass Emails/ Nachrichten erst innerhalb einer gewissen Zeitspanne beantwortet werden sollen, so dass sich jeder fixe Zeiten dafür einplanen kann. Schritt 3: Ausprobieren Jetzt geht es darum, die Maßnahme im Alltag zu testen. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass es sich um einen Test – keine zementierte, langfristige Maßnahme – handelt. Das hilft zum einen, schneller Entscheidungen zu treffen. Zum anderen fördert es aber auch, in einem sicheren Rahmen ins Experimentieren zu kommen. Etwas, das für eine Organisation, die wandelbar sein möchte, so wichtig ist. Am Ende schaut man, wie das Experiment funktioniert hat. Je nachdem, setzt man es fort oder identifiziert eine neue Maßnahme, um das Problem zu lösen. Das Ziel ist es am Ende, die Gewohnheit in Teams zu etablieren, dass sie laufend ihre Spannungspunkte identifizieren und lösen. Das Prinzip kann man übrigens auch auf die Beziehung zu den einzelnen Mitarbeitern herunter brechen. So können Sie Ihren Mitarbeitern in einem 1:1 Gespräch folgende

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­ ragen stellen „Was kann ich tun, damit Dein Job leichter wird? Was macht ihn aktuell F schwer? Wie mache ich ihn schwer?“ Manche Führungskräfte stellen solche Fragen bereits im Alltag, anderen fällt es schwerer, weil sie das klassische „Command and Control“ Führungsmuster auf den Kopf stellen. Und damit wären wir auch beim dritten Punkt.

15.2.3 An mir selbst arbeiten Während es Firmen darum geht, sich zu transformieren, um im digitalen Zeitalter konkurrenzfähig zu bleiben, geht es aus unserer Sicht auch für jeden Einzelnen von uns darum, sich zu verändern oder schöner formuliert: Uns weiterzuentwickeln. Das Schöne daran? Sich weiterzuentwickeln zählt zu den motivierendsten und zufriedenstellendsten Dingen, die wir Menschen tun können. Dabei geht es nicht um eine radikale Veränderung über Nacht. Sondern jeden Tag ein bisschen. Das ist auch das, was mit Lebenslangem Lernen gemeint ist. Natürlich müssen wir fachlich auf dem Laufenden bleiben, aber es geht noch viel mehr darum, dass wir mental und emotional nicht nur mit all den Veränderungen Schritt halten können, sondern in eine aktive Gestalterrolle kommen. Das schaffen wir aber nur, wenn wir verstehen, wie wir selbst und Menschen insgesamt „funktionieren“ und wie wir auf all die Veränderungen und die in ihrer Anzahl und Intensität zunehmenden externen Trigger reagieren. Das Spielfeld auf dem wir uns nun befinden ist natürlich zu groß, um es in diesem Rahmen zu beackern, aber im Zusammenhang mit den besprochenen Themen möchten wir Ihnen gerne folgende Fragen mitgeben: • Was kostet mich Zeit und Energie? Was lenkt mich ab? • Wodurch koste ich anderen Zeit und Energie? Wie lenke ich sie ab? • Was von dem, das ich hier gelesen habe, möchte ich ausprobieren?

15.3 Abschließende Gedanken An dieser Stelle möchten wir auflösen, warum wir mit der Frage begonnen haben, warum wir die wirklich wichtigen Dinge in der Schule nicht lernen. Technologien haben unser Leben bisher in vielen Bereichen immer besser gemacht [12]. Nun verändern sie auch unsere Arbeitswelt. So stark, dass erstmals seit Beginn der organisierten Arbeit Kompetenzen gefragt sind, die uns nicht nur erfolgreich machen, sondern auch zufriedener. Wachsen zu können, proaktiv und kreativ zu sein, sich herausfordernden Problemen zu stellen, zu sehen, dass man etwas bewirkt, bei all dem blühen wir auf. Man könnte es daher auch wie folgt formulieren: Technologien, die uns vor so viele Herausforderungen stellen, fordern uns nun heraus, das Beste aus unserem Menschsein

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herauszuholen. Und auch wenn es noch ein weiter Weg ist, so zeigt sich doch in den ersten Schulen und privaten Initiativen, dass diese sich auf solch einen Weg begeben.

Literatur 1. Hays. (2017). HR-Report 2017: Schwerpunkt Kompetenzen für eine digitale Welt. https://www. hays.de/documents/10192/118775/Hays-Studie-HR-Report-2017.pdf/. Zugegriffen am 05.08.2019. 2. Congleton, C., Hölzel, B. K., & Lazar, S. W. (2015). Workout für das Gehirn. Harvard Business Manager. https://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/wie-achtsamkeit-und-meditation-ihr-gehirn-veraendern-kann-a-1016687.html. Zugegriffen am 05.08.2019. 3. Tan, C. M. (2015). Search inside yourself: optimiere dein Leben durch Achtsamkeit. München: Goldmann. 4. Glei, J. K. (2016). Unsubscribe: How to kill email anxiety, avoid distractions, and get real work done. New York: PublicAffairs. 5. t3n. (2014). Die hässliche Wahrheit: Der Zeitfresser Meeting in Zahlen. https://t3n.de/news/zeitfresser-meeting-564251/. Zugegriffen am 05.08.2019. 6. Wirtschaftswoche. (2014). Wir müssen uns eine digitale Diät verordnen. https://www.wiwo.de/ technologie/digitale-welt/smartphones-wir-muessen-uns-eine-digitale-diaet-verordnen/11006128.html. Zugegriffen am 05.08.2019. 7. Haase, J. (2019). Warum das, was du gerade in den Händen hältst, dein Leben verkürzt. https:// www.welt.de/kmpkt/article193213019/Wer-sein-Smartphone-oefter-weglegt-erhoeht-die-Chance-auf-ein-langes-Leben.html. Zugegriffen am 05.08.2019. 8. Hofmann, E. (2016). Multitasking  – Mythos oder machbar? https://www1.wdr.de/wissen/ mensch/multitasking-102.html. Zugegriffen am 05.08.2019. 9. Newport, C. (2017). Konzentriert arbeiten: Regeln für eine Welt voller Ablenkungen. München: Redline. 10. Allen, D. (2015). Wie ich die Dinge geregelt kriege: Selbstmanagement für den Alltag. München: Piper Taschenbuch. Auflage: überarbeitete Neuausgabe 2015. 11. Dignan, A. (2019). Brave New Work: Are you ready to reinvent your organization? Frankfurt a. M.: Portfolio. Auflage: International, 2019. 12. Harari, Y. N. (2018). Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck. Auflage: 15. Hays.

Teil IV Die Marke im Fokus

B2B Markenbildung digital

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Mario Stockhausen, Gerhard Heilemann und Frank Boegner

16.1 W  ir brauchen eine neue Nachhaltigkeit in der Markenführung Kaum ein Thema wird so ausgiebig besprochen wie die Digitalisierung des Marketings. Die Herausforderungen sind uns bekannt, wenn auch meist immer noch ungelöst: Die Kanäle verändern sich. IT, Marke und Botschaft verschmelzen unter dem Begriff Experience zu einer Symbiose, deren Steuerbarkeit uns nach wie vor schwerfällt. Insgesamt findet Marketing nach dem Prinzip „faster, harder, stronger“ statt. Komplexität und Menge steigen stetig. Dummerweise werden sich unsere Budgets und Ressourcen nicht in der gleichen Geschwindigkeit mitentwickeln. Gefühlt nimmt die erforderte Veränderungsgeschwindigkeit bei Unternehmen exponentiell zu. In den vergangenen Jahren haben die digitalen Evangelisten eine Unmenge an Projekten umgesetzt und dabei viel Geld verbrannt. Die Gründe hierfür lagen oft an einer eindimensionalen Betrachtung des Wertschöpfungsmodells und der Missachtung der bestehenden Kultur. Das führt für Marke und Marketing im Unternehmen zu limitierten Ressourcen bei gleichzeitig immer komplexeren Anforderungen. Neben Markenarbeit, Kanalstrategie und einer konsistenten Datenbasis fordern Transformationsprozesse, auch die historischen Strukturen agiler zu denken. Wir alle werden mit weniger Mitteln mehr erreichen müssen.

M. Stockhausen (*) · F. Boegner oddity Group, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] G. Heilemann Theo Förch GmbH & Co. KG, Neuenstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_16

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G. Heilemann et al.

Kann das funktionieren? Müssen wir dazu mehr und härter arbeiten? Derzeit befinden wir uns in einer Phase, in der genau das gemacht wird. Die langfristige Antwort kann nur eine angepasste Strategie sein. Eine neue Haltung, die vorsieht, in Zukunft agiler und flexibler zu reagieren. Das bedeutet: weniger Hochglanz in der Produktion, aber dennoch eine hohe Strahlkraft als Marke. Das Rad nicht neu erfinden, sondern von dem profitieren, was wir schon kennen. Eine differenzierende Markenführung in einer bewussten Auseinandersetzung mit gelernten und allgemeingültigen Mechaniken. Wir brauchen eine neue Nachhaltigkeit in der Markenführung. Aufgrund der steigenden Zahl an Touchpoints muss die Markenführung heute zudem skalierbar sein. Welche Leitgedanken gibt es vor diesem Hintergrund nun, um insbesondere im Mittelstand digitale Markenbildung zu betreiben?

16.2 Marke hilft, Wandel zu gestalten Das historische Dogma: die Marke wird zugleich als das Produkt angesehen. Allerdings verliert ein Produkt, das sich allein über seine technischen Spezifikationen definiert, zunehmend an Wahrheit und kann sich nicht mehr differenziert genug auf dem Schlachtfeld des Wettbewerbs behaupten. Der Produktpreis, einst der beste Kumpel, um die Schlacht in letzter Sekunde für sich zu entscheiden, entpuppt sich als zunehmendes Problem. Braucht eine banale Schraube nun wirklich Marketingschnickschnack? Beobachten Sie sich selbst in Ihrem Kaufverhalten. Macht nicht jeder von uns die Erfahrung, dass der wahre Proof-Point der Mensch zu sein scheint, der einem Markenversprechen jenseits von Kommunikationsmaßnahmen standhalten muss? Ist nicht jener Moment der Wahrheit frustrierend, wenn spürbar wird, dass das Verhalten des Gegenübers nicht an der Marke ausgerichtet ist und unsere Erwartungshaltung unerfüllt bleibt? Eine starke Marke lebt also nicht von den technischen Spezifikationen ihres Produktes, sondern von den Menschen, die sie repräsentieren. Das traditionelle Unternehmen entwickelt sich zu produkt- kundenorientierten Organisationen mit dem Anspruch, die Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden zu verstehen und mit maßgeschneiderten Angeboten darauf zu reagieren. Die Herausforderung liegt hier beim Mitarbeiter, der ein hohes Kunden- und Serviceverständnis aufbauen muss. Somit wird der zentrale Differenzierungsfaktor der Mensch als Botschafter der Marke. Die Mitarbeiter sind allzu oft die zentrale Schwachstelle im Markenerlebnis. Das liegt daran, dass sie sich ihrer Rolle zu wenig bewusst sind und die Organisation keine klare Führung anhand eines Markenbilds ableitet. Ein Markenkern sorgt in dynamischen Rahmenbedingungen zudem dafür, dass die Markenführung selbst wiederum führbar wird. Machen Sie einen einfachen Versuch: Fragen Sie spontan Kollegen, wofür die Marke steht, für die sie täglich arbeiten. Erhalten Sie eine präzise und kurze Formulierung in einem Satz? Sie werden schnell frustriert sein. Nun gilt es, Grundlagen zu schaffen, die kommunizierbar, für alle Mitarbeiter leicht verständlich und nachvollziehbar sind. Und … Hand aufs Herz, das Wort „Qualität“ hat nichts in einem Markenbild zu suchen, denn das sollte selbstverständlich sein.

16  B2B Markenbildung digital

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Besteht hier eine stabile Basis? Ein einheitliches Bild? Ist der Markenkern nicht zu kompliziert gedacht? Falls hier Zweifel bestehen, sollte man noch mal eine Runde drehen. Hierfür gibt es eine Menge Literatur. Seien Sie hart zu sich selbst. Radikal. Allzu oft versucht man in der Beschreibung des Markenkerns und seiner Ausprägungen allen und allem gerecht zu werden. Die Folgen sind riesige Wolken aus Worten, die im Kern alle dasselbe Aussagen, es aber nur anders meinen. Diese Wortkomplexität kann von Mitarbeitern nicht erfasst werden und führt wiederum zu ausladenden literarischen Ausführungen, die kein Mensch versteht. Sagen Sie es radikal einfach. Schaffen Sie Fakten, Fakten, Fakten und Sie werden merken, dass Sie plötzlich eine Position einnehmen müssen. Aus dieser Haltung heraus können Sie sich letztendlich für Worte mit einer ultimativen Aussagekraft entscheiden. Das beschreibt Ihre Eigenart als Marke und ist ein Alleinstellungsmerkmal und ein Marktangriff gleichermaßen. Ein Beispiel ist das Unternehmen Theo Förch aus Neuenstadt am Kocher. Ein historisch gewachsener Vertrieb, der den letzten 50 Jahren über 300.000 Kunden in Europa mit über 100.000 Produkten versorgt und eine zunehmend führende Rolle für Werkstatt-, Montage- und Befestigungsartikel für Handwerk und Industrie eingenommen hat. Insgesamt beschäftigt der Handelsbetrieb 2800 Mitarbeiter, davon arbeiten 1650 im ­Außendienst. Im Januar 2018 wurde Gerhard Heilemann für das Unternehmen als Konzerngeschäftsführer gewonnen. Seine Aufgabe besteht darin, die strategische Geschäftsfeldentwicklung und die digitale Transformation des Unternehmens voranzutreiben und das Wachstum der letzten 50 Jahre in den nächsten zehn Jahren zu verdoppeln. Zuletzt leitete er ab 2004 als Sprecher der Geschäftsführung die Hahn+Kolb-Gruppe und trieb dort die dynamische Expansion über originäre und digitale Vertriebswege voran. Das bisherige Markenbild ist bei Förch in ausnahmslos jedem Zimmer als Wandbild zu finden. Eines, das aus mehr als 20 einzelnen Begriffen besteht. Das komplexe Produktportfolio, gepaart mit den abstrakten Begriffen des Markenbilds und den historischen Strukturen des Unternehmens äußern sich vor allem in einem: konfusen Mitarbeitern. Allerdings scheint diese Form von Brand-Gerüst den Mitarbeitern eine Art Zuflucht zu bieten. „Bodenständig“ beispielsweise, ein Begriff, der von der Sehnsucht der regionstypischen Kultur erzählt. Der starke Zusammenhalt. Der aufrichtige Umgang miteinander. Alles ehrlich gemeinte Werte, oder nur eine diffuse Angst vor Wachstum und Veränderung? Ein Widerspruch zum Selbstbewusstsein der Marke? „Was bleibt, sind die Marke und ihre Werte – also ran an eine glasklare Markenpositionierung.“ – Gerhard Heilemann

Eines ist Förch bewusst: Mut, Konsequenz und vor allem eine Identität sind essenziell für diejenigen, die ihre Mitarbeiter in Umbruchzeiten mitnehmen möchten. Die nötige Aufmerksamkeit bekommt man durch den Bruch bisher gewohnter Herangehensweisen. Die Bodenständigkeit beispielsweise, ist ein fest verankerter Wert für Förch und diesen gilt es behutsam neu zu interpretieren. Die Erarbeitung der strategischen Zielsetzung wird

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G. Heilemann et al.

mit dem Prozess der Markenschärfung sowie der Digitalisierung von Geschäftsprozessen und Wertschöpfungsmodellen parallelisiert. Als Agenturpartner entschied man sich bewusst für einen digital denkenden Spezialisten. „Es ist nicht egal, mit wem man denkt.“ – Christian Kaspar Schwarm

Die Agentur darf hier nicht die Funktion eines Dienstleisters einnehmen, sondern muss als Partner auf Augenhöhe funktionieren. Hier gilt dieselbe Regel: Der Erfolg eines Projektes liegt in der persönlichen Beziehung zum Kunden. Erfolg entsteht durch Beziehungen zu anderen Menschen, durch die wir einen wertvollen Zugang zu neuem Fachwissen und Fähigkeiten erhalten. Grundlage für Führungskräfte und Agenturen ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fundament der Unternehmenskultur. Identifizieren Sie die kritischen Erfolgsfaktoren. Es wurde viel Zeit in die kulturellen Aspekte investiert, um so viele Menschen wie möglich auf die Reise mitzunehmen. Vertrauen schaffen ist die Basis für die Akzeptanz der Strategie und Markenschärfung. Ein außendienstgetriebenes und auf den Verkaufserfolg des Einzelnen zentriertes Modell bedarf riesiger Anstrengungen, um alle mitzunehmen. Daher ist das Commitment des Unternehmers und des Managements zum Wandel unabdingbar, schon allein, um über alle Führungsebenen hinweg konsistent, transparent und vertrauensvoll zu kommunizieren. Denn sie sind die Markenbotschafter für die jeweiligen Abteilungen und Wegbereiter für die Überführung in den Alltag. Zusammen mit Förch wurde eine Markenstrategie entwickelt, die radikal direkt ist und vom Manager bis zum Sachbearbeiter verstanden und gelebt werden kann. Die Markenwerte reduzieren sich auf drei Ausprägungen (mehr kann sich übrigens ohnehin keiner merken), die eine Haltung beschreiben und somit auf alle Geschäfts- und Aufgabenbereiche angewendet werden können. Hierbei verzichten wir auf enzyklopädische Auswüchse von Powerpoint-Folien: Acht Folien reichen aus. Für eine nachhaltige Verankerung der Werte, werden Teilaspekte in die Mitarbeiterziele und Performance-Gespräche eingebunden. Es wird Ihren Mitarbeitern helfen, ehrlicher und klarer in der Kommunikation zu sein und – wo notwendig – harte Entscheidungen im Sinne der Zielerreichung zu treffen.

16.3 Ein eShop allein ist nicht die Lösung Es geht um digitale Grundlagenarbeit: Kanalbetrachtung (Single Channel, Multi Channel, Omni Channel), soziale Medien, eCommerce. Man wendet den Blick von außen an, um zu erkennen, was gebraucht wird. Aber was heißt das? Digitalisierung bedeutet Mehrwerte zu schaffen. Im Kern muss eine Lösung natürlich hoch performant verkaufen und die Produkt- und Serviceauswahl optimal unterstützen. Digital muss daher immer aus der Kundenperspektive gedacht werden.

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„Wer glaubt, wenn alle technischen Aspekte gelöst sind, dass es dann funktioniert, irrt gewaltig. Emotionale Kanalkonflikte können das ganze Unterfangen der Digitalisierung zerschießen.“ – Gerhard Heilemann

Das typische Abteilungsdenken überwinden Sie erst, wenn Sie Geschäftsprozesse von A bis Ende betrachten. Und hier werden Sie sich der nächsten Herausforderung stellen. Die Fürstentümer müssen netzwerken und kollaborieren. Altgedienten Führungskräften muss man beibringen, dass Hierarchie sich nicht mit diesen neuen Rahmenbedingungen verträgt. Es gibt nicht mehr „deine Leute“ und „meine Leute“. Projekte müssen in Zukunft völlig losgelöst von jeder Hierarchie gedacht werden, denn nur so schaffen Sie es, die derzeitigen Geschäftsmodelle und -prozesse zu entwickeln und zu überarbeiten. Digital ist gnadenlos. Was beim Kunden keinen klaren (Mehr-)Wert erzeugt, fällt unweigerlich durch. Sind wir kompliziert, zieht der Kunde weiter. Denn jeder dieser Geschäftsprozesse wirkt markenbildend – vom ersten Vorstellen beim Kunden bis zum transaktionalen Abschluss. Jeder Geschäftsprozess ist aus Kundensicht zu durchdenken und zu gestalten. Dabei sollte man sich immer wieder folgende Fragen stellen: Ist die Marke durchgängig spürbar? Weist der Prozess eine Lücke auf? Dabei sollte Ihnen bewusst sein, dass Sie Baustellen identifizieren werden, denen Sie in den letzten Jahrzehnten keinerlei Beachtung geschenkt haben. Und schon haben Sie das nächste Projekt. Das Wertvollste ist – neben Ihrer Marke und der Positionierung – die Datenbasis zu Ihrem Produkt und Ihrem Kunden. „Shit in, shit out“. Leider ist das Datenthema nach wie vor nicht durchgängig verstanden worden. Um digital erfolgreich zu sein, ist es zwingend erforderlich, die Produkte und Dienstleistungen datentechnisch so zu modellieren, dass diese über alle Kanäle absolut konsistent zu jedem Zeitpunkt verfügbar sind. Denken Sie erst dann über die Orchestrierung Ihrer Touchpoints nach. Bedenken Sie auch zu jederzeit, dass Markenbildung zunehmend über Influencer funktioniert. Dazu zählen im Kontext Mittelstand/B2B insbesondere Mitarbeiter, Partnerunternehmen und (potenzielle) Bewerber. Analog zur Herangehensweise aus der Entwicklung des Markenbildes ist auch hier radikal einfach zu denken. Wo bringt mich Digitalisierung voran? Und wo kann ich mit Quick Wins Akzeptanz schaffen und den „Vertrauensbeweis“ bei Mitarbeiter und Kunde antreten?

16.4 Verantwortung übertragen und Messbarkeit herstellen Digitalisierung bedeutet Verhaltensänderung in Organisationen. Trotz dieser schönen neuen und dynamischen Welt ist es unerlässlich, Marke physisch erlebbar zu machen, Ziele zu setzen und diese konsequent mit einer guten Fehlerkultur zu verfolgen. Das beschriebene Handeln aus Kundenanforderungen heraus bedeutet, zusammenzuarbeiten – und zwar auch in neuen und möglicherweise ungewohnten Konstellationen. Diese

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Zusammenarbeit muss zunächst angestoßen und dann intensiviert werden. Hierfür benötigt es die passenden Strukturen und KPIs, z. B. indem übergreifende, gemeinsame Ziele aus Kundensicht definiert werden, im Gegensatz zur isolierten Einzelpersonenund Abteilungssicht. Auch hier gilt wieder, dass Mitarbeiter auf der Reise mitgenommen werden müssen – er ist das eigentliche Markenversprechen an unsere Kunden. Beispiel

Während eines Kundengesprächs identifiziert der Außendienstler ein fehlendes Produkt im Sortiment. Die Beschaffungs-Abteilung wird eingeschaltet und versucht, nach bestem Wissen und Gewissen und zum besten Preis dieses Produkt zu besorgen. Dass es in diesem Fall grün-schwarz ist, obwohl die Unternehmensfarben rot-blau vorsehen, interessiert niemanden, da jeder für sein Silo das bestmögliche bewirkt hat. Im Sinne der übergreifenden Produktstrategie und Markenwahrnehmung ein Graus. Die Person in der Warenbeschaffung muss kein Produktdesigner oder Marketingspezialist sein. Es fehlt die Orientierung zur Handlungsfähigkeit im Sinne einer übergeordneten Guideline, eine reaktionäre Plattform, um die richtige Lösung zu finden. Bei der Markenschärfung wurden Mitarbeiter und Abteilungen in den Prozess aktiv involviert. Um eine Verhaltensänderung langfristig einzuleiten, sollte sich zum einen die Art zu arbeiten grundlegend wechseln, zum anderen sollten Bedürfnisse und Wünsche bei der Gestaltung des Arbeitsumfelds berücksichtigt werden. Architektur wirkt emphatisch, daher ist sie ein wesentlicher Bestandteil, wenn es darum geht, Marke intuitiv erlebbar zu machen und die Leitplanken zu setzen, um Markenwerte nachhaltig leben zu können. ◄ Der neuen Geschwindigkeit und den Ansprüchen der jungen Generationen bezüglich Unternehmenskultur und Arbeitsweise steht der Mensch im Wandel der Arbeitswelt gegenüber. Denn je wohler er sich bei der Ausübung seiner täglichen Arbeit fühlt, desto zufriedener und produktiver ist er. Wandel lässt sich nicht von oben befehlen, sondern funktioniert nur, wenn der Mensch eingebunden wird und die Architektur zum gewünschten Handeln motiviert. Damit ändern sich die Anforderungen an die physische Infrastruktur. Mit der Schaffung von Interaktions- und Begegnungsräumen werden diese Entwicklungen architektonisch beantwortet. Materialien und Formen werden aus der Markenerlebnisstrategie abgeleitet. Ebenso relevant und radikal einfach, um flexibel und schnell reagieren zu können. Zum Auftakt der neuen Markenstrategie wurde im Stammhaus der Theo Förch-­Gruppe der Eingangsbereich entsprechend der geschärften Identität umgebaut. Messestandarchitektur, POS und zukünftige Bürogebäude sind eine logische Konsequenz und zahlen auf ein einheitliches Markenerlebnis ein – sowohl intern, als auch beim Kunden.

16  B2B Markenbildung digital

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16.5 D  igitale Markenbildung hat ihren Schwerpunkt in digitalen Systemen Es geht darum, in allem was wir tun, schneller zu werden. Das ist eine logische Konsequenz, wenn man mit bestehenden Ressourcen mehr erreichen will. Wichtig dabei ist, dass der Geschwindigkeitsgewinn tatsächlich end-to-end realisiert werden muss, denn sonst werden nur neue Bottle Necks geschaffen. Beispiel

Es nutzt nichts, wenn ein Dienstleister Marketingmaßnahmen schneller umsetzt, wenn die zugehörigen Freigabe- oder Entscheidungsprozesse intern genauso lange dauern, wie früher. Das bedeutet: Alle Aspekte müssen schneller werden. ◄ Da digitale Systeme eine Symbiose aus Marke, IT und Botschaft sind, müssen wir Grundlagen schaffen, damit unsere zukünftigen, digitalen Touch Points auch aus Markensicht beherrschbar bleiben. Bestehende Corporate Design Manuals im PDF-Format oder sogar gebunden in einem Buch sind der Feind einer langfristigen Beherrschbarkeit. Kein Dogmatismus oder Abstands-/Safe-Raumwahnsinn. Es werden lediglich Leitplanken analog der Markenwerte definiert, die ein Maximum an Freiheit zur bestmöglichen Markenwahrnehmbarkeit und dem Erlebnis für die zur Verfügung stehenden Rahmenparameter am Touchpoint zulassen. 100 % verständlich und zugänglich für jeden, der damit arbeiten muss. Die Corporate Design-Richtlinien folgen konsequent der Herangehensweise der Markenstrategie. Oder hat Ihre Organisation die Zeit, jede Maßnahme nach Regelwerk zu überprüfen? Geben Sie Ihren Abteilungen und Auslandsgesellschaften die Handlungsfähigkeit, zu gestalten. Der Wille ist oft größer als man glaubt, wenn Sie die richtigen Tools zur Verfügung stellen. Denken Sie daran, dass die digitalen Maßnahmen bereits umfangreicher sind, als die regelwerkgetrieben klassischen. Warum? Jeder digitale Prozess (Bestellfunktion, Shop, Service-App, Kundenservice) muss in einem digitalen System technisch implementiert werden. Oft sind diese Systeme heterogen. Bei der Implementierung werden heute meist gestalterische Kopien auf Basis eines statischen CD Manuals erzeugt. Entwickelt sich die Marke weiter, sind diese Kopien ähnlich zu bewerten wie z. B. einzelne Verpackungen im Handel: Jede Kopie muss für sich separat angepasst werden. Mit jedem neuen Touchpoint wird man so für die Zukunft unflexibler. Die Marke verliert die Fähigkeit zur konsistenten Weiterentwicklung. Klassische CD-Manuals müssen daher durch moderne Tools ersetzt werden, in denen die Marke so definiert wird, wie sie später in den Zielsystemen zum Einsatz kommt. Es kommt somit der Aspekt der Haptik und der Experience hinzu, welche nun übergreifend definiert wird. Über moderne Tools kann ein Großteil kommunikativer markenbildender Module an genau einer Stelle definiert werden. Über einen technischen Prozess werden

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G. Heilemann et al.

diese Module dann in sämtliche Zielsysteme direkt eingebunden. Entwickelt sich die Marke visuell weiter, kann das an einer zentralen Stelle geändert werden und die Anpassung mit wenig Aufwand auf alle Touchpoints und Märkte ausgerollt werden. Innerhalb dieser Arbeitsweise lassen sich enorme Effizienzgewinne erzielen, indem Best-Practice-Ansätze insbesondere außerhalb der eigenen Branche analysiert werden und im Rahmen einer Rekombination auf die eigenen Anwendungsfälle adaptiert werden.

16.6 Nahtlos von der Grundlagenarbeit ins Tagesgeschäft Digitalisierung wird meistens als die Schaffung neuer Technologien und Prozesse verstanden. Also wird eine Maschine gebaut, der man bestimmte Fähigkeiten gibt. Aber was nutzt eine Maschine, die keiner bedienen kann? Beispiel

Was nutzt ein digitales Leadmanagement System, wenn wir organisatorisch nicht in der Lage sind, es zu benutzen? Nahezu jede digitale Lösung, jeder digitale Prozess ist potenzieller Teil einer digitalen Markenführung. Damit daraus eine positive Erfahrung wird, müssen wir uns inhaltlich end-to-end mit dem Prozess auseinandersetzen. Welche Inhalte sind Teil der Lösung? Wie sind sie gestaltet, wie ist die Tonalität? Welcher Mensch reagiert intern auf die Interaktion der Kunden? Inwiefern passt das mit dem Markenbild zusammen? ◄ Betrachten wir die Digitalisierung als rein technische/systemische Prozesse, überlassen wir die Wirkung auf unsere Kunden dem Zufall. Digitale Markenführung ist die Wirkung des gesamten kommunikativen Ökosystems auf den Kunden. Das bedeutet für uns: radikal erkennbarer. Digitale Markenführung 2019 bedeutet also das Zusammenspiel aus IT, Marke und Botschaft/Service. Daher brauchen wir ganzheitliche Betriebsmodelle für unsere digitalen Lösungen. Das ist der Grund, warum die IT-Beraterfirmen Agenturen kaufen. Es geht um die inhaltliche Ausgestaltung der Kanäle.

16.7 U  nsere 4 Denkanstöße für ein digitales Markenbild im Wandel 1. Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Marke und den Markenwerten und schaffen Sie eine glasklare Markenpositionierung. Radikal fokussiert. 2. Investieren Sie viel Zeit in die kulturellen Aspekte: Versammeln Sie so viele Menschen wie möglich und schaffen Sie eine gemeinsame Vision, beginnend beim Management und endend bei der Sachbearbeitung. Radikal relevant.

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3. Um digital erfolgreich zu sein, ist es zwingend erforderlich, die Produkte und Dienstleistungen, datentechnisch so zu modellieren, dass diese über alle Kanäle absolut konsistent zu jedem Zeitpunkt verfügbar sind. Radikal erkennbarer. 4. Digitalisierung bringt Mehrwerte. Setzen Sie auf Standards und schaffen Sie regelmäßig Quick Wins, um Akzeptanz zu ernten und den „Vertrauensbeweis“ anzutreten. Radikal schneller.

Haltung zeigen: Wie Sie eine starke Arbeitgebermarke entwickeln

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Rotraud Diwan

17.1 Gute Beziehungen brauchen Vertrauen Die Zukunft der Arbeit kommt nicht. Sie ist da. Schon heute arbeiten Menschen Hand in Hand mit Robotern, die sich nicht mehr abgeschirmt hinter Panzerglas oder in Drahtkäfigen drehen. Maschinen übernehmen Routinearbeiten und es geht nicht mehr um die Frage, ob Jobs wegfallen, sondern welche, wie viele und bis wann. Parallel dazu entstehen neue Jobs, von denen heute noch niemand weiß, welche Kompetenzen dafür notwendig sind. Aber auch das ist nicht neu: Wer ahnte 1980 schon, dass es mal Service-Designer*innen geben würde, Expert*innen für Usability oder Chief Transformation Officers. Wie auch immer es weitergeht – fest steht, dass sich jeder Job in immer kürzer werdenden Intervallen verändert. Fest steht auch, dass das intensive Miteinander von Mensch und Maschine das neue Normal ist. In einer Welt, die eh schon volatil, ungewiss, komplex und mehrdeutig ist, kommen weitere Faktoren der Veränderung hinzu: dezentrales Arbeiten in virtuellen Teams, Teilzeitarbeit und neue Formen der Organisationsstruktur bis hin zur Auflösung fester Vertragsbindungen wie man sie heute in klassischen Vollzeit-Jobs findet. Organisationen können in dieser Welt ein Anker sein für Menschen, ein stabiler – wenn auch in sich beweglicher – Rahmen, auf den man sich verlassen kann. Das heißt aber im gleichen Atemzug, dass Organisationen sich klar positionieren und erkennbar Haltung zeigen müssen – nicht nur im Hinblick auf ihren Markt, die Produkte oder Dienstleistungen, sondern vor allem als Arbeitgeber: Warum sind wir da? Welchen Zweck erfüllen wir für die Gesellschaft? Was bieten wir denen, die mit uns – nicht für uns – arbeiten möchten? Wie gehen wir als Organisation um mit Themen wie Nachhaltig-

R. Diwan (*) Hi! Employer Strategies GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_17

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R. Diwan

keit oder lebenslangem Lernen? Wie mit Vielfalt und Inklusion? Diese Fragen kommen aus dem Inneren der Organisation – von den Mitarbeiter*innen. Und sie kommen bei einem Vorstellungsgespräch auf den Tisch. Beide Gruppen brauchen Antworten. Die einen zur kontinuierlichen Bestätigung, dass sie am richtigen Ort sind. Die anderen für eine Entscheidungsfindung. Klar: Der Job muss interessant sein, damit der erste Schritt der Bewerbung getan wird. Es sind jedoch die Antworten auf die großen Fragen, die die Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag setzen. Diese Antworten ermöglichen den Abgleich der persönlichen Werte mit dem Wertekanon und der Kultur der Organisation. Gibt es einen gemeinsamen Nenner, dann kann das Miteinander gelingen. Passt in dieser Hinsicht so gar nichts zusammen, wird es nicht funktionieren. Dieser Abgleich wird aus der Unternehmensperspektive gespeist, aus den Unternehmenswerten und der Kultur. Er wird beflügelt von einer starken Positionierung als Arbeitgeber. Auf dieser Basis kann Vertrauen entstehen  – und damit die Grundlage für starke Verbindungen zwischen Mensch und Organisation. Das Konzept von Branding greift dabei viel zu kurz: Eine schöne Verpackung wird nicht helfen, wenn das Produkt am Ende das Versprechen nicht hält. Das mag beim Erwerb von Joghurt oder Zahnpasta nicht so relevant sein. Wenn es aber um einen Job geht, an dem eventuell der Lebensmittelpunkt einer ganzen Familie hängt, sollten Erwartungshaltung und Realität zusammenpassen. Da sollte genau das drin sein, was draufsteht. Deshalb geht es beim Thema Arbeitgebermarke auch um mehr als Kommunikation. Es geht um das Gestalten von Marken-Erlebnissen an jedem einzelnen Kontaktpunkt zwischen Mensch und Unternehmen – um Konsistenz entlang der gesamten Employee Experience. Dazu ist ein Umdenken in den Organisationen erforderlich. Weg vom reinen profitgetriebenen Shareholde Value hin zur Menschlichkeit. Erst wenn sich Menschen in Organisationen wirklich als ganzer Mensch willkommen und wertgeschätzt fühlen und weder Human Ressource noch Asset sind, werden sie auch gern all das auspacken, was in ihnen steckt: zum Beispiel Begeisterung, Eigeninitiative, unternehmerisches Denken, Team­ spirit, Innovationsgeist, Fairness. All das, was eine Organisation so dringend braucht, um im Markt zu bestehen. Auf jeder Ebene, für jede einzelne Aufgabe. Wenn Vertrauen da ist, dann können Verbindungen wachsen. Employer Relations, über die geredet wird. Im Familien- und Freundeskreis. Genau an den Kontaktpunkten, an denen Menschen anderen Menschen und ihrem Urteil vertrauen. Genau da, wo Mitarbeiter*innen als Botschafter*innen der Arbeitgebermarke als Multiplikator*innen wirken können.

17.2 Entwicklung einer Employer Value Proposition (EVP) Wie entwickelt eine Organisation eine starke Arbeitgebermarke? Eine Arbeitgebermarke, die echtes Abgrenzungspotenzial bietet, dieses in den Konstanten der Unternehmenskultur verankert und auch den Zukunftsaspekt einbindet? Im Spannungsfeld aus „Das macht uns einzigartig“, „Das hat uns bisher ausgemacht“ und „Dahin streben wir in Zukunft“ lässt

17  Haltung zeigen: Wie Sie eine starke Arbeitgebermarke entwickeln

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sich eine Arbeitgebermarken-positionierung – oder Employer Value Proposition – etablieren, die ausgehend von den Menschen in der Organisation Leitplanken setzt für das ­Miteinander. Und damit als Navigationsinstrument bei fast allen Entscheidungen der Organisation mit herangezogen werden kann.

17.2.1 Begriffsklärung Employer Brand – Employer Value Proposition Die gute Information zuerst: Jede Organisation, die Mitarbeiter*innen hat, hat auch eine Employer Brand. Das ist  – salopp formuliert  – das, was die Welt da draußen über das Unternehmen als Arbeitgeber denkt und weiß. Das Fremdbild. Dieses speist sich z. B. aus Berichten von Menschen, die dort arbeiten, denn im Freundes- oder Familienkreis wird über die Arbeit, den Arbeitstag berichtet. Aber auch Lieferant*innen und Kund*innen prägen dieses Bild, da sie in Kontakt stehen mit den Mitarbeiter*innen. Eine der Aufgaben des Employer Brandings ist die Einflussnahme auf dieses äußere Bild der Marke. Das gelingt nur, wenn es ein klares Selbstbild gibt, wenn klar ist, wofür die Organisation als Arbeitgeber steht: Wenn es eine Employer Value Proposition gibt. Sie positioniert die Organisation als Arbeitgeber und beschreibt die Themen und Attribute, für die die Organisation bekannt sein möchte. Je klarer dieses Selbstbild definiert ist, je konsequenter es an jedem einzelnen Kontaktpunkt zwischen Mensch und Organisation erlebbar ist und konsistent kommuniziert wird, desto größer ist die Chance, dass dieses Selbstbild über die Grenzen der Organisation den Weg nach außen findet. Über die Mitarbeiter*innen und über externe Maßnahmen. Bis zu dem Punkt, an dem die Welt da draußen die Organisation mit exakt diesen Themen und Attributen als Arbeitgeber assoziiert.

17.2.2 Anforderungen an eine Employer Value Proposition Eine starke Positionierung als Arbeitgeber sollte die folgenden Kriterien erfüllen: • • • •

bietet klares Abgrenzungspotenzial zu Wettbewerbern, unterstreicht glaubwürdig die derzeitigen Stärken des Arbeitserlebnisses, berücksichtigt und beschreibt bereits heute die Zukunftsperspektive, spricht unterschiedliche Zielgruppensegmente an und ist für diese attraktiv und relevant.

Die erfolgreiche Entwicklung und Implementierung einer Arbeitgebermarke ist keine Raketenwissenschaft: die bewährten Methoden und Modelle folgen dem klassischen Dreiklang aus Analyse/Strategie/Umsetzung. Eines wird dabei jedoch häufig außer Acht gelassen: Der Erfolg eines solchen Projektes steht und fällt mit der Beteiligung der Geschäftsführung. Also weit vor dem ersten kritischen Blick auf Unterlagen, Daten und Fakten. Es braucht gute Antworten auf die Frage, die mit Sicherheit kommt: Warum sollten wir das tun? Warum sollen wir dafür Budget einplanen? Die Argumentation auf Basis

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von messbaren Kenngrößen und Ergebnissen frei verfügbarer Studien zur Wirkungsweise von Employer Branding Maßnahmen hat sich bewährt. Nur wenn die Geschäftsführung die Notwendigkeit für die Entwicklung oder weitere Arbeit an der Arbeitgebermarke erkennt und diese aktiv unterstützt, bekommt das Projekt die Aufmerksamkeit, die es benötigt. Abgesehen von Geschäftsleitung und HR braucht es weitere Köpfe am Tisch: Marketing, interne Kommunikation und – wenn vorhanden – Verantwortliche aus dem Bereich Digital Transformation. Dazu Vertreter*innen aus den Geschäftsbereichen. Falls die Organisation international aufgestellt ist, sollten auch Vertreter*innen der Ländergesellschaften dabei sein. Der Projekt Kick-off ist auch der Kick-off für eine spätere Implementierung. Je besser die Stakeholder eingebunden sind, desto leichter fällt der spätere Roll-Out.

17.2.3 Phase 1 // Analyse Während der Analysephase geht es zunächst um einen ehrlichen Blick auf die IST-­Situation mit all ihren Chancen, Risiken, Stärken und Herausforderungen. Dabei sind vorhandene Unterlagen wie Leitbild, Unternehmensstrategie und HR-Strategie wichtige Impulsgeber. Warum gibt es die Organisation überhaupt? Auch interne Betrachtungen zur Marktsituation und Branchentrends kommen unter die Lupe. Dazu Ergebnisse von Befragungen der Mitarbeiter*innen, Zahlen und Daten rund um die Zusammensetzung der Belegschaft, Fluktuation, Anzahl der ausgeschriebenen Positionen, interne Mobilität. Kurz: Alles, was in der Organisation los ist. Dann geht es an Szenarien der Soll-Perspektive, die in der Business-Strategie vorgezeichnet ist. Wohin soll, kann oder muss sich die Organisation in Zukunft bewegen, will sie weiterhin erfolgreich im Markt agieren? Neues Businessmodell? Neue Geschäftsfelder? Die entscheidenden Fragen an dieser Stelle sind: Welche Konsequenzen hat das für die Mitarbeiter*innen, die bereits da sind? Welche Kompetenzen braucht es künftig? Passt die heutige Kultur dazu? Außerdem ist es ratsam, bei der Analyse auch einen Blick auf aktuell laufende oder geplante Change- und Transformationsprozesse zu werfen, um mögliche Synergie-Effekte zu nutzen. Im Idealfall lassen sich Beteiligung der Mitarbeiter*innen und interne Kommunikation aufeinander abstimmen. In dieser Phase sollten auch relevante, messbare Kenngrößen identifiziert werden, anhand derer der Erfolg gemessen werden soll. Falls es noch keine Erhebung gibt, ist jetzt eine gute Gelegenheit für eine Nullmessung. Welche Kennzahlen infrage kommen, ist in jeder Organisation unterschiedlich. Häufig sind es: • • • •

Zeit, die zum Besetzen von Engpasspositionen benötigt wird, Kosten für eine Einstellung, Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen Anzahl von Krankentagen

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• Verweildauer im Unternehmen • Fluktuation • Kündigungen während der Probezeit Messen lässt sich vieles. Nicht alles ist sinnvoll und für die Situation der Organisation relevant. Mit 5–8 Kennzahlen, die die wichtigsten organisationsspezifischen Herausforderungen abbilden, lässt sich gut arbeiten.

17.2.3.1  Beteiligung der Mitarbeiter*innen und Führungskräfte Abgesehen von der Analyse bestehender Daten werden über eine quantitative Forschung die Mitarbeiter*innen im Prozess der Arbeitgebermarkenentwicklung beteiligt: In Fokusgruppendiskussionen geht es um Themen wie: Was macht das Arbeiten hier besonders? Warum haben Sie sich für dieses Unternehmen entschieden? Warum bleiben Sie? Über die Zusammensetzung der Fokusgruppen lassen sich die Blickwinkel ganz unterschiedlicher Zielgruppensegmente identifizieren – z. B. aus unterschiedlichen Standorten, schwer zu besetzenden Profilen, Produktion versus Unternehmenszentrale, Mitarbeiter*innen mit über 10 Jahren Betriebszugehörigkeit versus Mitarbeiter*innen direkt nach der Probezeit. Bei internationalen Organisationen kommen hier die Blickwinkel aus unterschiedlichen Ländern oder Regionen hinzu. Häufig werden auch Online-Befragungen der Mitarbeiter*innen durchgeführt. Dabei lassen sich über die Ausgestaltung der Fragebögen ebenfalls solide Einblicke gewinnen. Die Qualität der Ergebnisse hängt hier ganz erheblich von der didaktischen Qualität der Fragen ab, da es keine begleitende Moderation gibt. Zudem lässt sich über Interviews mit dem oberen Management ein gutes Bild der gewünschten Situation gewinnen: Wohin entwickelt sich die Organisation? Wie interpretiert die Führungskraft die Unternehmensstrategie? Welche Veränderungen stehen an? Welche Herausforderungen bringt das mit sich? Die Antworten sind hier nicht so homogen, wie man vermuten möchte. Gerade das macht diese Perspektive so wichtig – hier zeigen sich die ersten Anzeichen der Themen, die das Organisationsgefüge eventuell in der Veränderung oder Entwicklung bremsen. 17.2.3.2  Wettbewerbsanalyse Was machen die anderen? Unter dieser großen Fragestellung werden die Arbeitgeberversprechen von Organisationen des direkten (Unternehmen gleicher Branche) und indi­rekten Wettbewerbs (Unternehmen anderer Branchen, die die gleichen Profile suchen) analysiert. Dazu gehören Karrierewebsite, Social-Media-Aktivitäten, Rankings auf Bewertungsplattformen wie Kununu, eventuell Kooperationen mit Hochschulen – alles, was von außen zugänglich und sichtbar ist. Untersucht werden sowohl inhaltliche Aspekte (z. B. Tonalität, Bilder, Filme, Kernaussagen), aber auch Funktionalität und Usability. Das Ziel dieser Übung ist es, die Positionierungen der Wettbewerber zu verorten, um dann eine strategische Entscheidung für die eigene Positionierung zu treffen. Wichtig ist hier der Einsatz von standardisierten Analysetools als Bewertungsgrundlage, damit eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet ist.

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17.2.3.3  Zielgruppenanalyse Was erwarten die Menschen, die zum Unternehmen passen, von einem Arbeitgeber? Wer passt überhaupt im Hinblick auf Persönlichkeit, Wertepräferenzen, Kompetenzen und Karriereambitionen? Es ist erstaunlich, wie wenig konkret das Bild der idealen Kandidat*innen häufig ist. Denn erst, wenn klar ist, wer genau gesucht wird, kann eine Suche auch erfolgreich sein. Die Beschäftigung mit der Zielgruppe kann also gar nicht intensiv genug ausfallen. In der Zielgruppenanalyse arbeiten immer mehr Unternehmen mit so genannten Personas. Das sind fiktive prototypische Stellvertreter*innen einer bestimmten Gruppe von Mitarbeiter*innen. Statt der distanzierten klassischen Zielgruppenbeschreibung aus Rahmendaten (z.  B.  Frauen und Männer zwischen 25 und 28, in Ballungsräumen lebend, mit Hochschulabschluss in einem der MINT-Fächer) haben HR-Personas einen Namen, sind in einer konkreten Lebenssituation, bringen eine bestimmte Motivation und Ambition in Richtung Karriere mit, verfügen über persönliche Stärken und Herausforderungen und eine Erwartungshaltung einem Arbeitgeber gegenüber. Dazu haben sie Präferenzen im Hinblick auf das Medienverhalten. Für die Entwicklung von Personas werden Interviews mit idealtypischen Vertreter*innen des jeweiligen Zielgruppensegments durchgeführt. Häufig sind das die Mitarbeiter*innen, von denen man gern mehr hätte im Unternehmen. Wenn sich über die Arbeit an den Personas klarer abzeichnet, was diese Menschen von ihrer Arbeit und einem Arbeitgeber erwarten, kann die Organisation prüfen, was sie davon schon bietet. Und was wie eventuell in Zukunft bieten müsste, um für genau diese Zielgruppe interessant zu sein. Dabei geht es nicht nur um interne Leistungspakete, Arbeitsbedingungen, Arbeitsumfelder oder Extras. Mittelständische Unternehmen, die in länd­ lichen Regionen angesiedelt sind, kooperieren beispielsweise mit den Städten oder Kommunen, um die Betreuung des Nachwuchses in Kitas sicherzustellen. Für Familien mit Kindern eines der eher wichtigen Themen, wenn es darum geht, den Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verlegen. Bei der Entwicklung von Personas wird häufig auch klarer, über welchen Kommunikationskanal diese Zielgruppen mit relevanten Inhalten erreicht werden können. Gerade die passiven Kandidaten – also diejenigen, die sich nicht aktiv um eine neue Position bemühen – sind eine Herausforderung: Sie sind nicht auf den üblichen Jobportalen, gehen nicht auf Karrieremessen und schauen sich auch keine Karrierewebsites im Internet an. Hier sind dann Kommunikationsstrategien erforderlich, die dafür sorgen, dass diese Menschen immer wieder über spannende Inhalte der Organisation „stolpern“. Online. Und offline.

17.2.4 Phase 2/Entwicklung und Validierung der EVP In diese Phase der EVP-Entwicklung ist das Unternehmen stark gefordert: einerseits werden Kapazitäten benötigt für den gemeinsamen EVP Workshop. Und auch für die anschließende Validierung ist die erneute Beteiligung der Mitarbeiter*innen erfolgskritisch.

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17.2.4.1  EVP Workshop Die Entwicklungsarbeit für die Arbeitgeberpositionierung findet in einem Workshop statt. Zu diesem Workshop sollten wieder möglichst alle relevanten Stakeholder eingeladen werden. Auch die Teilnahme der Geschäftsführung ist wichtig: Einerseits ist das Gewinnen und Binden von Mitarbeiter*innen mittlerweile geschäftskritisch und damit ein Thema für die oberste Führungsebene. Andererseits ist die sichtbare Teilnahme am Entwicklungsprozess ein starkes Signal in die Organisation hinein. Ziel des Workshops ist es, eine differenzierende Positionierung zu erarbeiten. In einem Unternehmen ist selten nur ein Thema wichtig. Deshalb werden zusätzlich 3–4 Themenfelder identifiziert, die für das Arbeitserleben in der Organisation relevant sind. Darüber hinaus gilt es, ein gemeinsames Zukunftsbild der Organisation zu entwickeln und zu diskutieren, mit wie viel Veränderung die Organisation im laufenden Betrieb umgehen kann. Das Zukunftsbild der Arbeitgebermarke beinhaltet auch immer die konkrete Aufforderung, Veränderungen anzustoßen. Sei es im Bereich der Führung, der Flexibilisierung von Arbeitsmodellen oder in der Kommunikation. Außerdem geht es darum, in der Gruppe Klarheit darüber zu gewinnen, was die Organisation von den Mitarbeiter*innen erwartet. Und was sie im Gegenzug bietet. Um diese Erkenntnisse gemeinsam zu gewinnen, werden im Workshop die signifikanten Ergebnisse aus der Analysephase präsentiert und diskutiert. Dabei kommen unterschiedliche Moderationstechniken und Interaktionsformate zum Einsatz. Dafür gibt es kein richtig oder falsch – eine stimmige Gesamtdramaturgie für den Workshop ist allerdings notwendig. Und eine erfahrene Moderation. Mit den Ergebnissen aus dem Workshop kann dann die erste Version einer Employer Value Proposition formuliert werden. 17.2.4.2  Validierung Der Entwurf der Employer Value Proposition sollte unbedingt innerhalb der Organisation validiert werden. Dazu empfiehlt sich wieder die Durchführung interner Fokusgruppen – idealerweise in der gleichen personellen Besetzung wie in der Analysephase. Während der Gruppendiskussion wird der Entwurf der Employer Value Proposition vorgestellt, es geht dabei um möglichst konkretes Feedback zu Themen und Formulierungen. Die erneute Beteiligung der Mitarbeiter*innen in dem EVP-Entwicklungs-Prozess fördert die Akzeptanz der Ergebnisse. Zudem sind die Fokusgruppen auch als erste Aktivität im Rahmen der internen Aktivierung der Arbeitgebermarke zu verstehen: Die Teilnehmer*innen der Fokusgruppendiskussionen werden sicher mit den Kolleg*innen über die Themen und ihre Erfahrung aus dem Workshop sprechen. Damit übernehmen sie eine wichtige Multiplikationsfunktion. Umso wichtiger ist es deshalb, dass die Fokusgruppen sauber vorbereitet und gut moderiert werden. Und Spaß machen. Das gesammelte Feedback aus den Fokusgruppen sollte dann im Projektteam diskutiert werden. Nicht alle Änderungswünsche werden sinnvoll und zielführend sein. Ein Teil des Feedbacks wird aber in jedem Fall eingearbeitet werden müssen. Die überarbeitete Version der Employer Value Proposition benötigt dann die Freigabe durch die Geschäftsleitung.

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17.2.5 Phase 3 // Aktivierung Wenn die Employer Value Proposition freigegeben ist, fängt die eigentliche Arbeit erst an. Jetzt geht es daran, die Inhalte und Themen erlebbar zu machen. Dazu braucht es ein Kreativ-­Konzept und Kernbotschaften für die konsistente Kommunikation nach innen und außen. Da denkt man zunächst mal an einen Big Bang mit hoher Sichtbarkeit am Stichtag X. Das kann man machen, es geht jedoch noch um einiges mehr: Die Inhalte und Themen sollten an allen relevanten Kontaktpunkten zwischen Mensch und Organisation erlebbar sein: In der Kommunikation, aber auch im Verhalten der Führungskräfte und in den HR-Prozessen der Organisation. An dieser Stelle hat es sich bewährt, eine Touchpoint-Analyse zu erstellen und sich unterschiedliche Prozessfelder anzusehen wie z. B. Recruiting, Onboarding, Learning & Development oder interne Kommunikation. Wie sind diese Prozesse strukturiert? Sind die Attribute der Arbeitgebermarke im Prozess erlebbar? Wird innerhalb der Prozesse arbeitgebermarkengerecht kommuniziert? Wo hakt es? Nach der Touchpoint-Analyse lassen sich die dringendsten Aktionsfelder priorisieren. Die Implementierung der Employer ­Value Proposition in die Organisation kann beginnen. Danach kann die externe Kommunikation der Markenthemen auf eigenen Kanälen anlaufen, z.  B. auf der Karrierewebsite, auf Social-Media-Kanälen, Karrieremessen und events. Dazu werden zielgruppenspezifische Kampagnen entwickelt, die die Sichtbarkeit der Organisation als Arbeitgeber erhöhen soll. Vor allem bei den bereits erwähnten passiven Kandidat*innen  – in der digitalen und analogen Welt. Gerade die digitalen Kanäle bieten gute Möglichkeiten, per Tracking das Userverhalten zu analysieren und die eigenen Angebote zu optimieren. In Sachen externer Kommunikation und Vermarktung der Angebote kann HR sich vieles vom Corporate Marketing abgucken: Wenn Jobs mit der gleichen Professionalität vermarktet werden wie Produkte, eröffnet das die Chance auf mehr Sichtbarkeit. Und damit auf mehr Bewerber*innen. Wenn dann an den internen Touchpoints im Recruiting und späteren Onboarding die geweckte Erwartungshaltung über Kommunikation, Kultur und Prozess-Erleben bestätigt wird – herzlichen Glückwunsch. Dann ist die Employee Experience eine runde Sache und die Employer Brand da draußen ist sehr dicht dran an dem, was die Organisation als ihre Employer Value Proposition definiert hat.

Teil V Digitale Geschäftsmodelle

Potenzialanalyse zur Chancenerkennung der Digitalisierung

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Interview mit Michael Dembski, Prokurist des mittelständischen Handelshaus Gebr. Hilgenberg und Florian Hausner, Sohn des geschäftsführenden Gesellschafters und designierter Nachfolger Michael Dembski und Florian Hausner Harald R. Fortmann: Herr Dembski, was war ausschlaggebend für die Hinterfragung der Prozessabläufe, die vor dem Wandel vorherrschten? Wer hat in Ihrem Unternehmen das Bedürfnis zum Wandel erkannt? Michael Dembski: Auf der Gesellschafterversammlung wurde mir als Prokurist und Vertriebsleiter der Auftrag gegeben das Unternehmen auch für die Zukunft zu rüsten. Ich soll dafür sorgen, dass dieses Unternehmen auch für die nächste Generation so aufgestellt ist, dass es auch die nächsten 134 Jahre – auch wenn wir das alle persönlich wahrscheinlich nicht mehr erleben werden – aber zumindest für die nächste und übernächste und überübernächste Generation gut aufgestellt ist. Und dazu muss man doch gewisse technische Fortschritte mit der Digitalisierung eingehen. Anders als bei einem Konzern, wo mal schnell Millionen für eine neue Software ausgegeben werden ohne Nachzudenken, ob man diese wirklich braucht, achten wir hier natürlich auf die Kosten und auf den Nutzen einer jeden Umstellung. Es war auch kein Impuls, der den Startschuss für die Digitalisierung gegeben hat. Es war vielmehr ein Prozess, der von verschiedensten Seiten angestoßen wurde. Teilweise war es durch Kunden, die an uns herangetreten sind und gefragt haben ob wir bestimmten Anforderungen nachkommen könnten. Aber auch Lieferanten, die Fragen gestellt haben ob wir ihre neuen Prozesse abbilden können. Und natürlich dann auch durch verschiedene Gespräche mit befreundeten Unternehmen auf verschiedenen Netzwerk-Veranstaltungen

M. Dembski (*) · F. Hausner Hilgenberg GmbH & Co.KG, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_18

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oder Seminaren. Um den Kuchen fertig zu backen brauchen sie viele Zutaten – diese Zutaten sind nach und nach im Kopf zusammen gewachsen. Wir waren schon mit einem Warenwirtschaftssystem ausgestattet welches aber stiefmütterlich behandelt wurde. Dann kam noch der glückliche Zufall dazu, dass das Fraunhofer Institut zum damaligen Zeitpunkt durch Fördermaßnahmen der Europäische Union auch dieses Thema Digitalisierung im Mittelstand aufgenommen hatte. Wir haben durch einen glücklichen Zufall eine Verbindung mit ihnen bekommen. Das Fraunhofer Institut hat uns auf den Weg begleitet was in diesem Fall nicht einmal Kosten verursacht hat, weil das Programm Digitaler Mittelstand von der Europäischen Union gefördert wurde, wofür wir nach wie vor sehr dankbar sind. Und wie gesagt, so kamen diese Zutaten dann zusammen und es machte für uns Sinn hiermit anzufangen. Das Fraunhofer Institut hat uns sehr dabei geholfen zu analysieren was wirklich Sinn macht und vor allem Prioritäten festzulegen. Federführend lag das Projekt bei mir, aber wir haben von vornherein die Mitarbeiter eingebunden und einzelne identifiziert, die in dem jeweiligen Prozess unterstützt haben. Harald R. Fortmann: Wurde das Bedürfnis zum Wandel von allen im Unternehmen erkannt oder mussten einzelne erst noch überzeugt werden? Inwiefern wurde das Vorhaben einvernehmlich von der Führungsebene unterstützt und wodurch wurde ggf. noch Überzeugungsarbeit geleistet? Michael Dembski: Wir sind auf starke Widerstände in der Belegschaft gestoßen. Florian Hausner: Wir haben zum Großteil ältere und langjährige Mitarbeiter bei uns und so kam natürlich der Einwand, man habe das doch bisher erfolgreich immer so gemacht. Während der Veränderung haben aber alle dann gemerkt, dass die Digitalisierung einen Mehrwert bringt und sich nach und nach geöffnet. Michael Dembski: Die älteren wollen es natürlich gerne aussitzen, da sie teilweise nur noch ein paar Jahre haben. Die größte Herausforderung waren aber eher die Mitarbeiter mittleren Alters, die es sich in ihrem Bereich gemütlich eingerichtet hatten und keine Veränderungen wollten. Aber der einzelne musste sich hier dem Willen der meisten fügen; wir haben die Bedenken dennoch respektvoll zur Kenntnis genommen aber hier zum Wohle des Unternehmens und der Mehrheit der Mitarbeiter entschieden. Es geht nicht um Bequemlichkeiten es geht um den Fortschritt des Unternehmens. Harald R. Fortmann: Durch wen wurde die Digitale Transformation in ihrem Unternehmen verantwortet? Michael Dembski:

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Ich war sicherlich federführend tätig, wie für jedes Projekt bedarf es eines Verantwortlichen der den Hut aufhat und die Teilprojekte koordiniert und sich mit den externen Partnern wie hier das Fraunhofer Institut auseinandersetzt. Aber natürlich wurden die Mitarbeiter von vornherein eingebunden und haben ihren Beitrag sowohl bei der Konzeption neuer Prozesse als bei der Implementation und dem Feedback geleistet. Ich habe wiederum die Anforderungen gesammelt und das Budget für die Umsetzung im Auge gehabt. --Harald R. Fortmann: Wie wurde der Wille zum Wandel und die einzelnen Schritte an die Mitarbeiter kommuniziert? Wie haben Sie die Mitarbeiter mitgenommen, ausgebildet oder gar begeistert? Michael Dembski: Was der Bauer nicht kennt … war schon die vorherrschende Haltung. Wir waren teilweise ja sehr stark mit älteren Mitarbeitern besetzt und somit war auch teilweise eine Grundhaltung da, dass man die letzten Jahre gemütlich so weiter machen möchte wie bisher, was ja grundsätzlich auch sehr erfolgreich war. Ich meine das auch nicht wertend; vielleicht will ich in ein paar Jahren auch keine Veränderung mehr. Jede Veränderung erfordert natürlich einen Einsatz durch die Mitarbeiter und es ist an der Führungskraft klar zu stellen, dass es kein vielleicht gibt. Wir mussten uns verändern, um mit der Zeit zu gehen. Aber man sollte schon grundsätzlich ein offenes Ohr für die Mitarbeiter haben. Nicht alles was kritisiert wird, ist ohne Grundlage. Zumindest wenn man eine Veränderung ausprobiert hat, dann merken gerade die Mitarbeiter die täglich damit beschäftigt sind sehr schnell, wenn der neue Prozess nicht das erhoffte bringt. Das erfreuliche war, dass sobald wir losgelegt haben die Einstellung sich bei den meisten zum Positiven hin verändert hat und die Kolleg*innen sehr schnell gemerkt haben, dass diese Veränderung Arbeitsschritte vereinfacht und somit den eigenen Job effizienter gestaltet. Und wenn nicht, haben wir die Schraube auch zurück gedreht … Wenn ich zurückblicke, stelle ich auch fest, dass selbst ich negativ geprägt war. Immer wieder hört man ja Negatives zur Digitalen Transformation – sei es in Bezug auf die Vernichtung von Arbeitsplätzen oder dem mangelhaften Datenschutz. Daher war ich auch bemüht den Prozess positiv zu gestalten. Ich habe Analogien aus dem Privatleben genutzt. Wenn ich einen tollen neuen Fernseher kaufe, muss ich ihn auch erst einmal einrichten um dann in den Genuss des Bundesliga-Spieles zu kommen. Oder den neuen WLAN Router einrichten, um schnelles Internet zu haben. Mit solchen Analogien bekommt man Verständnis der Mitarbeiter und die Bereitschaft es einfach mal auszuprobieren. Nicht zu vergessen ist ja, dass wir kein Startup sind. Wir müssen diese Veränderungen im laufenden Geschäft umsetzen und das zusätzlich zu unserem Tagesgeschäft. Es ist also erst mal eine Mehrbelastung für jeden von uns. 10–15 % mehr Arbeit sind hier sicher angefallen, um dann effektiver zu arbeiten. Harald R. Fortmann:

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Vom Erkennen des Digitalisierungsbedarfs zur Potenzialanalyse – welche Maßnahmen haben Sie noch in Betracht gezogen und warum haben Sie sich für die Potenzialanalyse von Digital in NRW entschieden? Michael Dembski, Florian Hausner: Die Potenzialanalyse im Rahmen des Digital in NRW Programms, welche zusammen mit dem Fraunhofer Institut durchgeführt wurde, war für uns mehr oder weniger nur ein Teil der Bestätigung von Maßnahmen und Themen, die wir selber schon erkannt hatten. Die Potenzialanalyse hat zunächst einmal bestätigt, dass wir nicht ganz falsch gedacht haben und auf dem richtigen Weg waren. Und bei anderen Sachen hat uns diese Potenzialanalyse weitere sehr wertvolle Aspekte aufgezeichnet, Themen und Maßnahmen über die wir noch nicht nachgedacht hatten. Aber grundsätzlich hatten wir im Haus sowieso das, was passiert ist, schon angestoßen. Aber sicherlich noch nicht in dem Umfang oder in einigen Bereichen, nicht da, wo uns die Potenzialanalyse hingeführt hat. Der Prozess der Potenzialanalyse hat ungefähr ein halbes Jahr gedauert und wurde exzellent mit uns durchgeführt. Der Umfang umfasste banale Themen wie die Umstellung auf eine IP basierte Telefonanlage bis hin zu einem angepassten Warenwirtschaftssystem für unsere neuen Prozesse. Sie müssen verstehen, viele unserer Kunden arbeiten noch mit Fax-Bestellungen. Das müssen sie weiter anbieten – nur dass sie jetzt bei Eingang digitalisiert werden um sie dann in dem digitalen Bestellprozess zu integrieren. Klingt banal, führt aber zu erheblichen Prozessoptimierungen und geringerer Fehleranfälligkeit. Auch das Thema Buchhaltung und Bilanzierung wurde gemeinsam mit unserer Hausbank angegangen und so konnten wir z. B. die Gesellschafterversammlung zum Jahresabschluss 2018 viel früher und schneller durchführen – bereits Ende März 2019. Früher war unser Steuerberater mit seinem Team bei uns im Haus um den Jahresabschluss zu erstellen – heute kann er von seinem Büro aus alle Unterlagen abrufen. Die Transparenz ist hiermit auch für uns viel größer und vor allem aktueller. Harald R. Fortmann: Welche Herausforderungen haben sich im Verlauf ergeben und wie wurden diese gelöst? Michael Dembski: Einen Punkt kann ich hier nur hervorheben. Die Veränderung im Unternehmen bereitet den Mitarbeitern erst einmal eine starke Last neben dem Tagesgeschäft. Als Verantwortlicher müssen sie darauf achten ihren Mitarbeitern eine Verschnaufpause einzuräumen. Wir sind das Thema nun so angegangen, dass in einem Jahr ein Teilbereich des Unternehmens digitalisiert wird. Im darauffolgenden Jahr ein anderer Bereich. So kann der erste Bereich sich mit den Veränderungen anfreunden und mit uns wertvolle Erkenntnisse zu den neuen Prozessen teilen, so dass wir auf Grundlage dieser den nächsten Schritt gehen können. Für mich habe ich auch gelernt, dass ich nicht alles wissen muss. Viele Antworten waren auch mir nicht bekannt und von einer modernen Führungskraft wird auch kein Allwissen erwartet, sondern dass man gemeinsam oder mit externen Partnern offene Fragen

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klärt und so weiterkommt. Das offene Ohr für die Mitarbeiter und deren Sorgen ist wertvoller als ein geheucheltes Allwissen. Harald R. Fortmann: Was sind die wesentlichen Änderungen, die sich für ihr Unternehmen ergeben haben? Wie haben sich z. B. Arbeitsabläufe verändert? Ist der Bedarf an menschlichen Ressourcen geringer geworden oder haben sich einzelnen Tätigkeiten grundlegend verändert? Was ist die Empfindung der Mitarbeiter den Änderungen heute gegenüber? Michael Dembski: Die umgesetzten Maßnahmen haben eher dazu geführt, dass wir den momentanen Bestand an Mitarbeitern besser auslasten konnten, weil Standardaufgaben digitalisiert worden sind und so mehr Zeit für Vertrieb, Kundenbetreuung und so weiter freigemacht wurde. Ein Personalabbau ist keinesfalls erfolgt. Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Personalabbau. Im Gegenteil – es hat etwas mit besserer Kundenbetreuung und effizienteren Prozessen zu tun, so dass wir auch einmal Dinge anbieten können, eben, weil meine Mitarbeiter neue Freiräume bekommen haben. Das kann ich jetzt für andere Dienstleistungen bei meinen Kunden nutzen oder andere Services anbieten, die ich vorher nicht anbieten konnte und ist damit eine Umsatzsteigernde Maßnahme. Bei einer Mitarbeiterbefragung kam heraus, dass der Durchschnitt bei einer eins bis zehn Skala bei sieben oder acht im Durchschnitt war. Das war die Auswertung der Befragung. Nicht klar ist aber an sich, wie sie die Digitalisierung finden. Sondern wir sie mit ihr klarkommen. Man kann es nicht jedem recht machen, aber schauen Sie sich selbst um – unsere Mitarbeiter sind sehr zufrieden mit ihrem Arbeitgeber und dem Arbeitsumfeld. Harald R. Fortmann: Welche Tipps haben Sie für andere Unternehmenslenker, um Kraft und Energie für die Aufgaben und Herausforderungen des digitalen Wandels zu gewinnen? Michael Dembski: Nur keine Hektik. Wenn man es richtig machen will. Und Fehlerkultur zulassen. Ob ich immer die richtigen Entscheidungen privater Natur, beruflicher Natur, betrieblicher Natur treffe … Ich bin immer im Jetzt und Hier, auf dem jetzigen Kenntnisstand, auf die jeweilige Sachlage bezogen. Ich treffe eine Entscheidung und übermorgen bekomme ich eine neue Information, aufgrund der ich dann vielleicht meine Entscheidung von heute revidieren muss, weil ganz neue Erkenntnisse aufgetreten sind. Irgendwann muss ich auch als Vorgesetzter eine Entscheidung treffen, so dass ich diese Entscheidung vielleicht nächste Woche schon wieder ein Stück weit revidieren muss, weil ich ganz neue Erkenntnisse erlangt habe. Ich kann nicht hoffen oder erwarten alles einplanen zu können und keine ­Fehler zu machen und das muss ich auch meinen Mitarbeitern gegenüber gelten lassen. Das Wichtigste ist: übertreiben sie es nicht. Lassen sie ihre Mitarbeiter erst mal

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neue Technologien und Prozesse verstehen und in ihren Arbeitsfluss übernehmen. Wenn sie das begriffen haben, sind sie auch wertvolle Berater für die nächsten Schritte. Dazu kommt, dass wenn ich über Digitalisierung rede, dann muss ich langfristig denken, denn Technologien, die ich heute als fortschrittlich betrachte, sind morgen schon wieder überholt. Es geht also vielmehr um Ziele, Wege und Maßnahmen und nicht um Instrumente. Beispiel

Mit Dr.-Ing. Matthias Parlings, Abteilungsleiter Supply Chain Development & Strategy des Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML sprach Harald R. Fortmann über das Digital in NRW Programm des Institutes. Harald R. Fortmann: Was steckt hinter dem Programm Digital in NRW? Und was genau beinhaltet die angebotene Potenzialanalyse? Dr.-Ing. Matthias Parlings: Wir haben als Fraunhofer Institut vor vier Jahren eine Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums gemacht, wie die Industrie 4.0 Konzepte in den Mittelstand transferiert werden können, weil man die Sorge hatte, dass Deutschland mit dem Mittelstand als Rückgrat der Wirtschaft sozusagen den Sprung ins digitale Zeitalter nicht schafft. Wir daher diese Studie im Auftrag des Ministeriums durchgeführt, und da mehrere Maßnahmen empfohlen. Hierunter ist dann auch diese Ausschreibung gewesen, die wir dem BMWi vorgelegt habenum regionale Kompetenzzentren Mittelstand 4.0 aufzubauen, die die Digitalisierung des Mittelstands vorantreiben sollen. Eines dieser Zentren waren wir hier in Dortmund. In NRW haben sich dann drei sehr, sehr starke Player zusammengetan, nämlich der EWZ in Dortmund und in Ostwestfalen-Lippe der Cluster mit seinen wissenschaftlichen Einrichtungen am Fraunhofer Institut und wir, um hier Synergien zu bündeln und als starker Partner dem Mittelstand zur Seite zu stehen. Wir sind im Anschluss auf multiple Veranstaltungen gewesen um das Programm in Kooperation mit der DIHK, regionale Wirtschaftsförderungen oder auch Fachverbänden Interessenten vorzustellen. Wir selbst können jetzt keine Digitale Transformation durchführen aber können mit der Potenzialanalyse gerade Mittelständler die es sich nicht leisten können, oder davor scheuen teure Beratungen einzuspannen, diesen helfen erst einmal festzustellen was sich für diese verändern könnte. Wir haben weiterhin bei der Festsetzung der Priorität unterstützt, damit nicht alle Maßnahmen gleichzeitig angegangen wurden. Durch eine solche Veranstaltung sind wir auch mit Gebr. Hilgenberg in Kontakt gekommen. Die Branche des Unternehmens ist uns auch nicht unbekannt, da wir einen Bereich haben der sich mit Instandhaltung, Ersatzteilen und Logistik ­beschäftigt und so konnte ein Kollege hier tätig werden, der Vorkenntnisse dieser spezifischen Branche hat. Der erste Schritt ist in der Regel eine Bestandsaufnahme vor Ort bei der wir uns Arbeitsschritte und Prozesse anschauen, um die spezifischen Anforderungen des jewei-

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ligen Kunden zu verstehen. Wir veranstalten Workshops mit den unterschiedlichsten Bereichen aus dem Unternehmen und binden neben der Geschäftsführung auch Fachbereichsleiter und/oder Mitarbeiter ein. Dann können wir sozusagen verschiedene Handlungsfelder herausarbeiten, die Potenziale qualitativ bewerten. Diese Roadmap wurde hier mit Herrn Dembski gemeinsam erstellt und verabschiedet. Harald R. Fortmann: Endet ihre Beratung mit dieser Potenzialanalyse? Dr.-Ing. Matthias Parlings: Nein, wir begleiten auch gerne und aktiv den Transformationsprozess. So auch im Fall Gebr. Hilgenberg. In diesem Fall haben wir zum Beispiel den Bereich Verbräuche bzw. Nachbestellungen bei deren Kunden detailliert betrachtet und verschiedene Lösungen aufgezeigt. Immer in der gemeinsamen Diskussion um heraus zu finden welche Lösung die richtige ist. Durch ein cleveres Datenmanagement können sie damit heute viel gezielter auf Ihre Kunden zugehen und gegebenenfalls Ware nachordern bzw. nachproduzieren, wenn erhöhte Nachfrage entsteht. Harald R. Fortmann: Wenn Sie die Kunden aus dem Programm Digital in NRW betrachten, was sind aus Ihrer Sicht die Erkenntnisse, die diese Unternehmen allesamt gewinnen? Dr.-Ing. Matthias Parlings: Eine große Erkenntnis ist sicherlich, dass Digitalisierung Spaß macht und man keine Angst vor dieser Transformation haben muss. Auch die Mitarbeiter erkennen sehr schnell den Mehrwert und öffnen sich diesem Wandel. Und oftmals ergibt sich noch ein monetärer Mehrwert, der insbesondere positiv von den Unternehmern wahrgenommen wird. Die Dankbarkeit für die begleitende Unterstützung ist branchenübergreifend zudem sehr groß. Darüber freuen wir uns natürlich am meisten. Wir erreichen Meilensteine und Ziele und bekommen Wertschätzung für unsere Arbeit. Seit 2016 begleitet Digital in NRW – Kompetenz für den Mittel­stand KMU auf ihrem Weg zur individuellen Digitalisierungsstrategie. Die Partner von Digital in NRW schaffen die Voraussetzungen für einen reibungslosen Start Richtung Industrie 4.0 und bieten Unterstützung sowie praxisnahe Hilfestellung, die sich ganz konkret an den Bedürfnissen und Zielen der Unternehmen ausrichtet. Die 17 Servicebausteine helfen KMU, sich über Digitalisierung zu informieren, zukunftsweisende Technologien zu erleben, notwendige Kompetenzen zu erwerben und Digitalisierungsmaßnahmen umzusetzen. Bis Ende 2020 wird Digital in NRW zahlreiche Informationsveranstaltungen, Roadshows, Lab-Touren, Exkursionen, Workshops und individuelle Unternehmensgespräche zu Innovationen aus Daten realisieren. Ziel ist es, die Digitalisierung des Mittelstands in NRW kontinuierlich, praxisnah und professionell voranzutreiben. Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Dortmund ist Teil der Förderinitiative „Mittelstand 4.0 – Digitale Produktions- und Arbeitsprozesse“, die im Rahmen des Förderschwerpunkts „Mittelstand-Digital  – Strategien zur digitalen Transformation der Unternehmensprozesse“ vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert wird. ◄

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[Zusammenfassung] Das mittelständische Unternehmen Gebr. Hilgenberg hat früh erkannt, dass die Digitale Transformation nur unter Zuhilfenahme externer Partner erfolgreich umgesetzt werden kann und konnte durch die Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut im Rahmen des Digital in NRW seine Vorstellungen validieren, neue Erkenntnisse gewinnen und vor allem die Prioritäten jeweils festlegen. Die Erkenntnis, dass einmal angefangen man sehr schnell die Verbesserungen für den jeweiligen Mitarbeiter erkennt und dieser dadurch – auch wenn er zuvor gezweifelt hat – zum Unterstützer der Transformation gewinnen lässt, ist sicherlich die zielführendste. Durch die dann entstehende Aufbruchsstimmung lassen sich alle mitnehmen und Maßnahmen zügig umsetzen und die wichtigen Erkenntnisse aus den Ergebnissen zurückspielen, so dass weitere Schritte geplant werden können, ohne unnötig Ressourcen und Geld zu verschleudern. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die so viele gar nicht im Fokus haben, ist die Ruhephasen zwischen den einzelnen Maßnahmen in den jeweiligen Unternehmensbereichen, um dafür zu sorgen, dass alle Mitarbeiter sich mit den neuen Prozessen anfreunden bevor die nächsten Änderungen implementiert werden.

Digitalisierung in der mittelständischen Energiewirtschaft: Verstehen, Wertschätzung, echte Probleme lösen

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Bert von Garrel

19.1 Strom – eine Selbstverständlichkeit?! Alles in allem leben wir recht angenehm. Zuhause ist es warm. Abends leuchtet die Straßenlaterne. Sauberes Wasser fließt aus dem Hahn. Und wieder ab. Einfach so. Energie- und versorgungswirtschaftliche Dienstleistungen und Prozesse erleben die meisten Menschen als Nutzer von Strom, Gas, Wärme, Wasser, Abwasser und Telekommunikationsdienstleistungen so ganz nebenbei und zum Glück bekommt man nur wenig bis gar nicht mit, wie diese in unser Heim geliefert werden. Und für viele Menschen gibt es gar keinen Grund es zu verstehen, denn das häusliche und berufliche Leben enthält genug (steigende) Komplexität. Und wenn wir ehrlich sind, ist es außerordentlich komfortabel und in den allermeisten Fällen funktioniert es einfach und wir können uns mit anderen Dingen beschäftigen. Und selbst wenn es nicht funktioniert, dürfen wir doch recht sicher sein, dass Störungen schnell behoben werden. Eine Welt, in der es über 100 Jahre lang analog ganz gut funktioniert hat. Jüngst wurde umfangreich über den Stromausfall in großen Teilen Südamerikas berichtet. Romane, die sich mit dem Thema großflächige Stromausfälle und deren Folgen beschäftigen, werden zu Bestsellern. Ohne auf deren Ursachen, Unterschiede und Wahrscheinlichkeiten zu/in mitteleuropäischen oder deutschen Umgebungen eingehen zu wollen, zeigt es doch eindrucksvoll, wie sehr modernes Leben von der Verfügbarkeit von Strom aber auch weiteren Energieträgern und Versorgungsdienstleistungen abhängt. Im deutschsprachigen Raum ist die energie- und versorgungswirtschaftliche Marktumgebung weltweit in einiger Hinsicht unterschiedlich.

B. von Garrel (*) EVP Sales & Operations Signifi Solutions Europe und geschäftsführender Gesellschafter der Signifi Germany GmbH, Hamburg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_19

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19.2 D  er veränderte Energiemarkt setzt Anreize zur Optimierung aber unterliegt Begrenzungen Vor der Liberalisierung des deutschen Energiemarktes gab es keinerlei Wettbewerb in den unterschiedlichen Sparten Strom, Gas, Wärme etc. Überregionale Energieversorger und Stadtwerke hatten die Versorgungsgebiete untereinander aufgeteilt, jeder Verbraucher – egal ob privat oder gewerblich – wurde einem Versorger zugeordnet und musste von diesem die Energie beziehen. Diese Monopolwirtschaft sorgte dafür, dass es den Stromversorgern und den Stadtwerken wirtschaftlich sehr gut ging, sie mussten sich ja keinem Wettbewerb stellen und konnten von den Strukturen der Monopolwirtschaft profitieren. Seit Beginn der Stromversorgung in Deutschland sind Kommunen und Gemeinden eng mit der Energiewirtschaft verbunden, unter anderem weil ihnen zum Beispiel die Wege gehören, welche Stadtwerke zur Verlegung von Strom-, Gas- und Wasser- und sonstigen Leitungen benutzen müssen. Für die Überlassung sämtlicher öffentlicher Straßen und Wege im Gemeinde- oder Stadtgebiet zahlen die Werke jährlich eine Konzessionsabgabe, mit der Städte und Kommunen die Infrastruktur aufrechterhalten können. Oft sind die Städte und Gemeinden Eigentümer dieser Werke und damit wichtiger Beitrag im kommunalen Haushalt und als Arbeitgeber und regionaler Dienste-Anbieter am Bürger. Es verwundert daher nicht, dass gerade die Stadtwerke die Liberalisierung des Energiemarktes mit Skepsis betrachteten. Sie befürchteten, dem Druck des Wettbewerbs nicht standhalten zu können. Allen Drohszenarien zum Trotz haben die Stadtwerke sich jedoch auch bestens im Wettbewerb ein- und zurechtgefunden und sind nach wie vor wichtige Akteure auf dem Markt und von hoher regionaler Bedeutung, insbesondere im allgemeinen Trend der Rekommunalisierung und erhöhter Aufmerksamkeit in der Gesellschaft zu regionalen Diensten und Angeboten. Einige Herausforderungen teilen sich diese Unternehmen – groß wie klein – jedoch. Der Themenkomplex Energie und Klima wird immer bedeutender in der gesellschaftlichen und politischen Debatte. Nachhaltigkeit, Sicherheit, auch Datensicherheit, aber nicht zuletzt Erschwinglichkeit spielen wichtige Rollen in diesen Diskursen. Weiterhin erwarten Bürger und Kunden von ihren Dienstleistern die Möglichkeit, in digitaler und einfacher Weise in Kontakt zu treten, ihre Dienstleistungen zu konsumieren, zu ändern oder darüber informiert zu werden, wie es um diese steht. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass die Strompreise zu nicht mal mehr 22,4 % Kostenanteil in Erzeugung/Beschaffung und Vertrieb haben. Große Anteile entfallen auf EEG-Umlage (dient der Förderung der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien) mit knapp 22,7 %, Konzessionsabgabe (s. o.) mit ca. 5,4 % und den so genannten Netzentgelten mit ca. 23 %. Der Rest sind Stromsteuer (6,9 %), und kleinere weitere Umlagen sowie Messkosten [1]. Wenn wir uns nun den Netzentgelten bzw. den betrieblichen Prozessen zuwenden, landen wir bei Fragen der Kosten im Netzbetrieb die einen Teil der Netzentgelte ausmachen.

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Die Art und Weise, wie diese Entgelte ermittelt und genehmigt werden, folgt der Regulierung durch die Bundesnetzagentur mit einer so genannten Anreizregulierung. „In einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung sorgt der Wettbewerb für günstige Preise, gleicht Angebot und Nachfrage aus und motiviert die Unternehmen, nach neuen Produkten und kostengünstigen Verfahren zu suchen. Allerdings gehören die Strom- und Gasnetze zu den sogenannten „natürlichen Monopolen“, in denen der Wettbewerb nur eingeschränkt wirkt oder ganz außer Kraft gesetzt ist. Denn in der Regel ist es volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, in einem bestimmten Versorgungsgebiet parallele Strom- oder Gasleitungsnetze von verschiedenen Unternehmen aufzubauen. Auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht besteht in der Regel kein Anreiz, eine parallele Leitungsstruktur als Konkurrenz zu einem etablierten Anbieter zu errichten. Damit die Netzbetreiber jedoch keine Monopolgewinne erzielen und die Netze trotzdem so kostensparend wie möglich betrieben werden, werden die Strom- und Gasnetzbetreiber reguliert.“[2] Da die Erlöse bereits vor der Regulierungsperiode fixiert werden, sind die tatsächlich entstehenden Kosten und die Erlöse des Netzbetreibers für die Dauer der Regulierungsperiode voneinander entkoppelt. Dadurch wird der Anreiz gesetzt, dass der Netzbetreiber seine Produktivität steigert und die Kosten senkt. Ziel ist es, die Kosten möglichst weit unter die festgelegten Erlöse zu drücken. Denn gelingt es dem Netzbetreiber, seine Kosten unter die vorgegebene Erlössumme zu senken, dann kann er in der Regulierungsperiode einen zusätzlichen Gewinn  – im Sinne einer Prämie für besonders kosteneffizientes Wirtschaften – einbehalten. Diese Kostensenkungen werden in der Kostenprüfung zur nachfolgenden Regulierungsperiode erfasst und gehen so in die Erlösbestimmung für die nächste Regulierungsperiode ein. Warum dieser Ausflug in energiewirtschaftliche Grundlagen? Es geht diesen Netzbetreiber wie allen Marktteilnehmern und sie erleben dieselben Effekte im Wettbewerb und im Streben nach Kostenoptimierung aber tatsächlich ist nur rund ein Viertel dieser Kosten wirklich direkt beeinflussbar.

19.3 D  ie Herausforderungen am Arbeitsmarkt treffen energiewirtschaftliche Unternehmen besonders aber in der Digitalisierung werden große Chancen gesehen Zu den wettbewerblichen und regulatorischen Herausforderungen kommen gesellschaft­ liche und arbeitsmarktseitige Veränderungen. Die Unternehmen haben eine zunehmend alternde aber sehr erfahrene Belegschaft, von denen ganze Scharen in den kommenden Jahren und den Ruhestand gehen. Sie bemühen sich regional um Nachwuchs, der in Zeiten hoher Nachfrage an IT- und digitalaffinen jungen Menschen zunehmend schwerer zu gewinnen ist. Eigene Kosten, neben Investitionen in Aufbau, Erneuerung und operativen Betriebs der Anlagen, beinhalten stark auch Personalkosten – und darin die bestehenden Gehaltsstrukturen – als wesentlichen Faktor.

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Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass Mitarbeiter und deren Wissen das Unternehmen verlassen und nicht ersetzt werden können (oder sollen). Komplexität durch Marktund Regulierungsanforderungen steigt und zugleich steigen Anforderungen an Produktivität und Sicherheit. Es ist nicht so, dass die allgegenwärtige Debatte der Digitalisierung an den Verantwortlichen vorbei geht, im Gegenteil: 77 Prozent der Stadtwerkemanager werden sich in den kommenden Jahren damit stark oder sehr stark auseinandersetzen (Vorjahr: 71 Prozent) [3]. Viele Konferenzen und Tagungen widmen sich dem Thema und man kann aus den obigen Ausführungen naheliegende Schlussfolgerungen ziehen, dass ein Schlüssel in der Digitalisierung liegt. Nun ist das Geschäft dieser Werke im Kern ein sehr dingliches und technisches und insgesamt auch keine wirklich neues, traditionell sehr auf Verlässlichkeit und Sicherheit bauendes. Die Unternehmen befinden sich oft schlicht in einer Überforderung, wo und wie man anfängt. Man kann nachvollziehen, dass es nicht in der Genetik dieser Unternehmen liegt, sich mit Fragestellungen digitaler Geschäftsmodelle und innovativer datenbasierter technischer Möglichkeiten zu beschäftigen. Zwar gab es kein Massensterben der Stadtwerke aber die meisten Unternehmen haben nicht die kritische Größe bzw. eigene Mittel, sich mit dedizierten Ressourcen diesen Fragestellungen zu widmen. Gleichwohl erhoffen sich die Unternehmen der Energiebranche durch Digitalisierung zusätzlichen Umsatz von 7,7 Mrd. € und Kosteneinsparungen von 7,8 Mrd. € bis 2025 [3]. Das heißt, es liegt ganz erhebliches Potenzial für die Unternehmen vor, sich genau ihre technischen und gesamten Geschäftsprozesse anzuschauen und zu betrachten, mit welchem Wissen die langjährigen und erfahrenen Mitarbeiter des Unternehmens arbeiten und wie daraus ein Ansatz entstehen kann, ganz dort, wo sie sich auskennen und sich inhaltlich wohl fühlen.

19.4 D  ie Reise der Digitalisierung fängt da an, wo die Unternehmen schon gut sind und unter Einbeziehung des Wissens der erfahrenen Mitarbeiter Die Unternehmen sollten auf bereits vorhandenen Fähigkeiten und vorhandenen Daten einen Schritt gehen, der es erlaubt, die Prozessbeteiligten schnell und zuverlässig zu ­steuern und die dabei entstehenden Daten zu nutzen, um Digital- und Datenfähigkeiten aufzubauen. Die Reise fängt also nicht bei neidvollen Blicken in die zweifelsohne spannenden logistischen und prädiktiven Fähigkeiten der großen Player wie Amazon und Co. an, sondern in kleinen Schritten auf eigenem Wissen!

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Und das ist aus verschiedenen Gründen von großem Vorteil. Es wertschätzt das Wissen von Mitarbeitern und deren Erfahrungen und damit sie selbst und greift es auf. Es findet in der eigenen Unternehmenskultur statt – einer der wichtigsten Faktoren zur Akzeptanz – und erlaubt den Menschen, an dieser Chance mitzuwachsen, die Kontrolle zu behalten und nach und nach Vertrauen zu entfalten, welche Unterstützungs- und weiteren Entwicklungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Und darin kann sich neue Kultur begründen und daraus hervorgehen. Darin kann gelernt werden, ohne dass Überforderung durch Überstülpen fremder Methoden und Kultur entsteht. Es ist für die Menschen und die Unternehmen Neuland, unsicheres Terrain, vielleicht vergleichbar mit einem ersten Gang auf glattem Eis, von dem man nicht genau weiß, wie gut es hält und ob man ihm trauen kann. Und wie bewegt man sich auf solchem Untergrund? Kleine Schritte und kontrollierter Gang. Ich möchte damit nicht ausdrücken, dass Digitalisierung erfolgreich mit Langsamkeit umgesetzt wird. Aber für die beteiligten Menschen im Unternehmen wird diese Vorsichtigkeit zur Chance und man sieht sehr schnell, dass bei eigenem Erleben die Beschleunigung von diesen Menschen ganz von selbst entfaltet wird. Es gibt ihnen aber die Möglichkeit der Bestimmung und nicht der in vergangenen Jahren oft (auch anderswo) erlebten Verordnung von Veränderung. Fest steht jedoch auch, dass dies dennoch starke Führungsunterstützung und deren Überzeugungen sowie Menschen im Unternehmen zur Umsetzung braucht, die Bereitschaft zeigen, solche Veränderungen mitzugestalten. Dadurch wird es glaubwürdig, findet Verankerung und schließlich Verbreitung.

19.5 K  eine Disruption aber Veränderungen zwingen zum Handeln, Kundenbedürfnisse rücken in den Mittelpunkt, Wandel muss organisiert werden Die mittelständische und regionale Energiewirtschaft erlebt keinen „großen“, womöglich aus einer ganzen anderen Industrie stammenden, Gegner. Nur eine ganze Reihe kleiner, aber sehr flexibler Wettbewerber und veränderlicher Parameter, mit Entwicklungen, die das ehemalig bequeme Sofa in ein Nagelbett verwandeln (können): Margenerosion: • Großmarktpreise für Energie fallen bzw. sind sehr volatil • Kunden sind deutlich kostensensitiver und wechselwilliger • Kunden werden selbst Erzeuger und Einspeiser, das Netz wird nicht als Wert oder Service identifiziert • Diverse neue Marktteilnehmer betreten den Markt und bieten Lösungen und Services statt Produkte Höherer Aufwand:

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Emissionsauflagen auf konventionelle Energieerzeugung Neue Anforderungen an IT-Systeme und der Netzbetreiber Hohe Arbeitsstückkosten und hohe Altersdurchschnitte Wissensverlust durch Fluktuation (Rente, „undokumentiertes“ Wissen, …) Player haben bereits profitabel Nischen besetzt … und dehnen sich aus:

• Ehemals kleine Anbieter erneuerbarer Lösungen sind inzwischen kraftvoll • Erneuerbare und smarte Energielösungen sowie -dienstleistungskopplung ermöglichen neue Kundenbeziehungen und neue Märkte • Regionale Energieangebote/-lösungen werden selbstverständlicher Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen ist eine zentrale unternehmerische Herausforderung, da die Weichenstellung früh erfolgen muss. Auch wenn es am Ende um innerbetriebliche Prozesse geht: Der Kunde und seine Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen. Wer die Kundenschnittstelle besetzt, versteht den Kunden. Verbindet man das mit den vorhandenen operativen und betrieblichen Daten kann man beginnen, daraus Wissen aus Daten zu extrahieren und aus diesem datenbasiert lernen zu lassen. Der Schwerpunkt liegt auf der strategischen Komponente, nicht auf den technischen Herausforderungen. Die Technik ist da, die Datentöpfe auch und sie können noch größer werden. Der digitale Wandel muss in die Organisation integriert werden, in die Führung und in die Unternehmenskultur, darf aber nicht verordnet werden, braucht Erfolgserlebnisse und muss sich selbst entwickeln können. Und bitte nicht falsch verstehen: Es handelt sich nicht um personenbezogene Daten, sondern um technische, operative. Den Stadtwerken wird regional viel Vertrauen entgegengebracht. Sie sollten nicht der Versuchung unterliegen, diese durch Verkauf der Kundendaten leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

19.6 Wie geht das ganz konkret in einem relevanten Umfeld? Ein Beispiel, wie man auf „bekömmliche“ aber auch sehr schnell messbare Weise für sein Unternehmen den Anfang nehmen kann, ist der Prozess zur Legung eines Hausanschlusses für unterschiedliche Versorgungsarten der Sparten Strom, Gas, Wasser/Abwasser, Wärme und Telekommunikation. Hausanschlüsse werden oft noch auf Papier- oder weiteren analogen Beauftragungsformen bearbeitet. Oft von Sparte zu Sparte im selben Unternehmen unterschiedlich, hochwahrscheinlich aber von Stadtwerk zu Stadtwerk unterschiedlich. Zum Teil ist das auf Grund etwas unterschiedlicher gesetzlicher oder sonstiger Vorgaben nachvollziehbar und historisch im Betrieb gewachsen. Im Kern sind aber viele Schritte ähnlich. Sie sind auch

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in den vielen Stadtwerken ähnlich und dennoch in der Praxis oft hoch unterschiedlich gelöst. Dahinter stehen Abläufe, Arbeit und das Zusammenspiel unterschiedlicher Beteiligter (Kunde, Sachbearbeiter, Tiefbauer, Monteure, Koordinatoren, Netzmeister, kaufmännische Abteilungen etc.) im Prozess. Dieses Zusammenspiel zu digitalisieren, sozusagen in den digitalen Netzanschlussprozess, lässt einen Teil der Kosteneinsparpotenziale ganz real und messbar werden. Gleichzeitig zu den innerbetrieblichen, alters-, wissens-, und prozess-­Herausforderungen boomt das Baugewerbe. Es besteht dadurch ein großer Bedarf an Neuanschlüssen von Strom-, Wasser-, Wärme-, Gas- und Telekommunikationsanschlüssen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger überhaupt Tiefbauunternehmen zu gewinnen und dann in die Prozesse einzubinden und zu steuern. Einfach zu bedienende, die jeweiligen Aufgabenfelder berücksichtigende, barrierefrei zugängliche Lösungen können ein Teil der Antwort sein, sich beim Kampf um diese Umsetzungspartner und deren Mitarbeiter durchzusetzen und gleichzeitig dem Kunden das gute Gefühl von Transparenz und Qualität zu geben. Jetzt könnten einige Wissende einwenden, dass es doch eigentlich weiter auf herkömmliche Art gehen könnte. Warum anders machen? Es darf und kann niemand anderes den Netzanschluss herstellen. Warum also der Aufwand? Wir dürfen sicher sein, dass Kunden sich sehr genau anschauen und wahrnehmen, wie man sich Ihrer Bedürfnisse – auch für etwas sehr Unspannendes wie einen Hausanschluss – annimmt. Und dieses Stadtwerk mit seinem Netzbetrieb möchte möglicherweise diesem Häuslebauer oder Gewerbetreibenden künftig nicht nur den Strom physisch als Netzbetreiber liefern, sondern auch den Vertrag (also den vertrieblichen Teil) dazu halten bzw. weitere Dienstleistungen anbieten. Wie bereit bin ich als Kunde, solchen Angeboten zuzusagen, wenn ich vorher als Zählernummer wahrgenommen wurde und der Prozess intransparent und schwerfällig war? Auf Grund regulatorischer Anforderungen müssen Netzbetreiber ihr Netz und seine Anlagen sehr genau dokumentieren. Basierend auf dieser Kartografierung sind Netzbetreiber verpflichtet, auch Auskunft über Störungen und deren Behebung (u. a. auch Dauer) zu geben. Störungen sind nachvollziehbarer Weise genau das Gegenteil von dem, was man (und sie) möchte(n). Also bewirtschaften die Betriebe die Netze, Planen, Bauen und halten instand, was einige Prozessbeteiligte über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinaus beschäftigt, wie z. B. natürlich die Kunden, interne und externe Installateure, Hersteller, Lieferanten, mit jeweilig notwendigen Qualifikationen und Verfügbarkeiten. Diese allesamt zu steuern, abzurechnen, möglichst schnell, da Zeit buchstäblich hier auch Geld ist, lässt diesen übergreifenden Blick erfordern, der einen großen Teil des Potenzials der Kostensenkungen in sich trägt. Ein folgerichtiger Schritt ist somit, sich die gesamte Prozesskette anzuschauen, sich aus Kundensicht diesem anzunähern und dessen Bedürfnisse zunächst in den Mittelpunkt zu stellen und darauf alle folgenden Prozessschritte aller Beteiligter abzuleiten. Dabei besteht die günstige Möglichkeit, Daten und Informationen aus den bestehenden Systemen, in die bereits investiert wurde, zu nutzen.

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B. von Garrel

Es gibt am Markt energiewirtschaftlicher Lösungsangebote inzwischen einige Anbieter, die sich der Frage der User Experience z. B. bei der Beantragung eines solchen Hausanschlusses zuwenden und hervorragende Arbeit leisten. Prozesskostenseitig sowie auch aus Sicht von Steuerbarkeit und Transparenz sowie Durchgängigkeit und damit Geschwindigkeit und Qualität ist aber die Integration in die bestehenden Systeme von entscheidender Bedeutung. Es ist absolut richtig und wichtig, sich ein modernes und intuitives User Interface (UI) zu schaffen und damit attraktiv und einfach mit dem Kunden in Kontakt zu sein. Das Potenzial für die Unternehmen liegt dann jedoch darin, die Prozessbearbeitung und schließlich Lieferung zu gestalten. Und man kann hier ganz praxis- und umsetzungsnah reingehen. Messbare und kostenseitig spürbare Vorteile entwickeln mit echtem und nicht nur theoretischem Business Case. Etwas, das – wenn man sich die Anreizregulierung noch mal vor Augen führt – absolut zielkonform unmittelbarer Ziele und Herausforderungen dient und gleichzeitig eine Grundlage schafft, Erfahrungen mit digitalen Prozessen zu sammeln und darauf aufzubauen.

19.7 E  s kann dann weitergehen. Operative Daten und Wissenstöpfe der Systeme und der Menschen nutzbar machen Das Ganze kann man dann ganz praktisch auch weiterdenken. Und auch hier gilt, dass die Technik dafür schon da ist, die Probleme sehr oft zwischen den Stadtwerken ähnlich sind und daher gemeinsame Arbeit und erste Lösungsansätze helfen, diese konkreten Probleme anzugehen. Es werden ja bei vielen Werken und Betrieben inzwischen Softwareprodukte eingesetzt, um diese betrieblichen Netzvorgänge zu steuern. Und es entstehen Datenbanken mit Informationen zu Störungen darüber, wo, wann und wie häufig diese anfielen bzw. wie diese idealerweise durch vorbeugende Maßnahmen vermieden werden können. Hier spielen aktuell die Erfahrungen und das Wissen der so genannten Netzmeister eine große Rolle. Sie kennen „ihr“ Netz genau. Sie wissen um die Schwachstellen. Weil sie schon so lange diesen Job machen und erfahren sind. Und was sind diese Erfahrungen am Ende? Es sind von dieser Person gesammelte Daten aus den Erfahrungen, gespeichert in Form ihres Wissens. Was ist, wenn diese wertvollen Mitarbeiter in Ruhestand gehen? Es gibt also im Unternehmen mehr und mehr Informationen in Datenbanken der Geoinformations- Systeme und der Betriebsführungssoftware und damit einen Hort von Daten, die man beginnen kann, nutzbar zu machen. Diese lassen sich verschneiden mit weiteren Daten, wie darüber liegende Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Bahnen etc.), Bodenverhältnisse (Erde, Gestein, Frost, Moor), Wetterverhältnisse (Stürme, Regenwahrscheinlichkeiten), allgemeine Lebenserwartung von Materialien und tatsächliche Nutzung/Belastung, um nur einige zu nennen.

19  Digitalisierung in der mittelständischen Energiewirtschaft: Verstehen, …

213

Dies stellt eine ideale Ausgangsposition für die Digitalisierung dar. Das heißt aus einer Verpflichtung der Dokumentation wird eine Chance neuer Wertschöpfung, die am Ende genau auf das abzielen kann, wonach die energiewirtschaftlichen Unternehmen suchen, nämlich ständiger weiterer Kostenoptimierung. Heute werden Störungen oft erst durch die Meldung von Endkunden bekannt, wenn dieser berichtet, dass der Strom ausgefallen ist oder das Wasser nicht mehr läuft oder kalt ist. Aus der Verpflichtung der (möglichst schnellen) Störungsbehebung kann man ganz viel Kosten- und Qualitäts- und damit Zufriedenheitspotenzial schöpfen, wenn man in der Lage wäre, diese Störungen gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. zu erkennen, wenn sich eine solche ankündigt. Oder aber, wenn sie denn schon unerwartet auftritt, möglichst schnell zu erkennen und zu beheben. Am besten Real-Time. Aber darüber dann auch sehr genau in der Lage zu sein, mit betroffenen Kunden zu kommunizieren. Es ist doch oft gar nicht die Tatsache, dass es technische Störungen gibt, was Kunden schwierig finden. Schwierig finden sie den Umgang damit und die Kommunikation ihnen gegenüber zum Status und weiterem Ausblick. Hier können zwei ganz praktische Ansätze erheblichen Beitrag zur Verbesserung leisten und das auch wieder ganz in der Erfahrungs- und Erlebniswelt der Führungskräfte und Mitarbeiter des Stadtwerkes. Inzwischen gibt es Sensorik und Übertragungstechnik, die es Netzbetreibern ermög­ licht, auch nachträglich nachgerüstet zu überschaubaren Investitionen, Echtzeit-­Infor­ mationen zum Zustand wichtiger Assets, wie z. B. einer Trafo-Station, einer Gasdruckregelanlage, eines Fernwärmeschachtes oder eines Wasserrohrs zu erhalten. Wenn diese Abnormalitäten melden, wie z. B. ungewöhnliche Temperaturen, Gerüche, oder Schaltzustände, kann man diese mit Sensorik erfassen. Das allein ist kein Wert, sondern wird dann spannend, wenn daraus dann die Folgeprozesse ansteuert werden, die jeder Netzbetrieb heute schon hat, nämlich die der Störungsbehebung und der Disposition geeigneter Techniker, sowohl während regulärer Arbeitszeiten, aber eben und besonders dann, wenn Störungen außerhalb dieser z. B. an Wochenenden oder Feiertagen eintreffen. Man kann erheblich schneller reagieren und mit Betroffenen aktiv kommunizieren. Zudem ermöglicht es dem Techniker ggf. bereits einzuschätzen, welchen Gefahren er ausgesetzt sein könnte (Arbeitsschutz!) und welche Art von Werkzeug, Ersatzteile etc. benötigt werden. Gasstörungen müssen spätestens innerhalb von 30 Minuten nach Erkennen behoben sein. Leicht nachvollziehbar, dass jede Minute der früheren Erkennung und Behebung Leben retten kann und ganz nebenbei auch Kosten senkt.

19.8 F  azit: Das Wichtigste sind die Mitarbeiter, ein wertschätzendes Vorgehen, klare Führungsverantwortung und es dreht sich immer um den Kunden Das Gute ist, dass sich die Mitarbeiter des Unternehmens bestens in Ihren Prozessen auskennen und insofern auf Ihrem eigenen Wissen aufbauen können.

214

B. von Garrel

Wichtig ist hier, ihnen zu vermitteln, dass es gar nicht darum geht, ihre Arbeit und damit sie selbst überflüssig zu machen. Ihnen also die Angst vor Arbeitsplatzverlust zu nehmen und darin mitzunehmen. Aus dieser Mitnahme entsteht aus meiner Sicht der beste Erfolg. Wie heißt es so schön in der Branche und allerorten: Erfolgreiche Digitalisierung ist in erster Linie keine technische Herausforderung, es ist eine kulturelle – und damit eine Führungsherausforderung – und eine, wie man seine Mitarbeiter dafür gewinnt. Das ist nicht minder oder sogar stärker in der mittelständischen Wirtschaft besonders wichtig, da dort eine besondere Verankerung zwischen den Menschen untereinander und Erfahrungen dieser herrscht. Und wichtig für Unternehmen, die darin erfolgreich sein möchten, diese Stadtwerke zu begleiten: Keine Überheblichkeit, kein Besserwissertum sondern gutes Verstehen und Ernstnehmen der Bedenken und schließlich gemeinsame Antworten finden. Diese Unternehmen und Ihre Mitarbeiter kennen Ihren Job und würden auch nicht auf die Idee kommen, dass Sie glaubten, das Geschäft Ihrer Kunden besser zu verstehen als diese. Am Ende also Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen und Geschäftsprozesse mit gutem Verbesserungspotenzial auf Basis ihrer Fähigkeiten. Technisch fängt man am besten da an, wo diese Mitarbeiter sich auskennen und wo sie Vertrauen entwickeln können, wenn sie erleben, wie sich Ihr Job verbessern lässt. Sie wollen einen guten Job machen und eine gute Führungskraft ermöglicht es ihnen.

Literatur 1. Bundesnetzagentur. (2019). Informationen zu Strom- und Gaspreisen für Haushaltskunden. https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Verbraucher/PreiseRechnTarife/preiseundRechnungen-node.html. Zugegriffen am 01.04.2019. 2. Bundesnetzagentur. (2019). Anreizregulierung von Strom- und Gasnetzbetreibern. https://www. bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Unternehmen_Institutionen/Netzentgelte/Anreizregulierung/anreizregulierung-node.html. Zugegriffen am 31.07.2019. 3. bdew, EY. (2018). Stadtwerkstudie 2018. Digitalisierung in der Energiewirtschaft – quo vadis? https://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-stadtwerkestudie-2018/$FILE/ey-stadtwerkestudie-2018.pdf. Zugegriffen am 31.07.2019.

Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene Vertriebssteuerung deutlich mehr Verkäufe erzielen

20

Stefan Kaas und Marcel Meyer

20.1 I nstinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene Vertriebssteuerung deutlich mehr Verkäufe erzielen Durch den unaufhaltsamen Siegeszug des Online-Handels sowie der ständigen Verfügbarkeit von Informationen, hat der Wettbewerbsdruck fast überall zugenommen. Immer wichtiger wird daher die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden. Datengetriebene Analysen versprechen immer mehr Wissen über Vorlieben und Handlungsmuster sowohl von Privatpersonen als auch Unternehmenskunden. Auch im Vertrieb sind datengetriebene Tools bereits heute stark im Kommen. Doch wie wirken sich diese digitalen Helfer im Vertrieb aus? Brauchen wir den klassischen Vertrieb, wie wir ihn heute kennen überhaupt noch? Um dem auf den Grund zu gehen und zu klären, inwieweit digitale Trends für Ihren Vertrieb relevant sind, sollten Sie sich zunächst einmal die folgenden Fragen stellen: • Birgt Ihr Markt mehr Potenzial als Sie in einem Jahr vernünftig angehen können? • Reichen die generierten Leads aktuell nicht aus, um Ihren Vertrieb auszulasten und müssen die Außendienstmitarbeiter daher noch selbst Leads generieren und ihre wertvolle Zeit damit verschwenden? • Ist der Vertrieb unzufrieden mit der Qualität der Leads, die er zentralseitig bekommt? S. Kaas (*) Pure Business Consulting GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Meyer Iskander Business Partner GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_20

215

216

S. Kaas und M. Meyer

Hand aufs Herz: Können Sie eine oder mehrere dieser Fragen mit ja beantworten? Dann wird es Zeit umzudenken und die folgenden Punkte in Angriff zu nehmen.

20.2 Vertrieb ist wie Angeln – oder doch nicht? In vielen Organisationen herrscht heute noch die Meinung vor, dass Vertriebserfolg vor allem auf Erfahrung basiert – wie beim Angeln. Der erfahrene Angler weiß, wann die beste Zeit zum Angeln ist, welchen Köder er benutzen muss und an welcher Stelle man welche Fische fängt. Dennoch kommt es nicht selten vor, dass ein Angler mit leeren Händen nach Hause kommt. Und wenn der Fang dann einmal ausbleibt, hat der Angler Schwierigkeiten der Ursache auf den Grund zu gehen. Er hat keine aussagekräftigen Daten, die ihm durch Analyse erklären können, woran es gelegen haben könnte. Deshalb stellt sich unweigerlich die Frage: Sind Erfahrung und Instinkt alleine wirklich die wichtigsten Erfolgsfaktoren? Ist das wirklich das bestmögliche Verfahren, um möglichst viele Fische zu fangen? Diese Frage lässt sich analog auf viele Vertriebsabteilungen übertragen, die naturgemäß viele neue Kunden „angeln“ möchten. Die erfolgreichsten Verkäufer konnten sich in der Vergangenheit regelmäßig auf ihre Persönlichkeit und auf die Fähigkeit Absatzchancen instinktiv zu spüren verlassen. Was einen erfolgreichen Vertriebler aber genauso ausmacht, ist vorhandenes Wissen anzuwenden und sich durch ständiges Training weiter zu verbessern, um die eigenen Zielsetzungen bestmöglich zu erreichen. Warum also nicht auf alle heute vorhandenen Möglichkeiten und Hilfsmittel zur Zielerreichung zurückgreifen?

20.3 N  eue Methoden und Ansätze sind unerlässlich, um erfolgreich zu bleiben Die Zeiten, in denen der Vertrieb hauptsächlich nach Bauchgefühl funktioniert, sind vorbei. Um erfolgreich zu sein, muss eine Vertriebsorganisation die Möglichkeiten moderner datenbasierter Werkzeuge nutzen. Predictive Data Analytics, Webcrawling, Machine Learning und Künstliche Intelligenz (KI) greifen ineinander und schaffen so ein klares und aktuelles Bild des nächsten potenziellen Kunden oder informieren über aktuelle Wünsche und Bedürfnisse vorhandener Kunden. Das heißt ausdrücklich nicht, dass diese Werkzeuge einen passionierten Vertriebler in Zukunft ersetzen können, aber sie werden ihn besser machen, weil er viel zielgerichteter und mit viel passenderen Angeboten Neukunden sowie Bestandskunden ansprechen kann. Das Erfolgsrezept besteht aus der Kombination von künstlicher und menschlicher Intelligenz, die hier ein perfektes Team bilden. Digitale Methoden und Tools machen Ihre Vertriebler zu Experten und ermöglichen deutlich bessere Ergebnisse mit der gleichen Mannschaft. Die menschliche Intelligenz wird für die Nutzenargumentation ihrer Produkte bei den individuellen Kundenbedarfen, dem Schaffen von Vertrauen und der Generierung des Verkaufsabschlusses zum richtigen Zeitpunkt benötigt.

20  Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene …

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Einige Firmen haben den Vorteil der Ergänzung der menschlichen Intelligenz durch datengetriebene Verfahren bereits erkannt, dennoch ist das Bewusstsein dafür in Deutschland bei vielen Unternehmen noch nicht angekommen. Die Auswertung des digitalen Vertriebsmonitors der Unternehmensberatung Iskander Business Partner (IBP) ergab, dass 66 % der Unternehmen noch keine Strategie zur Digitalisierung ihrer Vertriebsaktivitäten haben, weil sie die Relevanz für diesen Bereich nicht erkennen [1]. Gerade im B2B Bereich besteht hier noch Handlungsbedarf. Die Notwendigkeit der strategischen Digitalisierung des Vertriebs wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass Firmenkunden und Endverbraucher in der Regel bereits voll digital sind. Wenn es nach den Kundenwünschen geht, sollen Bestellwesen, Angebotsrecherchen oder Kundenberatung digital und vor allem schnell möglich sein. Die Digitalisierung hat das Kaufverhalten und die Erwartungen der Kunden maßgeblich verändert. Wollen Unternehmen also langfristig erfolgreich sein, sollten sie die Transformation vom erfahrungsbasierten auf einen datenbasierten Vertrieb jetzt angehen. Im Folgenden erklären wir, wie Ihnen datengetriebene Methoden und Tools in der Vertriebssteuerung konkret helfen können zu entscheiden, wen (d. h. welche konkreten Zielkunden) Ihr Vertrieb adressieren soll, wann der beste Zeitpunkt dafür ist und wie Ihr Vertrieb möglichst viele Informationen zu den einzelnen Zielkunden erhalten kann.

20.4 So funktioniert der datengetriebene Vertriebsansatz Data Driven Sales umfasst die aktive Nutzung (d. h. Analyse) sowie Erhebung von internen und externen Daten, um höhere Conversion Rates sowie Effizienzsteigerungen primär im Direktvertrieb oder im Telesales zu erzielen. Durch analytisch fundierte Steuerungs-­ Methoden wird der Vertrieb so sukzessiv vom erfahrungsbasierten Vertrieb zum analytisch fundierten Vertrieb gewandelt (Abb. 20.1).

ZIELSETZUNG: DATA-DRIVEN SALES MIT HÖHEREN CONVERSION RATES UND EFFIZIENZSTEIGERUNG

WESENTLICHER ERFOLGSTREIBER: DATA ANALYTICS!

5 4 3

2 1

Costumer Insights

Lead Prediction

Webbasierte Adressgenerierung

Ausgangslage: Experience-Driven Sales

Abb. 20.1  Vorgehensmodell Data-Driven Sales

Compelling Moments

Vertriebseffizienz

218

S. Kaas und M. Meyer

20.5 D  urch webbasierte Adressgenerierung und „Predictive Lead Scoring“ die richtigen Zielkunden bestimmen Lead Scoring ist eine Methode, die im Vertrieb und Marketing verwendet wird, um die generierten Adressen abhängig von ihrer Abschlusswahrscheinlichkeit zu priorisieren. In der einfachsten Form nimmt man ein Punktesystem, nutzt quantitative Variablen (z. B. Postleitzahl, Betriebsgröße, Umsatz usw.) und bewertet diese anhand der subjektiven Qualität bzw. aus Erfahrungswerten. In der heutigen Zeit können den Kunden jedoch eine Vielzahl an weiteren internen und externen Variablen zugeordnet werden, die eine „händische“ Auswahl sowie Bewertung unmöglich machen. Hier kann „Predictive Analytics“ helfen und mit Hilfe von statistischen Algorithmen die gesamten Daten zur Lead Qualifizierung heranziehen (Abb. 20.2). Sie fragen sich, wie das funktioniert? „Predictive Lead Scoring“ analysiert Daten rund um erfolgreiche und nicht erfolgreiche Leads. Mit Hilfe von Machine Learning Algorithmen werden alle Variablen zur Klassifizierung von erfolgreichen und nicht erfolgreichen Leads untersucht und ein statistisches Muster ermittelt. Hierbei finden insbesondere interne CRM-Daten, aber auch externe Daten von Dritt-Anbietern Anwendung, um eine möglichst gute Vorhersagefähigkeit von Sales-Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln. Am Ende erhält das Unternehmen eine Liste aller potenziellen Kunden mit einer Rangreihung ihrer Abschlusswahrscheinlichkeit. Mit Hilfe von „Predictive Analytics“ basiert die Bewertung von Leads nicht mehr auf persönlichen Annahmen und vermeintlichen Erfahrungen, sondern es werden analytische

KLASSISCHER VERTRIEBSANSATZ

BESUCHE

MODERNE LEAD-PRIORISIERUNG

SALES DATEN (gewonnen/ verloren)

PREDICTION ALGORITHMUS

PREDICTION ENGINE

KUNDEN DATEN (intern/extern) INTERESSENTEN

LEAD SCORING

CHANCEN

KUNDEN

Nicht vorhersehbares Vertriebspotential

Zielkunden

Abschlusswahrscheinlichkeit

Zielkunde A

80 %

Zielkunde B

70 %

...

...

Vorhersage des Verkaufspotentials durch Analyse von Kundenprofilen

Abb. 20.2  Predictive Lead Scoring im Vergleich zum klassischen Vertriebsansatz

20  Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene …

219

und statistische Methoden eingesetzt. Durch die Verwendung von Machine Learning Algorithmen reduziert das Unternehmen somit die subjektive Bewertung der Verkaufschancen, nutzt die Information aller zur Verfügung stehenden Variablen und kann den Einfluss dieser unterschiedlichen Einflussfaktoren auf den Erfolg besser einbeziehen. Neben dem Sales Lead Score empfiehlt es sich zudem, den erwarteten Customer Lifetime Value (CLV) als relevante Größe zur Ermittlung der Wertigkeit eines potenziellen Kunden mit einzubeziehen. Ein Kunde mag auf den ersten Blick eine hohe Abschlusswahrscheinlichkeit besitzen, aber über den erwarteten CLV sagt das noch nichts aus. Erst in der Kombination der Abschlusswahrscheinlichkeit mit dem erwarteten CLV ergibt sich ein klares Bild, ob der Vertriebsaufwand zur Akquise dieses Kunden gerechtfertigt ist. Was sind also Ihre Vorteile? Ihr Außendienst wird sich zukünftig viele Termine ersparen können, bei denen ein Besuch auf den ersten „Blick“ vielleicht sinnvoll erschien, auf Basis der Analysen (und entsprechend umfangreichen internen und externen Informationen) aber nicht angebracht ist. Die Produktivität der Vertriebsmitarbeiter und die Qualität der Vertriebstermine steigt durch die Fokussierung auf die Kunden mit den höchsten Verkaufschancen sowie einem positiven erwarteten CLV. Zusätzlich wird die Zufriedenheit der Vertriebsmitarbeiter langfristig durch eine höhere Erfolgsquote gesteigert.

20.6 C  ustomer Insights – Je mehr der Vertriebsmitarbeiter VOR einem Kundengespräch über den Zielkunden weiß, desto besser kann er das Gespräch in seinem Sinne führen Beim (ersten) Kundenbesuch ist es entscheidend, dass der Verkäufer schnell das Vertrauen des potenziellen Kunden gewinnt. Dieses Vertrauen entsteht, wenn der Verkäufer ein ehrlich gemeintes Interesse an der Lösung eines Kundenproblems signalisieren kann und wenn er als kompetenter Ansprechpartner auftritt, der sich mit den Belangen und dem aktuellen Umfeld des potenziellen Kunden sehr gut auskennt. Ein Verkäufer muss dementsprechend relevante Informationen sowie auf den Kunden bezogene spezifische Lösungen aufzeigen können. Standardpräsentationen sowie wenig spezifische Informationen zu den Kunden helfen hier nicht. Verkäufer haben aber aufgrund ihrer hohen Ziele i. d. R. wenig Zeit, um sich optimal auf den Kunden sowie dessen Bedürfnisse individuell vorzubereiten. Hier hilft eine automatische Sammlung und Aufbereitung von relevanten Informationen zu den potenziellen Kunden. Idealerweise bereits in einer digitalen Präsentation für das Kundengespräch vorbereitet oder sogar in eine bestehende Standard-Präsentation, angereichert um die kundenindividuellen Informationen, eingebunden. Neben dem professionellen Auftritt beim ersten Kundenbesuch, dem schnellen Einstieg in eine fachliche Diskussion (der Vertriebsmitarbeiter kennt bereits die „Themenfelder“ des Kunden) hilft die Informationssammlung und -aufbereitung dem Verkäufer bei der individuellen Nutzenargumentation sowie bei der individuellen Angebotserstellung. Sie fragen sich, wie das funktioniert? Um individuelle Informationen aus dem Internet gezielt aus unterschiedlichen Quellen zu gewinnen, können verschiedene Tools und

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S. Kaas und M. Meyer

­ echniken eingesetzt werden. Heutzutage existieren eine Vielzahl an Dienstleistern, die T „Web Crawling Services“ anbieten und das Web nach öffentlich erhältlichen Informationen absuchen. Um gehaltvolle Informationen für den Verkäufer aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, ist es wichtig, dass vorher spezifische Parameter (u. a. Kontaktdetails, Kundenverhalten, Kundenbewertungen usw.) definiert werden. Mit Hilfe von „Web Crawling Services“ sowie digitalen Tools können dem Verkäufer nun relevante Information zeitnah und aktuell vor dem Besuch beim Kunden zur Verfügung gestellt werden. Weitere Möglichkeiten bestehen in der Analyse von Social Media Reviews, in denen Meinungen von Endkunden ermittelt werden können, die den Unternehmen Aufschluss über die Einstellung potenzieller und bestehender Kunden über das Unternehmen bzw. dessen Produkten geben kann. Was sind also Ihre Vorteile? Aufgrund der heutigen Informationsflut wird es für Ihre Verkäufer immer schwieriger, die relevanten Informationen für ihr Geschäft tagesaktuell aus dem Internet zu identifizieren. Mit Hilfe von digitalen Informations- „Extraktoren“ – ist ein Verkäufer damit besser auf das Gespräch mit dem potenziellen Kunden vorbereitet. Er wirkt zudem hoch professionell und wird durch sein Wissen zum Vertrauten des Kunden (nicht „nur“ zum Verkäufer). Missstände können direkt angesprochen und somit der Nutzen der eigenen Lösung stärker hervorgehoben werden. Darüber hinaus erspart sich der Verkäufer Vorbereitungszeit, die er in mehr Termine oder mehr „Quality Time“ für seine Kunden investieren kann.

20.7 I dentifikation der geeigneten Zeitpunkte („Compelling Moments“), zu denen der potenzielle Kunde besonders zugänglich für den Vertrieb ist Den richtigen Zeitpunkt für ein Verkaufsgespräch zu ermitteln, ist häufig immer noch „Bauchsache“ beim Vertrieb. Entweder der Kalender erinnert ihn daran, einen Bestandskunden mal wieder zu besuchen oder er sucht aktiv nach Chancen in seinem Vertriebsgebiet oder Segment. Durch diese, häufig noch unstrukturierte Vorgehensweise, werden ­potenzielle Kunden – auch wenn sie grundsätzlich perfekt in das Zielkundenprofil passen  – oftmals in einem nicht-optimalen Moment angetroffen, an dem sie offen für ein Vertriebsgespräch wären. Im schlimmsten Fall war aber zum richtigen Zeitpunkt auch schon ein Konkurrent vor Ort und konnte einen Abschluss erzielen. Zu wissen, „wann“ der Kunde für ein Verkaufsgespräch bereit ist und dann der Erste zu sein, gibt dem Verkäufer einen immensen Wettbewerbsvorteil und erhöht die Chance eines erfolgreichen Abschlusses. Durch die Identifizierung sogenannter „Compelling Moments“, erhält der Verkäufer den Anstoß, zum optimalen Zeitpunkt bestehende Kunden für einen Nachverkauf oder potenzielle Neukunden anzusprechen. Sie fragen sich, wie das funktioniert? Die Ermittlung des „Compelling Moments“ basiert auf der Nutzung von „Natural Language Processing“ (kurz: NLP) zur Analyse von Quelldaten. In einem Workshop werden vorab relevante Momente für den Vertrieb

20  Instinkt ist gut, Analyse ist besser – Wie Sie durch eine datengetriebene …

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Kontinuierliche Optimierung

1. Relevante Momente definieren (hypothesenbasiert)

Workshops

2. Momente durch Big Data Analysen identifizieren

Suchen und analysieren

3. Einspielen der Vertriebsergebnissen in das CRM-System

Operativer Vertrieb

4. Ergebnisse auswerten

Ergebnisse

Abb. 20.3  Der Prozess zum Finden der besten „Compelling Moments“

­ efiniert. Basierend auf diesen Momenten werden entsprechend Online-Quellen identifid ziert, die für diese Informationen herangezogen werden können. Mit Hilfe von Crawling von z. B. vorher ausgewählten News-Seiten, können relevante Informationen kontinuierlich erhoben werden. Mit Hilfe von NLP werden diese unstrukturierten Daten analysiert und Muster innerhalb dieser Datenmengen erkannt. Eine Anwendung von NLP ist die Extraktion von „Event“-Informationen. In diesem Fall identifiziert NLP Events zu vorher definierten Themen, um z. B. aus Branchen-News Erkenntnisse über Neu-Eröffnungen zu ermitteln. Diese Informationen können dann direkt in das CRM-System eingespielt und dem Vertriebsmitarbeiter zur Verfügung gestellt werden (Abb. 20.3). Was sind also Ihre Vorteile? Jeder, der schon einmal im Außendienst gearbeitet hat, kennt diesen Moment: „Da war ich zufällig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und konnte den Abschluss schnell erzielen“. Mit Hilfe modernster Big Data Analysen können solche „Compelling Moments“ systematisch identifiziert und für den Vertrieb nutzbar gemacht werden.

20.8 S  teigerung der Vertriebseffizienz durch leistungsfähige Tools, die in ihrer praktischen Anwendung sehr einfach zu handhaben sind Durch die Implementierung eines datengetriebenen Vertriebsansatzes können Sie Ihren Vertrieb deutlich effizienter gestalten und die Kundenzufriedenheit signifikant erhöhen. Dabei ist zu betonen, dass diese digitalen Methoden und Tools schon heute ohne große IT-Implementierung nutzbar sind. Was sich hier zunächst nach komplexer Technologie anhört, ist in der praktischen Anwendung relativ einfach und mit eher geringen finanziellen Investitionen verbunden. Ein Beispiel-Tool zur Steigerung der Vertriebseffizienz ist eine iPad Applikation für die digitale Präsentation beim Kunden. In dieser Applikation bekommt der Vertriebsmit­ arbeiter potenzielle Zielkunden direkt mit der jeweiligen Abschlusswahrscheinlichkeit

222

S. Kaas und M. Meyer

a­ngezeigt. Eine geführte Bedarfsanalyse und Dokumentation während des Kundengesprächs erleichtern dem Mitarbeiter die Gesprächsführung. Smarte Produktvorschläge, basierend auf Customer Insights, sind in Echtzeit verfügbar. Gleichzeitig wird das Kundenprofil während des Gesprächs weiter angereichert und das emotionale Feedback zu den Lösungen eingesammelt. Darüber hinaus können Aufträge direkt in der Applikation aufgenommen sowie digital unterschrieben werden. Die Vorteile liegen damit auf der Hand. Es bedarf kaum Vorbereitungszeit für Kundengespräche, dem Verkäufer werden alle wesentlichen Informationen automatisiert aufbereitet. Der Verkäufer erfährt eine hohe Akzeptanz von Seiten des Kunden, weil er sich sehr gut mit dessen Situation auskennt und der Kunde sich verstanden fühlt.

20.9 D  eutliche Steigerung der Vertriebsperformance und Kundenzufriedenheit durch den Einsatz der neuen digitalen Verfahren Die Ergebnisse bei einem Referenzkunden-Projekt zeigen in beeindruckender Weise, wie sich die Vertriebseffizienz steigern lässt. Durch den Einsatz der oben genannten datengetriebenen Verfahren und Tools stieg die Abschlussquote um bis zu 67 % bei Kunden, die mit einem hohen Lead Score bewertet wurden (Abb. 20.4). Zudem wurde über alle besuchten Kunden (mit oder ohne Abschluss) ein überaus erfreulicher NPS (Net Promoter Score) von 26 gemessen. D. h., dass nicht nur eine hohe Abschlussquote erreicht werden konnte, sondern dass die besuchten Kunden mit dem Verkaufsgespräch auch sehr zufrieden waren.

SALES CONVERSION (in %) mit Prediction

64 %

51 %

40 %

+ 67 %

36 %

49 %

60 %

SALES LEAD CONVERSION VERBESSERUNG (Total vs. Prediction)

Lost

Total Leads

Medium

High

Won

n = 6,699 (965)

Abb. 20.4  Verbesserung der Abschlussquote durch Nutzung von Lead Prediction bei einem Referenzkunden-­Projekt

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20.10 5  Schritte zur praktischen Umsetzung – wie Sie Ihren eigenen Vertrieb digital fit machen und sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen Um eine Effizienzsteigerung in Ihrem eigenen Vertrieb zu erreichen und langfristig erfolgreich zu bleiben, sollten Sie sich diese neuen Möglichkeiten unbedingt zunutze machen. Der folgende Plan soll Sie konzeptionell und in der Umsetzung bei der Digitalisierung Ihrer eigenen Vertriebsprozesse unterstützen. Scheuen Sie sich nicht externe Hilfe in Anspruch zu nehmen, insbesondere wenn es um die Suche nach geeigneten Technologiepartnern und die Entwicklung der für Sie passenden Methoden geht. 1. Arbeiten Sie mit Web-Crawling: Zunächst sollten Sie potenzielle Crawling Agenturen identifizieren und mit diesen gemeinsam Ihre individuellen Anforderungen festlegen, indem Sie Informationsquellen sowie Parameter definieren. Gleichzeitig sollte ein Datencrawling-­Qualitätsprozesses implementiert werden. 2. Lassen Sie sich Ihre Leads priorisieren: Um den nächsten potenziellen Kunden zu identifizieren, implementieren Sie zusammen mit Ihrem Partner geeignete Lernalgorithmen und Machine Learning Verfahren. Durch Lead Scoring können Sie das Verkaufspotenzial Ihrer (Neu)Kunden sehr gut bestimmen. 3. Probieren Sie es aus: Im nächsten Schritt bestimmen Sie den individuellen Content der für den Vertrieb relevanten Customer Insights und nutzen die gewonnenen Erkenntnisse direkt im Verkaufsprozess. 4. Finden Sie den richtigen Moment: Bilden Sie erste Hypothesen, wann der richtige Moment für einen Vertriebsabschluss ist und gehen Sie mit Crawling-Partnern auf die Suche nach solchen Momenten. Mit den ersten Ergebnissen trainieren und optimieren Sie kontinuierlich den Algorithmus und Ihre Vertriebs-Performance. 5. Nutzen Sie unterstützende Tools: Um die vorgenannten Verfahren bestmöglich nutzbar zu machen, greifen Sie auf Sales-Tools zurück, die auf Ihre individuellen Anforderungen und Bedürfnisse angepasst werden können. Der Einsatz eines Sales-Tools führt zu maximal reduziertem Vor- und Nachbereitungsaufwand für den Außendienst. Für die Umsetzung der Themen 1 und 2 (Web Crawling und Lead Scoring), mit denen viele Unternehmen in die Digitalisierung ihrer Vertriebsprozesse einsteigen, benötigen Sie in der Regel maximal 6 Wochen. Für die Umsetzung aller genannten Maßnahmen sollten Sie etwa 3 Monate einplanen. Die Digitalisierung hat den Vertrieb bereits signifikant verändert. Die Veränderungen, datengetriebene Verfahren und die Intelligenz von Maschinen müssen akzeptiert und umgesetzt werden. Das erfordert ein gewisses Maß an Toleranz, Neugierde und Mut. Doch jetzt ist die Zeit, in der sich innovative Unternehmen hierdurch noch Wettbewerbsvorteile verschaffen können. Während früher nur 20–30  % der gesamten Arbeitszeit eines

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S. Kaas und M. Meyer

­ ertrieblers für vertriebsaktive Zeit übrig blieben, sind es heute schon 70–80 %.1 Mithilfe V digitaler Methoden und Tools wird es Ihnen gelingen, in der gleichen Zeitspanne deutlich mehr Verkäufe zu erzielen und die Effizienz Ihres Vertriebs erheblich zu steigern.

Literatur 1. Kaas, S. (2019). Business Analytics & Intelligence – intelligente Unterstützung für den Vertrieb. Digitale Welt. https://digitaleweltmagazin.de/2019/05/23/business-analytics-intelligence-intelligente-unterstuetzung-fuer-den-vertrieb/. Zugegriffen am 24.07.2019.

 Interne Schätzung Pure Business Consulting.

1

Digitale Transformation einer Einkaufskooperation zum Servicedienstleister

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Daniel Trost

21.1 Allgemeine Informationen zum Unternehmen Bei dem in diesem Beitrag beschriebenen Unternehmen, der SELECT AG, handelt es sich um eine Einkaufskooperation für den Autoteilegroßhandel. Das Kerngeschäft sind Dienstleistungen zur Sortiments-, Einkaufs- und Vertriebsunterstützung für den Kfz-Teile-­ Großhandel und die angeschlossene markenungebundene KFZ-Reparaturwerkstatt. 2000 gegründet, ist das Unternehmen heute einer der drei führenden Akteure im deutschen Independent Aftermarket (IAM). Insgesamt zählen 15 Teilegroßhändler als Aktionäre mit 131 Eigentumsstandorten zum Unternehmen. Rund 3.700 Mitarbeiter sind deutschlandweit für die Aktionäre der Einkaufsgemeinschaft im Einsatz und betreuen mehr als 31.000 Kunden. Der Jahresumsatz beläuft sich auf 700 Mio EUR. Eine tragende Säule im Bereich der Sortiments-, Einkaufs- und Vertriebsunterstützung ist das Angebot von IT-Services innerhalb der Organisation sowie die Entwicklung und Bereitstellung von Softwarelösungen zur Digitalisierung und somit die Optimierung von Prozessabläufen der Kunden der angeschlossenen Teilegroßhändler, demnach von marken­ ungebundenen KFZ- Reparaturwerkstätten.

D. Trost (*) Select AG, Andernach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_21

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226

D. Trost

21.2 Z  ukunftssicherung der Einkaufskooperation durch digitale Transformation?! Unter Berücksichtigung der Einflussnahme der digitalen Transformation und den damit einhergehenden Effekten, wie beispielsweise Prozesseffizienz, strebt das Unternehmen eine mittelfristige Erhöhung des Gesamtumsatzes auf > 1 Mrd. Euro im Verbund der angeschlossenen Gesellschafter der Einkaufskooperation an. Diese Umsatzsteigerung soll zum einen durch organisches Wachstum innerhalb der Gesellschaften erzielt werden, z. B. einerseits durch die Erschließung neuer digitaler Geschäftsfelder und zum anderen durch den Ausbau der generellen Marktanteile auf dem IAM. Zudem sollen zusätzliche IT-Services die Attraktivität des Leistungsportfolios für neue Partner und Gesellschafter, die sich der Einkaufskooperation anschließen, erhöhen. Durch die aktuellen Veränderungen im Bereich Mobilität geben derzeit nicht nur die Fahrzeughersteller die Richtung in Sachen Digitalisierung vor, vielmehr sind es neue Wettbewerber, wie bspw. Amazon, die die Veränderungsgeschwindigkeit deutlich erhöhen. Für die Einkaufsorganisation ist es essenziell, diesen Weg mitzugehen und den angeschlossenen Teilegroßhändlern und den nachgelagerten markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstätten attraktive und zukunftsfähige Leistungen zu bieten. Ebenso gilt es die Strategie zur Erreichbarkeit des „letzten Gliedes der Kette“ – des Autofahrers – festzulegen und diese ebenfalls in eine ganzheitliche IT Strategie einzubinden. Um die o. g. Unternehmensziele zu erreichen wurde bereits früh – im Jahr 2011 – mit der Grundsteinlegung begonnen. Diese Grundsteinlegung beinhaltete zunächst die personelle Erweiterung des Bereichs IT und gleichermaßen die Schaffung eines professionellen IT Managements. Ziel war die Bestandsaufnahme der internen Prozesse des Unternehmens und letztlich der Entwurf einer Digitalisierungsstrategie unter Berücksichtigung der Unternehmensziele des TOP-Managements und der Gesellschafter der Einkaufsko­operation. Neben den klassischen Aufgabenstellungen von Mitarbeitern-Innen im Bereich der IT war es bis zum Jahr 2011 innerhalb der Organisation nicht vorgesehen, den Bereich IT – oder bis dato der EDV-Anwendungsadministration – als strategischen Bereich in der Organisation in Bezug auf Optimierung interner Geschäftsprozesse im Unternehmen oder auch weiterer digitaler Geschäftsfelder, durch bspw. das Erzielen von Kundenbindungseffekten, zu betrachten. In der Position des „IT Leiters“ bestand die Aufgabenstellung des Bereichs primär in der Aufrechterhaltung der Funktionalität von bestehenden Softwareprodukten (Basisadministration) und dem Führen von gelegentlich stattfindenden Arbeitskreisen mit Mitarbeiter-Innen der angeschlossenen Gesellschafter der Einkaufskooperation. Dies war mit einem klassischen Change-Management zwar zu vergleichen, jedoch wurde dabei keine nachgelagerte Strategie verfolgt und somit keine Unternehmensziele verknüpft. Zusammengefasst führte dies zu einer eher verwaltenden und demnach administrativen Rolle der IT für bestehende Systeme und weniger zu einer innovativen und agilen Weiterentwicklung auf Basis der dahinterliegenden Unternehmensziele.

21  Digitale Transformation einer Einkaufskooperation zum Servicedienstleister

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Diese maßgeblichen Kernziele wurden im Jahr 2015 in einer sog. „Digitalen Agenda 2020“ festgelegt. Die Kernaussagen der Agenda beinhalten, das bestehende Geschäftsmodelle durch intelligente IT-Services zu sichern und weiterzuentwickeln. Ein aktuelles Beispiel sind Lösungen zur Generierung, Aufbereitung und Analyse von Daten aus dem Connected Car, auf dessen Basis markenungebundene KFZ-Reparaturwerkstätten ihre Serviceleistungen verbessern können und somit gleichermaßen Kundenbindungseffekte zum Autofahrer generieren können. Generell müssen hierzu enge Partnerschaften – Smart Partnering – etabliert werden, um den technologischen Herausforderungen mit engen Kooperationen außerhalb des eigentlichen Marktumfelds qualitativ und effizient Paroli bieten zu können. Ein weiteres Ziel besteht darin, die Reaktionsgeschwindigkeit durch den konsequenten Ausbau digitaler Prozesse zu verbessern und mit agilen Projektteams – trotz einer schlanken Personaldecke  – Freiraum für Innovationen zu ermöglichen. Im Ergebnis kann die Organisation auf dieser Basis zukünftigen Herausforderungen erfolgreich begegnen und ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern. Darüber hinaus zielt die Strategie darauf ab, die Attraktivität des Unternehmens für qualifizierte Bewerber durch einen hohen Digitalisierungsgrad zu steigern. Dieser wiederum bildet die Grundlage, um das internationale Team weiter auszubauen und als Unternehmen nachhaltig zu wachsen. Digitalisierung kann nur mit dem Verständnis und der Bereitschaft der entsprechenden Mitarbeiter-Innen gelingen. Agile Herangehensweisen, moderne Vorgehensmodelle wie SCRUM oder Prozessverbesserungsansätze wie DevOps, die maßgeblich für eine strukturierte Arbeit in Digitalisierungsprojekten sind, erfordern zunächst immer die Akzeptanz der Person, welche sie ausführen soll. Faktor „Mensch“ Auf den Faktor „Mensch“ in Bezug auf Veränderungsprozesse im Unternehmen, wie bspw. die Digitalisierung oder gar die digitale Transformation von Geschäftsmodellen, wird im Weiteren nicht eingegangen. Dennoch muss aus der Erfahrung der genannten Veränderungen in diesem Beitrag erwähnt bleiben, dass neben den technologischen, finanziellen und prozessualen Herausforderungen, die jede Veränderung durch die Digitalisierung mit sich bringt, es zu einem hohen Maße der Faktor „Mensch“ ist, welcher zunächst durch eine enge und offene Kommunikationsstruktur auf dem Weg der Veränderung mitgenommen werden muss. Durch eine offene und enge Kommunikation können bereits zu Beginn von Digitalisierungsprojekten Ablehnung und Zweifel bis hin zu Existenzängsten der betroffenen Personen vermieden werden.

Innerhalb der „Digitalen Agenda 2020“ der Einkaufskooperation (siehe Abb.  21.1) wird zwischen verschiedenen Teilbereichen unterschieden, welche jedoch relevante Abhängigkeiten untereinander aufweisen. Der Aufbau eines zentralen Datenmanagements bestimmt einen der wichtigsten Grundpfeiler für die weiteren Digitalisierungsprojekte innerhalb der Kooperation. Auf die primären Inhalte der „Digitalen Agenda 2020“ wird nun im Weiteren detaillierter eingegangen.

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Abb. 21.1  Lookup_DigitalAgenda_SELECTAG (C) Select AG 2019

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. Aufbau eines zentralen MDM für Digitale Daten der Supply Chain 1 2. Digitalisierung bestehender Vertriebskanäle zur Reparaturwerkstatt 3. Kundenbindung/-stärkung durch neue „Digital Services“ 4. Von B2B zu B2B2C durch Telematik Services

21.2.1 Aufbau eines zentralen MDM für Digitale Daten der Supply Chain Eine umfassende Wirkung hat die digitale Transformation auf die Themenbereiche „Datenmanagement“ und „Big Data“, die zu den zentralen Bausteinen der „Digitalen Agenda“ gehören. Im Detail sind daher nicht nur das Produkt- und Stammdatenmanagement betroffen, sondern auch partizipierende Bereiche wie Einkauf, Marketing und Vertrieb. Sämtliche Unternehmensbereiche sind über die neuen softwaregetriebenen Prozesse in ihrer täglichen Arbeit eng verzahnt und finden im zentralen Datenmanagement ihre Basis. Vernetzt sind unter anderem auch alle vertrieblichen Bausteine, welche in der Dachmarke „Select Connect“ (siehe Abschn. 21.2.2) zusammengeführt sind. Grundlage dafür sind ein ganzheitliches MDM für Digitale Daten Supply Chains sowie der Aufbau eines Ökosystems in der Zukunft. In Bezug auf die beschriebene „Digitale Agenda 2020“ bildet ein zentrales MDM den wichtigsten Grundpfeiler für die nachgelagerten Produkte und Services innerhalb der Organisation, aber auch die für Services zum Kunden. Essentiell für den Umgang mit Daten ist nicht nur deren Haltung, sondern vielmehr die Definition eines qualitativen Anspruchs an die Daten selbst. Nur wenn aus den reinen Daten entsprechend einer Wandlung in eine „Information“ gelingt, kann das Ergebnis eine entsprechende Erkenntnis („Wissen“) zur Verbesserung eines Prozesses beitragen. Diese einfach beschriebene Kausalkette ist jedoch nur mit einem hohen Anspruch an Qualität und einem starken Detaillierungsgrad innerhalb des Datenmanagements zu gewährleisten. Somit beinhaltet das Datenqualitätsmanagement (DQM) des Unternehmens heute nicht nur zugeschnittene Softwaretools, sondern vielmehr eine hohe Disziplin innerhalb des Datenqualitätsmanagements, welche das flankierende Auflegen einer Data Governance unverzichtbar macht. Gerade aus solch einer Governance entspringt beispielsweise eine Trennung der Aufgabenfelder innerhalb der Datenmanagementprozesse, was sich durch die Erfahrung der Vergangenheit als essenziell herausstellte. Das DQM verantwortet beispielsweise, dass innerhalb der Neuanlage von Produkten eine Vielzahl von Prüfprozessen durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass die definierte Datenqualität eines Artikels in seinem befindlichen Produktsegment gegeben ist. Die Verantwortlichkeit trägt hierbei der Bereich des „Produktmanagements“ innerhalb des Unternehmens. Diesen Schritt gilt es jedoch weitestgehend zu automatisieren, um die notwendige Prozesseffizienz zu steigern und die damit verbundenen nachgelagerten Kosten zu senken.

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Bei einer Gesamtzahl von 4,2 Millionen aktiven Artikeln mit enthaltenen 2,5 Millionen Nettopreisen konnte eine automatische Erfassung von bis zu 2000 Informationen pro ­Artikel erreicht werden. Ebenso haben erste Erfahrungen mit Künstlicher Intelligenz (KI) gezeigt, dass unter Verwendung von neuronalen Netzen oder Entscheidungsbäumen weitere Potenziale der Automatisierung verborgen liegen. Bereits heute führt dieser hohe Grad der Automatisierung – unter Berücksichtigung der entsprechenden DQM Prozesse – zu einer Summe von durchschnittlich 1500 Datenexporten im Monat an partizipierende Systeme innerhalb der Kooperation. Dies sind zum einen die ERP-Systeme der angeschlossenen Teilgroßhändler selbst, zum anderen aber auch B2B-Shops und etwaige Marketingtools (PIM, „MesseWelt“ Abschn. 21.2.2.1, etc.). Zusammenfassend ist das oberste Ziel, die definierten Qualitätsansprüche im Tagesgeschäft zunächst zu verwirklichen und stetig weiterzuentwickeln, um die Datenqualität nicht – wie in vielen gescheiterten Projekten der Vergangenheit – mit einem hohen Maß an nachgelagertem personellen und finanziellen Einsatz zu vernachlässigen. Dies führt in der Konsequenz zu periodisch wiederkehrenden Projekten im Bereich des Datenmanagements und einer sprunghaften Qualität der Daten, welche sich visuell dargestellt ähnlich einer Sinuskurve verhält. Es ist festzustellen, dass es sich bei Datenqualität im Allgemeinen stets um einen Prozess und nicht ein Projekt handelt. Projekte sind bekanntlich endlich. Um eine nachgelagerte Automatisierung herzustellen, muss das manuell Erlernte sukzessive durch Softwareautomatisierung flankiert werden, um am Ende durch diese iterative Herangehensweise eine komplette Automatisierung eines Teilprozesses und im Idealfall des Gesamtprozesses zu gewährleisten. Dies sind nach wie vor die Herausforderungen der Zukunft innerhalb der Einkaufskooperation. Darüber hinaus wächst das System stetig und stellt sich somit den Herausforderungen der Zukunft. Diese Herausforderungen zeigen sich speziell im qualitativen Umgang mit der steigenden Anzahl von Daten. Das Sammeln von Bewegungsdaten aus Shopsystemen, aber auch statistischen Bewegungsdaten aus den ERP Systemen, führt immer mehr zu der oft beschriebenen 360-Grad-Sicht auf einen Artikel. Ob diese Rundumsicht jemals erreicht wird, hängt stark an der Definition der genannten 360 Grad. Durch diesen stetigen Zuwachs von Daten zum eigentlichen Produkt (in diesem Beispiel zum Artikel) und dem daraus entspringenden Potenzial, die Daten selbst als Grundlage für zukünftige neue Geschäftsmodelle zu verwenden, ist es notwendig, Skalierbarkeit auf allen Ebenen herzustellen. Dies muss nicht nur innerhalb der prozessualen Strukturen, sondern auch innerhalb der angewendeten Softwareprodukte selbst geschehen. Hieraus entsteht in vielen Bereichen die Transformation eines klassischen MDM-Systems zu einer Datenplattform und schließlich der Überlegung zum Aufbau eines datengetriebenen Geschäftsmodells auf Basis eines Ökosystems. Basierend auf der bereits vorhandenen Datenbasis, welche sich aus dem bestehenden MDM System ergibt, gepaart mit den Informationen, welche sich aus den „Digital Services“ ergeben und letztendlich den Daten aus dem Fahrzeug selbst, welche über das ­Angebot von Telematikservices weitere Massendaten generieren, ergeben sich schluss­ folgernd die Potenziale zum Aufbau eines Ökosystems, welches alle Datenquellen

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z­ usammenführt und in der Konsequenz diese Daten auf einer Plattform aggregiert als Information zur Verfügung stellt.

21.2.2 Digitalisierung bestehender Vertriebskanäle zur Werkstatt Bereits seit Gründung des Unternehmens im Jahr 2000 ist es eine der zentralen Aufgaben, maßgeschneiderte IT-Lösungen für die markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt bereitzustellen. Diese sollten bereits seit Unternehmensgründung nachhaltige Kundenbindungseffekte zwischen Teilegroßhandel und Kunden generieren. Bis heute ist Kundenbindung einer der forcierten Effekte, welche beim Vertrieb von IT-Lösungen zur KFZ- Reparaturwerkstatt hergestellt werden sollen. Durch die zunehmende Digitalisierung ist das jedoch nicht mehr der alleinige Mehrwert. Ziel ist es vielmehr, innerhalb der existierenden Supply Chain (Lieferkette) der handelnden Akteure bestehende Prozesse zu digitalisieren. Durch den bereits beschriebenen zunehmenden Wettbewerb (siehe Abschn. 21.2) und die damit zusätzlich einhergehende Digitalisierung ist es nun nicht nur die Aufgabe, Bestell- und Warenlieferungsprozesse zur optimieren und somit durch IT-Lösungen zu flankieren, sondern vielmehr, die Zukunft der markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt in Gänze zu sichern, da der ursprüngliche KFZ Handwerksbetrieb die aufkommenden Themen der Digitalisierung nur mit der notwendigen Unterstützung meistern kann. Im Verbund einer sog. IT-Suite unter dem Vermarktungsnamen „Select Connect“ bietet die Einkaufskooperation den angeschlossenen Teilegroßhändlern zur weiteren Vermarktung an die markengebundene KFZ-Reparaturwerkstatt, eine Reihe von IT-Leistungen (siehe Abb. 21.1), welche strategisch die o. g. Mehrwerte liefern. Darüber hinaus ist es die mittelfristige Strategie, sämtliche Bausteine in einer cloudbasierten Struktur zusammenzuführen und gemäß der Anforderung des Einzelnen skalierbar in einer Portallösung zur Verfügung zu stellen. Dies beginnt mit einem zentralisierten Benutzer- und Rechtemanagement über alle Systeme und endet in einer Konsolidierung von Businesslogiken, aber dem harmonischen Zusammenführen von Benutzeroberflächen (UI) und somit der gesamten „User Experience“ (UX) des Systems. Einige der Bausteine von Select Connect (siehe Abb. 21.1) werden im Folgenden genauer beschrieben.

21.2.2.1  Aufbau einer virtuellen Verkaufsmesse „MesseWelt“ In der Branche des Großhandels des IAM besteht ein Überangebot an nicht nur regionalen, sondern an überregionalen „Verkaufsmessen“ der einzelnen Marktteilnehmer. Hohe Kosten und die Diskussion der „richtigen Örtlichkeit“ auf Seiten der Großhändler sowie der zeitliche Aufwand auf Seiten der Reparaturwerkstätten stehen sich hierbei gegenüber. Effizienz unter Berücksichtigung des Kundenerlebnisses war daher die Motivation, neben dem alle zwei Jahre stattfindenden physischen Kongress – einem Fachkongress ohne Messeangebote – eine bis heute neuartige, virtuelle Verkaufsmesse ins Leben zu rufen. Diese bildet mittlerweile einen festen Bestandteil der vertrieblichen Aktivitäten der

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Einkaufskooperation – und somit auch der angeschlossenen Teilegroßhändler der Organisation und ist nach wie vor einzigartig in der Branche. Im Jahre 2014 wurde gemeinsam mit einem Start-Up-Unternehmen die erste virtuelle Verkaufsmesse („MesseWelt“) der Branche entwickelt. Der digitale Transformationsprozess brachte den beteiligten Großhändlern hohe Mehrwerte hinsichtlich Kosteneffizienz und Kundenzufriedenheit. Der Zusammenschluss vieler physischer regionaler Messen zu einer virtuellen Messe ermöglicht ein umfangreiches Angebot an 3D-Messeständen inkl. Chats, Live-Videovorträgen und Messeangeboten. Das bereits beschriebene zentrale Datenmanagement (siehe Abschn. 21.2.1) bildet den zentralen Kern zur Erstellung des Produktportfolios innerhalb einer stattfindenden Verkaufsmesse. Somit wurde erreicht, dass für die jährlich zweifach stattfindende Onlinemesse keinerlei Personalressource der IT benötigt wird, da sämtliche Produktausleitungsprozesse (Produktbilder, Produkttexte, Preise, Anlagen, Videos, etc.) voll automatisiert über das zentrale Datenmanagement der Organisation ausgeleitet werden. Somit entstehen auch beim angeschlossenen Teilegroßhändler der Organisation keinerlei Aufwände, da definierte Produktinformationen ebenfalls automatisiert an die angeschlossenen ERP-­ Systeme ausgeleitet werden.

21.2.2.2  Cloudbasiertes Werkstattmanagement trifft B2B-Shop Aus Sicht der markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt ist es heute unerlässlich, sich mit prozessoptimierenden Softwarelösungen auseinanderzusetzen, sei es im operativen Tagesgeschäft wie beispielsweise der Fahrzeugfehlerdiagnose, dem Identifizieren der passenden Ersatzteile und der vorgeschriebenen Arbeitszeit zur Reparaturvorbereitung oder auch in nachgelagerten Tätigkeiten wie der Faktura oder Buchhaltung. Alle diese beschriebenen Schritte sind mittels manueller Herangehensweisen nicht mehr nur zeitlich nicht umsetzbar, sie machen darüber hinaus das eigentliche Geschäftsmodell nicht mehr ertragreich. Bis zum heutigen Tag gehört es in das angebotene Produktportfolio jedes namenhaften Teilegroßhändlers in Deutschland, seinen Kunden ein entsprechendes digitales Hilfsmittel in Form eines elektronischen Katalogs zur Identifizierung des passenden Ersatzteils und der benötigten Informationen rund um die Fahrzeugreparatur (Technische Zeichnungen, Schaltpläne, Arbeitszeitwerte, etc.) zur Verfügung zu stellen. Nur auf diesen Anwendungsfall bezogen handelt es sich bereits um eine riesige Anzahl von Daten, welche sich aufgrund ihres Volumens, aber auch ihrer Aktualität nur noch über Onlinesysteme kommunizieren lassen. Bereits im Jahre 2013 wurde der bestehende B2B-Shop komplett überarbeitet und verfügt heute bereits über eine Vielzahl an Funktionalitäten, welche über die Funktionen der reinen Teileidentifikation hinausgehen. Gemäß der marktspezifischen Herausforderungen (siehe unten stehende Infobox „Marktspezifische Herausforderungen in Bezug auf die Datenqualität“) in Bezug auf die korrekte Teileidentifikation werden schon heute über 80 %

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der im System befindlichen Artikelinformationen aus dem zentralen MDM der Einkaufskooperation ausgeleitet und überarbeitet (siehe Abschn. 21.2.1), um den höchstmöglichen Grad der Qualität zu gewährleisten. Somit wird bereits durch den komplett cloudbasierten B2B-Shop ein entsprechender USP im Markt generiert. Dieser spiegelt sich in einer Nutzerzahl von monatlich über 10.000 markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstätten ­sowie einem durchschnittlichen Anteil am Onlineumsatz der angeschlossenen Teilegroßhändler von >60 % wieder und macht ihn durch die konsequente Weiterentwicklung zu einem führenden System in seiner Branche. Um nun, der „Digitalen Agenda 2020“ folgend, auch die betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Prozesse der markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt zu unterstützen, wurde entschieden, ein komplettes Werkstattmanagement in den bestehenden B2B Shop zu integrieren und somit eine Transformation zu einem Portal vorzunehmen. Direkte Warenverfügbarkeit, integriert im Angebots- und/oder Auftragsprozess, effiziente Warenbestellprozesse durch ein hohes Maß an Prozessprofessionalisierung ohne Systembrüche, gepaart mit dem Wegfall lästiger administrativer Tätigkeiten, welche ggf. gesondertes Know-How benötigen, wie die tägliche Datensicherung und Softwareupdates, helfen der markengebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt bei Effizienzsteigerung und generieren gleichermaßen Kundenbindungseffekte beim Teilegroßhändler. Bei >90 % der nutzenden Kunden des Systems wurden über einen Zeitraum von 6 Monaten Umsatzsteigerungsraten bei der Ersatzteilbestellung festgestellt. Darüber hinaus bietet das Angebot solch eines ganzheitlichen cloudbasierten Systems in der Zukunft, unter der Verwendung von KI oder Data-Mining Prozessen, ein hohes Potenzial an Mehrwerten für den Teilegroßhändler und die angeschlossen KFZ-Reparaturwerkstatt. Vor dem Hintergrund der Schnelllebigkeit und der massiv steigenden Anzahl von Informationen (Daten) ist es notwendig, diese der markenungebundenen KFZ-Reparaturwerkstatt schnell, effizient und anwendungsfallbezogen im Alltag zur Verfügung zu stellen. Ein cloudbasiertes Werkstattmanagement innerhalb des bestehenden B2B-Shops bildet somit einen wichtigen Baustein für die zukünftigen Prozesse, die sich aus den „Telematik Services“ (siehe Abschn.  21.2.2.3) ergeben. Künftig wird ein Großteil der Prozessschritte digital ablaufen. cc

Marktspezifische Herausforderungen in Bezug auf die Datenqualität  Innerhalb des

IAM gehört es zu den herausforderndsten Aufgaben bei einer anstehenden Fahrzeugreparatur oder -wartung, die passenden Ersatzteile und vorgeschriebenen Arbeitszeitwerte zu identifizieren. Trotz der durch die EU Kommission beschlossenen Verordnung, welche in einer entsprechenden Gruppenfreistellungsverordnung ­ (EU-Verordnung (EG) Nr. 461/2010) festgehalten wurde und somit den freien Wettbewerb im sog. Aftermarket sichern soll, stehen die benötigten Informationen des Fahrzeugherstellers nur qualitativ bedingt zur Verfügung. Demnach ist es meist die Aufgabe des vorgelagerten Teilegroßhändlers, IT-Systeme der markenungebunde-

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nen KFZ-Reparaturwerkstatt zur Verfügung zu stellen, um dieser Problemstellung im Tagesgeschäft entgegenzuwirken.

21.2.2.3  Von B2B zu B2B2C durch Telematic Services Dieser Punkt der „Digitalen Agenda“ konzentriert sich auf die aktuellsten aber auch disruptivsten Effekte und somit Einflussfaktoren der digitalen Transformation: auf das bestehende Geschäftsmodell. Beispielhaft ist die zunehmende Vernetzung von Fahrzeugen mit ihrer Umwelt zu ­nennen. Die Entwicklung zum vernetzen Fahrzeug - Connected Car - zieht massive Veränderungen in der Supply Chain des Teilehandelsgeschäfts auf dem IAM nach sich. Bis 2025 sollen fast 70 % des europäischen Fahrzeugbestands entweder über proprietäre Konnektivität und im Fahrzeug eingebaute Telematiksysteme oder durch Nachrüstlösungen über die OBD-Schnittstelle und/oder das Smartphone verbunden sein [1]. Hieraus resultierend ergeben sich durch die Verlagerung des Wissens um den Fahrzeugzustand über den ­eigentlichen Fahrzeughalter hinaus neue relevante Potenziale für datengetriebene Geschäftsmodelle. Im bestehenden Geschäftsmodell einer Einkaufskooperation mit ihren angeschlossenen Teilegroßhändlern wirkt sich dies im Speziellen bei Veränderungen der Re­paratursteuerung in die Reparaturwerkstatt aus. Basierend auf dem Zugriff auf die Daten eines vernetzten Fahrzeugs und dem damit verbundenen Wissen um den Zustand des Fahrzeugs, lassen sich die Steuerung des Fahrzeugs und somit des Fahrzeughalters selbst über neue Konzepte nachhaltig verändern. Dieser Wandel berücksichtigt noch nicht die ebenfalls stattfindenden Veränderungen der Verschleißteile im Lebenszyklus eines Fahrzeugs durch die Veränderungen der Antriebstechnologien zur Elektromobilität. Diese bleiben in dieser Analyse zunächst unbeachtet. Hinzu kommt, dass nicht nur der Automobilhersteller, sondern auch Technologieunternehmen das bisher wenig beachtete Segment der Reparatursteuerung auf Basis von Telematik-­Daten aus dem Fahrzeug für sich entdeckt haben. Dies vergrößert den Wettbewerbsdruck auf den freien Teilemarkt und somit auf das zukünftige Geschäft der Fahrzeugwartung und -reparatur. Ein weiterer Einflussfaktor ist der vermehrte Einstieg von sogenannten Intermediären in den Markt, die sich zwischen die Endkunden und die weiteren Akteure der Branche schieben und somit auch die Reparatursteuerung in der Zukunft nachhaltig beeinflussen möchten. Die oben beschriebenen Dynamiken führen dazu, dass eine digitale Transformation des bestehenden B2B-Ansatzes der Einkaufsorganisation hin zu einem B2B2C-­Ge­schäfts­mo­ dell unerlässlich ist, um die Existenz langfristig zu sichern. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das aktuelle Telematikprojekt in Kooperation bspw. mit der Telekom AG, aber auch anderen Technologieunternehmen (Stichwort: Smart Partnering). Dieses beinhaltet die Vermarktung von OBD II-Adapterlösungen und damit verbundenen Services durch freie Reparaturwerkstätten an den Autofahrer. Ziel ist es, Kunde und Reparatur-

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werkstatt zu vernetzen und Mehrwerte für beide Seiten zu generieren. Nur wenn die freie Reparaturwerkstatt in den gleichberechtigen Wettbewerb mit den entstehenden Mehrwerten durch zusätzliche Serviceleistungen für den Autofahrer, basierend auf den Telematikdaten aus dem „Connected Car“ treten kann, ist ihre Zukunftsfähigkeit durch den Umgang der stark datengetriebenen Modelle gesichert und somit auch im Weiteren die des KFZ-Teilegroßhändlers im bestehenden IAM.  Das Beispiel zeigt: Die Neuausrichtung der Einkaufsorganisation zum B2B2C-Servicedienstleister kann nur gelingen, wenn alle Bezugsgruppen einbezogen werden – von den Teilegroßhändlern über die markenungebundenen KFZ-Reparaturwertstätten bis hin zum Autofahrer. Dazu ist es unerlässlich, den angeschlossenen Teilegroßhändlern u. a. digitale Lösungen und Modelle wie Telematik-Nachrüstlösungen auf der Basis von OBD II-Retrofit-­ Lösungen bereitzustellen, die sie angeschlossenen markenungebundenen KFZ-­ Repa­ raturwertstätten anbieten können. Diese werden in das bestehende Produktportfolio der Einkaufsorganisation der bereits bestehenden „Digitalen Services“ (siehe Abb. 21.2) integriert sein, um auf Basis der erhöhten Kundenbindung gleichermaßen die Teileversorgung innerhalb der Supply Chain sicherzustellen und somit auch nachgelagerte Kundenbindungseffekte zwischen Teilegroßhändler und freier Reparaturwerkstatt zu generieren. Ziel ist es, dass bis Mitte 2020 mehr als 50 % der angeschlossenen Reparaturwerkstätten der Teilegroßhändler mit einer Telematik Retrofit-Lösung ausgestattet sind. cc [Begriffsdefinition  OBD II- Retrofit Lösung Hardware Nachrüstlösung, welche für die bestehende On Board Diagnostic Schnittstelle eines Fahrzeugs konzipiert ist, um Daten bereits während der Fahrt mittels bestehender Konnektivität (SIM oder SMARTPHONE APP) auszulesen, IAM Independent Aftermarket Von dem Automobilhersteller losgelöster Vertriebsweg von Ersatzteilen unterschiedlichster Marken und dessen Einbau durch freie KFZ Reparaturwerkstätten unter Berücksichtigung der Gruppenfreistellungsverordnung EG 461/2010. Connected Car Als Connected Car wird ein Fahrzeug bezeichnet, das mit Internetzugang und meistens auch WLAN ausgestattet ist. Dies ermöglicht es dem Fahrzeug, die Internetverbindung mit anderen Geräten zu teilen. Oft werden spezielle Techniken, Sensoren und Verfahren im Fahrzeug angewendet, damit diese Konnektivität auch dem Fahrer Vorteile bringt. Als Beispiel können eine automatische Warnung bei Unfällen, Überschreitung der Geschwindigkeit sowie Sicherheitswarnungen genannt werden [2].

Abb. 21.2  (c) Select AG

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Fazit Kundenbindung/-stärkung durch neue „Digital Services“ sowie die Erweiterung und Optimierung der IT-Services – etwa durch eine Verbesserung der Datenqualität mithilfe von Big Data  – ermöglicht derzeit eine Erhöhung des Onlineumsatzes auf >60  %. Darüber hinaus wird die Digitalisierung bestehender Abläufe abteilungsübergreifend zu einer Steigerung der Effizienz und Agilität beitragen und somit die Prozesskosten verringern. Mit der Entscheidung zu Gunsten eines Cloud-basierten Werkstattmanagementsystems in Verbindung mit einem B2B-Shop folgt die Einkaufskooperation der breit aufgelegten IT-Strategie zur Digitalisierung der Werkstatt. Dies generiert zusätzliche Kundenbindungseffekte zwischen KFZ-Teilegroßhandel und der markenungebundenen KFZ-­Repara­ turwerkstatt. Darüber hinaus werden auch andere Cloud-Services oder datengetriebene Lösungen, wie beispielsweise Telematiklösungen, sukzessive das Leistungsportfolio der a­ ngebotenen IT-Suite erweitern. Somit bildet sie eine unverzichtbare Lösung für die Digitalisierung und die Transformation der Einkaufskooperation hin zu Geschäftsmodell B2B2C. Enge Kooperationen mit branchenfremden Unternehmen und Technologiepartnern sind unerlässlich für einen nachhaltigen Erfolg einer IT-Strategie und somit der Digitalisierung in Gänze. Der Faktor Mensch spielt auf sämtlichen Ebenen der Digitalisierung eine tragende Rolle. Ohne die Identifikation der Betroffenen lassen sich Strategien nur schwer umsetzen und bergen ein großes Risiko zum Scheitern in sich.

Literatur 1. Berger, R. (2016). Connected car App based dongle solution as shortcut to connectivity. https:// www.rolandberger.com/de/Publications/Connected-Car.html. Zugegriffen am 10.07.2019. 2. Connected Car. (2018). https://www.mckinsey.de/publikationen/2018-11-02-levels-of-connectivity. Zugegriffen am 02.06.2019.

Informationsdigitalisierung und die Herangehensweise an die Transportautomatisierung

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Marco Bauer

22.1 Einleitung Das betretene Schweigen meiner Gesprächsteilnehmer, die Nokia-Mobiltelefone auf dem Tisch und das erdrückende braun der Büroeinrichtung in Eiche rustikal sind mir auch nach vielen Jahren immer noch genauso allgegenwärtig wie der Inhalt des Gesprächs. Von Amazon hätte man zwar mal etwas gehört, es selbst aber noch nicht ausprobiert, das Fax würde nie untergehen, das Internet wird in der Branche niemals eine Rolle spielen und sich nicht durchsetzen. Das Ganze beschreibt nicht etwa eine Situation, die sich vor 25 Jahren abspielte, sondern im Jahr 2011 im Dunstkreis der Stahlhandelsbranche, respektive Fertigungsindustrie. Ich war mit 24 Jahren ein junger Idealist und ziemlich naiv. Ein paar Monate zuvor hatte ich einen Lohnfertigungsbetrieb gegründet, branchenfremd, ohne Ingenieurstitel, nur ein Informatiker mit dem Wissen, dass die Fertigungsindustrie digitales Brachland ist. Mit meinen Ideen wollte ich sie revolutionieren, doch die leeren Blicke in vielen gleichartigen Gesprächen mit erfahrenen und natürlich erfolgreichen Unternehmern haben mich desillusioniert. Keiner hatte Interesse an meinen Ideen, keiner wollte unterstützen, ich musste feststellen, es wollte gar niemand revolutioniert werden. Ich dachte daran aufzuhören, bewarb mich bei einigen großen Unternehmen, bei der Polizei, wollte Beamter werden, doch nicht einer hat mich überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Entweder hat dies damals meinen, mir innewohnenden, Sturkopf geweckt oder es war die pure Verzweiflung, jedoch beschloss ich es allen zu zeigen: „Ich mach’s jetzt einfach.“ Keine Sorge, Sie müssen keine Auto-Biografie lesen, ich möchte Ihnen nur einen gewissen persönlichen Kontext an die Hand geben, um das nachfolgende besser einordnen M. Bauer (*) BAM GmbH, Weiden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_22

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zu können. Als beispielhaften Leitfaden für eine schrittweise Annäherung an das breite Thema der Digitalisierung skizziere ich Ihnen nachfolgend die mittelständische Fertigungswelt im Jahr 2011 und unseren Weg hin zu IT-gestützten, in unseren Augen, effizienteren Prozessen.

22.2 Digitalisierungsbasis schaffen: Kommunikationsinfrastruktur Als wir begonnen hatten erfolgte die Kommunikation zu etwa 80 % per Fax, zu 10 % per klassischer Post, der Rest teilte sich auf E-Mail und Telefonie auf. Materialanfragen wurden bspw. per Fax an Rohmateriallieferanten gesendet, welche dann die Kilopreise handschriftlich auf der Anfrage vermerkten und diese wieder per Fax zurücksendeten. Die Maschinenkommunikation erfolgte via 3,5 Zoll Disketten oder bestenfalls PCMCIA- oder CompactFlash-Karten. Eine unserer ersten Maschinen mit Baujahr 2004 verfügte bspw. ausschließlich über ein Diskettenlaufwerk. Das Unternehmen Apple lieferte seine Rechner bspw. bereits seit 1998 ohne Diskettenlaufwerke aus. Im Falle eines Maschinenschadens musste an den Hersteller ein Fax mit einer Serviceanfrage gesendet werden, ein paar Tage später erhielt man eine Bestätigung und einen Terminvorschlag per Fax. Diesen Vorschlag bzw. Serviceauftrag musste man unterschrieben per Fax rückbestätigen. Natürlich hatten wir versucht die Maschinen früh netzwerkfähig zu machen. Der Gedanke war, dass hinter der eigentlichen Maschinensteuerung meist ein normales Windows- oder Linux-Betriebssystem zu finden ist. Jeder, der schon einmal versucht hat eine PCMCIA-­ Netzwerkkarte auf Windows 98 zum Laufen zu bekommen und dazu noch mit den Schnittstellen-­Einschränkungen eines Maschinensteuerungsrechners, der weiß wie erfolgs­ versprechend dieses Unterfangen war. Wir haben unser Fax relativ früh in den Ruhestand geschickt. Ca. 2013 hatte ich meinen Mitarbeitern die Möglichkeit genommen ein Fax zu senden, den Empfang haben wir noch bis heute aktiv, da wir nach wie vor ca. 2 Faxe pro Tag erhalten. Das Abschalten des Sendens führte damals zu einem Aufschrei im Unternehmen, man hatte Angst wir wären von der Außenwelt abgeschnitten, könnten keine Anfragen mehr versenden oder Auftragsbestätigungen. Nichts dergleichen passierte. Manche Lieferanten mussten wir telefonisch darauf hinweisen doch bitte einmal ihr E-Mail-Postfach zu überprüfen, da dieses nicht regelmäßig abgerufen wurde, zwei Lieferanten mussten wir ersetzen, da keine E-Mail-­ Adresse vorhanden war und auch keine Bereitschaft erkennbar war sich ein Postfach einzurichten. Auf Kundenseite war die Akzeptanz höher, nur bei einem mussten wir das Fax durch den Postweg ersetzen. Ab ca. 2013 verfügten alle unsere neuen Maschinen über entsprechende Netzwerkverbindungen und wir konnten einiges an der Kommunikation zu den Maschinen hin optimieren. Das bisherige Aufspielen der Programme via USB-Stick oder CompactFlash-Karten wurde ersetzt, die Maschinen konnten regelmäßig gesichert werden und wir konnten diverse Stati abrufen. Die Kunden-/Lieferantenkommunikation läuft heute zu 95  % über

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E-Mail. Viel optimieren kann man hier nicht mehr, wir haben uns vor ca. 2 Jahren für Office 365 entschieden, um allen Mitarbeitern jederzeit weltweit den Zugriff auf ihre Office-­Produkte zu ermöglichen. Derzeit statten wir zudem jeden Mitarbeiter mit einem Smartphone aus, inklusive aller Produktionsmitarbeiter. Über ein Mobile-Device-­Manage­ ment-­System (MDM) sind alle Smartphones mit unseren zentralen Servern verbunden, so dass auch der Zugriff auf alle Unternehmensdaten über das Smartphone möglich ist. ­Natürlich alles datenschutzkonform. Die Entscheidung auch jeden Mitarbeiter an der ­Maschine mit einem Smartphone auszustatten ist heute noch relativ selten, für uns aber eine logische Notwendigkeit. Zum einen wurde die interne Kommunikation deutlich ­vereinfacht und dadurch das „Schwarze Brett“ und der Flurfunk abgeschafft, zum anderen benötigen die Produktionsmitarbeiter die Smartphones auch zur Bewältigung ihrer täglichen Arbeit mit effizienteren Methoden. Hierzu mehr im Punkt Materialfluss, Kalkulation und Betriebsdatenerfassung.

22.3 Materialbeschaffung und -fluss in der Fertigung Die Materialbeschaffung und der betriebsinterne Materialfluss waren in meinen Augen der unflexibelste und antiquierteste Prozess überhaupt. Die Standard-Handelslängen von Rohmaterial (Profilmaterial, wie Rund- oder Flachstangen) betragen 3 und 6 Meter. Und sonst nichts, keine Abschnitte, keine Zwischengrößen, nichts. Einerseits verständlich, die großen konzernartigen Stahlhändler sind viel zu groß, um bspw. eine Kleinstbestellung von 2 Stangen auch noch zuzusägen und die kleinen regionalen Stahlhändler würden ein immenses Restelager aufbauen. So wird das Reststückproblem eben auf die Endabnehmer umgewälzt, sprich, wenn wir für einen Fertigungsauftrag nur 1 m eines bestimmten Materials benötigten, lagen 2 m am Ende im Lager als Rest. Zig kleine und mittelständische Fertigungsbetriebe verfügen somit über ein eigenes Rohmaterialrestelager mit Sägerei, die, wenn überhaupt, vielleicht nur einen halben Tag ausgelastet ist. Der innerbetriebliche Materialfluss war geprägt von Stiftmarkierungen an den Materialien oder bestenfalls einem Zettel. Ich möchte gar nicht wissen wie viele Stunden ich sinnlos vergeudet habe, um Material in der Halle zu suchen, dass für einen bestimmten Auftrag zugesägt wurde, aber niemand mehr wusste, wo er es abgelegt hatte. Gerade für uns als Fertigungsbetrieb mit einem anfänglichen „Manufakturcharakter“ ab Stückzahl 1 im Prototypenbereich war diese Praxis äußerst belastend. Bei uns ist es eigentlich die Regel, dass wir für unsere Aufträge nur 1 bis 2  m eines entsprechenden Materials benötigen, der Rest wanderte immer in ein Restelager. Aus diesem Grund hatten wir uns relativ früh, und zwar 2012, also ein Jahr nach unserer Gründung, damit beschäftigt, wie wir mit dieser Situation umgehen wollen. Da auf Lieferantenseite nichts zu machen war, überlegten wir uns, wie wir mit den Resten umgehen wollen. Wir wussten, dass auch andere dieses Materialproblem haben müssen und entschieden uns deshalb dazu, einen Onlineshop zu entwickeln in welchem man millimetergenaue Zuschnitte von beliebigen Materialien bestellen kann. Eigentlich eine sehr effiziente Lösung. Betriebe mit

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h­ albausgelasteten Sägereien verzichten auf eigene Lagerhaltung und erhalten ihre nötigen Zuschnitte geliefert. Wir dachten 2012 andere Betriebe würden sich um so eine Möglichkeit reißen. Der Shop1 ging online und kein einziger B2B-Kunde bestellte etwas. Dafür aber, und damit hatten wir nicht gerechnet, überrannten uns Privatkunden mit ihren Bestellungen – und zwar weltweit. Wir liefern inzwischen Materialzuschnitte europaweit aus, teilweise kaufen große Stahlkonzerne Zuschnitte bei uns ein, weil es günstiger ist als in der Konzernstruktur selbst den Zuschnitt vorzunehmen. Unsere weiteste Lieferung ging nach Panama an einen deutschen Weltumsegler, der dort im Hafen Halt machte und einen Meter Edelstahl benötigte, um einen Grill auf seinem Boot zu befestigen. Im Firmenkundengeschäft dauerte es bis 2015 bis endlich auch Unternehmen Zuschnitte bestellten. Heute ist die Aufteilung zwischen Firmen- und Privatkunden ca. 50/50. Wir verarbeiten unsere Materialreste und unsere Kunden freuen sich darüber kein eigenes Restelager aufzubauen, sondern passgenau die Materialien zu erhalten, die sie benötigen. Um den internen Materialfluss zu optimieren mussten wir uns ebenfalls etwas einfallen lassen. Eigentlich eine triviale Problemstellung, aber in der Realität ist das termingerechte und überwachte Fließen von Materialien und Halbfertigerzeugnisse in einer komplexen Umgebung gar nicht so einfach. Uns war klar, dass wir bereits früh in den Prozess eingreifen müssen, in unseren Augen also bereits beim Wareneingang des Rohmaterials und dann weiter bis zu den Materialzuschnitten. Wir chippen jedes Material, beim Wareneingang erhält die Stange von uns einen NFC-Chip mit der Verknüpfung zu Warenbestellung, Wareneingang, dazugehörigen Fertigungsauftrag und Kundenauftrag, verknüpft mit dem digitalen Materialprüfzeugnis. Beim Zuschnitt wird aus einem Rohmaterial dann das erste Mal ein sehr einfaches Halbfertigerzeugnis mit einem dazugehörigen Fertigungsauftrag. Auch diesen haben wir wieder gechippt und erben die Informationen des Vorgängermaterials. Dieser Arbeitsschritt ist unsere Basis für die Erfassung unserer Betriebsdaten und für die Transportautomatisierung innerhalb unserer Fertigung. Hierzu lesen Sie mehr im ­Abschn. 22.5 und 22.6.

22.4 D  as Herzstück: Von der Konstruktion zur Kalkulation und Programmierung Während wir bei der Materialbeschaffung stets mit Kompromissen und mangelnder Flexibilität zu kämpfen hatten, beschäftigt uns die Prozesskette Konstruktion-Kalkulation-­ Programmierung heute noch massiv mit ihren Dimensionsbrüchen. In der Regel werden Bauteile in einer CAD-Anwendung dreidimensional konstruiert. Das Datenformat STEP hat sich hier als Quasi-Industriestandard etabliert. Leider wird jedoch das Datenformat nicht in seiner vollen technischen Möglichkeit von CAD-Anwendungen und/oder Kon­ strukteuren verwendet. Obwohl es technisch möglich ist Toleranzinformationen im 3D-­ Format zu hinterlegen wird diese Möglichkeit nicht genutzt. Stattdessen wird eine  www.stahlnachmass.com.

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­ D-­Zeichnungsableitung erstellt und als Grundlage für die Kalkulation und für die Erstel2 lung des Arbeitsplans verwendet. Erfolgt dann die Programmierung des NC-Codes wird in den CAM-Systemen wiederum auf die 3D-Datei zurückgegriffen. Es ist offensichtlich, dass diese Dimensionsbrüche zu einem fehleranfälligen Prozess führen. Sehr oft stellen wir fest, dass etwaige Änderungen nicht in beiden Formaten gepflegt werden, als Resultat erhält man dann ein fehlerhaftes Bauteil. Die Kalkulation bzw. die Erstellung des Arbeitsplanes erfolgt in der Regel, wie bereits geschrieben, auf Basis der 2D-Zeichnung durch einen Menschen, sprich der Arbeitsplan ist von menschlichen „Gefühlen“ beeinflusst. Wird er von einem erfahrenen oder sehr selbstbewussten Mitarbeiter erstellt, dann läuft das Teil auf der Maschine vielleicht kürzer, ist der Mitarbeiter dagegen unerfahren oder hat einen schlechten Tag, dann ist die Laufzeit eventuell etwas länger. Logisch nachvollziehbar ist dies nicht, in der Realität führt es am Ende dazu, dass ein Bauteil in zwei unterschiedlichen Firmen, obwohl sie über die gleiche technische Realität verfügen, eine andere Laufzeiteinschätzung erhalten. Dieser Umstand war für uns nicht tragbar und war eigentlich die grundlegende Gründungsidee der BAM im Jahr 2011. Damals waren wir aber zu früh dran. Unsere Mission ist es, die 2D-Zeichnung zu vernichten. Nicht, weil wir grundsätzlich etwas gegen diese Zeichnung haben, ganz im Gegenteil, sie ist heute noch unser tägliches Brot, bequem, bekannt, unsere Komfortzone, aber wer im Fertigungsumfeld anständig digitalisieren will und Industrie 4.0 auch mit „Individuelle Massenfertigung ab Stückzahl 1“ definiert, der wird in jedem Digitalisierungsprojekt früher oder später immer wieder über diese Dimensionsbrüche „3D-2D-3D“ stolpern. Der heutige Prozess führt dazu, dass er lange dauert und fehleranfällig ist. Um heute den Preis für ein Bauteil bei einem Fertigungsbetrieb zu bekommen, muss man ca. 5 Arbeitstage warten. Wenn ich dann noch bei zehn Betrieben Anfrage, erhalte ich wahrscheinlich zudem – je nach Bauteil – eine große Spreizung an Preisen. Da ist dann alles dabei, Firmen, die das Teil unterschätzen und am Ende die Qualität nicht liefern können, Firmen, die das Teil technisch fertigen könnten, es aber überschätzen und somit den Auftrag bekommen und die Gewissheit, dass 9 von 10 Menschen sich Arbeit machen (Kalkulieren) ohne einen Auftrag zu bekommen. Dieser Prozess hat also einen immensen Wasserkopf. Diese Kosten müssen ja irgendwo sein und zwar in den Gemeinkosten und die sorgen dafür, dass wir noch weit entfernt sind von individueller Massenfertigung ab Stückzahl 1. Denn erst, wenn ich alle Fertigungsrandprozesse optimiert habe, sinken die Rüstkosten und auch Stückzahl 1 wird erschwinglicher. Was haben wir also getan? Wir haben im Juli 2018 eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung aus dem Boden gestampft. Begonnen mit drei Personen, nach 12 Monaten waren wir 16 Personen. Wir haben eine Geometrieanalysesoftware entwickelt, man könnte es eine „Künstliche Intelligenz“ nennen, aber ich selbst mag diesen Ausdruck nicht besonders, da er meines Erachtens viel zu oft viel zu vorschnell verwendet wird und wir insgesamt noch nicht so weit sind menschliche Intelligenz künstlich darzustellen, vor allem nicht die Emotionale Intelligenz. Unsere Geometrieanalyse ist der Kern von up2parts, unser Produktname für alle Lösungen rund um das Thema „Digital Manufacturing“. Als ersten Schritt haben wir diese

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Analyse online gebracht und verwenden sie als Kalkulationstool. Auf unserer Website2 laden Sie ein Bauteil in einem 3D-Datenformat hoch und erhalten innerhalb von 20 Sekunden ein rechtsverbindliches Angebot für das Bauteil mit sofortiger Bestellmöglichkeit. Rund um diesen Analysekern herum können nun weitere Fertigungsbausteine digitalisiert bzw. automatisiert werden. Derzeit arbeiten wir bspw. daran die Erstellung der NC-Programme dialoggesteuert halbautomatisiert darzustellen. Darüber hinaus gibt es noch unendlich viele Möglichkeiten, die sich einem bieten, wenn eine KI innerhalb von 20 Sekunden alles über ein Bauteil weiß. Und dabei ist „alles“ heute noch 10 % von dem, was eigentlich möglich wäre. Um ein paar Phrasen zu spielen: Kosteneffiziente Konstruktion, Bauteilklassifizierung, Bauteilfamilien, automatisierte Zielpreisermittlung, Kapazitäts­ planung, firmenübergreifende Kapazitätsauslastung, usw. Jedem Fertigungsenthusiasten müsste das Herz aufgehen bei diesen technischen Möglichkeiten.

22.5 Das Sammeln von Betriebsdaten als Basis für neue Projekte Bei der Erfassung der fertigungsbegleitenden Betriebsdaten wie Rüst- und Laufzeiten habe ich in den letzten acht Jahren jedes erdenkliche System gesehen, von ultraanalog bis überdigitalisiert. Bei diesem Thema muss man allerdings sehr auf sein Urteil achten, denn die Art und Weise der Betriebsdatenerfassung ist wirklich sehr stark davon abhängig, wie ein Betrieb arbeitet und was er mit den Daten am Ende machen möchte bzw. wie hoch die Notwendigkeit ist, über exakte Daten zu verfügen. Ich erinnere mich gerne an einen weltweit agierenden Betrieb mit über 200 Mitarbeiter und einem dreistelligen Millionenumsatz. Deren Auftragssteuerung und Betriebsdatenerfassung funktionierte auch 2018 noch so, dass es ein System aus grünen und orangen Hütchen gibt, die auf die jeweilige Palette gestellt wird. Grün bedeutet „frei für nächsten Arbeitsgang“, orange bedeutet „in Arbeit“, der Arbeitsplan wird in Papier geführt, die Fertigungszeichnungen sind in Papierform zentral in Ordnern abgelegt und jeder Arbeitsgang holt sich die Zeichnung aus dem Ordner. Die Fertigungszeiten werden auf den Papieren handschriftlich vermerkt. Für mich ist ­dieses System die Hölle und absolut unbrauchbar, aber auch nur, weil ich in meiner technischen Fertigungswelt in Echtzeit über exakte Daten verfügen muss, weil die Treffsicherheit der Zeitplanung über den Erfolg meines Unternehmens entscheidet. Beim be­schriebenen Unternehmen hingegen gehen die Fertigungsteile im Gesamtprojekt kos­tenmäßig quasi unter, es besteht eigentlich nicht wirklich ein großes Interesse daran, ob die Teile in  der vorgegebenen Zeit gefertigt wurden oder nicht. Für das Unternehmen macht es also überhaupt keinen Sinn eine sündhaft teure digitale Betriebsdatenerfassung einzuführen, vor allem, weil es mit der BDE allein nicht getan ist, sondern ein ordentliches ERP und BI-System notwendig ist, um die Daten ordentlich zu visualisieren und auszuwerten.

 www.up2parts.com.

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Wir, wie bereits geschrieben, sind auf die Betriebsdaten angewiesen. Wir führen darüber unsere Nachkalkulation durch, wir verbessern dadurch unseren Analysealgorithmus, wir wollen immer in Echtzeit wissen, wo welches Teil in welchem Status ist. Und genau aus diesem Grund haben wir auch jeden Fertigungsmitarbeiter mit einem Smartphone ausgestattet. Wir erstellen von jedem Fertigungsteil einen digitalen Teilezwilling, einmal für uns, aber auch für unsere Kunden, denn deren digitaler Maschinenzwilling wird dadurch umso besser. Unsere Fertigungsaufträge sind derzeit nach wie vor auf Papier gedruckt und begleiten den Fertigungsauftrag in der Produktion. Wir haben jedoch das Papier um einen RFID-Chip aufgewertet, sodass wir in der Lage sind, direkt auf dem Papier ca. 800 Zeichen zu speichern bzw. durch die Verknüpfung mit unserer Datenbank unbegrenzt Informationen zum Auftrag speichern bzw. bereitstellen können. Wie sieht das also praktisch aus? Unsere Fertigungspapiere verfügen über einen RFID-Chip, jeder Mitarbeiter hat auf seinem Firmentelefon eine eigenentwickelte Applikation installiert. Mit dieser App kann er den Inhalt des Chips bzw. die verknüpften Inhalte abrufen bzw. beschreiben. Jeder Arbeitsgang wird über diese App gestempelt, sprich Rüst- und Laufzeiten, Störungen usw. erfasst, d. h. wir sparen uns lange Wege zu Stempelterminals und steigern dadurch die Genauigkeit der Daten, sowie die „Stempelmoral“. Der Grund warum wir in Echtzeit möglichst genaue Daten benötigen liegt in up2parts begründet. Unsere Berechnungsalgorithmen lernen ständig aus unserer technischen Realität dazu. Wo früher eine einzelne Person die Wissensbasis für die Kalkulation repräsentierte, ist es heute eine Software, die sich aus den Echtdaten von realen Fertigungsaufträgen speist. Die menschliche Komponente wollten wir aber nie verlieren. Aus diesem Grund haben wir der reinen Erfassung von harten Daten noch eine weitere Facette hinzugefügt. Aus Fräsen und Tinder wurde Frinder, unsere eigene Handy-App zur Klassifizierung von Bauteilkomplexizitäten. Unsere Mitarbeiter werden auf ihrem Mobiltelefon ständig mit neuen 3D-Modellen von Bauteilen versorgt, nach links wischen ist einfach, nach rechts wischen ist schwer. Eine ganz grobe Aussage ohne Kenntnis von Material, Toleranzen, etc., es zählt nur der erste, spontane Eindruck über den Anspruch eines Bauteils. Gebracht hat uns das nach drei Monaten Datensammlung einen Algorithmus, der zu über 90  % unbekannte Bauteile genauso klassifiziert, wie es früher der Arbeitsvorbereiter getan hätte, nur eben innerhalb von Millisekunden, automatisiert, rund um die Uhr.

22.6 Transportautomatisierung zur Reduzierung der Wegezeiten Als weiteren Baustein in der gesamten Kette haben wir uns um die Transportwege und die Materialflüsse im Unternehmen gekümmert. Unsere Fertigung erstreckt sich auf über 5000 qm, d. h. unsere Mitarbeiter müssen mitunter längere Wege zurücklegen, um bspw. Teile in die Qualitätssicherung zu bringen oder um andere Dinge zu erledigen. Die Zeit, in der ein Mitarbeiter nicht an seiner Maschine ist, ist eine Zeit, die es zu vermeiden gilt. Des

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Weiteren sind wir der Meinung, dass der Transport eines Gutes nicht zwangsweise von einem Menschen durchgeführt werden muss. Aus diesem Grund haben wir uns mit den Möglichkeiten von fahrerlosen Transportsystemen beschäftigt und haben uns im letzten Jahr unseren ersten MiR-100 angeschafft. Durch seine offene Softwareplattform fügt er sich perfekt in unser ganzheitliches Digitalisierungskonzept, denn er interagiert mit allen unseren Mitarbeitern über die Firmentelefone und unsere entsprechende Mobile App. Der Transportroboter ist relativ einfach einzulernen, er benötigt keine vorgegebenen Transport­ routen, sondern erlernt das Hallenlayout mittels seiner Sensorik bei einer menschgeführten Fahrt durch die gesamte Fertigung. Hierbei nimmt er Maschinen, Hindernisse usw. in seine Karte auf. Die beste Route bzw. Alternativrouten kann er sich aus diesem Datenmaterial dann selbstständig suchen. Durch die Schaffung einer digitalen Infrastruktur durch unsere RFID-/NFC-Chips ist der Rest eigentlich relativ simpel. Wie im Beispiel „Materiafluss“ und „Betriebsdatenerfassung“ beschrieben, reichern wir unsere Rohmaterialien, Halbfertigerzeugnisse und Fertigungsaufträge mit digital verfügbaren Informationen an. Unsere Maschinen kennen wir durch ihre Netzwerkverbindung, unsere Mitarbeiter sind über ihr Smartphone in dieses gesamte Mensch-Maschinen-Ökosystem integriert. Der Transportroboter ist letztendlich nur ein Befehlsempfänger für die unterschiedlichsten Tätigkeiten. Ob er nun die Spänecontainer für das Leeren vorbereitet, Rohmaterial aus der Sägerei an die Maschine bringt oder Fertigteile von der Maschine in die Qualitätssicherung fährt, mit Sicherheit ist ein großer Bequemlichkeitsfaktor dabei, aber wir konnten unsere Wegezeiten dadurch deutlich minimieren und die Realisierungskosten von ca. 30.000,-  Euro haben sich schnell amortisiert.

Fazit Ich habe versucht Ihnen einen kleinen Einblick über die Maßnahmen und Aktivitäten zu geben, welche wir in den letzten acht Jahren verwirklicht haben. Wir haben uns dabei nicht auf einen Themenbereich konzentriert, sondern haben versucht, das Unternehmen ganzheitlich zu betrachten. Jedes Digitalisierungsprojekt haben wir immer möglichst klein gehalten und hatten einen schnellen spürbaren Nutzen im Fokus. Zugegeben, ich kann Ihnen weder konkrete Gesamtbeträge nennen, noch kann ich Ihnen einen ROI berechnen, aber aus meinem unternehmerischen Gefühl heraus, kann ich mit Sicherheit behaupten, dass wir durch Einsatz dieser Werkzeuge deutlich genauer und effizienter arbeiten als noch vor acht Jahren. Vielleicht kann ich aber auch keinen ROI berechnen, weil er einfach fehlerhaft wäre, denn Digitalisierung bedeutet meines Erachtens nicht nur wirtschaftliche Kosten und wirtschaftlicher Nutzen, sondern bedeutet viel mehr drumherum. Wir haben bspw. keinen Fachkräftemangel, im Jahresschnitt bekommen wir ca. 5 Bewerbungen pro Tag und stellen 3 Mitarbeiter pro Monat ein. Für ein 130-Menschen-Unternehmen mit Sicherheit gute Zahlen. In vielen Vorstellungsgesprächen höre ich, dass uns regional der Ruf

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trägt, wir wären innovativ und sehr weit in der Digitalisierung. Daran glaube ich auch und Mitarbeiterfindung und -bindung zerlegt Ihnen jede Kosten-Nutzen-Rechnung. Meiner Ansicht nach haben wir von den verfügbaren Möglichkeiten vielleicht erst 30 % realisiert, aber wir haben sie realisiert. Dies ist auch eigentlich der einzige Ratschlag, den ich geben möchte: Es einfach machen.

IoT: Internet of Toilet Am Bedürfnis halte fest, die Produkte werden folgen

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Bernhard Peßenteiner

23.1 Klo-Report Am 3. Mai 2019 ging ein Klo-Report durch die Medien, der machte Schlagzeilen [1–3].1 Eines lässt nach der Notdurft nämlich oft zu wünschen übrig: die Händehygiene. Sprich nicht alle Menschen schließen ihr Geschäft sauber ab. Vier von zehn Gästen verzichten konkret auf die Seife, nachdem sie auf dem WC waren; neun von zehn benutzen kein Desinfektionsmittel. Dabei hätte jeweils beides bereitgestanden: sowohl die Seife als auch das Desinfektionsmittel. Ableiten lässt sich dies aus gesicherten Daten, das IoT hält sie parat. Das Internet of Things? Hiermit wäre die Sache zu allgemein gesagt. Genauer trifft es: das Internet of Toilet. Es funkt an Örtchen und Stelle und das WC ist in die Cloud eingezogen: Lichtschranken, Schaumseifen-Spender und Händedesinfektions-Geräte übermitteln Betriebsinformationen (siehe Abb. 23.1). So sind präzise Messungen möglich. Auch jene für den Klo-Report sind so entstanden. 100 Toilettenanlagen flüsterten ins IoT, wie es um sie bestellt war: 79 in Österreich, 21 in Deutschland. Der Test lief vier Monate lang, vom 1. Januar bis 30. April 2019. Da wurde 78.172 Mal (je Richtung) eine Lichtschranke durchkreuzt, 47.711 Mal ein Schaumseifen-Spender ausgelöst, 8665 Mal ein Händedesinfektions-Gerät betätigt. Die Zahlen hat Hagleitner ermittelt, ein Unternehmen aus Österreich. Es mischt die internationale Hygienebranche auf,

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 Beispiele befinden sich im Literaturverzeichnis.

B. Peßenteiner (*) Hagleitner Hygiene International GmbH, Zell am See, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_23

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Abb. 23.1  Lichtschranke im Waschraum

versteht sich als Innovationsmotor. Die technologische Entwicklung weiter ­voranzutreiben, so lautet das Ziel. Und Digitalisierung hat hierbei Tradition. Denn Hagleitner hat bereits am IoT gearbeitet, da war das Wort IoT als solches noch nicht einmal erfunden.

23.2 Zuerst das Denken vernetzen, dann Dinge Aber der Reihe nach: Hagleitner gibt es seit 1971. Bis zum ersten Spender in der Daten-­ Cloud war es 1971 noch Jahrzehnte hin. Doch seit Anbeginn prägt ein besonderes Commitment die DNA der Firma: hinzuhören, ganz Ohr zu sein. Was braucht der Mensch? Was ist sein Bedürfnis? Innovation setzt immer ein Manko voraus. Es muss irgendwo hapern, dann herrscht Handlungsbedarf. Es muss irgendwo nottun, dann entsteht Spielraum – ein Kosmos voller Möglichkeiten. In diesem Kosmos genügt eine zündende Idee – und der Funke kann überspringen: Innovation ist ihr eigener Brennstoff, eine geglückte Erfindung schafft Platz für tausend neue. Vor diesem Hintergrund will Hagleitner jeden Tag besser werden – wann immer Hygiene gefragt ist: im Waschraum, in der Küche, für die Wäsche, beim Housekeeping sowie zur Hand- und Flächendesinfektion. Und die Zahlen geben der Firma recht: Von 2013/2014 bis 2018/2019 kletterte ihr Umsatz um 49,6 Prozent empor – zuletzt auf 125.288.000 Euro.2 Mehr als 975 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bei Hagleitner beschäftigt, sie haben an 27 Standorten in zwölf Ländern zu tun. Geforscht, entwickelt, und produziert aber wird nur in Zell am See (Österreich). Am Hauptsitz eint sich Wissen, Erfahrung und Übung. Alle weiteren Niederlassungen sind Vertriebsstätten. Gehört es doch zur Erfolgsstrategie, Kompetenz vor Ort zu ­bündeln. Die Menschen sind auf diese Weise miteinander vertraut. Sie setzen sich augenblicklich an einen Tisch, wann immer sie eine Chance sehen. Hagleitner agiert dy­

 So das Ergebnis des Wirtschaftsjahres 2018/2019, sprich des Bilanzzeitraums von 1. April 2018 bis 31. März 2019.

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namisch, die digitale Transformation verlangt danach. Zusammenzukommen ist also das eine, zu vernetzen das andere. Und beides beginnt im eigenen Unternehmen. Es geht um Kommunikation. Sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hier gleichermaßen gefragt. Wer vernetzen will, muss nämlich bei sich selbst beginnen. So erwachsen die Dinge organisch – von innen heraus.

23.3 Storytelling für Analog-digital-Wandler Die Wirtschaft ist für den Menschen da, seinetwegen entstehen Produkte. Und er erschafft diese Produkte auch, Erfindergeist und Schöpferkraft begleiten ihn.3 Nun ist der Mensch als Wesen aber analog: Homo sapiens denkt selten mit Null und Eins – lässt Fünf manchmal gerade sein, hat Gefühle, handelt intuitiv. Entsprechend herausfordernd gestaltet sich der Change-Prozess. Wer dabei nicht aus allen Clouds fallen will, muss raffiniert verfahren: codieren und decodieren – wie ein Analog-digital-Wandler. Geschichten können in der Praxis helfen, denn Erzählen verbindet. Ursprünglich bedeutete er-zählen übrigens auf-zählen, später dann: etwas verständlich sagen. Von da her kommt das Wort [4]. Wie dieses Erzählen konkret funktioniert? Hier eine Alltagsstory: Aus dem Leben gegriffen

Stellen Sie sich vor, Sie müssen dringend wohin. Da wollen Sie keine Zeit verlieren. Deshalb zögern Sie nicht: Im Drang der Geschäfte schlagen Sie sich seitwärts. Erleichterung winkt, bald ist es geschafft. Doch die Freude währt kurz: Auf dem WC fehlt das Hygienepapier. ◄ Die Anekdote bewegt. Sie macht auf ein Defizit aufmerksam – spitzt zu, ohne zu übersteigern. Die Herausforderung ist anschaulich geworden, darauf kommt es an. Denn wer eine Lösung sucht, muss das Problem kennen. Dementsprechend hat das No-Go hier Sinn. Was braucht der Mensch? Was ist sein Bedürfnis? Eine kleine Geschichte genügt – und die Antwort ist mit den Händen zu greifen: Hygienepapier und Seife. Der Worst Case offenbart also, was notwendig ist. Und schon fällt es wie Schuppen von den Augen: So ein Waschraum muss Auskunft über sich selbst geben können. cc

Am Nutzen halte fest, die Produkte werden folgen.4

 Auch künstliche Intelligenz ändert daran nichts. Es handelt sich um ein Instrument – erdacht, um zu denken. Immer beherrschen lässt es sich deshalb aber keineswegs. Denn schon oft hat jemand die Kontrolle über ein Werkzeug verloren. 4  Vgl. „An der Sache halte fest, die Worte werden folgen.“ (Rem tene, verba sequentur.) Das hat der römische Staatsmann Cato der Ältere seinem Sohn Marcus geschrieben (in den Praecepta ad Marcum filium). 3

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Abb. 23.2  Digitales Hygiene-­ Monitoring

2005 schickte Hagleitner XIBU in die Pipeline, eine neue Spenderreihe. Mit ihr sollte der Waschraum nachhaltig anders werden. Dabei galt schon 2005 als beschlossen: Diese Geräte werden einmal Daten liefern. Hagleitner bastelte also tatsächlich bereits zu einer Zeit am IoT, als es dafür eigentlich noch gar kein richtiges Wort gab (vgl. o.). 2013 war schließlich das gescheite Häuschen geboren. Seither reicht ein Blick aufs Smartphone und der Waschraum ist bei der Hand. Wann droht Seife auszugehen? Wann Papier? Wie ist es um das eine Gerät bestellt? Wie um das andere? Hagleitner nennt das System senseMANAGEMENT. In Echtzeit informiert es über Füllstände, Abgabemengen und Besucherzahlen (siehe Abb. 23.2).

23.4 Der Nutzen folgt auf dem Fuße. Und auf den Fußball Szenenwechsel: Wien (Österreich), 16. Juli 2016: Das Allianz Stadion jubelt, rund 17 Monate wurde an der Sportstätte gebaut. Jetzt naht wieder ein Anpfiff. Mehr als 28.000 Fußballfans fiebern vor Ort dem Eröffnungsmatch entgegen: Der SK Rapid kickt gegen den Chelsea FC. Für den Wiener Fußballclub soll es ein erfolgreiches Heimspiel werden – und für Hagleitner auch. Hagleitner installierte hier nämlich mehr als 900 IoT-Spender, damit Reinigungskräfte immer am Ball sind. Den Auftrag dazu gab der SK Rapid aus ureigener Erfahrung. Denn Sanitäranlagen in Schuss zu halten, war für den Verein nicht neu. Am Platz des Allianz Stadions hatte bis 2014 das Gerhard-Hanappi-Stadion gestanden. Immer vor der Spielpause hieß es dort fürs Facility Management: Ab auf jede Toilette. War genug Hygienepapier da? Seife? Raumduft? Oder lief etwas Gefahr, zur Neige zu gehen? Dann wurde kurzerhand die Nachfüllung getauscht, selbst wenn sie noch nicht ganz aufgebraucht war: Der halb leere Beutel musste Platz für einen vollen machen, so blieb die Versorgungssicherheit garantiert. Mit dem Allianz Stadion aber kam alles anders. Das Bauprojekt hatte es auf neue Maßstäbe abgesehen: modern, innovativ und richtungsweisend – ohne vor irgendetwas haltzu-

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machen. Das betrifft auch die Sanitäranlagen. Deshalb sind sämtliche WCs hier lean, sie lassen sich zielgerichtet betreuen. Reinigungskräfte gehen nur konkret dorthin, wo sie benötigt werden. Der technische Leiter des Stadions sowie der Facility Manager haben dabei den Überblick, beide behalten das IoT im Auge und weisen Aufgaben zu. Das gescheite Häuschen gestaltet sich also nachhaltig und effizient. Wege sind kurz, Zeiträume optimal ausgenutzt. Und Verschwendung hat keinen Platz.

23.5 Compliance im Hand-Umdrehen Szenenwechsel: Paderborn (Deutschland). Das Brüderkrankenhaus St. Josef hat eine Attraktion zu bieten. Es geht um den Bildschirm in der Eingangshalle. Darauf ist eine Zahl zu sehen. Sie ändert sich fortlaufend, steigt unentwegt an – wann immer sich jemand die Hände desinfiziert. Hier im Brüderkrankenhaus St. Josef sowie im St.-Marien-Hospital im nahe gelegenen Marsberg stehen insgesamt 2.500 Hygiene-Spender von Hagleitner bereit.5 Wann wird der eine betätigt? Wann der andere? Die Geräte sind in die IT-­Infrastruktur des Krankenhauses eingebunden – und zur Hand, um Bewusstsein zu schaffen. Denn rund 80 Prozent aller Infektionen werden über die Hand übertragen, so offizielle Schätzungen[5–7].6 Andersherum gilt: Händehygiene beugt Infektionen vor (siehe Abb. 23.3). Deshalb ist hier besondere Compliance gefragt. Wird ein Spender regelmäßig ausgelöst? Es gibt ­Umstände, die verpflichten zur Händehygiene: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt konkret fünf Momente [8]. Passt die Abgabemenge? 3 ml Desinfektionsmittel müssen es sein, nur dann haben Krankheitserreger keine Chance [9].7 IoT macht Compliance mess- und dokumentierbar. Abb. 23.3  Händehygiene als Mittel zur Infektionsprävention

 Bei einem Großteil handelt es sich um Desinfektionsmittel-Spender.  Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Deutschland bzw. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA. 7  Vorbehaltlich 30 Sekunden Einwirkzeit. 5 6

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23.6 Spülerisch digitalisieren Szenenwechsel: Amsterdam (Niederlande). Am 15. Mai 2018 stellt Hagleitner eine Weltneuheit vor; als Bühne dient eine internationale Reinigungsmesse – die Interclean, es ist die größte ihrer Art: Hagleitner hat die Spülküche in eine App gepackt.

23.7 Der Pulsschlag von Industrie 4.0 Szenenwechsel: Zurück nach Zell am See (Österreich): Industrie 4.0 beschleunigt. Ihr Pulsschlag ist der Zeit voraus. Hagleitner nimmt sich das zu Herzen. Was hier an Apparaten gebaut wird, kann deshalb von 2020 an immer Daten funken: jeder neue Spender, jedes neue Dosiergerät.

Literatur 1. derstandard.at. (2019). Studie: Einer von drei WC-Besuchern verzichtet auf das Händewaschen. https://derstandard.at/2000102438723/Studie-Einer-von-drei-WC-Besuchern-verzichtet-auf-das-Haendewaschen. Zugegriffen am 25.06.2019. 2. orf.at. (2019). WC-Benutzung: Viele waschen Hände nicht. https://salzburg.orf.at/v2/news/stories/2979538/. Zugegriffen am 25.06.2019. 3. zwp-online.info (2019). WC-Report: Zwei von drei Personen waschen sich die Hände. https:// www.zwp-online.info/zwpnews/dental-news/branchenmeldungen/wc-report-zwei-von-drei-personen-waschen-sich-die-haende-mit-seife. Zugegriffen am 25.06.2019. 4. Kluge, F., et al. (2011). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (25. Aufl.). Berlin/ Boston: de Gruyter. 5. Neporent, L., & Sisk, B. (2014). Help Your Kids Fight Flu With Soap and Water. https://abcnews. go.com/Health/kids-fight-flu-soap-water/story?id=26003831. Zugegriffen am 25.06.2019. 6. newsmax.com. (2014). 80 Percent of Infections Spread by Hands: CDC. https://www.newsmax.com/ health/health-news/infections-hand-fist-bump/2014/01/09/id/546258/. Zugegriffen am 25.06.2019. 7. swp.de. (2019). Nur richtiges Händewaschen schützt vor Infektionen. https://www.swp.de/gesundheit/nur-richtiges-haendewaschen-schuetzt-vor-infektionen-25426952.html. Zugegriffen am 25.06.2019. 8. Sax, H., et al. (2007). ‚My five moments for hand hygiene‘: a user-centred design approach to understand, train, monitor and report hand hygiene. Journal of Hospital Infection, 67(1), 9–21. 9. Keberle, M. (2018). Hygiene heißt Gesundheit. Händedesinfektion – ein Programm zur Steigerung der Compliance. KU Gesundheitsmanagement, 87(1), 57–59.

IoT #LikeABosch — in einem Fertigungswerk

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Künstliche Intelligenz wird die Art und Weise wie zukünftig produziert wird disruptiv verändern! Marco Keith

24.1 Turbulente Zeiten Die Welt befindet sich aktuell in einem Umbruch. Das Internet der Dinge und Dienstleistungen befähigt Innovationen schneller als je zuvor. Firmen wie Apple, Google und Tesla dominieren nicht nur die Medien, sondern verändern den Alltag eines jeden. Dinge, von denen wir dachten, sie seien Bestandteil einer fernen Zukunft, sind bereits heute Realität. Nahezu jeder ist digital erreichbar und trägt sein Smartphone immer bei sich. Manche trauen sich schneller in die neue Welt, einige stehen dem digitalen Wandel aus bestimmten Gründen skeptisch gegenüber. Kaum ein Endgerät arbeitet heute nur noch für sich. Fast alle technischen Geräte sind miteinander vernetzt. Dies ermöglicht es, neue Wege einzuschlagen. Der Bosch Konzern ergreift diese Chance und stellt sich dem digitalen Wandel. Wer Bosch heute noch immer nur mit Zündkerzen und Haushaltsgeräten in Verbindung bringt, hat den Wandel von Bosch zu einem IT-Unternehmen verpasst.1 Doch wie bringt man diese Veränderung in ein mittelständisches Unternehmen? Die Vorfinanzierung von Zukunftsprojekten mit einer längeren Kapitalrückflussdauer basiert meist auf strategischen Entscheidungen. Wie diese Investition dennoch zu einer wirtschaftlichen Investition wird und wie man sie strategisch im Unternehmen verankert, wird

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 Das Video #LikeABosch veranschaulicht den Wandel von Bosch: https://youtu.be/v2kV6pgJxuo.

M. Keith (*) Robert Bosch GmbH, Blaichach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_24

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in dem folgenden Beitrag anhand eines global vernetzten Automobilzulieferers in einem modernem Fertigungswerk der Robert Bosch GmbH am Standort Blaichach im Allgäu aufgezeigt. Hier entstanden aus Rohdaten in einer Cloud basierten IT Architektur neue revolutionäre Softwarelösungen. Die daraus resultierende volle Datentransparenz im weltweit-­ vernetzten Fertigungsverbund ermöglichte es, sich auf ein neues Level zu entwickeln. Dadurch bleiben auch Hochkostenstandorte in Deutschland/Europa weiterhin wettbewerbsfähig.

24.2 Strategieentwicklung Bei der Entwicklung der Strategie für den Standort Blaichach (BhP) (siehe Abb.  24.1) wurde sehr bald ein Muster ersichtlich. Einige Bestandteile sind darauf ausgerichtet, die wesentlichen Merkmale für ein erfolgreiches Fertigungswerk zu schaffen. Diese wurden unter dem Begriff „EXZELLENZ“ zusammengefasst. Gleichzeitig wird damit ausgedrückt welches Niveau dabei angestrebt wird. Der Begriff „INNOVATION“ beinhaltet strategische Vorgehensweisen, um auch zukünftig mit neuen Produkten die Fertigung auszulasten. Die Herausforderungen in den Strategiefeldern „EXZELLENZ“ und „INNOVATION“ sind nur realisierbar, wenn sich die gesamte Belegschaft mit dem Werk identifiziert. Dafür wurde der Slogan entwickelt „WIR IM BhP“. Für alle Menschen, welche die „ZUKUNFT“ im Werk aktiv gestalten, wird eine motivierende und inspirierende Arbeitsumgebung geschaffen. Um die Belegschaft zum Nachdenken anzuregen, wurde auch die Silbentrennung für die Bezeichnungen der Strategiefelder in ungewohnter Weise vorgenommen. In Kombination mit der Großschreibung ist man aufgefordert den Begriff aktiv zu lesen. Dadurch erreicht man Aufmerksamkeit. Ein wichtiger Baustein für den vernetzten Wandel, der aktuell stattfindet, ist im Strategiefeld INNOVATION angesiedelt, die „Digitale Fabrik“ (siehe Abb. 24.2). Das Ziel ist die schnelle Umsetzung von Zukunftsprojekten für die umfassende digitale Vernetzung der Wertströme und Prozesse. Um dies zu erreichen wurde eine Pyramide entwickelt, die das Vorgehen klar und transparent macht. Das Bosch Werk in Blaichach/ Immenstadt bietet hierfür die optimalen Voraussetzungen. Strategie für eine „Digitale Fabrik“ Die Basis Über Jahre hinweg wurde ein Fertigungsleitsystem (Manufacturing Execution System/ MES) aufgebaut und im gesamten internationalen Fertigungsverbund ausgerollt. Dies bietet standardisierte Schnittstellen zu allen notwendigen Anwendungen – von der Sensor­ ebene bis zum Geschäftsressourcenplanungssystem (Enterprise Ressource Planning System/ERP-System). Diese IT-Architektur wurde kürzlich zu einer modularen IT Architektur umgebaut.

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Abb. 24.1  Strategie der Robert Bosch GmbH – Standort Blaichach/Immenstadt. (Quelle: Robert Bosch GmbH)

Abb. 24.2  Der Weg zu einer „Digitalen Fabrik“. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

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Im hauseigenen Sondermaschinenbau entstehen die Maschinen und Anlagen mit einem sehr hohen Standardisierungsgrad. Diese werden für den weltweiten Fertigungsverbund im internationalen Produktionsnetzwerk (IPN) nahezu identisch reproduziert und sie liefern einen kontinuierlichen Strom an Fertigungsdaten. Aus jeder Anlage werden umfangreiche Informationen von Maschinenzuständen über qualitätsrelevante Daten bis hin zu einzelnen Sensorwerten abgegriffen. In einem zentralen Datenspeicher (Data Lake) werden diese in der Cloud abgespeichert und persistiert. Auf diesen Anlagen werden mit selbst entwickelten standardisierten Prozessen die Produkte für den jeweiligen Markt weltweit gleich hergestellt. Das Wissen, wie man auf diesen Anlagen Teile am besten fertigt, ist die optimale Basis für einen weltweiten kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Diese Informationen fließen anschließend wieder in den Bau der zukünftigen Maschinen. Vernetzung Im ersten Schritt wurden alle Rohdaten, die aus der Sensorik in den Anlagen entstehen, über eine selbst entwickelte Maschinendatensteuerung (SPS Control-System/Speicherprogrammierbare Steuerung) angebunden. Die Daten werden im nächsten Schritt im Anlagenleitrechner (IoT Edge) gesammelt und mit Informationen angereichert. Dieser gibt sie dann an einen Nachrichtendienst (Message Broker) weiter, der alle einzelnen Datenpakete den jeweiligen Diensten bereitstellt. Das ist auch der Übergangspunkt aus dem gekapselten und sicheren Linienumfeld in die Unternehmens-IT (Enterprise Level). Hier werden alle gesammelten Daten miteinander vernetzt. Auf verteilten lokalen Servern und im zentralen Data Lake in der Cloud werden die Rohdaten dann persistiert. Informationen Aus den gesammelten Daten entstehen in Echtzeit automatisierte Reports, um die Experten stets mit aktuellen Informationen zu versorgen. Vom Top-Management bis zum Anlagenpersonal wurden hierfür standardisierte Berichte erstellt. In diesen kann man mit nur einem Mausklick in die Tiefe eintauchen, um Probleme im Detail zu verstehen und nachhaltig zu lösen. Wissen Durch standardisierte Fehlercodes aus den vernetzten Linien werden Informationen über die Fehlerbehebung in einer zentralen Wissensdatenbank abgespeichert. Sie bietet Handlungsempfehlungen für die Mitarbeiter weltweit. Fast alle Fehler einer Anlage treten mehrmals auf, repetitive Fehlerbehebung wird somit vermieden. Die optimale Problemlösung setzt sich durch und ist für jeden verfügbar. Damit werden Mitarbeiter zu Experten und können sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren – den Betrieb der Anlagen. Künstliche Intelligenz Die digitale Fabrik der Zukunft bietet jedoch noch mehr Möglichkeiten. Empirisches Wissen und Lernen wird durch Algorithmen und Modelle des maschinellen Lernens ergänzt.

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Hieraus ergeben sich unbekannte Wirkketten und Zusammenhänge, die über bisherige Verfahren nicht möglich waren.

24.3 A  ufbau einer performanten IT-Architektur für maschinelles Lernen Um eine moderne modulare IT-Architektur in einem Unternehmen aufzubauen, findet man eine Vielzahl von Softwarelösungen, die genau das versprechen. Doch ein „copy-­ paste“ Ansatz ist meist sehr schwer. Erst nach eingehender Analyse und diversen Fehlversuchen findet man die Softwarebausteine, die für das jeweilige Unternehmen und deren Anwendungsfälle passend sind. Offene Branchenstandards bieten die Möglichkeit eine modulare IT-Architektur aufzubauen in der einzelne Teilbausteine im laufenden Betrieb gegen neue ausgetauscht werden können. Hierzu muss man jedoch eine offene Fehlerkultur im Unternehmen haben, denn Rückschläge sind leider keine Seltenheit! Gerade wenn man verschiedene Lösungen gegeneinander vergleicht anschließend bewertet und dann z.  B. aus Kostengründen gezwungen ist nicht die optimale Software für einen Anwendungsfall zu einzusetzen. Aber diese Lernkurve ist sehr wichtig und stärkt am Ende die Gesamtarchitektur. Beispiel

Ein Beispiel aus dem Alltag: Smartphone Es gibt in 2019 zwei dominierende Hersteller für Betriebssysteme für Smartphones – Google Android und Apple iOS. Zu Beginn muss man eine strategische Entscheidung treffen. Wichtige Kriterien bei der Auswahl sind die verfügbaren Services und Applikationen, die man nutzen will. Hier gibt es Softwarelösungen, die auf beiden Betriebssystemen zur Verfügung stehen und solche, die nur einen Marktanteil abdecken. Sobald man sich festgelegt hat ist die Grundausrichtung vorgegeben. Der Wechsel ist möglich, jedoch erzeugt er Aufwände und vielleicht auch gewisse Verluste. Betrachtet man im nächsten Schritt die auf dem Markt befindlichen Applikationen, stellt man schnell fest, dass für viele Services, wie zum Beispiel ein „Messaging-­ Service“, unterschiedlichste Applikationen zur Verfügung stehen. Die folgende Tabelle zeigt unterschiedliche Herangehensweisen, um zu einer Entscheidung zu gelangen (Tab. 24.1) Zusammenfassend lässt es sich sehr einfach beschreiben: Erzeugt eine Applikation (direkt oder indirekt) keinen Mehrwert, wird diese entweder im Hintergrund „verstauben“ oder einfach wieder gelöscht. ◄ Dieses Alltagsbeispiel lässt sich auf die IT-Architektur von einem Unternehmen übertragen, jedoch sind die Auswahlkriterien von Usecase zu Usecase sehr unterschiedlich und meist vor der ersten Verwendung noch nicht im Detail beschrieben.

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Tab. 24.1  Entscheidungshilfe für Softwareauswahl Auswahlkriterium Vorteile Nachteile Produktbeschreibung Software hat die gesuchten Aufwändige Features Recherche Benchmarktests

Software mit sehr guter Performance

Sicherheit

Sicherheitsanforderungen erfüllt

Userbewertungen

Software bei anderen gut = Software bei mir gut Software mit hohem Verbreitungsgrad

Userstatistiken

Günstiger Preis

Kosteneinsparungen

Try and Error

Bestes Produkt setzt sich durch

Risiko Anforderungen noch nicht im Detail bekannt? Kompatibilität und Performance gut, Usability jedoch Usability schlecht? Kompatibilität aus Andere gewünschte Sicherheitsgründen Softwarefeatures eingeschränkt fehlen? Unterschiedliche Gleicher Bewertungskriterien Anwendungsfall? Software hat nicht die User in der Statistik gesuchten Features nicht repräsentativ für eigenen Anwendungsfall? Anforderungen Usability und werden nicht Performance nicht komplett erfüllt gut? Aufwand und Kosten Fehlerkultur vorhanden? Ggf. kostenintensiv?

In einem Weltkonzern wie der Robert Bosch GmbH gelten für die IT-Architektur strenge Vorgaben. Dies dient zum einen der IT-Security, aber auch dem Einhalten von Standards. Dadurch ergeben sich Leitplanken, innerhalb derer man sich bewegen darf. Folgende Grafik zeigt stark vereinfacht die Architekturkomponenten (siehe Abb. 24.3). Schon bei der Sensorik-Ausstattung von Anlagen gibt es sehr große Unterscheide. Je mehr Daten von einer Maschine aufgezeichnet werden, desto mehr Möglichkeiten bietet diese für Verbesserungsprozesse im laufenden Betrieb. Die Frage in Zukunft wird zum Beispiel nicht mehr lauten, ‚ob‘ ein Auto eine Kamera besitzt, sondern ‚wie viele‘. Im Zeitalter des autonomen Fahrens werden unzählige Daten gesammelt. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob diese gerade gebraucht werden, oder erst in der Zukunft. Ein ähnliches Beispiel ist Google: Hier wurden über Jahre hinweg Daten gesammelt aus denen nach und nach neue Services und Dienstleistungen entstanden sind. Wenn man die Philosophie verfolgt, dass eine moderne Fertigungslinie komplett vernetzt im Internet läuft, um die Vorteile wie beispielsweise skalierbare Services, unbegrenzt Rechenleistung on demand, Fernzugriff, zentralisierte Administration und reduzierte Hardwareinvestitionen zu nutzen, wird dies nur sehr schwer vereinbar mit den Herausforderungen im liniennahen Fertigungsumfeld. Denn hier herrschen besonders hohe Anforderungen an Echtzeitkommunikation zur Steuerung, Latenz, Ausfallsicherheit und Zugriffseinschränkungen.

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Abb. 24.3  Softwarearchitekturmodell. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

Um diesem Ziel näher zu kommen und um den Kern-Teil der Architektur, der für die Sicherstellung der Produktionsfähigkeit notwendig ist, nahe der Fertigungslinie im eigenen Unternehmen zu halten, wurde eine Edge Infrastruktur auf einem virtuellen Server aufgebaut, in der einzelne Softwarebausteine in sogenannten Containern laufen. Es ermöglicht eine einfache Konfiguration der standardisierten Bausteine, die je nach Anwendungsfall bereitgestellt werden. Auf dieser Infrastrukturkomponente wird unter anderem eine Kopie aller für die Produktion relevanten Typdaten und Vorgabedaten abgelegt. Alle Datenquellen und Softwarebausteine werden miteinander vernetzt, damit die Fertigungslinie autark produktionsfähig bleibt, sollte die Verbindung zur Unternehmers-IT unterbrochen sein. Über einen Nachrichtendienst (Message Broker) werden alle Daten, die im Fertigungsumfeld durch Maschinen, Anlagen und Sensoren erzeugt wurden, an den jeweiligen Endpunkt in der Unternehmens-IT bereitgestellt. Man kann sich diesen Dienst wie einen Marktplatz vorstellen. Jeder sendet seine Daten an diesen Umschlagplatz und diese werden in alle gängigen Formate übersetzt. Die Kunden holen sich dann an diesem zentralen Ort alle relevanten Daten im benötigten Format ab. Diese eventbasierte Kommunikation hat sich in den letzten Jahren aufgrund dieser Vorteile durchgesetzt: • Es ist keine Änderung im Quellcode jeder einzelnen Applikation notwendig (Programme sind nicht direkt verbunden) • Dynamisch anpassbare Beziehung von Datenlieferant und Zielanwendung • Die Daten stehen gleichzeitig für mehrere Anwendungen zur Verfügung • Sehr sichere Kommunikation aufgrund Berechtigungsprüfung und Sicherstellung der Datenintegrität Die mit Informationen angereicherten Rohdaten aus dem liniennahen Fertigungsumfeld werden anschließend in semantische Datenmodelle transferiert und in Cloud Datenbanken persistiert. Die weltweit gesammelten Daten sind die Basis für Digitalisierung. Sie haben jedoch eine besonders große Prämisse und das ist Datenqualität. Denn wenn diese nicht gegeben

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ist, erhält man keine hochwertigen Informationen und das Vertrauen in die Daten geht verloren. Das ist ein ganz einfaches Prinzip: „Shit in, shit out“. Um dies zu vermeiden, empfiehlt es sich, klare Standards und Vorgaben zu definieren und eine Funktion wie zum Beispiel den ‚Chief Data Officer‘ einzuführen. Dieser ist explizit für das Datenmanagement und dessen regelmäßige Überprüfung im Unternehmen verantwortlich. Im nächsten Schritt werden aus den Daten Informationen generiert. Das Ziel ist es, einen Mehrwert für den Endanwender zu schaffen. In der Vergangenheit war es lange Zeit gängige Praxis einzelne Datensätze aus unterschiedlichen Quellen in Tabellenkalkulationsprogramme zu laden, um dann manuelle Auswertungen durchzuführen und diese im Anschluss zu visualisieren. Die erstellten Charts zeigten dann ab dem Zeitpunkt der Erstellung schon veraltete Daten. Mittlerweile nutzt man Datenbankstrukturen in denen stets neue Datensätze abgelegt werden sobald sie erzeugt werden und erstellt Auswertungen in Visualisierungstools zur Datenanalyse in Echtzeit. Eine Empfehlung ist es, ein standardisiertes Reporting aufzubauen und dieses in der täglichen Verbesserungsarbeit aktiv zu nutzen. Besonders große Transparenz bekommt man durch Reports für alle Unternehmensebenen vom Top-­ Management bis zum Fertigungs-Mitarbeiter. Zum Beispiel durch dynamische Filter und Aggregations-Möglichkeiten kann man in den Auswertungen bei Problemfällen immer tiefer eintauchen, bis man am Ende auf der Rohdatenebene rauskommt. So erhält zum einen ein Manager eine gesammelte Sicht über die aktuelle Lage und zum anderen kann ein Problemlöser ohne IT Background der Fehlerursache im Detail auf die Spur gehen. Ein großer Vorteil von Online-Visualisierungstools sind die stets aktuellen Daten und der Zugang mit mobilen Endgeräten, der den Nutzungsgrad von Reports sehr stark erhöhen kann. Um den Speicherort der Daten gibt es große Diskussionen. Primär gilt es die Vorteile und Nachteile zwischen lokaler Datenhaltung auf eigener Hardware und online Datenhaltung von großen Cloud-Anbietern abzuwägen. Gerade für ein Unternehmen ist diese Entscheidung im Vergleich zu einer Privatperson von besonders großer Bedeutung. Das unternehmerische Risiko liegt hier hauptsächlich auf dem Schutz des Wissens vor Dritten oder finanziellen Einbußen durch Datenverlust. Viele denken es besteht eine erhöhte Gefahr der Datensicherheit bei Cloud-Anbietern. Große Anbieter haben hunderte Personen, die sich um die Sicherheit kümmern und diese garantieren. Wie viele haben Sie in Ihrem Unternehmen? Zudem verlagert man das Risiko meist auf den Anbieter und hat im Notfall Regressansprüche und muss nicht selbst haften. Eine Serverinfrastruktur in einer externen Cloud spart zusätzlich Fläche und Hardwarekosten im eigenen Unternehmen. Daher fallen auch keine Personalaufwände für Betrieb und Service an. Einer der größten Vorteile ist die auf Knopfdruck verfügbare Rechenleistung und der dynamisch skalierbare Speicherplatz, sowie weltweiter Online-Zugriff. Doch es gibt auch einige Nachteile, die diese Art der Datenspeicherung mit sich bringt. EU Datenschutzrichtlinien [1] fordern gewisse Anforderungen an den Standort vom Rechenzentrum. Darüber hinaus ist es wichtig, eine gewisse Unabhängigkeit vom Anbieter für den Notfall zu behalten, gerade beim Schutz von sensiblen Unternehmensdaten.

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Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist eine performante Internetanbindung, im Idealfall sogar redundant. Denn ohne diese wird die Arbeit mit Daten in einer externen Cloud langwierig. Der Trend geht immer mehr in Richtung Cloud-Services. Daher geht es heutzutage fast nicht mehr ohne Cloud-Anbindung, wenn man am Ball bleiben will. Jeder muss aber für sich entscheiden, welche Services man lokal und welche man in der Cloud nutzen möchte und welche Risiken man damit eingeht. In großen Cloud Datenbanken sammeln sich schnell Unmengen von Daten an, zu denen nicht immer jeder Mitarbeiter im eigenen Unternehmen Zugriff haben sollte. Um bei Datenbankanfragen schnelle Antwortzeiten zu garantieren und um den Zugriffsschutz zu garantieren, werden häufig Data-Marts verwendet. Dies ist eine Kopie eines Teilbestands der Daten, die für definierte Analysen oder Benutzergruppen relevant sind. Um aus Daten Wissen und Handlungsvorschläge abzuleiten, wird eine Vielzahl von modernen Tools benötigt. Mit Hilfe von Datenverarbeitungsclustern wird die Arbeitslast beim Rechnen auf mehrere einzelne Clusterknoten verteilt. Dadurch verringert sich die Gesamtrechenzeit durch Parallelisierung. Aufwändige Rechenprozesse werden auf leistungsstarken GPU-Clustern (Graphics Processing Units) prozessiert. Dies erhöht die Rechengeschwindigkeit deutlich. Datenanalysen sind in Echtzeit (Streaming Analytics) möglich und man erhält ein performantes Framework für maschinelles Lernen (Machine Learning Framework).

24.4 Datenanalysemöglichkeiten (Abb. 24.4) Redet man von Datenanalysen (Data Analytics), so gibt es viele Buzzwords, die häufig zur Verwirrung führen. In der (Abb. 24.4) sind einige der gängigen Abkürzungen in Kontext zueinander gestellt. So ist das Schlagwort „Big Data“ ein Überbegriff sobald Datenmengen zu komplex sind, um sie mit herkömmlichen Verfahren auszuwerten. • „Descriptive Analytics“ sind beschreibende Analysen, die visuell in Charts oder Grafiken dargestellt werden und aufzeigen was passiert ist. Menschen können dadurch optisch Abweichungen in den Daten erkennen und auf Basis dieser Erkenntnis Handlungen einleiten. Ein Beispiel hierfür sind grafische Reports (Abb. 24.5). • „Diagnostic Analytics“ zeigen Wirkzusammenhänge zwischen den Daten auf. Es werden große Datenmengen mit Hilfe von statistischen Verfahren ausgewertet, um verborgene Zusammenhänge transparent zu machen – „Data Mining“. Ein Beispiel hierfür sind Fehler-Ursachen-Analysen (Abb. 24.6). • „Predictive Analytics“ geht einen Schritt weiter. Hier wird auf Basis der gesammelten Daten der Vergangenheit prognostiziert was mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird. Dies befähigt dazu Entscheidungen zu treffen, bevor das

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Abb. 24.4  Datenanalysemöglichkeiten. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith) Abb. 24.5 Descriptive Analytics. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

Abb. 24.6 Diagnostic Analytics. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

Ereignis eintritt. Ein Beispiel hierfür ist vorausschauende Wartung, um ungeplante Ausfälle zu vermeiden (Abb. 24.7). • „Prescriptive Analytics“ trifft automatisiert Entscheidungen durch Methoden und Algorithmen des maschinellen Lernens. Hier befindet man sich im Umfeld der künstlichen Intelligenz. Ein Computer erstellt Zusammenhänge, die mit dem menschlichen Gehirn nicht möglich sind. Die Aktionen einer Maschine werden hierbei nicht von empirischen Analysen der Vergangenheit gesteuert, sondern durch aufwändige errechnete Daten der realen Welt. Beispiel: Dynamische Anpassung eines Fertigungsprozes-

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Abb. 24.7 Predictive Analytics. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

Abb. 24.8 Prescriptive Analytics. (Quelle: Robert Bosch GmbH | Marco Keith)

ses innerhalb der laufenden Produktion durch Ergebnisse von „Machine Learning Algorithmen“ (Abb. 24.8).

24.5 Datengetriebene Organisation – „Digitale Tandems“ Um den Erfolg von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz sicherzustellen, ist es notwendig die richtigen Kompetenzen und das richtige Team zusammenzustellen. Ohne dieses Setup sind Vorhaben meist nur kurzfristig erfolgreich oder gar zum Scheitern verurteilt. Die zwei essenziellen Keyplayer: Data Scientist/Datenwissenschaftler Er versteht die Daten und kann über ein Machine Learning Framework KI-­ Verfahren anwenden.

Prozess-/Produktspezialist Er ist derjenige, der die Arbeitsweise von Mensch, Maschine und Prozess versteht und die Ergebnisse von Algorithmen fachlich valideren kann.

Als Vorgehen empfiehlt sich der „Cross Industry Standard Process for Data Mining“ (siehe Abb. 24.9) (CRISP-DM) [2]. Die gemeinsame Zusammenarbeit zwischen Data Scientist und Prozessspezialist kann man auch als „digitales Tandem“ beschreiben. Diese zwei müssen Hand in Hand arbeiten, damit bereits nach der Datenvorbereitung in der Modellbildungsphase evaluiert werden

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Abb. 24.9  Cross Industry Standard Process for Data Mining | http://crisp-dm.eu/reference-model/

kann, ob die Vorhersagen eines Modelles real anwendbar sind. Gerade hier spielt der regelmäßige Austausch eine besonders wichtige Rolle. Methoden aus dem „agilen Projektmanagement“ [3] helfen mit der iterativen kurzzy­ klischen Vorgehensweise kleine Zwischenziele zu definieren und regelmäßig Mehrwert für den Kunden abzuliefern. cc

Zusammenfassend lässt sich festhalten

• Crossfunktionale agile Teams sind die Garantie zum Erfolg • Empirisches Lernen wird in Zukunft durch maschinelles Lernen ergänzt • Künstliche Intelligenz wird die Art und Weise wie zukünftig produziert wird, disruptiv verändern

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Literatur 1. Datenschutz. (2019). EU-Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG)  – Alte Rechtsgrundlage. https://www.datenschutz.org/eu-datenschutzrichtlinie/. Zugegriffen am 06.08.2019. 2. CRISP-DM. (2015). Data Mining Phases. http://crisp-dm.eu/reference-model/. Zugegriffen am 06.08.2019. 3. Agilemanifest17 (o. J.). Prinzipien hinter dem Agilen Manifest. https://agilemanifesto.org/iso/de/ principles.html. Zugegriffen am 06.08.2019.

Das Berufsbild des Radiologen im Wandel Diagnoseunterstützung durch den Einsatz von KI Software

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Matthias Steffen und Maximilian Waschka

25.1 Die Befundung mittels MRT Künstliche Intelligenz wird die digitalisierte und personalisierte Medizin der Zukunft ermöglichen [1]. Viele Startups in Deutschland arbeiten an der Entwicklung von KI für die Medizin und genauso vielfältig sind ihre Lösungsansätze. Da die beiden Autoren dieses Artikels seit mehreren Jahren an der Entwicklung von KI zur Detektion von Prostatakrebs in medizinischen Bildern arbeiten, widmet sich dieser Text in erster Linie dieser speziellen Anwendung von KI, ihrer Entwicklung und ihrer Wertschöpfungskette. Doch wie sind die Akteure, die am diagnostischen Prozess beteiligt sind, aufgestellt, wenn sie ohne KI arbeiten? Bisher verläuft die Magnetresonanztomographie (MRT) zur Vorsorgeuntersuchung für Prostatakrebs folgendermaßen: Der MRT-Scan des Patienten wird erstellt und als DICOM-­ Datei im Picture Archiving and Communication System (PACS) der Klinik erfasst. DICOM ist das standardirisierte Datei-Format für MRT-Scans. Über Computer können Radiologen die MRT-Scans im DICOM-Format aus dem PACS abrufen und in einem DICOM-Viewer ihrer Wahl untersuchen. Ein multiparametrisches Prostata-MRT enthält bis zu 1200 einzelne „Slides“ oder Schnitte des Organs (d. h. einzelne Bilder), die Radiologen einzeln durchsehen müssen. Das bedeutet, dass Radiologen ca. 45 Minuten für die Erstellung eines strukturierten Befundes benötigen. Wenn Radiologen Zweitmeinungen von anderen Radiologen in anderen medizinischen Versorgungszentren einholen, versenden sie die MRT-Scans z.  B. per DICOM-E-MailTransfer-Versand an PACS anderer Medizinischer Versorgungszentren (MVZ), sodass sie von anderen Radiologen untersucht werden können. Auf dieses Weise können Befunde M. Steffen (*) · M. Waschka FUSE-AI, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_25

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M. Steffen und M. Waschka

besser abgesichert werden. Die Zweitmeinung anderer Radiologen in weiteren MVZ werden daraufhin im strukturierten Befund berücksichtigt und an die Patient*innen übergeben. Dieser Prozess hat zwei gravierende Nachteile: Er ist erstens zeitintensiv (deswegen auch kostenintensiv) und zweitens fehleranfällig, weil Radiologen bei der Suche nach Prostatakarzinomen ca. 11–14  % falsch-negative Befunde erstellen [2]. Diese beiden Nachteile bedingen einander: Radiologen verbringen in vielen Fällen den gesamten Tag damit, Befunde zu erstellen und MRTs durchzusehen. Daher brauchen sie ggf. aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in einigen Fällen länger oder übersehen Karzinome (Worst-­ Case-­Szenario). Jedoch können Fehler verheerende Folgen haben, weswegen eine Unterstützung von Radiologen durch Software höchste Dringlichkeit zukommt [3].

25.1.1 Annotierte Daten sind die Vorrausetzung für gute KI Software Zur Entwicklung leistungsfähiger Software, die auf tiefen neuronalen Netzen basiert und tatsächlichen Mehrwert in klinischen Prozessen bietet, braucht es einen großen Datensatz. Da den meisten Produzenten großer Datensätze der Wert selbiger bewusst ist, kann sich die Beschaffung sinnvoller Daten kompliziert gestalten. Eine weitere Hürde für die Entwickler von KI-Software stellen die gesetzlichen Vorgaben zum Schutz von Patientendaten dar. Es ist nötig, vertraglich abzusichern, dass die anonymisierten und pseudo­ nymisierten Patientendaten für Forschungszwecke eingesetzt werden dürfen. Die Software-Entwickler sind in diesem Fall lediglich die Dienstleister zur Verarbeitung der Patientendaten. Das MVZ, das die Patientendaten zur Verfügung stellt, benötigt natürlich einen monetären Gegenwert für die Daten. Dieser monetäre Gegenwert kann von den Software-­ Herstellern z. B. durch Exklusivrechte am fertigen Software-Produkt gegeben werden.

25.1.2 Die KI Software ist nur so gut wie die Annotation Eine ebenfalls wichtige Rolle bei der Entwicklung von KI spielt die Qualität der Daten bzw. deren Annotation. Bei der Annotation von Daten im Rahmen der Entwicklung von intelligenter Bilderkennung bedeutet Annotation u.  a., dass die Objekte, die Künstliche Intelligenz in Bildern identifizieren soll, von einem Fachspezialisten markiert und klassifiziert werden. Um den Datensatz zu homogenisieren, bieten bereits diverse Software-­ Hersteller Software-Lösungen zur standardisierten Datenannotation an. Die Datenannotation kann besonders kostengünstig durch auf Akquisition spezialisierte Firmen international erledigt werden. Häufig ist es jedoch empfehlenswert, die Annotation medizinischer Daten von Fachkräften durchführen zu lassen, die sich speziell mit dem betreffenden Datenmaterial auskennen. Im Fall der Radiologie und einem Datensatz von multiparametrischen Prostata-MRT wird eine Radiologin, die jahrelang MRT des Beckens befundet hat, die beste Annotation durchführen können. Die Qualität der Annotation

25  Das Berufsbild des Radiologen im Wandel

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bestimmt die Qualität des finalen Softwareprodukts: Das neuronale Netz kann ein Karzinom in der Software-Anwendung nur so gut annotieren, wie die Radiologin die Trainingsdaten des Netzes zuvor annotiert hat. Im Fall der Befundung von Prostatakarzinomen z. B. ist es nötig, dass die Software das Organ, die Zonen und das Karzinom segmentiert (d. h. exakt umrandet). Dafür ist es nötig, dass Radiologen vor dem Trainingsprozess die Annotation in derselben Form vornehmen, was bedeutet, dass das neuronale Netz ausschließlich mit Daten trainiert wird, in denen sowohl das Organ und die Zonen als auch das Karzinom markiert wurden.

25.1.3 Medizinische Software wir strengt geprüft und muss zertifiziert sein Software, die in Deutschland medizinisch genutzt wird und bei Versagen ein Risiko für Patienten birgt, muss als Medizinprodukt CE-zertifiziert werden. Im Gegensatz zu dem FDA-Approval, das von der US-amerikanischen Behörde vergeben wird, müssen Her­ steller von Medizinprodukten die Dokumentation selbst durchführen, um diese daraufhin von einer benannten Stelle (z.  B.  TÜV) prüfen zu lassen. Der gesamte Weg zum CE-­ zertifizierten Medizinprodukt kann sehr langwierig sein, was sich für Startups negativ auswirkt, da sie im Gegensatz zu etablierten Unternehmen eine geringe Time-To-Market Spanne für ihre Produkte erreichen müssen (siehe Abb. 25.1). Vor dem Zertifizierungsprozess muss die Produkt-Idee auf ihre technische Machbarkeit überprüft worden sein. Danach folgt die medizinische Zweckbestimmung des Produktes. Abhängig von der Formulierung der Zweckbestimmung erhält die KI-Software als Medizinprodukt eine niedrige oder hohe Risikoklasse. Die Risikoklasse des Produkts wird danach beurteilt, welche Auswirkung das Versagen des Produktes auf den Patienten haben kann. Nach einer sinnvollen Zuordnung einer Risikoklasse, muss der Hersteller der Software ein Qualitätsmanagementsystem einrichten, welches die Prozessqualität sicherstellt und dokumentiert. Daraufhin muss der Hersteller eine Risikoanalyse durchführen, die alle Risiken berücksichtigt, von denen Patienten beim Versagen des Produkts betroffen sein könnten. Je nach Risikoklasse, muss der Hersteller die Leistungsfähigkeit des Produkts entweder durch eine klinische Bewertung oder eine klinische Studie prüfen. Die klinische Studie ist zeit- und kostenintensiver als die klinische Bewertung und benötigt klinische Partner zur Durchführung. Ist die Leistungsfähigkeit des Medizinprodukts nachgewiesen, wird die Produktakte, in der alle vorherigen Schritte dokumentiert wurden, einer benannten Stelle zur Prüfung der Sicherheit und Leistungsfähigkeit vorgelegt. Wenn die Argumentation in der Produktakte einer Prüfung im Rahmen der Audits standhält, kann das Produkt in Verkehr gebracht werden. In dieser Phase kann die Auditierung der Produktionsstätte, die Sicherstellung der Erstattung durch Krankenkassen und die Weiterbildung der Nutzer eine Rolle spielen. Sobald das Produkt in Verkehr gebracht wurde, wird es weiter durch Landesbehörden

Abb. 25.1  Der lange Weg eines Medizinproduktes von der Idee bis zur Anwendung am Patienten

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25  Das Berufsbild des Radiologen im Wandel

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kontrolliert. Jährliche Re-Audits des Qualitätsmanagements des Herstellers werden durch benannte Stelle durchgeführt, bis das Produkt nach 5 Jahren re-zertifiziert werden muss. Dieser strenge und langwierige Zertifizierungsprozess wird derzeit weiter verzögert, da die benannten Stellen, welche die Audits der Hersteller durchführen, gesetzlich dezimiert wurden [4]. In Kombination mit einer im Gegensatz zu anderen Ländern schwächeren Investmentkultur in Deutschland führt der lange Zertifizierungsprozess für Startups zu einer langen Time-To-Market Spanne, welche für sie finanziell schwieriger zu überbrücken ist als für Unternehmen, die bereits Umsätze erwirtschaften. Das hat Auswirkungen auf den deutschen Gesundheitsmarkt: In den USA oder Israel tragen gerade Startups mit neuen Lösungen zur Innovation des jeweiligen Gesundheitsmarktes bei. In skandinavischen Ländern ist die digitale Gesundheitsakte bereits eingeführt und Frankreich hat die Telemedizin als Kommunikationsweg zwischen Patienten und Ärzten etabliert [5, 6]. Und in Deutschland? Erst dieses Jahr (2019) versucht sich Bundesminister Jens Spahn an der Digitalisierung des deutschen Gesundheitsmarktes.1 In Deutschland nehmen ­Universitätskliniken, Forschungseinrichtungen, wie z. B. das Fraunhofer Institut oder das deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, in der Wissenschaft eine international bedeutende Stellung ein, allerdings werden Forschungsergebnisse zu selten in den wirtschaftlichen Kreislauf überführt. Das hat volkswirtschaftliche Ursachen. Es gibt nicht genug Unterstützung für Neugründungen, weder aus der Politik noch aus der Wirtschaft. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland bei den Venture-Capital-Investitionen mit 0,043 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Höhere Anteile gibt es beispielsweise in Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und in Skandinavien. Gerade in der kapital- und ressourcenintensiven Marktreifephase fehlt Unternehmen häufig das Wagniskapital. Wenn also neue Wege geebnet würden, die nicht nur die Investmentkultur in Deutschland verbessern, sondern auch den CE-Zertifizierungsprozess für Startups so verändern, dass innovative Medizinprodukte schneller an den Markt gebracht werden können, würden der deutsche Gesundheitsmarkt und letztendlich die Patienten extrem davon profitieren.

25.1.4 Unterstützung durch den „digitalen Oberarzt“ Grundsätzlich wird zwischen General AI bzw. Strong AI und Narrow AI bzw. Weak AI unterschieden. General AI ist die Art von Künstlicher Intelligenz, die Sie aus Science Fiction kennen: Der Supercomputer mit einem (nicht unbedingt dem Menschen ähnlichen) Bewusstsein, der über einen eigenen Willen verfügt und die Weltherrschaft an sich reißt,  Natürlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Digitalisierung nicht automatisch bessere Versorgung bedeutet, jedoch ist zu vermuten, dass sich Lösungen wie Computer-assistierte Diagnosen oder Telemedizin zum Wohle des Patienten auswirken werden, wie z.B. die Veranstaltung „Bitkom Digital Health Conference 2018“ gezeigt hat [7].

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um die Menschheit vom selbst erwählten Chaos zu befreien [8, 9]. Diese mystifizierende Darstellung dieser Technologie verschleiert meist die tatsächlichen ökonomischen und politischen Implikationen von Künstlicher Intelligenz. So könnte man sich etwas sachlicher fragen, wie sich ihre Anwendung auf den Arbeitsmarkt auswirkt und welche politischen oder ökonomischen Maßnahmen aus dieser technologischen Entwicklung ergriffen werden sollten. Gegenüber der General AI steht die Narrow AI. Narrow AI meint Berechnungsverfahren, die meist eine bestimmte Aufgabe erfüllen und der wissenschaftlichen Disziplin des Machine Learnings zugeordnet werden [9]. Künstliche Intelligenz wird wissenschaftlich meist als Sammelbegriff für bestimmte (teilweise selbstlernende) Algorithmen verwendet, welche dem Feld des Machine Learnings oder spezifischer dem Deep Learning zugeordnet werden [9]. Deep Learning Algorithmen sind Berechnungsverfahren, die auf neuronalen Netzen basieren [9]. Häufig wird angenommen, dass Deep Learning Algorithmen in der Anwendung selbstständig weiterlernen. Das Attribut „selbstlernend“ bezieht sich allerdings in den meisten Fällen auf den Lernprozess. Und auch im Lernprozess verhilft die Zuschreibung „selbstlernend“ häufig nicht einer präziseren Darstellung: Entwickler und annotierende Radiologen tragen maßgeblich zum Supervised Learning der KI bei, sodass die KI nur noch die Parameter, an denen sie die vorher menschlich definierten Gegenstände erkennt, selbstständig lernt.2 Die Künstliche Intelligenz, die als CE-zertifiziertes Medizinprodukt der Klasse 2 oder 3 eingesetzt wird und in der Anwendung selbstständig lernt, müsste sich denkbar kompliziert gestalten, da eine solche Software im stetigen Wandel theoretisch permanent neu zertifiziert werden müsste. Künstliche Neuronale Netze sind den menschlichen Neuronen im Gehirn ähnlich. Das heißt, dass ein neuronales Netz genauso lernt wie das menschliche Gehirn. Auch das Künstliche Netz kann Lösungen vorschlagen, weil es Rückschlüsse aus vorherigen Pro­ blemen ziehen kann. Die KI generalisiert und vergleicht nicht nur mit schon bekannten Bildern. Im Fall der Image Recognition bedeutet das, dass neuronale Netze so lange mit Bildern trainiert werden müssen, bis sie selbstständig bestimmte Objekte identifizieren können. Soll ein neuronales Netz z. B. einen beliebigen Hund auf einem Bild erkennen, muss es mit einer bestimmten Anzahl von Hundebildern trainiert worden sein (Abb. 25.2). Für diejenigen Leser, die diesen Prozess lieber mathematisch als bildlich nachvollziehen möchten, soll hier der Prozess der Backpropagation als Teil des Trainings eines neu In erster Linie dienen die Begrifflichkeiten „supervised“ und „unsupervised“ allerdings folgender Unterscheidung: „Beim überwachten Lernen ist das Ziel die Vorhersage einer bestimmten Eigenschaft186 aus einer Menge von gegebenen Daten, für die diese Eigenschaft schon bekannt ist. Ziel ist also die Prognose für neue, noch nicht gesehene Beispiele. Während die Qualität des Modells auf den historischen Daten problemlos überprüft werden kann, sind für eine Generalisierung auf neue, ungesehene Daten weitere Annahmen erforderlich, die nicht ohne weiteres überprüft werden können […] Im Gegensatz dazu ist im unüberwachten Lernen kein explizites Prognoseziel vorgegeben, Ziel der Analyse ist es, interessante und relevante Muster in den Daten zu finden“ [9]. 2

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Abb. 25.2  Why Deep Learning is suddenly changing your Life [10]

ronalen Netzes erklärt werden: Das neuronale Netz sieht ein Bild nicht als Bild, sondern als Pixel bzw. in diesem Fall als einen Vektor [11]. Ein Hauptbestandteil der neuronalen Netze sind Matrizen. Im Trainingsprozess werden Vektoren (Bilder als Input-Material) solange mit Matrizen verrechnet bzw. deren Gewichte austariert, bis die Netze die richtige Entscheidung über die Klassifikation eines Bildes mit der nötigen Genauigkeit herausgeben. Das bedeutet, dass am Ende eine Wahrscheinlichkeit für die richtige Einordung in eine Klasse (z.  B.  Hund oder Nicht-Hund, Karzinom oder Nicht-Karzinom) errechnet wird. Ein Deep oder Convolutional Neural Network ist ein besonders tiefes Netzwerk und besteht aus einer Vielzahl von Matrizen mit unzähligen Schichten [12].

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Neuronale Netze werden unterschiedlich trainiert. So unterscheidet man z. B. zwischen Supervised und Unsupervised Learning, um zu verdeutlichen, ob Software-Entwickler das neuronale Netz während des Trainings darin unterstützen, z. B. Objektklassifikationen in Bildern richtig vorzunehmen [13]. Beim Reinforcement Learning wird ein vortrainiertes Netz mit einem neuen Datensatz auf eine neue Aufgabe belohnungsbasiert trainiert, was Vorteile besonders in Bezug auf die Schnelligkeit der Durchführung birgt. Aufgrund der Tatsache, dass bei Deep Learning basierter Software häufig auf Komponenten anderer Hersteller zurückgegriffen wird, bietet es sich nicht an, auf ein Patent hinzuarbeiten. Es gibt jedoch andere Wege, um intelligente Software zu schützen. So ist es möglich, den Code selbst als Copyright zu behandeln, damit er nicht von einer anderen Firma kopiert werden darf [14]. Um die Logik einer Software zu schützen (mit anderen Worten: ihr Funktionsprinzip oder ihr Konzept), muss die Logik der Software als Betriebsgeheimnis behandelt werden [14]. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass ein ehemaliger Mitarbeiter die Logik der Software mit einer anderen Firma nicht kopieren kann. Das dritte Schutzrecht für KI-Software ist das in Deutschland geltende Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb [14]. Wird eine Software als Bestandteil von Hardware vertrieben, ist es auch in Deutschland möglich, ein Patent darauf anzumelden [15]. Abhängig von der Formulierung der Zweckbestimmung erhält ein Medizinprodukt eine niedrige oder hohe Risikoklasse, was sich positiv bzw. negativ auf Komplexität und Dauer des Zertifizierungsprozesses auswirkt. KI-Software ist sowohl in der Entwicklung als auch in der Anwendung rechenintensiv. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass hohe Rechnerleistung bei Kunden bzw. Anwendern gegeben ist, bietet es sich an, KI-Software als Software as a Service (SaaS) also Cloud-basiert zu vertreiben. Auf diese Weise arbeiten die Algorithmen in Rechenzentren, zu denen die Daten über eine Schnittstelle übertragen werden. Im Kontext der Radiologie gibt es z. B. die Schnittstelle des DICOM-E-Mail-Transfer-Versands, mit dem DICOM-­E-Mails sicher vom PACS der Nutzer an die Server versendet werden kann, auf denen die Deep Learning Algorithmen arbeiten. Diese Lösung hat den Vorteil, dass Nutzer sich nicht an neue Oberflächen gewöhnen müssen, um KI-Diagnose-Verfahren ­anzuwenden. Möglich ist allerdings auch eine Gesamtlösung, die KI-Software enthält. In diesem Fall würde den Kunden sowohl der Viewer, als auch das PACS und die Diagnose-Software als Paket angeboten werden. Auch in diesem Fall bietet sich eine Cloud-basierte Lösung an. Verschiedene Cloud-Anbieter verfügen über rechenstarke GPUs und vorgefertigte Architekturen, auf denen Deep Learning Algorithmen oder Cloud-basierte PACS gehostet werden können.

Fazit Die vorliegende vergleichende Betrachtung von KI-unterstützter und herkömmlicher radiologischer Diagnostik hat mehrere Vorteile und Herausforderungen beschrieben.

25  Das Berufsbild des Radiologen im Wandel

277

Der offensichtliche Vorteil für Radiologiepraxen ist die Reduzierung der Arbeitsbelastung der Ärzte. KI Software ersetzt nicht den Radiologen, sondern wird den Arzt in seinem Befundungsprozess unterstützen. Der Radiologe wird im Alltag erkennen, dass er die KI-Software als Expertensystem einsetzen kann. Der medizinische Benefit von KI in der Diagnostik liegt in der möglichen Senkung falsch-negativer Diagnosen, deren Anteil auf bis zu 1 % minimiert werden können, wenn Radiologen mit intelligenter Software arbeiten [16]. Denkbar ist deswegen, dass Künstliche Intelligenz zukünftig in der Diagnostik gesetzlich oder durch Krankenkassen verpflichtend eingesetzt wird, weil das Arbeiten ohne Systeme für computerunterstützte Diagnostik als zu hohes Risiko gilt. Herausforderungen für deutsche Hersteller von KI basierter Software sind 1 . die im Vergleich zu anderen Ländern schwache Investmentkultur, 2. der langwierige Zertifizierungsprozess, 3. die häufig kostspielige Akquisition und Annotation von Daten und 4. die nicht selten auf Fehlinformationen gegründeten Ressentiments gegenüber Künstlicher Intelligenz. Künstliche Intelligenz und andere innovative Lösungen können die Digitalisierung und bessere Versorgung vorantreiben. Die Politik und die Gesundheitswirtschaft müssen sich dafür einsetzen, dass auch in Deutschland KI den Weg in den Markt findet.

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M. Steffen und M. Waschka

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Teil VI Förderungen für den Mittelstand

Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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Martin Lundborg und Lisa Schrade

26.1 Einleitung Die Digitalisierung bietet kleinen und mittleren Unternehmen zahlreiche neue Möglichkeiten, von kleinen Prozessoptimierungen, über neue digitale Dienstleistungen bis hin zu neuen innovativen Geschäftsmodellen. Damit die Unternehmen die Chancen nutzen können, müssen sie sich neues Wissen oder sogar ganz neuen Kompetenzen aneignen. Mittlerweile können Unternehmerinnen und Unternehmer über so genannte Digitalisierungs-­ Checks, Reifegradtests oder Readiness-Checks in Eigenregie ihren Status zum Thema Digitalisierung im Unternehmen überprüfen und somit erste Anhaltspunkte erhalten, welche über mögliche Optimierungsmöglichkeiten Auskunft geben [5]. Jedoch zeigen einige Studien, dass kleine und mittelständische Unternehmen häufig an dem Punkt der Wissensgenerierung und des Transfers scheitern, was die Umsetzung der Digitalisierung und Profitierung von damit einhergehenden Bereichen im Unternehmen hemmt [4]. Den Bedarf der Unternehmen, besonders im kleinen und mittelständischen Bereich, hat auch die Bundesregierung erkannt und ihre Strategien und Förderprogramme auf die Digitalisierung und die Bedürfnisse der Umsetzer ausgerichtet. Als Fortentwicklung der Digitalen Agenda 2014–2017 hat die Bundesregierung zum einen Ende 2018 die Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“ verabschiedet. Hierbei wurden Förder- und Informationsschwerpunkte in die Bereiche KI, digitale Integration und Qualifikation als auch IT-Sicherheit gelegt. Vor allem neue digitale Innovationen sollen somit ermöglicht werden, um zum Wohlstand und der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internati­ onalen Vergleich beizutragen. Dabei steht auch das Ziel im Fokus, aus fundierter technoM. Lundborg (*) · L. Schrade WIK Wissenschaftliches Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH, Bad Honnef, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. R. Fortmann (Hrsg.), Digitalisierung im Mittelstand, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29291-1_26

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M. Lundborg und L. Schrade

logischer Forschung auch hervorragende technologische Produkte zu erzielen und das „Made in Germany“ auch auf die Digitalisierung zu übertragen [6]. Eine Maßnahme aus dieser digitalen Strategie der Bundesregierung ist der Förderschwerpunkt Mittelstand Digital, welcher zum Ziel hat, die kleinen und mittelständischen Unternehmen bundesweit und in sämtlichen Disziplinen der Digitalisierung zu informieren und zu sensibilisieren.

26.2 Digitaler Status Quo Je nach Definition hat etwa die Hälfte der Unternehmen keine Digitalstrategie und/oder steht am Anfang der Digitalen Transformation. Aufgrund fehlender Sensibilisierung und Bewusstsein oder des Fachkräftemangels ist die Digitalisierung für viele kleine und mittlere Unternehmen ohne Unterstützung nicht umsetzbar. Dabei ist die Bedeutung der Digitalisierung auf die deutsche Wirtschaft nicht zu unterschätzen. Das Beschäftigtenwachstum wird zwischen 2016 und 2021 aufgrund der Digitalisierung um 1,8  % wachsen. Außerdem erachten 100 % der deutschen Unternehmen IT-Sicherheit als wichtigen Zukunftstrend [4]. Zwei wichtige Pfeiler im Bereich der Digitalisierung sind sowohl die IT-Sicherheit als auch Anwendungen mit KI. Sie genießen nicht nur deutschlandweite Relevanz unter den Unternehmen und erfolgsversprechende Einschätzungen, sondern werden auch von staatlicher Seite priorisiert und gefördert [4]. Das Bundeswirtschaftsministerium hat Mittelstand-Digital und die Mittelstand 4.0-Kompe­ tenzzentren ins Leben gerufen, um die kleinen und mittleren Unternehmen sowie das Handwerk über die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung zu informieren. Die geförderten Kompetenzzentren bieten Unternehmensnetzwerke an, haben Demonstrationsorte aufgebaut und führen Beispielprojekte bei den Unternehmen durch. Praktische Erfolgsbeispiele mit von den Kompetenzzentren unterstützen Unternehmen runden das Angebot ab, was neben der klassischen Informationsweitergabe auch Raum für Inspiration bietet. Themen wie digitale Geschäftsprozesse, vernetzte Produktion oder neue digitale Arbeitsweisen sind neben der KI und IT-Sicherheit nur einige Beispiele für die Fachbereiche der Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren [1].

26.3 Künstliche Intelligenz Während die grundlegende Digitalisierung der Wirtschaft noch im vollen Gang ist, kommt schon die nächste Stufe mit neuen Anwendungen mit KI. Dabei definiert die Bundesregierung in ihrer Strategie „Künstliche Intelligenz“ diese Technologie wie folgt: „Die (schwache) KI ist fokussiert auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme auf Basis der Methoden aus der Mathematik und Informatik, wobei die entwickelten Systeme zur Selbstoptimierung fähig sind. Dazu werden auch Aspekte menschlicher Intelligenz

26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

283

nachgebildet und formal beschrieben bzw. Systeme zur Simulation und Unterstützung menschlichen Denkens konstruiert.“ [7] Dabei ergeben sich durch KI für die Betriebe unzählige Möglichkeiten: Von einer flexibleren Ressourcen- und Mitarbeiterplanung dank intelligenter Produktionssteuerung, über smarte Kamerasysteme für effizientere Warenprüfung bis hin zur KI-gestützten Vermeidung von Produktionsausschuss. Außerdem ist KI sowohl ein betriebswirtschaftliches als auch ein technologisches Thema, was besonders im Hinblick auf die optimale Implementierung im Unternehmen eine wichtige Rolle spielt. Dies wiederum zeigt sich im unternehmensseitigen Bedarf an Fachpersonal und – wissen.

26.4 Ist-Situation, Chancen und Herausforderungen Das wissenschaftliche Institut WIK hat in einer Kurzstudie auf Basis einer Expertenerhebung im Transferbereich festgestellt, dass sich die kleinen und mittleren Unternehmen verstärkt um die Implementierung von KI-Anwendungen kümmern müssen [3]. 70 % der Experten in der Umfrage gehen davon aus, dass die Gefahr droht, dass der Mittelstand im internationalen Wettbewerb abgehängt wird, wenn sie nicht mit der Entwicklung in diesem Bereich mitgehen. Außerdem halten 77 % der befragten Experten KI nicht nur für ein Modewort, sondern für eine bedeutende Technologie für die Zukunft des Mittelstandes. Laut einer Expertenbefragung für die Mittelstand-Digital-Studie „Künstliche Intelligenz im Mittelstand – Relevanz, Anwendungen, Transfer“ werden, wie in Abb. 26.1 dargestellt, im Mittelstand besonders den Bereichen Logistik (84  %), Kundenservice (78  %) und

Abb. 26.1  KI als Wachstumsmotor im Mittelstand

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M. Lundborg und L. Schrade

­ roduktinnovation (75  %) hohes Potenzial für KI-Anwendungen zugeschrieben. Das P größte Hemmnis für KI in mittelständischen Unternehmen ist laut 100 % der befragten Experten demnach das fehlende Wissen oder die fehlenden Fachkräfte. Unterteilen kann man im Mittelstand die aktive und passive KI-Nutzung. Bei der aktiven KI-Nutzung wird die eigene KI-Technologie im Unternehmen in die eigenen Prozesse, Produkte oder Services eingebaut, wohingegen bei der passiven KI-Nutzung auf KI-Dienste von Drittanbietern zugegriffen wird. Der passiven KI-Nutzung wird eine größere Bedeutung für die Zukunft zugeschrieben. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass durch die passive Nutzung besonders für mittelständische Unternehmen der Vorteil entsteht, dass das Wissen und die Technologie eingekauft werden können und somit nicht zwingend im Unternehmen vorhanden sein müssen. Auch bietet diese passive Gestaltung einen schnelleren Einstieg in KI-Lösungen. Im Rahmen der Mittelstand-Digital-Studie wurden die Experten auch zu ihrer Meinung befragt, welche KI-Anwendungen sie am relevantesten halten. Abb. 26.2 zeigt hier deutlich, dass grundsätzlich alle KI-Anwendungen als relevant eingestuft werden. Aus den Plätzen eins bis drei ergibt sich eine logische Anknüpfung der KI-Anwendungen an bereits im Zuge der Digitalisierung auftretende Maßnahmen und Anwendungen. Sowohl die Automatisierung als auch Sensorik und Assistenzsysteme sind bereits Bestandteil der heutigen Digitalisierung, welche in intelligenter Form mit KI erweitert und optimiert werden. Auffällig ist auch, dass dem Wissensmanagement eine größere Relevanz zugesprochen

Abb. 26.2  Einschätzung der Mittelstandsrelevanz ausgesuchter KI-Anwendungen

26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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wird als Anwendungen wie Robotik oder Qualitätskontrolle. Hier zeichnet sich wieder der Fachkräftemangel ab, welcher Unternehmen dazu veranlasst, bestehendes Expertenwissen im Unternehmen zu halten und somit auch das im Mittelstand bisher weniger populäre Thema Wissensmanagement stärker zu fokussieren. Nutzen bringt die KI über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, besonders jedoch im Bereich Produktion, Vertrieb und Logistik. Abb. 26.3 zeigt, dass die größten Chancen durch KI im Mittelstand von den in der Studie befragten Experten in der Optimierung der Supply Chain sowie der gesteigerten Prozesseffizienz liegen. Wenige Chancen geben die befragten Experten der KI im Bereich Verringerung des Personalaufwandes, was den gelegentlich aufkommenden Befürchtungen und Berichten über eine Substitution von Mensch durch Maschine entgegensteht. Aufgehalten wird die Einführung von Anwendungen mit KI durch fehlendes Know-­ how, bzw. fehlende Fachkräfte, wie in Abb. 26.4 deutlich wird. Dies spiegelt die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt wider, welchem es vor allen an IT-Fachkräften und Datenanalysten mangelt. Eine mangelnde Datenbasis wurde von den befragten Experten der Studie als zweites Hemmnis bei der Implementierung von KI im Mittelstand aufgerufen. Dies liegt zum einen an dem kleineren Datenpotenzial von kleineren Unternehmen, zum anderen auch an dem digitalen Reifegrad der im Mittelstand vertretenen Unternehmen. Die meisten KI-Systeme basieren auf einer konstanten Bespielung mit einem großen Datensatz, welcher im Unternehmen beispielsweise über die Sensorik in der Produktionsstraße

Abb. 26.3  Einschätzung der Chancen der KI im Mittelstand

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M. Lundborg und L. Schrade

Abb. 26.4  Einschätzung der Hemmnisse der KI-Nutzung im Mittelstand

entsteht. Es werden also viele und qualitativ hochwertige Daten benötigt. Beide Aspekte sind in Großunternehmen durchschnittlich größer. Hieraus ergibt sich auch ein weiteres Hemmnis: Die Bedenken darüber, was mit den Daten passiert. Dies basiert auch sehr stark auf der Unwissenheit der Unternehmer, wie solch ein KI-Datensystem funktioniert und welche Chancen und Risiken zu beachten sind. Als geringstes Hemmnis werden die begrenzten finanziellen Ressourcen angesehen, was schlussfolgern lässt, dass KI im Mittelstand eher eine Know-how- als eine Kapitalfrage ist.

26.4.1 Unterstützung für den Transfer von KI in den Mittelstand Die Voraussetzungen für deutsche Unternehmen, von den Möglichkeiten durch Anwendungen mit KI zu profitieren, sind gut. Deutsche Forschungseinrichtungen sind weltweit führend oder weit vorne bei der Grundlagenforschung. Bisher ist es aber nur teilweise gelungen, diesen Forschungsvorsprung für innovative Anwendungen in der Industrie zu nutzen. Die Studie zu KI und dem verarbeitenden Gewerbe der BMWi-Initiative PAiCE hat auf Basis von Experteninterviews festgestellt, dass vor allem im Transferbereich, also in der Überführung von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft, noch erhebliches Verbesserungspotenzial besteht. Hier setzt die KI-Strategie der Bundesregierung aus November 2018 an [7]. Eine Maßnahme darin ist die Implementierung von 20 KI-Trainern im Rahmen des Förderschwerpunkts Mittelstand-Digital. Gestartet sind die ersten KI-Trainer Mitte 2019

26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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im Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Saarbrücken und sollen jährlich mindestens 1000 Unternehmenskontakte generieren, um bundesweit über die Chancen von Anwendungen mit KI im Mittelstand zu informieren und spezifische Maßnahmen zu begleiten. Dabei setzt das Angebot des Mittelstand 4.0-Kompteenzzentrums Saarbrücken auf die Sensibilisierung von relevanten Akteuren im Handwerk und Mittelstand für die technologischen und wirtschaftlichen Potenziale von KI und Verbreitung von konkreten Anwendungsbeispielen, vorwiegend in den Arbeitsfeldern Assistenzsysteme, Smart-Data-Analysen und Intelligente Produkte und Services [8]. Ein weiteres Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum, welches bereits Expertise im Bereich KI aufweisen und somit interessierten Unternehmen Hilfestellung geben kann, ist Kaiserslautern. Einer der vier Konsortialpartner des Zentrums in Kaiserslautern ist das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), welches auf dem Gebiet in­ novativer Softwaretechnologien die führende wirtschaftsnahe Forschungseinrichtung Deutschlands und das weltweit größte Forschungszentrum auf dem Gebiet der KI und deren Anwendungen ist [9].

26.5 IT-Sicherheit Vorteile wie vernetzte Produktion oder individuelle Fertigung können gerade für kleine und mittlere Unternehmen viele neue Chancen bieten. Die Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, inklusive der potenziellen Risiken, gehören allerdings auch dazu. Hierunter fallen vor allem die IT-Sicherheitsrisiken für die Unternehmen. Verschiedene Studien zeigen einen erheblichen Bedarf an Informationen und Sensibilisierung im deutschen Mittelstand. Vielen kleinen und mittleren Unternehmen fehlen die erforderlichen technischen und organisatorischen Maßnahmen, um Ausfälle der eigenen IT, Datenverluste und Datenmanipulation vorzubeugen. Lediglich 20  % der deutschen KMU haben bisher eine IT-Sicherheitsanalyse durchgeführt oder durchführen lassen. Dem gegenüber stehen 70  % der deutschen Unternehmen und Institutionen, welche zwischen 2016 und 2017 Opfer von Cyberangriffen geworden sind [10]. Verschiede Förderprogramme, wie zum Beispiel die Initiative IT-Sicherheit-in-der-Wirtschaft, helfen den Unternehmen mit grundlegenden Informationen, damit diese sich besser schützen können.

26.6 Ist-Situation, Chancen und Herausforderungen In einer Studie des wissenschaftlichen Instituts WIK sind der aktuelle Stand zum Thema IT-Sicherheit, Sicherheitsrisiken und Maßnahmen bei insgesamt 1500 kleinen und mittleren Unternehmen abgefragt worden. Insgesamt hat die Mehrheit der KMU mit unterschiedlichen Formen von IT-Sicherheitsproblemen zu kämpfen. Fast 3/4 der Unternehmen in Deutschland nehmen die Auswirkungen von IT-Sicherheitsproblemen auch wahr. Die

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M. Lundborg und L. Schrade

Angriffe bleiben dabei oftmals nicht ohne Folgen, sondern richten diverse Schäden in den betroffenen Unternehmen an [11]. Bereits in 2017 ergab eine Studie des wissenschaftlichen Instituts WIK, dass kleine und mittelständische Unternehmen den Ausfall von IT-Systemen als größten Problembereich sehen. Wie Abb. 26.5 verdeutlicht, haben 82 % der größeren und 59 % der kleineren KMU hier schon negative Erfahrungen gemacht. Mehr als die Hälfte der Befragten hat außerdem Virenangriffe im Unternehmen beobachtet. Der Verlust oder die versehentliche Veränderung von Daten wird bei 31 %–48 % der KMUs als auftretendes IT-Sicherheitsproblem genannt. Lediglich jedes fünfte Unternehmen hat noch gar keine IT-Sicherheitsprobleme bemerkt, wobei dies hauptsächlich auf Lücken in den Präventionsmaßnahmen zurückzuführen ist [12]. Ist jedoch keine ausreichende IT-Sicherheit sichergestellt, entstehen umfassende Schäden. Die genaue Schadenshöhe lässt sich zwar mangels adäquater Statistiken hierzu nicht genau ermitteln, jedoch ist in der deutschen Wirtschaft von einer großen Dunkelziffer auszugehen. Als Folgen der Schäden durch IT-Sicherheitsangriffe werden hauptsächlich Imageschäden bei Lieferanten und Kunden genannt sowie datenschutzrechtliche Maßnahmen. Wie aus Abb. 26.6 ebenfalls hervorgeht, sind an dritter Stelle Ausfall, Diebstahl oder Schädigung von Informationssystemen und Kosten für Rechtsstreitigkeiten als Folge von IT-Sicherheitsangriffen aufgeführt. Erpressung mit gestohlenen oder verschlüsselten

Abb. 26.5  Konkrete Erfahrungen mit IT-Sicherheitsproblemen

26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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Abb. 26.6  Schäden durch IT-Sicherheitsangriffe

­ aten sowie negative Medienberichterstattung sind eine eher seltene Folge bei den befragD ten Unternehmen der Studie [13]. Zur Verbesserung der IT-Sicherheit und zum Schutz vor Angriffen gibt es Möglichkeiten und Maßnahmen für Unternehmen, sich vor genau diesen Folgen zu schützen. Einer WIK-Studie zufolge kann hierbei zwischen Basis- und Verschlüsselungsmaßnahmen unterschieden werden, welche in ihrer Umsetzung unter den befragten Unternehmen divergieren. Abb. 26.7 zeigt, dass der Virenschutz und die Verwendung von Passwörtern und Firewalls die gängigsten Basismaßnahmen in diesem Rahmen sind. Auch Sicherungskopien von Daten und Spamfilter werden von mindestens 90 % der befragten Unternehmer genutzt. Im Bereich Verschlüsselung setzen KMUs auf die klassische Datenverschlüsselung, wobei der Anteil der Verschlüsselung von Emails mit der Unternehmensgröße der befragten Unternehmer zunimmt. Die am wenigsten genutzte Verschlüsselungsmaßnahme ist die der Festplattenverschlüsselung, welche je nach KMU-Größe bei 24 %–39 % der Befragten genutzt wird [12]. Besonders bei den organisatorischen und personellen Maßnahmen besteht bei den befragten kleineren KMUs Handlungsbedarf. Wie aus Abb.  26.8 hervorgeht, haben nicht einmal die Hälfte (maximal 47 %) dieser entsprechende Maßnahmen umgesetzt. Auch die Wissensvermittlung über Schulungen für (Fach-)Personal wird zwar als erforderlich angesehen, jedoch nur zu maximal 22 %, bzw. 58 % der befragten KMUs umgesetzt [12].

26.7 Fördermaßnahmen für mehr IT-Sicherheit Das Angebot an Förderansätzen zum Thema IT-Sicherheit ist vielfältig, besonders für den Mittelstand. Anfang des Jahres 2019 verlängerte das Bundeswirtschaftsministerium seine Förderung für kleine und mittelständische Unternehmen beim Thema IT-Sicherheit mit

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M. Lundborg und L. Schrade

Abb. 26.7  Technische IT-Sicherheits-Maßnahmen: Basismaßnahmen und Verschlüsselungen

Abb. 26.8  Organisatorische IT-Sicherheitsmaßnahmen

26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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der Initiative „IT-Sicherheit in der Wirtschaft“. Hiermit sollen auf solche Unternehmen zugeschnittene Projekte zu Themen rund um die IT-Sicherheit unterstützt werden. Dies beinhaltet neben der Aufklärung auch die Unterstützungsleistung, welche die Sicherheit von digitalen Prozessen und Geschäftsmodellen forcieren soll. Hinzu kommt die Einrichtung einer Transferstelle „IT-Sicherheit in der Wirtschaft“, welche die Bündelung und die Anlaufstelle für die Unterstützungsangebote bildet sowie verständliche und praxisnahe Informationen und Handlungsempfehlungen zur Verfügung stellt. Interessierte Unternehmerinnen und Unternehmer können über die Transferstelle ebenfalls passende Angebote finden und repräsentative Beispiele aus der Unternehmenspraxis einholen [6]. Außerdem gibt es viele weitere, auch kostenfreie Informationsangebote, die sich speziell an KMU-Vertreter ohne große IT-Sicherheits-Kenntnisse richten. Dabei lässt sich die Unterstützungsleistung in zwei grundlegende Bereiche aufteilen, wie in Abb. 26.9 deutlich wird. Zum einen können interessierte KMUs die zahlreichen Informations- und Sensibilisierungsangebote zum Thema IT-Sicherheit wahrnehmen. Hierzu zählen auch die bun­ desweit verteilten Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren im Förderschwerpunkt Mittelstand-­Digital. IT-Sicherheit als Schwerpunktthema führen hier die Kompetenzzentren IT-Wirtschaft, Stuttgart, Berlin, Chemnitz, Cottbus, Darmstadt, Hamburg, Hannover, Magdeburg, Planen & Bauen und Saarbrücken auf. Neben dem Besuch von eigenen Veranstaltungen wie Workshops oder Themenvorträgen können interessierte KMU-Vertreter mit den jeweiligen Zentren in den direkten Austausch treten, um individuelle Informationen zum Thema IT-Security zu erhalten. Das Angebot setzt hierbei in der Regel keine fundierten Kenntnisse aus diesem Bereich voraus. Finanzielle Förderung wird sowohl auf Landes- aber auch Bundesebene angeboten, wobei direkte Zuschüsse, wie zum Beispiel für Beratungsleistung oder Investition in Hard- und Software, von Förderkrediten zu unterscheiden sind. Die Vergabe der Zuschüsse

Abb. 26.9  Darstellung der verschiedenen Förderansätze zum Thema IT-Sicherheit in Deutschland

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erfolgt über die Förderinstitute der jeweiligen Bundesländer oder des Bundes. Die Förderkredite sollen mit niedrigen Zinssätzen auch langjährige Digitalisierungsstrategien der Unternehmen fördern. In manchen Fällen sind diese Unterstützungsleistungen jedoch an Bedingungen geknüpft, wie zum Beispiel das Einhalten einer bestimmten Mitarbeiterzahl im Unternehmen oder die Vorlage eines Digitalisierungskonzeptes.

26.8 Fazit Die Digitalisierung in Deutschland ist in vollem Gange und fordert Unternehmen jeder Branchenart und Unternehmensgröße heraus. Doch besonders im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen herrscht noch Unsicherheit oder Mangel an Wissen und Fachpersonal für die wichtigen Implementierungen der Digitalisierung. Dabei sind Themen wie IT-Sicherheit und der Wachstumsmotor KI nicht aus dem Anwendungsbereich der Digitalisierung wegzudenken. Um diesen Herausforderungen als KMU zu begegnen, ist es wichtig, die angebotenen Hilfeleistungen und –mittel zur Digitalisierung von Unternehmen in Anspruch zu nehmen. Hier haben Bund und Länder mithilfe ihrer politischen Agenda einige Förderprogramme und Initiativen als Hilfsmaßnahme zur Verfügung gestellt. Sie bieten dem Mittelstand neben Informations- und Sensibilisierungsangeboten auch eine Plattform für den Austausch und zum Herantasten an neue Themen, wie beispielsweise durch die vielen Demonstratoren der einzelnen Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren. KMU-Vertreter können sich somit unabhängig von ihrer digitalen Readiness oder ihrem digitalen Verständnis an die aufkommenden Themen und Technologien heranwagen. Somit ist die Digitalisierung in Deutschland nicht mehr nur ein Thema der Großkonzerne oder Tech-Giganten. Spätestens seit der angebotenen Hilfeleistungen und -mittel zur Digitalisierung von Unternehmen können alle Unternehmensgrößen auf dem Markt der Digitalisierung partizipieren und sich gewinnbringend mit den digitalen Innovationen weiterentwickeln.

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26  Fördermaßnahmen zur Digitalisierung des Mittelstandes

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