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German Pages 253 Year 1980
RAFFAELE DE G I O R G I
Wahrheit und Legitimation im Recht
Schriften zur Rechtstheorie Heft 89
Wahrheit und Legitimation im Recht E i n Beitrag zur Neubegründung der Rechtstheorie
Von
Dr. Raffaele De Giorgi
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Hechte vorbehalten © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin Printed in Germany ISBN 3 428 04599 8
A mio padre per il suo 75. compleanno
Das Bedürfniß und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben bildet so für sich in einem großen Volk ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit, ein sich in sich bewegendes Leben des todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin- und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf. 0Hegel, Systementwürfe, I, S. 324) Durch Identifikation werden Sinneinheit und Zusammenhang gewährleistet ungeachtet der sachlichen Verschiedenheit der Erwartungen. Generalisierung leistet mithin eine symbolische Immunisierung von Erwartungen gegen andere Möglichkeiten, ihre Funktion unterstützt den notwendigen Reduktionsprozeß dadurch, daß sie unschädliche Indifferenz ermöglicht. (Luhmann, Rechtssoziologie, S. 94)
Vorwort Vorliegende Arbeit ist ein Ergebnis meines Studien- und Arbeitsaufenthaltes, den ich am Institut für Hechts- und Sozialphilosophie der Universität des Saarlandes unter der Leitung von A. Baratta durchgeführt habe. A n dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. D. Krauß, Basel, meine Dankbarkeit für seine konstruktive K r i t i k ausdrücken; Herrn Prof. Dr. W. Krawietz, Münster, und Herrn Prof. Dr. D. Corradini, Pisa, danke ich dafür, daß sie das deutsche, bzw. das italienische Manuskript gelesen und den Mut meiner Arbeit begrüßt haben. Saarbrücken, den 4. Januar 1980. Raffaele De Giorgi
Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG
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Teil I DIE WISSENSCHAFT Kontingenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen 1. Praktische Philosophie und normative Wahrheit 16 2. Gültigkeit und Nicht-Kontingenz der Norm: das innere Legitimierungsprinzip 18 3. Zerlegung und Komplexität. Die Struktur der Abstraktionen und der formelle Zusammenhalt der Systeme durch die kontingente Norm 21 4. Das epistomologische Hindernis normativer Kontingenz 25 Kapitel I Savigny und die methodologische Umkehrung 1. 2. 3. 4.
Geschichte, System und Philosophie Die methodologische Umkehrung Der logische Aufbau des Systems Kontingenz und Notwendigkeit. Die Ausblendung der erkenntnistheoretischen Frage 5. Die Methodologie und die Emanzipation der Wissenschaft
30 37 39 44 46
Kapitel II Die Ausdifferenzierung der Methodologie und Kelsen 1. Puchta a) „Das Recht als die mit der Ungleichheit behaftete Gleichheit" . . . . b) Vernünftigkeit des Rechtssystems, Positivität der Wissenschaft und die materielle Instanz 2. Jhering a) Die Emanzipation der Rechtsabstraktion und der Wissenschaft b) Geschichte des Rechts und Geschichte der Verdrängung der materiellen Instanz Exkurs über die Interessenjurisprudenz: Rechtssätze und Interessenlage — Die Aufgabe der Rechtswissenschaft
50 50 56 62 62 69 75
10
Inhaltsverzeichnis
3. Kelsen 79 a) Die Frage: „Wie ist positives Recht — als Gegenstand der Erkenntnis, als Objekt der Rechtswissenschaft möglich?" 79 b) Die Frage: „Wie ist die Rechtswissenschaft möglich?" 89
T e i l II DIE THEORIE Einführung zur theoretischen Umkehrung 1. Das Unbehagen des Positivismus 2. Die Jurisprudenz der Entfremdung 3. Die neue Rechtstheorie und der theoretische Pluralismus
93 96 101
Kapitel I Die Rechtshermeneutik 1. Exemplarische Bedeutung der Rechtshermeneutik 2. Antianalytische Strategie. Revision des hermeneutischen Wissens und Rechtstheorie 3. Sinn, Text und Vermittlungsprinzip 4. Hruschka: Das Verstehen von Rechtstexten 5. Das epistemologische Hindernis der Hermeneutik
106 110 114 118 122
Kapitel II Die Rechtstheorie als kritische Reflexion 1. Dialektische Tradition und antipositivistisches Denken Der philosophische Hintergrund des „kritischen" Denkens a) Die hermeneutisch-kritische Epistemologie Habermas b) Die anthropologische Erkenntnistheorie Apels 2. Möglichkeiten und Hindernisse des Ubergangs von der kritisch-transzendentalen Gesellschaftstheorie zur Rechtstheorie 3. Die Rechtstheorie als „transzendentale Reflexion" 4. Die marxistische Rechtstheorie als Rechtskritik 5. Distanzierung von der Welt und Fiktion der Geschichtsphilosophie — „Sinnhaftigkeit einer Denkstrategie" und Kritik an Böhler und Paul
125 128 129 131 134 138 143
Kapitel III Die analytische Rechtstheorie und der Kritizismus 1. Dialektik und Kritizismus 2. Die Erkenntnistheorie des Kritizismus
150 152
Inhaltsverzeichnis 3. 4. 5. 6. 7.
Die Jurisprudenz als Sozialtechnologie Der Kritizismus und der analytische Modus der Wissenschaft Die analytische Rechtstheorie in ihrer „engen" Auffassung Die analytische Rechtstheorie in ihrer „weiteren" Auffassung Abenteuer der Epistemologie und Metamorphosen des Rechts
155 160 163 169 173
Kapitel IV Die realistische Jurisprudenz 1. 2. 3. 4. 5.
Der deutsche Rechtsrealismus Essentialismus und Epistemologie Die Rechtstheorie des juristischen Realismus Kritische Bemerkungen zur Dialektik des juristischen Realismus Eine neue Perspektive
180 184 186 188 193
T e i l III DIE RATIONALITÄT Rationalität als Verdrängung 1. Die Krise der Rechtsepistemologie 2. Die Frage der Aufklärung und das Problem der Reduktion von Komplexität — Das soziale System 3. Funktionale Stabilisierung und Systemrationalität 4. Strategien der Reduktion von Komplexität — Systemstruktur und Abschirmung von Alternativen 5. Die Generalisierung von Erwartungen 6. Kongruente Generalisierung von Erwartungen — Das Recht 7. Positives Recht — Die Frage der normativen Kontingenz 8. Rechtstheorie und funktionale Wissenschaftsauffassung 9. Kontingenz und Verdrängung. Rechtstheorie und Verdrängung der materiellen Instanz
195 199 202 206 209 211 212 217 221
SCHLUSSBEMERKUNG Uber die Unentbehrlichkeit einer emendatio des Rechtsdenkens
233
LITERATURVERZEICHNIS
238
Einleitung I Das Recht w i r d erst dann zum Gegenstand einer eigenständigen Wissenschaft, wenn es sich von den anderen gesellschaftlichen Systemen abgesondert, d. h. ausdifferenziert hat und eine relative Selbständigkeit gewinnt. Die Positivierung des Rechts ist der Prozeß, durch den das Recht i n der sozialen Welt isoliert und zu einem selbständigen normativen System wird. Die Positivität des Rechts ist der Ausgangspunkt der Rechtswissenschaft. Die Positivität stellt zugleich die Bedingung der Möglichkeit und den Anfang der Rechtswissenschaft dar. Die Geschichte dieser Wissenschaft ist die Geschichte der mannigfaltigen Verhältnisse, die zwischen der Positivität des Rechts und der Wissenschaft bestehen, die die Positivität als ihren Anfang bestimmt. Diese Arbeit w i l l die Widersprüchlichkeit gerade dieser Aufnahme der Positivität des Rechts als Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft i n der geschichtlichen Entwicklung der Rechtswissenschaft aufzeigen, die auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung zur skeptischen Selbstzerstörung der Wissenschaft führt. Ein neuer Anfang der Wissenschaft ist gefordert. II Diese Arbeit, so möchte ich betonen, ist ein Werk im Werden. Es baut auf einer Hypothese auf, die zu verifizieren ist: die Positivität des Rechts ist ein widersprüchlicher und selbstzerstörerischer Anfang der Rechtswissenschaft. Ausgangspunkt der Arbeit ist der Bruch innerhalb des naturrechtlichen Modells der Wissenschaft (Teil I, Einführung). I n diesem Modell analysiere ich die Bedeutung des Wahrheitsprinzips und verfolge sein Verschwinden. Sodann w i r d das Entstehen des Prinzips der Positivität Gegenstand meiner Betrachtung (Teil 1,1), m i t all den Schwierigkeiten, denen dieses Prinzip ausgesetzt ist, u m sich behaupten zu können, bis h i n zu seiner Stabilisierung (Teil 1,2). Parallel dazu versuche ich den Ort zu bestimmen, u m den herum diese Schwierigkeiten kreisen.
14
Einleitung
Diese Bestimmung ermöglicht, die innere Widersprüchlichkeit i m Verhältnis zwischen Positivität und Wissenschaft, die als Denken eben dieser Positivität gilt, herauszukristallisieren. Die Forschung ist eine geschichtliche. Diese Arbeit ist keine Geschichte der Rechtswissenschaft, nicht einmal eine Ideengeschichte des Redits. Sie ist die Geschichte der inneren Logik des Verhältnisses zwischen der Positivität des Rechts und den wissenschaftlichen Modellen, die die Positivität als Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft aufnehmen. Deshalb verfolge ich die logische Entwicklung i n einer geschichtlichen Perspektive. Indem ich mich von der logischen Entwicklung des Problems leiten lasse, b i n ich zu einer spezifischen Selektion gezwungen. Erst sie macht die Realisierung meines Vorhabens möglich. Ich beginne m i t der Analyse des Denkens Savignys, setze mich dann m i t Puchta, Jhering, der Interessenjurisprudenz und Kelsen auseinander (Teil I). I n der logischen Entwicklung des Problems stellt Kelsen zugleich den ersten Höhepunkt und das Ende der ersten Phase dieser Entwicklung dar; d. h. für die innere Ökonomie meines Diskurses erscheint i n Kelsen die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses i n ihrer ausgeprägtesten Konsequenz. Kelsen beschließt die „methodologische Umkehrung der Rechtswissenschaft", i n der sich die Positivität als Anfang der Rechtswissenschaft behauptet und die innere Widersprüchlichkeit dieses Anfangs klar zum Vorschein kommt. Nach Kelsen beginnt die zweite Entwicklungsphase der Rechtsepistemologie, die „theoretische Umkehrung der Wissenschaft" (Teil II). Die innere Widersprüchlichkeit des Positivitätsprinzips bleibt unangetastet. A u f der Grundlage der Gesellschaftswissenschaften entwikkeln sich eine Reihe von Modellen zur Stabilisierung des positiven Rechts (Teil I I , 1,3). Die Entwicklung gipfelt i n der Systematisierung Luhmanns. Die Analyse seines Modells enthüllt die skeptische Selbstzerstörung der Rechtswissenschaft, d.h. die Selbstzerstörung des Positivitätsprinzips als Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft (Teil II, 4). Luhmann beendet nicht nur eine bestimmte Entwicklungsphase des Problems des Anfangs der Wissenschaft, er beendet auch die Geschichte dieses Problems überhaupt. Die Rechtstheorie Luhmanns, die „Theorie der Verdrängung der materiellen Instanz", enthält zusammen m i t dem Zynismus einer un-
Einleitung barmherzigen Analyse der Phänomenologie des Rechts das skeptische Prinzip der Selbstzerstörung des theoretischen Wissens über das Recht, das i n der Positivität gründet. M i t Kelsen und Luhmann gelangt die moderne Rechtsepistemologie zum Selbstbewußtsein ihres Schicksals. Die Kohärenz, die Offenheit und der Mut, mit denen diese Verfasser die Ungewißheiten zerschlagen und das Schweigen einer Rechtsepistemologie brechen, die sich auf Zehenspitzen bewegt, machen i h r Denken zum Selbstbewußtsein der modernen Rechtsepistemologie, zu dem Ort, an dem die unlösbare Widersprüchlichkeit der Wissenschaft zum bestimmenden Ausdruck der unlösbaren Widersprüchlichkeit des modernen Rechts wird. III Diese Arbeit ist — wie schon gesagt — keine Geschichte des Rechtsdenkens. Sie beansprucht keine geschichtliche Vollständigkeit. Sie verfolgt vielmehr ein Problem: sie w i l l die innere Logik der Geschichte dieses Problems entfalten und legt einen bestimmten Punkt fest, u m den sich diese innere Logik spinnt. Dieser Punkt w i r d als das „epistemologische Hindernis der Rechtswissenschaft" definiert. Die Modelle der Wissenschaft erscheinen als Projekte zur Überwindung dieses Hindernisses. Die Arbeit entwickelt eine K r i t i k der Rechtsepistemologie und sie bleibt bei dieser K r i t i k . Deshalb ist diese Arbeit nur ein Prolog: der Prolog des Übergangs von der K r i t i k der Epistemologie, die als Bedingung der Möglichkeit und als Anfang die Positivität des Rechts setzt, zum Aufbau eines epistemologischen Modells, dessen Anfang gerade dieses „Hindernis" ist, auf dessen Verdrängung die Rechtswissenschaft bis jetzt — ohne Erfolg — beruhte. Der einzige Anspruch dieser Arbeit ist, als diese eigentliche K r i t i k der Rechtsepistemologie betrachtet zu werden.
Teil I
Die Wissenschaft Kontiagenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen 1. Praktische Philosophie und normative Wahrheit Den Systemen der praktischen Philosophie gelang es i m modernen Zeitalter, die Einheit des Handelns zu erfassen. Das ethische, politische und rechtliche Handeln wurde von umfassenden Systemen beschrieben, die folgende Merkmale hatten: Das Sollen, das i n einer Handlungsanweisung oder Handlungsnorm seinen Ausdruck findet, basierte auf Prinzipien, die m i t dem Sein verknüpft sind, d. h. auf einer rationalen Ontologie. Diese Ontologie war zugleich Gewißheit für das Handeln, einheitlicher Bezug der Normen- und Richtliniensysteme; sie war der letzte Geltungsgrund für diese Systeme 1 . Das Handeln stellt für die praktische Philosophie ein komplexes und gegliedertes Universum dar, das keine Spuren von Zerfallsprozessen aufweist, die i n Zukunft zur Isolierung 2 der einzelnen Sektoren (des ethischen, politischen und rechtlichen Sektors) und zu ihrer gegenseitigen Ausschaltung führen werden. I m einheitlichen Bereich der praktischen Philosophie ist das Naturrecht das Maß für das richtige Handeln 8 . Das Handeln trägt somit nicht den Charakter der Rechtlichkeit 4 . I m modernen Sinne sprechen w i r diese Eigenschaft dem Handeln zu, das ausdifferenziert und von einer Norm geregelt ist, deren Geltung lediglich von bestimmten Verfahrensprinzipien abhängt. I n der undifferenzierten Komplexität der praktischen Philosophie hat eine isolierte 1 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Problemkreis seien erwähnt: Hennis, Politik und praktische Philosophie; Meyring, Politische Weltweisheit; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 63 ff.; Oelmüller, Die unbefriedigte Aufklärung, S. 113 ff.; Riedel, Moralität und Recht, S.83-96; Rod, Rationalistisches Naturrecht. 2 Vgl. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 7 - 8; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 190-199, 217-226; ders., Ausdifferenzierung des Rechtssystems. 3 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 65. 4 Vgl. Riedel, Moralität und Recht, sowie den Beitrag von Denzer, Ethik und Recht, S. 103 - 109; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 166 - 190.
Kontingenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen
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Betrachtung des Handelns, allein von einer rein „rechtlichen" Regel bestimmt, erkenntnistheoretisch keinen Platz. Läßt sich das Handeln nicht i n bezug auf das Schaffen gegenseitiger Indifferenz, sondern nur i n bezug auf den i n der rationalen Ontologie festgelegten Wert bestimmen, so kann das Naturrecht nicht Gegenstandsbereich einer eigenständigen „Rechtswissenschaft" werden. Somit stellt das Naturrecht kein rechtliches, sondern ein rein philosophisches Problem dar, es ist i m Universum der praktischen Philosophie „ein Problem der Einheit von Ethik und Politik, i m wesentlichen ein Problem der öffentlichen Moral" 5 . Folglich existiert die Epistemologie des Naturrechts nur als Subsystem der praktischen Philosophie, das folgende Besonderheit aufweist: die normative Struktur, auf der das Subsystem seine Reflexionen durchführt, ist nicht veränderbar. Da sie nicht auf Entscheidungen aufgebaut ist, kann sie auch nicht aufgrund späterer Entscheidungen verändert werden. Diese Struktur ist nicht gesetzt, sondern Ergebnis eines analytischen Ableitungsprozesses, i n dem sich die normative Wahrheit der Prinzipien der rationalen Ontologie, die die Prämissen des Systems darstellen, offenbart und w i r k t . Die Rechtsepistemologie ist lediglich Reflexion über die Ableitungsvorgänge der Normativität, die die beschreibenden Prämissen des Seins implizieren: Sie ist i m wesentlichen eine Theorie über den Systemaufbau, die sich auf eine „doctrine de la méthode" stützt. Die Herleitung der „rechtlichen" Normativität kann nur i n einem System der Erklärung der Prämissen, auf der Grundlage einer Methode der Wahrheitssuche erfolgen, die die geeigneten Operationen bestimmt. Die Epistemologie verfügt über eine Methodenlehre, die, von den Prinzipien der rationalen Ontologie 6 ausgehend, darauf abzielt, das Wahre nach dem Maß des Richtigen zu bestimmen. Die durch die Forschung erzeugte Norm ist wahr, ihre Wahrheit aber ist nicht rein logischer Natur. Zwar gilt die Norm, w e i l sie logisch wahr ist, jedoch ist die Wahrheit, die i n ihr zum Ausdruck kommt, zugleich Bestimmung des i n der Ontologie festgesetzten Wertes, von dem die Prämissen ausgehen. Die Gültigkeit der Norm ist unmittelbar an den Wert gebunden. Die Norm stellt sich als logische Wahrheit eben dieses Wertes dar. Einer solchen Wahrheit ist der Charakter der Notwendigkeit immanent.
5 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 65; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 267, spricht von „öffentlicher Sozialethik". 6 Rod, Rationalistisches Naturrecht, S. 269 ff.
2 De Giorgi
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Teil I : Die Wissenschaft 2. Gültigkeit und Nicht-Kontingenz der Norm: das innere Legitimierungsprinzip
Das spezifische Geltungsprinzip der naturrechtlichen Norm, das die Norm an den Wert bindet, entzieht die Norm der W i l l k ü r , macht sie gegenüber der Zeit widerstandsfähig, immunisiert sie gegen Entscheidungen, schützt sie vor dem Möglichen und dem Verschiedenen. Die Norm ist nicht-kontingen?. Nicht-kontingent ist die Norm, die aus innerer Notwendigkeit, aus bestimmten Prämissen hervorgeht. Diese Prämissen, die wahren Prämissen, sind nicht falsifizierbar. Die Norm ist demnach keine Variable. Sie entzieht sich den Entscheidungsprozessen. Sie gilt aufgrund der Identifizierung des Erkenntnisprozesses mit dem Erzeugungsprozeß der Norm. Diese Identifizierung und die sich daraus ergebende Nicht-Kontingenz ermöglichen das Verständnis u m die Besonderheit der naturrechtlichen Epistemologie. Sie stellt kein äußeres System zur Gesamtheit der Normen dar, sondern ein System, das nach seinem Modell selbst die Normen hervorbringt und sie innerhalb ihres begrifflichen Netzes verteilt. Die Epistemologie w i r d so zur internen Legitimierungsinstanz, die der Normenkomplex schon bei seiner Entstehung i n sich trägt. A u f gnoseologischer Ebene legitimieren sich die Normen aufgrund der Methode der Wahrheitssuche 8 , die sie zu einem logisch geschlosssenen System zusammenfügt. A u f ideologischer Ebene legitimieren sich die Normen, w e i l die Methode auf einem tiefgreifenden philosophischen Wissen u m die Natur und den Menschen 9 gründet und durch das Normensystem zur wahren Erkenntnis über das Sollen gelangt. Das System ist nicht nur der Ort, an dem das Recht entsteht, sondern auch der Ort, innerhalb dessen das entstandene Recht sich als Wahrheit legitimiert. Der Aufbau des Systems ist die wichtigste erkenntnistheoretische Errungenschaft der Naturrechtslehre und ihrer methodischen Gründlichkeit. „Das System" — so bemerkt Wieacker 10 zutreffend — „ist 7 „Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit. Kontingent ist demnach alles, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist". Aber: „Erst seit Kant (und soziologisch gesprochen: erst seit dem Übergang zur »bürgerlichen Gesellschaft') werden Modalbegriffe dieser Art relational generalisiert, und zwar zunächst mit Bezug auf das Erkenntnisvermögen. Damit werden possibilistische Modalisierungen epistemologischen nachgeordnet." So Luhmann, Funktion der Religion, S. 187; s. die dort angegebenen Literaturhinweise sowie die in Fn.24 dieses Kapitels. 8 Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht, S. 55. 9 s. statt aller, Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 108 ff.
Kontingenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen
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zweifellos der bedeutendste Beitrag des Vernunftrechts zum europäischen Privatrecht. Die Jurisprudenz, die sich als Wissenschaft der Exegese und des Kommentierens einzelner Texte erwiesen hat und die auch nach dem Scheitern der humanistischen Systemprojekte eine solche blieb, beginnt sich i n dem Augenblick zu erneuern, als die logische Demonstration eines geschlossenen Systems geradezu zum Prüfstein für die Stichhaltigkeit seiner methodischen Axiome wurde 1 1 ." Beweis des Rechtssatzes, systematischer Aufbau der Prinzipien, Übergang von den allgemeinen Prinzipien zu den besonderen, Streben nach Erreichen der logischen Evidenz wie beim mathematischen Beweis: der Respekt vor einer erkenntnistheoretischen Tradition, i n der Galilei und Descartes stehen, begründet die Wissenschaftlichkeit der Naturrechtslehre. Die Jurisprudenz konstituiert sich als Rechtswissenschaft. Der eigentümliche Charakter dieser Wissenschaftlichkeit sowie die eigentümliche Funktion des Systems führen zu nicht geringfügigen Schwierigkeiten. Man spricht sogar von einer Zirkelhaftigkeit, i n der die gesamte Naturrechtslehre verfangen ist. Troje bemerkt dazu: „Rechtssystem und Wissenschaftlichkeit des Rechts erscheinen von alters her als zwei Hälften eines Problemkreises. Die certitudo jurisprudentiae ist Voraussetzimg und Folge, Ausgangspunkt und Ziel der Systembemühung. Jurisprudenz w i r d i m System zur Wissenschaft und kann nur System werden, wenn sie als Wissenschaft möglich ist: ein schöner Zirkel 1 2 ." Diese Zirkelhaftigkeit ist aber i n der Tat nur eine scheinbare: die Epistemologie des Naturrechts verfolgt m i t ihrer Methode nicht den Zweck, der bereits bestehenden Normativität Ordnung zu verleihen, sondern sie bringt die nicht-kontingente Normativität, i n den Prämissen impliziert 1 8 , hervor. Für das Naturrecht ist die Jurisprudenz als Wissenschaft n u r möglich, w e i l sie die Wahrheit sucht. Die Wissenschaft findet allein i n diesem System die Bedingung ihrer Möglichkeit, welches das Offenlegen der Normativität als Suche nach der Wahrheit darstellt. Da die Prämissen, auf denen das System gründet, Prinzipien der Vernunft sind, kann das Naturrecht als Vernunftrecht — als die i m Postulat der Univer10
Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 275. Zum Systembegriff in der Rechtswissenschaft, s. Coing, Geschichte; Engisch, Sinn und Tragweite; Bulygin, Zwei Systembegriffe; Losano, Sistema e struttura nel diritto; Canaris, Systemdenken und Systembegriff; Schmidt, System und Systembildung; Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode. 11 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 275 - 276. 12 Troje, Wissenschaftlichkeit und System, S. 63. 18 Gianquinto, Critica dell'epistemologia, S. 16 ff.; von großem Interesse: Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung; aber audi Coing, Naturrecht. 2*
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Teil I: Die Wissenschaft
salität der Vernunft implizierte Normativität — auftreten 14 . Die Lehre vom Naturrecht — i m Gegensatz zur positiven Rechtswissenschaft — stellt sich nicht die Aufgabe, die Rationalität des Objekts auf der Grundlage eines hypothetischen Verifizierungsmodells i n dem System zu rekonstruieren, sondern das Objekt als Gegebenheit der Vernunft 1 5 zu erzeugen. Die Universalität der Vernunft und die Einheit der Philosophie, die sie darlegt, gewährleisten also nicht nur die certitudo jurisprudentiae, sondern auch die Geltung des systematisch-deduktiven Aufbaus, der das Wahre und das Allgemeine i n der Form des Richtigen hervorhebt. Somit löst sich die Zirkelhaftigkeit der naturrechtlichen Epistemologie auf, die Troje glaubt feststellen zu können. Die Verbindung von Vernunft und Recht führt die praktische und erkenntnistheoretische Tätigkeit der Wissenschaft i n der Erzeugungsfunktion der nicht-kontingenten Normativität wieder zusammen. I n dieser Einheit der praktischen Philosophie findet das Naturrecht nicht nur seine Grundlage, sondern auch seine Vollendung. Diese Verbindung i m System ist von großer erkenntnistheoretischer Bedeutung: durch sie w i r d die Rechtswissenschaft zu einer objektiven Legitimierungsinstanz des Rechts, und das System erhält die Funktion eines internen Legitimierungsapparats richtigen Rechts 16 . Das Naturrecht ist Wahrheit, normative Wahrheit einer Vernunft, die eine unerschöpfliche Quelle i n der Welt ist. Durch die Systeme der praktischen Philosophie schafft sie eine Einheit des Handelns und läßt keinen Raum mehr für Ungewißheit, Isolierung, Angst 1 7 . Die einzig allgemeine Vernunft umfaßt die Welt und hält sie zusammen, indem sie das Komplexitätspotential des Handelns niedrig hält. Dieses scheint keine Bedrohungen zu kennen, denn es fürchtet das Verschiedene nicht, da es in Wirklichkeit eine konkrete Einheit bildet und sich i n der grenzenlosen Vernunft der Wahrheit wiedererkennt. 14 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 312 ff.; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 108; aber auch die wichtigen Überlegungen von Ellscheid, Das Naturrechtsproblem; nützlich sind die Beiträge, die in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, und in: Naturrecht in der Kritik, zusammengestellt sind. 15 Vgl. die Überlegungen von Albert zum Thema „Rationalität und Wirtschaftsordnung" in: Aufklärung und Steuerung. Aufsätze, S. 56 - 72. 16 Vgl. Luhmann, Positivität des Rechts, S. 182. 17 Sie „kann als sicheres Gehäuse für ängstliche Naturen dienen, aber auch als Schutz des sachlich Handelnden" (Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 60 - 61).
Kontingenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen
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3. Zerlegung und Komplexität. Die Struktur der Abstraktionen und der formelle Zusammenhalt der Systeme durch die kontingente Norm Gerade diese Vernunft verletzt die bürgerliche Gesellschaft. Sie durchbricht deren Einheit, spaltet das Handeln auf und eliminiert folglich die materiellen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, auf die sich die Systeme der praktischen Vernunft stützten 18 . Die bürgerliche Gesellschaft schafft verschiedene Systeme des Handelns. Eine äußerst hohe Komplexität prägt das gesellschaftliche System und zwingt es, das Problem des Zusammenhalts der bestehenden Subsysteme sofort i n Angriff zu nehmen. Die bürgerliche Gesellschaft erzeugt i n Wirklichkeit Indifferenz und Gleichheit, Isolierung und Entfremdung. „Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang", schreibt Marx. Weiter führt er aus: „Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten ihrer gegeneinander, sondern als ihr Unterordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehen und aus dem Anstoß der gleichgültigen Individuen miteinander entstehen 19 ." Da sich das Handeln und die Vernunft aufgelöst haben, w i r d sich jedes Handlungssystem mit einer ihm eigenen Vernunft, die es zu verwirklichen gilt, präsentieren. Haben sich verschiedene Handlungssysteme, die einander gleichgültig gegenüberstehen, herausgebildet, so bricht die Vernunft zusammen. Der Sinnzusammenhang, der sich u m die allgemeine Vernunft der Aufklärung gebildet hat, ist vernichtet. Das gesellschaftliche Leben entfaltet sich aufgrund der indifferenten Pluralität der einzelnen Individuen 2 0 , die spüren, daß die Vernunft nicht mehr Eigenschaft und Fähigkeit eines jeden Menschen ist, nicht 18
Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 65 -75; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 217 ff.; ders. Ausdifferenzierung des Rechtssystems; Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 97 ff., mit Bezug auf Gerber und Savigny („die Sonderung der Thätigkeiten"). 19 Marx, Grundrisse, S. 75; Schon Hegel hat eindeutig gesehen, wie in dieser Gesellschaft „die Abstraktion (...) auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander" wird. (Hegel, Rechtsphilosophie, par. 191, S. 349). Schon in seiner Jenenser Realphilosophie erklärte er: „da seine (d. h. des Einzelnen — DG) Arbeit diese abstracte ist, so verhält er sich als abstractes Ich, oder nach der Weise der Dingheit". (Hegel, Systementwürfe, III, S. 225). 20 Marx, MEW, I, S. 366; Vgl. della Volpe, Rousseau e Marx, S. 25 f t ; Cerroni, Marx e il diritto moderno, S. 196ff:.; Merker, Marxismo e storia delle idee, S. 152 ff.
Teil I : Die Wissenschaft
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mehr ein gleichmäßig verteiltes Eigentum, nicht mehr die Quelle, aus der alle schöpfen können. Die bürgerliche Gesellschaft zerstört die Aufklärung der Vernunft und ersetzt sie durch neue Formen einer Rationalität, von der die Individuen ausgeschlossen sind. Diese Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft ist weder ein Modell noch eine Idee, sie ist vielmehr die Fähigkeit des Gesellschaftssystems, seine zerrissene Struktur zusammenzuhalten. Die bürgerliche Gesellschaft, gekennzeichnet durch einen Prozeß der Auflösung, steigert die Komplexität des Gesellschaftssystems ins Unendliche. Diese Auflösung t r i t t i n der Trennung der Öffentlichkeit vom Privatleben, i n der Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat sowie i n der Zersplitterung der Handlungssysteme, i n der Enteignung der aufklärerischen Vernunft, i n der Ausdifferenzierung der Vernunft der einzelnen Subsysteme und i n der Institutionalisierung ihrer Abhängigkeitsverhältnisse i n Erscheinung — das Gesellschaftssystem ist, wie Hegel sagt, zuerst das System der Atomistik 2 1 . Die Auflösung kommt i m Ausschluß des Konkreten zum Ausdruck, das nur noch eine Privatangelegenheit ist; die Produktionssysteme des Abstrakten werden zur öffentlichen und allgemeinen Angelegenheit. Diese reale Auflösung ist der Grund für die ständige Steigerung der Systemkomplexität sowie für die Schwierigkeiten, auf die das System stößt, wenn es die Koexistenz der unterschiedlichen Strukturen regeln w i l l . Koexistenz ist nur dann möglich, wenn der formale Zusammenhalt der einzelnen Systeme 22 durch einen Komplex von Abstraktionen — d. h. Herrschaftsformen, i n denen die objektive Rationalität der gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiert w i r d — gewährleistet ist. Das „Aufklärungsproblem" der bürgerlichen Gesellschaft ist das Bewahren der Zerrissenheit des Systems durch die Kontrolle der Komplexität. Die bürgerliche Gesellschaft strukturiert deshalb ein System, das den Zusammenhalt bewirkt, indem es die Verschiedenheiten i n der 21
Hegel, Enzyklopädie, I I I , par. 523, S. 321. So schreibt Barcellona: „ I n einer bestimmten Gesellschaftsformation funktionieren verschiedene Vermittlungsformen, die eigentümliche Widersprüche und die unterschiedliche Ebene, in Bezug auf die sie zum Ausdruck kommen, aufzeigen. Weiterhin ist es möglich, eine Vermittlungsform — die wir als grundlegende bezeichnen können — und andere sekundäre Vermittlungsformen festzulegen, und weiterhin ist es möglich, die gegenseitige Koordinierungsweise zu definieren: sie stellt die Vereinheitlichungs- und Funktionierungsweise verschiedener sozialer Verhältnisse dar, die in einem gegebenen Zusammenhang vorhanden sind sowie ihre gesamte Entfaltung innerhalb des grundlegenden sozialen Verhältnisses". (Barcellona, La Repubblica in trasformazione, S. 30 - 31). 22
Kontingenz und Legitimierung. Einführende Bemerkungen
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Abstraktion gleichsetzt. I n diesem System von Abstraktionen 2 3 erscheinen sie nicht mehr als formale Bestimmungen nunmehr abstrakter und unabhängiger, objektiver und getrennter Verhältnisse, sondern als normative Selektionen, die i m Universum des Möglichen durchgeführt werden, da die objektive Rationalität der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, von denen sie ausgehen 24 , verschleiert ist. Diese Abstraktionen stellen sich als Entscheidungen dar, die ein autonomes, formales System strukturieren 2 5 . Das Universum dieser Abstraktionen ist das positive Recht. Das positive Recht stellt ein System einer bestimmten Struktur dar, i n der durch regulierte Prozesse spezifische Formen des Handelns isoliert und als gültig gesetzt werden. Diese Abstraktionen des Handelns haben nur deshalb Gültigkeit, w e i l sie auf der Grundlage eines Entscheidungsprozesses hervorgebracht werden. A u f diese Weise isoliert, sind sie veränderbar. Das reale Handeln erscheint durch ein System von Abstraktionen regulierbar: diese leiten ihre Geltung von keiner anderen Voraussetzung ab außer von der Tatsache, daß sie als 23 Wie bereits Marx in seiner Kritik der Hegeischen Philosophie, MEW, I, S. 203-333, bemerkt hatte; vgl. de Giovanni, Marx e lo Stato; aber auch Badaloni, Per i l comunismo, den Beitrag: La critica marxiana del teleologismo, la struttura logica del capitale e la dialettica della liberazione, S. 55 fi. Die Erzeugung von Abstraktion als Hauptproblem der Systemstruktur wird umfassend von Luhmann behandelt: s. Rechtssoziologie, S. 138 ff., 143 - 145,326 ff.; Soziologische Aufklärung, S. 133 Fn. 30; Funktionen und Folgen formaler Organisation; sowie Habermas—Luhmann, Theorie der Gesellschaft, S. 22 - 23. 24 Hervorragend hat Hegel diesen Prozeß sowie seine innere Notwendigkeit interpretiert: „Es ist bei dem betrachteten System der Realität gezeigt worden, daß die absolute Sittlichkeit sich negativ gegen dasselbe verhalten müsse; in demselben ist das Absolute, wie es unter der fixen Bestimmtheit desselben erscheint, als negativ Absolutes, als Unendlichkeit gesetzt, die sich gegen den Gegensatz als formale, relative, abstracte Einheit darstellt; in jenem negativen Verhalten feindlich, in diesem selbst unter seiner Herrschaft, in keinem indifferent gegen dasselbe. Aber die Einheit, welche Indifferenz der Entgegengesetzten ist und sie in sich vernichtet und begreift, und die Einheit, welche nur formale Indifferenz oder die Identität des Verhältnisses bestehender Realitäten ist, müssen selbst schlechthin als Eines sein, durch vollkommene Aufnahme des Verhältnisses in die Indifferenz selbst." (Behandlungsarten des Naturrechts, S. 487). 25 Barcellona schreibt: „Mit anderen Worten, innerhalb einer gesellschaftlichen Formation entfalten sich die grundlegenden sozialen Verhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen, nehmen verschiedene Formen an, wie konsensuale Rechts- (Wirtschafts-) bzw. politische Verhältnisse etc., und verdichten sich dann zu einer eigentümlichen Vereinheitlichungs- und Vermittlungsform, welche die grundlegende Koordinierungsweise verschiedener Verhältnisse aufzeigt; treffender gesagt, die Koordinierungsweise der konsensuellen (Vermittlungs-) und Zwangsmechanismen." (Barcellona, La Repubblica in trasformazione, S. 31 - 33). Von demselben Verfasser vgl. auch Stato e mercato, insbesondere den ersten Aufsatz.
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Produkt einer Selektion gesetzt und folglich aus dem Universum an Möglichkeiten abgesondert sind. Die so hervorgebrachten Normen sind abhängig von der Zeit, sie sind Ergebnis einer Entscheidung, und ihnen kann ihre Geltung aufgrund einer weiteren Entscheidung genommen werden. Die Geltung entstammt dem formalen Prozeß, der zur Existenz der Normen führte. I h m selbst kann seine Geltung entzogen werden. Sowohl die Normen als auch der Prozeß, der zu ihrer Entstehung führt, sind von der Wahrheit unabhängig. Nachdem Wert und Wahrheit von der Bestimmung des Geltungsprinzips ausgeschlossen sind, trennen sich Kenntnis der Norm und Erzeugung der Norm. Die Norm stellt sich jetzt als indifferente Subjektivität gegenüber dem Wert und der Wahrheit dar, sie ist an das Mögliche und an die Zeit gebunden. Diese Norm ist kontingent 26. Kon26 Kontingenz wird hier im Sinne von Positivität, wie sie von Kelsen und Luhmann definiert wurde, aufgefaßt. „ I n seiner bloß hypothetisch-relativen Geltung", schreibt Kelsen, ist das positive Recht „eine seinem immanenten Sinne nach unbegrenzt wandelbare, den örtlich wie zeitlich veränderlichen Verhältnissen sich anpassende Ordnung (Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 14). Und ferner: „Der dynamische Typus ist dadurch gekennzeichnet, daß die vorausgesetzte Grundnorm nichts anderes beinhaltet als die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder — was dasselbe bedeutet — eine Regel, die bestimmt, wie die generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen," „Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besonderen Setzungsakt erzeugt werden. Es sind gesetzte, das heißt positive Normen, Elemente einer positiven Ordnung" (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 199, 201). Luhmann schreibt: „Als positiv wird Recht bezeichnet, das gesetzt worden ist und kraft Entscheidung gilt" (Luhmann, Positivität des Rechts, S. 182). Er präzisiert jedoch, daß das Kriterium der Positivität nicht so sehr im einmaligen Akt der Gesetzgebung besteht, als vielmehr im „je aktuellen Rechtserleben": „Positiv gilt Recht nicht schon dann, wenn dem Rechtserleben eine historische Rechtsstiftung, ein vergangener Rechtssetzungsakt bewußt ist, sondern nur, wenn das Recht als kraft dieser Entscheidung geltend, als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und damit als jederzeit änderbar erlebt wird" (Luhmann, Positivität des Rechts, S. 183). Für Luhmann gilt also: „die Positivierung des Rechts bedeutet, daß für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung gewonnen werden kann, und zwar durch eine Entscheidung, die das Recht in Geltung setzt und ihm seine Geltung wieder nehmen kann" (Luhmann, Soziologische Aufklärung I, S. 180). So wie für Kelsen gilt: „Das Normensystem, das sich als eine Rechtsordnung darstellt, hat im wesentlichen einen dynamischen Charakter. Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, das heißt: weil ihr Inhalt aus dem einer vorausgesetzten Grundnorm im Wege einer logischen Schlußfolgerung abgeleitet werden kann, sondern darum, weil sie in einer bestimmten, und zwar in letzter Linie in einer von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist. Darum und nur darum
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tingenz ist die Möglichkeit des Andersseins, ständig vorhandene Möglichkeit der Veränderbarkeit, Hypothese über das Wirkliche, Ausschluß der Notwendigkeit. Kontingenz ist Ungewißheit, ist Angst. Sie ist Produkt der Differenzierung, ist Trennung und Bruch. Das positive Recht ist diese normativ
gewordene
Kontingenz.
4. Das epistemologische Hindernis normativer Kontingenz Das 19. Jahrhundert führt zu einem entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit. Philosophie und Recht bilden keine Einheit mehr. Das Universum des Rechtssystems stellt sich als ein eigenständiges dar; es kann nur noch i n seiner Autonomie gesehen werden. Vom Naturgesetz befreit, stellt das Recht der Erkenntnistheorie die Frage nach der Natur des Gesetzes, nach seiner Kontingenz. Das Recht zeigt sich als Form, aber nicht als Form richtigen, sondern als positiv gültige Form des Handelns. A n die Stelle des Interesses an Wahrheitsfindung t r i t t das Interesse, Lösungen für die Probleme zu finden, die m i t der Erzeugung der Rechtsform und ihrer Legitimierung zusammenhängen. Für das positive Recht stellt sich das Problem der Wahrheit nicht mehr als ein wissenschaftliches, sondern vielmehr als ein ideologisches. Die Wahrheit ist nicht kontingent, und die Nichtkontingenz, aufgefaßt als normative Wahrheit der Vernunft, findet keinen Platz mehr i n der Epistemologie des positiven Rechts. Die Rechtsepistemologie muß sich neu gestalten. Damit setzt sie einen Prozeß i n Gang, der langwierig sein wird. I m folgenden w i r d der Ablauf dieses Prozesses dargestellt. gehört sie zu der Rechtsordnung, deren Normen dieser Grundnorm gemäß erzeugt sind. Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein" (Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 200 - 201). Kontingent ist die Normativität, die gilt, weil sie innerhalb einer Rechtsordnung gesetzt worden ist, die sich auf ein formales Geltungsprinzip stützt, welches sich lediglich auf die Rechtssetzungsakte bezieht. Somit kann die Normativität unendlich variiert werden, weil sie nicht mit Zwangscharakter aus dem Postulat der Geltung abgeleitet werden kann, auf das sich die Rechtsordnung stützt; andererseits wird die Kontingenz von den Adressaten als Normativität erlebt, als Sollen, das sich ändern kann, demnach als Möglichkeit, nicht aber als Notwendigkeit. Ist sie jedoch an das Prinzip der Notwendigkeit gebunden, so kann die Normativität weder als kontingent auftreten noch erlebt werden, sondern als wahr, als notwendig: „Das Recht wird in seiner Geltung und in seinen Wesenszügen als wahr vorgestellt" (Luhmann, Rechtssoziologie, S. 185). Zum philosophischen Problem der Kontingenz und zu seiner theoretischrechtlichen Relevanz, s. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 31 ff.; ders., Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, S. 21 Iff.; ders., Funktion der Religion, S. 182 ff.
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Teil I : Die Wissenschaft
Das Hindernis ist die Kontingenz. Die Epistemologie kann es überwinden, wenn es ihr gelingt, ein Modell zu entwickeln, i n dem die Kontingenz als ein Dasein erfaßt wird, das ausschließlich aufgrund seines Gesetztseins gilt. Dieses Dasein muß jedoch zugleich als nicht kontingente Wahrheit der „Rechtsvernunft" erscheinen. Die Rechtsvernunft ist der Sinnzusammenhang, der sich i m Rechtssystem realisiert. Der Sinn lenkt die normativen Selektionen, die bezüglich der Wirklichkeit durchgeführt werden. Der Sinn ist als Subjektivität der rechtlichen Regulierung gegeben und verschleiert die objektive Rationalität der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Sinnzusammenhang, der sich aufgrund eines externen ideologischen Bezugs legitimiert, offenbart und k l ä r t sich i m Prozeß der Erzeugung normativer Deutungen. Dieser Prozeß ist zugleich der Prozeß der Institutionalisierung dieses Sinnzusammenhangs. Das Recht zeigt sich als seine institutionalisierte „Konkretion". Das Recht gilt jedoch nicht deshalb, w e i l es diese Sinneinheit zum Ausdruck bringt, sondern w e i l es gesetzt ist. Seine Geltung bleibt folglich kontingent; das Rechtssystem ist i m wesentlichen normative Kontingenz. Aber als „Konkretion" des Sinnzusammenhangs w i r d das Recht der Kontingenz ständig entzogen und auf den i n der rechtlichen Vernunft zusammengefaßten Wert bezogen. Diese Beziehung muß, auch wenn sie vom System gesetzt ist, als nicht kontingent erscheinen. A u f diese Weise kann das Recht aus der normativen Kontingenz Nichtkontingenz und Wert, d. h. eine stabilisierte Beziehung von Sinneinheiten, herleiten und kann aber zugleich die Bindung der Geltung an die Positivität, an die Kontingenz beibehalten. Damit ist es fähig seine Autonomie zu behaupten. Diese Autonomie ist eine rein formale, jedoch wesentliche Voraussetzung für die Positivität des Rechts. Das Rechtssystem ist auf formaler Ebene autonom, w e i l es die Prinzipien i n sich birgt, die seine Produktion und Reproduktion regeln. Diese Prinzipien sind rechtlicher Natur, d. h. gesetzt. Nur aufgrund seiner formalen Autonomie kann das Recht seine Abstraktionen als normative Selektionen darstellen, die i m Universum des Möglichen durchgeführt werden und somit als Entscheidungen, i n denen sich die Rechtsvernunft verwirklicht. Dies ist ein Kreis, aber ein Kreis, durch den das Recht die objektive Rationalität der gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiert 27 . 27 Bei der Produktion der Sinneinheit werden diese Verhältnisse abgesondert und immunisiert. Es handelt sich um einen Prozeß, der auf einer realen Umkehrung aufbaut: so wie die gesellschaftlichen Verhältnisse sich gegenüber den Subjekten isolieren, und nachdem sie abstrakt und gleich geworden sind, sie als objektive Formen beherrschen, so löst sich die Rechtsabstraktion — die durch diese Verhältnisse bestimmt und nur auf der Grundlage ihrer
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Die Rechtsepistemologie, so wurde gesagt, kann das Hindernis der Kontingenz nur überwinden, wenn es i h r gelingt, auf den beiden genannten Ebenen Instrumente zur Legitimierung dieser Kontingenz zur Verfügung zu stellen. Deshalb konstruiert sie zwei getrennte Systeme: das der Rechtstheorie und das der Rechtswissenschaft. Die Rechtstheorie hat i m wesentlichen zwei Funktionen zu erfüllen. Sie muß Hypothesen über das Recht aufstellen und berücksichtigen, daß die Geltung des positiven Rechts an die Kontingenz gebunden ist. Weiterhin muß sie die Kontingenz als nicht-kontingente Beziehung zwischen Sinn und Wert legitimieren. Die Rechtswissenschaft muß ein System des positiven Rechts aufbauen, das die Rationalität der Kontingenz entfaltet. Die Kontingenz w i r d nach einer einheitlichen Struktur gegliedert, aus der sich die innere Kohärenz des positiven Rechts ergibt. Rechtstheorie und Rechtswissenschaft erleben eine unterschiedliche Entwicklung. Zunächst organisiert sich die Rechtswissenschaft auf der Grundlage der methodologischen Umkehrung, die von Savigny vorgenommen und von Puchta sowie Jhering vertieft wurde. Sie besteht i n der Begründung des Systems, das auf Positivität statt auf Wahrheit beruht. Da die Geltung sich vom Prinzip der Wahrheit losgelöst hat, kann sich die Rechtswissenschaft i n reine Methodologie verwandeln und vom theoretischen Problem der Wahrheit und des Wertes befreien. Sie steht dem Rechtssystem als externes Modell gegenüber, das i n der Lage ist, den Stoff nach einem formalen Rationalitätsprinzip zu gliedern. Der normativen Kontingenz steht sie neutral gegenüber, unabhängig von den subjektiven Wertannahmen, auf denen die Veränderlichkeit der normativen Hypothesen beruht. Auch wenn die methodologische Umkehrung dem Bruch der Einheit von Erkenntnis und Erzeugung der Norm entspringt und aufgrund der Kontingenz das innere Legitimierungsprinzip richtigen Rechts verdrängt, so beseitigt sie aber nicht das Problem nach der Erkenntnis des Rechts. Sie umgeht es. Mangels einer spezifischen Theorie normativer Kontingenz verfügt sie nicht über ein Legitimierungsmodell der Positivität auf der Ebene objektiven Indifferenz ermöglicht worden ist — vom Universum, das sie erzeugt, und erweckt den Anschein ihrer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Sie setzt sich als Kristallisierung eines Sinnes, als Entwurf, als Vernunft der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft, als Wertform. Nachdem sie unabhängig geworden ist, reproduziert die Rechtsabstraktion die Entfremdung und die Objektivität der gesellschaftlichen Verhältnisse und erstarrt zur Herrschaftsform; sie verwirklicht so die formale Gleichheit der Subjekte durch die Herrschaft und die Kontrolle der materiellen Instanz, d. h. durch die Absonderung des Konkreten und die Vernichtung der Subjekte in der indifferenten Gleichheit ihrer rechtlichen Abbildungen.
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der Kontingenz. Deshalb muß die Rechtsepistemologie Legitimierungsinstrumente zu Hilfe nehmen, die mit der methodologischen Umkehrung i n Widerspruch stehen, da sie die Kontingenz an einer externen Notwendigkeit verankern. Diese methodologische Umkehrung w i r d die Rechtswissenschaft jedoch m i t immer mehr Gründlichkeit und gesteigertem Bewußtsein vertiefen. Parallel dazu werden die Schwierigkeiten, die sich aus dem Umgehen des Theorie-Problems ergeben, immer offenkundiger. Während die Kontingenz die methodologische Umkehrung legitimiert, besitzt die Rechtswissenschaft keinen theoretischen Apparat, m i t dessen Hilfe sie, ausgehend von der Kontingenz, Hypothesen über das Recht erarbeiten kann. Sie muß auf die naturrechtliche Tautologie zurückgreifen, die die Wissenschaft als Erzeugerin des Rechts und als ein System auffaßt, das i n der Lage ist, das erzeugte Recht zu legitimieren, indem es i h m den Charakter der Notwendigkeit beimißt. Die Wissenschaft aber kann nur das erzeugen, was i n den Prämissen als logische oder begriffliche Notwendigkeit enthalten ist, und dies ist noch keine Voraussetzung für die Positivität. Kelsen w i r d das Theorie-Problem der Rechtsepistemologie lösen und eine Rechtsi/ieorie — ein autonomes System von Hypothesen über die rechtliche Kontingenz — aufbauen. I n diesem System ist die spezifische Existenz der Norm alleinige Voraussetzung ihrer Geltung. A u f der Ebene der Theorie w i r d Kelsen die Eigenständigkeit des Rechtssystems retten. Vom erkenntnistheoretischen Vorurteil geleitet, die Theorie selbst sei „rein", bemerkt er aber nicht, daß die Eigenständigkeit eine ideologische Errungenschaft des Rechts ist, die dazu dient, den realen Prozeß der Erzeugung rechtlicher Abstraktion zu verbergen. Seiner Theorie gelingt es zwar, die formale Geltung des Rechts, aber nicht das Recht selbst als Sinnkonkretion der rechtlichen Vernunft zu legitimieren 28 . Die erkenntnistheoretische Errungenschaft Kelsens, die wissenschaftliche Beschäftigung m i t dem Recht habe auf rein methodologischer Ebene zu erfolgen, stellt einen entscheidenden Punkt i n der Geschichte der Reflexion über das Recht dar. Diese Errungenschaft ist Ausgangspunkt für alle nachfolgenden Reflexionen über das Recht. Sie werden das Postulat der Kontingenz annehmen, doch werden sie sich gegen Kelsen wenden, da sie gleichzeitig das Postulat der zentralen 28
Kelsen nimmt sich so die Möglichkeit, das Problem der Stabilisierung des positiven Rechtssystems zu begreifen, wie es sich aus der Auffassung der Rechtsordnung als dynamisches System ergibt.
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Stellung der Theorie als Legitimierungsdenken der Kontingenz i n bezug auf die Rechtsvernunft aufnehmen. Zu der Gewißheit, daß die Legitimierung des Rechts auf der Ebene der Theorie erfolgen muß, gelangt man erst, nachdem sich die „schlechte Seite" der rechtlichen Kontingenz gezeigt hat.
Kapitell Savigny und die methodologische Umkehrung 1. Geschichte, System und Philosophie 1
Schönfeld schreibt, daß die moderne Rechtswissenschaft m i t Friedrich K a r l von Savigny beginnt. Wieacker 2 nennt Savigny Fürst der Wissenschaft. Der junge Savigny zögert nicht zu glauben, er könne i m Rahmen der Rechtswissenschaft die Revolution durchführen, die Kant i n der Philosophie durchgeführt hat 8 . Der junge M a r x 4 jedoch kritisiert i n einer Schrift gegen Hugo die historische Schule, die i n Savigny ihren Höhepunkt fand und bezeichnet sie als das „einzig frivole Produkt" des 18. Jahrhunderts. Wiethölter 6 schreibt, daß die Rechtswissenschaft Savignys das B i l d des modernen bürgerlichen Rechts entworfen hat. Savigny bricht gewiß m i t der Vergangenheit 6 , auch wenn seine A u f fassung vom Recht i m „frivolen Geist" des 18. Jahrhunderts wurzelt. Der von Savigny durchgeführte Bruch ist rein erkenntnistheoretischer Natur und besteht i n der Gewißheit, daß es Aufgabe der Wissenschaft ist, den vorhandenen Rechtsstoff i n einem Erklärungssystem zu organisieren. I n diesem System sind die Prämissen, von denen die einzelnen 1
Schönfeld, Rechtswissenschaft, S. 491,431 ff. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 383,381 ff., mit umfangreichen Literaturhinweisen; ders., Gründer und Bewahrer, S. 107 ff.; ders. Wandlungen, S. 12 ff. 3 Vgl. Marini, Savigny e i l metodo della scienza giuridica, S. 133 ff. 4 Marx, MEW, I, S. 78; vgl. Jaeger, Savigny et Marx; Guastini, Marx: dalla filosofia del diritto alla scienza della società, S. 59 - 70. Für eine umfangreiche, jedoch zugleich überspannte Deutung des Verhältnisses Marx—Savigny, s. Paul, Marxistische Rechtstheorie als Kritik des Redits, S. 43 - 84. 5 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 176, 176 - 181. 6 Zu Savigny und der historischen Rechtsschule, s. außer den in den Fn. 1 - 5 zitierten Arbeiten auch Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 17 - 69; ders. Savignys überpositive Systematik, sowie die Diskussion über den Beitrag von Wilhelm, Ebd., S. 137 - 147; Gmür, Savigny und die Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft; Kunkel, Savignys Bedeutung; Orestano, Introduzione allo studio del diritto romanò, S. 204 ff.; Solari, Storicismo e diritto privato, § 18 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 11 -19.; Dilcher, Der wissenschaftliche Positivismus; Fikentscher, Methoden des Rechts, III, S. 41-77; Schröder, Savignys Spezialistendogma. 2
Kap. I : Savigny und die methodologische Umkehrung
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rechtlichen Abstraktionen abgeleitet werden, die Prinzipien des positiven Rechts7. Aufgabe der Wissenschaft ist die Entfaltung der Rationalität, die dem positiven Recht innewohnt. 7 Bei Savigny ist dieser Ausdruck mit einer gewissen Zweideutigkeit behaftet, die seine gesamte Rechtsauffassung durchzieht. I n der Methodenlehre (s. Fn. 14) setzt Savigny das positive Recht mit dem Gesetz gleich; beim Aufbau des Systems bleibt er dem Postulat der Kontingenz der normativen Selektionen treu, die durch das Gesetz isoliert werden. Dabei sei auf folgende Stellen verwiesen: „Der Zweck der Rechtswissenschaft ist nun, die gesetzgebenden Funktionen eines Staates historisch darzustellen" (S. 13); „der Inhalt des Systems ist die Gesetzgebung, also Rechtssätze" (S. 37). Im System (s. Fn. 20) scheint sich diese Gleichsetzung jedoch aufzulösen, während Savigny sich bemüht, den Unterschied zwischen Recht und Gesetz zu präzisieren und zu einer kohärenten Festlegung der Rolle des Staates zu kommen. Das positive Recht wird folgendermaßen definiert: „Hierüber könnte man annehmen wollen, das Recht habe eine ganz verschiedene Entstehung, je nach dem Einfluß des Zufalls, oder auch menschlicher Willkühr, Überlegung und Weisheit. Allein dieser Annahme widerspricht die unzweifelhafte Thatsache, daß überall, wo ein Rechtsverhältnis zur Frage und zum Bewußtsein kommt, eine Regel für dasselbe längst vorhanden, also jetzt zu erfinden weder nöthig noch möglich ist. I n Beziehung auf diese Beschaffenheit des allgemeinen Rechts, nach welcher es in jedem gegebenen Zustand, in welchem es gesucht werden kann, als ein gegebenes schon wirkliches Daseyn hat, nennen wir es positives Recht" (System, I, S. 13 - 14). Positiv ist also das Recht, das innerhalb des Volkes besteht, unabhängig von der Tatsache, ob es durch ein Gesetz ausgedrückt wird oder nicht: Recht und Gesetz sind zwei nicht notwendigerweise korrelierende Phänomene. Ferner definiert Savigny das Gesetz als „das Organ des Volksrechts" (System, I, S. 391, den Gesetzgeber als den wahren Vertreter des Volksgeistes und schließlich den Staat als „die leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft", „denn in ihm zuerst erhält das Volk wahre Persönlichkeit, also die Fähigkeit zu handeln" (System, I, S. 23). Der Staat, zu dessen edelsten Aufgaben es zählt, dem positiven Recht „ein äußerlich erkennbares Daseyn zu geben", das Recht durch die Sprache zu verkörpern, und es mit absoluter Macht zu versehen, hat ebenso wie das positive Recht seine Entstehung „in einer höheren Notwendigkeit, in einer von innen heraus bildenden Kraft"; „denn auch die Erzeugung des Staates ist eine Art der Rechtserzeugung, ja sie ist die höchste Stufe der Rechtserzeugung überhaupt". Gegenüber dem „positiven" Recht ist der Staat im wesentlichen Vermittlungsorgan: durch ihn erhält das bereits bestehende „positive" Recht den Charakter der Juridizität, auf den sich die Geltung ausschließlich stützt: „Allein alles Recht überhaupt erhält seine Realität und Vollendung erst im Staate, als positives Recht dieses Staates" (System, I, S. 380). Vorläufig läßt sich folgendes festhalten: der formale Bezug auf den Staat ist konstitutiv für die Juridizität des positiven Rechts, ohne aber die Entstehung des Rechts und — auf gesetzlicher Ebene — den Bezug zu einer äußeren, mit Zwangscharakter versehenen Instanz anzutasten. Da der Charakter der Juridizität aus der „Willkür des Gesetzgebers" abgeleitet ist, verleiht dieser notwendige Bezug der normativen Selektion den Charakter der Kontingenz. Aber gerade dies w i l l Savigny vermeiden. Er w i l l das positive Recht dem „Zufall" und der „Willkür der Einzelnen" entziehen. Das Recht hat den Charakter einer Naturnotwendigkeit, und der Staat hat die Aufgabe, „die
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Gegenstand der Wissenschaft sind für Savigny die i n einer bestimmten Gesellschaftsformation bestehenden normativen Selektionen, die durch den formalen Bezug auf den Staat vermittelt werden. Es gelingt Savigny jedoch nicht, konsequent die i n der methodologischen Umkehrung implizierten Schlußfolgerungen vorzunehmen und die Voraussetzungen zu entwickeln, die ihrerseits die methodologische Umkehrung selbst legitimieren. Seine Intuition läßt i h n zwar die wissenschaftliche Arbeit als reine Methodologie der systematischen Erklärung der Rationalität des Rechts erfassen, aber es gelingt i h m nicht, eine Theorie der Positivität des Rechts zu erarbeiten, die i n der Lage wäre, das Recht als normative Kontingenz zu legitimieren. Eine solche Theorie müßte die Kategorie der Juridizität so erfassen, wie sie vom Geltungsgrund der Wissenschaft als Methodologie vorausgesetzt wird. Da er über eine solche Theorie nicht verfügt, ist Savigny gezwungen, eine metajuristische Begründung des Rechts vorzunehmen, die dem Recht den Charakter einer äußeren Notwendigkeit zuschreibt. Savigny sucht die Legitimierung der Kontingenz in der Notwendigkeit. Als mystische Hülle umschließt sie den rationalen Kern seines Werkes (um die alte Metapher zu verwenden). Die Rechtswissenschaft ist für Savigny wissenschaftliche Interpretation und wissenschaftlicher Aufbau positiven Rechts. Wissenschaftlich bedeutet für ihn: historisch-systematisch. Die Begriffe „Geschichte" und „System" sind — vordergründig gesehen — klar. Sie bedürfen aber einer Erläuterung, da Savigny ihnen eine eigentümliche Bedeutung beimißt. Von der Geschichte hat Savigny eine evolutionistische, organologischsubstantielle Auffassung: „Die geschichtlichen Kräfte, die das Recht hervorbringen, sind geistigkulturelle Potenzen — Schöpferkräfte des kollektiven Un- und Unterbewußten und des sich entdeckenden national-kulturellen Bewußtseins, zumal des humanistisch gebildeten ,Volksgeistes' 8 ." Idee des Rechts in der sichtbaren Welt herrschen zu machen" (System, I, S. 25) : damit kann die Normativität der Kontingenz entzogen werden. Auch wenn er die Kategorie der Juridizität als Postulat der nicht-naturrechtlichen Rechtswissenschaft aufbaut, ist er gezwungen, den umstrittenen natürlichen und organizistischen Boden zu verlassen und durch den formalen Bezug auf den Staat, den kontingenten Charakter der normativen Selektion anzunehmen. Hier wird der Ausdruck „positives Recht" nur in dem Sinne verwendet, wie er in der von Savigny durchgeführten methodologischen Umkehrung impliziert ist, und nicht in dem undifferenzierten Sinne von ursprünglicher, unvermittelter normativer Selektion, die in einer Gesellschaftsformation vorhanden ist. 8 Vgl. Paul, Marxistische Rechtstheorie als Kritik des Rechts, S. 53; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 355 ff.; Böckenförde, Die historische Rechtsschule, S.16 - 19.
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Savigny sieht den Lauf der Geschichte als organischen Zusammenhang, dessen Kontinuität keine Lösung kennt. I n der Geschichte folgen Generationen und Epochen aufeinander: es gibt nur Entwicklung. Absoluter Anfang und absolutes Ende sind ausgeschlossen. Den historischen Sinn zu haben, bedeutet für den Juristen, „das Eigentümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform" zu erfassen 9. Das Erfassen der unterschiedlichen Entwicklungsformen des Rechts muß scharf sein, es muß den Geist durchdringen, von dem die Kontinuität der Geschichte getragen wird. Der Jurist w i r d die Geschichte als Geschichte der Nation, als Geschichte des gesamten Lebens des Volkes sowie als Geschichte des „großen Ganzen der Welt" begreifen. Das Recht entströmt dem tiefsten Inneren dieses Ganzen. Es trägt den Charakter des Ganzen, das es erzeugte und den Charakter des Bewußtseins des Volkes, aus dem es entstand. Die Geschichtlichkeit des Rechts hat i n diesem Zusammenhang für Savigny eine ganz bestimmte Bedeutung: „Die geschichtliche Schule nimmt an, der Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch W i l l k ü r , so daß es zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen 10 ." Die Geschichtlichkeit des Rechts anerkennen heißt, den Stoff des Rechts als mit innerer Notwendigkeit ausgestattet zu erfassen: der Stoff lebt, verjüngt und hält sich i n der Gegenwart lebendig. Die Vergangenheit ist die Notwendigkeit der Gegenwart 11 : eine Epoche erzeugt ihre Welt nicht willkürlich, sondern i n „untrennbarer Gemeinschaft mit der Vergangenheit". Diese erzeugte Welt ist notwendig, da sie nicht aufgrund einer freien Entscheidung entsteht, die die Gegenwart i m Hinblick auf die Vergangenheit getroffen hat; diese erzeugte Welt ist aber zugleich frei, da sie nicht von einer externen W i l l k ü r ausgeht, „sondern vielmehr hervorgebracht" w i r d „von der höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen". Von dieser höheren Natur des Volkes ist ja auch das gegenwärtige Zeitalter ein Glied, „welches i n jenem und mit jenem Ganzen w i l l und handelt, so daß, was von jenem Ganzen gegeben ist, auch von diesem Gliede frei hervorgebracht genannt werden darf" 1 2 . Das Wissen u m die Gegenwart ist geschichtliches Wissen. Die Geschichte ermöglicht zur wahren Kenntnis der Gegenwart zu gelangen, 9 10 11 12
Savigny, Vom Beruf unserer Zeit, S. 99. Savigny, Vermischte Schriften, I, S. 113. Vgl. Schiavone, Storiografia giuridica, S. 72 fï. Vermischte Schriften, I, S. 110 - 111.
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da sie die Notwendigkeit ihres Gegenstandes i m organischen Zusammenhang des Ganzen und seiner Entwicklung durchdringt. Diese Auffassung von der Geschichtlichkeit wendet Savigny nicht nur auf das Recht, sondern auch auf die Betrachtung des Rechts, die Rechtswissenschaft an. Die Rechts Wissenschaft, so sagt er, ist zugleich Rechisgeschichte 18: „Alles Wissen von einem objektiv Gegebenen nennt man historisches Wissen, folglich muß der ganze Charakter der Gesetzgebungswissenschaft historisch sein 14 ." Das Recht ist eine objektive Gegebenheit. Objektiv bedeutet: notwendig, notwendigerweise gegeben. Was ist nun die Aufgabe der historischen Rechtswissenschaft? Sie besteht darin, innerhalb des Gegebenen ein organisches Prinzip zu suchen, es festzulegen und durch Interpretation die leitenden Grundsätze herauszustellen: „Diese herauszufühlen und von ihnen ausgehend den inneren Zusammenhang und die A r t der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehört eben zu den schwersten Aufgaben unserer Wissenschaft; j a es ist eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt 1 5 ." Die Geschichtlichkeit des Rechts w i r d von der Rechtswissenschaft rekonstruiert und durch die philologische Tätigkeit i n ihrer inneren Notwendigkeit reflektiert. Die freie Existenz und die Unabhängigkeit des Willens des einzelnen gegenüber den anderen, der Ausschluß der W i l l k ü r der einzelnen Willen, die unentbehrlichen Grundprinzipien der Rechtsvermittlung finden ihre Anerkennung und ihren Ausdruck durch den Bezug auf den Staat. Diese objektiv notwendige Gegebenheit w i r d vom Richter durch die Tätigkeit einer rein logischen Interpretation erfaßt. „Dies", so prâziàiert Savigny, „liegt i m Ausdruck — die Jurisprudenz ist eine rein philologische Wissenschaft" 16 . Die Philologie erschöpft nur das Moment der Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Gegenstandes. Behauptet sich die Rechtswissenschaft als historische Wissenschaft, d.h. gelingt es i h r die Notwendigkeit durch die spezifisch philologische Tätigkeit zu erfassen, die i m Recht zum Ausdruck kommt, so gelingt es der Wissenschaft nur aufgrund ihres systematischen Charakters, die historischen Daten, die sie 13
Vermischte Schriften, V, S. 2. Methodenlehre, S. 14. Es wird auf die in Fn. 7 gemachten Ausführungen über die Identifizierung von Recht und Gesetz verwiesen; zu den damit zusammenhängenden Problemen und zur Stellung der Methodenlehre im allgemeinen bei Savigny, s. die nützliche Arbeit von Marini, die in Fn. 4 zitiert wurde. 15 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit, S. 84. 16 Savigny, Methodenlehre, S. 15. 14
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mittels der philologischen Tätigkeit erworben hat, i m organischen Zusammenhang des Ganzen anzuordnen. Aufgrund der systematischen Tätigkeit ist die Geschichte keine bloße Ansammlung von Beispielen, sondern ein Ganzes, das i n seiner Notwendigkeit wissenschaftlich reproduzierbar ist. Aber Systematik ist zugleich und immer Philosophie. Innerhalb der systematischen Rekonstruktion erscheint das Gegebene, der Gegenstand, nicht i n der Vielfalt seiner Formen, als ein bloßes Fachwerk, „ein bequemes Aggregat der Materie". Durch das System w i r d vielmehr die Einheit seines inneren Zusammenhangs erzeugt. „Das einzelne, das i n der philosophischen Bearbeitung als einzeln erkannt w i r d , muß zugleich i n der systematischen als ein Ganzes gedacht werden und wider jede systematische Ansicht der Jurisprudenz i n ihre Elemente zerlegt werden können 17 ." Interpretation und Philosophie, Exegese und System: diese Aufgaben machen die Wissenschaftlichkeit der historischen Rechtswissenschaft aus. Die Bedeutung des Systems für die Rechtswissenschaft erkannt, bahnt sich der Kantianer Savigny 1 8 den Weg zu der methodologischen Betrachtung als philosophischer Grundlage der historischen Rechtswissenschaft und zeichnet seine Auffassung über die Methodologie der systematischen Erarbeitung des Rechts auf. Das System ist die Vermittlung, die das i m Recht unmittelbar Gegebene gestaltet. I m System w i r d der Inhalt des Ganzen erarbeitet, nicht die Unmittelbarkeit der besonderen Gegebenheit. Das System ist das logische Medium, das Savigny i n der Methodenlehre „logische Bedingung der Erkenntnis alles Inhalts der Gesetzgebung" nennt 1 9 . Das System ist die formale Bestimmung, die das scheinbare Aggregat der empirischen Mannigfaltigkeit auf die organische „Konkretion" zurückführt, die für Savigny Substanz der Geschichte ist. Das System ist Endprodukt zusammenhängender Operationen, deren Wissenschaftlichkeit ausschließlich von ihrem systematischen Vermögen abhängt. Es erschöpft den Prozeß der formalen Bestimmung des Mannigfaltigen und seiner logischen Übertragung i n die Konkretheit des Ganzen. „Die Form ist die systematische", schreibt Savigny i n der Vorrede zu seinem 17
Savigny, Methodenlehre, S. 16. Zu diesem Problem, s. Wilhelm, Savignys überpositive Systematik, S. 199 ff.; Marini, Savigny e i l metodo della scienza storica, S. 117 ff. 19 Savigny, Methodenlehre, S. 37. I n „System" schreibt Savigny: „Fragen wir zuerst nach dem Inhalt des Gesetzes, so ist derselbe schon durch diese Herleitung der gesetzgebenden Gewalt bestimmt: das schon vorhandene Volksrecht ist dieser Inhalt, oder, was dasselbe sagt, das Gesetz ist das Organ des Volksrechts" (Savigny, System, I, S. 39). 18
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System 20. Er erklärt: „Ich setze das Wesen der systematischen Methode i n die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft, wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden. Solche Verwandtschaften nun sind erstlich oft verborgen, und ihre Entdeckung w i r d dann unsere Einsicht bereichern." So faßt Savigny das Wesentliche der systematischen Methode i n einer Formel zusammen, die zu Recht berühmt wurde. Inhalt des Systems, schreibt Savigny, ist das Recht, die Gesetzgebung, sind genauer gesagt die Rechtssätze21. Die Erkenntnis der Rechtssätze, ob einzeln oder i n ihrem inneren Zusammenhang betrachtet, erfolgt durch die Form, die eine logische ist. Die Erkenntnis ist nur möglich durch die logisch-formale Vermittlung sowie die logisch-formale Übertragung der ursprünglichen Rechtsinhalte, die i n den Rechtssätzen ihren Ausdruck finden. Die Tätigkeit der Rechtswissenschaft besteht i m logischen Aufbau des Systems der Rechtssätze. Die Rechtserkenntnis ist Erkenntnis organischer, d.h. logischer Zusammenhänge, die innerhalb des Systems erzeugt werden können. „Alles Formelle hat nun entweder die Bestimmung einzelner Rechtssätze zu entwickeln — gewöhnlich nennt man dies Definitionen und Distinktionen — oder die Verbindung mehrerer und ihren Zusammenhang anzuordnen. Dies nennt man gewöhnlich das eigentliche System 22 ." Das System, das die Vielfalt und das historisch i n seiner Notwendigkeit gegebene Aggregat auf eine logische Einheit zurückführt, verweist dadurch auf ein Ganzes, auf ein Ideal, auf dem sie gründet. „Alles System führt auf Philosophie hin", schließt Savigny 23 . Die Feststellung der Kontinuität und der Gegenwärtigkeit der Geschichte i m Recht, die organische Verbindung der Rechtsmaterie, die Entdeckung der inneren Notwendigkeit eines unterlegten Ideals, das die logische Operation der Sammlung des „diskreten" Rechtsmaterials lenkt, das alles ist i m wesentlichen das Ergebnis einer philosophischen 20
Savigny, System, I, Vorrede, S. XXXVI. Vgl. Fn. 19, aus der sich deutlich das Verhältnis zwischen „Volksrecht" und „Rechtssatz" ergibt. Die Wissenschaft operiert durch das System mit den im Rechtssatz ausgedrückten Abstraktionen. Wilhelm schreibt (Savignys überpositive Systematik, S. 125), daß sich die „Methodenlehre" Savignys als die Theorie „einer positiven Wissenschaft" erweist, „indem sie allein die gegebenen Gesetze, unter Ausschluß aller Naturrechtssätze, als empirischen Stoff zu ihrem Gegenstand macht", und präzisiert (Ebd., S. 126), daß der in der „Methodenlehre" erarbeitete Systembegriff der gleiche ist, den Savigny im „System" entwickeln wird. 22 Savigny, Methodenlehre, S. 37. 23 Savigny, Methodenlehre, S. 48. 21
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Tätigkeit. Diese Tätigkeit gestaltet den systematischen Aufbau und organisiert ihn, indem sie die Arbeit lenkt. Das System ist also i m wesentlichen das Ergebnis einer philosophischen Beschäftigung mit Rechtsquellen 2\ einer Tätigkeit, die versucht, die unorganische, jedoch notwendige Existenz der Vergangenheit i n der Gegenwart zur Konkretion zu bringen: eines Sammeins von Dokumenten, die auf eine ideale Einheit zurückgeführt werden. 2. Die methodologische Umkehrung Geschichte und System sind die Instrumente, deren sich die wissenschaftliche Betrachtung bedient, u m dem positiven Recht philosophische Würde zukommen zu lassen. Sie ist lediglich Denken über die Positivität des Rechts. Das ist die immanente Folge der Beziehung, die zwischen der Wissenschaft und der Positivität besteht. Die Positivität ist Ausgangspunkt und Endpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung. Die historische Forschung reduziert sich auf eine philologische Tätigkeit und die systematische Operation, auf das Sammeln und Ordnen der vorhandenen diskreten 243 Materie. Dies führt zu zwei Konsequenzen. Erstens: durch den Aufbau des Systems erhält das Recht „ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurück w i r k t " 2 5 . Dabei sollen logische Operationen, die zu diesem Aufbau führen, Tätigkeit zum Bildungsgrund und zur Erzeugung des Rechts sein. Das positive Recht erscheint so als Produkt wissenschaftlicher Tätigkeit. Zweitens: die Epistemologie w i r d auf die Methodologie des Systemaufbaus zurückgeführt. Die Philosophie, zu der alle Systeme führen, hat keine erkenntnistheoretische Funktion innerhalb der Wissenschaft. Sie legitimiert nur die wissenschaftlichen Operationen, die, ausgehend von der diskreten Materie, zum organischen Zusammenhang des Ganzen gelangen. Die Wissenschaftstheorie ist nichts anderes als Methodologie; sie ist die Beschreibung von Operationen, die es erlauben, die bereits bestehende Rechtsmaterie zu vereinheitlichen. Die Philosophie greift ein, u m die Einheit des Systems zu legitimieren. Diese Einheit ist eine logisch-formale. 24 „Wir nennen Rechtsquellen die Entstehungsgründe des allgemeinen Rechts, also sowohl der Rechtsinstitute, als der aus denselben durch Abstraktion gebildeten einzelnen Rechtsregeln." (Savigny, System, I, S. 11) Zu den Rechtsquellen gehört doch nicht die Gewohnheit, da sie „das Kennzeichen des positiven Rechts" ist, „nicht dessen Entstehungsgrund" (Savigny, System, I, S. 35). 24 a Zum Bedeutungsinhalt der Begriffe „diskret" — „konkret" vgl. della Volpe, Logica, insbes. S. 153 ff. 25 Savigny, System, I, S. 46.
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Der gesamte Prozeß, i n dem sich die historisch-systematische Rechtswissenschaft zusammenfassen läßt, geht von der Positivität des Rechts i n seiner diskreten Form aus, und setzt es organisch i n seiner konkreten Form wieder zusammen. Dies geschieht durch die logische Filtrierung der erzeugten Rechtssätze, bis h i n zum Aufbau eines Systems des Rechts. Dieses System ist i n Wirklichkeit nur die logische Konkretion der Abstraktionen, zu denen die wissenschaftliche Tätigkeit gelangt. Es erscheint als organischer Zusammenhang, den die Philosophie herstellt, indem sie von der bloßen Anschauung ausgeht. Der Mystizismus und die Frivolität der historischen Rechtsschule bestehen gerade darin, daß der Ausgangspunkt, das „Gegebene" der Anschauung, nichts anderes ist als das bereits gegebene Positive, jedoch aufgefaßt als der Endpunkt, zu dem der systematische Aufbau gelangen und auf den h i n die Philosophie die wissenschaftliche Tätigkeit orientieren muß. Da die Methodologie nur rein logische Zusammenhänge erzeugen kann, bedient sie sich der Philosophie, u m diese Zusammenhänge i n ideale organische zu verwandeln. So gelangt sie zu einem Endpunkt, der i n Wirklichkeit bereits vor dem systematischen Aufbau existiert, auch wenn er sich den Anschein gibt, nur durch diesen Aufbau zurückgewonnen zu sein. Das ist der Kreis einer Methodologie, die das Theorie-Problem Rechts, das Problem der Positivität, umgeht
des
Das Recht als logische, i m System erzeugte Konkretion läßt sich nicht durch eine Methodologie legitimieren, die nur das Diskrete i n eine systematische Einheit zurückführt. Die Legitimierung kann entweder nur auf der Grundlage einer theoretischen Begründung der Autonomie des Diskreten erfolgen oder auf der Grundlage einer philosophischen Begründung seiner Abhängigkeit Savigny beschreitet den zweiten Weg. Diese Entscheidung beruht jedoch auf einem falschen epistemologischen Bewußtsein und dem sich daraus ergebenden Vorzug einer Legitimierungsstrategie, die sich gegenüber dem klaren methodologischen Bewußtsein, über das Savigny sonst verfügt, als widersprüchlich erweisen wird. Savigny ist sich sehr wohl bewußt, daß die Geltung des Rechts keine der Rechtsmaterie innewohnende Eigenschaft ist, sondern vom Bezug der materiellen Verhältnisse auf den Staat abhängt. Als einzige Instanz ist dieser i n der Lage, jene Verhältnisse zu juridifizieren, d.h. ihnen die rechtliche Form zu verleihen. Savigny erkennt weiterhin, daß die Juridizität die Verhältnisse als gesetzte kontingente Formen deutet und der Prozeß der Anschauung ein Scheinprozeß ist: gegenüber der logisch-geschichtlichen Priorität, die jener Positivität der Verhältnisse anhaftet, findet der Anschauungsprozeß a posteriori statt. Anschauung ist die Intuition einer bereits als gültig gesetzten Existenz.
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3. Der logische Aufbau des Systems Ausgangspunkt beim systematischen Aufbau des positiven Rechts ist das Rechtsinstitut2®, das durch die Anschauung erfaßt wird. „Das Rechtsinstitut", so faßt Larenz zusammen, „ist ein sich i n der Zeit wandelndes sinnvolles Ganzes als typisch verstandener menschlicher Beziehungen, das als solches niemals durch die Summe der einzelnen, darauf bezüglichen Rechtsregeln erschöpfend dargestellt werden kann. Nicht die Rechtsregeln ergeben i n ihrer Zusammenfassung die Rechtsinstitute, vielmehr werden die Rechtsregeln, wie Savigny betont, ihrerseits erst durch eine „Abstraktion" (S. 11), durch einen „künstlichen Prozeß", aus der „Totalanschauung" der Rechtsinstitute (,in ihrem organischen Zusammenhang') herausgelöst (S. 16). Die Regeln behalten daher, unbeschadet aller begrifflichen Ausformung und Durchbildung, ,in der Anschauung des Rechtsinstitutes ihre tiefere Grundlage 4 (S. 9)" 27 . Das Rechtsinstitut ist organischer Natur. Sein innerstes Wesen gründet auf der organischen Beziehung zum Wesen des Menschen, dem es anhaftet 28 . Die Rechtsregei, die durch Abstraktion aus der „Totalanschauung" des Rechtsinstituts gewonnen wird, ist nichts anderes als eine Grenze, die dem Willen des Einzelnen i m Verhältnis zum Anderen gezogen wird. Die Regel bestimmt das Rechtsverhältnis als eine Beziehung zwischen Personen. Die Bestimmung besteht darin, „daß dem individuellen Willen ein Gebiet angewiesen ist, i n welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat" 2 9 . Das Herrschaftsprinzip ist Voraussetzung für die Rechtsverhältnisse und bestimmt gleichzeitig ihren wesentlichen Charakter 30 . Materielles Element als das Verhältnis selbst und rechtliche Bestimmung als das formale Element des Verhältnisses sind i n jedem Rechtsverhältnis vorhanden. Nach diesen Überlegungen stellt sich Savigny das Problem der möglichen Rechtsverhältnisse. Dieses Problem ist rein logischer Natur, und er löst es, indem er von den formellen Bestimmungen ausgeht: i m Verhältnis manifestiert sich der Wille des Einzelnen. Folglich werden die möglichen Rechtsverhältnisse von den möglichen Richtungen, i n denen 26
Vgl. Coing, Rechtsverhältnis; Wilhelm, Savignys überpositive Systematik, S. 126-136; ders., Zur juristischen Methodenlehre, S. 47-53; Larenz, Methodenlehre, S. 13 - 16. 27 Larenz, Methodenlehre, S. 14. Die von Larenz angegebenen Seiten, welche im Text in Klammern angeführt sind, beziehen sich auf Savigny, System, I, S. 9; 11; 16. 28 Savigny, System, I, S. 386. 29 Savigny, System, I, S. 333. 30 Savigny, System, I, S. 386.
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der Wille seinen Ausdruck findet, bestimmt. Der Wille bezieht sich entweder auf Sachen oder auf Personen. Die möglichen Rechtsverhältnisse sind Beziehungen zur „unfreien Natur" oder Beziehungen zu fremden Personen. Savigny sagt, daß die Beziehungen zur eigenen Person außer acht gelassen werden müssen, da sie entweder keiner Regulierung oder Beschränkung des Willens durch das Recht unterliegen oder aber den Bereichen angehören, i n die die beiden anderen Arten von Verhältnissen eingeschlossen sind. Die erste mögliche A r t der Ausübung des Willens und damit die erste mögliche Form der Existenz des Rechts ist durch das Recht an einer Sache, einem räumlich abgegrenzten Fragment der Natur, gegeben. Dies ist das Recht, „welches i n seiner reinsten und vollständigsten Gestalt Eigentum heißt" 3 1 . Das Verhältnis zur anderen Person ist zum einen das Verhältnis der Herrschaft über eine einzelne Handlung der fremden Person: ein solches Rechtsverhältnis heißt Obligation. Beide, Obligation und Eigentum, erweitern die Macht des Subjektes über die natürlichen Grenzen seines Wesens hinaus. Die Gesamtheit der Verhältnisse, die die Macht des einzelnen erweitern, ist das Vermögensrecht. Zum anderen ist das Verhältnis zu einer fremden Person eine Ergänzung dieser Person, die durch die Ehe „Glied des organischen Ganzen der gesamten Menschheit" wird. Savigny sieht das Wesen des Eigentums i n dem „Beruf" eines jeden „Menschen zur Herrschaft über die unfreye Natur". Dieser Beruf muß allen Individuen anerkannt und zuerteilt werden. Er drückt sich zunächst i n einem unbestimmten Bedürfnis aus, dessen Befriedigung durch positives Recht mittels der Gemeinschaft i m Staate erfolgt. Die rechtliche Bestimmung dieses Bedürfnisses bestätigt die Herrschaft über die unfreie Natur als Privateigentum und sozialer Gebrauch der Natur. Eine Beziehung zur Natur, die nicht die des Privateigentums ist, sei undenkbar, sagt Savigny, nicht einmal auf der Ebene der möglichen Beziehungen, auf der w i r gerade argumentieren. „Eine noch außer dem Eigentum liegende Herrschaft des einzelnen Menschen über die unfreye Natur ist nicht denkbar 32 ." Denkbar ist eine vielfältig begrenzte Herrschaft innerhalb des Eigentums: der unterschiedliche Umfang der Sachenrechte, nicht aber eine Vielfalt der Formen des Verhältnisses. Dieses kann nur das Eigentumsverhältnis sein. Das Vermögens- und das Familienrecht baut Savigny auf, indem er von den beiden möglichen Richtungen des Willens ausgeht. Er beschäftigt sich mit dem Problem der Beziehung dieser beiden grundlegenden 31 32
Savigny, System, I, S. 338. Savigny, System, I, S. 369.
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Verhältnisse zueinander und ihrer spezifischen Natur. Die Lösung gelingt nur durch die Annahme des sich i n jedem Verhältnis befindenden gegenseitigen materiellen Elements, das es von Beginn an bestimmt. Nicht alle Beziehungen der Menschen zueinander, sagt Savigny 33 , gehören dem Rechtsgebiet an, und nicht alle auf dieselbe A r t . Einige gehören ganz zum Rechtsgebiet, andere nur teilweise, wieder andere werden überhaupt nicht durch Rechtsregeln beherrscht. Das Eigentum gehört zur ersten Klasse, die Ehe zur zweiten Klasse der Verhältnisse. Die Ehe ist ein naturrechtliches Verhältnis. Dieses ihr eigentümliches Wesen muß auch i n der rechtlichen Regelung erhalten bleiben. Der Stoff dieses Verhältnisses ist ein „Naturverhältnis, welches als solches sogar über die Gränzen der menschlichen Natur hinausreicht (jus naturale)"". Die Rechtsform kann das materielle Element dieses naturrechtlichen Verhältnisses nicht verdrängen. Das Vermögensrecht weist jedoch i n seinem materiellen Element weder das Moment der Naturhaftigkeit noch das der Sittlichkeit auf. Als rein rechtliches Erzeugnis w i r d i n i h m „die Herrschaft des Rechtsgesetzes vollständig durchgeführt, und zwar ohne Rücksicht auf die sittliche oder unsittliche Ausübung eines Rechts" 35 . Diese nicht-reduzierbare Verschiedenheit des materiellen Elements, das die beiden Arten von Verhältnissen unterscheidet, w i r d jedoch i m wesentlichen reduzierbar. Für Savigny berühren und begegnen sich Vermögensrecht und Familienrecht i n verschiedenen Punkten. Diese Berührung erzeugt i n jeder dieser beiden Klassen Wechselwirkungen. Die erste und unmittelbare besteht i n der Anwendung von Vermögensinstituten auf bestimmte Familienverhältnisse, deren Voraussetzung unerläßlich für die Bestimmung der ersten ist. „ W i r nennen die Gesamtheit derselben das angewandte Familienrecht, und dieses ist gerade dasjenige, was der Familie vorzugsweise ihren eigentlich juristischen Charakter gibt 3 6 ." Das privilegierte Verhältnis zwischen Familie und Eigentum weist auf die Rechtlichkeit des Verhältnisses zwischen den Personen hin, deren Wesen naturethischen Ursprung hat und verleiht dem Verhältnis, das ein rein rechtliches ist, naturethischen Status. Es ist kein Zufall, daß Savigny von der Verschiedenheit der beiden grundlegenden Verhältnisse ausgeht und am Ende des Aufbauprozesses des Systems den organischen Zusammenhang i m Privateigentum der Familie sieht. Diese Konsequenz erfolgt i n Wirklichkeit nur i m Recht, sie ist eine 33 34 35 36
Savigny, System, I, S. 333 - 334. Savigny, System, I, S. 345 - 346. Savigny, System, I. S. 371. Savigny, System, I, S. 380.
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rein rechtliche Abstraktion, die für Savigny eine notwendige Tatsache darstellt, die den grundlegenden Verhältnissen innewohnt, i n denen die Beziehungen zwischen Individuen sowie zwischen Individuen und unfreier Natur zum Ausdruck kommen. Dieses Ineinanderfließen von Sittlichkeit, Naturhaftigkeit und Recht i m Privateigentum der Familie ist zugleich organischer Zusammenhang, den die Wissenschaft durch die logische Gliederung der Anschauungen und das empirisch i n seiner Mannigfaltigkeit gegebene rechtliche Material herstellt. Das Privateigentum der Familie w i r d so als eine logisch-geschichtliche Notwendigkeit konstruiert. Die Rechtsabstraktion fällt m i t der Naturnotwendigkeit zusammen. Das Privateigentum, das die Rechtswissenschaft als rein rechtliches Verhältnis, zugleich aber als einzig mögliches Verhältnis des Individuums zur Natur konstruiert, w i r d i m organischen Zusammenhang der Familie verwirklicht. Savigny hat bestimmte historische Prozesse i n ihrer Entwicklung zur Rechtsform interpretiert. Er begreift, daß die Positivität des Rechts die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse durch ihre rechtlichen Abstraktionen ersetzt. Diese Abstraktionen sind gesetzt, existieren bereits. Die Wissenschaft konstruiert sie als notwendig, als notwendig gegeben i n den Verhältnissen, deren rechtliche Form sie sind und setzt sie am Ende des wissenschaftlichen Arbeitens als ihr Produkt. Wie die Wissenschaft nicht behauptet, von der Gesamtheit der Abstraktionen i n der Form des „Diskreten" ausgegangen zu sein, sondern vom Gegenstand der Anschauung, dem Rechtsinstitut, so behauptet sie auch nicht, zu den Abstraktionen i n der Form des „logisch Konkreten" gelangt zu sein, sondern zum organischen Zusammenhang des Ganzen. Für sie ist diese von ihr durchgeführte Operation philosophischer Natur. Das Erste, so wurde deutlich, ist das Rechtsinstitut. Es ist ein dem Wesen des Menschen innewohnender Typus, der m i t den menschlichen Verhältnissen entsteht und i m Recht zur lebenden Widerspiegelung der materiellen menschlichen Verhältnisse wird. Das Rechtsinstitut ist die lebende Gesamtheit einer Klasse von Verhältnissen und zugleich ihre rechtliche Abstraktion. Die historisch-systematische Wissenschaft beschreibt und konstruiert die Immanenz der rechtlichen Abstraktion als eine die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse charakterisierende geschichtlich-logische Notwendigkeit. „Die besonnene Thätigkeit jedes Zeitalters aber müsse darauf gerichtet werden, diesen m i t innerer Notwendigkeit gegebenen Stoff zu durchdringen 87 ." Diese Immanenz ist selbst keine Naturgegebenheit, obwohl sie von dem Innersten der menschlichen Natur ausgeht. Savigny ist sich der Tatsache bewußt, daß die Abstraktionen der Wissenschaft nur i n der Kategorie der Juri37
Savigny, Vermischte Schriften, I, S. 113.
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dizität existieren und nur eine positive Existenz durch die Vermittlung des Staates besitzen. Der Staat verleiht dem i n seiner naturgeschichtlichen Notwendigkeit gegebenen Rechtsstoff den Rechtscharakter. Savigny schreibt: „So konnte auch das Eigenthum zu einem wirklichen Daseyn nur dadurch gelangen, das es zunächst auf den Staat und ver mittelst der im positiven Recht des Staates ausgebildeten Regeln auf die einzelnen Rechtsgenossen i m Staate, als Eigenthümer, bezogen wurde 88." Dieser Bezug ist die logische Vermittlung, durch die die Rechtsabstraktion entsteht. Sie ist der Ort, wo die Wissenschaft die Verbindung von Logik und Geschichte i m System vornimmt, Anschauung und gegebenen Rechtsstoff zusammenfügt. Notwendig ist somit gerade das „positive Recht des Staates". Damit enthüllt aber der Bezug einen Mystizismus, der i n der angeblichen Notwendigkeit des gegebenen Stoffs verborgen ist, und zeigt, daß dieser Stoff, weil gesetzt, Produkt einer Entscheidung, einer Selektion ist: dieser Stoff ist aber kontingent. Dieser Bezug läßt keinen Zweifel über die Rolle der Wissenschaft zu, da er dem Stoff philosophische Würde verleiht und zugleich jede Ungewißheit über die legitimierende ideologische Funktion des Rückgriffs auf die Philosophie beseitigt. Savigny ist sich also bewußt, daß die Wirklichkeit des positiven Rechts i n der Kontingenz besteht, und erkennt, daß die einzige wissenschaftliche Operation, die an i h m durchgeführt werden kann, die methodologische ist. Da er jedoch über keine theoretische Begründung der Kontingenz des Gegenstandes verfügt — nur eine solche könnte die Wirklichkeit des Rechts als eine gesetzte Wirklichkeit anerkennen —, ist er gezwungen, den richtigen methodologischen Rahmen i n einen philosophischen Mystizismus zu hüllen, der schließlich das der methodologischen Umkehrung innewohnende Entfaltungspotential der Rechtsvernunft schwächt. I m positiven Recht kommt der freie Wille des Einzelnen i m Privateigentum zum Ausdruck. Das System, das das positive Recht als logische Notwendigkeit rekonstruiert, erkennt i m Positiven, bereits in der Anschauung als einzig mögliche und denkbare Form der gesellschaftlichen Verhältnisse vorhanden, den organischen Zusammenhang eben dieser Verhältnisse. Aus dem Bemühen Savignys u m ein „neues" rechtswissenschaftliches Modell läßt sich die Folgerung ziehen, daß die Freiheit des modernen Menschen diejenige ist, die i m Privateigentum ihren Ausdruck findet. Es stellt den Bereich dar, i n dem der freie Wille herrscht: Subjekt des Rechts ist der Privateigentümer. Die Positivität des Rechts garantiert die Herrschaft der Freiheit nur durch die Freiheit der Herrschaft, die i m Privateigentum zum Ausdruck kommt. , 38
Savigny, System, I, S. 380 - 381.
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Teil I : Die Wissenschaft 4. Kontingenz und Notwendigkeit. Die Ausblendung der erkenntnistheoretischen Frage
Die Auffassung Savignys weist neben zahlreichen Schwierigkeiten, ja sogar Widersprüchlichkeiten, besondere Errungenschaften auf: das Prinzip der Selbständigkeit 39 des positiven Rechts, die Aufhebung der Methode als Wahrheitsfindung, die Annahme der methodologischen Betrachtungsweise i m Hinblick auf den Systemaufbau. Diese gilt gegenüber der Methode als Wahrheitsfindung, als Theorie der logischen Organisation einer Gesamtheit von diskreten Gegebenheiten. Widersprüchlich ist das Verhältnis der Methodologie zum Gegenstand: Gegenüber dem Gegenstand ist die Methodologie indifferent, da sie die erkenntnistheoretische Frage nicht stellt. I n Wirklichkeit aber hat sich diese Frage aufgelöst, da an die Stelle des Wahrheitsprinzips das Prinzip der Positivität des Rechts getreten ist, die sich durch den Bezug auf den Staat vollzieht. Während die Methode als Wahrheitsfindung einen Legitimierungsprozeß einleitet, der zugleich das erzeugte Recht und die es erzeugende Tätigkeit einbezieht, kann die Methodologie nur i m tautologischen Sinne Instrument zur Legitimierung des Rechts sein. Doch das ist der Sinn, den Savigny voraussetzt: die Methodologie legitimiert den organischen, d. h. logischen Zusammenhang des positiven Rechts. Und gerade dieser Tautologie bedient sich Savigny: für i h n ist die wissenschaftliche Tätigkeit, als reine Methodologie, i n der Lage, Recht zu erzeugen. Damit schreibt er der i m Rechtssystem erzeugten Kontingenz einen Notwendigkeitscharakter zu — folglich eine innere Legitimierung. Zu diesem Zweck legt er zuerst die Wahrheitswerte, aufgrund logischer Operationen gewonnen, als Werte einer Wahrheit fest, die das Recht erzeugt, die es sich erzwingt. Zum zweiten setzt Savigny voraus, daß der logische Zusammenhang, zu dem das System gelangt, bereits i m Rechtsinstitut als Gegenstand der Anschauung vorhanden ist. Die Methodologie, d.h. die Entfaltung der formalen, dem Gegenstand innewohnenden Rationalität, w i r d als durch die Juridizität des Gegenstandes40 vorausgesetzt und so zu einer legitimierenden Funktion gezwungen, die sie aber nicht erfüllen kann. Somit w i r d sie mit den Überresten des alten Wahrheitsproblems belastet. 39
Das Prinzip nämlich, daß die Juridizität des Verhältnisses sich im formalen Bezug auf eine Instanz — den Staat — konstituiert, die als die objektive Deutungsinstanz gilt, und daß deshalb die Juridizität eine gegenüber der Sittlichkeit und der Natur autonome Kategorie ist. 40 Aus der Tatsache, daß sich schließlich im Gegenstand keine beliebige Vernunft oder Instanz ausdrückt, deren Wahrheit der Gegenstand ist, und daß die Suche nach dieser Wahrheit die Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft ist.
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Der Grund für die Widersprüchlichkeit i n der Auffassung Savignys liegt ausschließlich i n der Umgehung der erkenntnistheoretischen Frage. Dies führt zur Verwechslung von Theorie und Methodologie des systematischen Aufbaus, d.h. zu einer Zirkelhaftigkeit innerhalb der Rechtsepistemologie. Während die Methodologie die spezifische Existenz des Rechts i n der Vermittlung des Bezugs auf den Staat als inneren Geltungsgrund des Rechts setzt, erscheint das positive Recht als Produkt der Wissenschaft und sucht i n diesem Scheinprozeß seine Legitimierung, wobei dieser Schein nichts anderes als reine Tautologie ist. Diese Zirkelhaftigkeit haftet der Rechtsepistemologie bis h i n zu Kelsen an, der das Problem der Rechtsepistemologie durch die Trennung des Legitimierungsprozesses der Rechtsvernunft* 1 vom Entfaltungsprozeß innerer Kohärenz eben dieser Vernunft löst, die die Neutralität der Rechtswissenschaft bewirkt. Bis dahin verharrt die Rechtsepistemologie bei der methodologischen Operation als einzig möglicher wissenschaftlicher Praxis, u m die Positivität des Rechts zu legitimieren. Die Umgehung der Theorie führt nicht nur zu einer Polarisierung der methodologischen Operation, sondern w i r f t ständig die Frage nach der theoretischen Grundlage der methodologischen Operation auf, mit deren Beantwortung das Gegenstandsproblem gelöst werden könnte. Dies erklärt die Tatsache, daß Savigny die Geschichte bemühen muß, u m die logische Notwendigkeit des positiven Rechts i m System zu konstruieren. Der Rückgriff Savignys auf die Geschichte ist nichts anderes als der Versuch, folgerichtig die Lücke zu füllen, die i n der Epistemologie durch die Ausschaltung des Theorieproblems entstanden ist. Damit w i r d die philosophische Gleichsetzung von logischer und geschichtlicher Notwendigkeit bewirkt. Doch die Kontextualität dieser Gleichsetzung und der methodologischen Operation enthüllt sofort den erschlichenen Charakter des Rückgriffs auf eine transpositive Grundlage des Rechts. Erst allmählich w i r d sich die Epistemologie dieses Problems bewußt, bis es ihr schließlich gelingt, eine haltbare Lösung zu finden. Diese Anfangsschwierigkeit der Epistemologie macht es unmöglich, die methodologische Umkehrung i n ihrer tatsächlichen Tragweite von dem Zusammenhang zu isolieren, i n dem sie sich ausdrückt und organisiert. Die Schwierigkeit rührt i m wesentlichen daher, daß die Rechtswissenschaft über keine haltbare theoretische Alternative zur Methodenlehre verfügt und Gefahr läuft, die methodologische Umkehrung nicht zu erfassen, zu der sie durch die Kategorie der Juridizität gezwungen wurde. Eine tiefe Diskrepanz innerhalb der Entwicklung der methodologischen Forschung und der Suche nach einer metapositiven 41
Vgl. S. 16 ff. dieser Arbeit.
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Grundlage des Rechts, die das Redit — tautologisch — an erschlichene Zwangsinstanzen bindet, w i r d sichtbar. A u f epistemologischer Ebene aber sind sie unfruchtbar: sie werfen nur auf widersprüchliche Weise das Wahrheitsproblem auf, das vom Grundsatz der Kontingenz des Rechts für immer verdrängt worden ist. 5. Die Methodologie und die Emanzipation der Wissenschaft Es ist die Kontingenz des Rechts, die das Problem der Wahrheit und damit die Methode verdrängt, da sie ihre Voraussetzungen abschafft. Sie erzeugt die epistemologischen und materiellen Bedingungen der Möglichkeit der methodologischen Umkehrung. Gegenüber der Methode ist die Methodologie gewiß liberaler, gegenüber der Lösung der Probleme, die ihren Gegenstand betreffen, indifferent; dies bedeutet aber ein Disengagement der Methodologie gegenüber dem Gegenstand. Die Rechtswissenschaft, die nur noch Methodologie ist, verzichtet jetzt auf die Methode als einer „Suche nach der A r t und Weise, wie man die Wissenschaft aufbauen kann" 4 2 . Sie stellt keine apriorischen Fragen mehr und verzichtet auf alle rationalistischen Folgen des Apriorismus der klassischen Methodenlehre. Die Ausklammerung des Erkenntnisproblems erfolgt aufgrund der neuen Situation, die das positive Recht bewirkt: der Gegenstand ist lediglich der als gültig gesetzte. Die Wissenschaft, die von der Kontingenz und der Geltung ausgeht, fragt gegenüber dem Recht nicht nach dem „Was?", sondern nach dem „Wie?". Die A n t w o r t auf die Frage nach dem „Was" ist aber Voraussetzung und Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens. Die Wahrheitsfrage und die gnoseologische Frage, die i n ein methodologisches Problem umgewandelt werden, lösen sich i n der Logik auf. Das Postulat der Positivität schließt das Problem — wie Wissenschaft möglich ist — aus, w i r f t aber zugleich das Problem nach der Methode der Rechtsmethodologie auf. Die Wissenschaft weigert sich, ihre Grundlagen zu thematisieren, d.h. das Problem des Gegenstandes als Argument eines Komplexes theoretischer Hypothesen wieder aufzuwerfen, die ein autonomes Universum beschreiben, i n dem sich die Auflösung der rationalistischen Wahrheitsfrage erschöpft. Da es der Wissenschaft an M u t fehlt, kann sie sich nicht vom Problem des Gegenstandes befreien, auch wenn dieses Problem sich i n anderer Weise als i n der Naturrechtslehre stellt. 42
Vgl. Gianquinto, Critica dell'epistemologia, S. 15.
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Der Unterschied besteht darin, daß die Wahrheit, zu der die Wissenschaft gelangt, rein logischer Natur ist und keine ontologische Funktion mehr hat. Sie beschränkt sich darauf, die Richtigkeit der Welt zu beschreiben. I h r falsches epistemologisches Bewußtsein versperrt die Sicht auf ein Universum, dessen Existenz bereits gesetzt ist, und ruft die Illusion hervor, die wissenschaftliche Wahrheit sei keine logische, sondern eine notwendige, etwas bereits i n der Anschauung Gegebenes. Sie erweckt den Anschein, der Gegenstand sei eine notwendige Form, i n der die Verhältnisse der freien W i l l e n untereinander und zur unfreien Natur auf organische Weise zum Ausdruck kommen. Die formelle Wahrheit der Logik i n ihrer Indifferenz gegenüber dem Gegenstand w i r d nicht mehr als solche, sondern als organischer Zusammenhang, der die notwendigen Formen des Gegenstandes selbst erzeugt, gerechtfertigt. Diese Umkehrung bewirkt, daß der Gegenstand nicht deshalb existiert, weil er gesetzt ist: er erscheint als ein Produkt der Wissenschaft. Eine besondere Situation w i r d offenbar. Die methodologische Umkehrung der Rechtswissenschaft nimmt das implizite Postulat der Positivität an und legitimiert sich dadurch als ein Zusammenhang von Operationen, die den gegebenen Stoff lediglich auf seine logische Konkretion zurückführen. Dabei läuft sie Gefahr, die Korrektheit ihrer eigenen Operationen zu entlegitimieren. Diese Situation zeigt den Fortschritt des methodologischen Denkens gegenüber der naturrechtlichen Wissenschaft auf, zugleich aber die Distanz zwischen der Rechtsepistemologie und der modernen Epistemologie. Die Methodologie — Endpunkt eines innerhalb der Rechtswissenschaft stattfindenden Prozesses — stellt eine grundlegende Errungenschaft der modernen Epistemologie dar. Auch wenn die Rechtswissenschaft mittels der methodologischen Umkehrung versucht, den Entwicklungsstand der Epistemologie zu erreichen, so bleibt sie doch weit davon entfernt. Die moderne Epistemologie baut auf dem Prinzip des Konventionalismus auf und geht von der Voraussetzung aus, daß „die Grundlage des konventionalen Systems keinerlei gnoseologische Relevanz besitzt, daß die Elemente der Erfahrung, die einfachen Teile und die grundlegenden Verhältnisse, aus denen sie besteht, zu einer Sache der Konvention, zu einer Entscheidungsfrage werden" 4 8 . Die Rechtsepistemologie hat das Problem der Kontingenz nicht gelöst, denn eine derartige Lösung hätte das Recht entproblematisiert, es bereinigt und zum geeigneten Gegenstand der Methodologie gemacht. U m dies zu verhindern, w i r d die Methodologie i n einen Zustand der Rückständigkeit gezwungen und damit i n eine zweideutige Lage gegenüber dem Rationalismus gebracht. Gerade der Konventionalismus ermöglicht es 43
Gianquinto, Metalogica e calcolo, S. 289.
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der modernen Wissenschaft, eine tiefe und entscheidende Umwandlung gegenüber dem klassischen Rationalismus vorzunehmen. Sie kehrt nicht nur die von der Methodenlehre vertretene klassische Ansicht um, sondern auch die Modelle und Folgen des Apriorismus und Rationalismus. „Die Methodologie", schreibt Gianquinto 4 4 , „führt die Methodenlehre zur Auflösung. Das geschieht i n der Absicht, die negativen Faktoren auszuschalten, die i n der Formulierung und der Ausarbeitung der Frage: Wie ist die Wissenschaft möglich? impliziert sind. Sie sind i n der Formulierung impliziert, weil i n ihr ein absolutes Wissenschaftsideal vorausgesetzt ist und damit auch das Problem, den zu ihr hinführenden Weg zu bestimmen. Da die Frage angesichts des idealen Charakters des zu erreichenden Ziels immer zu einer Kristallisierung führt, die den Modellen, den Theorien und den Verallgemeinerungen anhaftet, zu denen die Methode führt, sind die negativen Faktoren auch i n der Ausarbeitung impliziert." I n der modernen Wissenschaft ist die Methodologie das Ergebnis der skeptischen Selbstzerstörung der Methodenlehren. Sie entsteht aus der inneren Notwendigkeit heraus, sich von den begrifflichen Hindernissen, die von einem i n der rationalistischen Auffassung erstarrten Wissenschaftsideal herrühren, zu befreien. Für die Rechtswissenschaft ist die Lage anders. Die Methodologie geht nicht aus der skeptischen Selbstzerstörung der Naturrechtslehre hervor, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, ein epistemologisches Universum zu errichten, das ausschließlich auf der Voraussetzung der Positivität des Rechts gründet. Die methodologische Umkehrung bestätigt gewiß das Bedürfnis, die Modelle der rationalistischen Wissenschaft zu überwinden, die Hindernisse des Apriorismus zu vermeiden und die Methode aus den Angeln zu heben. Doch dieses Bedürfnis kann nur dann befriedigt werden, wenn die Rechtsepistemologie konsequent die Grundlage der Kontingenz des Rechts, i m Prinzip der Rechtspositivität vorausgesetzt, entfaltet. Diese Grundlage spielt bei der Rechtsmethodologie die gleiche erkenntnistheoretische Rolle wie der Konventionalismus innerhalb der modernen Wissenschaftsmethodologie. Doch der Aufbau eines epistemologischen Modells auf dieser Grundlage erfordert großen Mut und klares Bewußtsein: den Mut, die Wahrheitsfrage aufzulösen, die Konsequenzen der daraus folgenden Liberalisierung der Wissenschaft und folglich eine ausschließliche Definition der Wissenschaft als bestimmtem und eindeutigem Operationszusammenhang zu akzeptieren. Die Indifferenz der wissenschaftlichen Operationen gegenüber dem Gegenstand muß anerkannt werden. Das Bewußtsein besteht i n der Erkenntnis, daß Gegenstand der Wissenschaft ledig44
Gianquinto, Critica dell'epistemologia, S. 15 - 16.
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lieh emanzipierte logische Formen sind, i n denen sich das Problem der Vermittlung und damit das Problem der Dichotomie von Sein und Sollen aufgelöst hat, und daß es i m System möglich ist, die höchste normative Variabilität zu stabilisieren und zugleich das System i n seiner Kohärenz festzuhalten. Diesen Mut und dieses Bewußtsein zeigen nur Kelsen und Luhmann, die wichtigsten und konsequentesten Vertreter des modernen Rechtsdenkens. Sie vollenden den Prozeß der Emanzipation der Rechtswissenschaft. Dieser Prozeß, der m i t der Isolierung der Kategorie der Juridizität i n Gang gesetzt wurde, vollzieht sich nur dann, wenn die Rechtsabstraktion zum Fetisch wird, der die Gesellschaft reguliert und den abstrakten Zusammenhalt der abgesonderten Handlungssysteme aufrechterhält. Das Recht muß allgemeines Äquivalent werden, gleiche Form, befreit von der Last der Materialität. Die Wissenschaft emanzipiert sich nur dann, wenn das Recht sich von den Verhältnissen emanzipiert, die es hervorgebracht haben.
4 De Giorgi
KapitellI
Die Ausdifferenzierung der Methodologie und Kelsen 1. Puchta a) „Das Recht als die mit der Ungleichheit
behaftete
Gleichheit"
Der Grundbegriff des Rechts ist die Freiheit, schreibt Puchta 1 : die Freiheit und nicht die Vernunft bildet das Fundament des Rechts. Die Vernunft als Welt der Notwendigkeit schließt die Freiheit aus und damit das Prinzip des Rechts. Nehmen w i r an, die Vernunft sei das Gute: aus natürlicher Notwendigkeit heraus w i r d die Vernunft dann das Schlechte, die Negation des Guten, als irrational absondern, da es i h r nicht innewohnt. Die Vernunft ist daher eine Notwendigkeit, die das ausschließt, was sie negiert; die Freiheit hingegen beinhaltet die Negation der Notwendigkeit und dam i t lediglich die Möglichkeit, sich für etwas zu entscheiden. Freiheit ist die Möglichkeit des Guten wie des Schlechten. Sie ist Möglichkeit der Wahl. Von Rechts Rechts lässig, 1
der zu im von
Grundlage der Vernunft einen Weg zur Grundlage des finden, ist genauso unmöglich, wie den Grundbegriff des Grundbegriff der Vernunft zu erkennen. Es ist nicht zuder Welt der Notwendigkeit, beschränkt durch die dem
Puchta, Cursus, I, S. 4. Bohnert, Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas, S. 157 - 165. Die Reflexion über das Werk Puchtas leidet unter einer besonderen, vorschnellen Oberflächlichkeit, in der sich mit wenigen Änderungen das alte Urteil Jherings wiederholt, das in: Scherz und Ernst, S. 253, abgegeben wurde; welches aber — wie bekannt ist — sich sehr von dem in: Unsere Aufgabe, S. 26, zu findenden unterscheidet. Über Puchta hat zutreffend Bohnert gesagt: „Georg Friedrich Puchta zählt zu jenen Gestalten der Rechtsgeschichte, von denen die Ansicht geht, man habe sie nur zu gut verstanden. Seit Jherings nervöse Lustigkeit als erstem ihm das Tor zum juristischen Begriffshimmel öffnete, ist Puchta zum »Kinderspott4 geworden, und er mußte für alle Fehler der historischen Rechtsschule: Wirklichkeitsferne, Formalismus, Begriffsjurisprudenz, um so mehr einstehen, als vor diesem Schatten das Licht Savignys noch heller, noch verehrungswürdiger leuchtete" (a.a.O., Vorwort). Zum Werk Puchtas s. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 399-402; Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 70 - 87; Larenz, Methodenlehre, S. 20 - 26, sowie die umfangreiche Literatur, die im Anhang des zitierten Werks von Bohnert zu finden ist.
Kap. I I : Die Ausdifferenzierung der Methodologie und Kelsen
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Menschen von Natur aus auferlegten Grenzen, hinüber zu gehen zur Welt der Freiheit, die von Natur aus nicht beschränkt ist. Puchta zieht folgenden Schluß: ausgehend vom Begriff der Vernunft gelangt man niemals zum Begriff des Rechts. Frei ist ein Individuum, das seinen W i l l e n äußern kann und dem diese Fähigkeit zuerkannt wurde, das also imstande ist, die Fähigkeit des Wollens durch das Vollziehen einer Wahl auszudrücken. Von der Perspektive des Rechts aus betrachtet, meint Freiheit die anerkannte Fähigkeit des Wollens. Das Individuum ist Subjekt des Rechts; Subjekt des Rechts deshalb, w e i l es als potentielles Subjekt einer Wahl anerkannt wird, und nicht, weil sein Verhalten eingeschränkt ist oder seinem Wollen ein bestimmter Bereich zugeschrieben wird, innerhalb dessen sich nur dieses Wollen als freier Wille ausdrücken kann. Seine Freiheit besteht nicht — wie i m Bereich der moralischen Freiheit, wo das Subjekt aufgrund der Entscheidung für das Gute als moralisch frei gilt — i n der Bestimmung einer spezifischen Wahl, sondern i n der Möglichkeit selbst, diese Wahl zu vollziehen, seinen Willen zu äußern. Die Betrachtung des Wollens i n seiner Potentialität und Anerkennung ermöglicht, die rechtliche Freiheit von der moralischen Freiheit zu unterscheiden und den Unterschied sichtbar zu machen. Für die Moral ist nicht die Tatsache, daß das Subjekt eine Wahl vollziehen kann, relevant, sondern nur die Tatsache, daß es i n Wirklichkeit eine Entscheidung trifft. Die Entscheidung und ihre Beschaffenheit machen den Menschen zum tatsächlichen Subjekt der Moral. Das Recht hingegen ist gegenüber der Beschaffenheit der Handlung als Gegenstand der Rechtsvorsehung indifferent, auch wenn diese das Recht verletzt; ebenso gegenüber den moralischen Eigenschaften des Individuums. Es bleibt das Subjekt des Rechts, gleichgültig ob es ein guter oder ein schlechter Mensch ist, denn beide sind Subjekte, denen ein Wollen zuerkannt wird. „ I n der Gründung des Rechts auf die Möglichkeit eines Willens ist auch das eigenste Prinzip des Rechts ausgesprochen, das der Gleichheit 2 ." Recht ist Indifferenz gegenüber der Verschiedenheit. Verschieden ist das Mannigfaltige, das Konkrete, der Mensch als wirkliches Subjekt der Wahl, die er jeweils vornimmt, und all diesem gegenüber ist das Recht indifferent. Das Recht ist ein System, „das die Ungleichheiten zusammenhält" 3 , es ist indifferente Gleichheit von Individualitäten, die durch ein geistiges Band zusammengehalten werden: ein Band, das die 2 3
4*
Cursus, I, S. 7. Cursus, I, S. 11.
Teil I : Die Wissenschaft
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Abstraktion der konkreten, einzelnen Willen ist. „Das Recht ist die Anerkennung der Freiheit, die den Menschen als Subjecten der Willensmacht gleichmäßig zukommt 4 ." „Der Sinn des Rechts" 5 besteht i n der Schöpfung von indifferenter Gleichheit, i n der Schöpfung von Abstraktionen, die „die Ungleichheiten zusammenhalten", indem sie diese auf ein System reduzieren: sie aber nicht negieren, sondern eben erhalten und zusammenhalten. Daher „ist das Recht bestimmt, die Gleichheit zu schützen, indem es die individuellen Ungleichheiten dem A l l e n gleichmäßig zukommenden: der Persönlichkeit, der Möglichkeit eines Willens, unterwirft" 8 . Persönlichkeit ist eine Abstraktion 7 , und nur aufgrund dieser Abstraktion bestimmt sich die Gleichheit als Sinn des Rechts. I m Recht werden die wirklichen Ungleichheiten jedoch nicht negiert: Sie bilden den Stoff des Rechts, u m die sich die Verhältnisse der Individuen i n ihrer konkreten Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit spinnen. Das Recht schafft eine Mannigfaltigkeit von Abstufungen, eine Vielfalt von Gleichheiten, i n denen die wirklichen Verschiedenheiten erhalten und zusammengehalten werden. Der Stoff reagiert auf die Abstraktionen des Rechts und übt ihnen gegenüber einen ständigen Widerstand aus: „Das Recht hebt an dem Menschen die Persönlichkeit hervor, aber es anerkennt eine Verschiedenheit der Persönlichkeit 8 ." Das Recht legt eine Abstufung von Abstraktionen, von Personen fest, eine Struktur von indifferenten Gleichheiten. Nach Puchta kommt dem Recht i n seiner Entwicklung eine zweifache Aufgabe zu: es muß zu einem Zusammenhang von Formen gelangen, die aufgrund der Gleichheit zur Beherrschung der Verschiedenheit, der konkreten Individualitäten führen, und es hat der dem Stoff innewohnenden Unterschiedlichkeit selbst Rechnung zu tragen. Der Stoff, der den gleichen Abstraktionen ständig Widerstand leistet, führt i n die Struktur der Gleichheit eine Reihe von differenten Gleichheiten ein. Das Recht besteht somit aus einer Vielfältigkeit von Formen der Gleichheit. „Die Bildung des Rechts besteht i n einem fortwährenden Widerstand der Verhältnisse, des Ungleichen, und i n einem fortwährenden Überwinden desselben; aus diesem Prozeß gehen die Rechtsinstitute: die Rechtssätze über das Eigentum, die Obligatio u. s. f., als verschiedene hervor, und so weiter herab die specielleren Institute und Rechtssätze, aus denen jene bestehen 9 ." 4 5 6 7 8 9
Cursus, I, S. 7. Cursus, I, S. 11. Cursus, I, S. 11. Puchta, Vorlesungen, I, S. 56. Puchta, Cursus, I, S. 11; Vorlesungen, I, S. 56. Puchta, Cursus, I, S. 21.
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Die Verschiedenheit entsteht aus der Reaktion des Ungleichen, das die materiellen Verhältnisse bestimmt auf das Prinzip der rechtlichen Freiheit, d.h. auf das Prinzip der Abstraktion der Gleichheit: „Das Recht ist die mit der Ungleichheit behaftete Gleichheit 10 ." Das Recht bleibt Abstraktion, gleiche Form der Verhältnisse; i n i h m treten die Subjekte i n der Abstraktion ihres freien Willens als Persönlichkeiten auf, aufgrund einer gleichmäßig verteilten Eigenschaft. Das Recht überwindet den von der Verschiedenheit des Stoffes ausgeübten Widerstand durch die Schaffung einer Struktur, i n der Formen die wirklichen Differenzen einer Verschiedenheit bezwingen; innerhalb dieser Formen erscheinen die Differenzen nicht mehr negiert, sondern aufgehoben und überwunden. Die Mannigfaltigkeit der wirklichen Differenzen geht i n die innere Mannigfaltigkeit der Rechtsstruktur über. Sie schafft eine Vielfältigkeit von Funktionen i n einem System gleicher Indifferenzen. Diese Vielfältigkeit von Funktionen scheint durch die reale Verschiedenheit der Verhältnisse bedingt zu sein. Sie erscheint als eine der Struktur der Abstraktion anhaftende natürliche Notwendigkeit 1 1 : die Mannigfaltigkeit des Wirklichen kann nur durch die Abstraktionen, ein System verschiedener Gleichheiten, beherrscht werden. „So w i r d das Recht", folgert Puchta, „obwohl aus der Freiheit stammend, durch die natürliche Notwendigkeit seiner Gegenstände bedingt, es ist etwas Vernünftiges. Dadurch erhalten seine Sätze den systematischen Zusammenhang, daß sie sich gegenseitig bedingen und voraussetzen, daß von der Existenz des einen auf die des anderen ein Schluß möglich ist 1 2 ." Der Stoff, dessen Ungleichheiten das Recht überwinden muß, sowie der Widerstand, den dieser Stoff leistet, stellen das Prinzip des Systems dar, das rationale Prinzip des Rechts. Vernünftig ist das Notwendige, schreibt Puchta. „Das Recht ist etwas Vernünftiges" bedeutet, daß die rechtlichen A b straktionen eine einheitliche Struktur bilden, innerhalb der sie von der Gesamtheit der Ableitungsverhältnisse, die sie m i t „innerer Notwendigkeit" 1 3 unterordnen, miteinander verbunden werden. Die Vernünftigkeit der Vorgänge, aus denen der Zusammenhang der Struktur entsteht, die innere Notwendigkeit rein logischer Natur, ist das logische Prinzip des Systems. So wie der Volksgeist das einheitliche Prinzip der 10
Puchta, Cursus, I, S. 21. Puchta, Cursus, I, S. 56. 12 Puchta, Cursus, I, S. 56. 13 Puchta, Vorlesungen, I, S. 41: „Jenes bestehende Recht enthält aber selbst den Keim seiner Ergänzung in sich, durch die Principien, auf denen es beruht, und durch seine vernünftige Natur, die von einem Satz einen Schluß auf einen anderen, daraus mit innerer Notwendigkeit folgenden zuläßt." 11
Teil I : Die Wissenschaft
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Freiheit i m Recht darstellt, so ist die innere, also die logische Notwendigkeit, auf der sich das Rechtssystem aufbaut, das Fundament des Vernünftigen i m Recht. Die Bestimmung des Prinzips des Vernünftigen i m Recht stellt zweifellos eine große Errungenschaft i m Rechtsdenken Puchtas dar. Puchta entfernt sich damit sowohl vom naturrechtlichen Apriorismus als auch von der verwirrenden, nicht klaren Epistemologie Savignys. I n seiner Auffassung hebt jenes Prinzip die Selbständigkeit des begrifflichen Gerüsts des positiven Rechts hervor. Jenes Gerüst bildet ein geschlossenes System, einen Organismus. Demzufolge werden die einzelnen Rechtssätze i n dem organischen Zusammenhang des Systems von der Wissenschaft als „einander bedingende und von einander abstammende" 14 Rechtssätze erkannt. Dieses System von Ableitungen, eine „Begriffspyramide" als das Ergebnis der auf das Recht gerichteten wissenschaftlichen Tätigkeit, baut lediglich auf Abstraktionen des positiven Rechts, auf allgemeinen Begriffen auf, die von den Gleichheiten abstrahiert werden, zu denen das Recht die Wirklichkeit der sozialen Verhältnisse 15 zwingt. Aus dem Vernünftigen des Rechts folgt demnach das Prinzip der begrifflichen Selbständigkeit: die Wissenschaft erkennt das Recht i n seiner Isolierung, i n der selbständigen Struktur seines begrifflichen Systems. „Gegenstand der Rechtswissenschaft als einer besonderen Wissenschaft ist das Recht lediglich als dieser ganz besondere Organismus, abgesehen von seiner Eigenschaft als Glied des Ganzen 16 ." Das Prinzip der Vernünftigkeit befreit das System i n seiner Eigenschaft als Gegenstand der Wissenschaft von jeglicher äußeren, m i t notwendigen Zwängen behafteten Instanz. Die systematische Erkenntnis hängt nach Puchta nicht von anderen Erkenntnisweisen ab, aus denen der Gegenstand als m i t äußerer Notwendigkeit behaftet resultiert. Die Rechtswissenschaft verfügt über keine Mittel, das Recht als Glied eines höheren Organismus zu betrachten 1 7 : die wissenschaftliche Erkenntnis bezieht sich allein auf die inneren Systemverhältnisse. Daraus folgt, daß man vom Prinzip des Systems nicht zum Prinzip der Gleichheit gelangen kann, i n dem sich das Prinzip der Freiheit i m Recht ausdrückt. Dies bedeutet: die Freiheit als Forderung der Gleichheit und als Eigenschaft der abstrakten 14
Puchta, Cursus, I, S. 22. Puchta, Vorlesungen, I, S. 41. 16 Puchta, Cursus, I, S. 55. 17 Puchta, Cursus, I, S. 55: „Die wahre Aufgabe der Philosophie des Rechts ist, dieses als Glied eines höheren Organismus zu betrachten, wozu die besondere Wissenschaft nicht die Mittel hat." 15
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Subjekte ist nicht Gegenstand der Wissenschaft Das System des positiven Rechts ist nur als ein System der Vernünftigkeit und nicht als das der Freiheit erkennbar. Hierin gründet die relevanteste Folgerung i m Rechtsdenken Puchtas: da die Vernünftigkeit für das Prinzip der Freiheit, d. h. der Gleichheit, undurchdringbar ist, sie die indifferenten Gleichheiten verschieden einstuft und nach der ihnen innerlichen Notwendigkeit ordnet, führt die Vernünftigkeit dem System gerade deswegen wieder die wirklichen Ungleichheiten zu und verbindet somit die gegenseitigen Indifferenzen zu einem System objektiver Verhältnisse logischer Abhängigkeit. Som i t kann Puchta folgern, daß „das Recht die mit der Ungleichheit behaftete Gleichheit ist" 1 8 . Ist das Recht als volle Entfaltung des Prinzips der Freiheit ein System von Gleichheiten, erzeugt aufgrund der i n der Abstraktion ihrer Persönlichkeit vorausgesetzten Gleichheit der Subjekte, dann kehrt das Recht als System der Vernünftigkeit das Prinzip der Gleichheit um. I m Recht sind daher zwei Sinngehalte enthalten 1 9 : der Sinn der Freiheit, der die individuellen Ungleichheiten gleichmacht und die Voraussetzung des Rechts darstellt, und der Sinn der Vernünftigkeit, der i m System der inneren Notwendigkeit die Ungleichheiten reproduziert und die erkennbare Wirklichkeit des Rechts selbst darstellt. Puchta stellt diese zwei Sinngehalte heraus und schließt ein mögliches Ableitungsverhältnis zwischen ihnen aus, das dazu dient, die Rechtswissenschaft von jeglicher, dem System der Vernünftigkeit äußerlichen Last zu befreien, dem System jener Vorgänge, die m i t innerer Notwendigkeit die Verhältnisse zwischen den i n den Begriffsbildungen erzeugten Ungleichheiten bestimmen. Der Ausschluß dieses Ableitungsverhältnisses ermöglicht die Entwicklung der Wissenschaft als Methodologie der Systembildung auf der Grundlage der dem Recht innewohnenden Ungleichheiten. I n Wirklichkeit jedoch bestehen zwischen den beiden Systemen Beziehungen aufgrund des einheitlichen Bezugs auf den Volksgeist: das Prinzip des Rechts, i n dem sich der Sinn der Freiheit verwirklicht, und das System des Rechts, i n dem sich der Sinn des Vernünftigen verwirklicht, treffen aufeinander. Man kann also behaupten, daß jener Ausschluß Puchta dazu dient, die Komplementarität der Funktionen des Rechts aufzuzeigen: die eine Funktion, formelle Gleichheit zu produzieren, w i r d durch die andere Funktion, materielle Ungleichheit zu reproduzieren, ergänzt.
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Puchta, Cursus, I, S. 21. Puchta, Cursus, I, S. 11.
Teil I : Die Wissenschaft
56 Positivität
b) Vernünftigkeit des Rechtssystems, der Wissenschaft und die materielle
Instanz
I m Gegensatz zu Savigny vollzieht Puchta einen wichtigen Schritt. Er befreit nicht nur das Recht von der Notwendigkeit äußerlicher Legitimierungsinstanzen, sondern schafft auch die endgültige Bereinigung der Wissenschaft. Er reduziert sie auf eine Methodologie der Dogmatik und legt ihre Selbständigkeit und Vollständigkeit fest. Dies gelingt ihm, indem er das System des positiven Rechts i n seiner Isolierung, seiner logisch begrifflichen Geschlossenheit, zum ausschließlichen Gegenstand der Wissenschaft bestimmt. Nur die systematische Erkenntnis des Rechts ist für i h n wissenschaftlich. Sie ist „eine vollständige Kenntnis" 2 0 . Dies hat zwei Ursachen. Die eine Ursache ist äußerer und die andere innerer Natur. Äußerlich betrachtet, garantiert nur die systematische Kenntnis die Sicherheit, alle Teile des Rechts als Teile eines organischen Zusammenhangs zu erfassen und nicht lediglich als Bestandteil eines Aggregats. Durch die systematische Kenntnis erst w i r d das Fehlen eines dieser Teile offenbar und der Betrachtung als solcher zugänglich. Innerlich betrachtet, „ist das Recht selbst ein System, so daß nur, wer es als solches erkennt, seine Natur vollkommen erfaßt" 2 1 . Systematische Kenntnis bedeutet demnach die Kenntnis des Zusammenhangs der Rechtssätze und ihrer Verwandtschaft untereinander, eine Kenntnis, die „die Abstammung eines jeden Begriffs durch alle Mitglieder, die an seiner Bildung Anteil haben, auf- und abwärts zu verfolgen vermag" 2 2 . Systematische Kenntnis bedeutet Kenntnis von der dem Recht innewohnenden Vernünftigkeit. Die Vernünftigkeit des Rechtssystems drückt sich i n der internen Notwendigkeit der organischen Zusammenhänge aus, wie sie zwischen den Teilen des Systems bestehen und von der Wissenschaft hervorgehoben werden. Die logische Natur jener Notwendigkeit, der deduktive Charakter der Vorgänge, die zur Bildung des Systems führen, ermöglichen die Festlegung einer „Genealogie der Begriffein der die Begriffe nicht als tote Werkzeuge erscheinen, sondern eine lebendige produktive Existenz erhalten. I m System der begrifflichen Ableitungen t r i t t die ganze, i m gegenwärtigen Recht nicht völlig entfaltete innere Fähigkeit hervor, die von der bildenden Tätigkeit der Wissenschaft, die zu einer produktiven Wissenschaft wird, sichtbar gemacht wird. Die Wissenschaft produziert Recht: sie offenbart das, was i m positiven Recht impliziert enthalten ist und aufgrund innerer Notwendigkeit entsteht. Dieses so produzierte Recht ist geltendes 20 21 22
Puchta, Cursus, I, S. 57. Puchta, Cursus, I, S. 57. Puchta, Cursus, I, S. 57.
Kap. I I : Die Ausdifferenzierung der Methodologie und Kelsen
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Recht, ebenso wie das durch Gewohnheit oder durch Aussagen des Gesetzgebers entstandene Recht. Durch die systematische Analyse des Begriffsnetzes bringt die Wissenschaft Sätze hervor, die zwar schon dem „Geist des nationalen Rechts" innewohnen, die aber noch nicht i n der unmittelbaren Überzeugung der Mitglieder des Volkes vorhanden, i n ihrem Verhalten noch nicht wahrnehmbar und vom Gesetzgeber auch noch nicht ausgesprochen sind. Das durch die produktive Wissenschaft erzeugte Recht hat einen dem System innerlichen dreifachen Geltungsgrund rein logischer Natur: Es beruht „1) auf der Vernunftmäßigkeit des bestehenden Rechts, 2) auf der Wahrheit der daraus abgeleiteten Principien und 3) auf der Richtigkeit der Folgerungen, die aus diesen Principien gemacht werden" 2 3 . Diese Begründung der Gültigkeit ist von tiefgehender epistemologischer Bedeutung und zeigt sehr deutlich den zwischen Puchta und Savigny bestehenden Unterschied. Die Vernünftigkeit des bestehenden Rechts w i r d nicht auf eine metapositive Setzung des Rechts, sondern auf die Mannigfaltigkeit der Abstraktionen, auf den Stoff und den jenen Abstraktionen gegenüber geleisteten Widerstand bezogen 24 . Diese Forderung ist dem Recht i n seiner Eigenständigkeit und i n seiner Isolierung immanent: die aus dem bestehenden Recht 25 abgeleiteten Prinzipien werden als Prämissen des Systems, und damit als wahr angenommen. Der Wahrheit der Prämissen wohnt ein rein logischer, d.h. hypothetischer Wert inne, der sich durch die Konstruktions- und Ableitungsarbeit legitimiert, die von der Wissenschaft geleistet wird. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, löst Puchta das überlieferte Problem der Wahrheit, von dem sich zu befreien Savigny nicht gelungen war. Die Forderung nach Wahrheit der Prämissen dient nur dem Zweck einer logischen Ökonomie wissenschaftlichen Arbeitens, dem Hervorbringen der i n den Prämissen liegenden Prinzipien. Die 23
Puchta, Vorlesungen, I, S. 41. Im Cursus (I, S. 5) schreibt Puchta: „Das Recht ist etwas Vernünftiges, und die ist die Seite, von welcher es ein System ist, einen Organismus von Gattungen und Arten bildet." 24 Vgl. Puchta, Cursus, I, S. 56 - 57, wo Puchta deutlich macht, was das Systemprinzip ist: „Die systematische Erkenntnis ist die Erkenntnis des inneren Zusammenhangs, welcher die Theile des Rechts verbindet; sie faßt das Einzelne als Glied des Ganzen auf, das Ganze als einen in besondere Organe sich entfaltenden Körper. Die wirkende Kraft der simultanen Mannigfaltigkeit des Rechts, folglich das Princip des Systems, ist der Stoff, dessen Ungleichheit das Recht zu überwinden hat, und der Widerstand, den er dem gleichmachenden Princip des Rechts entgegensetzt." 25 Vgl. Puchta, Vorlesungen, I, S.41: „Diese Ergänzung (d.h.: des bestehenden Rechts — D. G.) aber zur Wirklichkeit und zum Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe der Wissenschaft, die jene Principien des bestehenden Rechts ermittelt, und aus diesen neue, ergänzende Rechtssätze folgert."
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Teil I : Die Wissenschaft
systematische Kenntnis, aber auch das Rechtssystem werden gerechtfertigt als ein System, das die Möglichkeit in sich trägt, von innen her erschlossen zu werden durch den Mechanismus rein ableitender und explikativer A r t . Die Richtigkeit der aus diesen Prinzipien gezogenen Schlüsse ist eindeutig, weil sie i n der Richtigkeit der Implikationsvorgänge, die zu diesen Schlüssen führen, bereits enthalten ist. Infolgedessen setzt sie als Verifikationsschema der abgeleiteten Sätze keinen extralogischen Bezug voraus. Das organische Ganze, das Puchta vor Augen hat, stellt nur das vollständig geschlossene System der Rechtssätze dar: eine Konstruktion, zu der man nur m i t den M i t t e l n einer begrifflich gereinigten Logik gelangt, die das Recht i n seiner Isolierung als Gegenstand annimmt. Darüber hinaus macht Puchta deutlich, daß das Recht der Wissenschaft das Ergebnis der Tätigkeit von Juristen ist, die keine „natürlichen Repräsentanten und Depositarien des rationellen Rechtsbewußtseins" sind 26 . Das Recht entsteht aus einer inneren Wahrheit des Rechtssystems, zu der die Tätigkeit der Wissenschaft aufgrund der Richtigkeit ihrer Vorgänge gelangt. „Die Juristen", so verdeutlicht Puchta, „sind Träger der wissenschaftlichen Wahrheiten, sie stellen die Rechtssätze dar und wenden sie an, die rein auf inneren Gründen beruhen und die auch nur durch ihre wissenschaftliche Wahrheit eine Autorität haben. Das Juristenrecht ist hier Recht der Wissenschaft" 27 . Von daher kann Puchta die Welt der Wissenschaft als eine rein methodologische Welt endgültig ausdifferenzieren und das Recht, das Gegenstand der Wissenschaft ist, als ein vernünftiges System begreifen, das einer inneren Notwendigkeit logischer Natur unterliegt. Gerade diese fortschrittliche Errungenschaft Puchtas w i r d von einigen voreiligen Autoren als Rückschritt betrachtet — als ob der Versuch, die Methodologie von dem ungelösten Problem der Wahrheit zu befreien und sie als System der Wissenschaft von den Rückständen einer metapositiven Fundierung zu befreien, einen rückschrittlichen Prozeß ausmachte! Die Grenze Puchtas scheint i n dem nicht klaren Bewußtsein über die kontingente Fundierung der Positivität zu liegen, d.h. nicht i n der A n nahme der methodologischen Forderung nach Wahrheit der Begriffe, sondern i n seinem Prinzip der Vernünftigkeit. Wilhelm ζ. B. w i r f t Puchta eine Hypostasierung der Rechtsbegriffe vor, die als Prämissen des Systems angenommen werden: „Die allgemeinen Rechtsbestimmungen, welche die gedanklichen Konzentrationsformen juristischer und damit gesellschaftlicher Institutionen und als Abbilder der Wirklichkeit 26 27
Puchta, Vorlesungen, I, S. 42. Puchta, Vorlesungen, I, S. 42.
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bloß sekundärer Natur sind, wurden zu selbständigen Wesen, zu logischen Existenzen erhoben, so daß es möglich wurde, sie i n hohem Maße für sich zu behandeln 28 ." Dies aber ist gerade Puchtas Verdienst: „Der Kultus des logischen Elements" i m Recht stellt keine Hypostase der Prämisse dar, sondern die notwendige Bedingung für die Entwicklung einer Methodologie, die i n der systematischen Bildung die einzige Tätigkeit der Wissenschaft sieht, welche zur Entfaltung der Vernünftigkeit i m Positiven bestimmt ist. Als A b b i l d der Wirklichkeit sind die allgemeinen Rechtsbestimmungen anderer als nur sekundärer Natur: Puchta verankert die Vernünftigkeit der Formen der Ungleichheit i n dem Stoff des Rechts und i n dem Widerstand, der von der Verschiedenheit der Verhältnisse gegenüber der Reduzierung der differenten Mannigfaltigkeit geleistet wird, wozu die gleichmachende Abstraktion bestimmt ist 2 9 . Ebenso wie es wahr ist, daß die Hypostasierung der als Systemprämissen festgelegten Rechtsbegriffe keine gefährliche Konsequenz einer sich i n der Richtigkeit logischer Vorgänge entfaltenden methodologischen Tätigkeit darstellt, sondern eine Forderung ist, die die Positivität des Rechts der Wissenschaft aufdrängt bei dem Versuch, sie als etwas Gegebenes, Vorausgesetztes zu behandeln, sie somit zusammenzufassen und ihre innere Vernünftigkeit zu entfalten — so ist es gleichfalls wahr, daß sich die Wissenschaft nicht von der Gefahr befreit, die logische Wahrheit der Prämissen als nicht ausschließlich logischen Wert der Begriffe anzunehmen. Sie kann sich dem Verwertungsprozeß jener Prinzipien nicht dadurch entziehen, daß sie die logische Einheit des Systems, zu dem sie gelangt, als eine organische Einheit ausgibt, welche i n dem Ganzen, wovon das positive Recht Ausdruck und Angleichung sein sollte, vorausgesetzt ist 3 0 . Puchta stellt sich dieser Herausforderung nicht. Er unterscheidet Vernünftigkeit und Freiheit als die beiden Prinzipien des Rechts und setzt als Grundlage der Wissenschaft die Entfaltung der reinen Vernünftigkeit. Der Wissenschaft gelingt nur dann der riskante Sprung von der Vernünftigkeit zur Freiheit, von der Logik zum Wert, wenn sie nicht das Prinzip der Positivität als Wert — der i n seiner logischen Notwendigkeit nur mittels schwieriger Umkehrungen erfaßt werden kann —, son28
Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 82 - 83. Im Vergleich zu dem, was Puchta im Cursus schreibt, ist folgender Schluß Wilhelms schwer haltbar: „Der Rechtserkenntnis wurden die juristischen Begriffe zugrunde gelegt, aus denen man konkrete Entscheidungen und dogmatische Lehrsätze ohne Anschauung der gesellschaftlichen Realität im Wege logischer Entwicklung zu erschließen suchte. Alle Rechtsbildung war wesentlich Entwicklung aus dem Begriff." (s. Fn. 28; für Puchta s. Fn. 24). 30 Wie jedoch Larenz, Methodenlehre, S. 22, in der Nachfolge Wilhelms, Zur juristischen Methodenlehre, S. 86, zu glauben scheint. 29
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d e m die Kontingenz als Prinzip der Positivität annimmt. Das heißt also: der Wert der Prinzipien des positiven Rechts und ihre Gültigkeit können nicht unterschieden werden; und diese Identifizierung vorausgesetzt, w i r d der Wert zu einem rein logischen Wahrheitswert für die Wissenschaft. Ohne Schwierigkeiten kann die Wissenschaft behaupten, daß „eine juristische Ansicht nur dann Recht ist, wenn sie wissenschaftlich begründet, also wenn sie wahr ist" 3 1 , wenn die Methodologie sich als vollkommen frei von Voraussetzungen, als neutral versteht, wenn die logische Wahrheit, die i m System produziert wird, nicht nur innerlich begründet, sondern auch „dem Volksgeist angemessen" 32 ist. Dies ist eines der wenigen Zugeständnisse, die Puchta gegenüber dem Prinzip der Selbständigkeit der Wissenschaft macht, welches er mutig bekräftigt hat und u m dessen Schwäche er wußte, das aber die innere logische Gültigkeit der wissenschaftlichen Wahrheit nicht angreift. Als Puchta das Gesetz, Produkt der Gesetzgebung, als Ausdruck des Volksgeistes darstellte, schrieb er: „Ist nun aber das Gesetz einmal gegeben, so kann seine Gültigkeit nicht von einer Untersuchung seiner wirklichen Übereinstimmung mit dem Volkswillen abhängen. Diese Untersuchung würde eine höhere Gewalt voraussetzen, die dann eben die gesetzgebende wäre, und bei welcher dieselbe Frage wieder entstehen würde. Was daher durch ein Gesetz auf dem verfassungsmäßigen Wege festgesetzt ist, das gilt als Recht, als gemeiner Wille, nicht u m seines Inhalts, sondern u m dieser Form des Anspruchs willen 3 3 ." Dies ist der Beweis für die Tatsache, daß die ideologischen Zugeständnisse, an den Errungenschaften der Epistemologie haftend, deutlich sichtbar die Spuren ihrer Entstehung und die Last ihrer Widersprüche tragen. Puchta baut das Rechtssystem als Entfaltung der Vernünftigkeit des Rechts auf und legt die Vernünftigkeit i n der Mannigfaltigkeit der Gleichheits/ormen fest — womit die rechtliche Abstraktion versucht, den Stoff zu beherrschen — sowie i n dem Widerstand, den dieser Stoff der Abstraktion gegenüber leistet. Die materielle Verschiedenheit der Verhältnisse durchdringt die formelle Gleichheit, und mit der daraus entstehenden Konfrontation erhält die Herrschaft der Notwendigkeit Zugang i n das Reich der Freiheit, das von den Formen einer spezifisch vernünftigen Notwendigkeit durchdrungen wird. Das Recht ist etwas Vernünftiges, sagt Puchta: nur deswegen kann es Gegenstand der Wissenschaft sein. 31 Puchta, Das Gewohnheitsrecht, e.T., S. 166; vgl. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 77 - 78. 32 Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 77 - 78. 33 Puchta, Cursus, I, S. 19 - 20.
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Puchta bildet ein Rechtssystem, dessen ausschließlicher Bezug die Vernünftigkeit der Abstraktionen, d.h. ihre Ungleichheit ist, i n der sich die Bedingtheit der sozialen Verhältnisse und ihr Widerstand gegen die abstrakte Gleichheit der Rechtsform ausdrückt. Das Recht als Gegenstand der Wissenschaft trägt die Bürde der sozialen materiellen Verhältnisse m i t sich, deren Mannigfaltigkeit und Differenz i n der Forderung der Gleichheit, i n der sich das Prinzip der Freiheit ausdrückt, überwunden werden soll. Das Recht kann Gegenstand der Wissenschaft nur sein, weil die naturhafte Notwendigkeit, die Verschiedenheit des Stoffes, sich von der Vernünftigkeit durch Schranken und Grenzen beherrschen läßt, welche die wirklichen Ungleichheiten erhalten und zusammenhalten. Als Welt der Freiheit ist das Recht nicht Gegenstand der Wissenschaft. Aber noch stellt sich der Wissenschaft das Problem der Freiheit: die Wissenschaft arbeitet autonom, da zwischen beiden Welten kein Bezug besteht; von der Vernunft ausgehend, kann das Recht nicht als Freiheit verstanden werden. Das Ergebnis Puchtas ist eindeutig positiv. Es gelingt ihm, das Recht als Gegenstand der Wissenschaft zu verselbständigen und die Selbständigkeit des Gegenstandes als Bedingung der Möglichkeiten der Wissenschaft festzulegen. Jedoch muß er voraussetzen, daß die rechtliche Abstraktion ständig von jenem Widerstand des Stoffes bedingt wird. Bei Savigny w i r d der Stoff durch den einheitsstiftenden A k t der Anschauung des Instituts erfaßt und aufgehoben, bei Puchta bleibt er als Bezug und Bedingung der wissenschaftlichen Tätigkeit erhalten. Und nicht nur das: das Begriffssystem w i r d durch die Verworrenheit des Stoffes bedingt, die Abstraktionen sind gezwungen, i h m zu folgen. Eine äußere Notwendigkeit durchdringt vollkommen die Formen der Gleichheit und stellt für sie ein gegenwärtiges, unausweichliches Hindernis dar. Das Problem der materiellen Instanz im Recht bleibt ungelöst: diese materielle Instanz ist Bedingung und Voraussetzung der Vernünftigkeit, aber zugleich immanentes Hindernis der Gleichheit. Dies läßt sich noch treffender ausdrücken: Puchta erkennt das Problem der juristischen Form. Die Form stellt zugleich Gleichheit und Ungleichheit dar, formelle Freiheit und materielle Unfreiheit, Wert und Tatsache. Es gelingt Puchta nicht, die Bipolarität der Form wissenschaftlich unter Kontrolle zu bringen; aber es gelingt i h m auf diese Weise, positive Ergebnisse i n bezug auf die Autonomie der Wissenschaft zu erreichen. Der Preis, den er dafür zu zahlen hat, ist hoch; als Gegenstand der Wissenschaft ist das Recht unmittelbar durch die materielle Instanz bedingt. Genau diese Instanz ist es, ihre der Rechtsform anhaftende Notwendigkeit, die
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das Recht zu etwas Vernünftigem macht und damit zum Gegenstand der Wissenschaft. Aber diese nur partielle Fundierung der Vernunft kann die Bedürfnisse der Wissenschaft nicht befriedigen, da sie das Recht als Gegenstand i n seiner Bipolarität, i n der Bipolarität der rechtlichen Abstraktion, aufnehmen muß. Sie ergibt sich nicht aus dem Nebeneinander, u m so weniger aber, wie Puchta meint, aus dem Konflikt der beiden Prinzipien: der Freiheit und der Vernünftigkeit, der Gleichheit und der Ungleichheit, d. h. der materiellen Instanz und ihrer formellen Abstraktion. Puchta, damit können w i r nunmehr schließen, thematisiert das Problem der materiellen Instanz und ihrer Vernünftigkeit als eine der Rechtsform anhaftende Notwendigkeit, schleppt es aber als ungelöstes Problem m i t sich. Der so beschrittene Weg bietet i h m große Vorteile: i h m gelingt es, die Jurisprudenz als Methodologie des systematischen Begriffsaufbaues zu legitimieren durch eine — wenn auch partielle — Fundierung des Gegenstands, aus der aber die Indifferenz des Gegenstandes gegenüber der Freiheit und gleichzeitig die innere Differenzierung seiner Formen entsteht. Das umgangene Problem der Abstraktion stellt das ständig wiederkehrende epistemologische Hindernis der materiellen Instanz dar, die der Fundierung einer Wissenschaft des gleichen Rechts, wie sie Puchta anstrebt, fortlaufend Widerstand leistet. 2. Jhering a) Die Emanzipation
der Rechtsabstraktion
und der Wissenschaft
Jhering ist sich der Schwierigkeiten, m i t denen Puchta zu kämpfen hatte, bewußt: die Jurisprudenz als Methodologie kann sich nur dann stabilisieren, wenn der Gegenstand einen solchen Grad an Eigenständigkeit erreicht hat, daß er weder Bedingtheiten zu fürchten braucht, noch ihnen unterliegt; diese Bedingtheiten entstehen nicht mehr aus metaphysischen Prinzipien, sondern aus der materiellen Instanz. Jhering stellt die Beziehung zwischen Stoff und Abstraktion, die Puchta nur i n ihrer unveränderlichen Starrheit erfaßt hat, i n die geschichtliche Entwicklung. Der Stoff legt das ganze Gewicht seiner Bestimmung i n die Rechtsform hinein, die Rechtsabstraktion reproduziert die Ungleichheit der materiellen Verhältnisse, auf denen sie sich bildet. Diese Immanenz und diese Unmittelbarkeit ist die erste Entwicklungsstufe der Rechtsform. Es schließt sich ein Prozeß an, der zur endgültigen Emanzipation dieser Form von allem materiellen Rückstand und aller materiellen Bedingtheit, zur vollen Entfaltung des Gleichheitsprinzips
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i m Recht führt. Dieser Entwicklungsprozeß der Rechtsabstraktion ist für Jhering zugleich der Entwicklungsprozeß der Rechtswissenschaft 34 : auch die Jurisprudenz entwickelt sich von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe i n dem Maße, wie sie von der Betrachtung des Rechtssatzes, dem das Gewicht und die Unmittelbarkeit der sozialen Verhältnisse anhaften, übergeht zur Betrachtung der juristischen Form, die emanzipiert und frei von allem materiellen Rückstand ist. Sie ist ausschließlich Rechtsïtfesen, „Welt aus rein geistigem Stoff" 35 . Genau dieser Bereinigungsprozeß der rechtlichen Abstraktion legitimiert die methodologische Umkehrung der Jurisprudenz als Wissenschaft, welche sich m i t emanzipierten Rechtsformen beschäftigt. Jhering gelingt es aber nicht, den unmittelbaren Zusammenhang beider Prozesse zu analysieren, weil er i m Grundsatz die materielle Instanz nicht anders auffaßt als Puchta: als Stätte der Ungleichheit und Verschiedenheit und als Produktionsstätte der Vernünftigkeit rechtlicher Abstraktionen. Er erkennt aber, daß die Rechtsform einen Emanzipations- und Befreiungsprozeß erfahren hat. Sie stellt sich als die objektive Gleichheit dar, ohne aber die Vernünftigkeit der Abstraktionen ausgeschlossen zu haben: das System der rechtlichen Abstraktionen als System der Ungleichheit ist vernünftig und zugleich die Stätte der Gleichheit. U m das Hindernis zu überwinden, führt er folgende Umkehrung durch: ausgehend von dem ursprünglichen Zusammenhang des Entwicklungsniveaus des Rechts und der Rechtswissenschaft stellt sich der Emanzipationsprozeß als Entwicklung des Rechts- sowie Wissenschaftssystems dar m i t der Besonderheit, daß die Emanzipation des Rechts, seine Entwicklung zu einer gleichen Form, als ein von der Wissenschaft eingeleiteter und vollzogener Verdrängungsprozeß der Bedingtheit des Rechts durch die materielle Ungleichheit erscheint. Der ursprünglichen Auffassung Puchtas verhaftet, gelingt es Jhering nicht, die i n seiner Anschauung der Geschichtlichkeit des Verhältnisses von Stoff und Abstraktion implizierten Voraussetzungen zu entfalten. Er kann daher den Emanzipationsprozeß nur als einen der Rechts34
Jhering, Geist, II, 2, S. 361: „Diese Erhebung des Stoffs ist zugleich die Erhebung der Jurisprudenz selbst." Zu Jherings Systemdenken vgl. insbesondere: Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 112 -128; Larenz, Methodenlehre, S. 26-29; die von Wieacker und Wollschläger herausgegebenen Beiträge in: Jherings Erbe, insbesondere den Beitrag von Homes, S. 101-115 und den von Losano, S. 142-154; Losano, Sistema e struttura, S. 228 - 250, der, zusammen mit dem bereits zitierten Beitrag, die bei weitem schärfsten und interessantesten Überlegungen über die Jheringsche Epistemologie enthält; Fikentscher, Methoden des Rechts, III, S. 187 -235; s. auch Wieacker, Jhering; Coing, Der juristische Systembegriff. 35 Jhering, Unsere Aufgabe, S. 12.
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Wissenschaft innerlichen Prozeß begreifen, der aber i n Wirklichkeit zugleich ein Prozeß ist, dem die materielle Instanz 38 und die Abstraktion, i n der sich diese Instanz ausdrückt, unterliegen. I h m bleibt verborgen, daß die Emanzipation und der scheinbare Widerspruch der Rechtsform als gleicher Form, i n der sich die Ungleichheit reproduziert, lediglich ein Reflex sind. Das Problem der Emanzipation der Form löst er, indem er ihre wirkliche Produktionsstätte umgeht und sich ganz auf die Betrachtung ihrer Widerspiegelung i m Wissenschaftssystem beschränkt. Die rechtliche Abstraktion verändert i m Entwicklungsprozeß ihre Struktur. Sie erscheint nicht mehr als von einer inneren Notwendigkeit bedingt, die Puchta als Voraussetzung der Vernünftigkeit des Rechts auffaßte. Für Jhering stellt sich die Emanzipation von jener inneren Notwendigkeit als Voraussetzung der Vernünftigkeit des Rechts dar, als ein rationales Produkt eines rein rechtlichen Gebildes: das Recht ist ein „innerlich abgeschlossenes Produkt der Geschichte" 37 , es ist ein „objektiver Organismus der menschlichen Freiheit" 3 8 . Als ein Naturprodukt läßt es sich durch seine Äußerungen bestimmen, die es ermöglichen, von der Oberfläche der Phänomene bis zur inneren Struktur des Organismus durchzudringen. Die ersten einfachen, konkreten Äußerungen des Rechts sind nichts anderes als nüchterne Ansätze einer rechtlichen Darstellung der sozialen materiellen Verhältnisse. Diese Verhältnisse aber, i n denen sich eine gering differenzierte soziale Welt widerspiegelt, bestimmen — trotz ihrer Knappheit und Beschränktheit — die Gebilde, welche sie darstellen. Diese einfachen und ursprünglichen Gebilde nennt Jhering Rechtssätze. „Die Rechtssätze sind abstrahiert aus einer Betrachtung der Lebensverhältnisse und bestimmt, die denselben innewohnende Natur auszusprechen und sie ihnen zu sichern 39 ." Sie sind nichts als „rohe Umrisse", nichts als erste, plastische Versuche eines Volkes 40 , unvollkommene Skizzen, vereinzelte Streiflichter 4 1 , i n denen sich der Drang eines sozialen Lebens ausdrückt 4 2 , dessen Verhältnisse weniger komplex sind, so daß jene Ver36 Denn „der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches". (Marx, Grundrisse, S. 75). 37 Jhering, Geist, I, S. 26. 38 Jhering, Geist, I, S. 25. 39 Jhering, Geist, I, S. 36. 40 Jhering, Geist, I, S. 28. 41 Jhering, Geist, I, S. 34,30. 42 Jhering, Geist, I, S. 26: „Der Drang des Lebens hat das Recht mit seinen Anstalten hervorgetrieben und unterhält dasselbe in unausgesetzter Wirklichkeit."
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hältnisse die materielle Instanz, die sie bestimmt, i n der Rechtsform bezwingen 43 . Dieses erste rudimentäre Gebilde des Rechts ist nicht etwas Zufälliges, keine unvollkommene Entstehungsweise des Rechts, verdeutlicht Jhering. Es ist ein Gesetz des geschichtlichen Werdens 44 , weshalb „das Allgemeine nicht sofort i n allgemeiner, sondern erst i n beschränkter Form zur Welt kommt" 4 5 , und zugleich ein Gesetz der Erkenntnis, weshalb „auf jedem Gebiet der Erkenntnis der menschliche Geist früher das Concrete als das Abstracte erblickt und gewinnt" 4 6 . Darum, so folgert Jhering, „erscheinen auch i m Recht die concreten Partien, d. h. die Rechtssätze für einzelne Rechtsverhältnisse historisch ungleich früher entwickelt als die abstracten Partien. Bevor letztere i n ihrer wahren, d.h. allgemeinen Form von der Gesetzgebung oder Wissenschaft erkannt und abgesprochen wurden, haben sie nicht selten eine lange Vorgeschichte durchmachen, verschiedene Phasen zurücklegen müssen" 47 . Die materielle Instanz ist demzufolge eine ursprüngliche Instanz i n der Rechtsgeschichte, die das Recht nicht i n seiner Entwicklung verfolgt. Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte eines Befreiungsprozesses jener Instanz als Instanz der Verschiedenheit und der Ungleichheit, die Geschichte des Unterdrückungsprozesses des Konkreten, die Geschichte des Gewinns des Abstrakten i n seiner Selbständigkeit und formellen Vollständigkeit. Genau an diesem Punkt verkehrt Jhering den eben beschriebenen wirklichen Prozeß i n einen durch die Wissenschaft hervorgebrachten Prozeß: die Wissenschaft verfolgt nicht mehr die Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten, sondern überträgt sie i n ihren Bereich. Somit w i r d die Entwicklung der rechtlichen Abstraktion zu einem von der Wissenschaft durchgeführten Selektionsprozeß und trifft m i t der Entwicklung der Struktur und des begrifflichen Apparates der Wissenschaft selbst zusammen. Durch einen Emanzipationsprozeß, der i m wesentlichen das Werk der Wissenschaft ist, dringt das Recht von den 43
Jhering, Geist, I, S. 34: „Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, teils daß die Verhältnisse selber zu jenen Zeiten noch nicht so kompliziert sind, teils daß diese Rechtssätze den Zeitgenossen, welche die konkreten Rechtsverhältnisse täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erscheinen als dem späteren Beobachter; jenen genügt eine vollkommene Skizze, sie reproduziert in ihnen das vollständige Bild, während dieser eben nichts darin erblickt als rohe Umrisse." 44 Jhering, Geist, II, 2, S. 340. 45 Jhering, Geist, II, 2, S. 342. 46 Jhering, Geist, II, 2, S. 338. 47 Jhering, Geist, II, 2, S. 338. 5 De Giorgi
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oberflächlichen Äußerungen, die von der materiellen Instanz bestimmt sind, zu den tiefsten Äußerungen 48 . I n diesem Emanzipationsprozeß begleitet und unterstützt die Wissenschaft die Rechtsform: die rechtliche Abstraktion erhält ihre endgültige Selbständigkeit und gelangt zu ihrer innersten Natur. Die Entwicklungsgeschichte dieses Prozesses ist für Jhering von besonderem Interesse, da „an i h r eine der wichtigsten Aufgaben und Operationen der juristischen Technik zu tage t r i t t " 4 9 . Diese Aufgabe besteht i n der Isolierung des Allgemeinen von den geschichtlichen Äußerungen, i n denen es sich lokalisiert hat 5 0 . Die Mittel, deren sich die Wissenschaft bedient, sind verschiedenartig, trotz des einheitlichen und bestimmten Ziels, die ursprüngliche Rechtsform zu einem rein logischen Moment eines Systems zu erheben 51 , welches seinerseits als Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung erscheinen soll. Jene M i t t e l und die Methoden, die sie legitimieren, sind nicht rein rechtlicher Natur, da sie es der Wissenschaft nicht ermöglichen, neuen Stoff zu schaffen, sondern nur den schon gegebenen Stoff umzubilden, neu zu organisieren; jene M i t t e l bilden aber eine notwendige Voraussetzung für die weitere Entwicklung. Die Wissenschaft vereinfacht das Recht quantitativ wie qualitativ: sie läßt es formal praktikabel werden. Sie analysiert den Stoff, löst das Allgemeine „von seiner lokalen historischen Erscheinungsform ab" und erhebt durch logische Konzentration die ursprünglich produzierten Abstraktionen zu höheren Abstraktionen; die Wissenschaft interpretiert i m wesentlichen den Rechtsstoff und gelangt durch diese Interpretation zu einem höheren Aggregatzustand desselben. Was die Wissenschaft produziert, „ist nichts specifisch Neues, sondern immer nur die ursprüngliche Rechtssubstanz, nur auseinander gelegt" 52 . So wie diese historisch betrachtete ursprüngliche Rechtssubstanz, innerhalb der sich Form und Inhalt des Rechts noch vollkommen decken, eine niedere Äußerung des Rechts darstellt, so ist auch die Wissenschaft, die sie interpretiert und auf ihre Prinzipien reduziert, eine niedere Jurisprudenz. Sie ist keine spezifisch juristische Operation, und „darum gewinnt auch der Stoff selbst durch sie keinen e i g e n t ü m l i c h juristischen Character" 58 . 48 49 50 51 52 53
Jhering, Jhering, Jhering, Jhering, Jhering, Jhering,
Geist, II, 2, S. 341. Geist, II, 2, S. 338. Geist, II, 2, S. 342. Geist, I, S. 40. Geist, II, 2, S. 359. Geist, II, 2, S. 358 - 359.
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Die materielle Instanz stellt ein Hindernis dar, von welchem sich die Jurisprudenz sowie das Recht i n der höheren Entwicklungsstufe befreien, i n der das Recht als reine Abstraktion, als systematischer Zusammenhang von logischen Individualitäten, juristischen Wesen, erscheint 54 . Die Jurisprudenz w i r d zur freien Kunst, die das Recht bildet, formt, produziert, und zugleich zu einer Wissenschaft, die durch die natur-historische Methode den „Rechtsstoff i n einen höheren Aggregatzustand" erhebt 55 . Gegenstand dieser höheren Jurisprudenz ist eine höhere Äußerungsform des Rechts, eine von jeglichem materiellen Rückstand befreite Form, eine Form, die nur aus systematischen Einheiten 5 8 und deren Begriffen besteht. Die Jurisprudenz als rein juristische Wissenschaft übt ihre Aufgabe i n dem Aufbau eines Systems des Rechts aus, i n dem die materielle Instanz endgültig unterdrückt und vernichtet worden ist. Der ursprüngliche Rechtsstoff nimmt hier die Form von „juristischen Körpern" an, die reines Produkt der Wissenschaft sind. „Allerdings", so sagt Jhering 5 7 , „ist uns das Material dazu gegeben, allein das, was w i r daraus machen, ist i n der That unsere eigene Schöpfung, denn w i r bringen den Stoff nicht bloß i n eine andere Ordnung, sondern w i r specificieren ihn, w i r construieren aus i h m specifisch juristische Körper": Rechtsinstitute und Rechtsbegriffe, Ausdruck des ursprünglichen Stoffes. Dieser Stoff hat sich verflüchtigt. Von i h m bleiben nur Wesenskörper übrig, die die Wissenschaft produktiv machen: „Durch Kombination der verschiedenen Elemente kann die Wissenschaft neue Begriffe und Rechtssätze bilden; die Begriffe sind produktiv, sie paaren sich und zeugen neue. Die Rechtssätze als solche haben nicht diese befruchtende Kraft, sie sind und bleiben nur sie selbst, bis sie auf ihre einfachen Bestandteile reduziert werden und dadurch sowohl i n aufsteigender als absteigender Linie zu anderen i n Verwandtschaftsverhältnisse treten, d. h. ihre Abstammung von anderen Begriffen offenbaren und selbst ihrerseits wieder andere aus sich hervorgehen lassen 58 ." Diese höhere Jurisprudenz ist Methodologie der juristischen Konstruktion des Rechts, der Produktion von Abstraktionen, die i n den Rechtsinstituten und i n den Begriffen, die sie bestimmen, enthalten sind. Sie setzt ihre ausgeprägte produktive Fähigkeit, neues und höheres Recht zu bilden, dem rein rezeptiven Charakter der niederen Jurisprudenz gegenüber. Der höhere Charakter der rechtlichen A b straktionen besteht darin, daß die Abstraktionen als logisch notwendig 54 55 5e 57 58
*
Jhering, Geist, II, 2, S. 359,360. Jhering, Geist, II, S. 361. Jhering, Geist, I, S. 36. Jhering, Unsere Aufgabe, S. 10 - 11. Jhering, Geist, I, S. 40.
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produziert werden, da sie i n den Verallgemeinerungen und i n den Abstraktionen rein logischer Natur impliziert sind, die, ausgehend von den ursprünglichen Äußerungsformen des Rechts, gebildet werden. Die von der Wissenschaft gebildeten Abstraktionen finden nicht immer unmittelbare Anwendung. Oft vergeht eine längere Zeit, bis sie praktisch verwertet werden, manchmal ein Jahrhundert, bis eine von ihnen zum Bewußtsein gebracht wird: „Und wäre auch gar kein Nutzen abzusehen, so ist er (der Rechtssatz) eben da seiner selbst wegen, er existiert, weil er nicht nicht-existieren kann 5 9 ." Diese produktive Tätigkeit der höheren Jurisprudenz unterliegt einer Notwendigkeit logischer Natur. Sie ist aber zugleich freie Kunst, die Rechtswesen schafft, die ein eigenes Leben und eine eigene Freiheit besitzen, die sich miteinander verbinden und dabei eher die Ästhetik als die Logik achten. Eine Jurisprudenz, sowohl Wissenschaft als auch Kunst, die sich auf die Logik und die Ästhetik stützt, eine solch höhere Jurisprudenz „läßt sich nicht mehr durch die Geschichte i n Verlegenheit setzen", wie Jhering ohne Zögern behauptet 60 . Und i n der Tat gelingt es Jhering, das Recht und die Jurisprudenz von der Geschichte zu emanzipieren. Er geht von der Voraussetzung aus, das Recht sei Abstraktion der materiellen sozialen Verhältnisse, die sich i n der Rechtsform ausdrücken und i n einem System von Abstraktionen festgelegt sind, i n dem sie sich objektivieren. Diese Objektivierung der Verhältnisse führt gegenüber der materiellen Instanz, die sie bedingt, ein abgesondertes und selbständiges Dasein. Es gelingt i h m aber nicht, diesen Prozeß i n seiner ganzen Entwicklung zu erfassen, da er sich nicht bewußt wird, daß die sozialen Verhältnisse selbst abstrakt sind. Sie werden von objektiven Formen beherrscht, i n denen sich ihre Emanzipation als Indifferenz, Absonderung ausdrückt. Jhering erfaßt nur die rechtliche Seite dieses Emanzipationsprozesses und bestimmt ihn als selbständigen Prozeß des Rechts und der Jurisprudenz. Er ist der Ansicht, daß die wirkliche Entwicklung des Rechts nur aus dem inneren System der i n ihrer unveränderbaren Identität bestimmten Abstraktionen entstehen kann, d. h. aus dem Inneren des Wissenschaftssystems. Sein erkenntnistheoretischer Entwurf, die Entwicklung des Rechts ausgehend von seinen Formen, die i n der Substanz der Abstraktionen verewigt sind, darzustellen, ist ein Entwurf, der den wirklichen Emanzipationsprozeß der Rechtsform darstellt, aber darauf abzielt, die Verhältnisse, aus denen die Abstraktionen erzeugt werden, zu erhalten 61 . Die Rechtsform erscheint, endlich 59
Jhering, Unsere Aufgabe, S. 18. Jhering, Unsere Aufgabe, S. 16. 61 So auch Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre, S. 123: „Solche Rechtswissenschaft mochte der Rechtfertigung und Erhaltung bestehender Rechtszustände dienen." 60
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von der Bedingtheit der materiellen Instanz befreit, als rein logisches Produkt, das die Prozesse der wirklichen Emanzipation der sozialen Verhältnisse beherrscht und blockiert. b) Geschichte des Rechts und Geschichte der Verdrängung der materiellen Instanz Jhering vollzieht die methodologische Umkehrung der Rechtswissenschaft, da er das Recht von äußeren, nötigenden Instanzen freihält. Er konzipiert es als einen geschlossenen Organismus, als ein vernünftiges System, dessen Vernünftigkeit nun nicht mehr von der i h m anhaftenden materiellen Instanz des Mannigfaltigen abhängt, sondern nur von der logischen Geschlossenheit eines Komplexes von verselbständigten Abstraktionen: „Zwischen dem abstracten Recht und dem thatsächlichen Leben, zwischen der abstract-rechtlichen und natürlich-sittlichen Auffassung (besteht) eine ungeheure Kluft® 2 ." Genauso wie die Abstraktion die Konkretheit der sozialen Verhältnisse zerbricht, so daß sie nur i n den abgesonderten Formen leben, i n denen sie sich objektivieren, so vernichtet die Logik die Geschichte i n der Jurisprudenz. Die Selbständigkeit der Wissenschaft ist nur möglich, wenn es ihr gelingt, die Selbständigkeit ihres Gegenstandes zu erfassen. Diesen Versuch hatte Puchta m i t schon größerer Kohärenz als Savigny unternommen. Seine Auffassung von der Vernünftigkeit zwang ihn aber, das nicht überwundene Hemmnis der materiellen Instanz m i t sich zu führen. Seine Anschauungen aber erwiesen sich als vollkommen gültig. Diesen von Puchta vorgezeichneten Weg verfolgt Jhering weiter, und es gelingt ihm, das Hemmnis zu überwinden: er überträgt der Wissenschaft die Aufgabe, den Emanzipationsprozeß des Systems der rechtlichen Abstraktionen zu vollziehen und nur den Reflex des sich i n Wirklichkeit abspielenden Prozesses wiederzugeben. Gerade die Entwicklung der logischen Seite des wirklichen Prozesses innerhalb seines theoretischen Konzepts ist von großer erkenntnistheoretischer Bedeutung. Nachdem die Geschichte ausgeschaltet, die materielle Instanz ausgeschlossen ist, stellt sich das Recht als ein Produkt der Wissenschaft dar. Es ist ein selbständiger Komplex von Abstraktionen, die sich selbst aus ihrem Inneren heraus reproduzieren. Die Jurisprudenz ist reine Methodologie, eine Technik, u m die Reproduktion der Formen zu organisieren. Damit verkehrt er aber die objektive Vernünftigkeit der sozialen Verhältnisse und stellt sie lediglich als rechtliche Vernunft dar, als Objektivität der Formen. Die Wissenschaft entwirrt und entfaltet diese 02
Jhering, Geist, II, 1, S. 299.
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Objektivität und bereichert sie m i t der Darlegung der implizierten Formen. Sie schreibt sich den Charakter einer neue und höhere Abstraktionen produzierenden Tätigkeit zu. Ihre Produktion ist nur dann möglich, wenn das ganze System eine eigene Objektivität erlangt hat, welche Reflex der Objektivität und der Absonderung ist, die sich schon i m System der sozialen Verhältnisse vollzogen haben. Wären die rechtlichen Abstraktionen ursprünglich nur die Kristallisierung von wenig differenzierten und noch nicht vollständig objektivierten Verhältnissen, so tendierten die modernen rechtlichen Abstraktionen dahin, die Emanzipation der i n der Reproduktion ihrer selbst vergegenständlichten sozialen Verhältnisse zu blockieren. Sie legen sie durch die Unveränderlichkeit ihrer ursprünglichen Formen fest. Die Abstraktionen der Rechtswissenschaft sind keine leeren Abstraktionen 8 3 : sie sind genauso wenig leer wie die ursprünglichen Abstraktionen, i n denen sich die Form der sozialen Verhältnisse vergegenständlicht hat. Die Wissenschaft bildet und gestaltet vergegenständlichte Formen, die sich nur dann vom realen Leben der Individuen absondern und dieses beherrschen, wenn dieses reale Leben selbst zu einer Abstraktion geworden ist, die i n der Wirklichkeit des modernen Staates existiert. Jhering begreift die Überwindung des durch die materielle Instanz gebildeten Hindernisses als Unterdrückung der Materialität der w i r k lichen Verhältnisse innerhalb der entwickelten rechtlichen Form. Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte der Unterdrückung dieser materiellen Instanz. Die Geschichte ist die Darstellung der ursprüng63
Wie Jhering selbst in seinen späteren Jahren glauben mußte, als er eine tiefgehende Kritik seines Denkens und der Begriffsjurisprudenz, innerhalb der sich dieses Denken identifizierte, unternahm. Der späte Jhering wird die Leere, den abstrakten Logizismus und die begriffliche Erstarrung seiner eigenen Rechtskonstruktion kritisieren; er wird beabsichtigen, die Wissenschaft zur Wirklichkeit und Konkretheit zu zwingen, indem er diese angeblich leeren Stellen durch eine „realistischere" Teleologie und einen „realistischeren" Soziologismus auffüllen wird. Der gleiche Weg wird — wie wir später sehen werden — von den Vertretern der Interessenjurisprudenz verfolgt werden. Die Selbstkritik Jherings ist steril und epistemologisch unfruchtbar, da sie auf einer falschen Voraussetzung aufbaut, der Voraussetzung nämlich, daß die Abstraktionen der Wissenschaft leer sind. Sie sind jedoch nicht leer, sondern angefüllt, und zwar ist ihr Angefülltsein das gleiche der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, die in ihnen ihre eigene Vergegenständlichung und Entfremdung äußern: diese Verhältnisse sind zwar abstrakt, doch ihre Abstraktheit ist nicht logischer Natur und nicht leer. Wie also das Hinzufügen eines Ziels die Abstraktion, an die es sich anhängt, nicht konkret macht, so gibt es auch der Wissenschaft keine Konkretheit, welche immer noch gezwungen ist, jener ursprünglichen Instanz zu folgen und sie zu entfalten. Für eine allgemeine Kritik der „mystifizierten Dialektik" der reinen Begriffe s. G. della Volpe, Rousseau e Marx, S. 163 ff., insb. S. 167.
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liehen, von der Materialität durchsetzten Äußerungen des Rechts h i n zu den höheren, emanzipierten Äußerungen, d. h. die Entwicklung von der der Abstraktion — als vernünftiger Instanz — anhaftenden Mannigfaltigkeit h i n zur durch die Wissenschaft geschaffenen systematischen Einheit. I n dieser organischen Einheit erscheint die Geschichte des Rechts, eine Geschichte der Absonderung und der Isolierung der rechtlichen Form, als Produkt der Wissenschaft. Ihre innere Notwendigkeit w i r d aber i n eine logische Notwendigkeit, i n eine Tautologie verkehrt. Die Produktivität der Geschichte verkehrt sich i n die Produktivität der Wissenschaft. Diese Verkehrung ist jedoch nur möglich, weil i n Wirklichkeit die moderne Geschichte den Enteignungsprozeß der Vernünftigkeit als ein Mittel darstellt, über das die Vielfältigkeit verfügt, als Mittel, an dem alle teilhaben können, als Eigenschaft des Individuums. Gleichzeitig stellt sie den Konzentrationsprozeß der Vernünftigkeit als Eigenschaft des Systems dar, des Rechtssystems, des ökonomischen und des politischen Systems. Die rechtliche Seite dieser Prozesse ist von Jhering m i t besonderer Gründlichkeit erfaßt worden. Er schreibt, daß „die Produktivität der Geschichte des Rechts die Entwicklung des Rechtsorganismus zum Gegenstande hat" und daß „die Zeit durch das System verdrängt werden soll, letzteres soll sich aus sich selbst heraus frei entwickeln, ohne durch die Zeit beengt zu sein, und nur soweit, als letztere imstande ist, sich zu einem systematischen Moment zu gestalten, soll sie Z u t r i t t finden" 64. Die Verdrängung der Zeit ermöglicht, Recht zu produzieren und damit endgültig die Vernichtung der materiellen Instanz i n der Mannigfaltigkeit ihrer historischen Äußerung zu vollziehen. I n der Zeit drückt sich der Widerstand und das Hindernis des Verschiedenen, des Konkreten gegenüber der Logik und dem System der Formen aus. Zu einem Moment des Systems reduziert, besteht die Zeit als gegenwärtige Zeit nur durch die Abstraktion, da die rechtliche A b straktion eine Form ewiger Gegenwärtigkeit ist. Die gegenwärtige Zeit ist die Zeit der Abstraktion. Das Konkrete gehört der vergangenen Zeit an: die materielle Instanz verkörpert ein Bedürfnis der Vergangenheit, welches die Gegenwart verdrängt hat. Der Versuch Savignys, die Gegenwart zu legitimieren, endet i n einer schlechten Apologie der Vergangenheit: den Charakter der modernen Zeit als Zeit der Abstraktion zu begreifen, kann nicht gelingen, da er i n der Vergangenheit den notwendigen Charakter der Gegenwart, die Wahrheit der Vergangenheit sucht. Jhering hingegen erfaßt die Gegenwart als die Zeit der Abstraktion, die sich emanzipiert hat und sich gerade als Emanzipation von der Vergangenheit als Zeit des Konkreten legitimiert, so daß die Gegenwart eine Hypostase ist, da ihre Existenz jede Voraussetzung verdrängt 64
Jhering, Geist, I, S. 69,75.
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hat. Das Recht legitimiert sich als Form der Gegenwart, als universelle Abstraktion; die Gegenwart als Zeit der Abstraktion findet i m Recht ihre universelle Form, ihren allgemeinen Ausdruck, nicht nur weil die Gegenwart die Zeit des Rechts ist, sondern weil das Recht die universelle Form ist, die die Gegenwart beherrscht. Nur i n der gegenwärtigen Zeit gelangt das Recht zu seiner höchsten und vollständigsten Entwicklung als universelle Form, die die Zeit beherrscht: das Recht w i r d jetzt zur abstrakten Verbindung zwischen den zerbrochenen Handlungssystemen. Es ist die gültig gesetzte Abstraktion der Handlung: „So ist denn der Geist des Volkes und der Geist der Zeit auch der Geist des Rechts 65 ." „Die positiven Rechtssätze sind die gegebenen Punkte, durch welche die juristische Konstruktion ihre Konstruktionslinie hindurch legen muß" 6 6 , schreibt Jhering, indem er das erste Gesetz der juristischen Konstruktion erläutert. Dieses Gesetz legt fest, daß die durch die Wissenschaft gebildete juristische Konstruktion den positiven Stoff „decken" muß i n dem Sinne, daß „die Jurisprudenz hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung des Stoffes vollkommen frei ist, insofern i h m nur i n der Form, die sie i h m verleiht, dieselbe praktische Kraft verbleibt, wie i n seiner bisherigen" 67 . Aufgrund dieses Prinzips ist die Jurisprudenz an den positiven Rechtsstoff gebunden, ihre Freiheit ist durch die Übereinstimmung mit dem Stoff bedingt: die höhere Jurisprudenz „ist an das Gesetz gebunden", behauptet Jhering ohne Zögern 68 . Diese Aussagen könnten den Gedanken an eine Widersprüchlichkeit i n der Auffassung der höheren Jurisprudenz nahelegen. I n Wirklichkeit aber sind diese Aussagen wenig kohärent m i t dem B i l d der höheren Jurisprudenz, wenn man nicht i n Betracht zieht, daß Jhering sie kurz zuvor als eine Wissenschaft definiert hat, „die trotz des Positiven i n ihrem Gegenstand sich als Naturwissenschaft auf geistigem Gebiet bezeichnen läßt" 6 9 . Jhering hat das Prinzip der Positivität des Rechts und ihrer kontingenten Basis zur Voraussetzung der zur reinen Methodologie reduzierten Rechtswissenschaft genommen. Er sieht diese kontingente Basis klarer als Puchta. Dies ergibt sich aus der evolutiven Auffassung der rechtlichen Abstraktion. Hier aber liegt der Kern des Problems. Die Kontingenz w i r d bei Jhering auf einer organisch-evolutiven Ebene legitimiert: die kontingente Abstraktion des modernen Rechts ist End65 66 67 68 69
Jhering, Geist, I, S. 45. Jhering, Geist, II, 2, S. 371. Jhering, Geist, II, 2, S. 373. Jhering, Geist, II, 2, S. 374. Jhering, Geist, II, 2, S. 361.
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ergebnis und Zusammenfassung der Geschichte der rechtlichen Form. Die Kontingenz w i r d von der Wissenschaft durch logische Verallgemeinerung und Konzentration erfaßt und i n der modernen Abstraktion des Rechts festgelegt. Unmittelbar auf die Form bezogen, erscheint sie als nicht mehr kontingent. Jhering verschiebt damit sein Interesse von der Kontingenz auf die nicht mehr kontingente Form. I m System des Rechts verschwindet die Kontingenz zusammen mit der Zeit und der Geschichte, an die sie gebunden ist. Sie ist aufgehoben i n einer nicht mehr kontingenten Gegenwart, i n der sich die Form verwirklicht. Die gegenwärtige Zeit als die Zeit der Abstraktion w i r d zum Moment des Systems: zu einem Moment jedoch, i n dem das Werden der Zeit i n seinem gesamten Prozeß aufgehoben ist, gerade weil dieses Werden, die Geschichte der Unterdrückung der materiellen Instanz als kontingenter Instanz, sich i n der Form zusammenfaßt. Die Jurisprudenz bildet sich i n der Geschichte. Damit ist sie an die Kontingenz gebunden, die Voraussetzung der methodologischen Umkehrung der Wissenschaft bleibt. I h r Objektbereich ist aber nicht mehr die Kontingenz der Abstraktion, sondern die Form, die die Kontingenz als i n der Abstraktion der Gegenwart verwirklicht darstellt. Die Abstraktion der Gegenwart ist zum Wesen, zur Natur gewordene Abstraktion. Deshalb kann Jhering sagen: die juristische Konstruktion ist zwar an das Gesetz gebunden, aber die Jurisprudenz ist zugleich eine Naturwissenschaft des Objektiven i n ihrem Objekt. Die Vorgehensweise Jherings bringt zahlreiche Konsequenzen m i t sich. Der eigentliche Bereich der Wissenschaft, so behauptet er, ist Produktivität i m Gegensatz zum rezeptiven Charakter der bisherigen Rechtswissenschaft. Produktiv ist aber das Wesen des Rechts, sind jene Abstraktionen, die den Gegenstand der höheren Jurisprudenz ausmachen, die Rechtsinstitute und Rechtsbegriffe, aus denen die materielle Instanz eliminiert wurde. Die höhere Jurisprudenz hat i n diesen Rechtsinstituten und Rechtsbegriffen lediglich die Kontingenz i n ihrer gegenwärtigen Form als Naturprodukt herauskristallisiert, i n dem sich der Geist des Rechts verwirklicht. Dieses Produkt ist aber tatsächlich nichts anderes als der logische Ausdruck der Kontingenz i n ihrer gegenwärtigen Form. Die Produktivität der Wissenschaft als Produktionsvermögen von Recht führt zu einem ständigen Anwachsen der unterdrückenden Formen der materiellen Instanz, vom begrenzten Blickwinkel der gegenwärtig produzierten und schon gegebenen Kontingenz her gesehen. Ein zweifaches Ergebnis w i r d erreicht: 1. Die Produktion von Instanzen, die die Rechtskontingenz i n ihrer gegenwärtigen Form — das positive Recht — legitimieren, nimmt zu; 2. das System dieser Kontingenz w i r d zu einem geschlossenen System, das durch sein Abgeschlos-
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sensein von einer Gefahr bedroht ist: als natürliche Folge seiner Struktur trägt es die Unmöglichkeit einer sich entwickelnden Stabilisierung i n sich; seine Struktur schließt die Möglichkeit aus, eine darüber hinausgehende Kontingenz zu produzieren, die nicht schon i n den Prämissen des Systems enthalten und legitimiert wäre. Die Entwicklung des Rechts, von sich selbst ausgehend, löst sich auf bei dem Versuch einer Stabilisierung des bestehenden positiven Rechts. Dieser Versuch beraubt das Rechtssystem jeglicher Möglichkeit weiterer Produktion von Kontingenz, da das bestehende Recht als Ausdruck des Wesens des Rechts festgelegt und legitimiert worden ist. Die Jurisprudenz hingegen ist produktiv, sie produziert aber weitere Unterdrückungsformen der materiellen Instanz, die unmittelbar abhängig sind. Die wirkliche Entwicklung ist ein Prozeß, der nur der Entwicklung der juristischen Form, nicht der Produktion neuer Kontingenz folgt. Jhering spezifiziert die methodologische Umkehrung der Wissenschaft als eine Tätigkeit, Unterdrückungsformen der materiellen Instanzen zu produzieren. Diese Tätigkeit verfügt aber über sehr begrenzte Möglichkeiten, da sie an das Ausmaß der ursprünglich von der Kontingenz erzeugten Unterdrückung, an den von i h r erreichten Grad von Komplexität gebunden ist. Da das Unterdrückungssystem keine weitere und komplexere Kontingenz schaffen kann, ist es — i n Wirklichkeit — ein statisches System, das nur das erklären kann, was es schon beinhaltet. Die große Errungenschaft Jherings besteht darin, die Tätigkeit, Unterdrückung zu erzeugen, als den Charakter der methodologischen Umkehrung der Rechtswissenschaft herausgestellt zu haben. Seine Grenze ist der Mangel einer Theorie der Kontingenzerzeugung, einer dynamischen Theorie der Rechtsordnung. Dies zwang ihn, die Welt der Wissenschaft auf das Maß der schon produzierten Kontingenz zu begrenzen, auf genau bestimmte Repressionsgrade. Zur Produktion weiterer und komplexerer Unterdrückungsformen fehlte i h m der dazu notwendige Rohstoff. Die Grenze Jherings ist zugleich die Grenze der Methodologie, die einer Jurisprudenz innewohnt, der eine Theorie des Rechts fehlt, eine Theorie der Produktion normativer Kontingenz, die als eine ursprüngliche, voraussetzungs- und grenzenlose Unterdrückungsinstanz unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet 70 . Kelsen öffnet das System m i t einer Theorie, die dem Recht die Eigenschaft zuspricht, sich ohne Voraussetzungen zu reproduzieren. Er verschiebt das Interesse von der Ebene der schon produzierten Kontingenz auf die Ebene der Produktion von Kontingenz selbst. 70
Die nur aus der Theorie heraus definierbar sind.
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Exkurs über die Interessenjurisprudenz Rechtssätze und Interessenlage — Die Aufgabe der Rechtswissenschaft M i t dem A r t i k e l aus dem Jahre 190971, der den Titel trägt: „Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die w i r bekämpfen?" leistet Heck nicht nur einen interessanten Beitrag zum Verständnis der Begriffsjurisprudenz, sondern auch zum angeblichen Bruch zwischen der Begriffsjurisprudenz und der Methode der lnteressenjurisprudenz und entwickelt einen kurzen Abriß der Rechtswissenschaft: „ W i r verstehen unter ihr (d. h. der Begriff sjurisprudenz) diejenige Richtung der Jurisprudenz, welche die allgemeinen Gebotsbegriffe als Grundlage derselben Rechtssätze behandelt, durch deren Zusammenfassung sie tatsächlich entstanden sind 72 ." Heck w i r f t dieser wissenschaftlichen Auffassung vor, eine Inversion zu vollziehen: durch reine Inversion leite sie das ab, was i n Wirklichkeit Erstes sei; die allgemeinen normativen Begriffe würden aus einem Zusammenhang von Rechtssätzen deduziert, die ihnen nicht vorangestellt sind. Die falsche Vorgehensweise der Rechtswissenschaft bestehe gerade darin, diesen allgemeinen normativen Begriffen eine Kraft und eine kreative Fähigkeit zuzusprechen, die sie nicht besitzen. Sterilität und Abstraktheit der Wissenschaft und ihrer Begriffe sind die unmittelbaren Folgen der „Methode der Inversion". (Man denke nur an Savigny und an das von i h m geschaffene Modell der Rechtswissenschaft: er betrachtet eben den organischen Zusammenhang des Instituts als prius logicus des wissenschaftlichen Aufbaus des Rechtssystems.) I n einem solchen Modell „ersetzt die Inversionsmethode den w i r k l i c h existierenden, unendlich wichtigen Zusammenhang zwischen Rechtssatz und Lebensinteresse durch einen anderen, einen logischen, der nur fingiert ist, so sehr, daß der wirkliche Zusammenhang verschwindet" 7 3 . Die Hauptaufgabe der neuen Rechtswissenschaft besteht i n der Erforschung des tatsächlichen Zusammenhangs zwischen den Rechtssätzen und der Interessenlage. Der entscheidende Einwand Hecks richtet sich deshalb gegen die angebliche produktive Fähigkeit der Rechtswissenschaft: bedeutet das Recht Regelung von Interessenkonflikten, so kann nur das Erforschen der für das Recht entscheidenden Interessenlagen zu einer Formulierung neuer normativer Komplexe führen, nicht aber eine Tätigkeit, die 71 72 73
s. Heck, Was ist diejenige Begriff sjurisprudenz? Heck, Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz?, S. 42. Heck, Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz?, S. 45.
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darauf gerichtet ist, Ordnung i n den Komplex von Begriffen zu bringen, die aufgrund schon vorhandener Regelungen bestimmter Interessen aufgebaut worden sind. Um diese Behauptungen Hecks richtig zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, daß er weit davon entfernt ist, eine Produktion des Rechts i m Sinne eines ständigen Werdens des Rechts vorauszusetzen, das von dem Sich-Abwechseln der Interessenlagen ausgeht. Heck bestreitet weder die Positivität als wirkliche Existenz der Rechtsordnung noch die spezifische Existenz der Norm als ihre Gültigkeit. Er behauptet nur, das Interesse sei der Antrieb der rechtlichen Regelung, und der Rechtssatz drücke eine bestimmte Interessenlage aus. Jene Rechtsauffassung, die die Priorität des Instituts gegenüber der Norm festsetze — Priorität des allgemeinen Begriffs gegenüber dem Rechtssatz — sei i n Wirklichkeit eine Umkehrung, und die Methode, die zu dieser Folge führe, müsse ihrerseits umgekehrt werden. Von dieser Prämisse ausgehend, stellen sich der dogmatischen Rechtswissenschaft hauptsächlich zwei Aufgaben: „Die erste Aufgabe besteht i n der Normgewinnung. Die Wissenschaft bereitet die Anwendung und Ergänzung der autoritativen Rechtsnormen vor. Der Forscher vergegenwärtigt sich die bekannten und die denkbaren Interessenkonflikte, sucht die seiner Ansicht nach richtige Entscheidung und schlägt sie der Praxis vor. Diese Aufgabe stellt Probleme der Normierung. Die zweite Aufgabe besteht i n der Ordnung, i n der Herstellung einer Übersicht über die ungeheure Mannigfaltigkeit des Lebens und des Rechts durch Vereinfachung und Darstellung, indem Ordnungsbegriffe, Allgemeinbegriffe durch Hervorheben der gemeinsamen Merkmale gebildet werden, bis sich durch immer weitergehendes Zusammenfassen ein übersichtliches System ergibt. Diese Aufgabe stellt Probleme der Formulierung 7 4 ." Entsprechend dieser Aufgabenstellung, die die Interessenjurisprudenz der Wissenschaft zuschreibt, findet die Betrachtung des Interesses mit dem Anspruch, i m Rahmen der klassischen Methodologie eine Reihe von Transformationen zu bestimmen, Eingang i n den erkenntnistheoretischen Komplex: die Interessenvorstellung hat einen normativen Wert und einen Erkenntniswert. Die Frage, was das Recht sei, w i r d auf einer genetischen und strukturellen Ebene beantwortet. Die Interessenvorstellung hat noch einen Anerkennungswert bezüglich der Findung der Normenkomplexe, die die Interessen i n ihrer verschiedenen Gestalt regeln, und einen produktiven Wert i m Hinblick auf die Rechtsanwendung. Diese Vorstellung beinhaltet zugleich den Wert und den Maßstab des Werts. 74
Heck, Begriffsjurisprudenz und lnteressenjurisprudenz, S. 89.
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Gerade diese Mehrwertigkeit der Interessenvorstellung verwandelt das neue wissenschaftliche Instrument, das Heck vom späten Jhering übernommen hat, i n einen konfusen Begriffsapparat, der nur zum Zwecke einer Auslegungsmethode nützlich ist, sich aber als steril erweist, wenn man i h n zur Grundlage einer Erkenntnistheorie macht, die vorgibt, eine Alternative zur Umkehrung der Methodologie zu sein. Sowohl Heck als auch Stoll müssen sich dem Problem der Abstraktion gegenüber behaupten: welches sind die Interessenkonstellationen, von denen die praktische Rechtswissenschaft ausgeht, wenn nicht die der positiven Rechtsordnung entnommenen Abstraktionen? Heck und Stoll bleiben der traditionellen Anschauung verhaftet: sie gewinnen eine Deontologie der Interessen, indem sie aus dem positiven Recht eine Reihe von Abstraktionen gewinnen, die sie als die Anschauungen der tatsächlichen Interessenlagen bezeichnen. Sie erhalten ein „Sollen", das aber bereits eine anerkannte Existenz i m Sein des positiven Rechts hat. I m Unterschied zu den Prinzipien einer Deontologie, die der positiven Wirklichkeit entgegentreten könnte, haben die von der Jurisprudenz hervorgehobenen Interessenkonstellationen weder eine präjuristische Existenz, die für die Dogmatik irrelevant wäre, noch einen metajuristischen Wert, da sie — bezogen auf die Recht produzierenden Prozesse — keine normativen Instanzen bilden. Die Interessenjurisprudenz führt eine wirkliche Umkehrung durch, die auf methodologischer Ebene i m wesentlichen identisch ist mit der, die Savigny vorgeworfen w i r d — d. h. die der positiven Rechtsordnung entnommenen Interessenkonstellationen als Deontologie darzustellen. Die Nützlichkeit ihrer Erforschung als begrifflicher und heuristischer Apparat, als ideologische Stütze und praktische Orientierung bleibt für die Rechtsanwendung unbestritten, aber unbestritten bleibt auch die erkenntnistheoretische Irrelevanz dieses Apparates, der für die Wissenschaft keinerlei Wert besitzt: seine Funktion ist weder systematisch noch wissenschaftlich, sondern unmittelbar praktisch. Es handelt sich ausschließlich u m eine Anerkennungsfunktion, entfaltet nach teleologischen Prinzipien, die i m Rechtsfindungs- und Rechtsanwendungsprozeß wirksam werden. Die Interessenjurisprudenz ist keine theoretische Alternative zur methodologischen Umkehrung der Rechtswissenschaft, denn die angeblichen Veränderungen, die die Interessenjurisprudenz beansprucht durchgeführt zu haben, berühren nicht einmal den Rahmen der Methodologie und ihrer Ausdifferenzierung. Sie stellen nur den Versuch dar, die i n diesem Sinne für unfähig gehaltene Methodologie von der Aufgabe zu befreien, die i m Rechtssystem produzierte Kontingenz zu legitimieren: die Legitimierungsfunktion w i r d i n erster Linie der genetisch-strukturellen Betrachtungsweise des Rechtsstoffs zugeschrieben. U m diese Vorhaben durchzuführen — ohne
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dabei i n eine A r t naturrechtlichen Positivismus zu verfallen, dessen Legitimierungskraft dann der erkenntnistheoretischen Sterilität der übernommenen Kategorien entsprechen würde —, nimmt die Interessenjurisprudenz den Aufbau zweier untereinander verschiedener Rechtssysteme zu Hilfe, die gegenseitig indifferent sein müssen: das erste — das äußere, formal-logische und der dogmatischen Rechtswissenschaft eigene System — ist rein methodologischer Natur, das zweite ist das innere System des Rechts und auf die praktische Rechtswissenschaft gerichtet. „Die wissenschaftliche Begriffsbildung", so schreibt Stoll, „erfolgt aufgrund der vorhandenen positiven Rechtsordnung. Die Wissenschaft leiten hierbei keine sozialen Zweckvorstellungen, sondern i h r kommt es nur auf die Beherrschung und Ordnung des Gesetzesstoffes an. Sie sucht die einheitlichen Gesichtspunkte für das System des positiven Rechts zu gewinnen (vgl. Riimelin, Windscheid, S. 3,40). Sie hat hierbei also eine erkenntniskritische Aufgabe zu leisten. Bei der Untersuchung der Rechtssätze gewinnt sie durch Absehen von Nebensächlichem und Betonung des Gemeinsamen und Wesentlichen ihre Ordnungsbegriffe (ζ. B. subjektives Recht, unerlaubte Handlung) 7 5 ." So gestaltet sich das äußere System; zugleich muß aber gesagt werden, daß die Gattung der i n i h m geschaffenen Begriffe „weder kausal für die Rechtsbildung noch maßgebend für die Rechtsfindung" sein kann. Der Gehalt der erkenntniskritischen Aufgabe, wie sie oben der Wissenschaft zugesprochen wurde, muß verdeutlicht werden. Es handelt sich i n Wirklichkeit u m ein Erkennen und Kritisieren i m Sinne eines „formallogischen Subsumtionsverfahren", „des Rechnens m i t Begriffen", „der Konstruktion bestimmter Tatbestände unter einen Rechtssatz" 76 . Das äußere System hat folglich eine anerkennend-beschreibende Funktion i n bezug auf den Rechtsstoff. Die Interessenbegriffe besitzen aber zugleich normativen Wert und Erkenntniswert. Solche Begriffe sind zur Konstruktion des äußeren Systems ungeeignet. „Interessenlage, Fortbildungsinteresse, Stabilitätsinteresse usw." sind dem inneren System eigene Begriffe. Dieses „innere System" ist von der Tätigkeit der Wissenschaft unabhängig, bereits i n den Lebenszusammenhängen gegeben, so daß man nur diese abzubilden braucht, u m es zu gewinnen 77 . Dieses System besteht aus dem Zusam75
Stoll, Begriff und Konstruktion, S. 172-173; in der zit. Stelle bezieht sich Stoll auf Rümelin, Windscheid, S. 3,40. 76 Stoll, Begriff und Konstruktion, S. 183. 77 So Larenz, Methodenlehre, S. 61, der sich auf Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 149 - 150, bezieht: „(die einzelnen Grundelemente, die Konfliktsentscheidungen) beziehen sich auf Theile des Lebens, die durch die mannigfachsten Zusammenhänge und Übereinstimmungen miteinander verbunden sind."
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menhang der Normen und Entscheidungen, welche Lösungen für die Konflikte liefern, die den verschiedenen Lebenszusammenhängen entnommen werden können. Die Unterschiedlichkeit beider Systeme ist nur bloßer Schein, und sie kann nur ein solcher sein, weil die gesamte Bildung der Interessenjurisprudenz auf einer tatsächlichen Verkehrung gründet: beide Systeme unterscheiden sich nur durch den Anspruch, den sie erheben, sowie durch den deskriptiven Charakter des ersten und den präskriptiven Charakter des zweiten. Aufgrund der Tatsache, daß das erste System durch logische Konkretion der i m Hechtssystem vorhandenen Instanzen gebildet wird, das zweite durch teleologische Konkretion der i n den rechtlichen Abstraktionen vorhandenen materiellen Instanzen, die aber Gegenstand des ersten Systems sind, ergänzen sich beide Systeme. Sie scheinen nur i n entgegengesetzte Richtungen zu führen, das eine nach oben, das andere nach unten, das erste zum Abstrakten, das zweite zum Konkreten hin. Sie sind aber ein und dasselbe, nur m i t verschiedenen Namen versehen. Das innere System, bestimmt durch allgemeine klassifizierende Begriffe, ist i m wesentlichen identisch m i t „derjenigen Gliederung des Rechts, die schon bisher für Gesetzgebung und Wissenschaft bestimmend w a r " 7 8 , seine Struktur ist nichts weiter als die Struktur des äußeren Systems: die Duplikation des einen Gegenstandes ist offensichtlich. Diesen Sachverhalt hat auch Heck verstanden, denn er schreibt, die Übereinstimmung der beiden Systeme sei vollkommen verständlich: „Die Interessenjurisprudenz ,bedingt' keine Abschwächung der Gesetzestreue 79 ." Diese Duplikation reduziert die wissenschaftliche Praxis der Interessenjurisprudenz auf die Rolle einer Wiederholung der methodologischen Umkehrung: einer Wiederholung, der jegliche Vertiefung der Natur der rechtlichen Abstraktion fern liegt und daher mit der ursprünglichen Forderung der Wissenschaft, eine Alternative zu jener Umkehrung zu sein, unvereinbar ist. 3. Kelsen a) Die Frage: „Wie ist positives Recht — als Gegenstand der Erkenntnis, als Objekt der Rechtswissenschaft möglich?" Das System der Epistemologie des Rechts muß — wie bereits dargestellt — zwei wesentliche Funktionen übernehmen: Lösungen für die Kontingenzfrage erarbeiten und die Rechtskategorie als rein for78 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 153. 79 Heck, Interessen jurisprudenz und Gesetzestreue, S. 32 - 35, S. 35.
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male Instanz bilden. Positivität und Abstraktion sind die wesentlichen Merkmale des modernen Rechts. Die Schwierigkeiten, denen die Epistemologie des Rechts i n ihrer ersten Entwicklung begegnet und die i n unterschiedlicher Stärke Widerstand leisten, entstehen aus der Unfähigkeit der Wissenschaft, die Kontingenz i n ihrem inneren Bezug zur Selbständigkeit, zur Liberalisierung der rechtlichen Abstraktion zu erfassen, d. h. i n ihrem notwendigen Bezug zur Lösung der Wahrheitsfrage und zur Überwindung der Metaphysik. Diese Schwierigkeiten entstehen weiterhin aus der Unfähigkeit, die Rechtsform als ursprünglich abgesonderte Form zu begreifen, als eine objektive Existenz, als einen Sinnbereich, dessen Objektivität aus einem besonderen Produktionsprozeß der Sinne selbst entsteht und nicht als Ausdruck von etwas Entfremdetem, als eine einen Inhalt vortäuschende Form. Die Entwicklung der Rechtswissenschaft beschreibt einen Kreis: der Versuch, das Problem der Positivität zu lösen, scheitert an der Kontingenz, so daß die Rechtsform zu einer festen Kristallisation von m i t sich selbst identischen Abstraktionen verabsolutiert wird. Dadurch w i r d das Prinzip der Positivität des modernen Rechts selbst abgewertet. Die naturrechtliche Versuchung blüht wieder auf. Der Versuch, die Selbständigkeit der Rechtsform zu begreifen, läßt das Problem der Verdrängung der materiellen Instanz ungelöst, da die Positivitätsfrage ohne Antwort geblieben ist. Aber gerade das ungelöste Problem der Verdrängung ist Bedingung für die Selbständigkeit der Form selbst und läßt sie als Form eines bestimmten Inhalts erscheinen. Dieser Problemkomplex kann nur durch ein tiefgehendes Überdenken der Errungenschaften der Rechtswissenschaft überwunden werden. Diesem Unterfangen ist die Arbeit Kelsens gewidmet. Sie folgt den Spuren der Rechtswissenschaft, die sich trotz der Hindernisse bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zu einer einheitlichen Strategie entwikkelte, m i t dem Ziel der Behauptung der Positivität des Rechts. Kelsen gelingt es, die Anstrengungen, die Errungenschaften, zugleich aber auch die Irrwege der methodologischen Umkehrung der Rechtswissenschaft i n einem einheitlichen und systematischen Komplex der Rechtsepistemologie zu erfassen und zu entwickeln. Es ist wesentlich darzustellen, inwiefern und auf welche Weise Kelsen den Rahmen dieser Epistemologie schließt, und dabei einen neuen Problemkreis eröffnet, der für das zukünftige wissenschaftliche Arbeiten i m Bereich des positiven Rechts richtungsweisend sein wird. M i t Kelsen ist der Gipfel des positivistischen Rechtsbewußtseins erreicht. Es ist darauf gerichtet, das Prinzip der Positivität des Rechts zu behaupten und die Selbständigkeit der Rechtskategorie zu erfassen und zu sichern. Dies ist zugleich der Ausgangspunkt für theoretische Reflexionen über das Recht, die
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darauf abzielen, das Rechtssystem als ständig reproduzierende normative Kontingenz zu stabilisieren. Kelsen geht von der Annahme aus, die Trennung zwischen Sein und Sollen, zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Tatsache und Wert sei unüberbrückbar. Dies ermöglicht ihm, die Welt des Rechts als Welt des Sollens zu ordnen, als eine „spezifische Technik der gesellschaftlichen Organisation" 80 , als System von normativen Bedeutungen, das die Tatsachen und Ereignisse der Welt der Natur objektiv deutet. Das Recht als System normativer Deutungen gehört der Welt der Werte an: es bildet ein Wertsystem, das durch die Objektivität der Wertungen, die den Tatsachen und Ereignissen der Welt der Natur zugeschrieben werden, bestimmt ist. Die Objektivität der Wertungen ist aber ausschließlich von den rein formellen Bedingungen ihrer Produktion abhängig, von ihrer Geltung als spezifischer Existenz der Deutung selbst. Die Objektivität des Sinnes ist keineswegs absolut. Sie wäre es nur dann, wenn sie aus der Natur abgeleitet und als universell wahr hingestellt würde. Diese Objektivität ist nur hypothetisch-relativer Natur, ihre Bedeutung ist rein formal. Die Gültigkeit gründet i n ihrer spezifischen Existenz. Sie wurde auf eine bestimmte Weise erzeugt bzw. von einem bestimmten Menschen gesetzt 81 . Der Geltungsgrund des gesamten Systems normativer Deutungen beruht auf einer Norm, deren Gültigkeit nicht mehr von anderen Normen ableitbar ist, deren Gültigkeit nicht mehr angezweifelt werden kann. Sie ist nicht gesetzt worden, sondern Voraussetzung für die Möglichkeit von Normsetzung. Nur vorausgesetzt, beinhaltet sie auch nur „die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder — was dasselbe bedeutet — eine Regel, die bestimmt, wie die generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen" 82 . Die Grundnorm liefert dem Normsystem nicht die Begründung seines Inhaltes, sondern den davon unabhängigen Geltungsgrund, der ausschließlich die formellen Produktionsbedingungen der Setzung normativer Deutungen bestimmt. Sie ist lediglich transzendental — logische Voraussetzung für die Interpretation des subjektiven Sinns normativer Deutungen, die als objektiv geltende Rechtsnormen bestimmt werden können. Das Rechtssystem w i r d als eine Welt normativer Deutungen begriffen, deren Kohärenz und Einheit von den formellen Bedingungen ihrer Setzung abhängt. Diese Welt als Sollen, beziehungslos gegenüber den dem Sein anhaftenden mate80 81 82
Kelsen, General Theroy, S. 45. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 11. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 199.
6 De Giorgi
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riellen Instanzen, behält die Trennung bei und leitet ihre Selbständigkeit aus ihrem Innern ab, von den hypothetisch-relativen Wurzeln, auf denen ihre Struktur ruht. Diese Konstruktion des Rechtssystems ermöglicht Kelsen eine umfassende A n t w o r t auf die fundamentalen Fragen der modernen Rechtsepistemologie: „Wie ist positives Recht — als Gegenstand der Erkenntnis, als Objekt der Rechtswissenschaft möglich und wie ist diese möglich? 83 ." Grundlegend für die Definition des Rechts ist die Unterscheidung zwischen „Sein" und „Sollen" 8 4 : „Das positive Recht als Norm ist von seinem eigenen immanenten Standpunkt aus ein Sollen, ein Wert also, und t r i t t als solcher der Wirklichkeit des tatsächlichen Verhaltens der Menschen, dieses als rechtmäßig oder rechtswidrig wertend, gegenüber 8 5 ." Die Juridizität des Sollens ist eng m i t seiner Relativität verbunden: sie besitzt rein formalen Charakter. Sie ist nicht auf einen bestimmten Inhalt bezogen, der aufgrund immanenter Eigenschaften wie „umfassend gut" oder „gerecht" als eine geltende Objektivität erkannt oder ermittelt werden kann. Kelsen verdeutlicht: »„Relativ 4 , das heißt, ein durch einen positiven Rechtssatz vorgeschriebenes Verhalten gilt als »gesollt4 und somit als »richtig 4 nur unter einer Annahme, deren »Richtigkeit 4 , ,Gerechtigkeit 4 selbst aber nicht sichergestellt ist 86 . 44 Die Rechtskategorie läßt sich als eine gesonderte Kategorie kennzeichnen, nicht nur der Natur gegenüber 87 , die als Welt der Kausalität die Welt der Objektivität des Notwendig-Seins ist, sondern auch der Moral und der Gerechtigkeit gegenüber, die die Welt der Freiheit bedeuten. Die Rechtskategorie erscheint nicht wegen ihrer Beziehungslosigkeit zur Natur oder zum Wert als isoliert und abgesondert, ihre Gesondertheit ist nichts anderes als Indifferenz gegenüber der Objekt i v i t ä t der Natur und Indifferenz gegenüber der Subjektivität des Werts. Diese Indifferenz erzeugt ein ambivalentes Verhältnis zwischen Natur und Wert und erfordert eine eingehende Analyse. „Der Wert als Sollen steht der Wirklichkeit als dem Sein gegenüber, Wert und Wirklichkeit — so wie Sollen und Sein — fallen i n zwei verschiedene Sphären 88 . 44 83
Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 66. Kelsen, General Theory, S. 37. 85 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 10. 86 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 10. 87 Vgl. Cerroni, Marx e i l diritto moderno, S. 130 ff.; Russo, Kelsen e il marxismo, S. 17 - 34. 88 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 19. 84
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Was bewertet wird, ist die Wirklichkeit. Die Norm steht über der Wirklichkeit und ist i h r gegenüber indifferent. Die Geltung der Norm ist unabhängig von der durch die Norm gedeuteten Wirklichkeit: die Wirklichkeit — gefangen i n ihrer kausalen Notwendigkeit — bleibt gegenüber der Norm ohnmächtig. Zwischen Sein und Sollen gibt es keinen Übergang. Daß etwas ist, läßt die Folgerung, daß etwas sein soll, nicht zu 89 . Die Norm w i r d durch ein funktionales Netz von Zuschreibungen gebildet, das auf einer willkürlichen Wertauswahl beruht. Die Natur stellt kein Hindernis dar, denn die Norm als Sollen ist gegenüber der Wirklichkeit indifferent. Für sie hat die Natur nur subjektive Bedeutung, ihre Objektivität ist i h r unwesentlich. Das Geschehen und das Sein sind durch die Subjektivität ihrer Bedeutung begrenzt und bleiben i n ihr so lange, bis sie für die Norm relevant werden. Erst die Norm deutet die Natur, indem sie i h r objektive Bedeutung verleiht. Das Sollen der Norm ist die Erzeugung von Objektivität: diese Objektivität stellt dann den Komplex von Tatbeständen dar, die auf der Grundlage eines Geltungsgrundes Recht erzeugen. Als Geltungsgrund kann nur derjenige angegeben werden, der die formalen Geltungsbedingungen der rechtserzeugenden Tatbestände festlegt und gegenüber dem Inhalt der geltenden Formen indifferent bleibt. Nur die Normen, die entsprechend diesem Geltungsgrund erzeugt werden, sind gültig: „Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besonderen Setzungsakt erzeugt werden. Es sind gesetzte, d. h. positive Normen, Elemente einer positiven Ordnung 9 0 ." Spezifische Existenz der Rechtsnorm ist die Geltung. Ihre Objektivität, ihren Wert erhält die Natur erst dadurch, daß eine bestehende, d.h. geltende Norm sie deutet. Seinen objektiv geltenden Sinn erhält das Sollen dadurch, daß es gesetzt worden ist. Sein Wert ist relativ. Erst durch die Setzung, durch seine Existenz, w i r d es objektiv. Seine Indifferenz gegenüber der Natur wiegt schwer. Der der Positivität des Sollens innewohnende objektive Sinn w i r d den isolierten Bestandteilen der Natur zugeschrieben. Diese Zuschreibung bedeutet zugleich eine Aneignung der Natur. Der durch die Rechtskategorie ausgedrückte Sinn, sein Objektiv-Sein entsteht tatsächlich durch die Positivität: „Das positive Recht erscheint i m Verhältnis zum Naturrecht als etwas Künstliches, d.h. als etwas durch einen empirischen — i m Reiche des Seins —, i n der Sphäre des tatsächlichen Geschehens verlaufenden menschlichen Willensakt »Gesetztes4, als ein Sein, als Wirklichkeit, dem das Naturrecht als Wert gegenübersteht 91 ." Erscheint das positive Recht als Wirklichkeit gegen89 90 91
6*
Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 196. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 201. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 10.
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über dem Wert, so ist es die einzige Objektivität des Wertes gegenüber der Subjektivität jenes Wertes. Die i n i h m enthaltene Deutung ist die einzige objektive Existenz des Wertes und als solche wirklich. Diese Existenz ist nicht nur gegenüber dem Wert als einer Subjektivität wirklich, sie ist überhaupt wirklich, da sie die Subjektivität der Natur als objektiv setzt. „Der Inhalt der Grundnorm, d. i. das besondere, historische Faktum, das durch die Grundnorm als erster rechtserzeugender Tatbestand qualifiziert wird, richtet sich durchaus nach dem Material, das als positives Recht begriffen werden soll, nach der Fülle von empirisch gegebenen Akten, die m i t dem subjektiven Ansprüche auftreten, Rechtsakte zu sein, und die objektiv als solche nur gelten können, sofern sie auf einen Grundakt bezogen werden, der — d. i. die Funktion der Grundnorm — als erster rechtserzeugender Tatbestand vorausgesetzt wird 9 2 ." Die Grundnorm, der Geltungsgrund des gesamten Systems gesetzter und damit geltender normativer Deutungen, hat eine doppelte Funktion zu erfüllen: „ein historisch gegebenes Material als flecht 1 zu begreifen und »zugleich4 es als ein sinnvolles Ganzes zu verstehen" 93 . Die Grundnorm ist jedoch keine gesetzte Norm, kein positives Recht. Sie ist rein hypothetische und vorausgesetzte Norm, Bedingung für die Möglichkeit des positiven Rechts als ein geltendes und normatives System. „Die Grundnorm gilt nicht, w e i l sie i n bestimmter Weise gesetzt wurde, sondern sie w i r d — kraft ihres Gehaltes — als gültig vorausgesetzt. Sie gilt, abgesehen davon, daß sie nur hypothetisch gilt, wie eine Norm des Naturrechts 9* Die Gesondertheit der Rechtskategorie stellt die Positivität des Rechts als einen Prozeß dar, der unvermittelt zwischen der ursprünglichen Subjektivität des Seins und der Objektivität verläuft, die „das historisch gegebene Material" kraft der normativen Deutung erhält. „Das Problem der Positivität des Rechts besteht gerade darin, daß dieses zugleich als Sollen und Sein erscheint, obgleich sich diese beiden Kategorien logisch ausschließen 95 ." Die Rechtskategorie ist i n Wirklichkeit gesondert: sie ist genau wie die Norm des Naturrechts reine Subjektivität. Objektiv ist lediglich das historisch gegebene Material, das die Fesseln seiner Subjektivität sprengt und sich als Sollen durchsetzt: „die Grundnorm bedeutet i n einem gewissen Sinne die Transformation der Macht zu Recht"**. 92 93 94 95 96
Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 65. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 65. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 20. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 10. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 65.
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I n der Gesondertheit der Rechtskategorie liegt zugleich ihre Indifferenz: die Subjektivität als das objektiv ausgesonderte Naturfragment ist den Subjektivitäten der Werte gegenüber indifferent und damit auch den Subjektivitäten der Materialien gegenüber, die sich als Tatsachen, als Naturgegebenheiten dem objektiven Sollen des positiven Rechts nicht widersetzen können. Die Materialien bleiben unbeachtet, solange sie nicht als Subjektivität begriffen werden, die objektiviert zur Grundlage der Indifferenz wird. Anders ausgedrückt: Die Tatsache, Gehalt der Grundnorm, Geltungsbedingung des Geltungsgrundes zu sein, fesselt den rechtserzeugenden Tatbestand nur auf der formalen Ebene. Nur deswegen ist das positive Recht eine dynamische Ordnung. Die vom Recht erzeugten normativen Deutungen der Natur sind jeglichem Inhalt gegenüber indifferent und ermöglichen keinen Bezug auf das geschichtlich gegebene Material, aus dem der rechtserzeugende Tatbestand entstanden ist. Die gleiche Ambivalenz, von hypothetischer und relativer Natur, die das Verhältnis des positiven Rechts zum Wert als einem Prinzip der Moral oder Gerechtigkeit kennzeichnet, t r i t t auch i m Verhältnis des positiven Rechts zur Natur i n Erscheinung. Der Wert, der sich i n der Positivität des Rechts ausdrückt, ist eine Subjektivität, die als die einzig objektive Wirklichkeit des Wertes, als objektiv gültiger Wert bestimmt wird. Die Norm ist ein Sollen, ein Wert. Ein formales Setzungsverfahren verleiht i h m objektive Geltung. Daher ist die Gerechtigkeit nur als Legalität erkennbar, denn nur als Legalität kann der subjektive Wert eines Gerechtigkeitsprinzips festgelegt werden und gültig sein: als objektiver, universeller und einziger Wert. Der Wert jedoch bleibt subjektiv, er ist nur Wert. Ist er aber zu einem Prinzip normativer Deutung geworden, so kann er nur ein gesonderter Wert sein, der dann gegenüber der Subjektivität der anderen, ausgeschlossenen Werte indifferent geworden ist. Die Objektivität des zur Norm gewordenen Wertes verdrängt die Subjektivitäten der anderen Werte. Dies ist der einzig bestehende Wert. Er drückt das objektive Sollen aus. Er ist Wirklichkeit, Existenz des Sollens, und schließt die Wirklichkeit jedes anderen Wertes aus. Nur dann ist das Sollen ein objektiver Wert, wenn es den Wert einer Existenz darstellt, die aufgrund eines formalen Erzeugungsaktes der normativen Deutung entstanden ist, und nur dann, wenn es den Wert einer subjektiven Existenz darstellt, die „gilt", da sie als Objektivität gesetzt worden ist. Der ausschließende Charakter dieser Existenz bew i r k t , daß der Wert, der kein Wert des positiven Rechts ist, d. h. dem die objektive Existenz fehlt, sich nur als Wert des Naturrechts darstellt. Wert, der nicht als Recht isoliert wird, w i r d als Ideologie ausgeklammert.
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Die Rechtskategorie stellt sich nach der Darstellung Kelsens als eine Form dar, der besondere Eigenschaften anhaften. Ihre Grundlage liefert das historisch vorgegebene Material i n Verbindung m i t historisch vorgebenen Ereignissen. Sie besitzt aber zugleich eine geschichtslose Existenz: gegenüber dem Verlauf der Dinge, der Entwicklung, der Unterschiedlichkeit ist sie indifferent. Ihre Existenz ist bestimmt, gesetzt und damit gültig. Sie ist Abstraktion, auch wenn sie ein Produkt der Zeit ist und i n der Zeit verdrängt werden kann. I n der Rechtskategorie drückt sich die Subjektivität des Wertes aus. Sie ist I n d i v i dualität des Seins, zum Recht gewordene Macht und zugleich objektiver Wert, Ausschließen des Sollens, Norm. Sie ist Tatsache, die zur Natur gehört, ein Fragment der Wirklichkeit und zugleich der Wert i n seiner Ausschließlichkeit 97 , die ausschließende Wirklichkeit des Wertes. Die Rechtskategorie ist gleichzeitig Sein und Sollen, Kontingenz und Notwendigkeit, Tatsache und Wert. Ihre Eigenschaften können mit Hilfe der Sinne nicht wahrgenommen werden, obwohl ihre Existenz materiell ermittelbar ist. Dies ist das Geheimnis der Rechtsform: sie ist etwas Sinnlich-Übersinnliches 98. Kelsen ist der erste Rechtstheoretiker, der angesichts des doppelten Charakters der Rechtsform nicht der Versuchung erliegt, die eine Seite zugunsten der anderen zu verdrängen. Kelsen akzeptiert die Rechtsform so wie sie sich darstellt. Er betrachtet den sinnlich-übersinnlichen Charakter der Rechtsform als Voraussetzung ihrer eigentlichen Möglichkeit. Von dieser Voraussetzung ausgehend, leitet er logisch kohärent sämtliche Metamorphosen der Form ab. Kelsen nimmt an, die ursprüngliche Instanz der Rechtsform sei i n der Instanz des Seins gegeben, das zugleich der Subjektivität des Wertes anhaftet. Weiterhin nimmt er an, die Form könne sich nur als objektives Sollen behaupten, als ein Sollen, das jede Subjektivität verdrängt, jede Individualität des Seins schon unterdrückt hat. Ist die Rechtsform ursprünglich diese Doppeltheit, so muß sie ohne weitere Voraussetzungen angenommen und kohärent entfaltet werden. Diese Grundannahme bietet Kelsen die Möglichkeit, das erkenntnistheoretische Hindernis, d. h. die materielle Instanz, zu überwinden. Dies stellte für die gesamte Rechtswissenschaft von Savigny bis Jhering das größte Problem dar, ohne daß es gelungen wäre, eine Lösung zu entwerfen, die die i n der Rechtsform implizierte Doppeltheit erfaßte. 97
Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 31. Vgl. Cerroni, Marx e ü diritto moderno, S. 37-40, 129-150; Negt, 10 Thesen, S. 20 ff., 54-58; Erckenbrecht, Das Geheimnis des Fetischismus; Tuschling, Rechtsform, S. 94 - 97. 98
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Das Problem der materiellen Instanz hat Kelsen dadurch gelöst, daß er die Rechtsform als gültige und ausschließliche Form setzt. I n der Form liegt die Verdrängung der materiellen Instanz, die objektiv gewordene Subjektivität. Sie ist als einziger Wert gesetzt, ist die Gleichheit, i n der sich die Ungleichheit reproduziert. Der Prozeß, der den Hypostasierungsprozeß der materiellen Instanz zum Wert und den Verdrängungsprozeß der Objektivität der materiellen Instanz selbst darstellt, erscheint als ein Prozeß innerhalb der Form, als ihre Metamorphose. Nur diese eine Metamorphose bleibt der Erkenntnis zugänglich: das Problem der Wissenschaft ist rein morphologisch. Diese Metamorphose ist das Zum-Sein-Gelangen, das Gesetzt-Sein der Form als eine geltende Rechtsexistenz. M i t Recht läßt sich dann behaupten, „Herz und H i r n des Normativismus ist ohne Zweifel sein K r i t e r i u m der Geltung" 9 9 . Das positive Recht — so lautet die A n t w o r t Kelsens auf die Grundfrage der Erkenntnistheorie des Rechts — kann Gegenstand der Erkenntnis nur als Sinnlich-Übersinnliches sein, als eine Wertform, die keinerlei sinnlichen Naturcharakter mehr i n sich trägt, als gleiche Wertobjektivität, die einer subjektiven Existenz des Wertes anhaftet, als abstrakte Gleichheit der verdrängten materiellen Instanzen, als System abstrakt sozialer Verhältnisse, als Herrschaftsform der sozialen materiellen Verhältnisse. Die große Errungenschaft Kelsens besteht darin, das positive Recht als etwas Sinnlich-Übersinnliches beschrieben zu haben. Durch die Analyse der Metamorphose der Wertform hat er den fetischistischen Charakter des bürgerlichen Rechts dargelegt. Die Analyse dieses fetischistischen Charakters hat er aber nicht weiter verfolgt, den rätselhaften Charakter dieser Abstraktion nicht ergründet. Stattdessen entwickelt er den der Normativität der Rechtsabstraktion immanenten Blickwinkel 100 und überträgt die Ambivalenz des fetischistischen Charakters des Rechts auf die transzendentallogische Bedingung 1 0 1 der wissenschaftlichen Interpretation des positiven Rechts. Dabei gelangt er zu folgendem Ergebnis: die Wissenschaft kann nur die „mystische Seite" — das logische Moment des Rechts — erfassen, verschließt sich aber seiner weltlichen Seite — dem materiellen Moment —. Hierin liegt ein ganz bestimmter Sinn. Hätte Kelsen den der Normativität immanenten Blickwinkel nicht herausgearbeitet, dann hätte er feststellen müssen, daß sich die Rechtskategorie als „die abstrakteste, 99 100 101
Cerroni, Marx e i l diritto moderno, S. 48. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 11. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 205.
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aber auch allgemeinste Form" 1 0 2 sozialer und materieller Verhältnisse nur i n einer ökonomisch-gesellschaftlichen Formation entwickelt, i n der „die Wertform des Arbeitsproduktes" als „die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form" ihrer Produktionsweise erscheint. Die Analyse der Rechtsform kann nicht ohne die Analyse der Warenform erfolgen. Das „Geheimnisvolle der Warenform besteht einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen" 1 0 3 . Das Geheimnisvolle der Rechtsform besteht darin, daß sich i n ihr für den Menschen sichtbar der soziale, materielle Charakter der Subjektivität des Wertes als objektiver Charakter einer durch die A b straktion und die Verdrängung der materiellen Instanz erzeugten Existenz widerspiegelt, als Objektivität der formalen rechtlichen Instanz. Die Rechtsform spiegelt die sozialen und materiellen Verhältnisse nur als soziale Beziehung zwischen Formen wider, als „Beziehungen zwischen Rechtsnormen oder Beziehungen zwischen durch Rechtsnormen bestimmten Tatbeständen" 104 . Kelsen bleibt das Geheimnis der Rechtsform verborgen. Lediglich der fetischistische Charakter ist transzendental-logische Bedingung zur Interpretation des positiven Rechts. Diese Darstellungsweise ermöglicht Kelsen, die Kontingenz als relativ-hypothetische Normativität zu legitimieren. Legitimiert der relativhypothetische Charakter des Wertes den kontingenten Charakter der Normativität, so begründet das Geltungsprinzip den normativen Charakter der Kontingenz, d.h. der objektiv gewordenen Subjektivität. Das Geltungsprinzip beruht auf einer Kontingenz, die sich selbst als normativ gesetzt hat, die die transzendental-logische Voraussetzung des gesamten Komplexes normativer Kontingenz ist, die das positive Recht beinhaltet. Kelsen beantwortet damit nicht nur die Frage: „Wie ist positives Recht als Gegenstand der Erkenntnis, als Objekt der Wissenschaft möglich?", sondern auch die sich daraus ergebende Frage: „Wie ist Rechtswissenschaft möglich?"
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Marx, MEW, X X I I I , S. 95, Fn. 32. Marx, MEW, X X I I I , S. 86; vgl. Bedeschi, Alienazione e feticismo, S. 123 bis 138; Colletti, I l marxismo e Hegel, S. 403 ff.; Sohn-Rethel, Warenform und Denkform; Napoleoni, Smith Ricardo e Marx, S. 130-146; Brinkmann, Die Ware, S. 34 - 162. 104 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 172, 169. 103
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b) Die Frage: „Wie ist die Rechtswissenschaft möglich?" Nach Kelsen ist die Rechtswissenschaft nur möglich als eine Theorie der Normativität der durch die Rechtsordnung erzeugten Kontingenz. „Die reine Rechtslehre — als spezifische Rechtswissenschaft — richtet — wie gesagt — ihr Augenmerk auf die Rechtsnormen: nicht auf die Seinstatsachen, d. h. auf das Wollen oder Vorstellen der Rechtsnormen, sondern auf die Rechtsnormen als — gewollte oder vorgestellte Sinngehalte — und sie begreift irgendwelche Tatbestände nur, sofern sie Inhalt von Rechtsnormen, d. h. durch Rechtsnormen bestimmt sind. I h r Problem ist die spezifische Eigengesetzlichkeit einer Sinnsphäre 105 ." Das Problem der Theorie ist nicht die normative Deutung, der objektive Sinn, der bestimmten Seinstatsachen oder Ereignissen zugeschrieben wird, sondern die Eigengesetzlichkeit dieses Sinnkomplexes. I h r Problem sind die Sinnkomplexe i n ihrer Gegenständlichkeit, als selbständige, voraussetzungslose Existenzen, als objektiv geltende Formen. Die Theorie läßt die Prozesse, die gültige Formen erzeugen, und die Voraussetzungen ihrer Erzeugung außer Betracht. Kelsen spricht der Wissenschaft grundsätzlich die Eigenschaft ab, Quelle des Rechts zu sein. Die Rechtstheorie ist eine „von allem ethisch-politischen Werturteil befreite, möglichst exakte Strukturanalyse des positiven Rechts" 106 , die von dem der Normativität immanenten Blickwinkel aus geführt wird. Für die Theorie bedeutet das, sich von Verunreinigungen freizuhalten, die ausschließlich die Betrachtung des Rechts als eigengesetzliche Sinnsphäre bedrohen und den übersinnlichen Charakter der Rechtsform herabsetzen, i h n entleeren würden. Die Strukturanalyse der Eigengesetzlichkeit der Rechtsform stellt eine kohärente Entwicklung der fetischistischen Betrachtung des modernen Rechts dar. I n ihr zeigt sich der realistische Blickwinkel: eine positivistische Rechtstheorie. Die Analyse w i r d als eine strukturelle Untersuchung der Positivität, der komplexen, durch Setzung erzeugten Existenzen durchgeführt. I n ihr zeigt sich aber auch der metaphysische Blickwinkel: die Normativitätstheorie. Sie stellt sich als Theorie des übersinnlichen Charakters der Rechtsform dar, der sich selbst i m Erzeugungsakt der normativen Deutungen als gültige Objektivität äußert. Der realistische Blickwinkel geht vollständig i n der normativen Betrachtung auf, denn die Eigengesetzlichkeit, die Selbständigkeit der Sinnsphäre besteht und 105
Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 108. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 195: „Die Rechtstheorie wird so zu einer von allem ethisch-politischen Werturteil befreiten, möglichst exakten Strukturanalyse des positiven Rechts." 106
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ist gesetzt nur i n bezug auf diese Betrachtungsweise. Die Struktur des positiven Rechts ist die Struktur der Normativität, die den Wertungen, aus denen das Rechtssystem besteht, anhaftet. So verstanden, übernimmt die Theorie die Rolle, post festum die i m Rechtssystem erzeugte normative Kontingenz zu legitimieren, indem sie nur ihre „edelste" Seite betrachtet: ihre Normativität. Kelsen gelingt es, die Kontingenz als Gegenstand der Theorie i n ihrer Eigenschaft als Normativität zu vernichten, aber der Theorie die Betrachtung aller i n der Rechtsordnung erzeugten Kontingenz als Gegenstand aufzuerlegen, denn die Kontingenz ist i n ihrem normativen Reflex immer gültig. Die Eigengesetzlichkeit der Sinnsphäre bezieht sich unmittelbar auf die Selbständigkeit der Kontingenz als Produkt von Selektionen, denen gegenüber die Theorie selbst eine ohnmächtige Absorbierungsinstanz, eine Legitimierungsinstanz ist. Neutralität der Theorie heißt zugleich Hypertrophie des Geltungsbegriffes, da das positive Recht immer gültiges Recht ist, immer gültige Normativität. Diese Vorgehensweise weist bedeutsame Konsequenzen auf. Kelsen hat die Theorie jeglicher Effizienz beraubt und den Geltungsgrund i n dem sich selbst legitimierenden Zirkelschluß der Grundnorm bestimmt. Deshalb muß er ein kontrollierbares Ausmaß an normativer Kontingenz i n dem System zulassen. Die Kontingenz muß immer und überall Geltung haben. Diese Vorgehensweise löst das Problem Puchtas und Jherings, weil die ursprünglich unterdrückte materielle Instanz nicht das Hindernis bei der Erhaltung der Eigengesetzlichkeit der Sinnsphäre rechtlicher Abstraktionen bildet, bedeutet aber selbst eine Bedrohung für das Rechtssystem, dessen Bestand die Theorie Kelsens nicht i n Frage stellt. Hierin liegt die Hauptschwierigkeit der Kelsenschen Erkenntnistheorie. Kelsen setzt jenen Bemühungen der Rechtswissenschaft ein Ende, deren Ziel es war, die Frage nach der Positivität des Rechts zu stellen und sie einer Lösung näher zu bringen. I h m gelingt es, die Positivität des Rechts als normative Kontingenz darzustellen. Er schaltet das Problem der Wahrheit endgültig aus und erkennt die empirische Begründung des Sollens an. Die Identifizierung der Geltung m i t der spezifischen Existenz der Rechtsnorm vollendet die methodologische Umkehrung der Rechtswissenschaft. Zugleich legt das Prinzip der Normativität die ursprüngliche Verdrängung der materiellen Instanz als eine Tatsache offen, die die Normativität i n ihrer relativ-hypothetischen Entstehung geprägt hat. Die kontingente Struktur der Positivität bahnt den Weg für eine dynamische Auffassung von der Rechtsordnung. Sie w i r d als ein selbständiges System der Erzeugung normativer Deutun-
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gen erfaßt, die lediglich an die formalen Voraussetzungen der Geltung gebunden sind. Jene Voraussetzungen gewähren dem System kohärente Einheit und ermöglichen eine ständige Erweiterung seiner Grenzen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse, denen die Rechtswissenschaft bei ihrem Versuch, das positive Recht als normative Kontingenz zu legitimieren, begegnet ist, werden durch eine organische und einheitliche Auffassung des Systems behoben, die ohne Bedenken jedes Hindernis für die Erzeugung von Normativität beseitigt. Diese Erzeugung geschieht unter dem Deckmantel der Geltung. Das Recht, so behauptet Kelsen nun folgerichtig, besteht lediglich i n der Eigengesetzlichkeit einer Sinnsphäre. Diese Eigengesetzlichkeit ist gefordert und w i r d geschützt, aber es ist die dem Erzeugungssystem der Normativität immanente Möglichkeit, die sich für das System selbst und für seine, auf der Kontingenz beruhenden Struktur als gefährlich erweist. Der Bestand des Systems ist unmittelbar durch die Möglichkeit eines unkontrollierten Zuwachses an normativer Kontingenz bedroht. Die Theorie ist gerade diesen dynamischen Voraussetzungen gegenüber ohnmächtig, die sie selbst dem Erzeugungssystem der Kontingenz zugrundegelegt hat. Die innere Komplexität des Systems nimmt unbegrenzt zu, und der Theorie ist es unmöglich, Grenzen zu ziehen. Allerdings verfügt die Komplexität nicht über Techniken der Selbstverteidigung, denn der Geltungsgrund bietet lediglich die i n der Systemkomplexität enthaltene Möglichkeit des Wachsens. Auch die Methodologie kann zur Lösung dieses Problems nicht beitragen. Ihrer Natur gemäß t r i t t sie erst post festum auf, dann, wenn das System bereits ein bestimmtes Wachstumsstadium erreicht hat. Entsprechend der alten Auffassung gilt die Methodologie als treibendes Element für das Anwachsen normativer Kontingenz, ausgehend von gegebenen Prämissen. Das Rechtssystem, das einmal zur Behauptung des Positivitätsprinzips gelangt ist, birgt einen inneren Antrieb i n sich i n der Form der Notwendigkeit einer umfassenden Kontrollstrategie der normativen Kontingenz, die wiederum ihre eigenen Mechanismen entfaltet. Die Entfaltung einer solchen Strategie ist Voraussetzung für die Systemstabilität. Durch sie gewinnt das System Überlebenschancen und stabilisiert die vom System erzeugte Kontingenz sowie seine immanente Anlage, selbst Kontingenz zu erzeugen. Den Weg zu dieser Strategie hat Kelsen geebnet: indem er das erkenntnistheoretische Interesse ganz auf den Aufbau einer Rechtstheorie richtet, macht er gleichzeitig die innere Grenze der methodologischen Umkehrung sichtbar sowie ihre Nebensächlichkeit und ihren Unterstützungscharakter gegenüber einer Theorie, die sich als „Herz und Gehirn" eines jeden Legitimierungscharakters der Positivität des Rechts erweist und daher Grundlage für den Stabilisierungsvorgang dieses Systems ist.
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Kelsen schließt damit das Kapitel der methodologischen Umkehrung der Rechtswissenschaft ab und öffnet zugleich ein neues Kapitel der Erkenntnistheorie des positiven Rechts. Der ursprünglichen methodologischen Umkehrung des Rechts ist es gelungen, das Gewicht der Rechtskategorie i n sich aufzunehmen und das Abstraktionssystem, das die bürgerliche Gesellschaft beherrscht, als Welt der Isolierung und der Absonderung zu legitimieren; gegenüber dem unkontrollierten Anwachsen der Komplexität dieses Systems erweist sie sich als ohnmächtig. Ihre Neutralität ermöglicht ihr, alle ihre Kräfte auf die Verdrängung der materiellen Instanz zu konzentrieren. Nun muß die Erkenntnistheorie aber alle ihre Bemühungen auf die Strategie einer Stabilisierung des Rechtssystems richten. Diese Strategie kann nur von einer Theorie entworfen werden, die i n der Lage ist, sich die Frage der Positivität zu stellen: m i t der systemimmanenten Möglichkeit, das Wachsen der Systemkomplexität umfassend zu kontrollieren. Ein neues Kapitel i n der Erkenntnistheorie des Rechts beginnt: das Kapitel der theoretischen Umkehrung.
T e i l II
Die Theorie Einführung zur theoretischen Umkehrung 1. Das Unbehagen des Positivismus A u f die von Kelsen durchgeführte Wissenschaftssystematisierung folgt für die Rechtsepistemologie eine Zeit des Übergangs. Die Rechtsepistemologie erkennt die Notwendigkeit einer theoretischen Begründung des Rechts zur Überwindung der methodologischen Immanenz. Sie bemüht sich, das Modell Kelsens zu überwinden, das sich eines positivistischen Reduktionismus schuldig gemacht hat. Das Modell w i r d angeklagt, trotz der ursprünglichen Trennung das Sollen m i t dem Sein gleichgesetzt und die Existenz des positiven Rechts zum K r i t e r i u m seiner Gerechtigkeit gemacht zu haben 1 . Die Übergangsphase, die gleich nach dem zweiten Weltkrieg beginnt und bis i n die sechziger Jahre andauert, ist von dem philosophischen Bemühen geprägt, auf der Grundlage einer extrapositiven Begründung des Rechts die schlechte Seite des Positivismus, wie sie i m Modell Kelsens impliziert ist, zu überwinden. A m Ende der Übergangsphase weist die Rechtstheorie eine Vielzahl von Erscheinungsformen auf, die alle nach präzisen und abgeschlossenen Mustern gegliedert sind 2 . Der Rechtswissenschaft soll die Möglichkeit gegeben sein, sich jeweils auf der Grundlage von Modellen neu zu bilden, die von den Gesellschaftswissenschaften abgeleitet sind. Diese Modelle greifen den monopolistischen Komplex der Epistemologie Kelsens auf und sind bemüht, die schlechte Seite des Positivismus zu beseitigen, die i n Wert umgewandelt wurde und durch die geschichtlichen Ereignisse i n tragischer Weise ihre Negativität offenbarte. Die nationalsozialistische Degenerierung hat gezeigt, daß das Recht als normative Ordnung der Gesellschaft ein Instrument der organisierten Gewalt und ein M i t t e l zu Übergriffen auf die Gesellschaft sein kann. Sie offenbart, daß das Prinzip der Juridizität 1
Vgl. Kelsen, General Theory, S. 14; Schneider, Rechtstheorie ohne Recht?, S. 116 ff. 2 Vgl. Kaufmann, Hassemer, Grundprobleme; Ollero, Derecho y sociedad; Krawietz, Juristische Entscheidung; Dreier, Was ist und wozu allgemeine Rechtstheorie? ; Kaufmann, Tendenzen im Rechtsdenken der Gegenwart.
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jedes ethische Prinzip, das nicht von der innersten Sittlichkeit des Staates ausgeht, vernichten kann. Die Identifizierung von Gerechtigkeit und Recht des Staates, von Gerechtigkeit und Gesetz, war Ausdruck der Sittlichkeit des Staates. Der Positivismus hat die ipsa res justa i n die Form der Legalität umgewandelt: sie war i h r einziger Ausdruck 3 . Diese Legalität hat zur Zerstörung der Gesellschaft geführt, indem sie i n bestimmter Weise die M i t t e l gebrauchte, die gerade der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dienen sollten. Gegenüber diesen Ereignissen erwies sich die Rechtsepistemologie als unfähig, die Degenerierung des positiven Rechts zu reflektieren. Die reine Rechtslehre, die dem Postulat einer an die Existenz gebundenen Geltung verhaftet war, bot keine Möglichkeiten, u m innerhalb der Wissenschaft dieses Postulat selbst als Degenerierung zu reflektieren, als die negative Seinsweise eines an sich positiven Wertes. Die Theorie hätte diesen Wert suchen und vor dem Aufkommen der Negativität warnen, d. h. den Weg zu einer metapositiven Begründung des Rechts bahnen müssen, unabhängig von seiner geschichtlichen Seinsform. Das positive Recht als Ordnung der Gesellschaft durch den Staat blieb jedoch terminus a quo: die Positivität als Form des modernen Rechts konnte nicht i n Frage gestellt werden, nicht einmal die Rechtserzeugungsprozesse, durch die die Positivität entstand, auch nicht die Prozesse, die bestimmte Subjektivitäten i n gültige Objektivitäten verwandelten. Es war unmöglich, die Kategorien anzutasten, i n denen sich die Positivität des Rechts strukturiert hatte: die Voraussetzung, die Freiheit des modernen Menschen konkretisiere sich i n der Rechtsform, sowie die Tatsache, die reale Trennung zwischen politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft komme i m Recht normativ zum Ausdruck. Nicht die Tatsache der Positivität, sondern das Problem des Positivismus schuf das Unbehagen. Es war ein philosophisches Unbehagen, das auch philosophisch überwunden wurde. Die Grundlage des Rechts mußte i n etwas anderem als seiner Positivität gesucht werden. Das Recht ist nicht das Gesetz. Das Recht ist Ausdruck der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist der Sinn des Rechts. Das Recht entsteht i n der Geschichte. Das Recht hat eine Geschichte, die sich von der, die materiell i n der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, unterscheidet. Es ist notwendig, den Sinn des Rechts zu suchen und i h n i n der Geschichte als materielle Existenz der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Interpretation des Rechts darf nicht rein dogmatisch, exegetisch sein, sonst w i r d sie immer zur rechtspositivistischen Apologie. 3
Kaufmann, Die „ipsa res justa", S. 27 - 40.
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Der Positivismus hatte zur Eklipse der Vernunft geführt, und sie mußte wieder hervorgebracht werden. Bei ihrem Auftauchen sollte sie die Positivität legitimieren, indem sie ihre schlechte Seite als Degenerierung isoliert. Diese Vernunft ist selbstverständlich eine philosophische, eine entfremdete Vernunft. Entfremdet deshalb, weil sie i n der Lage hätte sein müssen, Rechenschaft abzulegen über das Recht als geschichtliches und zugleich metageschichtliches Phänomen und über die Positivität als Ausdruck des Außer-Sich-Seins. Das EpistemologieProblem zumindest mußte als Problem beiseite geschoben werden, das m i t einem autonomen Universum zusammenhing, das auf einem Gegenstand aufbaut, der selbst wieder seine Autonomie auf die Tatsache seiner materiellen Existenz gründet. Diese Existenz spricht jedoch nicht aus sich heraus. Sie ist die Stimme, das existentielle Zeichen von etwas anderem, das kein weltliches Dasein führt. Dieser beiden Seiten des Rechts, die erfahrungsgemäß nicht immer übereinstimmen, muß sich die Wissenschaft bewußt sein: die eine Seite stellt das Prinzip, den Sinn, die innere Struktur des Rechts dar, die ein Wert ist; die andere Seite ist das weltliche und geschichtliche Dasein dieses Wertes, eine Tatsache, die degenerieren und zu etwas Negativem werden kann. Bedingung der Wissenschaft ist nicht mehr die positive Existenz des Rechts, sondern die Tatsache, daß diese Existenz die entfremdete Form eines Prinzips ist. I n der Zeit des Wiederaufbaus hatte die Wissenschaft zwei A l t e r nativen: sie konnte auf der Theorie aufbauen, die von der Tatsache der Existenz ausgeht, m i t der Folge, daß sie gegenüber dieser Existenz nur neutral, d. h. unfähig sein kann. Dies bedeutet aber eine Rückkehr zum Positivismus Kelsens. Als zweite Alternative konnte sich die Wissénschaft auf eine Theorie gründen, die von der Tatsache der Existenz als Form der Entfremdung ausgeht, als Form des Außer-Sich-Seins des Rechts i n der Geschichte. Sie w i r d zu einer Therapie dieser Entfremdung, zur Rückkehr des Entfremdetseins zu sich selbst. Das grundlegende Problem der Wissenschaft, die Objektivität des Wissens, hatte sich als ein Problem positivistischer Herkunft erwiesen, voller unvermeidlicher Gefahren. Die ausschließlich auf das Sein gerichtete Forschung, i n der sich der gesamte Entwurf der Rechtswissenschaft erschöpfte, hatte jede Erforschung der inneren metageschichtlichen und metaempirischen Struktur des Seins verhindert; verhindert, die innere Struktur dessen zu erforschen, das i n seinem weltlichen Dasein lediglich seine entfremdete Form aufweist. Es wurde die Notwendigkeit deutlich, der Wissenschaft wieder einen Bereich zu verschaffen, der sich von dem der reinen positiven Existenz des Rechts unterschied. Die Krise der inneren Legitimierung des Rechts war ausschlaggebend. Sie l u d sich ganz auf das Rechtsdenken ab, auf die Praktiken, die man vorher als wissenschaftlich bezeichnet hatte, sowie
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auf die analytische Wissenschaftsauffassung klassischen Modells der Epistemologie.
als den Endpunkt des
Die Krise der Wissenschaft, die sich aus der Notwendigkeit dieser Umkehrung ergibt, i h r H i n - und Herwandern zwischen dem erworbenen Postulat der Positivität des Rechts, das auf jeden Fall i h r Ausgangspunkt bleibt, und der Notwendigkeit einer Rechtstheorie, die eine metapositive Begründung des Rechts ermöglicht, dieses Ringen der Jurisprudenz zwischen der Unfähigkeit, unmittelbar legitimierendes Denken zu sein und der Notwendigkeit, eine Begründung zu finden, die über die Existenz und die Geschichte hinausgeht, machen das Rechtsdenken zum Denken der Entfremdung 4. 2. Die Jurisprudenz der Entfremdung Die Jurisprudenz der Entfremdung beschreibt die Folgen der Zersplitterung des von Kelsen erarbeiteten epistemologischen Komplexes und zugleich die Notwendigkeit einer neuen theoretischen Begründung von Recht und Rechtswissenschaft. A u f dem Kompromiß zwischen Tatsache und Wert, Geschichte und Metaphysik, von dem das Rechtsdenken lebt und dem der Dualismus von „Gut" und „Böse" nicht entgeht, lastet der Bruch der Einheit der Rechtsepistemologie, die Spaltung zwischen der Theorie als Reflexion über den Rechtsgrund und der wissenschaftlichen Praxis als Erforschung der Positivität. Die Theorie entfernt sich immer weiter von der weltlichen Daseinsform des Positiven, die wissenschaftliche Praxis polarisiert sich immer weiter und bindet sich eng an die Dogmatik. Sie ist die einzige Praxis, auf der ganz deutlich die Positivität lastet 5 . Diese Bindung der Wissenschaft an die Dogmatik erfolgt i n jedem Falle unabhängig von der Antwort, die die Theorie auf die Frage nach dem Wesen des Rechts gibt. Es ist immer möglich, die Dogmatik auf die positivistische Ebene des Bestehenden zu verbannen und dann zu behaupten, ihre Praktiken seien wissenschaftlich, weil sie an das Dogma des Positivismus gebunden sind. Man kann aber auch die Dogmatik auf eine metapositive Ebene setzen und behaupten, ihre Praktiken seien wissenschaftlich, weil sie den Sinn oder den Wert interpretieren oder das Fehlen dieses Sinns oder Wertes des Rechts verdeutlichen. 4 Die Literatur zu diesem Thema ist äußerst umfangreich. Es wird hier nur auf zwei Sammelbände verwiesen: Naturrecht oder Rechtspositivismus; Die ontologische Begründung, und die jeweils auf S. 580 - 622 u. S. 671 - 727 angef. Literaturhinweise. 5 Vgl. Viehweg, Ideologie und Rechtsdogmatik; Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik; ders., Die Ausbildung einer Theorie; Dreier, Zum Selbstverständnis; Krawietz, Juristische Methodik; Meyer-Cording, Kann der Jurist Dogmatiker sein?; Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis; De Lazzer, Rechtsdogmatik.
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Das Rechtsdenken der Entfremdung hat noch eine weitere Folge. Die Zersplitterung des von Kelsen aufgebauten epistemologischen Systems führt zur Auflösung des Rechtsdenkens und zur Verselbständigung seiner einzelnen Bereiche. Die Jurisprudenz w i r d zu einem komplexen System, gekennzeichnet durch eine tiefe innere Spaltung. Jede Praxis nimmt für sich i n Anspruch, eine Seinsform der Positivität auszuschöpfen. Es ist lediglich noch eine Frage der inneren Arbeitsteilung, der „Sonderung der Thätigkeiten", wie Savigny sagte. Das Problem des Wissens u m das Recht, d. h. ein Rechtswissen aufzubauen, das sich auf eine Theorie gründet, bleibt das Grundproblem trotz der Verselbständigung verschiedener Praktiken. Es handelt sich u m eine ambivalente Situation mit der Folge einer immer stärkeren Polarisierung der wissenschaftlichen Problematik auf der Ebene der Dogmatik. Dies ist der einzige Versuch, Wissenschaftlichkeit zurückzugewinnen, die m i t der Ablehnung der epistemologischen Voraussetzung des positivistischen Modells zwangsläufig verlorenging. Diese Folge ist unausweichlich ganz positivistischer Natur. Sie bezeugt die Unfähigkeit des Rechtsdenkens der Entfremdung, sich von seiner inneren Zweideutigkeit zu befreien, und macht den Weg frei für eine Reihe organischer Versuche zum theoretischen Wiederaufbau des Rechtsdenkens. Diese Versuche kennzeichnen das Ende der Übergangsperiode und das A u f treten einer Vielzahl „neuer" Rechtstheorien. I m Jahre 1960 schreibt Larenz: „Dabei wollen w i r , entsprechend der abendländischen Überlieferung als Mindesterfordernisse einer Wissenschaft' die ansehen, daß ihre Aussagen Anspruch auf Wahrheit, d. h. auf Richtigkeit i m Sinne einer zutreffend gewonnenen Erkenntnis erheben, und daß sie bestimmte Methoden ausgebildet hat, die diesem Ziele dienen®." Die Wissenschaftlichkeit des Rechtswissens kann nur als eine Wissenschaftlichkeit des dogmatischen Rechtswissens zurückgewonnen werden. Den Grund für das Scheitern der Wissenschaftlichkeit sieht Larenz i n der Beschränktheit des positivistischen Wissenschaftsbegriffs, wie er von der reinen Rechtslehre und der Rechtssoziologie herausgearbeitet wurde. Die eigenartige Koexistenz dieser beiden Formen positivistischen Wissens führt nach Larenz zum Ausschluß der Dogmat i k aus den Wissenschaften, der sogar das M i n i m u m an Wissenschaftlichkeit fehlt, das notwendig ist, u m die Dogmatik nicht als eine bloße Interpretationskunst zu verurteilen. Larenz bedient sich eines Wissenschaftsbegriffs, der weiter ist als der positivistische. Er führt die Wiedergewinnung der Wissenschaftlichkeit des dogmatischen Wissens durch, setzt sich aber weder m i t den Problemen aus dem offenkundigen Bruch der Einheit des epistemologischen Komplexes auseinander, noch 6 Larenz, Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft; vgl. auch von demselben, Die Unentbehrlichkeit.
7 De Giorgi
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bietet er eine Lösung an. Larenz akzeptiert den inneren Bruch der Epistemologie als gegeben. Er stellt sich das ausschließliche Problem der Dogmatik und findet eine Lösung, die i n einem engen Zusammenhang m i t dem Denken der Entfremdung steht Für Larenz stellt sich das Problem, ob „es außer einer formalen Rechtstheorie nach der A r t der ,Reinen Rechtslehre 4 auf der einen Seite, einer den Tatsachen des sozialen Lebens und ihrer kausalen Verknüpfung zugewandten Rechtssoziologie auf der anderen Seite noch eine eigentümliche und eigenständige dogmatische Rechtswissenschaft gibt 4 4 7 . Damit w i r d aber das Problem der Einheit des epistemologischen Modells umgangen und die Dezentralisierung und Aufspaltung i n verschiedene Bereiche anerkannt. Die Koexistenz der verschiedensten Instanzen w i r d bereitwillig akzeptiert, nur u m die Folgen des Bruchs latent zu halten. Larenz sagt nicht, das theoretische Wissen der reinen Rechtslehre sei kein wissenschaftliches Wissen, oder das von der Soziologie erzeugte Wissen sei niedriger einzustufen. Er spricht sich nur gegen den Ausschluß der Dogmatik aus dem Spektrum der Wissenschaften aus. Die Dogmatik ist Wissenschaft, sagt er; sie ist die Rechtswissenschaft. Sie hat es „ m i t den spezifischen Sinnverknüpfungen einer positiven Rechtsordnung und darüberhinaus m i t dem Sinn von ,Recht überhaupt 4 zu tun 4 4 . Für Larenz ist die Dogmatik gleichzeitig eine interpretative, systematische und vergleichende Wissenschaft. Als interpretative Wissenschaft „sucht sie dem der Norm innewohnenden Sinn die fehlende letzte Bestimmtheit zu geben sowie die Übereinstimmung des Sinnes mehrerer Normen, die sinngemäß ein Ganzes bilden, herzustellen 44 . Als systematische Wissenschaft „sucht sie Begriffe zu bilden, die dem Sinngehalt einer Regelung oder eines Rechtsinstituts möglichst gerecht werden, und diese Begriffe i n einem jederzeit,offenen 4 , w e i l der Ergänzung durch neu i n das Bewußtsein getretene Rechtserscheinungen bedürftigen System zu vereinigen 44 . Als vergleichende Rechtswissenschaft schließlich „setzt sie die verschiedenen Rechtssysteme und d. h. den jeweils darin zum Ausdruck kommenden Sinngehalt zueinander i n Beziehung 44 8 . Die Auffassung von Larenz zeigt die Schwierigkeit, i n die die Jurisprudenz verstrickt ist. Sie ist gezwungen, das Prinzip der Koexistenz selbständiger Forschungsbereiche anzuerkennen und i n der Dogmatik das Prinzip einer widersprüchlichen Wissenschaftlichkeit zu bestimmen, indem sie versucht, ihren größten inneren Widerspruch zu überwinden. Die Dogmatik ist die Ebene, auf der das epistemologische Hindernis der Jurisprudenz zum Ausdruck kommt, bedingt durch das 7 8
Larenz, Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, S. 181. Larenz, Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, S. 184.
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Denken der Entfremdung. Es handelt sich u m das Hindernis einer Wissenschaft, die gezwungen ist, den Instrumenten einer analytischen Erforschung besondere synthetische Fähigkeiten zur Entdeckung des Sinns beizumessen. Diese Wissenschaft selbst kann sich kein positives epistemologisches Universum aufbauen, das Rechenschaft über seinen Gegenstand ablegen kann, denn dieser Gegenstand hat seinen Grund i n etwas anderem als sich selbst. Die Dogmatik muß die schwierige Aufgabe lösen, über den Gegenstand hinauszugehen, während sie i h n analysiert. Sie muß über die positive Geschichtlichkeit des Gegenstandes hinausgehen. Die Geschichte darf nicht dem Rechtsphänomen, sondern dem „Recht überhaupt", dem Sinn der positiv ausgedrückten Normativität angehören und muß gleichzeitig über die Bestimmtheit des Gegenstandes hinausgehen. Sie muß den Gegenstand auf seine letzten Bestimmungen zurückführen, auf ontologische Sinnstrukturen, die an anderen Orten als dem Ort der Rechtserzeugung aufzufinden sind. Die Dogmatik bleibt jedoch immer und auf jeden Fall eine Wissenschaft, die vom Positiven ausgeht und daran gebunden ist. Der Bruch des epistemologischen Modells der Rechtswissenschaft, das auf einer theoretischen Hypothese des Rechts gründet, die zugleich globale theoretische Hypothese der Wissenschaft ist, hat die Auflösung der Jurisprudenz als Denken der Entfremdung i n einer Reihe unterschiedlicher Praktiken zur Folge, die jeweils nur einzelne Bereiche erfassen. Die Jurisprudenz kann auf dem antipositivistischen Vorurteil beharren und unbewußt die wissenschaftliche Praxis m i t dem Positivismus identifizieren. Damit bleibt sie i m Vorfeld des Positiven und sucht ontologische Strukturen und letzte Sinnzusammenhänge, überläßt aber die Ausgestaltung der Positivität der Interpretationskunst und Interpretationstechnik. Die Jurisprudenz kann sich auf eine dogmatische Praxis festlegen, deren Wissenschaftlichkeit — als Objektivität i n positivistischem Sinne — i n dem Ziel besteht „nicht nur die Erkenntnis der Wahrheit", „sondern auch die Verwirklichung der Gerechtigkeit" zu sein 9 . Das epistemologische Unvermögen schlecht gelungener Vermittlungen zwischen Transzendenz, Ontologie und Positivität, des ständigen Hin- und Herwandems zwischen Sein und Sollen 10 , sind Ausdruck der Misere des Zeitalters des philosophischen Wiederaufbaus des Rechts. Es glaubt, das Problem zu lösen, indem es beweist, daß das Bestehende die Wahrheit von etwas anderem und daß dieses Andere ein Wert ist, der sich aus sich selbst heraus legitimiert: das „Recht", die „Gerechtigkeit". Da die Wahrheit sich entweder nur i n der positiven Form des Rechts ausdrückt oder durch diese Form degeneriert, ist die Jurispru9 10
7*
Larenz, Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, S. 186. Engisch, Logische Studien, S. 15; Kaufmann, Die „ipsa res justa", S. 39.
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denz zu einer ständigen Zerrissenheit zwischen dem Positiven und dem Metapositiven, zwischen geschichtlicher Realität und philosophischem Bewußtsein gezwungen. Die Jurisprudenz ist das entfremdete Denken einer geteilten Wirklichkeit, das die Angst vor dem Positiven beseitigte, das seine schlechte Seite gezeigt hat, indem es die Angst vor der Schlechtigkeit dem Positivismus zuschreibt und insbesondere — aber zu Recht — die Kelsensche Auffassung des Positivismus angreift. Die Diskussion, die sich seit dem zweiten Weltkrieg bis gegen Ende der sechziger Jahre mit den Grundlagen und Strukturen des Rechts befaßte, ist die philosophische Kristallisierung des Rechtsdenkens als Entfremdungsdenken 11 . A u f den Kategorien des entfremdeten Denkens kann aber solange keine Rechtsepistemologie aufgebaut werden, bis sich das Denken der Entfremdung i n zahlreiche verschiedene Theorien auflöst, i n eine Reihe einheitlicher Hypothesen über den Gegenstand und über die m i t i h m zusammenhängenden wissenschaftlichen Praktiken. Das Denken der Entfremdung kann nur durch eine theoretische Begründung des Rechts und der Wissenschaft überwunden werden. Sie muß allgemeine, zur Überwindung der Krise geeignete Hypothesen suchen, d.h. einheitliche epistemologische Modelle aufbauen als A l t e r nativen zur Hypothese Kelsens, die i n der Lage sind, die epistemologische Zweideutigkeit des entfremdeten Denkens zu überwinden und die Einheit von theoretischer und praktischer Begründung auf der Grundlage einer einheitlichen Strategie zur Stabilisierung des positiven Rechts wiederherzustellen. Das Problem der Wissenschaft ist die Legitimierung einer Positivität, die das Anfangshindernis, sich zu behaupten, überwunden hat, sowie die Suche nach Formen, die das Recht trotz der schlechten Seite seiner Positivität legitimieren. Ein solches Unterfangen kann, wie Kelsen bereits gespürt hat, nur gelingen, wenn eine einheitliche epistemologische Strategie verfolgt wird. Das Denken der Entfremdung ist das verdrängte Bewußtsein u m diese neue Situation und Aufgaben, die die Rechtsepistemologie lösen muß, die sie mangels theoretischer Fähigkeiten aber nicht bewältigen kann. Dieses Denken bereitet jedoch den Boden vor, auf dem sich die bewußt geäußerten Versuche der neuen Rechtstheorie entwickeln. 11
Als Beispiel gelte die Rechtsontologie Kaufmanns, als eine der klarsten Formen der diesem Denken innewohnenden Zerrissenheit, als eine der konsistentesten Versuche, die unternommen wurden, um Sein und Sollen, Bewußtsein und Wirklichkeit wieder zusammenzufügen: „Erst die Doppeltheit von Rechtswesenheit und Rechtsexistenz, von Naturrechtlichkeit und Positivität, macht die real ontologische Struktur des Rechts aus." Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts, S. 477 - 478.
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3. Die neue Reditstheorie und der theoretische Pluralismus Die Aufgabe, neue Formen der Legitimierung aufzubauen, epistemologische Modelle zu erarbeiten, mit deren Hilfe sich die Komplexität der Stabilisierungsfrage des Rechts erfassen läßt — w i r d bewußt von der neuen Rechtstheorie übernommen. Verschiedene Wege sind beschritten worden, u m zu einer theoretischen Begründung des Rechts zu kommen, die diese Zielsetzungen verfolgt. Die Ansätze überschneiden sich mit dem unterschiedlichen Verlauf der Theorie der Gesellschaftswissenschaft, die sich ähnlichen Problemen i m Zusammenhang m i t dem Gesellschaftssystem gegenübersieht, so daß die Rechtstheorie keine juristische Theorie des Rechts mehr ist, wie Kelsen es gewollt hatte. Die theoretische Begründung des Rechts t r i t t i n den komplexen Bereich der Gesellschaftstheorie ein und nimmt denselben Verlauf, so daß der Stabilisierungsprozeß des Rechtssystems aufs engste m i t dem Stabilisierungsprozeß des Gesellschaftssystems verknüpft ist. Die Rechtstheorie w i r d so nicht nur die wechselhafte Entwicklung, sondern auch das Scheitern der Gesellschaftstheorie miterleben. Die Beziehung zwischen „alter" und „neuer" Rechtstheorie w i r d von Viehweg i n einer kurzen Arbeit 1 2 untersucht. Diese Arbeit ist dem Verhältnis zwischen Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik gewidmet, das sich ändert, je nachdem wie man die Rechtstheorie und ihre Rolle gegenüber den übrigen Rechtsdisziplinen auffaßt. Der alten Theorie, sagt er, lag immer ein philosophisches Wissen zugrunde, so wie am Ende der theoretischen Untersuchung ein höheres philosophisches Wissen stand, i n dem die Theorie sozusagen ihre Befriedigung fand. Es handelt sich u m eine „materielle Rechtstheorie als Letztbegründung" der Dogmen, die dem System zugrundelagen. Die neue Rechtstheorie dagegen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich darauf beschränkt, eine moderne „Strukturtheorie" zu sein. Sie hat die Aufgabe, die Einheit des wissenschaftlichen Denkens zu organisieren. Viehweg spricht von einer „einheitstiftenden, verbindlichen Rechtstheorie". Sie ist autonom, liegt dem Rechtswissen zugrunde und hat eine Reihe für sie spezifischer Probleme 13 . Soll die Rechtswissenschaft eine „vollständige Rechtswissenschaft" sein, deren Titel „Wissenschaft" gerechtfertigt ist, so muß sie auf einer Rechtstheorie aufbauen, die diesen Anspruch legitimiert. Viehweg erkennt deutlich die neue Lage der Rechtswissenschaft, die Auflösung des klassischen epistemologischen Modells, die auf den Druck innerhalb des positiven Rechts zurückzuführen ist, und die Zer12 13
Viehweg, Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Viehweg, Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik, S. 212,209.
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Teil I I : Die Theorie
splitterung der methodologischen Einheit. Abgesehen davon, erfaßt Viehweg noch zwei weitere wichtige Aspekte des neuen Zusammenhangs innerhalb des Rechtswissens. Er bemerkt, daß einerseits die Wahrheitskraft des epistemologischen Modells — wie es Kelsen konzipierte — zunimmt und andererseits die Brauchbarkeit des auf dieser Umkehr aufgebauten Modells abnimmt. M i t anderen Worten: die Theorie ist das grundlegende Moment des wissenschaftlichen Rechtsdenkens, aber i h r kommt nicht mehr die Funktion zu, den Behauptungsprozeß des positiven Rechts als System gültiger Abstraktionen zu legitimieren. Sie hat die sehr viel komplexere Aufgabe, über Instrumente zu reflektieren, mit deren Hilfe sich der Stabilisierungsprozeß der Rechtsform, die sich bereits als gesetzte Abstraktion behauptet hat, erfassen und i n Gang setzen läßt. Er erkennt weiterhin, daß die Theorie diese Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie sich als juristische Theorie des Rechts ohnmächtig weiß, da sie der Komplexität der sich i h r stellenden Probleme nicht gerecht wird. Er behauptet, die „neue" Rechtstheorie zeichne sich durch ihre Verfügbarkeit gegenüber der Theorie der Gesellschaftswissenschaften aus: sie operiert m i t Instrumenten, die nicht zum Universum des Rechtswissens gehören. „Wollte man etwa versuchen, eine kasuistische Rechtsdogmatik zu betreiben", „deren einheitstiftende, verbindliche Rechtstheorie dunkel bliebe, würde man einer letztlich unüberblickbaren, synkretischen W i l l k ü r verfallen", schreibt Viehweg 1 4 . I n seinem Beitrag hat Viehweg nicht nur die Bedeutung und die Notwendigkeit der theoretischen Begründung des Rechts und der Wissenschaft hervorgehoben, sondern das sich Erklären der Theorie in der Öffentlichkeit gefordert 15 . Die „neue" Rechtstheorie t r i t t auch tatsächlich an die Öffentlichkeit, die Erklärung ihrer Identität w i r d zur Bedingung ihrer Existenz. Nachdem die Rechtstheorie die Übergangsphase überwunden hat, geht sie nur noch die Wege, die i h r von der Theorie der Gesellschaftswissenschaften vorgezeichnet werden 16 . Das alte monopolistische Prinzip eines vorherrschenden epistemologischen Modells verwandelt sich nun i n einen Pluralismus von Modellen. Pluralismus bedeutet Koexistenz, Toleranz, Ablehnung des 14
Viehweg, Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik, S. 212. Nach dem Beitrag von Viehweg, vgl. auch E. Zacher, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, sowie die Beiträge von Klüver, Priester, Schmidt, Wolf, Rechtstheorie — Wissenschaftstheorie des Rechts; Maihof er, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie; Jahr, Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik; vgl. ferner Ellscheid, Zur Forschungsidee; Schroth, Was ist und was soll Rechtstheorie? 18 Vgl. Naucke, Relevanz der Sozialwissenschaften; Knittel, Sozialwissenschaften und Rechtspraxis; Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft; Dubischar, Vorstudium zur Rechtswissenschaft; Zopel, Ökonomie und Recht; Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz; Rechtswissenschaft; Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie. 15
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Anspruchs auf Wahrheit. Pluralismus ist Immunisierung der wissenschaftlichen Arbeit. Mittels der theoretischen Umkehrung versucht die Rechtsepistemologie nicht nur der Komplexität der Probleme, die m i t der Stabilisierung des Rechtssystems zusammenhängen, gerecht zu werden, sondern sie gliedert sich ganz i n den Rahmen der komplexeren Strategie der liberalen Restrukturierung des politischen Systems, des Rechts- und Sozialstaates ein. Der Pluralismus ist das vorherrschende Prinzip der liberalen Demokratie, die nach der nationalsozialistischen Degenerierung i n Deutschland neu geschaffen wurde. Politischer Pluralismus und wissenschaftlicher Pluralismus sind gemeinsam an der Restrukturierung beteiligt. Der Pluralismus der Rechtstheorie ist ein politisches Prinzip, das der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht wird, weil es Teil eines Entwurfes und einer politischen Strategie ist, die diesen Gegenstand zum Angelpunkt ihrer Verwirklichung macht. Die Umkehrung innerhalb der Epistemologie ist die Folge einer politischen Umkehrung, eines umfassenden Entwurfs der pluralistischen Gesellschaft, der darauf abzielt, die Demokratie durch die Stabilisierung des Abstraktionssystems zu verwirklichen, d. h. durch die Stabilisierung der i m Recht zum Ausdruck gebrachten Herrschaftsform. Doch jeder Staat ist, wie Kelsen richtig gesagt hat, Rechtsstaat. Die Theorie bringt das Prinzip der Toleranz i n einem Prozeß der autoritären Restrukturierung der Gesellschaft m i t sich, i n der sich der politische Pluralismus als eine tolerante Herrschaft durchsetzt. Ist der Pluralismus als Strategie der Herrschaft der Formen das vorherrschende politische und theoretische Prinzip, so „können w i r sicher sein, daß alle Meinungen falsifizierbar sind, daß diejenige ausgeschaltet werden kann, die sich für wahr hält" 1 7 . Das Prinzip des Pluralismus ist die theoretische Grundlage repressiver Toleranz. Die Theorie kann nicht für sich beanspruchen, wahr zu sein, Wahrheit darzustellen, u m so weniger Wahrheit des Positiven. Diese Wahrheit erzeugt immer wieder von neuem Angst vor dem Positivismus. Die Entwicklung der Wissenschaft w i r d entscheidend behindert, wenn eine bestimmte Ideologie eine institutionelle oder faktische Monopolstellung gewinnt. „Volle Entfaltung des wissenschaftlichen Fortschritts erfordert daher eine freiheitliche politische Ordnung, die einen Pluralismus der politischen und gesellschaftlichen Kräfte ermöglicht und schützt 18 ." Der Pluralismus ist das neue Prinzip zur inneren Legitimierung des Rechtsstaates. I n i h m begegnen und verwirklichen sich Wissenschaft und Demokratie auf der gleichen Ebene, der theo17 Brentano, Wissenschaftspluralismus, S. 492; vgl. Preuß, Legalität und Pluralismus, S. 117 - 143, S. 122 ff. 18 Zit. nach Preuß, Legalität und Pluralismus, S. 123.
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Teil I I : Die Theorie
retischen Ebene des Fallibilismus 1 9 . Der „Pluralismus der Weltanschauungen" bedeutet i n diesem Zusammenhang Pluralismus pluralistischer Weltanschauungen, denn nicht pluralistische Weltanschauungen — zur Unterscheidung pejorativ als Ideologie bezeichnet — h i n d e r n den wissenschaftlichen Fortschritt und sollten daher von der politischen Ordnung nicht geduldet werden. Eine freiheitliche politische Ordnung ist Bedingung des wissenschaftlichen Fortschritts nur i n dem Maße, i n dem sie pluralistische wissenschaftliche Theorien, kurz: den theoretischen Pluralismus ermöglicht und schützt 20 . Das Prinzip des theoretischen Pluralismus und das des politischen Pluralismus sind komplementär. Sie setzen sich gegenseitig voraus. Die Wissenschaft kann sich nicht erlauben, den Wahrheitsbegriff zu monopolisieren, denn sie liefe Gefahr, zu einer Ideologie degradiert zu werden und nicht mehr politisch geschützt oder rechtlich garantiert zu sein. Der einzige politisch geschützte und juristisch garantierte Wahrheitsbegriff ist der Wissenschaftspluralismus. Dieser Begriff genießt Privilegstatus, er spielt zugleich die Rolle der Partei und des Richters. Der Pluralismus ist ein absolutes Prinzip. Wer sich entschließt, diesem pluralistischen Begriff des Wahrheitskriteriums einen einheitlichen Wahrheitsbegriff entgegenzusetzen, w i r d theoretisch aus dem von der Wissenschaft eingenommenen Bereich ausgeschlossen21. Der Weg, der sich der Rechtstheorie öffnet, ist bereits durch die Pluralität der theoretischen Konstruktionen der Gesellschaftswissenschaft gekennzeichnet. Die Pluralität der Rechtstheorien aus Komplexen von nicht-juristischen Hypothesen über das Recht verläuft parallel zum Prozeß der politischen Behauptung des Prinzips des Wissenschaftspluralismus. Die Rechtstheorie nimmt an der komplexen politischen Strategie teil und versucht sich als Stabilisierungsinstrument zu behaupten, das i n seiner Komplexität verifiziert ist. Die Rechtsepistemologie gliedert sich so vollständig i n einen globalen Planungszusammenhang der Ideologie ein sowie i n den geplanten Entwurf der Koexistenz, der die Theorien immunisiert und sie zu einem gewissen Grad an Verträglichkeit führt. 19 Zu einer Verteidigung des Pluralismus als epistemologischer Strategie vgl. Spinner, Theoretischer Pluralismus; ders., Pluralismus als Erkenntnismodell, insbesondere S. 237-241, wo die Haltbarkeit des Pluralismus gegen die von Brentano im zit. Aufsatz aufgestellten kritischen Überlegungen vertreten wird (s. Fn. 17); vgl. audi Radnitzky, Theorienpluralismus. In mindestens zwei jüngeren Werken wird ein breiteres Spektrum von Problemen, die mit dem Pluralismus zusammenhängen, behandelt: Müller-Schmid, Emanzipatorische Sozialphilosophie; Kremendhai, Pluralismustheorie. Aus einer verfassungsmäßigen Perspektive: Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip. 20 Preuß, Legalität und Pluralismus, S. 124. 21 So Preuß, Legalität und Pluralismus, S. 122.
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Die neue Rechtstheorie i n Deutschland bleibt unverständlich, wenn man das Gesamtbild der Gesellschaftswissenschaften und das sterilisierte Spektrum des Pluralismus unberücksichtigt läßt. Da sie ihre Autonomie verloren hat, ist die Rechtstheorie nur ein Anhängsel der umfassenden Debatte der zeitgenössischen deutschen Gesellschaftsphilosophie über die Wissenschaften. I n diese Diskussion, eingeleitet durch die Kontroverse zwischen Popper und Adorno Anfang der sechziger Jahre, w i r d auch die moderne Epistemologie einbezogen, die von der Hermeneutik zur gesellschaftskritischen Theorie, zum kritischen Rationalismus, zur analytischen Philosophie und zum strukturalen Funktionalismus führt. Es dauert zehn Jahre bis die Rechtstheorie diese Diskussion aufnimmt. I n dieser Zeit organisiert sich die Rechtstheorie als widergespiegeltes und übertragenes Bild, als Teilbereich der aufgespalteten epistemologischen Modelle der Gesellschaftswissenschaft. Die neuere Rechtstheorie beginnt Anfang der siebziger Jahre. Es entsteht eine ganze Reihe von Werken zur Rechtstheorie. 1970 w i r d die Zeitschrift Rechtstheorie, Zeitschrift für Logik, Methodenlehre und Soziologie des Rechts 22 ins Leben gerufen. Ein Jahr danach erscheint der von G. Jahr und W. Maihofer herausgegebene Sammelband mit dem Titel Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion. I m gleichen Jahr w i r d von A r t h u r Kaufmann der Sammelband Rechtstheorie, Ansätze zu einem kritischen Rechtsverhältnis herausgegeben. Ein Jahr später erscheint der zweite Band des Jahrbuchs für Rechtssoziologie und Rechtstheorie m i t dem Titel: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft (Herausgeber: H. Albert, N. Luhmann, W. Maihofer und V. Weinberger). Die Diskussion nimmt einen immer breiteren Rahmen an. Diese umfangreiche Konstellation, die jedoch immer deutlicher einen Abhängigkeitscharakter annimmt, läßt sich leicht innerhalb der kanonischen Linien einordnen, i n denen die Debatte über die Gesellschaftswissenschaften versiegt ist. Die gegenwärtige Rechtstheoriediskussion zeichnet ein klares B i l d dieser Situation und der rituellen Kanonizität ihres Spektrums auf. Einzig die Stimme Luhmanns hebt sich innerhalb dieser Diskussion ab. Sie stellt zugleich die einzige Alternative zum Scheitern der Stabilisierungsstrategie dar, u m die sich die Rechtsepistemologie nach Kelsen organisiert hat.
22
Hrsg. von K. Engisch, H. L. A. Hart, H. Kelsen, U. Klug, K. R. Popper.
Kapitel
I
Die Rechtshermeneutik 1. Exemplarische Bedeutung der Rechtshermeneutik Es ist ausschließliches Verdienst Gadamers, wenn die Hermeneutik und m i t ihr das autoritäre Denken, das m i t Heidegger seine ganze involutionäre Kraft aufgebraucht zu haben scheint, i n den sechziger Jahren 1 als philosophische Lehre neue Kraft gewinnt, bis sie sich schließlich ganz i n die jüngste Debatte über die Gesellschaftswissenschaften eingliedert 2 . Das Werk Gadamers stellt keine Phase des Wiederauflebens hermeneutischer Reflexion dar — diese kam nie ganz zum Erliegen, vor allem nicht i n der theologischen Tradition — sondern den Versuch, das hermeneutische Wissen zur Grundlage der Gesellschaftswissenschaften zu machen, aber nicht als ihre Methode, sondern als „Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt" 8 . Erfahrung der Wahrheit ist das Verstehen. Das Verstehen vermittelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist der Prozeß, der es der Vergangenheit ermöglicht, i n Form der Überlieferung wieder aufzuleben. Diese Überlieferung beruht auf dem Autoritätsprinzip und damit auf dem Vorurteil, das bei i h r entsteht. Gadamer benutzt die Instrumente des phänomenologischen Idealismus Husserls, des Existenzialismus und der Ontologie Heideggers und konsequenterweise auch die Instrumente der dogmatischen Theologie, u m eine philosophische Lehre aufzubauen, die bis zu einem bestimmten Grad m i t der klassischen hermeneutischen Überlieferung bricht und sich als Ontologie versteht. Grundlage ist das Verstehen der menschlichen Existenz. Sein ist die Sprache, die verstanden wird, sagt Gadamer. Die vage, undurchdringliche Sprache dieser philosophischen Doktrin ist für Albert 4 nur dazu da, „Trivialitäten aller A r t als höhere Weisheit zu drapieren". 1
Die erste Auflage von Wahrheit und Methode H.-G. Gadamers, stammt aus dem Jahre 1960. 2 Vgl. Radnitzky, The Metascience, S. 19 ff.; Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Kap. III, 3; Hermeneutische Philosophie, insbesondere die Einführung von Pöggeler und die Beiträge von Gadamer, Apel, Habermas; Hermeneutik und Dialektik; Hermeneutik und Ideologiekritik. 3 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. XXVII.
Kap. I: Die Rechtshermeneutik
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Diese Doktrin stellt eine Neufassung des Wahrheitsbegriffs dar, indem sie sich des Autoritäts- und Traditionsbegriffs bedient. Sie ist der Versuch, auf dem Modell der Vergangenheit die Gegenwart rhetorisch zu rechtfertigen und das Bemühen, den Subjektivismus angesichts der Angst vor dem Objektivismus 5 neu zu beleben. Angst vor der Wissenschaft und der Welt, Angst vor dem Positiven, das als schlechtes Erzeugnis des Positivismus gefürchtet ist. Für die moderne Philosophie ist dieses Unbehagen nicht neu. M i t Hilfe der ontologischen Kategorien des Sinns und des Verstehens verfolgt die philosophische Hermeneutik das Ziel, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, von Gesellschaft und Natur wiederherzustellen. Verstehen ist die spezifische Kategorie der Geisteswissenschaften; erklären ist dagegen die Kategorie der Naturwissenschaften 6 . I n Wahrheit und Methode unterstreicht Gadamer die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik für die philosophische Hermeneutik. Die juristische Hermeneutik faßt das reale Verfahren der Geisteswissenschaften i n sich zusammen. I n ihr, so präzisiert Gadamer, „haben w i r das Modell für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, das w i r suchen" 7 . Das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Gadamer sucht, ist ein Abhängigkeitsverhältnis, i n dem sich die Gegenwart i m Lichte der Vergangenheit erhellt: der Sinn der Gegenwart ist bereits i n der Autorität der Überlieferung, i n der Wahrheit der Vergangenheit gegeben. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit entfaltet sich das Verstehen, das an die Überlieferung als Bedingung seiner Möglichkeit gebunden ist. A n dieser Stelle w i r d der erste Aspekt der Exemplarität juristischer Hermeneutik deutlich. Bei der Textauslegung ist der Interpret an den Text gebunden. Der Text, der die Form darstellt, i n der sich die Vergangenheit vergegenwärtigt, hindert den Interpreten daran, seinen Standpunkt nach Belieben zu wählen, denn er findet i h n bereits vor. M i t der juristischen Hermeneutik ist es möglich, „daß sich i n der Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält" 8 . Sie erfaßt i n exemplarischer Weise das wahr4
H. Albert, Plädoyer, S. 53 ff., im allgemeinen den Aufsatz: Kritische Rationalität und politische Theologie. Zur Analyse der deutschen Situation (1969), ebd., S.45-75; vgl. R. Bübner, Dialektik und Wissenschaft, den Beitrag: Über die wissenschaftliche Rolle der Hermeneutik, S. 89 - 111. 5 Vgl. Albert, Plädoyer, S. 53 ff. 6 S. statt aller, v. Wright, Explanation and Understanding. 7 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 311. 8 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 315.
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Teil I I : Die Theorie
haft gemeinsame Element aller Formen der Hermeneutik als philosophischer Disziplin. Die juristische Hermeneutik stützt sich auf das „wirkungsgeschichtliche Bewußtsein". Dies ist der zweite Aspekt der Exemplarität der juristischen Hermeneutik. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein bedeutet i m wesentlichen, daß sich i m A k t des Verstehens der Horizont der Gegenwart mit der Vergangenheit und durch die Vergangenheit errichtet. M i t der Verschmelzung des alten und neueren Horizonts werden beide i n eine neue Ganzheit gebracht. Der Interpret weiß sich i n der Tradition. Er ist bereit, sein Vorurteil m i t dem des Anderen zu messen, sich i n diese höhere Verschmelzung von Horizonten einzufühlen, i n der A l t und Neu zu einer neuen Blüte zusammenwachsen. Bei dieser interpretativen Operation ist Verstehen zugleich Interpretation und Applikation. Die Exemplarität der juristischen Hermeneutik kommt gerade i n der Tatsache zum Ausdruck, daß i n i h r genauso wie i n der theologischen Hermeneutik, die — zwischen dem Text, der nicht offenbart, sondern gesetzt ist und dem Sinn, der schon i m konkreten Augenblick seiner Auslegung angewandt w i r d — bestehende Spannung grundlegend ist. Ein Gesetz „ w i l l nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich i n seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren" 9 . Die juristische Hermeneutik, die die Applikation des Textes i n jedem Augenblick ihres hermeneutischen Tuns verwirklicht, birgt während dieser Operation das geschichtliche Wirkungsbewußtsein i n sich. „Applikation ist keine nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinem, das zunächst i n sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist erst das wirkliche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist. Das Verstehen weiß sich als eine Weise von Wirkung und weiß sich als eine solche Wirkung 1 0 ." Diese geschichtliche W i r k u n g ist, kurz gesagt, die Bestimmung der Gegenwart durch die Vergangenheit. Sie ist das Vorhandensein der Vergangenheit i m Bewußtsein als eine Existenz, die das Verstehen durch das Vorurteil bestimmt, m i t der Bereitschaft, i h m gerecht zu werden und es an das Vorurteil des Andern anzupassen. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist das von der Vergangenheit SichBestimmt-Wissen durch die anerkannte Autorität der Überlieferung. Die juristische Hermeneutik reproduziert i n exemplarischer Weise den Charakter der Universalwissenschaft, die das umfaßt, „was i n den Geisteswissenschaften Wahrheit ist". 9 10
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 293. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 323.
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Obwohl Gadamer beim Aufbau des hermeneutischen Wissens gerade der juristischen Hermeneutik eine bedeutende Rolle beimißt, so w i l l man m i t „hermeneutischem Denken" i n der Rechtstheorie weder auf die Eigenschaften der juristischen Hermeneutik verweisen, die Gadamer als exemplarisch für die Suche nach der Wahrheit i n den Geisteswissenschaften ansah, noch darauf, daß i n die Rechtstheorie ein Denken theologischen und dogmatischen Ursprungs aufgenommen wurde, so wie es Gadamer verkündete. Larenz, Esser, Kaufmann, Hassemer, Hruschka 11 oder andere Nachfolger dieser Tradition bedienen sich der ontologischhermeneutischen Begründung des Rechts als philosophischer Strategie, die mindestens drei Ziele verfolgt, i n denen sich die von Gadamer angedeutete Exemplarität nicht widerspiegelt. I h r erstes Ziel ist es, eine Alternative zur analytischen Theorie der Rechtswissenschaft und zur hermeneutischen Auffassung des Positivismus zu errichten. I h r zweites Ziel gilt dem Wiederaufgreifen der metapositiven Problematik des „Sinns" des Rechts auf der Grundlage der Trennung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. I h r drittes Ziel verfolgt die Lösung des ungelösten Problems des Verhältnisses von Sein und Sollen i n der Rechtswissenschaft. Damit ist die juristische Hermeneutik bei ihrer metadogmatischen Aufnahme i n den Bereich der Rechtstheorie nicht die beispielhafte Disziplin für die Geisteswissenschaften, trotz ihres begrifflichen Bezugsrahmens i n der philosophischen Ontologie Gadamers. A u f der Ebene der theoretischen Begründung des Rechts und der Rechtswissenschaft entzieht sich das hermeneutische Denken, zumindest was seine Absichten und sein ursprüngliches theoretisches Selbstbewußtsein betrifft, dem Vorwurf des theologischen Obskurantismus. Das hermeneutische Denken nimmt Teil an einer Diskussion, der es noch immer gelingt, aktuell zu sein.
11
Sie sind die repräsentativsten Vertreter des z. Z. in der Rechtswissenschaft unternommenen Versuchs einer hermeneutischen Begründung der Rechtstheorie. Die Literatur ist äußerst umfangreich; ich beschränke mich deswegen auf die bedeutendsten Arbeiten: Larenz, Methodenlehre, S. 165, 231; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl; Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts; ders., Die „ipsa res justa"; ders., Die ontologische Struktur des Rechts; ders., Wozu Rechtsphilosophie heute?; ders., Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik; ders., Recht und Gerechtigkeit in schematischer Darstellung; Hassemer, Tatbestand und Typus; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten; brauchbar sind auch die Beiträge von Leicht, Von der Hermeneutik-Rezeption; Schroth, Probleme; zu hermeneutischen Resultaten kommt auch die Arbeit von Kunz, Die analytische Rechtstheorie; schließlich die Arbeit von de Ruggiero, Tra consenso e ideologia.
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Teil I I : Die Theorie 2. Antianalytische Strategie. Revision des hermeneutischen Wissens und Rechtstheorie
Als antianalytische Grundhaltung, die darauf abzielt, die Autonomie der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften wiederherzustellen, w i r d die Hermeneutik von der Rechtstheorie i n der Form aufgenommen, wie sie Habermas bereits i n der Positivismusdebatte gegen Albert behauptet hat 1 2 . Habermas stellt die Hermeneutik als nicht dogmatisches, nicht notwendigerweise antiaufklärerisches Wissen dar, sondern als antisystematisches und antianalytisches Wissen, als das grundlegende Wissen der Wissenschaften, die m i t Sinnzusammenhängen und nicht m i t empirisch-analytischen Hypothesen arbeiten. Für i h n ist das hermeneutische Wissen die Form des Verstehens, die einer dialektischen Gesellschaftstheorie zugrundeliegt. Innerhalb einer Metatheorie gewinnt er dieses Wissen zurück, von der die Hermeneutik nur eine Voraussetzung ist. Habermas reduziert den Universalanspruch der Hermeneutik auf eine Explikation von Sinn i m Prozeß des Verstehens und auf die Tatsache, daß diese Explikation für die Gesellschaftswissenschaft konstitutiv ist. Danach sollte Habermas Freud entdecken, und die Hermeneutik sollte einen ganz anderen Anspruch und eine ganz andere Funktion haben: therapeutisches und revolutionäres Instrument. I n die Polemik m i t Albert und m i t dem Positivismus i n der Gesellschaftswissenschaft führt Habermas das hermeneutische Wissen als Grundlage der Wissenschaft ein und erkennt nur i h m die Fähigkeit zu, den Sinn zu durchdringen und i h n zu explizieren. Diese Vermittlung befreit die Hermeneutik von der theologischen Form des autoritären Denkens, an das Gadamer sie gebunden hat. Sie ermöglicht der Rechtstheorie, sich nun nicht mehr auf der Grundlage der „Exemplarität" der juristischen Hermeneutik Gadamers neu zu bilden, sondern vielmehr auf der abgeleiteten und komplementären Problematik des Sinns und des Verstehens, als nicht notwendigerweise autoritäre Grundlage der Gesellschaftswissenschaft und als Unterscheidungsgrund gegenüber den Naturwissenschaften. I n dieser Beschränkung der Universalansprüche der Hermeneutik findet die Rechtstheorie umfangreiche Möglichkeiten, die sie gegen die naturalistischen Abweichungen benutzt, u m die Gefahren des Szientismus bei der Begründung der Wissenschaft zu vermeiden 13 . Die Hypothese, die die Hermeneutik wieder i n die Rechtstheorie eingliedert, ist die von Habermas genannte antinaturalistische, d. h. antisystematische Hypothese. 12 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie; ders., Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus. 13 Dazu ausführlich Kunz, Die analytische Rechtstheorie.
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I m Rahmen einer streng empirischen Theorie „kann der Begriff System nur formal den interdependenten Zusammenhang von Funktionen bedeuten, die ihrerseits zum Beispiel als Beziehungen zwischen Variablen des gesellschaftlichen Verhaltens interpretiert werden" schreibt Habermas gegen die Analytiker 1 4 . Dieser Systembegriff läßt sich genauso wenig m i t der analysierten Erfahrung vereinbaren wie m i t den Sätzen, die das System erklären. Zudem sind i n den empirisch-analytischen Verfahren nur gewisse logisch-formale Regeln zum Aufbau des deduktiven Systems der hypothetischen Sätze vorgeschrieben. Parallel dazu w i r d behauptet, die deduktiv konstruierten Sätze hätten empirischen Sinn. Die dialektische Theorie dagegen bezweifelt, daß „die Wissenschaft gegenüber der vom Menschen erzeugten Welt m i t der gleichen Indifferenz vorgehen kann, m i t der sie erfolgreich i n den exakten Naturwissenschaften vorgeht". Das leitende Erkenntnisinteresse der Gesellschaftswissenschaft läßt sich nicht durch eine Theorie befriedigen, die es uns ermöglicht, „technisch über bestimmte gesellschaftliche Größen zu verfügen". Die Struktur des Gegenstandes, der gesellschaftliche Zusammenhang, „der zugunsten einer allgemeinen Methodologie vernachlässigt wird, verurteilt die Theorie, i n die er nicht eindringen kann, zur Bedeutungslosigkeit". Das ist die Rache des Gegenstandes, erklärt Habermas mit Pathos 15 . I n den Gesellschaftswissenschaften darf das Erkenntnissubjekt nicht den Zwängen des Gegenstandsbereiches unterliegen, den es untersuchen w i l l . Es muß sich von ihnen befreien. Das ist aber nur möglich, wenn das Subjekt den Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens als eine Gesamtheit versteht, die die Untersuchung bestimmt. „Aber das Erkenntnisideal der einstimmigen, möglichst einfachen, mathematisch eleganten Erklärung versagt, wo die Sache selbst: die Gesellschaft nicht einstimmig, nicht einfach ist, auch nicht neutral dem Belieben kategorialer Formung eingegeben, sondern anders, als das Kategoriensystem der diskursiven Logik von seinen Objekten vorweg erwartet", schreibt bereits Adorno ohne besondere hermeneutische Absichten 16 . Die empirisch-analytische Theorie ist zum Scheitern verurteilt. Es gelingt i h r nicht, den Gegenstand ihrem System anzugleichen. Die analytische Methode gestattet der Sache nicht, sich i n ihrer spezifischen Bedeutung zu behaupten, sagt Habermas. Die Methode stellt die Sache nicht zufrieden. Die Gesellschaftstheorie kann nur eine dialektische Theorie sein, deren Kategorien dem Gegenstand nicht 14 15 16
Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie, S. 156 - 157. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie, S. 158. Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 126.
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fremd sind, sondern von diesem bestimmt werden. Das ist nur möglich, wenn der Interpret bereits ein Vorverständnis des Gegenstandes hat, wenn er „bereits vorher etwas verstanden hat". Die Wissenschaft eröffnet den Zugang zu einem Gegenstand, von dessen Struktur der Interpret bereits eine vorgefaßte Meinung, ein Vorurteil hat. Daraus ergibt sich ein Kreis, der Bedingung für die Erkenntnis ist. Nicht durch eine unmittelbare, empirische oder apriorische Beziehung zum Gegenstand ist er zu durchbrechen, „sondern nur i n Anknüpfung an die natürliche Hermeneutik der sozialen Lebenswelt dialektisch durchzudenken. Anstelle des hypothetisch-deduktiven Zusammenhangs der Sätze", schließt Habermas, „ t r i t t die hermeneutische Explikation vom Sinn" 1 7 . Der Gegenstand selbst verschließt sich einer objektivistischen Erklärung. Die i n i h m implizierten Sinnzusammenhänge können nur durch das hermeneutische Bewußtsein des Interpreten erklärt werden, „durch eine Reflexion des wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangs, der die erkennenden Subjekte m i t ihrem Gegenstand immer schon verbindet" 1 8 . Den Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften zu durchdringen, bedeutet, den durch die symbolische Prästrukturierung des Gegenstandes vermittelten Sinn zu erklären. Diese Erklärung ist jedoch nur möglich, wenn „die Wahl des kategorialen Rahmens und der theoretischen Grundprädikate" einem „tentativen Vorbegriff des Objektbereichs selber" korrespondiert 19 . Nur der Eingriff von Habermas i n die philosophische Ontologie Gadamers konnte die Hermeneutik für eine theoretische Neubegründung des Rechts und der Rechtswissenschaft nutzbar machen. Dies geschah durch die Aufwertung des heumeneutischen Wissens und der Erklärung des Sinns als der einzigen theoretischen Tätigkeit, die i n der Lage ist, die Autonomie der Gesellschaftswissenschaft wiederherzustellen. Die Rechtstheorie konnte die Rechtshermeneutik nicht i n der von Gadamer für beispielhaft gehaltenen Form aufnehmen. Sie war i m wesentlichen dogmatisches Denken, das sich nicht i m geringsten vom theologischen und philologischen Denken unterschied und die Gefahr eines autoritären Positivismus i n sich barg. Gerade dieses Risiko mußte die theoretische Umkehrung der Epistemologie vermeiden. Die Rechtstheorie nimmt eine neugestaltete Hermeneutik auf, die sich als philosophische Disziplin ausschließlich das Problem des Sinnes und der Konstruktion des Sinns i m Verstehensprozeß stellt. Sie ermöglicht eine 17 18 19
Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 78. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 78. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 78.
Kap. I : Die Rechtshermeneutik
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theoretische Neubegründung des Rechts. Das Recht w i r d als ein sinnvoller Text aufgefaßt. Die Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Praxis strebt danach, den Sinn i m Prozeß der Interpretation, des Verstehens und der Anwendung des Rechts zu erklären. Eine derartige hermeneutische Neubegründung kommt der Rechtstheorie auf verschiedene Weise zu Hilfe. Sein Selbstverständnis beseitigt den naturalistischen Objektivismus, und der Verstehensprozeß ermöglicht dem Interpreten, subjektive Wertprinzipien i n die Interpretation und A n wendung des Rechts einzubringen, die das System praktikabler gestalten. Die objektive Rationalität des Systems, das eine positive Tatsache ist, w i r d als geistiges Produkt dargestellt, dem ein Sinn innewohnt. Dieser Sinn ist das aus dem Text herausgelesene Wesen des Rechts. Die Suche nach dem Sinn als grundlegende und zusammenfassende theoretische Tätigkeit läßt die positive Form der Abstraktion bestehen, gibt ihr aber eine immanente Duplizität, da die wissenschaftliche Forschung sich weder i m Text noch i n der Geschichtlichkeit des Textes, sondern i m Bezug des Positiven auf den Sinn erschöpft, der immer etwas Metapositives oder Metahistorisches ist. I m wesentlichen w i l l die hermeneutische Operation auf der Ebene der Rechtstheorie ein Verhältnis der gegenseitigen Angleichung von Wirklichkeit und Metaphysik, von Rechtspositivismus und Ontologie, i n ihrer theoretischen Widerspiegelung herstellen, da sie dem Rechtstext, dem positiven Rechtssystem, die Eigenschaft einer gültigen sinnhaften, symbolischen Struktur zuerkennt als unerläßliches, empirisches Vehikel des Sinns. Sie behauptet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text führe zwingend zum Verständnis des Sinns, der für den Text grundlegend ist und bereits vor i h m existiert. Zusammen mit dem Text rekonstruiert der Interpret auch den Sinn. Da er vom Text ausgeht, vernachlässigt er das Positive nicht. Er mißt i h m nur einen Wert bei, der den objektiven Sinn des Textes i n den Sinn von etwas anderem umwandelt, das sich außerhalb des Textes befindet und sich durch das Bewußtsein des Interpreten i m Text enthüllt. Doch der Sinn des verborgenen Wesens ist nichts anderes als der Sinn des Textes, der aufgrund der Bewußtseinstätigkeit heilig geworden ist. Die Hermeneutik bringt die Theorie auf eine Ebene, die zwischen Positivem und Metapositivem, zwischen Tatsache und Wert, zwischen Empirie und Ontologie liegt. Diese Ebene w i r d vom Bewußtsein des Interpreten, vom Prozeß des Verstehens gezogen. Die Hermeneutik braucht sich das Problem des Positiven nicht zu stellen, da das Positive nie für sich spricht. Jenseits des Positiven, des Textes, spürt die Hermeneutik immer etwas auf, das Ausdruck des Sinns des Positiven ist. Sie entdeckt, daß das Positive, wenn auch nur teilweise, in jedem Falle den Sinn ausdrückt. 8 De Giorgi
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Teil I I : Die Theorie
Da die positive Existenz des Rechts vorausgesetzt wird, muß die hermeneutische Operation seine Stabilität garantieren. Das positive Recht w i r d zum Schauplatz einer besonderen Ambivalenz. Sein System ist gerade aufgrund dieser Ambivalenz Gegenstand der Wissenschaft. Die Jurisprudenz ist eine Methode, deren Erkenntnisziele weder i n der formalen Anordnung eines gegebenen Stoffes als ihrem Gegenstand bestehen, noch i n seiner rationalen Rekonstruktion, sondern i n der Zurückführung auf ein Bewußtseinselement. Es soll festgestellt werden, i n welchem Maße die empirische Gegebenheit die Wahrheit, von der sie ausgeht, verwirklicht und ausdrückt. Es stellt sich die Frage nach dem Grund ihrer Existenz und nach ihrem Inhalt. Die Jurisprudenz ist eine Methode zur Erforschung der subjektiven Wahrheit des positiven Rechts, die den „Sinn des Rechts" i n der Geschichte zum Ausdruck bringt. Diese Jurisprudenz verfügt aber über keine anderen Operationen als die vom Positivismus festgelegten, nur mit dem Unterschied, daß ihr Zweck nicht mehr i n der Suche nach der Rationalität des Positiven besteht, sondern i n der Suche nach einer metapositiven Vernunft. Ausgehend vom Text, rekonstruiert sie der Interpret u m festzustellen, inwieweit die materielle Existenz des Rechts dem geistigen Wesen des Gerechten entspricht. Die Fähigkeit, das geistige Wesen des Gerechten oder den Rechtssinn zu entdecken, ist nur dem m i t einem hermeneutischen Bewußtsein ausgestatteten Interpreten möglich, der den Text, das positive Recht, als den materiellen Träger dieses Wertes durch Auslegung konkretisiert. 3. Sinn, Text und Vermittlungsprinzip Die Jurisprudenz, sagt Larenz, ist diejenige Wissenschaft vom Recht, die sich m i t i h m vornehmlich unter dem normativen Aspekt und daher m i t dem „Sinn" von Normen befaßt 20 . Die normative Geltung und der Inhalt der Normen des positiven Rechts sind Gegenstand der Sätze der Rechtswissenschaft. Die Sätze der Rechtswissenschaft beziehen sich nicht auf Tatsachen, auf Ereignisse, die i n den Bereich der Wahrnehmung und Beobachtung empirischer Daten fallen, sie beziehen sich auf den Sinn bestimmter Vorgänge, auf den normativen Sinn gewisser Akte. Die Jurisprudenz befaßt sich „ m i t dem Verstehen von sprachlichen Äußerungen, des ihr zukommenden normativen Sinns" 21 . Die Jurisprudenz ist Wissenschaft: sie problematisiert den Rechtstext, hinterfragt ihn nach verschiedenen Möglichkeiten der Bedeutung. Dieses Problematisieren ist ein durch die Methodenlehre der Jurisprudenz festgelegter Vorgang. Sie beschreibt nicht nur die Vorgehensweise 20 21
Larenz, Methodenlehre, S. 171. Larenz, Methodenlehre, S. 181.
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der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern stellt auch Fragen, die mit dem Wert, dem möglichen Erfolg bestimmter Methoden zusammenhängen. Die heuristische Fähigkeit und der Erfolg der methodologischen Tätigkeit hängen davon ab, inwieweit sie dem spezifischen Erkenntnisziel der Jurisprudenz gerecht werden. „Das Erkenntnisziel der Jurisprudenz ist die Auffindung des hier und jetzt (im normativen Sinn) geltenden Rechts, und zwar als eines nicht schlechthin gegebenen', sondern eines aus einem (in Gesetzen und richterlichen Entscheidungen, Verwaltungsakten und Verträgen) vorgegebenen Stoffs jeweils erst näher zu entwickelnden Regelungsinhalts 22 ." Die Jurisprudenz läßt sich von der Arbeitshypothese leiten, diesem Stoff wohne bis zu einem gewissen Grade eine innere Ordnung inne und dieser Stoff stelle den Versuch dar, eine Reihe miteinander übereinstimmender Antworten auf das Problem des Rechts, die Gerechtigkeit, zu geben. Die Legitimierung der Erkenntnisziele der Jurisprudenz erfolgt durch die philosophische Hermeneutik des Rechts. Die Methodologie, sagt Larenz, führt — gewollt oder ungewollt — zur Philosophie. Und Aufgabe der Philosophie ist die hermeneutische Erklärung des Sinns. Ob bestimmte Methoden geeignet sind, das Erkenntnisziel der Jurisprudenz und ihre praktischen Aufgaben zu fördern oder nicht, bestimmt die Hermeneutik. „Unter Hermeneutik", schreibt Larenz weiter „verstehe ich hier die Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit und den besonderen Weisen des ,Verstehens i m engeren Sinn*, d. h. des Verstehens von Sinnhaftem als solchem, i m Gegensatz zum »Erklären 4 von Objekten ohne Rücksicht auf Sinnbezüge" 23 . Die allgemeine Hermeneutik liefert die Grundlagen der Rechtsmethodologie. Sie ist der Ort, an dem die Methodologie über sich selbst reflektiert, an dem das mögliche Maß von Rationalität festgelegt wird. Sie ist der Ort, an dem sich die schöpferische Phantasie des Interpreten bestätigt. Die Methodologie ist die Metawissenschaft der Jurisprudenz, ständige Vermittlung von Hermeneutik und Jurisprudenz. Das hermeneutische Wissen ist die Grundlage für alles wissenschaftliche Wissen über das Recht. A u f i h m erhebt sich eine Methodologie der Praktiken der Jurisprudenz. Ihre Gültigkeit hängt von dem Transzendenzgrad ab, den sie bei der Erklärung des Sinns erreichen, dem die Hermeneutik die Richtung weist. Die Hermeneutik ist die D o k t r i n der Ambivalenz des Rechts, seiner Duplizität. Hypothese dieser Doktrin ist die, daß das bestehende Recht seine geschichtliche Form, das Prinzip des Rechts, nicht ausschöpft, diese Form es jedoch teilweise ausdrückt. Von diesem partiellen Ausdruck, von dieser historischen Konkretion des Prinzips geht die 22 23
8*
Larenz, Methodenlehre, S. 226. Larenz, Methodenlehre, S. 227.
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Wissenschaft auf das Prinzip zurück, daß die Hermeneutiker „die Sache Recht" nennen. Das Grundproblem der hermeneutischen Forschung besteht darin, den Ort festzulegen, an dem die Polarität des Rechts erfaßt und aufgehoben wird, an dem die Ambivalenz, die auf jeden Fall beibehalten, zugleich transzendiert wird. Die Kategorien werden bei der verzweifelten Suche nach dem terminus médius, nach dem Dritten bestimmt, das die Vermittlung zwischen den beiden Polaritäten des positiven Rechts und der „Sache Recht" bewirkt. Das Dritte muß die Dichotomie von Sein und Sollen, von Realität und Metaphysik, von Positivismus und Ontologie, Geschichte und Bewußtsein vermitteln. Das epistemologische Vermögen ist an die Feststellung des Prinzips, das die Vermittlung durchführt, genau so gebunden wie das Scheitern des hermeneutischen Unternehmens, da sein verzweifeltes Suchen entweder i n einer subjektivistischen Auflösung des Vermittlungsprinzips endet oder sich i n einem alogischen und zirkulären Verfahren zusammenschließt, wenn Text und Sinn — Empirie und Ontologie — sich gegenseitig an der Hand nehmen 24 . Esser 25 sieht das Vermittlungsprinzip i m Vorverständnis des Interpreten vom Recht. Vorverständnis ist die Vorstellung, die der Interpret vom Recht als Ordnung hat, das den Anspruch erhebt, das Gerechtigkeitsprinzip zu erfüllen. Es ist das Instrument, m i t dem der Richter sich der Entscheidung über eine Tatsache nähert. Er versucht dabei das Rechtsprinzip durch eine gerechte Entscheidung geltend zu machen. Vorverständnis ist eine Bewußtseinsangelegenheit, die, da sie sich als gesellschaftliches Erzeugnis ausgibt, nicht subjektiv ist. Sie stellt vielmehr i n der Subjektivität des Interpreten die Konkretion der Gerechtigkeitserwartungen dar, die die Gesellschaft dem Recht gegenüber hegt. Vorverständnis ist nicht nur Rationalitätsmaßstab der Entscheidung, sondern auch des positiven Rechts, da es die Sinnkonkretion ist — wenn auch nur teilweise — die den Zugang zum Sinn des Ganzen durch die Lektüre des Textes ermöglicht. Vorverständnis ist das Bezugsschema, auf dem der mögliche Sinn des Textes aufbaut. Es ist ordnende Vorwegnahme, Hypothese, die sich ständig durch neue, den möglichen Sinn erklärende Hypothesen korrigieren läßt. Vorverständnis ist der Motor, der den Prozeß des Verstehens i n Gang hält, der dann zum Vorverständnis selbst zurückkehrt, u m ihm gerecht zu werden oder es zu verbessern. Trotz des begrifflichen Aufwandes unterscheidet sich Essers Vorverständnis nicht vom Vorurteil. Trotz der Polivalenz der Werte, die ihr 24
Vgl. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 32. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl; zu einer Kritik der Polivalenz des Begriffs „Vorverständnis" bei Esser, s. Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, S. 19 - 23. 25
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zugeschrieben werden, bedeutet diese Kategorie, von dem sie umgebenden Mystizismus befreit, nur, daß der Interpret eine Vorstellung vom Richtigen hat. Er glaubt, daß das positive Recht diese Vorstellung ausdrücke, wenn auch nur teilweise. Mit seiner Entscheidung meint er einen Sinn gefunden zu haben, den er jedoch der Überlieferung entnommen hat und der nur dort zu suchen ist. Er erhebt den Anspruch, daß über seine Vorstellung ein rationaler Konsens erzielt wird. Die Bemühungen Essers, die Kategorie des Vorurteils anders als auf gewöhnliche Weise darzustellen, führen zu einer simplifizierenden Auffassung der Wissenschaft, zu einer Rückentwicklung der Reflexion, die sich der Wahrheit des subjektiven Standpunktes des Interpreten nähert und die obskurantistisch — wie sie ist — sich weigert, bei dem Positiven zu verharren und es als Gegenstand der Wissenschaft zu betrachten. Sie überträgt vagen sprachlichen Zusammenhängen die Aufgabe, das Vorurteil als hermeneutische Rationalität auszuweisen. Andere Theoretiker der Hermeneutik haben versucht, den Terminus der Vermittlung i m Zirkelverfahren des Verstehens anzusetzen, u m so aus dem Rechtsdenken das logische Verfahren der Subsumption zu eliminieren 2 6 . Stellvertretend für alle anderen soll Kaufmann sprechen. Für ihn ist Rechtsfindung nicht nur ein logischer Syllogismus, sondern ein „Hand in Hand gehendes Hinübertasten vom Bereich des Seins i n den Bereich des Sollens und vom Bereich des Sollens i n den Bereich des Seins, ein Wiedererkennen der Norm i m Sachverhalt und des Sachverhalts i n der Norm" 2 7 . Auch hier verbirgt der verbale Ästhetizismus das Ungenügen, den Terminus der Vermittlung i n einem nicht vitiösen Verfahren festzustellen, so wie der Versuch Essers das Ungenügen verbarg, dem Vorverständnis einen „Sinn" zu geben, das sich vom gewöhnlich Verstandenen unterscheidet. Der hermeneutische Zirkel, auch Spirale 28 genannt, ist der Zirkel eines Denkens, das vorgibt, Sein und Sollen zusammenweben zu können, indem es die interpretierende Vernunft zur endgültigen Auflösung ihres Vermögens führt. Die Vernunft geht von der Subjektivität aus und kehrt zu ihr zurück, nachdem sie eine intakte Positivität gesehen 26
Engisch, Logische Studien, S. 15; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 206 -207, Fn. 54; vgl. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache; ders., Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung; Göttner, Logik der Interpretation, S. 147 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 134 ff.; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 103 ff.; Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, S. 24-27; s. auch Stegmüller, Der sogenannte Zirkel des Verstehens. 27 Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 32. 28 Vgl. Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 107.
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hat und dadurch zufriedengestellt ist. Die Vernunft weiß sich bereits als Bewußtsein des Vorurteils, das sie sich als Sinn des Rechts setzt. Entfremdet ist sicher die Realität des Rechts, doch vitiös ist das Sichim-Kreise-Bewegen des Denkens, das vorgibt, diese Entfremdung zu überwinden, indem es die Vernunft durch das Gefühl ersetzt und liebev o l l Sein und Sollen an der Hand nimmt. 4. Hruschka: Das Verstehen von Rechtstexten I n Übereinstimmung mit der ursprünglichen Instanz des hermeneutischen Denkens sehen andere den Terminus der Vermittlung i m globalen Prozeß des Verstehens, i n dem das Vorverständnis und der hermeneutische Zirkel als Momente eines Ganzen erscheinen, als Teile einer unauflöslichen Einheit, die, ausgehend vom Rechtstext, zur Wahrheit gelangt. I n diese Richtung geht auch das Werk Joachim Hruschkas: Das Verstehen von Rechtstexten 29. Dieses Werk analysiert den gesamten Prozeß des Verstehens und nimmt alle Hindernisse i n Angriff, die sich dem Interpreten stellen, der, ausgehend vom Rechtstext als materiellem Vehikel des Sinns, i n die ontologische Tiefe der „Sache Recht" eindringen w i l l . I n seiner Geschlossenheit stellt dieses Werk einen vollständigen systematischen Aufbau der hermeneutischen Spekulation dar. Gerade diese Systematik, die die „transzendentalen Träumereien" 3 0 , Produkt der hermeneutischen Reflexion, ordnet, läßt die Darstellung dieses Werkes unerläßlich werden. Das erste Problem, m i t dem sich Hruschka beschäftigt, hängt m i t dem Begriff „Sinn" zusammen. Einige Theorien, so sagt er, betrachten den Sinn als eine Eigenschaft, als ein A t t r i b u t des Zeichens, das i h n zum Ausdruck bringt. Eine solche Ansicht ist irreführend. W i r d sie akzeptiert, so muß die Frage gestellt werden: wie ist das Zeichen oder die Zeichenverbindung zu diesem Sinn und ausgerechnet zu diesem bestimmten Sinn gelangt? Es ist notwendig, die Kategorie des Sinns aus hermeneutischer Perspektive neu zu überdenken und zu definieren, da sie die zentrale Rolle i m Verstehensprozeß spielt. Wort und Sinn stellen keine geschlossene und selbstgenügsame Einheit dar. Das Wort ist vielmehr ein „über sich hinausweisendes Zeichen für etwas, das seinerseits einen grundsätzlich außersprachlichen Charakter hat" 3 1 . Hruschka folgert: „Nicht eine Qualität des Wortes, sondern dessen Relation auf eine Sache (d.h. auf einen Sach- oder Lebenszusammen29 30 31
Zit. in Fn. 11. So der Titel einer aufschlußreichen Arbeit von Albert. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 29.
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hang) ist dann sein Sinn." Dies gilt sowohl für das Wort als auch für die Gesamtheit der Worte, die zusammen einen Text bilden. I m Falle eines Textes kann nicht vom Sinn als seiner Eigenschaft gesprochen werden. Der Sinn ist als eine Relation zu einem außersprachlichen Kontext zu verstehen. Die Neubestimmung des Sinnes als Relation gilt für alle Texte, auch für Rechtstexte: „Auch die Auslegungen von Rechtsansichten i n positivem Recht" behauptet Hruschka, „zeigen immer über sich hinaus auf außersprachliche Sach- oder Lebenszusammenhänge, und sie müssen als auf diese Weise bedeutend angesehen werden, solange man sie überhaupt als sinnvoll akzeptiert" 8 2 . Interpretation des Textes ist immer eine Interpretation des Gegenstandes, von dem i m Text die Rede ist. Die Interpretation ist nur möglich, wenn der Interpret bereits ein Vorverständnis von dem Gegenstand oder eine Sinnantizipation gegenüber dem Text hat. Wer „immer schon i n einem Lebensverhältnis zu der besprochenen Sache steht", besitzt diese Sinnantizipation. Er hat konkrete Standpunkte zur Sache, Meinungen oder Vormeinungen, m i t denen er sich dem Text nähert. Dessen ist sich der Interpret nicht immer bewußt. Erst der A k t der Reflexion macht dem Bewußtsein die Inhalte des Vorverständnisses deutlich. Sie werden nunmehr kritisierbar und durch den Text korrigierbar. Das Vorverständnis als eine vorstrukturierte, vorgeformte Meinung stellt die Anwesenheit des Bildes von dem i m Text besprochenen Gegenstand i m Bewußtsein des Interpreten dar. Der Text ist die sprachliche Vermittlung zwischen einer außersprachlichen Sache und ihrem Bewußtseinsinhalt, ist Vor-Bild. Die Lektüre des Textes ist der Mechanismus, der die Voraussetzungen des Verstehens i n Gang setzt, d. h. der „Rückgriff auf die außersprachlichen, i n den zu verstehenden Texten zur Sprache gebrachten Sachen" 83 . Das Verstehen ist der Prozeß, der die i n i h m ausgedrückte außersprachliche Sache zum Vorschein bringt. Diese außersprachliche Sache, die durch die Rechtstexte eine sprachliche Existenz erhält, definiert Hruschka als das Rechtliche. „Das »Rechtliche4 w i r d m i t h i n durch die positiven Rechtstexte nicht »selbständig4 bestimmt, die Texte sind i m Gegenteil ein Ausdruck dieses »Rechtlichen4, das ihnen prinzipiell jenseitig ist 3 4 ." Macht dieses „Rechtliche" einen Text zum Rechtstext, der i m Prozeß des Verstehens zu diesem Prinzip jenseits von sich selbst führt, so sieht die Hermeneutik ihre wichtigste Aufgabe i n der Erforschung und Bestimmung dieser außersprachlichen Sache, dieses Rechtlichen. 32 33 34
Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 41. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 48. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 48.
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Zunächst müssen Negativbestimmungen der „Sache Recht" formuliert werden. Die erste dieser Bestimmungen lautet: „Die ,Sache Recht', die i n den zu verstehenden und verstandenen Rechtsauslegungen positiviert ist, kann nicht selbst ein Rechtstext sein oder i n Analogie zu den positiven Texten bestimmt werden. Vielmehr ist sie den Rechtstexten gegenüber schlechthin ein aliud 3 5 ." Wäre die „Sache Recht" ein Rechtstext oder einem Rechtstext ähnlich, dann müßte sie als solche i n einem Rechtstext erfaßt werden können, der dann das ,wahre' und alleinige Recht darstellen würde. W i r gerieten i n einen fehlerhaften logischen Zirkel, sagt Hruschka, denn auch für diesen Text würde sich das Verstehensproblem wieder stellen und damit die Notwendigkeit, eine i h m jenseitige Sache zu bestimmen. A u f die Frage: was ist die „Sache Recht", kann nicht m i t einer einfachen Angabe des Rechtsinhalts geantwortet werden. Dies ist die zweite Negativbestimmung der „Sache Recht". „Die »Sache Recht4 ist notwendig extrapositiv, und sie ist u-topisch, nicht etwa i n dem Sinn, daß sie ein i n die Sprache ausgelegtes Phantasiegebilde wäre, sondern i n dem radikaleren und präziseren Sinne, daß sie überhaupt keinen Ort (topos) i n der Sprache hat und als das »Rechtliche schlechthin 4 einen solchen Ort auch überhaupt nicht haben kann 3 6 ." Zwischen dem positiven Rechtstext und der extrapositiven „Sache Recht" besteht eine hermeneutische Dependenz, die nicht einseitig, sondern gegenseitig ist. „Sowenig die positiven Rechtstexte verstanden, und das heißt: wirksam werden können ohne einen Hinblick auf die ,Sache Recht4, sowenig hat das extrapositive »Rechtliche4 ohne die positiven Rechtstexte eine Wirklichkeit, es kann ohne sie nicht wirksam werden. Die Extrapositivität des »Rechtlichen4 findet damit ihre Ergänzung i n den allenthalben zu beobachtenden Positivierungen, die sich als notwendig erweisen, und sein u-topischer Charakter findet seine Entsprechung i n den auslegenden Er-Örterungen, durch die für das Recht immer wieder ein Ort i n der Sprache gesucht wird 3 7 . 4 4 Hat man die „Sache Recht44 negativ bestimmt, so kann man sich ihr positiv nähern. Trotz der Verschiedenheit der positiven und der extrapositiven Sphäre des Rechts, die eine auslegende Beschreibung des 35
Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 52. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 52. 37 Diese Art von Sprachspielen ist kennzeichnend für das Werk Hruschkas, in dem die Aufgabe, die Tiefe der Argumentation zu stützen, nicht nur der Verschwommenheit der Bedeutungen — die, zusammen mit ihrer Polivalenz, eine Besonderheit des hermeneutischen Denkens ausmacht (vgl. Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, a. a. O.) — sondern auch einer reichen kreativen Phantasie übertragen wird, die in der Lage ist, der Struktur der Worte selbst Gewalt anzutun und sie zu durchdringen. 36
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extrapositiven Pols verhindert, sagt Hruschka, ermöglicht ihre gegenseitige Bezogenheit eine formale Bestimmung dessen, was die „Sache Recht", „das Rechtliche" ist, d.h. gewisse allgemeine Strukturen können dargestellt werden. Zur Darstellung dieser Strukturen bedient sich Hruschka einer Methode, die er reduktive Methode nennt. „Das soll heißen, die extrapositive ,Sache Recht' w i r d gerade als die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Rechtstexten ins Auge gefaßt, als die sie zuerst i n den Blick gekommen sind. Ausgehend von den Rechtstexten ist nach deren hermeneutischen Konstituenten zu fragen 38 ." Bei der Anwendung dieser Methode, nicht zu Unrecht als eine reduktive bezeichnet, w i r d deutlich, daß Rechtstexte ihre Existenz nur haben, um Konfliktsituationen zu einem Ausweg zu verhelfen. Gegenstand der Rechtstexte sind diese Auswege, die die Texte mit einem affirmativen oder negativen Werturteil versehen. Der Geltungsanspruch des Rechtssatzes erschöpft sich nicht, wie der Rechtspositivismus behauptet, i n der Tatsache, daß „der Rechtssatz sich lediglich als Vor-Schrift und Objektivation von Auswegmöglichkeiten aus Konfliktsituationen und als Maßstab für künftiges Handeln anböte" 39 . Dieser Anspruch verfolgt sein Ziel, w e i l jeder Rechtssatz werthafte VorSchrift, Objektivation und werthafter Maßstab ist. Der Sinn der Geltung geht aus der „Angemessenheit und der Gerechtigkeit der vorgeschriebenen Konfliktlösung" hervor und orientiert sich an ihr. Es ist der Rechtssatz, der auf die „Sache Recht" i n ihrer Extrapositivität verweist, nicht nur, weil er auf bestimmte Möglichkeiten der Lösung konfliktgeladener Situationen, sondern w e i l er auch „auf das zugrundeliegende Prinzip der Angemessenheit und Gerechtigkeit von Konfliktlösungen überhaupt" verweist. Hruschka betrachtet dann Begriffe wie „Vertrag", „Vertretung", „Ehe", „Diebstahl", „Mord" usw., die als „rechtlich qualifizierte Möglichkeiten der Lebenspraxis" bezeichnet werden. Als solche sind sie rechtliche Wesenheiten, vom positiven Recht unabhängig. Sie sind — i n Anlehnung an den Sprachgebrauch von Reinach und Gerhart Husserl — „Rechtsphänomene". Ihnen stehen die Rechtstexte gegenüber als deren Objektivierungen und Positivierungen. Sie versuchen, die Rechtsphänomene i n die Sprache einzufangen. Für die Rechtshermeneutik, folgert Hruschka, ist „ein Rechtsphänomen jene besondere Sache, die durch den jeweils zu verstehenden Rechtstext hindurch unsere A u f merksamkeit auf sich zieht und, indem sie auf diese Weise i n Erscheinung t r i t t , das Verstehen des Textes ermöglicht" 4 0 . Die Sprache kann das Phänomen nicht i n seiner Ganzheit, sondern nur i n seiner Moment38 39 40
Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 56. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 64 - 65. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 66.
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haftigkeit erfassen. Das Phänomen geht jedoch teilweise i n die Sprache über, es läßt sich von ihr durchdringen. Gerade dieses Durchdringen ermöglicht das Verständnis. Was jedoch schlechthin extrapositiv und u-topisch ist, ist die „Sache Recht", auf die alle „besonderen Sachen" verweisen. Sie ist „das oberste Prinzip der Angemessenheit und Gerechtigkeit von Konfliktlösungen selbst, auf das alle positiven Rechtstexte i m letzten verweisen". Das rechtliche Prinzip ist der innere Bezugspunkt allen Rechts, auf den alles positive Recht hinstrebt. Diesem Prinzip kann man unterschiedliche Namen geben, sagt Hruschka. Man kann es als „Rechtsidee", als „Gerechtigkeit" oder als „Naturrecht" bezeichnen. Da das Prinzip sprachlich nicht erfaßbar ist, können solche Namen es zwar bezeichnen, jedoch nicht erfassen. Alles bestehende Recht, alle Rechtssätze, alle Gesetzesentwürfe, alle Kommentare und Kritiken, einschließlich aller Naturrechtssätze, sind Versuche, dieses Prinzip zur Sprache zu bringen, möglicherweise nicht immer „nach den ausdrücklichen Vorstellungen und Intentionen ihrer Verfasser, aber doch so, daß alle diese positiven Rechtssätze nur verstanden werden können als Ausdeutungen des Prinzips Recht" 41 . Das Werk Hruschkas stellt besser als jedes andere systematisch die feinsinnigen Denkmodelle der Hermeneutik dar. I n i h m werden mehr als i n jedem anderen die Tiefe der Spekulation, das Rückschreiten, die Zirkularität und die Schlichtheit eines Denkens spürbar, das sich der Positivität des Rechts m i t den erstaunten Augen desjenigen nähert, der das Unfaßbare, Unaussprechliche sucht und der glaubt, es zu erfassen, indem er die „Magie der Worte" beschwört, u m durch sie das Unendliche i n dem gemeinen Wirklichen zu berühren. Die erhabene Tiefe dieses Textes, der allmähliche Aufstieg zum Unendlichen, die einheitliche Systematik des Erringens des bereits dem Bewußtsein gegenwärtigen Absoluten, offenbaren auf ganz eindeutige Weise, daß nach der Zerstörung der Vernunft und der Wissenschaft nur noch der Mythos und die Poesie bleiben: Mythos und Poesie einer Realität, die von der Kraft des i n ihr verborgenen Geheimnisses umschlungen wird, die, obwohl sie zu einer materiellen Existenz gezwungen ist, immer etwas Erhabenes bleibt. 5. Das epistemologische Hindernis der Hermeneutik Die Hermeneutik war gezwungen, das epistemologische Problem zu lösen, u m der Aporie zu entgehen. Die Lösung des Problems hing m i t der Erkenntnis des Terminus medius zusammen, u m die Verschmel41
Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 68-69.
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zung von Sein und Sollen, von Positivität und Extrapositivität, von Rechtstext und Sinn zu bewirken. Die Aufgabe, diese Dichotomie aufzuheben, w i r d dem Verstehensprozeß i n seiner Geschlossenheit zugewiesen, der von den Kategorien des Vorurteils und von der prälogischen Operation des hermeneutischen Zirkels unterstützt wird. Bei diesem Versuch erweist sich aber die Hermeneutik als eine Form prälogischen, mythischen Denkens. Sie wertet den Text zu einer „façon de parier" ab. Die Materialität existiert nicht aus sich heraus, sie hat keinen Wert als empirische Tatsache, nur Wert als Redensart, i n dem das Unfaßbare spricht. Und gerade die „belanglose" Oberflächlichkeit der empirischen Tatsache, der die Tiefe des hermeneutischen Verstehens gegenübertritt, w i r d durch den Verstehensprozeß sublimiert, der am Ende immer herausfindet, daß die Redensart des Unfaßbaren, die transzendiert werden muß, angemessen und richtig ist. Das Unfaßbare läßt sich nicht m i t Worten ausdrücken. Die Hermeneutik ist ein so tiefgehendes Verstehen, das durch die Subjektivität des Interpreten, der sich seines Vorurteils bewußt ist, das Unfaßbare zwingt, die Worte der Texte zu sprechen, die der Positivismus für gültig, jedoch nicht notwendigerweise für heilig hielt. Unter dem Deckmantel des Anspruchs, einer sinnhaften Realität gerecht zu werden, zu der die empirisch-analytischen Wissenschaften keinen Zugang haben, nimmt die hermeneutische Intention die Zerstörung der Aufklärung und damit jeglicher Form von Vernunft vor. Das Verstehen w i r d zu einer Bewußtseinsangelegenheit, zu einer prärationalen und prälogischen Tatsache. Die Zurückführung des Verstehensprozesses auf eine Bewußtseinsangelegenheit sowie die Vitiösität seines Zirkels und seiner Spirale ermöglichen der hermeneutischen Epistemologie nicht nur, das Unfaßbare, die „Sache Recht", das Prinzip „Recht" zu begreifen, das i m wesentlichen nur das Gesamtprodukt der Vorurteile ist, die der Interpret unbewußt mit sich trägt, sondern ihr gelingt es, das Wirkliche, den Text, das positive Recht als Konkretion des Sinns darzustellen, indem das Bewußtsein das erkennt, was es schon vorher wußte. Das Verstehen als zusammenfassender Prozeß hermeneutischen Tuns ist der Ort, an dem die epistemologische Unfruchtbarkeit der Hermeneutik sichtbar wird: das Denken kann sich nicht als Theorie konstituieren; i h m fehlen Hypothesen über den Gegenstand, da es sich als Vernichtung und kontextuelle Sublimierung des Gegenstandes selbst weiß. Dieses Denken ist der Höhepunkt der antiaufklärerischen Rückentwicklung der Vernunft. Sie w i r d zu einer Privat- und Bewußtseinsangelegenheit. Es handelt sich u m die Unfruchtbarkeit eines mythologischen Denkens, das, nachdem es in der empirischen Realität des Rechts die entfremdete Form des Geistes erkannt hat, sich der Illusion
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hingibt, sie m i t den prärationalen M i t t e l n der Theologie vermitteln zu können, mit dem Sinn des Absoluten, mit dem Vorurteil, mit dem Zirkel. A r t h u r Kaufmann, sensibler Geist des Entfremdungsdenkens ist sich dieser theoretischen Ohnmacht der Hermeneutik bewußt. Er erspart ihr das unnötige Scheitern auf epistemologischer Ebene und führt die hermeneutische Reflexion über das Recht auf eine philosophische Reflexion zurück, als eine Philosophie des Absoluten i n der Form des Außer-Sich-selbst-Sein. Die Geschichtlichkeit als Kategorie des Rechts, der Sprache und des Menschen, sagt Kaufmann 4 2 , ist nichts anderes als „Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbstentfremdung". Die Methode, die den Dualismus von Sein und Sollen überwindet, hat „den Augenblick zu erkennen, i n dem das Sollen Sein und das Sein Sollen wird. Es ist also ihre Eigenart, i m Sein das Sollen und i m Sollen das Sein zu erkennen" 4 3 . Die beanspruchte Verschmelzung von Sein und Sollen läßt die Reflexion zwischen privatem Bewußtsein und Empirie, zwischen Vorurteil und Metaphysik schweben. Der ursprüngliche hermeneutische Anspruch, dem Recht als sinnhaftem Text gerecht zu werden, verwandelt sich i n eine Reihe ungelöster Präsuppositionen, i n einen vitiösen Zirkel, i n dem das Positive seinen Sinn i n der Metaphysik, die Metaphysik den Grund ihrer Existenz i n den Vorurteilen findet, die sich das Bewußtsein — ausgehend vom Positiven — aufbaut. Der letzte und schließliche Grund für die epistemologische Ohnmacht der Rechtshermeneutik beruht auf der Tatsache, daß die Hermeneutik nur auf der Ebene der Allegorie die Trümmer zusammensetzen kann, die aufgrund ihrer Operation entstehen, ungeachtet der Tatsache, daß es ihr gelingt, eine Theorie der Zerstörung der Vernunftaufklärung und der Geschichtlichkeit der Rechtskategorie zu sein. Die Hermeneutik enthüllt sich i m wesentlichen als eine mißlungene Apologie des positiven Rechts, dem sie eine objektive Rationalität abspricht, u m i h m eine in die Tiefe gehende subjektive Wahrheit zuzusprechen. Aus Furcht vor dem Positivismus entstanden, bleibt sie dem Gefühl und dem subjektiven Vorurteil verhaftet.
42 43
S. 28.
Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts, S. 89. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts, S. 101 ; Tsatsos, Der Staat,
Kapitel
II
Die Rechtstheorie als kritische Reflexion 1. Dialektische Tradition und antipositivistisches Denken. Der philosophische Hintergrund des „kritischen" Denkens Die hermeneutisch-kritische Epistemologie Habermas' 1 , die auf der hermeneutischen Revision des Marxismus aufbaut, und die Erkenntnisanthropologie Apels 2 , die auf der Konvergenz von transzendentaler Philosophie und Pragmatismus gründet, stellen gegenwärtig den Ausgangspunkt der dialektischen Tradition und des antipositivistischen Denkens i n Deutschland dar 3 . Diese Instanzen, die, u m einen Ausdruck Alberts 4 zu gebrauchen, der deutschen Ideologie eigen sind, bewirkten eine Konvergenz von Richtungen und verschiedenen Denkstrategien. Sie bestimmte die moderne antiposivistische Reaktion gegen die Wissenschaft. Das Interesse an den Metatheorien Habermas' und Apels und ihre Faszination beruhen i m wesentlichen auf ihrer antipositivistischen Reaktion 5 , gekennzeichnet nicht durch einen naiven idealistischen Ent1
J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik; ders., Vorbereitende Bemerkungen; von den grundlegenden Arbeiten Habermas' sei hier verwiesen auf: Zur Logik der Sozialwissenschaften; Erkenntnis und Interesse; die Aufsätzesammlung Theorie und Praxis, darunter von besonderer Relevanz: Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, S. 228 - 289. — Aus der nunmehr umfangreichen Diskussion über Habermas sei zumindest verwiesen auf: Materialien; Wilms, Kritik und Politik, aber auch Cassano, Autocritica, S. 151 - 201. 2 Vgl. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. I, II, insbesondere die zweiten Band gesammelten Aufsätze. Zu Apel, s. die bereits zit. Arbeit Alberts, Transzendentale Träumereien. 3 Aus der umfangreichen Literatur sei auf die in: Der Posivismusstreit, gesammelten Beiträge, hingewiesen. Siehe: Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie; Rusconi, La teoria critica della società; Schmidt, Rusconi, La scuola di Francoforte; Ritsert, Roishausen, Der Konservatismus der kritischen Theorie. 4 Albert, Plädoyer, S. 53, der dem Klischee der Oberflächlichkeit des angelsächsischen Philosophierens das Klischee der deutschen Tiefe in ihrer idealistischen post-kantschen Herkunft entgegensetzt (s. S. 55). 5 Vgl. die Kritik Alberts in: Plädoyer, und die von Ritsert, Roishausen, Der Konservatismus der Kritischen Theorie.
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wurf, sondern durch ein tiefgreifendes Befreiungsbedürfnis. Sie ist Ausdruck der Forderung nach einer neuen Rationalität, die die Gesellschaft mit der Befreiung vom Verdrängten emanzipiert, und dem Einzelnen mit der Rückgewinnung der kommunikativen Kompetenz die Möglichkeit schafft, zu integrieren und seine Zukunft zu entwerfen. Auch die Rechtsepistemologie ist i n den Universalanspruch des neuen metatheoretischen Modells miteinbezogen. Er stellt ihr feinere Instrumente und neue Möglichkeiten zur Verfügung, u m ihre schwache und unsichere Stellung gegenüber dem Positivismus der analytischen Schulen zu stärken. Die radikale Alternative zu jeder Form des Positivismus gab der Rechtstheorie eine erste Möglichkeit, ihren Minderwertigkeitskomplex zu überwinden. Dieser Minderwertigkeitskomplex ist darauf zurückzuführen, daß die Rechtstheorie den Aporien des hermeneutischen sowie des exietentiellontologischen Denkens verhaftet war, während die Gesellschaftswissenschaften positivistischen und analytischen Charakters ihre methodologischen Instrumente m i t Hilfe der Naturwissenschaften, der Linguistik und der Logik verfeinerten. Der Rechtsepistemologie gelang es nicht, ihre Struktur dem Niveau der Epistemologie der Gesellschaftswissenschaften anzugleichen. Die Rechtswissenschaft innerhalb des Universums des kritisch-dialektischen Metatheoriemodells sucht ihre Emanzipation vom „Positivismuskomplex" und damit gleichzeitig die Teilnahme an der Diskussion, von der sie die Vitiösität der bis jetzt vorbereiteten Modelle auszuschließen drohte. Die Diskussion über den Positivismus ist kennzeichnend für die Epistemologie der Gesellschaftswissenschaften Anfang der sechziger Jahre. M i t einer teilweise veränderten Szene w i r d sie bis zu Beginn des darauf folgenden Jahrzehnts weitergeführt und nimmt neue und differenziertere Töne an. Habermas führte die bereits von der Frankfurter Schule begonnene Revision des Marxismus fort. I h r Hauptziel war die Überwindung des positivistischen Selbstverständnisses des Marxismus, die Überwindung der Reduktion der K r i t i k auf eine K r i t i k der politischen Ökonomie sowie der Dialektik auf eine positivistische Dialektik der Produktionsverhältnisse und eine humanistisch-emanzipatorische Interpretation der Marxschen Analyse 6 bezüglich des Proletariats und des Klassenkampfes. Der Marxschen Dialektik war es nicht möglich, den Menschen i n seinem emanzipatorischen Potential zu erfassen, da sie der wirksamen Macht der K r i t i k keinen Platz einräumte, die die Fähigkeit hat, die von 6 Vgl. Hahn, Die theoretischen Grundlagen; Simon—Schaefer, Zimmerli, Theorie zwischen Kritik und Praxis.
Kap. I I : Die Rechtstheorie als kritische Reflexion
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den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zerrissene Sinnstruktur und die zerstörte Kommunikation wiederherzustellen. Die „verkürzte" Dialektik Marx' verhinderte die Unterscheidung der Gesellschaftswissenschaft von der Naturwissenschaft. Da Marx weder das Subjekt als Sinnträger noch die Gesellschaft als Sinnzusammenhang verstand, blieb i h m das Problem des Sinns verborgen; eine Analyse der Sinnverzerrung und damit des neuen anthropologischen Zusammenhangs war nicht möglich. Das Problem der Emanzipation i n der Gesellschaft des Spätkapitalismus, d. h. i m wesentlichen die Wiederherstellung des verzerrten Sinns, des verdrängten Dialogs und der unterbrochenen Kommunikation, konnte nicht aufgeworfen werden 7 . Die Hermeneutik brachte der Epistemologie das Universum des Sinns wieder zurück und eröffnete der Gesellschaftswissenschaft wieder die Perspektive des Sinns. Die Hermeneutik, der es jedoch nicht gelang, sich vom autoritären Denken und vom Denken der Tradition zu befreien, konnte m i t ihren positiven Ergebnissen nur als Erforschung des Sinns einer wirklich durchgeführten Kommunikation auftreten 8 . Das Problem des Sinns i n einer Gesellschaft, i n der die Kommunikation unterbrochen und der Sinn verzerrt ist, blieb ungelöst. Dieser Gesellschaft gelang es nicht, den Sinn wieder zusammenzufügen, der i n einer Lebenspraxis abhanden gekommen war, i n der Produktionsverhältnisse einen den Dialog verdrängenden Faktor darstellen. Der Hermeneutik entging der pathologische Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft. Dem Wiederherstellen des Sinns widmete sich die Psychoanalyse. Die psychoanalytische Therapie ist das hermeneutische Instrument, das die m i t dem Patienten unterbrochene Kommunikation wieder aufnimmt. Die Hermeneutik muß ihren Horizont u m die Errungenschaften des psychoanalytischen Denkens erweitern 9 . Dies setzt voraus, daß die Hermeneutik als Theorie der Suche nach dem Sinn i n eine kritische Gesellschaftstheorie und zugleich i n eine dialektische Theorie einbezogen wird, die von einer Geschichtsphilosophie, die eine emanzipierte Gesellschaft antizipiert, gestützt wird, wobei der zerstörte Sinn durch die K r i t i k zurückgewonnen und in der kommunikativen Situation realisiert wird. 7 Vgl. die Aufsätze: Zwischen Philosophie und Wissenschaft, in: Habermas, Theorie und Praxis, und: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. 8 s. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, und ders., Vorbereitende Bemerkungen. 9 Vgl. Ritsert, Roishausen, Der Konservatismus der kritischen Theorie, S. 80 ff.; Meyer, Zwischen Spekulation und Erfahrung; Nichols, Wissenschaft oder Reflexion.
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Teil I I : Die Theorie a) Die hermeneutisch-kritische
Epistemologie
Habermas'
Der Strategie einer so verstandenen Theorie der Gesellschaftswissenschaft ist die Arbeit von Habermas gewidmet. Bereits i n dem Aufsatz, der sich insbesondere m i t der analytischen Epistemologie und der Dialektik auseinandersetzt 10 , lenkt Habermas die Aufmerksamkeit auf die hermeneutische Vorgehensweise der dialektischen Gesellschaftstheorie. Das dialektische Denken, sagt Habermas, beschränkt sich nicht auf die Beseitigung des Dogmatismus der erlebten Situation, es verharrt nicht i n einer subjektiven Hermeneutik, es ist zugleich Identifizierung von Sinn und K r i t i k . Diese K r i t i k entzieht sich dem naiven Subjektivismus einer ideologischen Betrachtung der Verhältnisse nach dem Sinn, den sie sich nicht versagen und zugleich dem „Objektivismus, unter dem die gesellschaftlichen Verhältnisse geschichtlich handelnder Menschen als die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Dingen analysiert werden". I n dem Maße, i n dem der Arbeitsprozeß i n den Tauschverhältnissen enthalten ist und diese an den Markt gebunden sind, sagt Habermas, werden die Verhältnisse zwischen den Menschen und den Dingen sowie die Verhältnisse der Menschen untereinander auseinandergerissen. „Wie einerseits i n den Tauschwerten die w i r k l i c h investierte Arbeitskraft und der mögliche Genuß des Konsumenten verschwindet, so w i r d andererseits an den Gegenständen, die übrigbleiben, wenn ihnen die Haut subjektivierter Wertqualität abgestreift ist, die Mannigfaltigkeit der sozialen Lebensbezüge und der erkenntnisleitenden Interessen abgeblendet 11 ." Die Theorie, die den Fallen des Positivismus entrinnen w i l l , muß die Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen: d. h. die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Verdinglichung befreien, die sie i m Innern zerrissen hat. Nur die K r i t i k der Ideologie, i n der diese Verhältnisse erstarrt sind, ist dazu imstande. Während das hermeneutische Denken, ein Opfer der Ideologie des Subjektivismus, das Problem des Sinns innerhalb der Zerrissenheit der menschlichen Interaktion nicht erfaßt, beschreibt das positivistische und analytische Denken die verdinglichten Beziehungen zwischen den Menschen als Regelmäßigkeiten und verwechselt die „neutrale" Darstellung dieser Verdinglichung, die i h r als eine Naturgegebenheit erscheint, mit positivem Wissen. Der Fehlschluß der positivistischen Theorie ist nur durch eine dialektische Theorie zu überwinden, die die Prozesse der Verdinglichung und den i n diesen Prozessen verdrängten Sinn begreift, indem sie den naturalistischen Scheinobjektivismus auf10
Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie; folgende zitierte Stelle befindet sich auf S. 164. 11 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie, S. 185.
Kap. I I : Die Rechtstheorie als kritische Reflexion
129
deckt. Nur die Ideologiekritik kann den ideologischen Fehlschluß einer Suche nach dem Sinn verhindern: durch den Dialog w i r d die Authentizität des verdrängten Sinns wieder hergestellt und eine konkrete Utopie der emanzipierten Gesellschaft entworfen. Die Kategorie der K r i t i k und die Kategorie des Emanzipationsinteresses sind i m Denken Habermas' von grundlegender Bedeutung 12 . Sie bringen die Konvergenz einer Geschichtsphilosophie, die sich von den Schranken des Positivismus befreit hat, und einer dialektischen Gesellschaftsauffassung zum Ausdruck, die durch den Motor der K r i t i k den Dialog i n der Kommunikations-Gemeinschaft ermöglicht. Marx, so schreibt Habermas, hat versäumt „ K r i t i k als solche zu reflektieren: nämlich nicht nur die wissenschaftlichen Elemente gegen Philosophie, sondern auch die Elemente, die die K r i t i k ihrer philosophischen Herkunft verdankt, gegen die positivistischen Schranken der Wissenschaft zu rechtfertigen" 13 . Deshalb ist es notwendig, m i t Marx gegen Marx 1 4 vorzugehen und dort weiter zu gehen, wo es Marx nicht gelungen ist, die Fähigkeit der K r i t i k als Motor der menschlichen Emanzipation zu durchdringen. b) Die anthropologische
Erkenntnistheorie
Apels
Apel geht von den Voraussetzungen der hermeneutisch-kritischen Epistemologie Habermas' aus und versucht, eine anthropologische Erkenntnistheorie aufzubauen. Er wiederholt mit Habermas, die Hauptaufgabe der Philosophie bestehe darin, kritisch die Abstraktionen der einzelnen Wissenschaftstheorien zu begründen, indem sie die menschlichen Erkenntnisinteressen berücksichtigt und diese Abstraktionen rückwirken läßt, so daß sie zwischen Theorie und Praxis vermitteln können. Zur Durchführung dieser Aufgabe muß die Philosophie den letzten Grund des Erkennens und des Denkens mittels der transzendentalen Reflexion suchen. Diese ist für Apel Reflexion „auf den Sprachgebrauch als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit von Wissenschaft und Philosophie" 15 . Apel nimmt i m wesentlichen — wie 12
Vgl. Beyer, Die Sünden der Frankfurter Schule, S. 11 - 78; Huch, Interesse an Emanzipation, Jürgen Habermas und das Problem einer materialistischen Erkenntnistheorie, in: Materialien, S. 22-41, aber auch die Beiträge von Rusconi und Badura, in: Materialien, S. 107 - 134 und S. 386 - 400. 13 Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: Theorie und Praxis, S. 267. 14 Es handelt sich um eine Methode, die Habermas schon auf Heidegger angewandt hatte; vgl. Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: Philosophisch-politische Profile, S. 67 - 75. 15 Apel, Programmatische Bemerkungen, S. 11 (zit. nach Albert, Transzendentale Träumereien, S. 12 ff.). 9 De Giorgi
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Teil I I : Die Theorie
er übrigens selbst zugibt — die klassische Problematik der transzendentalen Philosophie wieder auf und paßt sie den „Begriffen der Sprache und des kommunikativen Sprachgebrauchs" 16 wieder an. Der epistemologische Entwurf Apels ist synkretischer als der Habermas'. I n seiner Erkenntnisanthropologie schließt er die „positivistischen Schranken der Wissenschaft", wie Habermas sie nannte, nicht von der Möglichkeit einer hermeneutisch-dialektischen Vermittlung aus. Die Erkenntnisanthropologie ist ein epistemologischer Entwurf, der von der linguistisch-pragmatischen Umkehrung der transzendentalen Reflexion ausgeht und sich i m dialektischen Verhältnis der Instanzen der Szientistik, der Hermeneutik und der Ideologiekritik verwirklicht 1 7 . Die Ideologiekritik, die nach dem Modell der Psychoanalyse durchgeführt wird, bringt die dialektische Vermittlung zwischen der den Gesellschaftswissenschaften eigenen „Erklärung" und des „Verstehens" der Sinntraditionen zum Ausdruck, wie es für die historisch-hermeneutischen Wissenschaften kennzeichnend ist. Die Vermittlung erfolgt nach dem regulativen Prinzip der „Aufhebung" des vernunftlosen Moments unserer Existenz 18 . Die Idee dieser Aufhebung, der eigentlich neue Aspekt der auf dem pragmatisch-linguistischen Ansatz aufbauenden Erkenntnisanthropologie, verwirklicht Apel, indem er das absolute Bewußtsein als das transzendentale Subjekt Kants i n die „unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft" verwandelt. Die Idee dieser Gemeinschaft ist das regulative Prinzip, es ist die „Idee der Realisierung einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft, die jeder, der überhaupt argumentiert (also jeder, der denkt!) implizit als ideale Kontrollinstanz voraussetzt" 19. Diese Idee, die Apel gegen die traditionelle deskriptivistische Hermeneutik verwendet, leitet er von Peirce und Josiah Royce ab. Sie ist die transzendentale Voraussetzung der Gesellschaftswissenschaften. 16 Apel, Programmatische Bemerkungen, S. 12; ders., Transformation der Philosophie, I, Einleitung, S. 68 - 75. 17 Vgl. Apel, Transformation der Philosophie, I, Einleitung, S. 52 ff.; ders., Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik; s. Radnitzky, The Metascience, II, S. 34 ff.; Albert, Transzendentale Träumereien, S. 11 - 38. 18 Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, S. 43; ders., Wissenschaft als Emanzipation?, in: Materialien, S. 318 - 348; s. Albert, Transzendentale Träumereien, S. 18 ff.; sowie ders., Plädoyer, S. 106 - 149. 19 Apel, Transformation der Philosophie, II, S. 215, und im allgemeinen den Aufsatz: Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der Semiotik des Pragmatismus, ebd., S. 178-219; analytisch wird das Thema behandelt in: Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften, ebd., S. 220 - 263.
Kap. I I : Die Rechtstheorie als kritische Reflexion
131
Das argumentierende Subjekt „hat m i t dem Argumentieren (...) zugleich die transzendentalen Voraussetzungen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie i m Sinne des transzendentalen Sprachspiels einer unbegrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft selbst gesetzt und implizit anerkannt" 2 0 . Diese Idee ist zugleich die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Denkens und des Sprechens und die kritische Kontrollinstanz des Argumentierens der Gesellschaftswissenschaften, so wie der historisdi-hermeneutischen Wissenschaften. Jeder Sprecher muß seine Zugehörigkeit zu dieser Universalgemeinschaft voraussetzen und diese Voraussetzung auf eine transzendentale Reflexion gründen: „ohne diese — von Kant und Fichte nicht reflektierte — transzendentale Voraussetzung der Erkenntnis konnte diese nicht zum Argument werden" 2 1 . Die gesamte universale geschichtliche Entwicklung der Menschheit stellt sich als eine „progressive Durchsetzung des immer schon transzendental vorausgesetzten, idealen Sprachspiels i n den gegebenen Lebensformen und gegen die irrationalen Schranken der Kommunikation i n diesen Lebensformen" dar 2 2 . Die geschichtliche Entwicklung w i r d dem Zweck einer hermeneutischen Aufklärung gerecht. I n der von dem transzendentalen Bewußtsein des Sprachspiels emanzipierten Gesellschaft erlangt die Vernunft den verlorenen Sinn durch die Ideologiekritik wieder, die „ganze Lebensformen und ihre öffentlichen Sprachspiele" hinterfragt. 2. Möglichkeiten und Hindernisse des Ubergangs von der kritisch-transzendentalen Gesellschaftstheorie zur Rechtstheorie Sowohl i n der kritischen Theorie als auch i n der anthropologischen Erkenntnistheorie drückt sich die Forderung nach freier Kommunikation, nach dem Dialog, nach einer gemeinsamen Sprachtherapie aus. Diese Forderung macht sich auch das moderne Rechtsbewußtsein zu eigen, u m sich aus der Zange einer positivistischen Rechtsauffassung zu befreien. Schon die Hermeneutik wollte dieser Forderung gerecht werden, konnte dieses Vorhaben aber nicht durchsetzen, denn sie selbst war i n dem Netz eines autoritären und metaphysischen, praktisch theologischen Denken verwickelt, das schließlich zu einem akritischen Positivismus führte. Das Problem m i t dem die Rechtstheorie jetzt konfrontiert ist, besteht i n der Überwindung dieses akritischen Positivismus sowie des eigenen Positivismus der klassischen Rechtswissenschaft. 20 21 22
*
Apel, Transformation der Philosophie, II, S. 222. Apel, Transformation der Philosophie, II, S. 222. Apel, Transformation der Philosophie, II, S. 263.
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Teil I I : Die Theorie
Sowohl die kritische Theorie als auch die transzendentale Philosophie bieten der Reflexion über das Recht die Möglichkeit, dieses Problem zu lösen. Es stellt sich aber nun die Frage nach den Voraussetzungen der Übernahme dieser totalisierenden epistemologischen Modelle i m Bezugsrahmen der Rechtstheorie. U m eine A n t w o r t geben zu können, müssen die oben dargestellten Auffassungen reflektiert werden. Die K r i t i k ist die zentrale Kategorie i m Denken Habermas'. Er hält es für notwendig, das ursprüngliche Gebiet der politischen Ökonomie zu verlassen, u m alle vom Positivismus noch nicht verkürzten und i h m noch nicht verhafteten Möglichkeiten der K r i t i k weiterentwickeln zu können. Damit beraubt sich jedoch eine Theorie, die für sich i n A n spruch nimmt, K r i t i k der Gesellschaft zu sein, der einzigen Möglichkeit, die Zerstörungsprozesse der menschlichen Kommunikation und damit ihren Sinn zu erfassen: d. h. Produktionsweise und Produktionsort des zerrissenen Verhältnisses des Menschen zur Natur und folglich zu sich selbst zu erklären. Dieser Theorie fehlt der Boden, das Problem der abstrakten Arbeit, die Entstehung und die Struktur der Verdinglichung zu begreifen. Die K r i t i k ist demnach nur noch K r i t i k der zerstörten Kommunikation und menschlichen Interaktion i n ihrer sprachlichen Form. Die Gesellschaft der Waren produzierenden Individuen sieht die Theorie als eine Sprachgemeinschaft an, i n der die K r i t i k zu einer sozialen Grammatik des Sprachspiels wird, mit der Besonderheit, daß die K r i t i k i m Gegensatz zur Grammatik die Idee der sprachlichen Emanzipation als Befreiung der i n den Subjekten verdrängten Formen des Dialogs verfolgt. Die K r i t i k verwirklicht die Idee der sprachlichen Emanzipation i n der Form kommunikativer Kompetenz 23 statt die politische und gesellschaftliche Emanzipation. Die K r i t i k ist bei Habermas nicht nur die grundlegende Kategorie, sondern auch Hauptaporie. Als Grammatik eines ideal gelungenen Dialogs ist sie unfähig, zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln. Positiv formuliert: sie ist lediglich fähig, zwischen institutionalisierter Theorie und Praxis zu vermitteln, da sie selbst Prozeß und institutionalisierte Idee ist. Apel, der nicht so sehr die ursprüngliche Instanz des Habermasschen Denkens als vielmehr die Aporien entwickelt, ist i n eine Reihe komplizierterer Probleme verwickelt. Die Instanz, die sein Denken bewegt, ist die Vergesellschaftung der transzendentalen Reflexion, u m den Schwierigkeiten der philosophischen Hermeneutik zu entgehen und u m die Emanzipation nicht als eine Privatangelegenheit des Bewußtseins darstellen zu müssen. Unter Voraussetzung einer Abstraktion 23 Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen, S. 109 ff.; ders., Zur Entwicklung der Interaktionskompetenz.
Kap. I I : Die
echtstheorie als kritische Reflexion
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kann Apel i n seraphischer Weise die Gesellschaft der isolierten Individuen als eine aufgeklärte Kommunikationsgemeinschaft begreifen. Die notwendige Vergesellschaftung erfolgt auf rein transzendentaler Ebene. Ebenso wie die Hermeneutiker ist Apel gezwungen, die Geschichte und die Entwicklung der Menschheit als Prozeß der V e r w i r k lichung eines regulativen Prinzips zu sehen. Das regulative Prinzip ist für die ersteren der Sinn, die „Sache Recht", für Apel ist es die ideale Gemeinschaft als Bedingung der Möglichkeit des Sprechens. Diese regulativen Prinzipien verwirklichen sich nur m i t Mühe i n der Geschichte. Die Psychoanalyse muß beansprucht werden, u m das gestörte Verhältnis der Gesellschaft zu ihrem Über-Ich, der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft, zu therapieren. Aber alle Bemühungen Apels lassen das Grundproblem unberührt. Es besteht darin, daß die transzendentale Hypothese der Vergesellschaftung des absoluten Bewußtseins durch die Idee der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft auf die reale Voraussetzung des Solipsismus der modernen Gesellschaft stößt, der das Bewußtsein an das private Individuum als dessen Träger bindet. Ausgangspunkt der transzendentalen Reflexion ist das bürgerliche Privatindividuum als Wesen, das sowohl auf der Ebene des Bewußtseins als auch auf sprachlicher Ebene isoliert ist. Die Idee vom kollektiven Patienten besteht nur als ideale Vorstellung i n einer Anthropologie des abstrakten sprachlichen Bewußtseins, die sprachlich die Probleme des isolierten Bewußtseins der bürgerlichen Einzelperson lösen w i l l . Diese Theorien können nur dann als epistemologische Grundlagen einer Rechtstheorie dienen, wenn sie i n der Lage ist, eine K r i t i k des Rechts als sozialer Institution zu formulieren und eine kritische Theorie des Solipsismus, der sich i n der modernen Gesellschaft durch das Recht ausdrückt und verwirklicht. Dies ist nur möglich, wenn das Recht als eine eigentümlich geschichtliche Institution Gegenstand der Theorie wird, wobei Ausgangspunkt der Theorie eine phänomenologische Analyse des modernen Rechts ist, die die eigentümliche Geschichtlichkeit dieser Institution erklärt. Voraussetzung ist aber die Erkenntnis, daß die K r i t i k positivistischer Rechtstheorien nicht die K r i t i k des eigentlichen Positivismus des modernen Rechts ist. Es ist notwendig zu erkennen, daß Gegenstand der K r i t i k nicht die Theorien über das Recht sein können, sondern nur das Recht selbst und der praktische Solipsismus, auf dem es gründet. Die ursprüngliche Befreiungsforderung richtete sich gegen das Recht als Verdrängungssystem der materiellen Instanz und gegen ihren praktischen Solipsismus: w i r d die substantielle Geschichtlichkeit des Rechts
Teil I I : Die Theorie
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erfaßt, und zwar ohne Verweis auf metageschichtliche Begründungen, so kann diese Forderung von der Theorie erfüllt werden. Dieser Forderung werden die kritische sowie die transzendentale Rechtstheorie nicht gerecht, denn sie vollziehen nicht die grundlegende Umkehrung einer emendatio der alten philosophischen Tradition und den Übergang zu einem kritischen Denken. Sie sind mühsame Metatheorien, deren Gegenstand bestimmte Rechtstheorien darstellen; sie sind lediglich Modelle, die ermöglichen, Theorien zu bilden auf der Grundlage bestimmter Forderungen, die aber nicht auf der eigentümlichen Logik des Rechts gründen, sondern vielmehr auf theoretischen Voraussetzungen, die auf eine nicht näher bestimmbare antipositivistische Reaktion zurückzuführen sind. Dieses epistemologische Unvermögen macht die kritische sowie die transzendentale Rechtstheorie zu einer altmodischen philosophischen Übung; ihnen kommt aber eine besondere Relevanz zu. Unabhängig von den einzelnen Gestaltungen, die sie annehmen, drücken sie eine bestimmte Auffassung der Rechtsphilosophie aus: eine A r t der philosophischen Arbeit über das Recht. Sie hat das Recht seinem Begriffe nach zu definieren und diese Definition als Ausgangspunkt für die weiteren Reflexionen aufzunehmen. Das somit festgelegte Recht „überhaupt" ist das gerechte, das gleichmachende, usw.: die alte Wahrheit. Diese Voraussetzung legt ein Telos des Rechts fest. Da dieser Telos aber i n der Wirklichkeit nicht existiert, w i r d die Wirklichkeit, i m Hinblick auf das „zerstörte" Sollen kritisiert, die Wirklichkeit sei dem Begriffe des Rechts noch nicht gerecht. Wie w i r d diese K r i t i k der „Wirklichkeit" gestaltet? Sie ist K r i t i k der Dogmatik, K r i t i k eines „unschuldigen" Vorganges; die Dogmatik ist der Sündenbock. W i r d sie kritisch und reflexiv, so w i r d das Ziel der gesamten Epistemologie erreicht, das darin besteht, ausgehend vom Begriff des Rechts die Abweichungen vom Telos festzustellen, u m dann den Telos wieder zusammenzufügen. A u f die Zirkelhaftigkeit dieser Auffassungen w i r d noch später eingegangen. Da sie Ausdruck eines diffusen Rechtsbewußtseins sind, beschränke ich mich auf zwei Verfasser, Böhler und Paul, die dieses Bewußtsein durch künstliche Begriffsgebilde paradigmatisch ausdrücken, und reflektiere dann den Sinn der gesamten Strategie des kritischen Denkens, insbesondere des kritischen Rechtsdenkens. 3. Die Rechtstheorie als „transzendentale Reflexion" Böhler entwickelt die Rechtstheorie als transzendentale Reflexion. Sein Denken beruht auf seiner metakritischen Betrachtung Marx' 2 4 und 24
Böhler, Metakritik.
Kap. I I : Die Rechtstheorie als kritische Reflexion
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der Philosophie Apels. Böhler schreibt, die Rechtstheorie habe als kritische Reflexion fünf Aufgaben zu lösen und sich an ihrer Lösung zu bewähren: die Rechtstheorie als kritische Reflexion muß den Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft, ihren Wissenschaftscharakter und den der Rechtssätze reflektieren; zugleich muß sie Reflexion ihrer selbst sein und die Vermittlung der Rechtswissenschaft i n der Praxis reflektieren. „Weil Rechtswissenschaft es allgemein mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Leben zu t u n hat, bedarf es", bemerkt Böhler, „einer allgemeinen Reflexion, die die allgemeinen irreversiblen Voraussetzungen des geschichtlich Veränderbaren herausarbeitet" 25 . Der Rechtstheorie als kritischer Reflexion, auf der die Rechtswissenschaft aufbaut, muß diese allgemeine Reflexion vorausgehen, denn sie vermittelt der Rechtstheorie den epistemologischen Bezugsrahmen. Böhler erarbeitet das Begriffssystem, das für den Zugang zu einer „transzendentalen Theorie der Gesellschaft oder des Gesellschaftlichen" notwendig ist. Er distanziert sich von der kritischen Theorie, die seiner Ansicht nach dem theoretischen Erbe des Materialismus verhaftet und deshalb nicht dialektisch genug ist 2 6 . Trotz aller seiner Bemühungen ist diese Theorie doch nur die Metatheorie Apels i n einer verworrenen Form. Nach dieser Rechtstheorie muß sich das Recht als „verselbständigter Modus kommunikativen Handelns und situativer Reflexivität 27 , als transzendentale Auffassung von der Reflexivität und dem kommunikativen Handeln entfalten und den unreflektierten Funktionalismus und Formalismus überwinden, die die Rechtstheorie auf ein „analytisches Methodikum" reduziert haben. Der Objektivismus dieser Auffassungen muß i n seiner ideologischen Bedeutung als Bedrohung für die Gesellschaft, als Reduktion der Kommunikation und Emanzipation aufgedeckt werden. A n seine Stelle muß eine kritische Reflexion über den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft und der Rechtssätze treten sowie eine kritisch-transzendentale Reflexion über den theoretischen Status der Rechtstheorie. Die Rechtstheorie reflektiert vor allem den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft. Sie ist eine geschichtlich-gesellschaftliche Wissenschaft, und damit meint Böhler m i t praktisch-emanzipatorischer Absicht, daß der Objektbereich der Wissenschaft i n den „Veränderungszusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse" einbezogen ist. U m ein szientistisches oder materialistisches Mißverständnis der Geschichtlich25
Böhler, Rechtstheorie, S. 62. Vgl. auch Böhler, Über das Defizit an Dialektik bei Habermas und Marx in: Materialien, S. 369 - 385. 27 Böhler, Zu einer historisch-dialektischen Rekonstruktion, S. 112. 26
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Teil I I : Die Theorie
keit der Wissenschaft zu vermeiden, präzisiert Böhler i n hermeneutischem Sinn, daß der Veränderungszusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse selbst durch den „Ver stehenszusammenhang einer geschichtlichen Situation und Tradition" 28 gegeben ist. Die historische Wissenschaft lehnt die abendländische Theorietradition sowie die die analytische Vorgehensweise charakterisierende Verabsolutierung der Subjekt-Objekt-Relation ab. Sie durchdringt die Intersubjektivitätsrelation, i n der sich der Sinn konstituiert und i n der sich die Relation des Verstehens gestaltet. Die Verstehensrelation als intersubjektive Relation kennzeichnet die Spezifizität der Erkenntnisweise der Geistesund Gesellschaftswissenschaften. Sie ist durch die Sprache zustandegekommene Erkenntnis, „immer schon Kommunikation der Lebenden und Traditions Vermittlung zu früheren Generationen" 29 . Nachdem die Rechtstheorie die Ebene der Intersubjektivitätsrelation des Verstehens als ihren Gegenstandsbereich für die Wissenschaft wieder zurückgewonnen und die hermeneutische Authentizität der Rechtswissenschaft wieder hergestellt hat, ist ihre erste Aufgabe erfüllt. Nun wendet sie sich den beiden nachfolgenden und sich daraus ergebenden Aufgaben zu. Die Rechtstheorie hat als ihre zweite Aufgabe „der Rechtswissenschaft ein angemessenes Selbstverständnis auf dem Wege der Reflexion zu erwerben". Die Theorie muß der Wissenschaft ihre ständige Verflechtung i n der Intersubjektivitätsrelation vergegenwärtigen: d.h. ihr offenlegen, daß z.B. ihre dogmatischen Operationen auf gesellschaftlichen Tatsachen, auf „verstandenen Situationsfragmenten" beruhen, sie sich einem „engagierten Verständnis" der Situation, die sie interpretiert, nicht entziehen. Die Theorie verschafft der Wissenschaft ein Selbstverständnis, das ihrer Stellung i m Veränderungszusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen ist. Reflexion über eine spezifische Situation ist immer engagierte Reflexion, sie gewährleistet ein kritisches Verständnis und eine kritische Bewertung des Falles. Dieses engagierte Situationsverständnis ermöglicht einen erhöhten Grad an Gerechtigkeit. Das hermeneutische Selbstverständnis enthält i n sich die Bedingungen der Möglichkeit und der Gültigkeit der Sätze der Wissenschaft. Dritte und daraus resultierende Aufgabe der Rechtstheorie ist die Reflexion über die Rechtssätze. Die Theorie hat „nach dem Wissenschaftscharakter der Rechtssätze, ihrer Gewinnung, Überprüfung und Systematisierung zu fragen" 30 . Die Bedingungen der Möglichkeit der Rechtssätze setzt nicht die analytisch-deskriptive Methode voraus. Dies 28 29 30
Böhler, Rechtstheorie, S. 100. Böhler, Rechtstheorie, S. 103. Böhler, Rechtstheorie, S. 105.
Kap. I I : Die Rechtstheorie als kritische Reflexion
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kann nur eine Rechtswissenschaft mit hermeneutischem Selbstverständnis, die Voraussetzung zum Durchdringen der Intersubjektivitätsrelation als Bedingung der Möglichkeit von Rechtssätzen. Die Theorie muß sich mehr der herkömmlichen Instrumente der Hermeneutik bedienen als der Instrumente der kritischen Reflexion. Bedingung der Möglichkeit für die Gewinnung eines Rechtssatzes und seiner Überprüfung ist das Rechtsgefühl, das „gesellschaftlich vermitteltes, regel haftes (verstehbares, an Rechts-Normen orientiertes, i m Sinne einer Gewohnheit konsistentes) Vorverständnis von Recht i n einem Falle" 3 1 sowie seine „situative Interpretation", d. h. ein gesellschaftliches Situationsverständnis und die explizite Deutung der relevant gewordenen Rechtssätze. Die vierte Aufgabe der Rechtstheorie ist m i t h i n die umfangreichste, aber die wichtigste. Sie muß i n der Lage sein, Rechenschaft über sich selbst abzulegen, indem sie sich reflektiert. Als kritische Reflexion reflektiert die Rechtstheorie ihre Rationalität, ihren epistemologischen Status. Dabei w i r d sie von einem emanzipatorischen, theoretischen und formalen Erkenntnisinteresse „an umfassender, richtiger, überprüfbarer, d.h. undogmatischer Erkenntnis" geleitet. Dieser A k t der Reflexion ist die größte und umfassendste Leistung der Rechtstheorie. Hier stellt sich die Theorie als hermeneutisches Verständnis des i m Recht kristallisierten Sinns dar sowie als emanzipatorischer, praktisch-kritischer Entwurf zur Überwindung des institutionalisierten Sinns. Diese Leistung impliziert, wie Apel schon sagte, nicht nur eine unbegrenzte wissenschaftliche Kommunikation, sondern auch eine unbegrenzte gesellschaftliche Kommunikation. I n ihr verwirklicht sich die kritische Dialektik des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses sowie die transzendentale Reflexivität der Erkenntnis als rationale Anthropologie. Das Postulat der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft ermöglicht der Wissenschaft, ihre Rationalität zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Es gestaltet die Kontrolle wirksam durch den Dialog, da es dem Interpreten, dem Dogmatiker, der selbst i n die unbegrenzte Kommunikation miteinbezogen ist, den Sinnzusammenhang innerhalb dessen er operiert, offenlegt. A u f dieser optimalen Kommunikation baut die Theorie nicht nur das Modell ihrer reflexiven Rationalität auf, sondern — und das ist ihre letzte Aufgabe — den Bezugsrahmen für die bewußte Vermittlung der Rechtswissenschaft mit der Praxis. Diese Vermittlung ist der Entwurf eines künftigen Rechts als menschliches Recht, die Vorwegnahme einer gesellschaftlichen Veränderung. 31
Böhler, Rechtstheorie, S. 109 - 110.
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Teil I I : Die Theorie
Diejenigen Leistungen der Theorie, die zum vorausgesetzten Dialog i n einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft bereit sind, fließen i n dem Ziel zusammen, den Entwurf eines humanen Rechts zu erarbeiten, „das der menschlichen Reflexivität, Kommunikation und Selbstentfaltung i n den Natur- und Sozialbezügen erstmals unverkürzt, nicht funktionalistisch Rechnung trägt" 3 2 . Bei der Ausführung dieses revolutionären Entwurfs, werden die Hypothesen der Theorie zu Transformationsinstrumenten der Praxis, die Wissenschaft selbst lebt und verwandelt sich i n emanzipatorische Praxis. Die Reflexivität des Menschen nimmt i m befreienden und aufklärenden Dialog Gestalt an. I n der Theorie als kritischer Reflexion gewinnt die Hermeneutik die Instanz der Aufklärung zurück und die Rationalität als vorausgesetzter Dialog w i r d zur theoretischen Form der Demokratie der Wissenschaft. I m utopischen Entwurf des Dialogs erschöpft sich die Rechtstheorie als Metatheorie einer reflexiven Jurisprudenz, die Apel und Habermas, Heidegger, Gadamer, Kriele und schließlich Bloch i n sich vereinigt. Das Prinzip Hoffnung ist der kritische Endpunkt einer Theorie, deren Ausgangspunkt die Reflexion als Distanz von der Welt ist. Dieser Distanz treu zu bleiben, gelingt der Theorie, es gelingt ihr bis zu ihrer eschatologischen Erschöpfung i m A p r i o r i eines nur als notwendige Fiktion vorausgesetzten Dialogs. 4. Die marxistische Rechtstheorie als Rechtskritik I n seiner Theorie als kritischer Reflexion thematisiert Böhler weniger das Moment der K r i t i k als das der Reflexion. Der kohärente Versuch, ohne großen philosophischen Ehrgeiz eine kritische Theorie des Rechts zu entwickeln, wurde von Wolf Paul unternommen. Die Komplementarität der beiden Theorien ist i n dem inneren Verhältnis von Reflexion und K r i t i k zu sehen, wenn sie als wesensgleiche Aspekte der antipositivistischen Reaktion gegen die Wissenschaft aufgefaßt werden, d. h. Reflexivität i m transzendental-hermeneutischen Sinn und K r i t i k i m antimarxistischen Sinn; und weiter als spezifisches Kennzeichen einer theoretischen Praxis der Fiktion, die zur entwerfenden Methode geworden ist: als Geschichtsphilosophie. Sie beruht auf dem Begriff der Emanzipation der Erkenntnis vom Endlichen, von der Welt distanziert, auf das Bewußtsein bezogen, und nicht auf die Subjekte als materielle Träger der — wenn auch verkürzten — Reflexivität, die gezwungen sind, i m Endlichen zu leben. Beide Theorien sind dann komplementär, wenn die Reflexivität Privateigentum des Bewußtseins ist, das sich m i t dem Postulat der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft vergesellschaftet, und wenn sich die K r i t i k von einer K r i t i k an den Insti32
Böhler, Rechtstheorie, S. 116.
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tutionen i n eine institutionalisierte Methode verwandelt, die die metaphysischen Fiktionen einer m i t emanzipatorischer Absicht erfaßten Geschichtsphilosophie zum Ausdruck bringen. M i t den Überlegungen zu den Arbeiten des jungen M a r x strebt Paul den Wiederaufbau einer authentischen marxistischen Rechtstheorie an 83 . Er w i l l sie „ i n modernem Sinne" als kritisches Organon des Rechts entwickeln und so die Grundlinie einer Theorie der „ K r i t i k des Rechts" festlegen. Die Rechtswissenschaft muß i h r theoretisches Selbstverständnis neu begründen. Es ist notwendig, das kritische antidogmatische und antipositivistische Denken wieder aufzunehmen, u m m i t i h m i n die traditionelle Rechtshermeneutik einzudringen, u m die methodologische Kristallisierung des theoretischen Wissens über das Recht zu brechen, die die positivistische Auffassung der Theorie zum Ausdruck bringt; sie muß nach Paul gebrochen werden, denn sie verhindert jegliche K r i t i k . Es entsteht die Notwendigkeit, eine Theorie aufzubauen, die zugleich kritische Erkenntnis des Rechts und eine auf seine Veränderung 3 4 gerichtete Analyse ist, d.h. keine logische Erklärung statischer Zusammenhänge. Verfahren und Praktiken dieser Theorie als K r i t i k des Rechts sind bei Marx dort zu suchen, wo er das kritische Modell der Theorie aufbaut. Dieses Forschen ist die erste Stufe i m Aufbau der Theorie als K r i t i k des Rechts. Es ist das innere Moment der Theorie: kritische Tätigkeit, die i n ihrer praktischen Verwirklichung erfaßt wird. Marx, der sich nie bewußt m i t dem Problem der Rechtstheorie beschäftigte, hat jedoch praktisch, so sagt Paul, ihre Verfahrensweise und ihre Struktur aufgezeigt. Paul analysiert zwei Texte von Marx: die K r i t i k von M a r x an der Historischen Rechtsschule, die an Hugo adressiert, jedoch an Savigny gerichtet ist, und den A r t i k e l i n der Rheinischen Zeitung zur Debatte i m rheinischen Landtag über das Holzdiebstahlgesetz 35 . I n diesen bei33 Vgl. von Paul, Kritische Rechtsdogmatik; Die marxistische Rechtstheorie; Das Programm marxistischer Rechtstheorie; Marxistische Rechtstheorie als Kritik des Rechts, und letztlich: Der aktuelle Begriff marxistischer Rechtstheorie. Zu Pauls Rekonstruktion des Rechtsdenkens Marxs meinen Aufsatz: Zur Kritik der sogenannten marxistischen Rechtstheorie. 34 Vgl. Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, S. 209. 35 Marx, MEW, I, S.78-89 und ebd., S. 109- 147; zur Debatte über das Rechtsdenken des jungen Marx ist die Literatur äußerst umfangreich, und ein Verweis wäre hier nicht angebracht. Einige Hinweise zu dieser Debatte finden sich in: Guastini, Marx: dalla filosofia del diritto alla scienza della società. Eine Stimme von besonderem Interesse, die die Diskussion aus ihren „klassischen" Sedimentierungen heraushebt, scheint mir: De Giovanni, Marx e lo stato.
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den Arbeiten von Marx bestimmt Paul Status und Verfahren einer als K r i t i k am Recht verstandenen Rechtstheorie. Der K r i t i k , die Marx an der Historischen Rechtsschule übt, liegt eine Auffassung von der Gesellschaft als Totalität zugrunde, i n der das Recht kein geschlossenes und isolierbares Universum, sondern ein Moment dieser Totalität darstellt, das geschichtlich zusammen mit ihr erzeugt w i r d und sich umwandelt. Es gibt keine Geschichte des Rechts, sagt Marx. Damit meint er, daß nur die Totalität, die auch das Recht umschließt, Geschichte hat. Dies ist konkretes geschichtliches Denken des Rechts, wobei das Recht i n die gesellschaftliche Totalität integriert ist. M i t dieser Perspektive muß die marxistische Theorie als „Geschichtsphilosophie m i t praktischer Absicht" entwickelt werden, als Philosophie, die die Geschichte i m Sinne einer offenen Dialektik der geschichtlichen Situation auffaßt. M i t der von dieser Geschichtsphilosophie eröffneten Perspektive beschäftigt sich die K r i t i k . Sie ist Emanzipationsdenken, das sich auf dem Wege einer Wiederherstellung des i n der Geschichte verdrängten Sinns vollzieht. Die Wiederherstellung des Sinns setzt ihrerseits voraus, daß die Geschichte von bewußten Subjekten erzeugt wird. Die K r i t i k nimmt ihren Platz zwischen der Philosophie und der Wissenschaft ein; die Philosophie antizipiert i n der konkreten Utopie der Zukunft den verdrängten Sinn der Geschichte, und die ideologiebefreite Wissenschaft erfaßt ihren Gegenstand ausgehend vom Situationsbegriff, den die Wissenschaft als determinierte Negation der Widersprüche begreift, die für die Situation kennzeichnend sind. Die K r i t i k ist Ziel und Maßstab der an der Praxis orientierten Erkenntnis, i n ihr sind zugleich Philosophie und Wissenschaft vorhanden und werden zu theoretisch-praktischem Emanzipations- und Verwandlungsdenken 36 . Nachdem er den Begriff der K r i t i k neu gestaltet hat, legt Paul das Struktur- und Verfahrensschema der marxistischen Rechtstheorie als K r i t i k des Rechts dar. Das innere Modell der K r i t i k des Rechts entnimmt er dem schon erwähnten A r t i k e l des jungen Marx über das Holzdiebstahlgesetz, das äußere Modell leitet er von Bloch, Habermas und Böhler ab. Wie Marx i n diesem Gesetz, so sieht Paul i m modernen Recht einen Widerspruch zwischen „Rechtsanspruch" und „Rechtswirklichkeit". Widerspruch und utopische Vorwegnahme seiner Negation sind der Motor der K r i t i k . Das Recht als Rahmenstruktur gesellschaftlicher Praxis weist einen historisch entstandenen Zwiespalt auf: es 36 Vgl. Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, S. 221; sowie Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, in: Theorie und Praxis, S. 425.
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organisiert den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß „keineswegs in der von ihm -prätendierten herrschaftskritischen, also emanzipatorischen Weise, sondern praktisch regelmäßig in einer herrschafts-dogmatischen, also gruppenspezifisch privilegierenden Weise, die mit seinen idealen Prätentionen unvereinbar ist" 3 7 . Paul argumentiert auf die gleiche Weise wie Marx 3 8 , denn auch Marx kritisierte das Holzdiebstahlgesetz, das gegen den Begriff des Rechts und des Gesetzes verstieß. „Das Gesetz ist", wie Marx sagte, „nicht von der allgemeinen Verpflichtung entbunden, die Wahrheit zu sagen (...). Wenn das Gesetz aber eine Handlung, die kaum ein Holzfrevel ist, einen Holzdiebstahl nennt, so lügt das Gesetz" 39 . Das moderne Recht hat keine praktische Bedeutung als Organisationsprinzip der Freiheit — diese Rolle wurde i h m geschichtlich zuerteilt. Es hat i m wesentlichen Bedeutung als Organisationsprinzip der Klassenherrschaft. Das Recht ist zu einer Kategorie der Herrschaft geworden: das System von Zwangsformen des positiven Rechts, dem der Staat seinen Apparat als Instrument zur Durchsetzung seiner Macht anbietet, ist ein institutionalisiertes Ordnungssystem, auf dessen Grundlage sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung herausbildet. I n der modernen Gesellschaft ist das Recht seinem Anspruch und seiner geschichtlichen Rolle nicht gerecht geworden, d.h. Prinzip der Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Gleichheit zu sein. Es ist denaturiert, es ist zum Herrschaftsinstrument geworden, zum ideologischen Instrument der Herrschaft einer Klasse. Das Recht ist zum Prinzip des Privilegs degeneriert. Es hat seine emanzipatorische und befreiende Natur, die sich i m menschlichen Gefühl für das Gerechte verkörpert, verändert und eine falsche ideologische Natur angenommen. Das Gesetz lügt, wie Marx über das Holzdiebstahlgesetz behauptete. Diese Denaturierung des Rechts schließt aus, daß das Recht von seiner Natur her ideologisch ist. Die Reflexion über das Recht kann nicht das äußere Erscheinungsbild, die historische Erscheinungsform des Rechts i n der kapitalistischen Gesellschaft, m i t dem Wesen des Rechts verwechseln. „Vielmehr ergibt sich i h m aus der historischen Erfahrung des Rechts als eines ideologischen Faktums oder einer Erscheinung der Negativität dialektisch die objektive Möglichkeit seiner theoretischpraktischen Entwicklung zur kritischen Instanz oder Gestalt der Negation der Negation 40 ." 37
Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, S. 223. Vgl. meinen Aufsatz: Zur Kritik der sogenannten marxistischen Rechtstheorie. 39 Marx, MEW, I, S. 112; vgl. S. 116 ff. 40 Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, S. 224. 38
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Die K r i t i k legt den ideologischen Charakter des Rechts offen und zeigt, daß dieser Charakter i m Widerspruch zum Anspruch des Rechts steht, die Wahrheit zu sagen. Von diesem Widerspruch aus gelangt die K r i t i k zur Natur und zum Wesen des Rechts. Bei diesem schrittweisen Aufstieg zum Wesen h i n geht die K r i t i k dialektisch vor: von der bestehenden Negation bildet sie ihrerseits die Negation, vom bestehenden ideologischen Recht, Negation des Wesens des Rechts, bildet sie die Negation: das Recht als kritische Instanz. Die K r i t i k w i r d auf dialektische Weise ihrem Gegenstand gerecht und gibt i h m ihre ganze Kraft: durch die K r i t i k w i r d das Recht selbst zur kritischen Instanz. Damit ist es i n der Lage, die Praxis zu verändern, indem es sie auf ihre Emanzipation h i n ausrichtet. Dieses durch die K r i t i k erzeugte kritische Recht ist Form der menschlichen Emanzipation, ist konkrete Utopie, ist befreiende Praxis: es ist Wahrheit. Die Rechtstheorie als K r i t i k beseitigt die Schwierigkeiten und Hindernisse nicht-dialektischer Auffassungen über das Recht. Sie ist sich des ideologischen Charakters der bestehenden Realität bewußt. A u f grund dieses Bewußtseins gewinnt sie dialektisch das Sollen i n seiner Wahrheit und projiziert es als kritische Instanz auf die Praxis, die verändert werden muß. Die Theorie als K r i t i k versöhnt „Anspruch und Wirklichkeit des Rechts geschichtlich i m Wege der Revolution" 4 1 . Die Versöhnung w i r d immittelbar auf die Praxis projiziert. Die Emanzipation des Rechts von der ideologischen Instanz zur kritischen Instanz bedeutet die Emanzipation der Gesellschaft i m Recht. Das kritische Recht ist die Wahrheit einer Gesellschaft, die durch das Recht den Schleier der Ideologie und der Verdrängung zerrissen und dem Recht der Herrschaft die Maske abgenommen hat. Die Rechtstheorie als K r i t i k des Rechts war bis jetzt aufgrund des Monopols des von Savigny erarbeiteten Wissenschaftsmodells aus dem epistemologischen Komplex der Rechtswissenschaft ausgeschlossen. Sie muß sich aber den Platz erobern, der i h r als philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis m i t praktischer Absicht zusteht: als K r i t i k der Dogmatik, als K r i t i k des methodologischen und exegetischen Charakters der Dogmatik. Die spezifisch analytisch-positivistischen Leistungen des epistemologischen Zusammenhangs der Rechtswissenschaft erfahren durch die K r i t i k eine revolutionäre Veränderung. Die kritische Rechtstheorie als K r i t i k der Dogmatik entmystifiziert die dogmatische Struktur der Rechtswissenschaft i n der Absicht, die Ergebnisse ihrer Operationen am Recht zu verändern, d.h. das beste41 Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, S. 224; auch folgende Stelle.
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hende Recht i n kritisches Recht umzuwandeln. Die Dogmatikkritik ist damit nicht nur Ideologiekritik und K r i t i k des bestehenden Rechts, sondern auch kritische Selbstreflexion der dogmatischen Rechtswissenschaft. 5. Distanzierung von der Welt und Fiktion der Geschichtsphilosophie — „Sinnhaftigkeit einer Denkstrategie" und Kritik an Böhler und Paul Es ist schwierig, die dialektische bzw. kritische Gesellschaftstheorie und damit die Rechtstheorie als K r i t i k des Rechts positiv zu charakterisieren. Die kritische Theorie stellt ein zusammengesetztes epistemologisches Modell dar, i n dem verschiedene theoretische Gestaltungen nebeneinander existieren können, nicht, w e i l ihre epistemologischen Instanzen sich voraussetzen oder sich strukturell anziehen oder sich ergänzen, sondern vielmehr deshalb, weil diese Leistungen funktional äquivalent sind, i n dem Sinne, daß jede von ihnen die andere beim Verfolgen eines einzigen Ziels funktional ersetzen kann. Dieses Ziel kennzeichnet sie i m Negativen, einzeln sowie i n ihrer Zusammensetzung betrachtet: es besteht darin, die wissenschaftliche Reflexion anzugreifen, als Positivismus zu diskreditieren und sie epistemologisch ohnmächtig zu machen, u m sie zu eliminieren. Der Positivismus ist das Problem, aber auch das Drama der Zusammensetzung der Kräfte der reflexiven Rückentwicklung. Da sie i h r theoretisches Selbstverständnis auf eine Distanzierung vom wissenschaftlichen Denken gründet, kann man sie m i t Albert zu Recht als Spekulation oder Ideologie bezeichnen. Für die Ideologie ist jede Epistemologie Positivismus, die nicht vom Totalitätsdenken aus dialektisch vorgeht. Die kritische Theorie betrachtet demnach die analytische Vernunft, den Kritizismus, den Funktionalismus und insbesondere den Marxismus, der zwar eine Dialektik besitzt, aber infolge materialistischen Denkens lediglich eine verkürzte — als Positivismus. Diese epistemologischen Konstruktionen sind Varianten eines einzigen Modells: des Positivismus. Dieses Modell existiert tatsächlich nur i n der metaphysischen, distanzierenden Voraussetzung der deutschen Ideologie, die als nichts anderes als eine dialektische Verschwörung gegen die Wissenschaft erscheint. Die Wissenschaft, an das Endliche, an das Positive gebunden, ist gezwungen, ewig seine Schlechtigkeit auszudrücken. Vom spekulativen Denken w i r d sie deshalb m i t Verachtung angesehen. I n den Augen der Ideologie stehen sich die spekulative Tiefe der deutschen Ideologie und die deskriptive Oberflächlichkeit der Wissenschaft unversöhnlich gegenüber. Die Spekulation ist kritisch und dialektisch. Die Wissenschaft ist neutral und analytisch. Die Spekulation reflektiert und versteht, die
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Wissenschaft erklärt und stellt Regelmäßigkeiten dar. Die Spekulation ist intersubjektiv, die Wissenschaft ist solipsistisch. Die Spekulation begründet das Verhältnis Subjekt - Subjekt, die Wissenschaft baut auf dem Verhältnis Subjekt - Objekt auf. Dies ist ein altes, aber ständig wiederkehrendes Motiv: die Geschichte, aus der die Zerrissenheit der modernen bürgerlichen Gesellschaft herauszulesen ist: die Zerrissenheit zwischen ihrer verkehrten Realität und dem Denken dieser Realität, zwischen der wissenschaftlichen Erklärung der Realität und ihrem ideologischen Selbstverständnis. I n dieser Geschichte spiegelt sich die Entfremdung des Menschen von sich selbst und vom Produkt seiner Arbeit wider. Sein Bewußtsein erscheint i h m als ein entfremdetes Erzeugnis, das i h m nicht gehört, als äußerliches Wesen, dessen Entfremdung die Ideologie als Reflexion des Bewußtseins, das sich von selbst versteht, aufrechterhält. Die Ideologie ist die Form, die das Bewußtsein i n seiner Entfremdung annimmt, da das Bewußtsein i n dieser Form existiert. I n der Ideologie rächt sich das entfremdete Bewußtsein, das versucht, den Prozeß der realen Entfremdung für sich zurückzugewinnen, indem es sich an die Totalität i n ihrer entfremdeten Form klammert, als Totalität des Geistes, der sich selbst — sowie die Welt — als Prozeß seiner Entfremdung begreift. Nur auf der dialektischen Ebene der Totalität gelingt es dem Bewußtsein, sich selbst als Reflexion und Distanz von der Welt und die Welt als Erzeugnis des reflexiven Bewußtseins zu begreifen. Marx hat diesen Entfremdungsprozeß erklärt und den Ort lokalisiert, an dem diese Entfremdung erzeugt wird. Er hat die gesellschaftlichen Produktionsprozesse der Entfremdung beschrieben und die Spekulation als verkehrtes Bewußtsein isoliert, das sich auf den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen aufrichtet. I n der X I . These zu Feuerbach behauptet er die Notwendigkeit, die Spekulation i n ihrem philosophischen Aufbau zu überwinden. Für i h n zeigt sich i n der Spekulation und der Metaphysik die ideologische Rückentwicklung der Reflexion, die auf der Grundlage der realen Entfremdung erzeugt wird. Deshalb behauptet er zugleich die Notwendigkeit, das Endliche, die Welt und ihre Veränderung als Instanz der Wissenschaft aufzufassen. Der Materialismus ist Wissenschaft, da er erklärt; i n den Augen der Ideologie aber verachtenswerte Wissenschaft. Sie greift sofort den Materialismus an, indem sie die X I . These zu Feuerbach umkehrt und die epistemologische Strategie, die Marx verfolgt, als positivistische abtut. Der Zusammenstoß m i t dem Marxismus ist entscheidend für die Ideologie. Der Marxismus ist die entmystifizierende Instanz der Ideologie. „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten i n die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens." Weiter heißt es: „Wenn
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i n der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie i n einer camera oscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dieses Phänomen aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor 4 2 ." Unter den übrigen positivistischen Richtungen genießt der Marxismus für die deutsche Ideologie ein Privileg. Die Grundinstanz des Marxismus, die Emanzipation, muß beibehalten werden. Dies gilt ebenso für die Instanz der Totalität und der Dialektik, doch die marxistische Dialektik ist eine Dialektik, der die Totalität nur als Teil ihrer selbst, i m amputierten Zustand, gegenwärtig ist. Diese Amputation hat der Marxismus gegenüber dem Sinn durchgeführt. Der Marxismus w i r d selbst zum amputierten Denken, das unfähig ist, außer der Sprache des wirklichen Lebens, die sich i n der materiellen Tätigkeit und i n den materiellen Verhältnissen äußert, auch die andere Sprache des geistigen Lebens zu erfassen, die Sinnkonkretion ist, Sprache des Bewußtseins, Reflexion, K r i t i k . Die deutsche Ideologie beginnt unmittelbar m i t der Revision des Marxismus. „ M i t Marx gegen Marx" ist i h r Motto. Die Revision des Marxismus ermöglicht es, den Sinn der epistemologischen Strategie des Materialismus durch eine einfache Operation zu neutralisieren, bei der das dialektische Vermögen zu einer Geschichtsphilosophie ausgeweitet wird, die den Sinn der Zukunft als dialektische Negation des verzerrten Sinns der Gegenwart entwirft. Dies bedeutet das Ende des Materialismus. Die Dialektik erstreckt sich auf die Totalität, da sie den Sinn erfaßt. Dem Marxismus gesteht man zu, die Sinnverzerrung der Gegenwart erkannt zu haben, die nur dialektisch zu überwinden ist. Die Ideologie eignet sich das Emanzipationsdenken an, das nicht mehr, wie i m Marxismus verkürzt, sondern vollständig ist, weil es auch — aber i m wesentlichen nur — den Sinn erfaßt. Die Ideologie legitimiert sich gegenüber dem Marxismus gegen den Marxismus selbst als seine innere Überwindung. Nach der Beseitigung des Materialismus konzentriert sich die deutsche Ideologie auf den Sinn. Der Sinn ist der Zauber der Ideologie, die die Welt beschwört. Sie steigt immer höher empor und verifiziert so das Theorem Böhlers, wonach die Distanzierung von der Welt Bedingung der Möglichkeit der Reflexion ist. U m den Zauber des Sinns auch aufrechtzuerhalten, widmet sich die deutsche Ideologie der schöngeistigen Literatur und schaut m i t Abneigung auf die sinnlose flache Sprache des materiellen Lebens. Die Ausschaltung des Materialismus ist nur möglich, da die Ideologie über ein neues autonomes epistemologisches Modell verfügt: das epistemologische Modell der Fiktion. Während der historische Materialismus Geschichtswissenschaft sein w i l l , die den Ablauf der Geschichte ausgehend von ökonomisch gesellschaftlichen Formationen 42
K. Marx, F. Engels, MEW, I I I , S. 25.
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erklärt, nimmt die Ideologie die Geschichtsphilosophie zur Hilfe. Sie, sagt Habermas, „fingiert die geschichtlichen Subjekte als das mögliche Subjekt der Geschichte i n der Weise, als würden tatsächlich die objektiv mehrdeutigen Entwicklungstendenzen von den politisch Handelnden m i t Willen und Bewußtsein ergriffen und zu ihrem Wohle entschieden. Von der Warte dieser Fiktion aus enthüllt sich nämlich die Situation i n ihren für den praktischen Zugriff empfindlichen Ambivalenzen, so daß sich eine belehrte Menschheit dann auch zu dem erheben kann, als was sie zunächst nur fingiert war" 4 3 . Die gesamte Reflexion der kritischen Epistemologie bewegt sich u m diese Fiktion. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit dieser Epistemologie und zugleich das Prinzip, das die unterschiedlichen Formen erklärt, die die Theorie annehmen kann. Die Fiktion der Geschichtsphilosophie vermeidet den Mangel des Materialismus und des Positivismus. Sie geht zugleich von einer Dialektik der Geschichte und der philosophischen Überwindung der Widersprüche aus, die sie selbst gesetzt hat. Dabei verfährt sie nach einem Entwurf, der bereits die Emanzipation als Prozeß enthält, der die Fiktion verwirklicht. Mittels der von der Geschichtsphilosophie erzeugten Fiktion entgeht die Ideologie dem Risiko des Positiven und der Wissenschaft; sie kann den Fallen des Positivismus entkommen, da die Theorie, die den Emanzipationsprozeß erklärt, lediglich Erklärung des i n der Utopie der Fiktion implizierten Sinns ist. Die Theorie entzieht sich der Aufgabe, die Realität zu erklären, denn sie ist j a nicht Wissenschaft, Positivismus. Sie erklärt den Sinn, der i n der Fiktion als verloren postuliert wird. Die Gesellschaftswissenschaft w i r d auf friedliche Weise zur Geisteswissenschaft, so wie i n der Geschichtsphilosophie die Realität Realität des Geistes ist. Der Materialismus löst sich i n der Utopie auf. Diese Utopie ist eine konkrete. Sie ist der Entwurf eines Sinnes, i n einer auf der Wirklichkeit erzeugten Fiktion impliziert. Diese Fiktion ist aber ein Erzeugnis der Geschichtsphilosophie, und sie ist nichts anderes als ein Sinnentwurf des Bewußtseins. Die neue und kritische Wissenschaft ist die Hermeneutik dieser Fiktion. Die Wissenschaft erklärt nicht mehr die Logik und die Gesetze der Geschichte oder der Gesellschaft. Sie interpretiert den Sinn, den die Fiktion als verzerrt darstellt und benutzt i h n bei der Überwindung der Verzerrung. Die Theorie bedient sich bei der Interpretation einer weiteren Operation, die selbst eine Fiktion, ein apriorisches Ideal ist. Sie setzt die rationale Kontrolle durch den Dialog, durch die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft voraus. Weiterhin setzt sie vor43 Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: Theorie und Praxis, S. 279 (Hervorh. von mir, D. G.).
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aus, daß sich die Emanzipation durch diese rationale Kontrolle verwirklicht, ja sogar, daß sie bereits eine Angelegenheit der Emanzipation ist. Oder anders ausgedrückt: nachdem die Fiktion hergestellt ist, benützt die Theorie die institutionalisierte Methode der K r i t i k als offizielle Institution zur Wiederherstellung des verzerrten Sinns. Diese K r i t i k ist nur K r i t i k der Institutionen, die amputierte, reduzierte Sinnzusammenhänge sind, die die Geschichtsphilosophie m i t ihrer Fiktion eines utopischen Sinns ersetzt, der dann ihre Wahrheit, ihr Wesen ist. Nachdem Wahrheit und Wesen wiedergewonnen sind, gliedert die Geschichtsphilosophie eben diese Institution ein i n den emanzipatorischen Entwurf. Die Rechtstheorien Böhlers und Pauls sind bescheidener, aber bedeutsamer Ausdruck der deutschen Ideologie i n ihrer an dem Recht orientierten Ausprägung. Sie sind zwei unterschiedliche, jedoch komplementäre Formen des gleichen epistemologischen Modells der Fiktion, auf das sich die Strategie der deutschen Ideologie stützt. Böhler greift nach dem Apelschen Modell der Reflexion und den transzendentalen Spekulationen des Logos. Paul greift nach dem Habermasschen Modell der K r i t i k und den dialektischen Verwirrungen des kritischen Rechts. Beide wollen theoretisch die Fiktion des Rechts als kritische Reflexion realisieren. Während Habermas vorausschickt, die Wissenschaftsphilosophie erarbeite eine Fiktion über die Wirklichkeit, auf deren Grundlage die Theorie vorgehe und damit den entfremdeten Charakter der Wirklichkeit offen lasse, w i r d i n der Theorie Böhlers und Pauls die Realität selbst zur Fiktion. Es scheint, daß sich die Wahrheit einer Theorie wohl am sinnfälligsten i n ihren epigonalen Vertretern enthüllt. I n der Theorie Böhlers ist das Recht ein Modus der Reflexivität. Die Theorie ist kritische Reflexion über das Recht. Sie h i l f t der Wissenschaft, sich als i n den Veränderungszusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse hinabgestiegen zu verstehen. Die Veränderung w i r d von der Reflexion bewirkt: da das Recht konkrete Reflexion ist, w i r d die Veränderung vom Recht verwirklicht, das die Wissenschaft m i t sich zieht. Die Wissenschaft hat offensichtlich einen Wissenschaftlichkeitsanspruch. Um diesen Anspruch zu verwirklichen, reicht es aus, daß die Wissenschaft nicht vergißt, Hermeneutik des Sinns der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein. Die Hermeneutik des Sinns ist ein Erzeugnis der Reflexion und nur möglich, wenn die Reflexion Prozeß der Distanzierung von der Welt ist. Nur dann kommt es zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn das Bewußtsein sich m i t all seinen Erzeugnissen, einschließlich des Rechts und der Wissenschaft, von der Welt distanziert. Mehr noch: auch die Rechtssätze müssen 10*
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wissenschaftlich sein. Ihre Wissenschaftlichkeit muß bewiesen und überprüft werden. Doch dazu genügt es, etwas transzendentale Phantasie zu haben: es genügt das Rechtsgefühl, das Vorurteil. Die Rechtswissenschaft w i r d vom praktischen Emanzipationsinteresse geleitet. Sie strebt eine undogmatische, richtige, überprüfbare Erkenntnis an, wobei die Kontrolle der emanzipatorischen Fähigkeit der Wissenschaft rational sein muß. Dazu genügt eine unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft, eine einfache Fiktion, die nicht nur der Wissenschaft, sondern auch dem Recht Rationalität garantiert. Indem sie über diese Fiktion reflektiert, erzeugt die Wissenschaft ein humanes, richtiges und emanzipiertes Recht. Durch diese Fiktion w i r d das Bewußtsein vergesellschaftet, und das Recht, das emanzipierte Abstraktion und distanzierte Reflexion bleibt, lenkt den Mechanismus der Emanzipation. Die Wissenschaft vermittelt sich i n die Praxis, indem sie das emanzipierte Recht erzeugt, d.h. sie fertigt Entwürfe zur Veränderung der Gesellschaft an, die i n absehbarer Zeit durchführbar sind. Die gesamte theoretische Konstruktion Böhlers spiegelt die Treue zu seinem Leitsatz wider, wonach die Distanzierung von der Welt Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis ist. Ohne diese Distanzierung wären so viele transzendentale Träumereien über das Recht nicht möglich. Paul dagegen hat geringere philosophische Ansprüche. Er geht von der Feststellung aus, zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit bestehe eine K l u f t . Seinem Anspruch nach, d.h. seinem Begriff nach, ist das Recht das Richtige, das Menschliche. I n der modernen Gesellschaft ist dieser Begriff des Rechts, dieser Sinn des Rechts denaturiert worden. Das Recht ist Ausdruck der Herrschaft. Paul geht dialektischer vor. Er kritisiert die Dogmatik, anstatt die Prozesse zu analysieren, die zur Denaturierung des Rechts führten. Eine solche Analyse wäre die Analyse der rechtlichen Form der Freiheit und abstrakten Gleichheit der bürgerlichen Gesellschaft, sowie die Analyse der Gerechtigkeit als rechtliche Form des Tausches. Durch die K r i t i k an der Dogmatik, harmlose, methodologische Operation am Recht, gibt er dem Recht den verlorenen Sinn wieder. Demnach ist es i m wesentlichen die Dogmatik, die das Recht denaturiert hat. Paul kann das Problem als eine Frage innerhalb der traditionellen Rechtswissenschaft lösen, wie es beispielsweise vorsichtig die Interessenjurisprudenz getan hat. Paul, der sich nicht von der deutschen Ideologie befreien kann, beansprucht sofort die Fiktion. Das aus der K r i t i k hervorgegangene Recht w i r d zum kritischen Recht und setzt den gesellschaftlichen Emanzipationsprozeß i n Gang. Das Recht verwandelt sich i n die Form der Emanzipation. Paul braucht die transzendentale Fiktion der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft nicht zu be-
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mühen, da die Leistungen i h m von der anderen radikaleren und tautologischen Fiktion der K r i t i k gegeben werden. Sie eignet sich eher für die Klischees des utopischen Entwurfs und der Sinnantizipation. Diese Antizipation ist für Paul so wenig utopisch, daß er sie, wie Marx bei der K r i t i k am Holzdiebstahlsgesetz, aus dem Begriff des Rechts ableitet. I n diesem Sinne war es für i h n nützlich, Marx zu rekonstruieren. Die Rechtstheorien Böhlers und Pauls erfassen theoretisch das Recht so wenig, wie die Fiktion der Geschichtsphilosophie die wirkliche Bewegung der Gesellschaft erfaßt. Diese Theorien, die von der A b neigung gegen die Wissenschaft bewegt werden, sind typische Formen einer Ideologie, der es bei ihrer theoretischen Rückentwicklung weder gelingt, dem Recht noch der bürgerlichen Rechtsideologie gerecht zu werden. Die Verschwörung der Ideologie gegen die Wissenschaft verschiebt die philosophische Organisation dieser Ideologie auf ein vorwissenschaftliches Niveau, auf dem das Wirkliche zu all den Metamorphosen gezwungen wird, zu denen nur das philosophische Bewußtsein fähig ist: jenes verkehrte Bewußtsein, dessen Überwindung Marx als notwendig bezeichnet hat. Wer sich für philosophisch raffiniert hält — so bemerkt Bachelard — erweist sich als sehr ungeschickt, wenn es u m die Beurteilung wissenschaftlicher Werte geht.
Kapitel
III
Die analytische Rechtstheorie und der Kritizismus 1. Dialektik und Kritizismus Die Diskussion über den Positivismus weist bereits kurze Zeit nach ihrem Einsetzen Zeichen einer ausgeprägten Müdigkeit auf, nicht nur weil sich die Kontroverse allmählich erschöpft hat — wie Lorenzen 1 bemerkt —, sondern auch w e i l die ursprünglichen Abwandlungen verbraucht sind. Diese Abnutzung machte sich besonders bei den Dialekt i k e r n bemerkbar, die den Mythos der totalen Vernunft auf der falschen Voraussetzung aufbauten, die Dialektizität des Wirklichen erkläre sich i n der Behauptung des Sinnes und schließe die analytischbeschreibende Vernunft aus. Diesen Universalanspruch der Dialektik greifen die „Szientisten" an, indem sie sich der unberechtigten Sperre der totalen Vernunft gegen den Positivismus zur Wehr setzen, da der „Positivismus" der Dialektiker verschiedene Auffassungen über die Wissenschaft umfasse, die nur „dialektische Abenteuer" vereinen können. I n dieser Situation entsprach dem Bestreben der „Dialektiker", den Positivismus als eine pathologische Form der Epistemologie darzustellen, ausschließlich durch den Mangel an Dialektik und die Unfähigkeit zur Erfassung der Sinnzusammenhänge gekennzeichnet, ein noch ausgeprägteres Bestreben der „Szientisten", die Differenziertheit ihrer theoretischen Konstruktionen herauszustellen. Sie versuchten nachzuweisen, daß die totale dialektische Vernunft sowie die totale analytische Vernunft beide Mythen sind, von der deutschen Ideologie geschaffen, u m das Vorurteil der philosophischen Tradition beizubehalten, das aus der Zerstörung der aufklärerischen Vernunft und ihrer kritischen Instanz hervorgegangen ist 2 und lediglich dazu dient, „unklare, vage und i n esoterischer Sprache abgefaßte Formulierungen aufzuwerten und gegen kritische Untersuchungen zu schützen". Hatte die hermeneutisch-anthropologische Restaurierung des Marxismus durch die Wiederherstellung seines kritischen Potentials seinen gefährlichen Positivismus immunisiert, so bleibt das szientistische Universum durch 1 2
Lorenzen, Szientismus versus Dialektik. Albert, Plädoyer, S. 53.
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den analytischen Modus der Wissenschaften oxoniesischer Herkunft 5 sowie durch den kritischen Rationalismus geprägt, der i n Deutschland insbesondere von Hans Albert 4 entwickelt und zur offiziellen Philosophie der deutschen Sozialdemokratie erklärt wurde 5 . Der Kritizismus Alberts spielte eine entscheidende Rolle i n der Kontroverse mit den Dialektikern, leistete aber nur wenig weiterführende Beiträge zur Rechtstheorie; anders jedoch die analytische Theorie. Sie beteiligte sich nicht aktiv an der Diskussion der sechziger Jahre, gestaltete aber die rechtstheoretische Diskussion i m wesentlichen mit. Diese Situation w i r d nur verständlich, wenn man folgendes beachtet: 1. Der Kritizismus bringt positivistisch genau den gleichen Anspruch hervor, den er der dialektischen Vernunft streitig macht: den Anspruch, die Welt kritisch zu verstehen. Damit nimmt er direkt an der Auseinandersetzung u m die Behauptung der Form der Vernunft teil und reiht sich vollständig i n die deutsche philosophische Tradition ein. Innerhalb der Rechtstheorie muß er sich einen Platz zwischen dem analytischen und dem dialektischen Modus der Wissenschaft erkämpfen, i n denen sich die epistemologischen Alternativen der Jurisprudenz erschöpfen. 2. I m Bereich der deutschen Sozialwissenschaft nimmt die analytische Theorie eine untergeordnete Stellung ein. Bereits 1965 weist Albert® auf den spürbaren Einfluß der i m angelsächsischen Bereich dominierenden Strömungen i n Deutschland h i n und bemerkt, daß man seitens der deutschen Ideologie „vielfach versucht, ihn auf eine als Domäne von Spezialisten aufgefaßte Wissenschaftslehre einzuschränken, die den Naturwissenschaften Hilfsdienste zu leisten hat, oder ihn i n einer Hermeneutik aufzufangen, i n deren Rahmen sich die Beiträge angelsächsischer Autoren als brave, aber wegen mangelnder Tiefe oder wegen Vernachlässigung der historischen Dimension doch letzten Endes unzulängliche Lösungen von Problemen auffassen lassen, die i n der deutschen philosophischen Tradition seit langem angemessen behandelt werden". I m Universum der Rechtsepistemologie fügt sich die analytische Theorie in die Tradition Kelsens ein und schafft zugleich die theoretische Grundlage für die logische Analyse, die Sprachanalyse und die systematische Analyse des Rechts, denen mit der Abwendung vom 3 Vgl. statt aller, Stegmüller, Probleme und Resultate, I; ders., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bandi, 429 ff.; Bandii, Kap. 1 - 3 ; Savigny, Analytische Philosophie; Essler, Analytische Philosophie I; Tugendhat, Vorlesungen; in allen angeführten Arbeiten sind umfangreiche Literaturhinweise zu finden. 4 Vgl. Albert, Plädoyer; ders., Traktat; Theorien; Aufklärung und Steuerung. 5 Vgl. Kritischer Rationalismus, I ; II. 6 Albert, Plädoyer, 53.
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Kelsenismus nach dem Kriege ein einheitlicher und haltbarer epistemologischer Bezug fehlte 7 . Die analytische Theorie bietet sich bedenkenlos als alternative globale Strategie gegenüber der kritischen Vernunft an, als eine Strategie, die nicht nur bei der theoretischen Erforschung, sondern auch bei der praktischen Handhabung des Rechts einzusetzen ist; zudem ist sie ein hinreichend elastisches Modell, das gleichzeitig verschiedene Instanzen, sei es positivistischen oder neopositivistischen Ursprungs zusammenfügen kann. 2. Die Erkenntnistheorie des Kritizismus I n der Positivismusdebatte gegen Habermas 8 versuchte Albert, den Mythos der totalen Vernunft als obskurantischen Mythos darzustellen. Er spricht der Dialektik und der Hermeneutik innere kritische Fähigkeiten ab, da die totale Vernunft, auf die sie sich stützen, die Unkontrollierbarkeit ihrer selbst impliziere, so daß sie sich von vornherein jeglicher K r i t i k entziehe. Da sich eine derartige Vernunft auf die Absolutheit ihrer selbst sowie auf die Universalität und die Unfehlbarkeit ihrer Operationen stützt, kann sie — so sagt Albert — kein kritisches Instrument sein. Sie ist unfähig, die Realität zu erkennen, da sie sie nicht i n ihrer Regelmäßigkeit erklären kann. Sie erklärt Sinn, und diese Sinnerklärung erfolgt aufgrund der dialektischen Immanenz, die die Theorie der Wirklichkeit und der Geschichte voraussetzt: d. h. die Theorie stellt keine Hypothesen über die Wirklichkeit auf, die dann dem Beweis der empirischen Tatsachen unterzogen werden, wobei die Geltung der Hypothesen davon abhängt, ob sie dem Beweis und der empirischen Kontrolle standhalten oder nicht. Das Postulat der Immanenz ist ebenso absolut wie das der Unüberprüfbarkeit. Spricht man der Theorie erklärende Fähigkeit ab, so muß man i h r eine normative Fähigkeit zuerkennen, d. h. die Fähigkeit, der Geschichte und der Wirklichkeit auf der Grundlage einer unkritischen Geschichtsphilosophie einen Sinn vorzuschreiben und diesen Sinn durch eine Lektüre der Wirklichkeit und der Geschichte zu erklären, aus der hervorgeht, i n welchem Maße die Welt dem vorausgesetzten Sinn entspricht. Dem Obskurantismus und der U n k r i t i k der dialektischen Theorie stellt Albert die Methodologie der theoretischen Realwissenschaften entgegen, die „vor allem auf die Erfassung gesetzmäßiger Zusammenhänge, auf informative Hypothesen über die Struktur der Realität und damit des tatsächlichen Geschehens" abzielt 9 . 7
Vgl. Hoerster, Grundthemen analytischer Rechtstheorie, in: Jahrbuch, II, S. 115 -132; Eckmann, Rechtspositivismus; Rieser, Sprachwissenschaft und Rechtstheorie; Kunz, Die analytische Rechtstheorie. 8 Albert, Der Mythos; s. Ley, Müller, Kritische Vernunft. 9 Albert, Der Mythos, S. 202.
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Die empirischen Kontrollen sollen uns zeigen, ob die Zusammenhänge, die w i r herstellen, der Konfrontation mit der Wirklichkeit standhalten, oder ob w i r unser „vorgängiges" Wissen anzweifeln müssen. Hier, wiederholt Albert m i t Popper, „spielt die Idee eine erhebliche Rolle, daß w i r die Möglichkeit haben, aus unseren I r r t ü m e r n zu lernen, indem w i r die betreffenden Theorien dem Risiko des Scheiterns an den Tatsachen aussetzen". Für die deutsche Ideologie, die die innere und notwendige Übereinstimmung der dialektischen Theorie mit der Wirklichkeit fordert, gilt: „ I m Rahmen der erfahrungswissenschaftlichen Theorie bleiben der Systembegriff und die theoretischen Sätze, die ihn explizieren, dem analytischen Erfahrungsbereich äußerlich. Theorien seien hier bloße Ordnungsschemata, i n einem syntaktisch verbindlichen Rahmen belie big konstruiert 10." Die Ablehnung des theoretischen Schemas, das hypothetisch die Realität ordnet, dient nur dazu, das praktische Handeln i m Namen eines vorausgesetzten Sinns der Geschichte 11 zu legitimieren. Sie geht aus einem entschiedenen Antinaturalismus auf ontologischer und methodologischer Ebene hervor, von dem sich die dialektische Weltauffassung nicht befreien kann; sie neigt dazu, das von der modernen Wissenschaft erworbene Wissen unglaubwürdig erscheinen zu lassen und das aus dem beanspruchten Verständnis des Sinns der Geschichte abgeleitete Wissen gegen jegliche K r i t i k zu immunisieren. Trotz ihrer totalisierenden Vernunft ist die dialektische Theorie eine Theorie der Aufteilung des Universums der Wissenschaft, eine Theorie der Isolierung und der Absonderung der Gesellschaftswissenschaft, eine Theorie ihrer Geschlossenheit i n einer Sinnontologie. Mehr noch: der Antinaturalismus der dialektischen Theorie führt zu einer instrumentalistischen Deutung der Naturwissenschaften, paradoxerweise charakteristisch für einen traditionell aufgefaßten Positivismus, zu „einer instrumentalistischen Deutung, i n der diese Wissenschaften als bloße Werkzeuge praktischer Lebensbewältigung ohne darüber hinausgehenden Erkenntniswert aufgefaßt und dadurch für die Gestaltung des Weltbildes weitgehend sterilisiert werden" 1 2 . Der Versuch der deutschen Ideologie, das Wissen der Naturwissenschaften sowie alle aus diesem Versuch sich ergebenden Folgen unglaubwürdig zu machen — d. h. die Inanspruchnahme einer Geschichtsphilosophie und einer Ethik, die sich der Kontrolle durch die Vernunft 10 11 12
Albert, Der Mythos, S. 200. Albert, Der Mythos, S. 212; Plädoyer, S. 55. Albert, Plädoyer, S. 56.
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entziehen, die Notwendigkeit, die hermeneutische Erklärung des beanspruchten Sinns als einzige Leistung einer Wissenschaft darzustellen, die sich der K r i t i k entzieht, die Begründung einer Gesellschaftswissenschaft als Eintopfwissenschaft, i n der nebeneinander die Hermeneutik, die Dialektik, der Pragmatismus und die transzendentale Philosophie bestehen — dies alles zeigt, daß die deutsche Ideologie aus der Ablehnung der Tradition der kritischen Vernunft hervorgeht und unfähig ist, die Ergebnisse dieser Tradition für die modernen Wissenschaften und ihre Methodologie auszuwerten, zu bewerten und zu erfassen. „Der Anti-Naturalismus des hermeneutischen und des dialektischen Denkens enthüllt sich dabei als theologisches Residuum" 1 3 , indem er die moderne Wissenschaft i n Mißkredit bringt und m i t dem kritischen Denken der aufklärerischen Vernunft bricht, denn — so folgert Albert —: „Theoretisches Denken, wie es vor allem i n den Naturwissenschaften ausgebildet wurde, Erklärung des tatsächlichen Geschehens und Aufklärung gehören eng zusammen." Der kritische Rationalismus ist moderner Erbe der Tradition der Aufklärung. Er v e r t r i t t eine wissenschaftliche und kritische Rationalität als Alternative zur konservativen und obskurantistischen Rationalität der dialektischen Vernunft; er ist i m wesentlichen eine Theorie der Fehlbarkeit menschlicher Vernunft, die politische Konsequenzen hat 1 4 . Der Kritizismus dieser Theorie geht von der Hypothese aus, „daß es, wie i n der Wissenschaft, so auch i m sozialen und politischen Leben, keine perfekten und daher unrevidierbaren Problemlösungen geben kann" 1 5 . Der Theorie sind diejenigen suspekt, die behaupten, totalisierende Auffassungen m i t allgemeingültigen Lösungen zu besitzen, die die Gesellschaftsordnung von der Herrschaft und den Konflikten befreien und als ein harmonisches Ganzes gestalten. I n Anlehnung an die Naturwissenschaften sind die gesellschaftlichen Institutionen keine Sinnkonkretionen, sondern Problemlösungen, die immer der Revision durch das kritische Eingreifen der Vernunft unterliegen. Die Theorie hat Hypothesen aufzustellen, die diese Problemlösungen falsifizieren, so daß jede gesellschaftliche Institution als i m voraus existierende Lösung auf Veränderung angelegt ist. Die Voraussetzung der K r i t i k ist als praktische Leistung der Vernunft enthalten, die nicht nur auf das Verständnis der Gesellschaft abzielt, sondern auch auf die Bewertung möglicher Veränderungen, als angemessenere Problemlösungen. Damit ist der kritische Rationalismus auch eine politische 13 14 15
Albert, Plädoyer, S. 68; auch das folgende Zitat. Albert, Plädoyer, S. 70; vgl. Albert, Aufklärung und Steuerung. Albert, Plädoyer, S. 70.
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Theorie: i n i h m sind die Grundlagen für eine rationale Politik enthalten, für eine Politik der praktischen Vernunft, wie Albert sagt. Die liberalen Errungenschaften der modernen Gesellschaft haben die Voraussetzungen geschaffen für eine „wirksamere Institutionalisierung von K r i t i k und Kontrolle der Herrschaft unter Aufrechterhaltung der Möglichkeit, erfolgreich zu planen und zu entscheiden" 16 . I n dieser Gesellschaft sind Entwicklung und Fortschritt der Institutionen an die Entwicklung der Wissenschaft und ihre Ergebnisse gebunden. Das Maß, mit dem sich die Politik die Ergebnisse der Wissenschaft zu eigen macht, ist Ausdruck des Liberalismus und der Aufklärung der politischen Theorie; Liberalismus und Aufklärung hängen auch von der Fähigkeit der K r i t i k ab, die vorhandenen Lösungen i n Zweifel zu ziehen und damit von der Fähigkeit der Vernunft, angemessenere Lösungen zu entwerfen. Die kritische Gesellschaftswissenschaft übernimmt von den Naturwissenschaften die Neigung zum rationalen Handeln, zum k r i tischen Argumentieren und zum Überprüfen der Hypothesen und Zusammenhänge. Dies führt zu ihrer endgültigen Befreiung von jeder rückschrittlichen Ontologie und jedem theologischen Überrest. 3. Die Jurisprudenz als Sozialtechnologie Der kritische Rationalismus stellt innerhalb der traditionellen Rechtswissenschaft zwei Eigenschaften fest, die das Wissen über das Recht daran hinderten, sich den i n anderen Wissensbereichen erzielten Ergebnissen anzugleichen, und i h m die Möglichkeit nahmen, praktische Relevanz zu haben. Dies sind der normative und der dogmatische Charakter der Rechtswissenschaft. Normativität der Theorie sowie dogmatisches Interesse haben der Rechtstheorie ein kritisches und rationales Vorgehen unmöglich gemacht. Diese epistemologische Gebundenheit hinderte die Theorie daran, sich der Methode zu bedienen, die i n den anderen Wissenschaften den Fortschritt des Wissens und zugleich die effektive Vermittlung des theoretischen Wissens i n der gesellschaftlichen Praxis ermöglichte. Die Jurisprudenz war so gegenüber der K r i t i k immunisiert und damit i n einem Dogmatismus verfangen, der lediglich den status quo legitimierte. Gegenüber der Lösung der Probleme nahm sie, verleitet durch die Idee der letzten Begründung des Wissens, einen Stil und ein Verhalten an, deren Unzulänglichkeit und Unangemessenheit, aber auch deren dogmatische und autoritäre Gefahr die Naturwissenschaften seit langem bewiesen haben. „Die Erkenntnispraxis dieser Wissenschaften hat sich seit langem de facto am Prinzip der kritischen Prüfung orientiert, auch wo ihre epistemologische Interpretation einen anderen Eindruck hervorrief 1 7 ." 16
Albert, Plädoyer, S. 72.
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Die theoretische Praxis der Jurisprudenz folgte dem Prinzip der Autonomie der Wissenschaft, die sich auf eine unwiderrufliche Trennung zwischen den Bereichen der wissenschaftlichen Erkenntnis stützt. Negative Folge dieser Trennung war, daß sich die Theorie gegenüber bestimmten Formen des wissenschaftlichen Wissens verschloß und gewisse Methoden verabsolutiert wurden. Aufgrund dieser Erstarrung kann die Jurisprudenz für ihre Erkenntnispraktiken nur dann wissenschaftliche Bedeutung beanspruchen, wenn sie jegliche Form kritischer und rationaler Erkenntnis ablehnt und sich selbst als Dogmatik bezeichnet. Das Erkenntnismodell der Offenbarung, das sich unmittelbar aus der Theologie ableitet, schafft dieser Jurisprudenz die epistemologische Grundlage. Der theologische Charakter der Jurisprudenz ergibt sich nicht nur aus der Betrachtung der Methoden und Verfahren, die sie zur Lösung ihrer Probleme anwendet, sondern auch aus der Tatsache, daß sie als ihre eigentlichen die theologischen Probleme der Identifizierung und der Interpretation bestimmter Kommunikationsschemata, d. h. bestimmter sprachlicher Zusammenhänge erkannt hat. Die theoretische Grundfrage der dogmatischen Jurisprudenz sowie der Theologie ist die Frage der Geltung. Trotz aller Bemühungen, die epistemologische Erstarrung i n der Jurisprudenz zu durchbrechen, kann sie als Komplex theoretischer Praktiken, die geeignete M i t t e l zum Erreichen konkreter Entscheidungen zur Verfügung stellen, nichts anderes sein als eine dogmatische Wissenschaft mit normativem Charakter. „Die Bindung an das geltende Recht scheint den gleichzeitig dogmatischen und normativen Charakter und darüberhinaus — soweit sie sich auf Texte stützen muß — den hermeneutischen Charakter dieser Erkenntnisweise zu präjudizieren 1 8 ." Die Jurisprudenz legitimiert sich so als ein Gefüge von Praktiken, die eine Wissenschaftstheorie, die ausschließlich von einem Erkenntnisinteresse angetrieben wird, als unnütz und für ihre Praxis ungeeignet ablehnen. Da sie nicht i n der Lage ist, das Problem der praktischen Vermittlung des theoretischen Wissens zu lösen, bleibt auch die analytisch-normative Lösung, die der Rechtswissenschaft angeboten wird, unbefriedigend. U m die praktische Vermittlung zu realisieren, ist sie gezwungen, das Recht als ein i n sich abgeschlossenes Universum aufzufassen. Damit verschließt sie sich der Möglichkeit, i n letzter Instanz gerade über die Wirksamkeit der von i h r untersuchten Normen Rechenschaft abzu17
Albert, Erkenntnis und Recht, S. 81; vgl. die Kritik von Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus und die Erwiderung von Albert, Normativismus oder Sozialtechnologie? 18 Albert, Erkenntnis und Recht, S. 84.
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legen. Sie glaubt, das Problem lösen zu können, indem sie ihrer Erforschung der Rechtsordnung Regelsysteme zugrundelegt, die die Operationen bei der Anwendung des Rechts durch den Richter rechtfertigen, so daß sich die Jurisprudenz als Wissenschaft ohne weiteres „mit dem Richter in einer Entscheidungssituation identifizieren kann" 1 9 . Diese Voraussetzung ist gewiß i n Zweifel zu ziehen, behauptet Albert. Die traditionelle Rechtswissenschaft sowie die moderne analytische Lösung lassen die Frage der praktischen Vermittlung der theoretischen Erkenntnisse über das Recht unbeantwortet. Die dogmatisch-hermeneutische Orientierung und die analytische Perspektive befreien die Rechtstheorie nicht von der Alternative zwischen einer theologischen Betrachtung der Jurisprudenz als dogmatischer Wissenschaft, deren epistemologische Aufgabe darin besteht, „die Offenbarungen der normstiftenden Instanzen zu identifizieren, sie adäquat zu deuten und sie entsprechend anzuwenden" 20 , und einer analytisch-normativen Betrachtung des Rechts, die die Existenz des Rechts als gesellschaftliche Tatsache i n der metaphysischen Voraussetzung der Geltung auflöst. Dieser analytisch-normativen Betrachtung des Rechts gelingt es nicht, eine Analyse des Rechts als einer Ordnung des gesellschaftlichen Verhaltens durchzuführen, als einer Ordnung, die gilt, weil sie fester Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse ist, an deren Gestaltung sich das Recht gemeinsam m i t anderen gesellschaftlichen Strukturen beteiligt. Die Notwendigkeit der Interpretation des Textes als konstitutives Moment des Erkenntnisprozesses des Rechts ist zur Sakralisierung des Textes selbst geworden. Die theoretische und praktische Vereinigung von Theologie und Jurisprudenz ist vollendet. Durch die Annahme, die Erkenntnisaufgabe der Jurisprudenz bestehe i n der Erklärung des Sollens, w i r d das Recht als ein Universum gültiger Normen identifiziert: das Recht ist i n einen autonomen Kosmos eingeschlossen, undurchdringbar für die gesellschaftlichen Tatbestände. Der Erkenntnis des normativen Tatbestandes wurde die Erkenntnis der normativ geregelten Tatsachen entzogen — die die Rechtswirklichkeit darstellen — aber auch die Betrachtung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, i n die sich das Recht als konstitutive Struktur eingliedert. Die Erkenntnisfähigkeit einer Rechtstheorie theologischen oder normativen Charakters w i r d so vermindert, i n jedem Fall verzerrt, denn ihrer epistemologischen Struktur fehlt das Netz von Erklärungen, mit deren Hilfe man über die vom Recht hergestellten gesellschaftlichen Zusammenhänge, über die gesellschaftlichen Auswirkungen des Rechts und über das Recht selbst als „Tatbestand der gesellschaftlichen Wirklich19 20
Albert, Erkenntnis und Recht, S. 88. Albert, Erkenntnis und Recht, S. 85.
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keit" Rechenschaft ablegen kann. Das Vorhandensein des Rechts kann nicht beziehungslos von den gesellschaftlichen Vorgängen erklärt werden, i n denen es erzeugt w i r d und auf die es einwirkt. I m Komplex dieser Vorgänge w i r d die Erkenntnis der Normen des bestehenden Rechts nicht nur als K e r n der Rechtswissenschaft wichtig, sondern als notwendiger Bezug auch für die übrigen Gesellschaftswissenschaften, die das gesellschaftlich relevante Verhalten und die gesellschaftlichen Zusammenhänge zum Gegenstand haben, i n denen sich dieses Verhalten zeigt. Die Wirksamkeit der Normen erklärt die A r t e n der praktischen Existenz des Rechts und zugleich das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft und damit die übrigen Tatbestände der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Gegenstand der empirischen Gesellschaftswissenschaft sind. Die Jurisprudenz muß eine empirische Wissenschaft sein, die den Zweck verfolgt, das Recht als Tatbestand der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu deuten und zu verstehen. Sie muß eine realistische Wissenschaft sein, die nicht nur die geltende Rechtsordnung feststellt und definiert, sondern an ihrer praktischen Gestaltung mittels angemessener Vorschläge zur Interpretation teilnimmt. Eine derartige Jurisprudenz „wäre praxis-orientiert, ohne normativen Charakter zu haben; sie wäre nicht dogmatisch, sondern sie würde m i t Hypothesen operieren, Hypothesen, i n denen vor allem die relevante sozialwissenschaftliche Erkenntnis verwertet sein würde, und sie wäre nicht hermeneutisch, obwohl sie unter anderem auch hermeneutische Verfahren benutzen würde" 2 1 . I n einer praxis-orientierten Jurisprudenz werden die den Text interpretierenden Hypothesen zu Hilfsmitteln, u m normative Hypothesen über bestimmte räumlich-zeitliche Zusammenhänge zu formulieren. Die Steuerungswirkung dieser normativen Hypothesen hat nicht nur Folgen auf logisch-argumentativer Ebene, sondern w i r k t sich auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des normativ geregelten Verhaltens aus. Der kritische Rationalismus begreift die Jurisprudenz als „Technologie, die darauf abzielt, unter bestimmten hypothetisch vorausgesetzten Gesichtspunkten bestimmte Deutungsvorschläge für i m geltenden Recht anerkannte Normsätze, aber natürlich auch Vorschläge für die Einführung neuer Rechtsnormen i m Wege der Gesetzgebung, zu formulieren" 2 2 . Sowohl die beanspruchte Dogmatik und die Normativität ihrer Erkenntnisse als auch die Fähigkeit, hypothetische Instrumente zur Erkenntnis und Überprüfung der normativ gedeuteten gesellschaftlichen Tatbestände zur Verfügung zu stellen, zeichnen die Jurisprudenz als Technologie aus. Die Bereitschaft, formulierte Hypothesen anzuzweifeln und sie durch andere zu ersetzen, falls sie sich i n 21 22
Albert, Erkenntnis und Recht, S. 92 - 93. Albert, Erkenntnis und Recht, S. 93.
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der Wirklichkeit als falsch erweisen, ist für sie charakteristisch. Sie vermittelt ihre theoretischen und interpretierenden Hypothesen i n die gesellschaftliche Praxis, die gerade zu dem Zweck der Interpretation der gesellschaftlichen Realität erarbeitet wurden, u m sie zu steuern, zu überprüfen und zu planen. Die Steuerungswirkungen der hypothetischen Deutungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmen den Realismus einer Rechtstheorie, die von der Betrachtung der normativen Wirklichkeit als Tatbestand der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht, u m zu i h r selbst als theoretische Hypothese der Planung und der Überprüfung zurückzukehren. Die Hypothesen der Jurisprudenz sind haltbar, nicht w e i l sie gültig sind i n dem Sinne, daß sie auf der beanspruchten Geltung ihrer normativen Voraussetzung konstruiert werden; sie sind haltbar, weil sie falsifizierbar sind i n dem Sinne, daß sie bei kritischer Überprüfung ihrerseits gestärkte Kontrollinstrumente und bessere, angemessenere Hypothesen zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme zur Verfügung stellen. Für eine Jurisprudenz als Sozialtechnologie ist die K r i t i k theoretische und politische Legitimitätsgrundlage. Sie kann nur theoretisch begründete Sozialtechnologie sein, weil sie die Lösung der gesellschaftlichen Probleme auf der Grundlage einer kritischen Interpretation der bestehenden Lösungen entwirft, d.h. auf der Grundlage der K r i t i k des geltenden Rechts. Diese K r i t i k ist zugleich empirische Erkenntnis und politischer Grund der Theorie. Die K r i t i k ist das Netz, i n dem sich die Resultate kreuzen, zu denen die Gesellschaftswissenschaften m i t Hilfe der Methodologie der theoretischen Realwissenschaften gelangen. Die Gesellschaftswissenschaften gewinnen Erkenntnisse, die den von den Realwissenschaften erarbeiteten Erkenntnissen nicht nachstehen, da die Methodologie die Lösungen der gesellschaftlichen Probleme nach den „Ideen über soziale Zusammenhänge" bewertet, die von den Realwissenschaften selbst entwickelt wurden. Die Verbesserung der Lösungen gesellschaftlicher Probleme, die von den Hypothesen der Theorie geleitet werden, ist keine utopische Planung unterschiedlicher Realitätsformen, denn sie baut nicht auf einer Geschichtsphilosophie auf, die hinter der gesellschaftlichen Totalität steht. Sie geht von der durch die K r i t i k vorgenommenen Falsifizierung vorhergehender Hypothesen aus, die sich als unzureichende Lösungen der bestehenden Probleme erwiesen haben. I m wesentlichen ist das Recht wie die übrigen Tatbestände der Gesellschaft — die gesellschaftlichen Institutionen — nichts anderes als eine Hypothese, die durch die K r i t i k falsifizierbar, demnach empirisch überprüfbar und technologisch planbar ist.
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I n einer Jurisprudenz, die die Regulierung und ihre normative Bewertung i n engem Zusammenhang m i t den „kognitiv-sachlichen Komponenten einer Weltauffassung, i n deren Rahmen sie Geltung beanspruchen" 23 , sucht, finden auch die rechtspolitischen Fragen Raum für eine rationale, empirisch überprüfbare Argumentation und eine kritische Behandlung. 4. Der Kritizismus und der analytische Modus der Wissenschaft Bei dieser beanspruchten kritischen Fähigkeit der Theorie, i n der sich Philosophie und Theorie bei der „Bewertung" der Ergebnisse der Wissenschaft begegnen, zeichnet sich der Schritt ab, auf dem es zur Unvereinbarkeit zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und k r i tischem Rationalismus kommt. Sie akzeptieren beide die naturwissenschaftliche Perspektive, d. h. das Postulat der empirischen Überprüfung der Sätze der Theorie, sie erkennen die Gültigkeit der Methode der Naturwissenschaften als allgemeine und einigende Methode der Wissenschaft an, so daß sie sich den V o r w u r f zuziehen, Szientisten und Positivisten zu sein. Die Analytiker bestehen aber auf einer klaren Trennung von theoretischer Forschung und philosophischer Forschung. Sie verlangen für die Theorie eine objektive Erkenntnis, die nur m i t den Instrumenten der empirisch-beschreibenden Wissenschaften zu erreichen ist. Diese Instrumente können auf alle Bereiche der Forschung ausgedehnt werden, auch auf die Gesellschaftswissenschaften und die Rechtswissenschaft. Sie lehnen die kritizistische Hypothese ab, die theoretische Erkenntnis und philosophische Bewertung vereinigt; sie fordern die Autonomie des theoretischen Wissens gegenüber der philosophischen Reflexion und bezeichnen die Vermischungen als verdächtig, die den Standpunkt der Wissenschaft mit den subjektivistischen Ansprüchen des Bewertungsgesichtspunktes der Philosophie verschleiern, nur u m rein ideologische Formen der Erkenntnis als objektiv ausgeben zu können. Was Kritizismus und analytische Rechtstheorie trennt, ist i m wesentlichen das K r i t e r i u m der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis. Für die analytische Theorie unterliegen die Hypothesen der Wissenschaft dem Verifizierbarkeitskriterium dort, wo für den Kritizismus die Hypothesen der Wissenschaft dem Falsifizierbarkeitskriterium unterliegen. Die Verifizierbarkeit der Hypothesen ist durch die Analyse praktizierbar; die empirische Analyse der Sätze der Wissenschaft ist das letzte Gültigkeitskriterium der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die 23
Albert, Erkenntnis und Recht, S. 95.
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Falsifizierbarkeit der Hypothesen ist durch die K r i t i k praktizierbar, durch die empirische Bewertung der Angemessenheit der von den Wissenschaftshypothesen angebotenen Lösungen für die anstehenden Probleme. Für die analytische Theorie ist die Wissenschaft objektive Erkenntnis der Wirklichkeit i n ihrer empirischen Form. Für den k r i tischen Rationalismus ist die Wissenschaft ein Komplex von Hypothesen über die Wirklichkeit, die rational sind. Sie unterliegen der K r i t i k und sind damit verbesserungsfähig. Kritizismus und analytische Theorie stimmen i n der Anerkennung der Gültigkeit der Methode der Naturwissenschaften überein, prallen bei der Auffassung über die Rationalität jedoch aufeinander. Den A n sprüchen der praktischen Vernunft, die die kritizistische Hypothese kennzeichnen, stehen die Ansprüche der theoretischen Vernunft als formaler, analytischer Vernunft gegenüber, die die empiristische Hypothese der analytischen Theorie kennzeichnen. Diese Parteinahme für eine formale, wertfreie Forschung ermöglichte es der analytischen Theorie, sich innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft zu behaupten. Die analytische Theorie ist praktizierbar, weil sie sich auf der Grundlage der Unterscheidung der Basisdisziplinen der Rechtswissenschaft und wegen ihrer Neutralität und Indifferenz gegenüber jeder philosophischen Stellungnahme legitimiert; sie ist praktizierbar, weil sie sich nicht i n die philosophischen, bewertenden, subjektiven und demnach ideologischen Fragen einmischt. Infolge dieser Neutralität kann sich die Theorie den Abzweigungen der Kelsenschen Lehre anschließen und sie perfektionieren, d.h. ihre impliziten oder expliziten positiv-rechtlichen Folgen immunisieren. Als Sprachanalyse verstanden, beeinträchtigt die Theorie keine nichttheoretische Beschäftigung m i t dem Recht. Sie ist eine grundlegende, aber nur regionale Erforschung des Rechts. Sie beschränkt sich darauf, den Maßstab der Rationalität anzugeben und i m Gegenstand die Form der Rationalität zu suchen. Die Analyse ist eine instrumentale Praxis, auch wenn sie die einzige Erkenntnispraxis ist. I h r instrumentaler Charakter ist der der formalen Vernunft, die folgerichtige, saubere, systematisch korrekte, empirisch verifizierbare, objektive und damit gültige Erkenntnisse über den Gegenstand erarbeitet. Sie sind wirklich mitteilbar von jeder beliebigen praktischen Tätigkeit benutzbar und mit jeder ^philosophischen Reflexion vereinbar: i n ihrer objektiven Gültigkeit, d.h. i n ihrer formalen Rationalität, sind sie für den Wert undurchdringbar. Die neue Reinheit der analytischen Theorie ist die Neutralität der Analyse. Die Theorie erkennt die Notwendigkeit der philosophischen und wertenden Operation mit dem Recht an, d. h. die Rechtsphilosophie 11 De Giorgi
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als grundlegende Praxis der Jurisprudenz. Sie lehnt aber jegliche Beteiligung an den von der philosophischen Praxis verfolgten Interessen ab. Die analytische Theorie schließt die Philosophie nicht aus dem Verband der Wissenschaften aus, die die Jurisprudenz organisieren, sondern erklärt nur ihre Neutralität gegenüber der Philosophie. Sie verfolgt ihr Erkenntnisziel als Sprachanalyse des Rechts, das als empirische Tatsache aufgefaßt wird. Sie ergreift keine Partei für die Philosophie, genauso wenig wie sie Partei für die Politik ergreift. Rechtsphilosophie und Rechtspolitik als Bewertung und Planung der empirischen Gestaltungen des Rechts stehen neben der analytischen Rechtstheorie. Die Praktizierbarkeit der analytischen Rechtstheorie schließt sich aber an das falsche Bewußtsein einer Rechtswissenschaft an, i n der die philosophische Veränderung des Rechts neben einer Rechtspraxis besteht, deren Empirismus dazu dient, den effektiven Positivismus der Jurisprudenz zu verschleiern. Die Rechtswissenschaft kann bei all ihren dogmatischen, systematischen und das Recht anwendenden Praktiken positivistisch vorgehen, gerade weil sich diese Praktiken auf einer der Empirie übergeordneten Ebene als i n ihrer inneren Gültigkeit und Neutralität selbstlegitimiert darstellen. Der glückliche Einfall der Basisdisziplinen der Rechtswissenschaft, der — wenn auch nicht explizit — rein analytischer Natur ist, dient der Theorie als Grundlage, die die friedliche Koexistenz jeder beliebigen Philosophie, Spekulation oder Reflexion m i t der Rechtsf/ieorie vertritt, die ihren Gegenstand rational, auf wertfreie Weise analysiert und unmittelbar den methodologischen Positivismus der Jurisprudenz legitimiert. Das falsche Bewußtsein der Rechtswissenschaft besänftigt sich, denn die Politik der friedlichen Koexistenz läßt den Pluralismus zu, erleichtert i h n sogar; sie erlaubt alle Spekulationen, legitimiert sie, weil sie das Recht sprachlich auflöst und vom politischen Standpunkt aus eine korrekte Praxis ist. Sie ist voller Achtung gegenüber den Ideen über das Recht, an denen sie aber nicht interessiert ist. Und schließlich — das ist der Hauptgrund für die Praktizierbarkeit der analytischen Theorie — ermöglicht sie der deutschen Ideologie, alle ihre Tätigkeiten durchzuführen, wobei der unkritische Positivismus bei den praktischen, auf dem empirischen Universum vollzogenen Tätigkeiten nichts von seiner Stabilität und Beständigkeit einbüßt. Die dialektische Theorie hatte das Problem der Wissenschaft wieder aufgeworfen und die Frage der Grundlagen gelöst, indem sie sie i m Rahmen einer Geschichtsphilosophie als Denken der gesellschaftlichen Totalität auflöste, i n dem sich das praktische Erkenntnisinteresse als emanzipatorisches Interesse legitimieren sollte. Diese Auflösung des theoretischen Problems machte den Entwurf der dialektischen Theorie unpraktikabel.
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Die dialektisch-hermeneutische Hypothese schuf weder eine Rechtstheorie noch eine Theorie der Rechtswissenschaft, sondern ein autoritäres, therapeutisches und vor allem ontologisierendes Wissen, m i t ständiger Suche nach der praktischen Vermittlung, die nie beendet wurde. Die analytische Theorie, die die empirische Form des Gegenstandes respektiert, bietet eine unmittelbar praktische Vermittlung, gerade weil sie sich selbst als Instrument der Vermittlung darstellt, deren Ergebnisse, da sie den Gegenstand unberührt lassen, ohne weiteres von der Wissenschaft benutzt werden können. Aber auch für die Philosophie sind sie praktizierbar, der sie neutrale und objektive Erkenntnisse bieten; ebenso für die Politik, der sie den empirischen Gegenstand rational systematisieren, i n seiner formalen Rationalität aufgliedern und für jede beliebige Planung und Programmierung verfügbar machen. Die analytische Theorie w i r f t das Problem der theoretischen Grundlage der Wissenschaft wieder auf: dabei greift sie die epistemologische Intuition Kelsens auf und macht sie sozusagen i n der veränderten Kontingenz der Rechtswissenschaft präsentierbar. Sie mildert die Angst vor dem Positivismus. Sie macht den Positivismus praktisch möglich und dem falschen Bewußtsein der Rechtswissenschaft entsprechend tolerierbar. 5. Die analytische Rechtstheorie in ihrer „engen" Auffassung Die analytische Rechtstheorie hat i n Deutschland mindestens zwei unterschiedliche Ausprägungen gefunden. Die erste ist an eine enge Theorieauffassung gebunden, die zweite an eine weitere, offenere Auffassung. Die enge Theorieauffassung folgt den Spuren des logischen Empirismus, von dem sie die ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie und das Interesse an der Systemfrage übernimmt. Die weitere Auffassung übernimmt direkt die Muster des analytischen Modus der Wissenschaft und der analytischen Sprachphilosophie, jedoch m i t einer gewissen Distanziertheit, die sich nicht immer scharf vom soziologischen Deskriptivismus Harts abhebt 24 . Die enge Auffassung der Theorie behauptet die Neutralität des theoretischen Wissens nicht nur gegenüber anderen Disziplinen, die den Gegenstand angreifen, sondern auch gegenüber dem Gegenstand selbst. Sie greift nicht i n die Fragen ein, die sich m i t der Analyse ergeben, die nur logische Analyse des Gegenstands ist. Die Theorie begreift ihre Autonomie oder Neutralität i n diesem dreifachen Bezug auf die ver24 Vgl. Hoerster, Grundthesen analytischer Rechtstheorie; Weinberger, Bemerkungen.
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schiedenen Disziplinen der Rechtswissenschaft, ihren Gegenstand und ihre Fragen. I n dem Ausdruck „analytische Rechtstheorie" hat der Begriff Theorie nicht die gleiche Tragweite wie „Theorie" i m Ausdruck „TheoriePraxis". I n der Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis meint Theorie einen Komplex von Erkenntnissen des Gegenstandes, die ihre epistemologische Gestaltung aus der Struktur des Gegenstandes selbst ableiteten. Deshalb war die Rechtstheorie eine normative Rechtstheorie, deren Fähigkeit als eine praktische Vermittlung aus ihrem normativen Charakter, der dem Gegenstand eigen ist, herrührte. Diese Auffassung führt einerseits zum Ausschluß wissenschaftlichen Wissens über den Gegenstand, das nach dem theoretischen Modell der Naturwissenschaften erzeugt wurde, und ermöglichte andererseits die Formulierung unterschiedlicher epistemologischer Strukturen, verschiedener Erkenntnismodelle, die entweder auf der Grundlage vorausgesetzter Ontologien oder des leitenden Erkenntnisinteresses definiert wurden. Der Ausschluß des Wissens der Naturwissenschaften aus dem Forschungsbereich der Gesellschaftswissenschaften führte zu verschiedenen Formen von Metaphysik, wobei der Bruch m i t der Forderung des Empirismus die Einheit der Wissenschaft zerstörte und die Macht der Metaphysik stärkte. Bleibt man bei dem Theoriebegriff, wie er i m Verhältnis von Theorie und Praxis zum Ausdruck kommt, so ist die analytische Theorie nur ein Teil dessen, was dort m i t Theorie gemeint ist, den sie zusammen m i t der Philosophie und der Rechtssoziologie umspannt. I n diesem Verhältnis bedeutet Theorie Erkenntnis des Gegenstandes, die i m Rahmen einer (Geschichts-) Philosophie erworben wird, die die Totalität erfaßt. Aber die Theorie ist weder ein Komplex von Erkenntnissen noch eine Reihe von Hypothesen über den Gegenstand, die eine präjudizielle Entscheidung gegenüber dem Recht verlangt. Diese Entscheidung, wie sehr sie auch von einem Verfahren bestätigt wird, das sich i n den Naturwissenschaften als gültig und mit der Forderung des Empirismus als vereinbar erwiesen hat, bleibt immer ein Eingriff i n den Gegenstand, der darauf abzielt, für eine bestimmte Gestaltung des Gegenstandes Partei zu ergreifen. Denn Hypothesen sind nicht neutral. Rechtstheorie ist nicht „jener Bereich philosophischer Theorie, i n dem Hypothesen über richtiges Recht zu einer Theorie systematisiert werden, die noch nicht falsifiziert ist" 2 5 . Was man hier anfechten w i l l , ist der kritische Rationalismus, m i t dem die Analyse den Empirismus teilt, von dem sie jedoch die ethische Hypothese ablehnt, die i n der Annahme der empirischen Methode impliziert ist. I n seinem Traktat 28 schreibt Albert, die Annahme einer Methode, auch der Methode des kritischen Rationalismus, impliziere immer eine Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie, S. 9 .
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moralische Entscheidung, denn die Annahme einer Methode bedeute „Übernahme einer für das soziale Leben sehr folgenreichen, methodischen Praxis, einer Praxis, die nicht nur für die Theoriebildung, für die Aufstellung, Ausarbeitung und Prüfung von Theorien, sondern auch für deren Anwendung und damit auch für die Rolle der Erkenntnis i m sozialen Leben von großer Bedeutung ist". Für die Analytiker ist die Moralisierung der Theorie, wie sie der kritische Rationalismus bew i r k t , Folge eines instrumentalen Eingriffs der praktischen Vernunft. Dieser verfälsche das Deskriptionspotential der Theorie und bringe damit ihren Empirismus und ihre analytische Fähigkeit i n Mißkredit, d. h. er verdunkle die Klarheit, die sich das theoretische Wissen erworben hat, indem es sich von der spekulativen Theorieauffassung entfernte, wie sie das moderne Prinzip der Arbeitsteilung i m epistemologischen Universum verwirklicht hat. Schmidt schreibt: „Rechtstheorie ist zu verstehen als deskriptive Theorie einer Sprache, i n der juridische Werturteile wesentlich vorkommen." Und weiter heißt es: „Die Sprache, i n der juridische Werturteile wesentlich vorkommen, ist die Sprache der Rechtswissenschaft i m engeren Sinne: der Juridik (»Dogmatik 4 , »Rechtsfindung 4, »Gesetzgebung4 usw.) 27 . 44 Die für die Theorie relevante Empirizität des Rechts ist seine sprachliche Gestaltung. Der normative Charakter des Gegenstandes greift jedoch nicht die Struktur der Theorie an, die deskriptiv bleibt. Die Theorie beschreibt eine normative Sprache, verhält sich jedoch gegenüber dem Charakter dieser Sprache neutral. Die analytische Theorie als Disziplin, die neben die Rechtsphilosophie, die Rechtssoziologie und die Juridik t r i t t , ist nur m i t diesem Inhalt denkbar. I n der Beschreibung der Sprache des Rechts erschöpft sich die Fähigkeit der Theorie als formales Instrument. Den Grad der Rationalität dieser Sprache kontrollieren, ist diese Beschreibung: die Theorie prüft die Konsistenz der i m System enthaltenen Sätze und trifft damit eine Aussage über den Grad der Rationalität dieses Systems sowie der Operationen, deren sich das System bedient. Die Theorie, die die Rechtssprache als eine Sprache beschreibt, i n der i m wesentlichen j u r i dische Werturteile vorkommen, ist eine logische Metatheorie m i t Formations-, Transformations- und Kalkülregeln. Beachtet das System der normativen Sprache diese Regeln, so beweist es seine logische Konsistenz. Dazu bemerkt Schmidt: „Rechtstheorie prüft die Sprache der Juridik auf Unabhängigkeit und Konsistenz ihrer Aussagen und stellt Verstöße gegen diese Voraussetzungen fest. Sie macht aber keine Vorschläge zur Behebung der festgestellten Verstöße (ob und wie), sondern gibt die Feststellung als Frage an die Methodologie der Juridik weiter, 26 27
Albert, S. 40 - 41. Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie, S. 95 - 96.
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die sich ihre Antworten aus den Bereichen der Rechtsphilosophie der Rechtssoziologie holt 2 8 ."
und
Die Theorie geht nicht über die logische Syntax der Rechtssprache hinaus. Sie konstatiert und beschreibt Verstöße gegen die logischen Regeln und bewahrt ihre Neutralität bis zum Schluß. Der analytischen Rechtstheorie wohnt ihrer Struktur nach eine Autonomie, eine Distanzierung und eine Neutralität inne gegenüber jeder philosophischen und soziologischen Frage, aber i m wesentlichen gegenüber jeder juridischen Frage. Die Regeln ihrer logischen Syntax sind universell gültige, formale, jedoch der Rechtssprache fremde Schemata. Sie gehören zur Sprache und nicht zu der Tatsache, daß diese Sprache normativ ist. Die i n dieser Sprache vorkommenden Werturteile sind relevant als Urteile, nicht aber als Werturteile. Die analytische Rechtstheorie ist „logische Metatheorie jedweden Rechts, unabhängig von seinem Gehalt an Richtigkeit". Sie beansprucht nicht, daß ihr Ideal der Unabhängigkeit und Konsistenz der Sprache und ihre Ergebnisse auf die rechtswissenschaftliche Argumentation übertragen werden; die Theorie hat vielmehr eine bescheidene aufklärende Funktion, die darin besteht — und sich zugleich darin erschöpft —, daß sie dem Rechtswissenschaftler die Frage stellt, ob er i m System seiner Sprache anderen Gesetzen gefolgt ist als denen, an die sich andere Wissenschaften i n ihren Sprachsystemen erfolgreich gehalten haben. Die Theorie kann kein Verhalten vorschreiben, m i t einer Ausnahme: w i l l der Rechtswissenschaftler die A n regungen übernehmen, die i h m aus rechtsphilosophischen oder rechtssoziologischen Überlegungen kommen und geeignet erscheinen, i n das juridische System aufgenommen zu werden, so kommt der Theorie für die wissenschaftliche Praxis eine therapeutische, eine normative Funktion zu, da sie dem Wissenschaftler sagt, wie die Sprache als System unabhängiger und konsistenter Sätze beschaffen sein müßte. Die Theorie stellt das Paradigma der formalen Rationalität zur Verfügung, das nur durch bestimmte außertheoretische Anregungen angefüllt werden kann, und nur dann, wenn sie sich behaupten. Die analytische Theorie der Metalogik kann sich nicht an der juridischen Argumentation beteiligen, da diese ihr fremd ist. I m Unterschied zu anderen Theorien — für die die Überprüfung der Rationalität durch eine wenn auch nur vorausgesetzte Sprachgemeinschaft erfolgt, aber immer aus einer dialogischen Kompetenz hervorgeht, die eine bestimmte A r t und Weise der Diskussion über die Frage des Gegenstandes ermöglicht —, ist die analytische Theorie durch eine syntaktische, i m wesentlichen solipsistische Kompetenz gekennzeichnet sowie durch die Tatsache, daß sie gegenüber der Argumentation der Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie, S. 9 .
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Rechtswissenschaft das Urteil suspendiert. Der A k t der Aufhebung des Urteils ist relevant und hebt die analytische Theorie von den übrigen Theorien ab, da sie i m Gegensatz zu ihnen ihren Gegenstand nicht erkennt. Die Aufhebung des Urteils ist keine Geste der Bescheidenheit, sondern ein notwendiges Verhalten, das einer Praxis innewohnt, die immer dem Gegenstand, dessen Theorie sie ist, fremd bleibt. Diesem A k t der Aufhebung des Urteils liegt der prekäre Charakter, das Paradoxe und zugleich die ideologische Verwendbarkeit der analytischen Rechtstheorie dieser engen Auffassung zugrunde. Diese prekäre Lage der Theorie gegenüber der Rechtswissenschaft hängt m i t der Ablehnung der Theorie zusammen, ihren Gegenstand zu erkennen. Erkenntnis und Bewertung des Objekts sind Aufgaben der Philosophie: „Rechtsphilosophie ist der kritische Horizont, auf den die i n der Sprache vorkommenden juridischen Werturteile projiziert werden 2 9 ." Gegenstand der Philosophie sind die juridischen Werturteile, die als ethische Werturteile aufgefaßt werden, sowie ihre Kenntnis und i h r Richtigkeitsgehalt. Die Philosophie reflektiert den Inhalt des Rechts. Die Rechtstheorie beschreibt die Sprache dieses i n sprachlicher Form geordneten und systematisierten Inhalts; damit gibt es „zu allen rechtsphilosophischen Aussagen eine Rechtstheorie", die zu prüfen hat, ob die einzelnen rechtsphilosophischen Aussagen bis h i n zum systematischen Aufbau die obengenannten syntaktischen Voraussetzungen erfüllen. Es ist aber zu bemerken, daß die Rechtsphilosophie keine Praxis ist, die sich mit dem positiven, empirisch gegebenen Recht durchführen läßt. Dies würde die Rechtstheorie und die Jurisprudenz als propädeutische Praktiken gegenüber der Rechtsphilosophie voraussetzen, die die Aufgabe hätten, den empirisch gegebenen Stoff vorzubereiten, i h n auf eine bestimmte Weise anzuordnen, i h n nach bestimmten Methoden zu behandeln. I n der analytischen Auffassung dagegen beschäftigen sich Theorie und Jurisprudenz mit einem Stoff, dessen Inhalt nur der empirische Niederschlag der juridischen Werturteile ist, zu denen die philosophische Reflexion gelangt ist, die unabhängig von der Theorie und der Jurisprudenz — und i n jedem Falle vor ihnen geschieht. Die philosophische Reflexion vollzieht sich m i t einem Stoff, der weder eine positive Tatsache noch eine empirische Gegebenheit ist. Die Rechtsphilosophie erkennt das Recht i n seiner präpositiven und präjuridischen Form, sie erkennt es nicht i n seiner bloßen empirischen und positiven Form. Sie erkennt das „richtige Recht". Diese Folgerung i n der sechsten These Schmidts w i r d nicht nur von den Analytikern geteilt, die die enge Auffassung von der Rechtstheorie 2
Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie, S. 96.
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vertreten, sondern von allen Befürwortern der wissenschaftlichen Arbeitsteilung i m Bereich der Rechtswissenschaft und damit auch von Dialektikern und Realisten. Jedoch m i t dem Unterschied, daß sie der Philosophie die Fähigkeit zuerkennen, über das richtige Recht und der Theorie, über das positive Recht zu reflektieren. Deshalb verfügt jeder epistemologische Komplex über mindestens zwei A r t e n der Erkenntnis des Rechts, — unabhängig von der Bedeutung, die man der einen oder anderen beimißt und der Abstufung, die man zwischen ihnen vornimmt. Die analytische Auffassung verfügt nur über eine einzige Möglichkeit, das Recht zu erkennen: die philosophische. Es entsteht das Paradox, daß nur die Philosophie des Empirismus das richtige Recht erfaßt, d. h. das Recht i n seiner prä-juridischen, prä-historischen Form. Dies führt zu einem Problem, das unabhängig von diesem Paradox seine Daseinsberechtigung hat. Es drängt sich die Frage auf, ob sich das richtige Recht, das die Philosophie des Empirismus erkennt, vom positiven Recht unterscheidet. Bei erster Betrachtung müßte man eine negative A n t w o r t geben, da die Rechtswissenschaft und die Theorie ihre Eingriffe an einem empirischen Stoff durchführen, dessen Inhalt die Konkretisierung der juridischen Werturteile ist, zu denen die Philosophie gelangt. Dieser empirische Niederschlag der juridischen Werturteile w i r d „diskutiert und systematisiert" vor dem kritischen Horizont der Philosophie, und dies ist gerade Aufgabe der Rechtswissenschaft. Das bedeutet aber, daß sich das richtige Recht, das die Philosophie erkennt, nicht vom Recht als empirischer Gegebenheit unterscheidet, m i t dem sich die Wissenschaft und die Theorie beschäftigt. Diese Hypothese w i r d v o l l und ganz i n der elften These Schmidts bestätigt. I n dieser These theoretisiert Schmidt das Zusammentreffen von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie i n der Methodologie der Juridik. Die Methodologie der Juridik, i n der Philosophie und Theorie enthalten und aufgehoben sind, verwirklicht m i t dem juridischen Entscheidungsprozeß den „Prozeß der Erkenntnis richtigen Rechts i n Gesetz und Einzelentscheidungen" 30 . I n diesem Prozeß spielen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie die oben beschriebene Rolle, treffen aber zusammen, verschmelzen und enthüllen die Wahrheit, die sich i n der Empirie verbirgt. Sie decken das richtige Recht i n Gesetz und Einzelentscheidungen auf. Die Methodologie der Juridik vereint die verschiedenen Leistungen, die sich aus der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ergeben, zu einem gemeinsamen Bemühen u m die Erkenntnis der i n Gesetz und Einzelentscheidungen enthaltenen Gerechtigkeit. Zweites Paradox der analytischen Theorie ist der Prozeß der Ethisierung, an dem die Methodologie die Rechtsphilosophie und die 30
Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie, S. 97.
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Rechtstheorie beteiligt, u m die Gerechtigkeit i m positiven Recht aufzudecken. Er erfolgt durch die Aufhebung des Urteils, die nur durchgeführt wird, u m das methodologische Niveau zu erhalten, das sich die Rechtstheorie auferlegt hat. Das Aufdecken läßt aber, da es m i t den deskriptiven Instrumenten erfolgt, über die auch die Rechtstheorie verfügt, den Schluß zu, daß Gerechtigkeit und Empirie, gerechtes Recht und positives Recht insgeheim identisch sind. Diese Identität geht aus der Beschreibung der Konsistenz und der Unabhängigkeit der Aussagen der Juridik hervor. Nach Ansicht der analytischen Auffassung werden Metalogik und Kalkül, die die formale Wahrheit bestimmen, der versteckten materiellen Wahrheit gerecht, die zudem auch von der Philosophie verspürt wurde. Wie bei Savigny Methode und System i n der Philosophie zusammentreffen, so begegnen sich i n der analytischen Auffassung Rechtstheorie und Rechtsphilosophie i n der Methodologie, u m das richtige Recht i n Gesetz und Einzelentscheidung zu erkennen. Die analytische Rechtstheorie befindet sich i n einer besonderen Lage. Und gerade diese besondere Lage, i n der die Theorie das Gleichgewicht zwischen ihrem prekären Status und dem Paradox sucht, ist ausschlaggebend für die ideologische Verwendbarkeit der Rechtstheorie. Indem sie das Urteil aufhebt, legitimiert sich die Theorie und beweist sich, daß die formale Rationalität für jede Operation zugänglich ist, die vorgibt, auf methodologische Weise das richtige Recht i m Gesetz zu erkennen. Die Neutralität, die die Theorie m i t jeder anderen Rechtsmethodologie teilt, bringt eine genau umrissene ideologische und zugleich moralische Verpflichtung für die Theorie m i t sich, die Verpflichtung, das positive Recht die Sprache der Gerechtigkeit sprechen zu lassen. 6. Die analytische Rechtstheorie in ihrer „weiteren" Auffassung Neben dieser engen Auffassung der analytischen Rechtstheorie entwickelte sich eine weitere, liberalere, die die Rechtstheorie als analytische Theorie der Wissenschaft begreift. Die Theorie bestimmt die Form der Rationalität des wissenschaftlichen Umgangs m i t dem Recht, ist theoretisches Wissen des Gegenstandes und Grundlage der Wissenschaft. Sie lehnt die Begrenzung des Gegenstandes der Theorie auf „das Wissenschaftliche" i m Recht ab. Gegenstand der Theorie i s f die Rechtsordnung als theoretisches System, die Gesamtheit aller Sätze über die Rechtsordnung. Die analytische Rechtstheorie verfolgt nach Priester 31 zwei komplementäre Priester, Rechtstheorie als analytische Wissenschaftstheorie.
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Ziele: sie soll die Rechtswissenschaft fördern, und sie soll „aus echt philosophischem Interesse" unser Wissen u m das Recht, u m den rationalen Umgang mit Werturteilen vergrößern" 32 . Die zweite Zielsetzung macht die Wissenschaft zur „reinen" Wissenschaft, die erste zur „Hilfswissenschaft". Dieser erweiterte Theoriebegriff unterliegt nicht mehr der prekären Situation, i n der sich die enge Auffassung befindet. Er durchdringt den gesamten wissenschaftlichen Aufbau des Rechts m i t dem Anspruch, bei allen argumentierenden Praktiken den Gebrauch der formalen analytischen Vernunft zu garantieren und zu überprüfen. Als reine Wissenschaft und Hilfswissenschaft ist die analytische Theorie ein Instrument, das der formalen Rationalität der empirischen Wirklichkeit des Rechts in der Gesamtheit seiner Erscheinungsformen gerecht werden kann. Als reine Wissenschaft entspricht die Theorie einem rein philosophischen Interesse. „Philosophisch" deckt sich nicht m i t der philosophischen Praxis als Erforschung der axiologischen Strukturen des Rechts, sondern umfaßt den Komplex von Praktiken, die Lösungen für Probleme bereitstellen, die über unsere Alltagserfahrung hinausgehen, wie Priester sagt. Es handelt sich dabei u m das Interesse, Fragen zu unserer Alltagserfahrung als sinnlos, als falsch gestellt, als unfruchtbar oder unentscheidbar herauszukristallisieren. Vom philosophischen Interesse der Rechtstheorie bestimmt, sind dies Fragen nach dem Wissenschaftscharakter der Werturteile, nach den Erkenntnismethoden der Jurisprudenz, nach der A r t der verwendeten Argumentation, nach den Zusammenhängen, die zwischen Tatbestand und normativen Folgen hergestellt werden, nach dem K r i t e r i u m der empirischen Evidenz als Wahrheitskriterium, nach den Problemen der rationalen Argumentation mit rechtlichen Werturteilen und nach dem Verhältnis zwischen Rechtsgefühl und Entscheidungsgrundlage des Urteils. Dazu gehören auch noch alle anderen Fragen, die i n der Rechtserfahrung zusammenkommen und eine A n t w o r t verlangen. Dabei w i r d für die rationale, empirisch verifizierbare und antimetaphysische Argumentation Partei ergriffen. Während die Theorie als „reine Wissenschaft" vom reinen Erkenntnisinteresse geleitet wird, hat sie als „Hilfswissenschaft" innerhalb der Rechtswissenschaft, überwiegend praktischen Charakter und zielt darauf ab, rationale Instrumente zur Entscheidung der Probleme zur Verfügung zu stellen, die m i t den Mitteln, über die der ausschließlich dogmatische Apparat des Rechts verfügt, nicht zu entscheiden wären und auch nicht angemessen behandelt werden könnten. I n dieser Funktion bringt die Rechtstheorie die i n bestimmten dogmatischen Streitig32
Priester, Rechtstheorie als analytische Wissenschaftstheorie, S. 46 - 47.
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keiten verborgenen Standpunkte zum Vorschein und bereitet eine rationale Lösung des Konfliktes vor, indem sie rational die Stichhaltigkeit und Haltbarkeit der obengenannten Theorien und ihre Folgen zum Zweck der Fallentscheidung diskutieren hilft. Die Rechtstheorie kann aber auch direkt und unmittelbar dogmatische Fragen behandeln, indem sie den Beweis dafür erbringt, daß i m Tatbestand ein Scheinproblem vorliegt oder sich eine Theorie als wahr oder falsch erweist. I n diesen Fällen zeigt die Theorie auf begründete Weise, „worum es eigentlich geht" 3 3 . Die Rechtstheorie ermöglicht weiterhin direkt den Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Theorien zu lösen, da sie die Kriterien für den Aufbau der Theorien selbst liefert. Die liberale Auffassung der Rechtstheorie ist auf organischere und direktere Weise an das Objekt gebunden als die enge Auffassung. Sie w i l l ein Rechtstheoriemodell zur Verfügung stellen, das den Gegenstand durch seine sprachliche Auflösung i n seiner Rationalität ausschöpft. Dieses Theoriemodell ist dem Recht nicht fremd und steht i h m nicht so indifferent gegenüber wie jedem übrigen seiner Gegenstände. Es paßt sich i h m völlig an und kann den Gegenstand i n der spezifischen Form seiner Rationalität begreifen. Die Theorie w i l l zugleich Instrument und Maßstab der Rationalität der wissenschaftlichen Praktiken sowie der Rationalität des Gegenstandes sein, auf den diese Praktiken angewandt werden. Die Voraussetzung der Rationalität des Gegenstandes ist die Bedingung der Möglichkeit der analytischen Theorie als Rechtstheorie. Das Problem der Rationalität ist ein grundlegendes; es kennzeichnet nicht nur die Theorie, sondern bestimmt durch die von der Theorie bewirkte Vermittlung den Gegenstand selbst. Diese Rationalität ist zugleich der Wissenschaft als auch ihrem Gegenstand zu eigen. Die wissenschaftlichen Praktiken sind das Instrumentarium, durch das die Rationalität infolge sprachlicher Konkretion zum Vorschein kommt. Die Theorie ist die Grundlage der Praktiken, die das vom Gegenstand umschlossene Rationalitätspotential erklären und festsetzen sowie die Abweichungen durchspielen, zu denen falsche Praktiken führen könnten. Der Filter der Sprache ist die Garantie dafür, daß die dem Gegenstand innewohnende Rationalität mitteilbar, empirisch feststellbar und überprüfbar, d. h. evident und objektiv ist. Die analytische Theorie ist diese formale Vermittlung, durch die sich die i m Recht gewonnene materielle Rationalität erklärt und als solche gewährleistet, daß die Rationalität auch i n den Ergebnissen der Rechtswissenschaft, i n den Resultaten ihrer Praktiken zum Ausdruck kommt. Diese analytische Theorie muß für den Gegenstand Partei ergreifen. 33
Priester, Rechtstheorie als analytische Wissenschaftstheorie, S. 51.
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Das Urteil gegenüber dem Recht kann sie nicht mehr aufheben, da sie kein externes Schema formaler Rationalität sein w i l l , das auf eine allgemeine Erscheinung der empirischen Realität angewandt wird. Sie ist keine Syntax mehr. Die erweiterte Theorie ist die analytische Theorie der Rationalität einer spezifischen Form der empirischen Wirklichkeit. Das Recht als rationales System ist nicht mehr der allgemeine Gegenstand der Theorie, so wie die Theorie nicht mehr das prekäre Schema gegenüber dem Recht ist. Die Tatsache, daß die formale Rationalität dem „Richter" und der „Partei" innewohnt, verschafft der Theorie eine andere Stellung als die, die sich die Theorie i n der engen Auffassung erobert hatte; sie weist jede prekäre Stellung zurück und entgeht den Paradoxa, denen sie hätte verfallen können. Auch der szientistische Charakter scheint zu verschwinden, den die Dialektiker der analytischen Epistemologie vorwarfen: die Schemata der Theorie seien immer und auf jeden Fall formale, äußerliche Rahmen, auf den Gegenstand angewandt, die für sich i n Anspruch nehmen, formale apriorische Garantien der Rationalität für einen Gegenstand zu sein, der nicht zu dieser Rationalität gezwungen werden kann. Die formale Rationalität ist hier das Prinzip, das die Theorie mit ihrem Gegenstand verbindet. Durch die Beschreibung oder die sprachliche Analyse des Gegenstandes stößt die Theorie auf das Modell ihrer Rationalität. Sie korrigiert die Abweichungen von diesem Modell und vereinigt so die deskriptive und präskriptive Fähigkeit der analytischen Vernunft. Präskriptiv bedeutet, daß die analytische Vernunft dort, wo sie Verstöße entdeckt, nicht nur fragt: u m was handelt es sich, sondern: was ist zu tun, u m die Frage auf formaler, rationaler Ebene zu klären. Die analytische Theorie ist die Grundlage der Rechtswissenschaft, gerade weil sie die formale Vermittlung der analytischen Vernunft des Rechts und der Rechtswissenschaft ist. Nur die Betrachtung des Verhältnisses von Dogmatik und Rechtstheorie gibt klare Angaben darüber, wie sich diese Vermittlung vollzieht. Die Dogmatik, schreibt Jahr, ist „die wissenschaftliche Überprüfung von Rechtssatzbehauptungen innerhalb einer Rechtsordnung auf der Grundlage geltender Rechtssätze" 34 . Eine Rechtssatzbehauptung aufstellen heißt, einen Satz zu formulieren, daß „als w i r k l i c h gedachte Fälle i n der behaupteten Weise entschieden werden sollen". Die dogmatischen Begriffe bilden axiomatische Systeme aufgrund von Stimmigkeitskriterien, die sich für die Konstruktion weiterer dogmatischer Begriffe als gültig erweisen. Die Rechtsdogmatik bemüht sich u m die Feststellung des Inhalts des Rechts, 34
Jahr, Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 303.
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sagt Jahr, die Rechtstheorie dagegen fragt nach der Rationalität des Rechts, d.h. nach der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft i m engeren Sinn. Sie ist also daran interessiert, bestimmte Verfahren festzulegen und zu überprüfen, bei deren Beachtung der Inhalt des Rechts, von der dogmatischen Operation festgelegt, den von der Theorie geforderten Prinzipien der formalen Haltbarkeit entspricht. Die Überprüfung der Rationalität ist die genauere Überprüfung der Methode der Dogmatik. „Gegenstand der Rechtstheorie" schließt Jahr, „ist damit wesentlich die Methode der Rechtsdogmatik" 35 . Die Rationalität, die die Theorie überprüfen muß, ist die Rationalität der Methode, d.h., die Rationalität der Operationen, die die Diskussion über die Korrektheit von Rechtssatzbehauptungen bestimmen. Die Rechtsdogmatik ist darum bemüht, die Inhalte dieser Rechtssätze zu bestimmen, zu ordnen, zu überprüfen und zu operationalisieren. Die Logik der Methode ist i m wesentlichen die Logik, die die Gesamtheit der rationalen Operationen lenkt, die i n der Lage sind, der formalen und materiellen Rationalität des Rechts gerecht zu werden. Das Recht i n der analytischen Theorie ist ein Erzeugnis der analytischen Vernunft. 7. Abenteuer der Epistemologie und Metamorphosen des Rechts Es ist schwierig, den kritischen Rationalismus und die analytische Wissenschaftstheorie auf der Ebene des Positivismus zu vereinen. Dies ist der Anspruch der Dialektiker, der mehr von dem Versuch herrührt, nicht-dialektische Auffassungen i n Mißkredit zu bringen, als von einer Reflexion über die Grundlagen der verschiedenen Epistemologien. Ihre ganze Unhaltbarkeit erweist die Erfindung der Dialektiker nicht so sehr gegenüber dem antipositivistischen Selbstverständnis der „analytischen Epistemologien", als vielmehr gegenüber metatheoretischen Betrachtungen, die die Theorien als epistemologische Komplexe zur Legitimierung bestimmter Erkenntnisverfahren zum Gegenstand haben. Unterwirft man die „analytischen" und mit ihnen auch die dialektischen Epistemologien diesen Überlegungen, so stellt man zugleich m i t der Unhaltbarkeit des dialektischen Anspruchs eine einheitliche Linie fest, auf die sich die Modelle aufgrund ihrer gemeinsamen Operation am Recht reihen lassen. Andererseits weisen sie aber spezifische Unterschiedlichkeiten auf, die zur Aussonderung der analytischen Theorie vom kritizistischen und dialektischen Entwurf führen. Trotz der unterschiedlichen Grundlagen, auf denen die drei Epistemologien aufbauen, der verschiedenen Ansprüche, die sie geltend 35
Jahr, Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 311.
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machen, und nicht zuletzt wegen ihrer anders ausgerichteten theoretischen Interessen fühlen alle ein bestimmtes Unbehagen gegenüber dem Recht. Sie betrachten das Recht nicht als eine gesellschaftliche Institution, belastet mit den Verhältnissen, aus denen es hervorgegangen ist; denn das Recht ist nicht ein System von Normen, eine m i t Zwangscharakter versehene Ordnung menschlichen Verhaltens. Für sie ist das Recht entweder nicht nur das oder es ist überhaupt nicht das. Es ist in jedem Falle immer etwas, das auf ontologischer Ebene eine Eigenschaft i n sich trägt, die der Theorie eigen ist. Durch den Eingriff der Theorie w i r d ihre Eigenschaft dem Recht übertragen, zu einer eigentlichen Beschaffenheit, die dem Recht anhaftet; sie verändert es und ermöglicht ihm, den unvermeidlichen epistemologischen Sprung zu vollziehen, u m so gegenständlicher Angriffsbereich der Theorie zu sein. A u f dieser theoretischen Metamorphose des Rechts treffen die sonst unvereinbaren Erkenntnismodelle zusammen. Diese Metamorphose des Rechts verkürzt jeweils die epistemologische Entfernung zwischen den verschiedenen Auffassungen und bringt sie alle auf eine einzige Ebene als Versuche, das Recht, als Gegenstand der Theorie legitimiert, zu stärken und zu stabilisieren. Dies erfolgt nur aufgrund einer durch die Verlagerung und Enteignung des Gegenstandes hervorgerufenen rein optischen Täuschung einer wirklichen Veränderung. Der Mystizismus, der der Metamorphose des Rechts zugrundeliegt, und mit i h m alle abgeleiteten theoretischen Praktiken führen zu folgender Situation: die Theorie verändert den Gegenstand, nicht u m ihn zu erklären oder zu verstehen, sondern u m sich selbst zu erklären und sich als durch den Gegenstand wahr darzustellen, obwohl dieser ihr heftigen Widerstand leistet. Unter diesem Widerstand des Gegenstandes bricht die Theorie zusammen, offenbart i h r Unvermögen. Die Darstellung der Prozesse, der die angedeuteten Metamorphosen unterliegen, soll es ermöglichen, den Wesenszug festzustellen, den die einzelnen Erkenntnismodelle teilen, sowie den, der sie trennt. Die dialektische Gesellschaftsauffassung erfaßt das Recht als Sinngebilde, das sich am utopischen Entwurf der gesellschaftlichen Emanzipation beteiligt. Dies Vermögen aber kommt dem Recht nicht deshalb zu, weil es eine i n den materiell-gesellschaftlichen Verhältnissen verankerte positive Institution darstellt, denn es ist nur schwer zu begreifen, die Positivität könne, besonders dann, wenn ihr „Sinn" denaturiert und verdrängt ist, zu einer emanzipatorischen Institution werden. Dies Vermögen wohnt dem Recht inne, gerade weil es für die Theorie keine — materialistisch verstanden — positive Institution ist,
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sondern, — immer schon ontologisch betrachtet — eine kritische. Das Recht ist für die Theorie kritisches Recht Nur das Postulat, das Recht sei kritisch, verifiziert die dialektische Auffassung, die die Emanzipation der Gesellschaft i n der Wiederaneignung des verzerrten Sinns anschaut, i n der Wiederherstellung des Authentischen, d.h. i n der Zurückführung der Sache auf begriffliche Voraussetzungen. I n eine kritische Hypothese verwandelt und von der Last der Empirie der Positivität befreit, kann das Recht innerhalb einer emanzipatorischen Geschichtsphilosophie erworben werden, die den utopischen Entwurf der gesellschaftlichen Emanzipation auch durch das Recht verwirklicht, denn nur innerhalb einer Phänomenologie des Geistes kann sich die gesellschaftliche Emanzipation durch die Form des Abstrakten vollziehen. Unberührt von der Metamorphose, bleibt die Positivität des Rechts i n ihrer „Denaturierung" und enthüllt die Fiktionen einer billigen Geschichtsphilosophie als ideologisches B i l d eines entfremdeten Bewußtseins. A u f ganz andere Weise geht der kritische Rationalismus vor. Er erklärt offen, die Positivität des Rechts müsse als Ausgangspunkt angesehen werden, u m so jede dialektische Verklärung der Gesellschaft zu vermeiden. Der kritische Rationalismus greift die Gesellschaft mittels eines naturwissenschaftlichen Denkansatzes an, der sich auf die empirische Erscheinungsform sozialer Institutionen richtet. Der kritische Rationalismus definiert sich selbst als Philosophie und Theorie der Wissenschaft, die zwischen zwei extremen theoretischen Erkenntnispositionen steht, zwischen dem Rationalismus und dem Positivismus, deren Verschmelzung er durchführen w i l l . Die Verfahrensweise dieses Ansatzes ist bekannt: die Theorie stellt Erkenntnishypothesen über die empirische Wirklichkeit auf; diese werden der kritischen Operation der Vernunft unterstellt, die sie falsifiziert. Die Vernunft greift nicht nur die Theorie an, sondern auch die Hypothesen, die sie aufstellt. Sie ist praktische Vernunft, moralische Forderung und Zensur der Theorie. Die bloße Falsifizierung der theoretischen Hypothesen über das Recht — genau so wie die Falsifizierung der Theorie, die die Hypothesen aufstellt — kann nicht als Ergebnis einer kritischen Forderung der Vernunft betrachtet werden, u m die Rechtsinstitution zu erreichen und anzugreifen. Die Positivität des Rechts bleibt unangetastet i n ihrer Konsistenz und undurchdringlich für jede Falsifizierung, die sich auf die Hypothesen der Theorie beschränkt. Die Falsifizierung von Hypothesen über das Recht läßt nichts anderes als die Forderung zu, neue Hypothesen zu erarbeiten, u m sie wiederum zu falsifizieren. A n diesem Punkt w i r d die Metamorphose notwendig. Als hypothetisch und demnach falsifizierbar w i r d nicht mehr die Theorie allein
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betrachtet, sondern gerade die positive und materielle Institution, auf der die Theorie ursprünglich aufbaute. I n eine Hypothese umgewandelt, ist das Recht falsifizierbar, genau wie die Theorie, die es erfaßt. Die Jurisprudenz hört dann auf, m i t nicht kritisierbaren und nicht falsifizierbaren Dogmen zu operieren und beginnt m i t Hypothesen zu arbeiten: der Rechtshypothese. Die Jurisprudenz entledigt sich so der theologischen Last der Dogmatik und w i r d zur Sozialtechnologie, zu einer Wissenschaft, die die Hypothesen entwirft, indem sie zugleich die Arten der Falsifizierung, d.h. der Veränderung vorsieht. Erst als diese falsifizierbare Hypothese, die es aus der historischen Verklammerung an die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse befreit, kann das Recht i m Reformentwurf einer pragmatischen Philosophie der Geschichte und der Politik zugänglich sein. Der kritische Rationalismus ist eine met ajuridische Rechtstheorie, die sich auf die Metamorphose des positiven Rechts h i n zum Experiment der Vernunft stützt. Als dieses Experiment soll es von der pragmatischen Vernunft verbessert werden i m Rahmen eines Entwurfs, i n den die gesamte Gesellschaft einbezogen ist. Dieser von einer pragmatischen Geschichtsphilosophie legitimierte technologische Entwurf bedient sich der Rechtshypothese als einem falsifizierbaren Programm, d. h. einer pragmatischen und reformistischen Politik, als einer realistisch umprogrammierbaren Hypothese i m sozial-demokratischen Modell der Gesellschaft. Der kritische Rationalismus ist i m Bereich der Rechtsepistemologie die Auffassung, die mit den unbeweisbaren Dogmen der Naturrechtslehre brach und versuchte, die pragmatische Vernunft der deutschen Sozialdemokratie, die politisch über diese Dogmen siegte, als kritische Vernunft der Aufklärung zu legitimieren. Dieses Denkmodell zielt darauf ab, die Rationalität und die K r i t i k i n Formen der institutionellen Legitimierung der formalen Demokratie umzuwandeln. Das geschieht durch die Metamorphose der Vernunft der Aufklärung i n pragmatische Vernunft. Aus diesem Grund ist die Philosophie, die sich dieser Methode bedient, eine moralisierende Auffassung vom Realismus und vom politischen Empirismus wie auch von den pragmatischen Entscheidungen i n einer politischen Organisation des Spätkapitalismus. Was schließlich die analytische Theorie kennzeichnet, ist ihr A n spruch, fest auf dem positiven Recht zu beharren und sich als Analyse, als logischer und systematischer Aufbau sowie als Beschreibung der Rechtsform darzustellen. Es geht u m ihren Anspruch, eine juridische Rechtstheorie zu sein, die i n der empirischen Positivität des Gegenstandes kein epistemologisches Hindernis sieht, sondern die Bedingung der Möglichkeit theoretischer Reflexion. Die Überlegungen der analytischen Rechtstheorie über ihren Gegenstand sind darauf gerichtet, den
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Gegenstand i n der Form der Rationalität zu rekonstruieren, für die die Theorie Modell ist. Es genügt jedoch nicht, den Gegenstand sprachlich aufzulösen, da eine Auflösung nur eine Analyse des Rechts als sinnhaftes Universum oder als Instrument der Kommunikation ermöglichen würde. Die formalen Schemata der Theorie konnten nicht auf das Recht angewandt werden, u m den Rationalitätsgrad des Aussagensystems festzustellen. Die Operation ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß dem Gegenstand die gleiche formale Rationalität innewohnt wie dem Theoriemodell. Das Recht ist damit für die Theorie nicht als positive Tatsache zugänglich, auch wenn es i n seiner reinen Gestaltung, unabhängig von jedem metajuridischen Bezug, betrachtet wird, sondern nur, weil es als Form des Abstrakten formale Rationalität ist. Für die analytische Theorie ist die Metamorphose des Rechts von einer empirischen Tatsache zu einer rationalen Tatsache einerseits epistemologische Voraussetzung der analytischen Praktikabilität des Gegenstandes und andererseits Voraussetzung für die Positivität der Theorie. Diese reine, deskriptive und analytische Immanenz, die dem Gegenstand anhaftet, und die daraus resultierende Ablehnung einer instrumentalen Rechtsauffassung machen die analytische Rechtstheorie zur einzigen positiven Rechtstheorie. Nun zeichnet sich der Bereich ab, i n dem diese Epistemologien konvergieren. Das moderne Recht bedarf einer theoretischen Neubegründung, u m seine Stabilisierung erfassen und hervorbringen zu können. Doch für die besprochenen theoretischen Modelle stellt das Recht als Form des Abstrakten ein unüberwindliches epistemologisches Hindernis dar, da das Problem der Rechtsform bzw. der rechtlichen Abstraktion nicht gesehen und die Frage nach der Erzeugungsart dieser Form und dieser Abstraktion nicht gestellt wird. Die Unfähigkeit führt zum epistemologischen Unvermögen der theoretischen Systeme und zum Mißerfolg des Legitimierungsversuchs. Gegenüber diesem Hindernis erweist sich ihre Ohnmacht, das i n seiner materiellen Kompaktheit fest und undurchdringlich bleibt. Die Epistemologien erarbeiteten daraufhin eine einheitliche Strategie in der Absicht, den Gegenstand theoretisch zugänglich zu machen. Dem Gegenstand sprechen sie die Eigenschaften zu, die die Theorien für sich selbst beanspruchen und die sie gegenüber den anderen Theorien abheben. Das Recht ist nun Träger dieser den Theorien entnommenen Eigenschaften, erscheint nicht mehr als es selbst, sondern als die Eigenschaften, die es beherrschen. Aber das Recht behält die materielle Last seiner nicht gestörten und nicht durchdrungenen Positivität unverändert bei und bietet der Theorie, die, u m es anzugreifen, zu i h m zurückkehrt, diejenigen Eigenschaften an, die sie i h m selbst zuerkannt 12 De Giorgi
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hat, damit sie sie jeweils dialektisiert, falsifiziert und beschreibend überprüft. Die Theorien überprüfen so immer die Geltung oder die Falsifizierbarkeit der theoretischen Dienstbarkeit, die sie selbst dem Recht zuerkannt haben. Die Metamorphose, die das Recht erfährt, ist nur theoretisch und dient dazu, das Recht der Theorie zu legitimieren. Damit ist das epistemologische Hindernis aber nur verschleiert und verschämt zugedeckt worden. I n diesen Erkenntnismodellen schlägt sich die einheitliche Fragestellung nach einer theoretischen und politischen Legitimierung des Rechts nieder. Sie reflektieren deshalb über sich selbst, rufen aber den Eindruck hervor, die Wirklichkeit zu reflektieren. I n diesem Bereich der Konvergenz zeichnet sich der Trennungsstrich zwischen der dialektischen Auffassung und dem kritischen Rationalismus einerseits und der analytischen Theorie andererseits ab. Sie sind zwei völlig unterschiedliche Weisen der Auf-Sich-Bezogenheit von Rechtswissenschaft. Die ersten beiden Auffassungen sind gekennzeichnet durch ihre entwerfende Intention sowie ihre Abhängigkeit von einer Geschichtsphilosophie, die utopische Fiktionen oder pragmatische Hypothesen des Rechts aufstellt, die auf die Zukunft projiziert werden. A u f der Metamorphose des Rechts bauen sie eine Deontologie auf, die zwar unterschiedliche Konturen auf weist, aber i n jedem Fall Ausdruck eines Denkens ist, dessen Problem mehr die Zukunft als Ort der Heilung der Gegenwart ist als die Gegenwart i n ihrer selbstständigen Existenz. Die analytische Theorie dagegen bleibt an die Gegenwart und ihre Selbständigkeit gebunden und weigert sich, Hypothesen oder Entwürfe des zukünftigen Rechts zu erarbeiten, die auf der „fictio" der Gegenwart aufbauen. Sie gibt vor, das Recht gerade i n der Form seiner empirischen Existenz auszuschöpfen. Die Rechtstheorie hält an zwei Positionen fest, die ihre gegenwärtige Lage bestimmen und i n ihrer Unbeugsamkeit die tragische Alternative der zeitgenössischen deutschen Rechtsepistemologie darstellen. Der Theorie gelingt es nur, die Gegenwart als rational vorauszusetzen und die Zukunft als eine „fictio" oder eine pragmatische Hypothese zu reflektieren. I n diese Alternative ist die deutsche Rechtsideologie verstrickt und findet keine anderen Möglichkeiten. I h r bleibt nur die Möglichkeit, ihre unerschöpfliche dialektische Kraft zu Hilfe zu nehmen, u m noch einmal eine Vermittlung zu suchen, bei der die Termini der Alternative erhalten bleiben und i n einer höheren Einheit zusammengefügt werden. Das Rechtsdenken versuchte ebenfalls die dialektische Vermittlung dieser Alternative. Die dialektische Vermittlung von Geschichtsphilo-
Kap. I I I : Die analytische Rechtstheorie und der Kritizismus
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sophie als utopischer Entwurf und Abstraktion der Gegenwart als rationale Form beschließen den mühsamen Weg der deutschen Rechtstheorie und ihres Scheiterns. Dieser epistemologische Komplex, den Maihofer vor einigen Jahren — w e l c h seltsame Ironie der Geschichte! — als „realistische Jurisprudenz" bezeichnet hat, erfaßt i n dialektischer und einheitlicher Form das Elend der zeitgenössischen deutschen Rechtswissenschaft und beendet die Geschichte der gescheiterten Versuche einer theoretischen Legitimierung des bürgerlichen Rechts.
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Kapitel
IV
Die realistische Jurisprudenz 1. Der deutsche Rechtsrealismus Spricht man vom Rechtsrealismus, so ist zu präzisieren, daß es neben einem amerikanischen und einem skandinavischen Realismus auch einen deutschen Realismus gibt 1 . Der erstgenannte rief i n Deutschland wenig Interesse hervor, der zweitgenannte fand kaum Beachtung. Der deutsche Realismus, der mehr von der Erinnerung an die Vergangenheit als vom Denken an die Gegenwart lebt, hat das Erbe der i h m vorausgehenden Epistemologien angetreten und versucht, sich als dialektische Vermittlung der Partialität ihrer Auffassungen und als Überwindung ihrer Mißerfolge durchzusetzen 2 . Der deutsche Realismus geht aus dem ontologischen Rechtsdenken hervor und hat seine Wurzeln i n der Diskussion, die sich Mitte der fünfziger Jahre m i t dem konkreten Naturrecht, m i t der Natur der Sache, m i t dem „konkreten Ordnungsdenken" und m i t der Gerechtigkeit beschäftigte, die den Strukturen der menschlichen Gesellschaft immanent ist 8 . Dieser Realismus geht i m wesentlichen aus dem Denken hervor, das als Jurisprudenz der Entfremdung bezeichnet wurde. Dieses Denken war vor allem philosophischer Natur und erschöpfte sich i n der philosophischen Begründung des Rechts. Der Rechtsrealismus hingegen teilt der Philosophie eine spezifische und genau umrissene Aufgabe zu, die die Philosophie als eine Rechtsdisziplin neben anderen charakterisiert: die Reflexion über die axiologischen Strukturen des Rechts und richtet die Aufmerksamkeit und das Hauptinteresse auf die Rechtstheorie. I n der zeitgenössischen Rechtsepistemologie stellt der Rechtsrealismus einen grundlegenden Mangel 1
Maihofer, Realistische Jurisprudenz. Vgl. Maihofer, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Rechtstheorie als Basisdisziplin; Zu Maihofers Realismus s. Maus, Die Basis als Überbau. 3 Diese von Maihofer wieder in: Realistische Jurisprudenz, aufgenommenen Themen wurden von ihm in verschiedenen vorausgehenden Schriften behandelt; s., statt aller, Die Natur der Sache; vgl. die Überlegungen Barattas, Natur der Sache, S. 134 ff. 2
Kap. IV: Die realistische Jurisprudenz
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fest. Da die verschiedenen Theorien ihre Reflexionen über das Recht nur auf einige spezifische Dimensionen des komplexen Rechtsphänomens beschränkten, vernachlässigten sie die anderen und nahmen sich so selbst die Möglichkeit, gerade die besondere Eigenschaft des Rechtsphänomens, die Vielfalt seiner Dimensionen, zu erfassen. Die bis jetzt entwickelten Theorien sind entweder nur Erkenntnistheorien, denen die Probleme des zukünftigen, noch aufzubauenden Rechts verschlossen sind, oder nur Hilfskonstruktionen für die Rechtsdogmatik, der sie die Instrumente zur Analyse und zur Erforschung liefern, sich aber damit die Möglichkeit nehmen, theoretische Reflexionen über das Recht zu entwickeln, die nicht zum dogmatischen Gebrauch bestimmt sind; sie können auch Theorien sein, die das zukünftige Recht entwerfen, ohne aber der theoretischen Antizipation der Zukunft eine Erforschung der realen Strukturen des bestehenden Rechts voranzustellen. Zudem kam es i n der Rechtsepistemologie zu einer Sperre zwischen den verschiedenen theoretischen Konstruktionen; sie verhinderte die Übernahme der von einem theoretischen Modell richtig wahrgenommenen Forderungen, auch von den gegensätzlichen theoretischen Modellen. Diese von unterschiedlichen Bestrebungen geleiteten Modelle neigten zu vorgefaßten Meinungen und taten die sonst angemessenen und gültigen Forderungen als irrelevant ab. Die Aufspaltung der erzeugten theoretischen Forderungen, die Exklusivität, m i t der sie von den einzelnen Theorien befriedigt wurden, und die Mauer, die zwischen den verschiedenen Bereichen entstand, hinderten die Rechtstheorie daran, der Gesamtheit der Dimensionen ihres Gegenstandes gerecht zu werden. Die realistische und die materialistische Auffassung, die Naturrechtslehre und der Rechtspositivismus, jede dieser Auffassungen ging aus der Hypostasierung einer Dimension des Rechts unter Ausschluß der anderen hervor. Die Theorie forschte nach dem idealen Element des Rechts und Schloß aus ihrem Wirkungsbereich die Betrachtung der materiellen Strukturen aus, die aber einen Aspekt des Rechtsphänomens bestimmen, den man nicht unberücksichtigt lassen kann; oder die Theorie richtete i h r Interesse auf die Positivität des Rechts und schloß die Betrachtung des ethischen Charakters des Rechtsphänomens als unwissenschaftlich aus. Der Rechtsrealismus w i l l diese Aufspaltung des Rechts überwinden. Er betrachtet das Rechtsphänomen als komplexes gesellschaftliches Phänomen, das der ontologischen Struktur des gesellschaftlichen Seins innewohnt. Dieses Phänomen drückt durch seine Positivität die Idealität „der Sache Recht" aus. Diese Idealität, der das Positive ständig entsprechen w i l l , w i r d i n den Tiefenstrukturen der gesellschaftlichen
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Teil I I : Die Theorie
Realität erzeugt 4 . Der Realismus betrachtet dieses komplexe gesellschaftliche Phänomen i n seiner Gesamtheit, die zugleich Realität und Idealität des Rechts ist, und verwirft die Theorien als partiell, die sich auf eine eindimensionale Betrachtung des Rechts beschränken. Ziel des Realismus besteht nicht nur darin, die Gesamtheit der Dimensionen des Rechtsphänomens zu erfassen, sondern auch seine Perspektiven zu integrieren, die der Historizismus und der Positivismus i n einer Hypostasierung der Vergangenheit bzw. der Gegenwart versteinert haben. Die historizistische Auffassung, die die Voraussetzungen für die Begründung der Rechtswissenschaft geschaffen hat, macht diese bereits i m Augenblick ihres Entstehens zu einer Vergangenheitswissenschaft, wie Maihofer sagt. Für Savigny ist die Gegenwart die Fortsetzung der Vergangenheit, die i n i h r lebt und sie verwirklicht. Das gegenwärtige Recht w i r d vor dem Hintergrund des vergangenen Rechts erzeugt, aber auch kritisiert, indem das geltende Recht je nach dem Grad der „Gutheit" 4 a des antiken Rechts überprüft wird, das i n i h m fortlebt. Angesichts dieser Beschränkung der Rechtstheorie auf „Qellenwissenschaft" greift der Positivismus ein und erklärt, die Theorie sei Erkenntniswissenschaft und müsse das positive Recht, d.h. das bestehende, das geltende Recht erkennen. Der Positivismus zwingt zu einer legalistischen Rechtsauffassung; er bindet die Tätigkeit der Wissenschaft an die Gegenwart und beschränkt die Rechtstheorie auf die bloße Apologie des Bestehenden. Für die Rechtspolitik, die Gesetzgebungswissenschaft, ist i m Bereich der Rechtstheorie kein Platz. Die gesamte Reflexion der Jurisprudenz kristallisiert sich i n der Rechtsdogmatik und w i r d unfruchtbar. Es ist Aufgabe der Rechtsepistemologie, die Jurisprudenz aus der Sackgasse zu befreien, i n die sie geraten und i n der das Recht als lebendes gesellschaftliches Universum, das sich ständig reproduziert, tiefe Risse erfahren hat. Der Rechtsrealismus stellt i m Verhältnis zur Partialität der übrigen Auffassungen eine Alternative dar; er versteht die Rechtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft, die auf die Zukunft projiziert w i r d : als Zukunftswissenschaft 5 . Gegenüber dem Historizismus und dem Positivismus vervollständigt die realistische Rechtsauffassung den Gegenstand der Wissenschaft; sie betrachtet nicht nur das Recht, das bereits besteht, sondern auch das Recht, das noch nicht ist. Das Recht ist Voraussetzung, Vorwegnahme der Zukunft des Menschen, Entwurf zukünftiger gesellschaftlicher Verhältnisse, die auf der Erkenntnis der 4
Vgl. Maihofer, Realistische Jurisprudenz, 440 ff. Das Wort „Gutheit" wird hier eingeführt, um den begrifflichen Gegensatz zu „Schlechtigkeit" auszudrücken, und es wird im Sinne des englischen „goodness" sowie des italienischen „bontà" verstanden. 5 Maihofer, Realistische Jurisprudenz, S. 434 ff. 4a
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Gegenwart aufzubauen sind. Der Realismus versteht das Recht nicht als Hypostasierung der Positivität, sondern als Perspektive, die nur i n der Vorwegnahme der Zukunft verwirklicht wird. Sein Hauptinteresse gilt dem wissenschaftlichen Aufbau des Universums des positiven Rechts und dem Entwurf des zukünftigen Rechts, als Erzeugnis der theoretischen Erforschung einer Rechtswissenschaft, die das Recht i n seinem Wesen versteht. Die Auffassung von der Rechtswissenschaft als einer Zukunftswissenschaft muß die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, philosophisch rechtfertigen. Sie muß den Ort ihrer Antizipationen bezeichnen, sowie die Grundlage, auf der sie das zukünftige Recht auf wissenschaftliche Weise aufbaut. Diese Voraussetzungen sind für Maihofer i n den Strukturen der humanen Realität zu suchen, i n der ontologischen Struktur der Objektivität der Welt. Das geschieht durch konkrete Analyse der gesellschaftlichen Realität und der menschlichen Existenz, die Voraussetzungen sind i n der ontologisch-anthropologischen Grundstruktur der Lebensverhältnisse zu suchen. „Eben diese ontologisch-anthropologische Grundstruktur der Lebensverhältnisse nennen w i r seit Max Weber und Gustav Radbruch „Natur der Sache"6. Dem Prinzip der „Natur der Sache" weist der Rechtsrealismus zugleich ontologische und kritische Bedeutung zu. Dieses Prinzip w i r d nicht als das den Rechtserscheinungen Zugrundeliegende aufgefaßt, sondern als das Vorausgesetzte jeder Rechtserscheinung. Als das Vorausgesetzte ist es Träger einer Wahrheit, die nur auf die Zukunft projiziert werden kann. Maihofer versteht die Antizipation des zukünftigen Rechts als Extrapolation der Prinzipien, die den Strukturen der menschlichen Gesellschaft innewohnen, als Gefühl der Sicherheit und Wahrheit des zukünftigen Rechts, da es aus den ontologischen Strukturen des Seins hervorgegangen ist, als Angleichung an die Wahrheit des Seins. Das zukünftige Recht, das die realistische Rechtstheorie wissenschaftlich aufbaut, verwirklicht i n der Dialektik von Subjektivität und Objektivität, von K r i t i k an der Gegenwart und konkreter Utopie, von Materialität und Idealität die der menschlichen Gesellschaft immanente Gerechtigkeit. Die realistische Auffassung bietet die Grundlagen für eine Rechtsepistemologie, die die Rechtswissenschaft erneuern w i l l , ohne jedoch die Beiträge verschiedener theoretischer Modelle der Rechtswissenschaft abzulehnen. Sie w i l l i m wesentlichen die Partialität der Instanzen überwinden, die von den verschiedenen Richtungen entwickelt und interpretiert wurden. Konvergenzpunkt dieser Partialität ist die Wahrheit, die den realen Strukturen der menschlichen Gesellschaft als Vor6
Maihofer, Realistische Jurisprudenz, S. 443 - 444, 441.
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ausgesetztes der positiven Form des Rechts und als Grundlage der Rechtswissenschaft immanent ist. Der Realismus ist Theorie des positiven Rechts und seiner ontologisch-anthropologischen Strukturen und Theorie einer totalen Rechtswissenschaft, die die epistemologischen Grundlagen für den Aufbau des zukünftigen Rechts schafft. Der Rechtsrealismus ist keine vorgefaßte Auffassung der Rechtswissenschaft, keine dem Gegenstand fremde Deutung; er ist keine Auffassung, die lediglich beansprucht zu überprüfen, inwiefern ihre theoretischen Schemata geeignet sind, den Gegenstand, auf den sie angewandt werden, zu reflektieren. Die vorgefaßte theoretische Meinung bezüglich des Gegenstandes ist der kritische Punkt des Positivismus, des Historizismus und auch der Naturrechtslehre. Die realistische Jurisprudenz w i l l der Mehrdimensionalität des Rechtsphänomens durch eine Mehrperspektivität der Rechtswissenschaft gerecht werden, die i n der Lage ist, alle Bestimmungen des Rechtsphänomens zu erfassen 7. Diese offene und totale Wissenschaftsauffassung stellt die Komplexität des Phänomens wieder her, da sie es als ihre besondere Aufgabe ansieht, Rechenschaft zu geben über die Dimension der Realität des Rechts als Faktum und über die Dimension der Idealität, die i n diesem Faktum zum Ausdruck kommt. Die realistische Rechtstheorie überwindet die strengen Grenzen der falschen Alternative zwischen Idealität und Realität, Bewußtsein und Wirklichkeit, Denken und Sein: sie erfaßt das Positive und Normative i n ihrer Wechselwirkung, i n der Dialektik der „Idealdetermination aus der faktischen Kraft des Normativen" und der „Realdetermination aus der normativen Kraft des Faktischen" 8. 2. Essentialismus und Epistemologie Die Rechtstheorie ist die grundlegende Disziplin der realistischen Rechtswissenschaft. Gemeinsam m i t der Rechtsphilosophie und der Rechtssoziologie ist die Rechtstheorie i n einem System zusammengefaßt, das seine Reflexion auf die axiologischen, ontologischen und logischen Strukturen des Phänomens Recht ausdehnt. Diese drei Disziplinen erforschen zusammen die Richtigkeit des Rechts i n seinen menschlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Dimensionen. Die realistische Rechtswissenschaft ist ein einheitliches, theoretisches und praktisches System, das das Phänomen Recht i n seiner ganzen Komplexität und unter allen seinen Perspektiven ausschöpft. Die Rechtstheorie als die wissenschaftliche Grundlage der Rechtswissenschaft identifiziert sich weder m i t der Rechtsdogmatik noch m i t der Methodologie der Rechtswissenschaft, nicht einmal m i t der Allgemei7 8
Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 55 ff. Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 56.
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nen Rechtslehre. Sie w i l l die Formen der Wissenschaftlichkeit erkennen und festsetzen, an denen sich die praktische Beschäftigung der Jurisprudenz mit dem Recht orientieren muß. Sie ist Theorie i m Dienste einer Praxis, die von der Tätigkeit der Rechtsprechung bis zur Gesetzgebung reicht, von der Rechtsdogmatik bis zur Rechtspolitik, vom Sein bis zum Sollen des Rechts. Die Theorie ist das Wissenschaftlichkeitsmodell, das die Gewähr bietet, daß die Erkenntnis der bestehenden Wahrheit und das Entwerfen ihrer zukünftigen Formen wissenschaftlich auf der Rechtswahrheit aufgebaut werden, wobei das Recht i n seiner Bipolarität von Faktischem und Normativem sowie Realem und Idealem gesehen wird. Die Theorie w i r d so auf wissenschaftliche Weise ihrem Gegenstand i n allen seinen Determinationen gerecht. Sie ist Realwissenschaft und Formalwissenschaft oder Wirklichkeitswissenschaft und Bewußtseinswissenschaft, wie Maihofer sie bezeichnet. U m das epistemologische Programm der realistischen Rechtstheorie zu verwirklichen, verschmilzt Maihofer die rationalistisch-formalen Kompetenzen der analytischen Rechtstheorie und die kritisch-materiellen Kompetenzen der dialektischen Theorie. Die Theorie des Rechtsrealismus entsteht aus der Koexistenz von Positivismus und Dialektik, von formaler Analyse und utopischem Entwerfen. I n der analytischen Rechtstheorie sieht Maihofer den Ort, an dem die Erkenntnis des Rechts i n seinem faktischen Charakter, i n seiner empirischen Realität erarbeitet wird, i n der kritischen Theorie des Rechts den Ort, an dem das zukünftige humane Recht entworfen wird. Aus der Fusion, oder besser aus der Überschneidung dieser beiden „partiellen Theorien" soll sich die Struktur der realistischen Rechtstheorie ergeben. Die Epistemologie des Rechtsrealismus begnügt sich mit dem einfachen Nebeneinanderreihen unterschiedlicher Modelle: sie ist keine wissenschaftliche Frage mehr, sondern lediglich ein zusammengefügter Komplex, der die spezifischen Forderungen der ontologischen Voraussetzung erklärt und zugleich verstärkt. Daß die Ontologie und der Essentialismus die Wissenschaft i n Anspruch nehmen, ist auf eine instrumentale Auffassung von der Wissenschaft zurückzuführen. Sie verlangen von ihr nur, sich bestimmter Leistungen bedienen zu dürfen, beeinträchtigen dabei jedoch nicht die epistemologische Natur dieser Leistungen. Somit lebt die Ontologie des deutschen Realismus von den Leistungen anderer, sie ist parasitär. Die Koexistenz der kritisch-analytischen Leistungen erweist sich, auch wenn sie nicht zur Dialektik werden kann, gewiß als möglich, hat man einmal die ontologische Voraussetzung angenommen, denn die ontologische Auflösung des Rechts erweist sich als Positivismus gegenüber dem rechtlichen Sein und legitimiert sich als Utopie der Zukunft
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Tel I I : Die Theorie
gegenüber dem rechtlichen Sollen. Umgekehrt stimmt aber auch, daß die analytisch-positivistische und die dialektisch-kritische Epistemologie Kompetenzen zusammenfügen und Leistungen bereitstellen, die sich ohne weiteres zur Verwendung durch eine essentialistische Metaphysik eignen, der es gelingt, sie zu integrieren und wenigstens i n diesem funktionalen Sinn zu verschmelzen. M i t anderen Worten: w i r d die Koexistenz der Leistungen beider Epistemologien lediglich durch das ontologische Postulat der Wechselwirkung von Faktischem und Normativem, von Realem und Idealem i m Recht ermöglicht, dann können sie nur die positivistische und die dialektische Epistemologie anbieten. Wenn der philosophische Essentialismus vom faktischen Charakter oder der Realität des Rechts spricht, meint er das positive Recht, das Recht, so wie es ist. Die ontologische Voraussetzung jedoch hat dieses positive Faktum bereits i n einen Ausdruck der Wahrheit umgewandelt, die den Strukturen der menschlichen Realität innewohnt. Das Faktische i m Recht, ontologisch vorweggenommen, ist nur der positivistischen Erforschung zugänglich, die als einzige i n der Lage ist, das Faktum i n Wert und das empirische Faktum i n Seinswahrheit umzuwandeln. Das rechtliche Sollen, das auf der Antizipation aufbaut, die bereits i n den Strukturen des Seins vorausgesetzt ist, kann aber keine andere Form annehmen als die einer konkreten Utopie. Ihre Konkretheit ist Ausdruck ihrer reinen Idealität, ist ideale Projektion des bloß faktischen Charakters des Bestehenden. Der Reflexion erscheint jedoch das zukünftige kritische und humane Recht als die ideale Projektion der Richtigkeit, die dem Positiven immanent ist. Wie für die deutsche Ideologie so ist auch für den Realismus das zukünftige Recht Fiktion, welche von einer Geschichtsphilosophie erzeugt wird, die sich als eine dialektische ausgibt. Sie lehnt das Positive i m gleichen Moment ab i n dem sie anerkennt, daß gerade dieses Positive i n seiner Form i n den Strukturen der menschlichen Realität vorausgesetzt ist, auf der sie ihre Entwürfe aufbaut. Die realistische Rechtstheorie baut auf dem Nebeneinandersetzen von Positivismus und Dialektik auf, die realistisch i n ihrer wechselseitigen Funktionalität bezüglich der ontologischen A u f lösung des Rechts aufgefaßt werden. 3. Die Rechtstheorie des juristischen Realismus Die analytische Rechtstheorie, schreibt Maihofer, sichert „die funktionale Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen des Rechts" 9, sie wacht über die Begriffs- und Systemrationalität des Rechts und gewährleistet die Widerspruchfreiheit rechtlicher Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 7 .
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Setzungen und die Folgerichtigkeit rechtlicher Schlüsse. Die analytische Rechtstheorie überwacht die formale Rationalität des Rechts und der Praktiken der Jurisprudenz; sie bedient sich der Logik und der formalen Intersubjektivität, die auf die „Denkevidenz" gestützt ist. Sie erstrebt „die Erhellung und Bestimmung der Struktur und Funktion der bei praktischer Arbeit am Recht verwandten theoretischen Gedankengebilde i n Hinsicht auf ihre funktionale Rationalität i m Gedankenzusammenhang des Rechtssystems" 10 . Überwachung der formalen Rationalität und Überwachung der funktionalen Rationalität sind die Aufgaben, die die analytische Rechtstheorie innerhalb der realistischen Jurisprudenz erfüllt; sie ist die wissenschaftliche und formale Durchdringung der Rechtspraxis und des Rechts. Ihre Techniken, ihre Methoden und Instrumente werden vom Juristen bei seiner täglichen Arbeit am Recht gebraucht und gestalten alle Aspekte seiner Arbeit, die Aspekte „des Erkennens und Denkens, Entscheidens und Urteilens, Handelns und Begründens" 11 . Die Leistungen der analytischen Rechtstheorie sind das Ergebnis der Zusammenarbeit einer Reihe spezifischer Disziplinen, die ihr epistemologisches Universum bestimmen: Erkenntnistheorie und Logik(theorie), Begriffstheorie und Systemtheorie, Entscheidungstheorie und Informationstheorie, Sprachtheorie und Argumentationstheorie des Rechts. Die kritische Rechtstheorie leistet die Begründung der realistischen Jurisprudenz als Wirklichkeitswissenschaft. Sie gewährleistet „die materiale Rationalität und Intersubjektivität der tatsächlichen Setzungen und Schlüsse der RechtswissenschaftSie sichert „die emanzipatorische Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen der Rechtswissenschaft". Sie wacht über die „Begriffsrationalität und Systemrationalität als eines Gesellschaftsentwurfs, aus dem die alltägliche praktische Arbeit am Recht mit wissenschaftlichen Methoden theoretisch vorbereitet und praktisch angeleitet w i r d " 1 2 . Die kritische Theorie der Rechtswissenschaft durchdringt die Rechtspraxis zum Zweck der „Gewährleistung und Sicherstellung der sozialkritischen und ideologiekritischen Stimmigkeit und Haltbarkeit der gedanklichen Überbauung der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie alles Recht über jede Gesellschaft darstellt". Diese kritische und aufklärerische Arbeit der kritischen Rechtstheorie w i r d von der Gesamtheit der Disziplinen durchgeführt, deren Ergebnis sie ist. Für Maihofer handelt es sich bei diesen Disziplinen u m die Erkenntnistheorie als kritische Reflexion der konkreten Situation, u m die Gesellschaftstheorie als produktive Antizipation emanzipatorischer Konzepte, u m die Entwick10 11
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Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 76. Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 76.
Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 76.
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lungstheorie als komparative Verifikation an paralleler Evolution sowie um die Handlungstheorie als pragmatische Strategie konkreter Realisation. Analytische Rechtstheorie und kritische Theorie des Rechts, Erkenntnisinteresse, das sich an der formalen Rationalität orientiert und kritisches Interesse, das an der materialen Rationalität des Rechts interessiert ist, stellen gemeinsam die „Gesamte Rechtswissenschaft" dar. Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Recht i n seiner Bipolarität, „als Norm in einem Überbau des Bewußtseins über die gesellschaftliche Wirklichkeit" und „als Instrument" nicht nur der kritischen Interpretation, sondern auch der konstruktiven Veränderung eben dieser Basis der Gesellschaft: bestehender »schlechter4 h i n zu künftigen »besseren4 gesellschaftlichen Verhältnissen 4413 . 4. Kritische Bemerkungen zur Dialektik des juristischen Realismus Maihofer weist dem Recht als spezifischem Gegenstand der kritischen Theorie und so auch der Theorie, die es erzeugt, — denn es geht hier u m zukünftiges Recht, durch die Reflexion antizipiert — eine praktische Aufgabe zu: die Veränderung bestimmter materialer Prozesse. Dabei entfernt er sich von der ontologischen Voraussetzung, Ausgangspunkt und Grundlage der realistischen Rechtsepistemologie. Indem er den Anspruch einer praktischen Vermittlung der Theorie bekräftigt, die sich nicht nur darauf beschränkt, die Welt und ihre Wahrheit zu begreifen, sondern unmittelbar zu ihrer Veränderung schreitet, läßt er einen besonderen Widerspruch i n seinem Modell zu. I n seiner linearen Konstruktion der Gesamten Rechtswissenschaft, i n der alles folgerichtig ist, weil vorausgesetzt, gibt es einen unklaren Punkt: Maihofer behauptet, das Recht müsse das Instrument zur Veränderung der gegenwärtigen schlechten gesellschaftlichen Verhältnisse i n zukünftige bessere sein. I n seinem ganzen Modell, das über eine Fülle unterschiedlicher theoretischer Modelle verfügt, gibt es aber keine einzige Disziplin, die die Schlechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse „erkennen 44 kann, es gibt keine Disziplin, die nicht auf das Verständnis der Gutheit der Welt ausgerichtet wäre. Nur m i t Mühe begreift man, warum die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse „schlecht" sind und warum sie verändert werden müssen. Demnach ist es schwierig, die Rolle des zukünftigen Rechts zu verstehen sowie die Rolle der kritischen Theorie, die das Recht als Instrument der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse antizipiert. 18
Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin, S. 77.
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Keine der Disziplinen besitzt die Strukturen, die es der Theorie ermöglichen, über die Schlechtigkeit der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren. Die einzige unter ihnen, die für sich i n Anspruch nehmen könnte, das Bestehende zu kritisieren und demnach seine Schlechtigkeit aufzudecken, die „Erkenntnistheorie als kritische Reflexion der konkreten Situation", kann nur die rein empirische Tatsache feststellen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ihrer i m Recht ausgedrückten Form, der Wahrheit der Tiefenstrukturen der menschlichen Wirklichkeit gerecht werden. Diese empirische Enthüllung impliziert keinerlei Schlechtigkeit der Verhältnisse: sie besagt nur, daß das Bestehende, das dem Rechtswesen nicht entspricht, dazu gebracht werden muß. Die anderen Disziplinen der kritischen Theorie machen überhaupt nicht geltend, das Universum der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen und darüber zu reflektieren; sie sind an seiner eventuellen Schlechtigkeit nicht interessiert, sondern unmittelbar auf die Zukunft gerichtet. Von Schlechtigkeit der Welt spricht nicht einmal die positivistische Prämisse der kritischen Theorie, die analytische Rechtstheorie. Wäre dies der Fall, so könnte man eine kritische Theorie rechtfertigen, die zwar nicht selbst die Schlechtigkeit der Welt erkennt, jedoch über eine Dialektik zur Aufhebung des schlechten Präludiums des Positiven verfügte. I m Gegenteil, die analytische Rechtstheorie w i l l überhaupt kein negatives B i l d des Universums anbieten. Sie preist das Universum, gewährleistet — sofern es i h r zusteht — seine formale Rationalität, d.h. sie sorgt dafür, daß auf formaler Ebene die den Strukturen der menschlichen Wirklichkeit immanente Richtigkeit vom positiven Recht garantiert wird. Es kann auch nicht anders sein, da das Recht als Form der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse und als ihren Tiefenstrukturen immanente Wahrheit nur ihre gute Seite zum Ausdruck bringen kann. Die Hypothese von der Schlechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ist haltlos. W i r d diese Hypothese aufrechterhalten, so bedeutet es für den harmonischen Aufbau der epistemologischen Argumentation Maihofers einen Widerspruch, der jeden dialektischen Anspruch der Theorie ungültig macht. Die realistische Rechtstheorie geht dann zwei Risiken ein. Das erste Risiko betrifft das Verhältnis von kritischer Theorie und analytischer Theorie. Die kritische Rechtstheorie ist gezwungen, die Ergebnisse, zu denen die analytische Rechtstheorie gelangt, als wertlos zu erklären. Letztere beweist die innere Rationalität des Rechts als Kongruenz der Rechtsabstraktion m i t den Strukturen von Verhält-
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nissen, deren Wahrheit und immanente Gerechtigkeit — wenn auch nur teilweise ausgedrückt — diese Abstraktion ist. Die Kompetenzen der beiden Theorien sind am Ende widersprüchlich. Das zweite Risiko betrifft gerade die Einheit der Rechtsauffassung. Meint man m i t „Recht" das gegenwärtige positive Recht, so impliziert dies die Vorstellung, es sei aus der Wahrheit der Welt hervorgegangen, aus der „Gutheit" der gesellschaftlichen Verhältnisse und befinde sich i n vollständiger Harmonie m i t der Welt und ihren Strukturen, deren gesetzte und vorausgesetzte Form es zudem noch ist. Meint man jedoch mit „Recht" das zukünftige Recht, so bedeutet dies die Emanzipation der gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Recht, die vorher „gut" waren, und impliziert die Schaffung einer anderen Systemrationalität. Da die Theorie über keinen einheitlichen Schlüssel zu verfügen scheint, mit dessen Hilfe die Uneinigkeit i n der Rechtsauffassung erklärt werden könnte, muß man annehmen, daß entweder die eine oder andere wahr ist, beide jedoch nicht zugleich wahr sein können. Maihofer könnte die Einheit und den logischen Zusammenhang der Theorie retten, würde er eine epistemologische Hypothese der A r t annehmen, wie sie der kritische Rationalismus formuliert hat, und welche durch zwei theoretische Ebenen, die der Analytizität und die des K r i t i zismus, bestimmt wird. Da diese Ebenen aber einer ganz bestimmten politischen Strategie dienen, ist das System i n der Lage, sie zu verbinden. Der Kritizismus ist nur eine Instanz, die die empirisch gewonnenen Erkenntnisse auf der Grundlage einer rein fallibilistischen Hypothese falsifiziert. Die Einheit der Theorie kann nicht gebrochen werden. Der Fallibilismus ist eine rein reformistische, pragmatische Haltung, die die empirischen Erkenntnisse i n Hypothesen verwandelt, deren Wahrheitswert von den Zielen abhängt, die strategisch von der Sozialtechnologie verfolgt werden und denen die Hypothesen funktional sind. Die Inanspruchnahme einer solchen Hypothese, die die Einheit der realistischen Rechtstheorie retten würde, w i r d durch die ontologische Begründung des Rechts unmöglich gemacht. Sie schließt die Möglichkeit aus, das bestehende Recht pragmatisch als Hypothese zu betrachten sowie die empirische Theorie, die das bestehende Recht analysiert, zu falsifizieren. Zugleich schließt sie die Falsifizierung des Rechts aus; es kann nicht als Hypothese, sondern nur als Wahrheit erfaßt werden. Die Theorie sagt die Wahrheit, und die Wahrheit des positiven Rechts erscheint i n seiner formalen Rationalität, von einer Theorie überprüft, die Glaubwürdigkeit besitzt. Das Problem läßt sich nur lösen, wenn man das Selbstverständnis der kritischen Rechtstheorie als widersprüchlichen Ausgangspunkt aufgibt und die Einheit und den logischen Zusammenhalt der realistischen
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Rechtstheorie wiederherstellt, m i t der ontologischen Voraussetzung als ihrem eigentlichen Ausgangspunkt und ihrer tatsächlichen Grundlage, und wenn man weiter die darin enthaltenen theoretischen Implikationen entwickelt. Die ontologische Grundlage des Rechts preist die Rechtsform als Wahrheit. Diese Wahrheit ist, wie Maihofer sagte, nicht eine Wahrheit nach hinten — dieser Meinung war Savigny — sondern Wahrheit nach vorne. Die gegenwärtige Form dieser Wahrheit ist das positive Recht, dem der Wahrheitswert „wahr" zuerkannt wird. Dieser ontologisch vorausgesetzte Wahrheitswert: wahr w i r d logisch von der analytischen Rechtstheorie oder Theorie der formalen Rationalität des positiven Rechts aufgebaut und nachgewiesen. Die Zukunft dieser Wahrheit liegt bereits i n der Gegenwart, denn die Wahrheit schaut perspektivisch. Die Zukunft ist die Projektion und die Fortsetzung dieser Wahrheit i n ihrer jetzigen Form, die sich nicht verbessern, sondern nur aufrechterhalten läßt. Die zentrale Disziplin der kritischen Rechtstheorie gewährleistet die Entwürfe, die für die Zukunft erarbeitet werden, die Fortsetzung der Gegenwart i n der Form ihrer inneren Wahrheit und ihrer Emanzipation. Diese Disziplin nennt Maihofer „Gesellschaftstheorie als produktive Antizipation emanzipatorischer Konzepte", wobei „emanzipieren" i n einem nicht abstrakt neutralen Sinne gemeint ist: von den Fesseln befreien, die unterdrücken und die Entwicklung freier Verhältnisse verhindern. Gegenstand der Emanzipation sind die gesellschaftlichen Verhältnisse i n der Immanenz der materiellen Instanz sowie i h r Widerstand gegen die Objektivierung jener Verhältnisse, die i n der rechtlichen Abstraktion entfremdet und unabhängig von diesen Verhältnissen sind. Diese Abstraktion hat schon Puchta als die m i t Ungleichheit behaftete Gleichheit dargestellt. Für Maihofer kann die Befreiung nur im Sinne der Wahrheit erfolgen: die gesellschaftlichen Verhältnisse emanzipieren sich, indem sie sich von dem befreien, was i n ihnen noch nicht wahr und was noch nicht i n der Form der Wahrheit aufgenommen ist. Diese Emanzipation ist die Emanzipation der materiellen, gesellschaftlichen Verhältnisse zu ihrer rechtlichen Form. Die zukünftigen, emanzipierten gesellschaftlichen Verhältnisse sind die materiellen gesellschaftlichen, die nur noch i n der Form ihrer rechtlichen Abstraktionen existieren. Der Gesellschaftsentwurf Maihofers ist der Entwurf einer Gesellschaft, i n der die materiellen Subjekte, „die Individuen, nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind" 1 4 . 14
M a r x , Grundrisse, S. 82.
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Und der Ontologie erscheinen diese Abstraktionen als Wahrheit, als partielle, aber wahre Ausdrucksformen, i n denen die Strukturen der menschlichen Realität festgelegt werden. N u r die Gesellschaft ist emanzipiert, i n der die Abstraktion die allgemeine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, i n denen die materielle Instanz i n der Objektivität der rechtlichen Gleichheit verdrängt ist; eine solche Gesellschaft ist human und wahr, da sie vollständig die Idealität und die Utopie des bestehenden positiven Rechts zum Ausdruck bringt. Diese wahrhaft wahre humane Gesellschaft ist die vollständig verwirklichte bürgerliche Gesellschaft. Die Schlechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ist dann die Schlechtigkeit ihrer materiellen Instanz sowie der Widerstand, den diese Instanz der rechtlichen Abstraktion entgegensetzt. Schlecht sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, i n denen die materielle Instanz noch nicht vollständig verdrängt worden ist; schlecht ist die Materialität, die sich der Abstraktion widersetzt. Die Befreiung kann nicht vom Recht durchgeführt werden, das sich über diese Verhältnisse als ihre Wahrheit erhebt. Die Befreiung w i r d von den Verhältnissen selbst durchgeführt, die i n ihrem Entwicklungsprozeß ihre Entfremdung von den Subjekten sowie die Entfremdung der Subjekte von sich selbst behaupten. So behaupten sie ihre Existenz nunmehr als lediglich rechtliche Verhältnisse, die objektiviert, unabhängig gemacht werden und entfremdet sind. I n dem Entwurf der zukünftigen Gesellschaft als der völligen Verklärung der gegenwärtigen Gesellschaft i n der Rechtsform treffen Positivismus und Utopie zusammen. Der Positivismus hat die Gleichheit und Freiheit der einzelnen Individuen nachzuweisen, i n sich als „ausschließliche und herrschende (bestimmende) Subjekte" des Austausches und somit des Rechts reflektiert: d. h. daß die „Gleichheit und die Freiheit" nicht nur i m Austausch respektiert sind, der auf Tauschwerten beruht, sondern, „daß der Austausch von Tauschwerten die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit ist 1 5 . Der Positivismus muß nachweisen, daß die rechtliche Existenz der Individuen und ihrer Verhältnisse völlig die Form ihrer materiellen Existenz v e r w i r k licht, daß sie den Strukturen der menschlichen Realität gerecht wird, daß sie die objektive Rationalität verwirklicht, die die Spekulation als Wahrheit i n der Realität bezeichnet. Der Positivismus muß den Standpunkt der politischen Ökonomie unterstützen, u m die Tatsache zu verschleiern, daß diese Verwirklichung ein historisches und kein Naturprodukt ist, daß „die Voraussetzung des Tauschwertes, als der objektiven Grundlage des Ganzen des Produktionssystems, schon i n sich 15
Marx, Grundrisse, 156 (syntakt. Änderungen vorgenommen — D. G.).
Kap. IV: Die realistische Jurisprudenz
193
schließt den Zwang für das Individuum" 1 6 . Die Utopie, die aus der Unfähigkeit hervorgeht, „den notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft" zu begreifen — so daß die Spekulation sie aufgrund ihrer friedlichen Natur verschmilzt und dialektisiert — drückt den Wunsch aus, „das überflüssige Geschäft vornehmen zu wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder realisieren zu wollen, da er i n der Tat nur das Lichtbild dieser Realität ist". Positivismus und Kritik begegnen sich auf der Ebene der Ontologie ; die Ontologie gibt der epistemologischen Zusammensetzung des Rechtsrealismus die Einheit und den strategischen Zusammenhalt zurück, überwindet die Schwierigkeiten, die sich aus einem widersprüchlichen Selbstverständnis der Aufgaben der Theorien ergeben, deren Leistungen Grundlage des Realismus sind. Die Ontologie ist Ausgangspunkt und zugleich Endpunkt des Realismus. Die kritische Rechtstheorie muß die materielle Rationalität des positiven Rechts erklären und gewährleisten, d. h. der formalen Rationalität gerecht werden, die von der analytischen Erforschung nachgewiesen und i m bestehenden Recht gepriesen wird. Dabei erhebt die kritische Rechtstheorie die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ihrer bereits i n der Rechtsform vorhandenen Abstraktion, und macht sich dabei den Standpunkt der analytischen Theorie und des Positivismus zu eigen. Sie projiziert ihn auf die Zukunft und rettet die theoretische Kohärenz des Realismus. Die Theorie kritisiert die Materialität der Welt, sie ist das Instrument, das sich die revolutionäre Aufgabe zuspricht, auf spekulative Weise den Skandal der Welt zu beseitigen. 5. Eine neue Perspektive Die realistische Rechtstheorie ist Endpunkt der Rechtstheorie. Die Rechtstheorie hatte sich als Hypothese durchgesetzt, die die Formen der Stabilisierung des Rechts feststellen mußte: als Hypothese, die die neue Form der Legitimierung für das Recht einer spätkapitalistischen Gesellschaft erzeugen muß. Nach der tragischen Erfahrung der Vergangenheit versuchte diese Gesellschaft, sich u m die Idee des Rechtsstaates neu zu organisieren, unter Gewährleistung der demokratischen Spielregeln. Die theoretische Wiederherstellung der Rechtsepistemologie erfolgte i m wesentlichen mit Bezug auf diese Garantie als formale Garantie eines Rechtsentwurfs. Dieser Rechtsentwurf genauso wie die Staatsauffassung, die sich auf diesen Entwurf stützte, war Teil einer Strategie der kapitalistischen Entwicklung, die sich durch Leitung une} 18
Marx, Grundrisse, S. 160; auch die später angeführte Stelle.
13 De Giorgi
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Teil I I : Die Theorie
völlige Kontrolle der Gesellschaft zentralisierte Organisation und Planung restruktierte. Die Gliederung und das Funktionieren der Apparate brachten neue Formen der Rationalität zum Ausdruck, die durch die Stabilisierung des Systems legitimiert und sichergestellt werden mußte. Der totale Rechtsentwurf mußte es auf sich nehmen, diese geplante und zugleich planende, formale Rationalität zu gewährleisten. Die theoretischen Mechanismen zur Überwindung der Krise der Legitimierung des Rechts erweisen sich als unzulänglich und manchmal sogar als minderwertig. Das Problem bestand nicht darin, die Immanenz des abstrakten Rechts i n der bürgerlichen Gesellschaft zu preisen m i t dem Bestreben, die materiellen Widersprüche zu überwinden und i n der dialektischen Harmonie ihrer rechtlichen Abstraktion zu vereinigen. Das Problem bestand vielmehr i m Funktionieren und i n der Gliederung des Systems, i n der Rationalität des Systems als einer Legitimierungsstrategie des Modells der kapitalistischen Entwicklung, die sich der Rechtshypothese als spezifischer funktionaler Leistung bedient; die den Stabilisierungsprozeß verstärkt, indem sie der Komplexität der wirksamen Mechanismen gerecht w i r d und diese wirkliche Komplexität nicht i n einer spezifischen, vorher festgesetzten Harmonie auflöst. Der organisierte Kapitalismus bedurfte dieser theoretischen Revolution i n der Rechtsauffassung. Die Theorie mußte sich von der traditionellen Alternative lösen, mit der das Rechtsdenken so lange gerungen hatte, und die neuen Funktionen erfassen, die die Rechtsabstraktion erfüllen mußte. Dieses große theoretische Unternehmen w i r d von Niklas Luhmann versucht, dem großen Geist der modernen Aufklärung, der das Verfahren beschreibt, aufgrund dessen sich der Kapitalismus stabilisieren kann, d.h. wie er seine innere Komplexität reduziert, indem er sich der Rechtsform als formaler geplanter Rationalität bedient, die der Komplexität eines Systems gerecht wird, das seine Entwicklung gerade durch die Stabilisierung seiner repressiven Mechanismen plant. Während Kelsen den epistemologischen Komplex des Rechts i n einer Zeit verwirklicht und zu Ende führt, i n der sich die Rechtsform i n ihrer Positivität behaupten muß, baut Luhmann auf dem Scheitern einer Rechtsepistemologie, die unfähig war, dem Recht die notwendige Legitimierungsgrundlage zu geben, auf dem Elend einer Metaphysik, die nicht begriff, daß die Krise eine Krise der Stabilisierung und des Funktionierens des Systems ist, ein epistemologisches Modell auf, das die Funktionen der Aufrechterhaltung und Stabilisierung des Gesellschaftssystems durch die Stabilisierung des Rechtssystems erfaßt und beschreibt. Zu diesen Funktionen ist das moderne Recht als System der Abstraktion und der Verdrängung der materiellen Instanz fähig.
T e i l III
Die Rationalität Rationalität als Verdrängung 1. Die Krise der Rechtsepistemologie Anfang der sechziger Jahre wurde die Diskussion über die Epistemologie von einer ungelösten Alternative blockiert, die von der Polarität zwischen analytischer und dialektischer Epistemologie umrissen war. Diese Polarität barg die ganzen Bemühungen der modernen Epistemologie i n sich. Ihre Vielfalt an Modulationen bestimmte i n diesen Jahren die gesamte Diskussion über die Grundlagen der Gesellschaftswissenschaft. Doch bereits zu Beginn des darauffolgenden Jahrzehnts zeichnet sich i n der deutschen Epistemologie eine neue Situation ab, i n der die Krise dieser Polarität und damit der Verschleiß der Formen, i n denen die Diskussion erstarrt war, und die Entwicklung eines komplexen und bedrohlichen epistemologischen Entwurfs zusammenflössen. Dieser epistemologische Entwurf vertiefte die bestehende Krise und nahm die Szene ganz für sich i n Anspruch. Durch einen klaren und mutigen epistemologischen Vorschlag brachte er neue und beständige Perspektiven i n die Diskussion. U m die Tragweite des von Luhmann gemachten epistemologischen Vorschlags zu begreifen, seine Rolle innerhalb der Krise und seine Fähigkeiten, die Szene der deutschen Epistemologie fruchtbar zu machen, ist es notwendig, zuerst die Krise zu untersuchen, die die alten Modelle und die alten Vorschläge erfaßt hatte, und zwar vom Standpunkt der Rechtsepistemologie aus: denn sie hat sich i n untergeordneter Stellung und abseits der großen Diskussionen entwickelt und mit unbekümmerter Naivität die Widersprüche der Umwelt, i n der diese Diskussionen entstanden sind, reflektiert. Bei erster oberflächlicher Betrachtung scheint es, als ob die Krise das Produkt einer Müdigkeit, einer Abnutzung der Themen sei, mit denen sich die Diskussion unablässig beschäftigte, die aber allmählich ihren ursprünglichen Sinn einer ernsthaften Auseinandersetzung über die Grundlagen der Gesellschaftswissenschaft verloren hat. Die Krise erscheint als Folge der Unfähigkeit, die Reflexion über die Wissenschaft zu vertiefen, und dadurch als unreflektierte Rückentwicklung der 13*
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Teil I I I : Die Rationalität
ursprünglichen Reflexion und als Notwendigkeit, sich für alle aufnehmbaren Anregungen zu öffnen und sie i n einer Mischung zu verschmelzen, die i n der Lage ist, sich zu organisieren und zu überleben. Doch etwas w i r d sofort klar: die Krise macht sich nicht nur innerhalb einer Theorie oder bei den Vertretern einer Schule bemerkbar, sie betrifft auch die Diskussion über die Wissenschaft und global alle Erscheinungsformen, die u m die Diskussion herum entstanden sind. Der Versuch Maihofers ist nicht so sehr ein Entwurf des gesellschaftlichen Friedens oder der epistemologischen Harmonie, sondern vielmehr eine Notstandskoalition, das gemeinsame Bemühen der Krise zu überwinden. Die Krise bringt aber eine reale Situation zum Ausdruck und reflektiert sie auf positive Weise. Diese Situation ist gekennzeichnet durch den tiefen Riß i n einem Universum, das gespalten ist i n die Erhabenheit des utopischen Bewußtseins und die Niedrigkeit der Welt. Jenseits der theoretischen Schleier bringt die deutsche Epistemologie die reale Entfremdung eines Systems wieder hervor, das sie gerade m i t dem Ziel erzeugt hatte, diese Entfremdung theoretisch zu erfassen und zu überwinden. I n der Rechtsepistemologie ist diese Situation besonders deutlich (sie wurde jeweils als Scheitern der Theorie oder als ihr epistemologisches Unvermögen bezeichnet). Die Rechtsepistemologie, als Versuch konzipiert, das Entfremdungsdenken systematisch zu überwinden, scheitert, da sie gerade i n der Reproduktion der i n der realen Entfremdung impliziten Alternative zum Erliegen kommt. Der Theorie gelingt es nur dann, die Integration des Rechts als Form des Abstrakten i n der modernen ökonomisch-gesellschaftlichen Formation theoretisch herzustellen, wenn sie ihre Flucht i n die Metaphysik vor lauter Angst und Schrecken gegenüber der Welt aufgibt, oder sich nicht mehr an die Welt als eine metaphysische Tatsache bindet, sie so sublimiert, ohne sie zu durchdringen. A u f diese A r t und Weise kann die deutsche Epistemologie immer nur eine Seite der Alternative legitimieren, was Maihofer genau erkennt. Dabei muß sie aber i n Kauf nehmen, entweder das Recht i n eine Fiktion zu verwandeln oder die Positivität des Rechts i n eine rationale Tatsache umzuwandeln. Diese Situation ermöglicht es zwei Aspekte der Rechtsepistemologie zu bestimmen. Bei dem Versuch, theoretisch die Stabilisierung des modernen Rechts als Form des Abstrakten zu begründen, scheitert die Rechtsepistemologie, denn es gelingt i h r nicht, die i n der realen Entfremdung der bürgerlichen Gesellschaft implizite Entzweiung und Spaltung zu überwinden. Sie vertieft und verfestigt nur diese Spaltung und destabilisiert die Globalität des rechtlichen Entwurfs dieser Gesellschaft. Gleichzeitig drückt sie das Scheitern der strategischen Hypothese aus, m i t der sie vorgegangen war. Die Krise der Rechtsepistemologie
Rationalität als Verdrängung
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ist die Krise der Strategie, auf der der post-Kelsensche Versuch aufbaute, die Stabilisierung des bürgerlichen Rechtsentwurfs theoretisch zu begründen. Die deutsche Epistemologie richtete ihre Strategie auf eine globale Operation der Wiederherstellung der menschlichen Person des Kantismus, der zentralen Stellung der menschlichen Vernunft der Aufklärung. Dabei versuchte sie, alte Formen autoritärer Rückentwicklung i n diesen Entwurf einzubeziehen und zu integrieren. Dieser Denkansatz ermöglichte ihr, das praktische Interesse der Theorie von den Widersprüchen des Gesellschaftssystems auf eine der Abstraktionen zu verlagern, die dieses System aufgebaut hatte: auf der Fiktion Person — rationaler Wert. Diese Verlagerung des Interesses, die sich als lebenswichtiger Prozeß für die Theorie erwiesen hat, zwang die Theorie jedoch dazu, immer i n dieser Fiktion zu verharren und sich i n ihrer beklemmenden Gefangenschaft einzurichten. Die deutsche Epistemologie hoffte so, die Welt zu ordnen, zu befreien und aufzuwerten, indem sie der Fiktion Person — rationaler Wert Eigenschaften und Charakterzüge übertrug, die sich das kapitalistische System seit geraumer Zeit zu eigen gemacht hatte und über die es nunmehr, wenn auch widersprüchlich, verfügte. Und gerade diese Widersprüchlichkeit mußte von einer Theorie i n Angriff genommen werden, u m die Stabilisierung dieses Universums i n seiner Rechtsform legitimieren zu können. M i t dieser Fiktion und ihrer zentralen Stellung schuf die deutsche Epistemologie harmonisierte, kritische oder analytische Entwürfe der bürgerlichen Gesellschaft, die aber auf jeden Fall unbrauchbar sind, da sie dem kapitalistischen Entwurf der Stabilisierung nicht zweckdienlich sind. Sie sind praktisch nicht zweckdienlich, da sie dem System keine nützlichen, strategisch verwertbaren Informationen liefern können. Sie sind auch ideologisch nicht funktional, da sie dazu bestimmt sind, die reale Entfremdung zu konsolidieren und folglich klar zum Vorschein zu bringen, anstatt sie latent zu halten und die funktionale Latenz der globalen Strategie des Systems dienlich zu machen. Die Strategie der deutschen Rechtsepistemologie scheitert, weil es ihr nicht gelingt, die Funktion zu erfassen, die die Rechtshypothese i m Rationalitätsentwurf des Spätkapitalismus erfüllen soll. Weiterhin w i r d ihr nicht bewußt, daß die Fiktion Person — rationaler Wert, die sich i n der Anfangszeit des Kapitalismus als praktikable Ideologie erwies, i n seiner Spätphase nicht mehr praktizierbar ist, und sie begreift nicht, daß sich die Reife des Kapitalismus, vom epistemologischen Standpunkt aus betrachtet, nicht mehr i n der Rationalität als ontologischem Eigentum des Subjekts, sondern vielmehr i n der Fähigkeit des Systems äußert, die eigenen Transformationen zu regulieren, die eigene Stabilisierung zu verwirklichen: d.h. alle Teilsysteme der
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Teil I I I : Die Rationalität
Gesellschaft und damit auch den Rechtsentwurf und seine Epistemologie i n die Behauptung eben dieser Rationalität zu integrieren und einzubeziehen. Luhmann entmystifiziert diese Situation; er beschreibt die Unfruchtbarkeit einer epistemologischen Strategie, die die Tatsache verschleiern w i l l , daß das kapitalistische System ein Zusammenhang von äquivalenten Funktionen und Operationen ist, deren Rationalität i n ihrer Fähigkeit besteht, die Stabilisierung des Systems zu verwirklichen. Luhmann nimmt den Standpunkt der bürgerlichen politischen Ökonomie ein; er behauptet, die Rationalität sei keine Fiktion, und sucht die Formen, i n denen sie sich real entfalten kann. Er eliminiert jede ontologische Voraussetzung und zugleich alle Illusionen, auf die sich die Strategie der fiktiven Wiederherstellung der Person als rationaler Wert stützte. Die Epistemologie Luhmanns ist das erste Werk, das die genetische, strukturelle und funktionale Verkettung von Wissenschaft und Kapital beispielhaft beschreibt. Deshalb ist es ein mutiges und modernes, weltliches und aufklärerisches Werk. Es ist i n der Lage, die Krise der frühkapitalistischen Legitimierungsformen zu vertiefen, ihren verborgenen Mystizismus zu enthüllen und alle anderen Operationen des Verschleierns aufzudecken, die von diesen Formen versucht werden. Dieses Werk kann durch die Beschreibung der Mechanismen, die das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft regeln, und durch die Beschreibung der Äquivalenz der Funktionen, die das System stabilisieren können, eine globale epistemologische Alternative vorschlagen. Die Epistemologie Luhmanns stellt fest, wie die moderne Rationalität erzeugt wird, die die Rationalität des Systems ist. Sie erarbeitet die Strategie zur Integration des Subjekts i n das von dieser Rationalität beschriebene Universum und kehrt so das mystische B i l d des rationalen Subjekts um, des Subjekts oberhalb bzw. jenseits des Gesellschaftssystems. Sie zeigt die epistemologischen Bedingungen auf, u m die Erfassung und die Reduktion der Komplexität der Welt zu verwirklichen, d. h. die Bedingungen dafür, daß das Subjekt, das nur noch funktionales Äquivalent i m System ist, an der Rationalität des Kapitals beteiligt ist und sich ganz für die Verwirklichung dieser universalen Rationalität einsetzt, die das Subjekt lenkt und programmiert, die seine Enttäuschungen abwickelt und seine Illusionen orientiert, die i h m das verborgen hält, was dazu bewegen könnte, das Spiel nicht mitzumachen.
Rationalität als Verdrängung
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2. Die Frage der Aufklärung und das Problem der Reduktion von Komplexität — Das soziale System Luhmann ist sich bewußt, daß das Problem der modernen Gesellschaftswissenschaft das Problem der Aufklärung ist. Die Soziologie muß sich fragen, ob und i n welchem Sinne sie heute aufklärerische Züge aufweist 1 . Luhmann gibt jedoch gleich zu, daß zwei zentrale Prämissen der Aufklärung der modernen Soziologie verdächtig geworden sind: „Die gleiche Beteiligung aller Menschen an einer gemeinsamen Vernunft, die sie ohne weitere institutionelle Vermittlung besitzen, und der erfolgssichere Optimismus i n bezug auf die Herstellbarkeit richtiger Zustände 2 ." Diese Prämissen sind Teil eines naiven, obskuren Begriffs der Aufklärung, der überdacht und neu formuliert werden muß. Die Frage der Aufklärung stellt sich heute auf neue problematische Weise. Das soziologische Denken erfüllt die Funktion eines Aufklärungsdenkens der modernen Gesellschaft, wenn i h m „die Erweiterung des menschlichen Vermögens, die Komplexität der Welt zu erfassen und zu reduzieren" gelingt. Die soziologische Theorie, die Luhmann aufbaut, zeichnet sich gerade durch dieses aufklärerische Interesse aus und durch ihr großes aufklärerisches Potential, die Komplexität der Welt zu erfassen und zu reduzieren. Die Systemtheorie, die sich der funktionalstrukturellen Methode bedient, welche auf der kritischen Revision des funktionalen Strukturalismus Parsons 3 aufbaut, ist der Ort, an dem das Problem der Reduktion der Komplexität der Welt i n seiner ganzen 1 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 66 - 91, S. 67.
i n : Soziologische Aufklärung,
I,
2 Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 67. 3 Vgl. Luhmann, Funktionale Methode u n d Systemtheorie, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 3 1 - 5 3 ; Moderne Systemtheorie als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, i n : Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft, S. 7 - 2 4 ; dazu s. man: Bubner, Wissenschaftstheorie u n d Systembegriff. Z u r Position v o n N. L u h m a n n u n d deren Herkunft, i n : D i a l e k t i k u n d Wissenschaft, F r a n k f u r t a. M . 1973, S. 112-128; die ersten zwei K a p i t e l der A r b e i t v o n Febbrajo, Funzionalismo strutturale e sociologia del diritto, S. 9 - 59. Das Werk Luhmanns hat i n der jüngsten deutschen Sozialwissenschaft großes Echo gefunden. Diese scheint jedoch nicht zu einem Verständnis des L u h mannschen Werks fähig zu sein, da sie zwischen der unreflektierten H i n nahme jener Epistemologie u n d der naiven Ablehnung ihrer K o m p l e x i t ä t gespalten ist. H i e r geben w i r einige Beiträge, die w i r f ü r die bedeutendsten halten: Münstermann, Rechtstheorie Luhmanns; Willms, Niklas Luhmanns Funktionalismus u n d das Problem der Demokratietheorie, i n : Funktion, S. 11 - 4 0 ; Thome, Der Versuch, die „ W e l t " zu begreifen; G r i m m , Niklas L u h manns „Soziologische A u f k l ä r u n g " ; Grünberger, Organisation statt Gesellschaft; Zielcke, System u n d funktionale Methode. V o n besonderem Interesse sind die zwei Bände der Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion und: Giegel, System u n d Krise.
200
Teil I I I : Die Rationalität
epistemologischen Tragweite erarbeitet und als Grundlage der Theorie angenommen wird. Genau i n dieser Transformation des Problems der modernen Aufklärung i n soziologische Theorie besteht das Erkenntnisvermögen der Systemtheorie. Funktionale Analysen, schreibt Luhmann 4 , stützen sich nicht auf sichere Gründe, auf ein bewährtes Wissen oder vorliegende Gegebenheiten, u m ein daraus abgeleitetes umfangreiches und sicheres Wissen zu gewinnen; sie beziehen sich letztlich auf Probleme und suchen Lösungen für diese Probleme zu ermitteln: „Als Hebel der Problematisierung dient ihnen die Frage nach der Erhaltung des Bestandes von Handlungssystemen — man könnte auch abstrakter formulieren: die Frage nach der Identität i n der wirklichen Welt." M i t Komplexität der Welt meint Luhmann die Gesamtheit der möglichen Ereignisse. Die Welt ist äußerst komplex, wogegen die Aufmerksamkeitsspanne unserer intentional gelenkten Erfahrung und unseres Handelns äußerst gering ist 5 . Das Mögliche übertrifft immer das, was w i r durch das Handeln oder die Erfahrung erarbeiten können. Unsere Erfahrung w i r d von übermäßigen Ansprüchen belastet, die sie unsicher gestalten und ihre Fähigkeit bedrohen, sich erfolgreich i n der Welt zurechtzufinden. Diese übermäßigen Ansprüche, die die Erfahrung mit sich trägt, kommen einerseits als Überfluß des Möglichen gegenüber der noch nicht gegenwärtig gewordenen Erfahrung zum Ausdruck, andererseits als die Notwendigkeit des Risikos immer dann, wenn die Erfahrung gegenwärtig wird. Das Universum des Möglichen, das auf der Erfahrung lastet, zeigt die Doppelstruktur der Komplexität 6 und der Kontingenz 7. Komplexität bedeutet, daß es immer mehr Möglichkeiten der Erfahrung und des Handelns gibt, als aktualisiert werden können. Kontingenz bedeutet, daß „die i m Horizont aktuellen Erlebens angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns nur Möglichkeiten sind, daher auch anders ausfallen können, als erwartet wurde" 8 . Komplexität bedeutet praktisch Zwang zur Selektion, Kontingenz bedeutet Enttäuschungsgefahr und die Notwendigkeit, Risiken auf sich zu nehmen, nachdem die Selektion einmal vollzogen ist. Die Sozialsysteme nehmen die Funktion wahr, die Komplexität der Welt zu erfassen und zu reduzieren. Sie sind „Weltausschnitte, sind 4
Luhmann, Vertrauen, S. 2. Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung, S 74. 6 Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung, S. 72ff.; Vertrauen, S.35ff.; Rechtssoziologie, S. 31 fï.; s. auch Prewo, u.a., Systemtheoretische Ansätze, S. 29 ff. 7 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 31 ff., 209 ff. 8 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, i n : Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft, S. 25 - 100, S. 32. 5
Rationalität als Verdrängung
201
also von geringerer Komplexität als die Welt selbst" 9 . Sie „vermitteln zwischen der äußersten, unbestimmten Komplexität der Welt und dem engen Sinnpotential des jeweils aktuellen Erlebens und Handelns" 10 . Aufgrund dieser Fähigkeit der Vermittlung zwischen Erfahrung und Welt, aufgrund ihrer Fähigkeit, die Welt i n Fragmenten darzustellen, an denen die menschliche Erfahrung ansetzen kann und i n denen die Komplexität der Welt bereits reduziert ist, sind die Sozialsysteme das Medium der Aufklärung. Luhmann definiert das Sozialsystem als „ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen" 11 . Das System baut auf einer Differenzierung von Innen und Außen, von einem Sinnzusammenhang sozialer Handlungen und Umwelt auf. Durch die Stabilisierung einer Grenze zwischen Innen und Außen w i r d das System gebildet, innerhalb der eine gewisse Ordnung mit reduzierter Komplexität variant gehalten werden kann. Diese innere Ordnung „dient als Grundlage eines selektiven, vereinfachten, aber bewährbaren Umweltentwurfs, der Anhaltspunkte für sinnvolles und praktisch durchführbares Handeln erschließt" 12 . Das System legt Fragmente der Welt dar und richtet die Erfahrung auf diese Fragmente, wobei es das Interesse von dem Übermaß des Möglichen auf begrenzte Zusammenhänge sozialer Handlungen verlagert. Diese Zusammenhänge haben illusorische Wirkung, sie ist jedoch notwendig, u m das Handeln zu orientieren. Die Illusion besteht darin zu glauben, die Welt komme i n dem vom System erarbeiteten Entwurf zum Ausdruck und die i n Angriff zu nehmende und zu erarbeitende Komplexität sei die bereits i m System reduzierte. I m System kommt es zu einer Spezifizierung der Komplexität der Welt; die Probleme werden als Probleme des Systems und seiner Aufrechterhaltung erkannt. Die Aufmerksamkeit verlagert sich ganz auf das Systeminnere und konzentriert sich darauf; dabei löst sie sich von der Welt, i n der unmöglich wäre, sich zu orientieren. Luhmann schreibt: „So verwandelt sich die unbestimmte Komplexität der Welt i n genauer spezifizierbare Probleme der Selbsterhaltung, verschiebt sozusagen die Weltproblematik sich teilweise von außen nach innen, wo sie m i t zielgenaueren Metho9 Luhmann, Gesellschaft, S. 143. 10
in:
Soziologische Aufklärung, I , S. 137 - 153,
Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung,
I,
S. 76. 11
Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 113 - 136, S. 115. 12
S. 76.
Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: Soziologische Aufklärung, I,
202
Teil I I I : Die Rationalität
den der Informationsverarbeitung besser zu lösen ist 1 3 ." Innerhalb des Systems w i r d die Selektivität des menschlichen Verhaltens dadurch gesteigert, daß das System dem Verhalten eine begrenzte Zahl von Alternativen bietet, innerhalb derer es sich orientieren kann. Die Systembildung und folglich die Reduktion der i n seinem Innern möglichen Komplexität erfolgt auf der Grundlage der Voraussetzung, daß an anderen Stellen andere Selektionen bereits getroffen worden sind oder noch getroffen werden, die diese vom System selbst durchgeführte Reduktion rechtfertigen. Diese Voraussetzung verstärkt die Stabilisierung des Verhältnisses zwischen System und Umwelt, von dem der Grad der Reduktion der Komplexität, dessen das System fähig ist, abhängig ist. Sie verstärkt so die Selektivität des Systems. Das System reduziert anschließend den i n jeder Entscheidung impliziten Risikograd, verstärkt die Handlungsfähigkeit und erhöht die Geschwindigkeit, mit der die Verhaltensentscheidungen getroffen werden. Auf diese Weise schafft und erhält das System die große Illusion über die Komplexität der Welt; es hält den wirklichen Grad dieser Komplexität und der daraus sich ergebenden Probleme latent. Diese größte Leistung des Systems besteht gerade i n seiner Fähigkeit, die reale Komplexität latent zu halten, eine tiefgreifende Illusion über die Komplexität der Welt zu schaffen und folglich Reduktionen und Vereinfachungen durchzuführen, die dem menschlichen Verhalten die Orientierung ermöglichen. Nur Systeme können als Medien der Aufklärung dienen, die die moderne Welt kennzeichnet und sich völlig von der Vernunftaufklärung unterscheidet. Zu dieser Leistung ist das „frei diskutierende Publikum" unfähig, das nach der alten Auffassung der Vernunftaufklärung das Prinzip der Aufklärung verwirklichen mußte. „Nicht schon die Befreiung der Vernunft zu zwangloser Kommunikation klärt auf, sondern nur eine effektive Steigerung des menschlichen Potentials zur Erfassung und Reduktion von Komplexität" 1 4 , schließt Luhmann. 3. Funktionale Stabilisierung und Systemrationalität Die Reduktion der Komplexität der Welt auf ein für die Erfahrung und das Handeln zugängliches Format w i r d vom Sinn gesteuert: die Sozialsysteme sind Systeme, die nach dem Sinne identifiziert werden. „Sinn", schreibt Luhmann, „ist eine bestimmte Strategie des selektiven 13
Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung,
I,
S. 76. 14
S. 77.
Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: Soziologische Aufklärung, I,
Rationalität als Verdrängung
203
Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität" 1 5 . Die Identifikation des Sinns ermöglicht es, zeitweise eine gewisse Menge von Erlebnismöglichkeiten zusammenzufassen und zusammenzuhalten, d.h. i n der Fülle des Möglichen eine vom Sinn bestimmte Einheit zu schaffen, die vorläufig andere Möglichkeiten neutralisiert, ohne sie jedoch als Möglichkeiten auszuschließen. Die Welt bleibt als der Horizont erhalten, innerhalb dessen die anderen Möglichkeiten weiterbestehen, als das Universum, i n dem sich immer weitere Selektivität vollziehen kann. Auf diese Weise ist es möglich, eine Vielzahl von Selektionsakten einander zuzuordnen, und folglich die Selektivität der einzelnen Sinnzusammenhänge zu verstärken, die das Verhalten lenken, auch wenn das Potential für Aufmerksamkeit unverändert gering und beschränkt bleibt 1 6 . Jedes System muß seine Identität aufrechterhalten; Identität kann aber nicht i m Sinne der klassischen Seinslogik aufgefaßt werden. Identität ist nicht Substanz, Ausschluß anderer Seinsmöglichkeiten, sondern Einschluß und Ordnung dieser Seinsmöglichkeiten: sie ist eine koordinierende Synthese, die Verweisungen auf andere Erlebnismöglichkeiten ordnet 17 . Beibehaltung der Identität bedeutet Erhaltung der dem System eigenen Ordnungsfunktion. Die Sozialsysteme sind nicht an bestimmte Leistungen gebunden, die ihre Erhaltung unter dem endgültigen Ausschluß anderer Leistungen, die sie bedrohen würden, gewährleisten. Zur Erhaltung der Systeme tragen Leistungen bei, die durch andere funktional äquivalente Leistungen ersetzbar sind. Lösung der Probleme des Systems bedeutet i m Denken und praktischen Handeln Orientierung an Alternativen. Nach Luhmann ist ein Problem sinnvoll, wenn ein Vergleich der Alternativen zur Lösung des Problems befähigt 18 . Indem die funktionale Methode den Bedarf an Vergleichsmöglichkeiten innerhalb der Systeme befriedigt, zeigt sie ihren Erkenntniswert für die Systemtheorie. Sie fixiert abstrakte Bezugsgesichtspunkte: die Probleme des Systems, von denen aus verschiedene Möglichkeiten des Handelns als funktional äquivalent behandelt werden können. „Die Rationalisierung der Problemstellung durch abstrahierende Konstruktion von Vergleichsmöglichkeiten ist der eigentliche Sinn der funktio15 Luhmann, Moderne Systemtheorie als F o r m gesamtgesellschaftlicher Analyse, i n : Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft, S. 12. 16 17
Vgl. die i n Fn. 14 u. 15 angeführten Hinweise.
Luhmann, S. 9 - 30, S. 26.
F u n k t i o n u. Kausalität,
i n : Soziologische Aufklärung, I,
18 Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, in: Soziologische Aufklärung, I, S. 35.
204
Teil I I I : Die Rationalität
nalen Methode 19 ." Die Kontrolle über Alternativen ist das Erkenntnisziel dieser Methode: sie ist eine rein theoretische und i m Rahmen des Möglichen, sagt Luhmann, eine praktische. Die funktionale Methode ermöglicht es, über eine Reihe von Alternativen zu verfügen, die als mögliche Problemlösungen aufgefaßt werden, und macht Voraussagen und Erklärungen möglich. Das grundlegende Problem jedes Systems ist immer seine Stabilität, d.h. die Verstärkung und Stabilisierung der Grenze zwischen System und Umwelt. Die funktionale Methode befreit jede Problemlösung von der ontologischen Perspektive, die i n den kausalen Modellen impliziert ist, da sie die Stabilisierung eines Systems als Problem auffaßt, „das angesichts einer wechselhaften, unabhängig vom System sich ändernden, rücksichtslosen Umwelt zu lösen ist und deshalb eine laufende Orientierung an anderen Möglichkeiten unentbehrlich macht. So ist Stabilität nicht mehr als unveränderliche Substanz zu begreifen, sondern als eine Relation zwischen System und Umwelt, als relative Invarianz der Systemstruktur und der Systemgrenzen gegenüber einer veränderlichen Umwelt" 2 0 . I n diesem Sinn kann Luhmann sagen, die funktionalistische Methode sei nicht nur m i t der Freiheit des Handelns vereinbar, sondern sogar die Voraussetzung dafür. Sie bindet das Handeln nicht an ein vorherbestimmtes, als richtig bewertetes Ziel, ebensowenig legt sie das Handeln auf ein kausales Handeln, ein Handeln nach Gesetzen fest. Sie deutet das Handeln unter gewählten, abstrakten, d. h. austauschbaren Gesichtspunkten, so daß die Handlung selbst zu einer Möglichkeit unter vielen anderen wird, bewirkt durch die funktionalistische Analyse. Daß die funktionalistische Methode es ablehne, das Problem der Stabilität des Systems zu behandeln, läßt sich nun nicht behaupten; sie widersetzt sich nur der ontologischen Betrachtung der Stabilität. „Alle funktionalistischen Analysen werden letztlich i n bezug auf Stabilisierungsprobleme als Leitfaden geführt 2 1 ." Die Stabilisierung der Systeme ist die zentrale Frage der Sozialwissenschaft; sie stellt den funktionalen Bezugspunkt ihrer Theorien dar, da das Hauptproblem der Sozialwissenschaft darin besteht, den Grad an Erfassung und Reduktion von Komplexität, der durch das System erreicht wurde, zu erhalten und zu erhöhen. Das ist nur möglich, wenn die Systeme stabil sind. Der so formulierte Gesichtspunkt der Stabilisierung der Systeme führt zu einer Krise der Modelle der 19 Luhmann, Funktionale Methode u n d Systemtheorie, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 35. 20 Luhmann, Funktionale Methode u n d Systemtheorie, i n : Soziologische Aufklärung, I , S. 39. 21
S. 27.
Luhmann, F u n k t i o n u n d Kausalität, i n : Soziologische Aufklärung,
I,
Rationalität als Verdrängung
205
Sozialwissenschaft, die auf der Voraussetzung aufbauen, das Aufstellen oder die Verifikation von Hypothesen i n bezug auf soziale Gesetze könne das Problem der Stabilität i m sozialen Leben lösen. Die Sozialwissenschaft, sagt Luhmann, kann das Problem nur dadurch lösen, „daß sie es als Problem zum zentralen Bezugsgesichtspunkt ihrer Analysen macht und von daher nach den verschiedenen funktional-äquivalenten Möglichkeiten der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen forscht" 22 . Die Krise dieser Modelle der Wissenschaft ist zugleich die Krise des von ihnen unterstellten Rationalitätsmodells und die Krise der Vernunftaufklärung. Nach dem Scheitern der aufklärerischen Idee, die die Rationalität als Handlungsrationalität auffaßte, ist es möglich, ein Erleben oder eine Form des Handelns i n dem Maße als rational aufzufassen, wie es zur Lösung von Systemproblemen und damit „zur Erhaltung reduktiver Strukturen i n einer äußerst komplexen Welt" beiträgt 2 3 . Die Rationalität, wie sie i n Verbindung m i t dem zentralen Problem der Stabilisierung definiert wird, ist systemrelative Rationalität. Rationalität als Systemrationalität ist das Prinzip der soziologischen Aufklärung, die die alte Vernunftaufklärung ablöst. Diese richtete ihr Interesse auf die Suche nach der Vernunftwahrheit, nach den für alle gültigen Prinzipien, begründet auf der intersubjektiven Gewißheit und der Evidenz. A u f diese Weise beschränkte sie ihr Potential für Komplexität a priori und mußte eine Reihe von ontologischen Voraussetzungen erstellen, u m die Vernunft an das Handeln und damit an das Subjekt binden zu können. Die soziologische Aufklärung kehrt das ontologische Vernunftprinzip u m und führt das funktionale Rationalitätsprinzip ein. Luhmann trifft folgende logische Folgerung: wie eine wirksame Aufklärung nur durch Systembildung verwirklicht werden kann, so kann „Rationalität i n der Welt nur durch Aufbau und Stabilisierung umfassenderer, komplexerer Systeme vorangetrieben werden" 2 4 . Nachdem die Rationalität gegenüber dem Handeln isoliert und von ihrer kausalen Abhängigkeit befreit ist, kann sie als Systemrationalität wissenschaftlich auf der Ebene komplexerer Handlungssysteme unter dem Gesichtspunkt ihrer Stabilisierung gelenkt und geordnet werden. Rationalität ist die Fähigkeit, das System zu lenken, i h m die Lösung der Probleme i n seinem Verhältnis zur Umwelt zu erleichtern und i h m die Reduktion von Komplexität i n einer sich ändernden Welt 22
Luhmann, F u n k t i o n u n d Kausalität, i n : Soziologische Aufklärung,
I,
Luhmann, Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung,
I,
S. 27. 23
S. 79. 2
S.
Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: Soziologische Aufklärung, I, .
206
Teil I I I : Die Rationalität
zu ermöglichen und demnach sein Stabilisierungspotential zu erhöhen. Für Luhmann ist ein Handlungssystem dann rational, wenn die auf seinen Bestand und seine Stabilisierung gerichteten Interessen so generalisiert sind, daß sich unter wechselnden Umweltbedingungen genügend Befriedigungsmöglichkeiten ergeben. Luhmann schreibt: „Systemrationalität i n diesem Sinne beruht auf funktionaler Stabilisierung, darauf, daß die Probleme, die das System nach Maßgabe seiner Struktur zu lösen hat, als Bezugsgesichtspunkte für funktionale Analysen und für die Steuerung von Substitutionsvorgängen benutzbar sind 25 ." 4. Strategien der Reduktion von Komplexität — Systemstruktur und Abschirmung von Alternativen Alle Systeme entwickeln geeignete Strategien zur Reduktion von Komplexität. Diese Strategien können i n relativer Unabhängigkeit von der Umwelt i m Verhältnis zum Grad der Stabilisierung des Systems i n der Umwelt aufgebaut und angewandt werden. Die Sozialsysteme erarbeiten zwei besonders relevante Strategien. Die erste ist die Strategie der Problemverschiebung. Sie besteht darin, die äußerste Komplexität der Welt i n systeminterne und systemrelative Komplexität zu überführen und folglich das Problem neu zu definieren, indem es nach innen verschoben w i r d 2 8 . Die Verschiebung des Problems ist ein reduktiver Mechanismus, der das Problem als Systemproblem identifiziert und es so i n dem vom System selbst beschränkten Rahmen der Möglichkeiten lösbar macht. Das Problem, das so zugänglich gemacht worden ist, konzentriert die Aufmerksamkeit auf das Systeminnere und lenkt wirksam das Handeln. Die zweite Strategie ist die der doppelten Selektivität durch Differenzierung von Struktur und Prozeß. Struktur des Systems bedeutet nicht Struktur als relative Konstanz i m Sinne der herkömmlichen Auffassung. Sie gibt nur eine spezifische Eigenschaft der Struktur an, beantwortet aber nicht die grundlegende Frage, warum man Strukturen herstellen muß. Luhmann dagegen definiert Struktur funktional; Struktur bedeutet „Selektivitätsverstärkung durch Ermöglichung doppelter Selektivität" 27. Um sich i n der Welt zurechtzufinden, ist es nicht nur notwendig, eine Auswahl zu treffen und Selektionen durchzuführen, sondern diese Selektionen auch aufeinander zu beziehen, u m einen allmählichen 25 Luhmann, Funktionale Methode u n d Systemtheorie, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 47. 26
Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 117. 27
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 40.
Rationalität als Verdrängung
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Prozeß von Selektionen herzustellen, die mit immer begrenzteren Mengen von Alternativen durchgeführt werden. Bei diesem Prozeß können nicht alle Selektionen problematisiert werden, da nicht nur keinerlei Abstufung stattfinden könnte, sondern die Selektivität immer spärlicher, und, was noch gefährlicher ist, immer ungewisser wäre. Deshalb ist es notwendig, bestimmte Selektionen nicht mehr als Selektionen aufzufassen, sondern als Tatsachen, als Prämissen weiterer Selektionen, als Ausgangspunkte, die die Aufgabe haben, die Ungewißheit der ersten Phase des Selektionsprozesses aufzuheben, u m weitere Selektionsprozesse zu ermöglichen und zu potenzieren. Dieses Isolieren der Selektion und ihre Umwandlung zur Prämisse eines Prozesses, der sich durch die Tatsache erklärt, daß i n dieser Selektion ein Maß an Unsicherheit eingeflossen ist, vermeidet das wiederholte Prüfen der A l t e r nativen und damit die ständige Problematisierung der Auswahlmöglichkeiten, die anfänglich i n ausreichender Menge vorhanden waren. Die Strukturen sind genau diese Vorselektionen. „Sie begrenzen durch einen Wahlakt, der zumeist nicht als solcher bewußt wird, den Bereich der Wahlmöglichkeiten. Sie wählen zunächst das Wählbare. Sie transformieren das Beliebige i n Faßbares, das Weitere ins Engere. Sie lassen Selektion sozusagen durch Anwendung auf sich selbst zweimal und dadurch potenziert zum Zuge kommen 2 8 ." Struktur ist also ein invariant feststehender „code" von Bedeutungen, wobei zuerst andere Möglichkeiten ausgeschieden wurden. Diese Bedeutungen bilden den Bezugsrahmen, innerhalb dessen man dann zwischen vor strukturierten Alternativen konkret wählen kann. A u f diese Weise, behauptet Luhmann, kann man das menschliche Potential für Komplexität immens steigern. Die Struktur beseitigt die Ungewißheit, die davon herrührt, daß man i n einer äußerst komplexen Welt leben muß. Struktur ist ein „Sinnentwurf ins Ungewisse" 29 . Sie absorbiert und reduziert das Risiko, das aus der Notwendigkeit entsteht, zwischen unbegrenzten Möglichkeiten wählen zu müssen, da sie „ein engeres, dem Zeithorizont und der Bewußtseinskapazität des Menschen angepaßtes Volumen von Möglichkeiten definiert". Die Reduktionsleistung der Struktur beruht auf der Abblendung von Alternativen. Sie verschleiert sie und macht sie latent. Die Struktur täuscht über die wahre Komplexität der Welt. Sie setzt ein kleines Fragment des Möglichen fest und richtet die Erwartungen auf dieses Fragment aus. Die Erwartungen bleiben so immer Enttäuschungen ausgesetzt, da das Mögliche und die Alternativen nur abgeblendet und latent gemacht worden sind. Jeder Struktur ist damit das Problem der Enttäuschung 28
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 40. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Aufklärung, I, S. 120. 29
Soziologische
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von Erwartungen immanent. Dieses Problem muß immer berücksichtigt werden, wenn man die Angemessenheit bestimmter Strukturen bewertet: die Strukturen „transformieren die permanente Überforderung durch Komplexität i n das Problem gelegentlichen Enttäuschungserlebens, gegen das dann konkret etwas unternommen werden kann" 3 0 . Für den Aufbau der Strukturen ist folglich einerseits ein gewisses Maß an funktionaler Latenz notwendig, eine Abblendung der Alternativen, mit der man die ständige Reproblematisierung der Struktur vermeidet, sowie das ständige Auftauchen der Ungewißheit, die die Struktur absorbieren muß. Andererseits sind Mechanismen erforderlich, die den Umgang m i t den Enttäuschungen regeln, die sich zwangsläufig aus der Setzung der Struktur ergeben. Diese Mechanismen dienen der Kanalisierung der Enttäuschungen, die durch ihr Erscheinen die Struktur ernsthaft gefährden könnten. Die Mechanismen können unterschiedlicher A r t sein. Es können Mechanismen der Enttäuschungserklärung und damit der Ableitung von Unsicherheitsgefühlen i n Bahnen sein, die die Struktur nicht i n Frage stellen. Es kann sich auch u m Mechanismen der Strukturänderung handeln, die die Struktur an Ereigniswahrscheinlichkeiten anpassen. Wie immer auch diese Mechanismen wirken, jede Struktur muß i n der Lage sein, sowohl auf der Ebene der Vorbeugung als auch auf der Ebene der Überprüfung Mechanismen zur Entwirrung, Regulierung, Ableitung und Manipulation der Enttäuschungen vorzubereiten. Die Struktur ist grundlegend für das System. Die Beständigkeit und die Stabilität des Systems hängen von der relativen Invarianz seiner Struktur gegenüber der Umwelt ab. Die Strukt u r stellt den Maßstab und die Grenze der Komplexität dar, die innerhalb des Systems erfaßt und reduziert werden kann. Sie gibt den Grad der Komplexität an, den ein System erarbeiten kann und bezeichnet zudem die Grenze zwischen der Komplexität des Systems und der Komplexität der Welt. Die grundlegende Frage, die ein System i m Hinblick auf seine Existenz und seine Stabilität lösen muß, ist die seiner Struktur. Das System muß über eine stabile, beständige und angemessene Struktur verfügen, eine Struktur, die den Veränderungen der Umwelt Widerstand leisten und i n angemessener Weise auf die Ereignisse innerhalb des Systems reagieren kann. Diese Struktur muß i n der Lage sein, die Interferenzen und Abweichungen zu überprüfen und die Enttäuschungen zu isolieren, indem sie die Mechanismen vorbereitet, die verhindern, daß die Enttäuschungen über die vom System erreichte Sicherheit und Reduktion der Komplexität dominieren. Weiterhin muß sie i n der Lage sein, die Schwankungen des Systems, die von Ereignissen innerhalb oder außerhalb des Systems hervorgerufen werden, unter Kontrolle zu halten und mit Gleichgültigkeit zu reagie30
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 41.
Rationalität als Verdrängung
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ren, wobei sie von der spezifischen Einzelsituation abstrahiert werden. Die Struktur muß also die Situation überdauern können. Diese Leistungen können die sozialen Systeme durch die Generalisierung der Erwartungen für systemzugehöriges Verhalten erbringen. 5. Die Generalisierung von Erwartungen Generalisierung von Erwartungen innerhalb des Systems bedeutet, daß man trotz Veränderung mancher Umstände an gewissen Erwartungen i n bezug auf das System festhalten kann. Man kann „eine Orientierung als generalisiert bezeichnen", schreibt Luhmann, „soweit sie vom Einzelereignis unabhängig besteht, von einzelnen Abweichungen, Störungen, Widersprüchen nicht betroffen w i r d und Schwankungen, auch i n den relevanten Umständen innerhalb gewisser Grenzen überdauert" 3 1 . Generalisierung der Erwartungen bedeutet, sie gegen andere Möglichkeiten als die von der Struktur selektierten zu immunisieren. Sie bedeutet für das System, gegenüber materiellen und zeitlichen Unterschiedlichkeiten indifferent zu bleiben. Generalisierung der Erwartungen bedeutet, eine größere Abstraktionsfähigkeit und ein hohes Maß an relativer Invarianz zu erreichen. Dieser Prozeß erlaubt dem System ein höheres Maß an Vereinfachung der Verhaltensweisen und ein entsprechendes Maß der Reduktion der Komplexität zu erreichen. Der Sinn der erreichten Vereinfachung w i r d von Luhmann wie folgt geklärt: „Durch Generalisierung der Verhaltenserwartungen w i r d die konkrete Abstimmung des sozialen Verhaltens mehrerer erleichtert, indem schon typisch festliegt, was etwa erwartet werden kann und welches Verhalten die Grenzen des Systems sprengen würde. Diese Vorauswahl des i m System Möglichen kommt auf der Ebene des Erwartens, nicht des unmittelbaren Handelns, zustande, weil nur so die Situation i m Vorgriff auf die Zukunft transzendiert werden kann 3 2 ." Der Generalisierungsprozeß von Erwartungen stärkt und festigt das System gegen Ereignisse und Umstände, die für seine Struktur gefährlich sind, und ermöglicht dem System außerdem, ein hohes Maß an Reduktion der Komplexität beizubehalten und damit die Ordnung, die das System der Welt verleiht. Wie die Selektionen, auf denen die Systemstrukturen entstehen, für die Existenz des Systems notwendig sind, so sind die Generalisierung, m i t deren Hilfe sich das System Sicherheit verschafft, für seine Stabilisierung i n der Welt notwendig. 31
Luhmann, Funktionen u n d Folgen formaler Organisation, S. 55. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 121. 32
1
De Giorgi
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Teil I I I : Die Rationalität
Die von der Struktur durchgeführten Selektionen umgehen Möglichkeiten und erzeugen die Latenz, die die Ungewißheit absorbiert: sie „regulieren Angst". Die Generalisierungen von Verhaltenserwartungen stabilisieren die erzeugte Sicherheit, sie immunisieren und schützen. Sie sind Sicherheit, Orientierung und Vereinfachung. Sie sind Abstraktion und Indifferenz. Sie sind „sicheres Gehäuse für ängstliche Naturen" 3 3 . Der Prozeß der Generalisierung erfolgt i n drei mögliche Richtungen, entlang derer das System die Instrumente und Mechanismen anordnet, die i h m Sicherheit verschaffen. I n der zeitlichen Dimension verschafft die Generalisierung der Erwartungen dem System Sicherheit gegen die einzelnen Abweichungen und Enttäuschungen. I n der sachlichen Dimension ist die Generalisierung Sicherung gegen Inkohärenz und Widersprüche, während i n der sozialen Dimension das System die Verhaltenserwartungen generalisiert, u m sich gegen Dissens zu sichern 34 . Der Grad der Erfassung und Reduktion der Komplexität, die der Mechanismus der Institutionalisierung i n seiner einfachen Form erreicht hat, kann auf der Grundlage der Reflexivität dieses Mechanismus erheblich gesteigert werden, d.h. durch Institutionalisierung des Prozesses der Institutionalisierung. A u f diese Weise steigt jedoch die Komplexität des Systems, spezifische Mechanismen der internen Differenzierung werden nun i n Gang gesetzt. Das System schafft i n seinem Innern Subsysteme, d. h. es bildet Teile, die ebenfalls Systemcharakter besitzen, die die eigenen Grenzen stabil halten und i n diesen Grenzen eine gewisse Autonomie besitzen. Für die komplexen Systeme w i r d diese innere Differenzierung zu einer weiteren Strategie der Erfassung und Reduktion von Komplexität. Sie erreichen Ultrastabilität 3 5 . Sie können nun bestimmte störende Umweltwirkungen abkapseln und gefährliche Wirkungen bremsen, die sich auf das ganze System auswirken könnten und die dagegen i n den Teilsystemen neutralisiert werden können. Sie haben die Möglichkeit, diejenigen Leistungen zu verstärken, die eine höhere Selektivität des Systems und einen schnellen Prozeß der inneren Anpassung gegenüber den veränderlichen Umwelteinflüssen sichern. So kann das System i n Situationen, die für sein Bestehen bedrohlich werden, Zeit gewinnen. Die innere Differenzierung der Systeme erzeugt eine Situation der Ultrastabilität, die proportional zu der wachsenden Komplexität ist, die die Systeme reduzieren müssen. M i t größerer Sicherheit kann jetzt auf die Bedürfnisse reagiert werden, die ständig auf immer klarere und rationalere Weise befriedigt werden müssen. 33
Luhmann, Funktionen u n d Folgen formaler Organisation, S. 60 - 61. Luhmann, Funktionen u n d Folgen formaler Organisation, S. 56. 35 Vgl. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Soziologische Aufklärung, I, S. 123; ders., Ausdifferenzierung des Rechtssystems. 34
Rationalität als Verdrängung
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6. Kongruente Generalisierung von Erwartungen — Das Recht Die Tatsache, daß der Begriff der Generalisierung der Verhaltenserwartungen einheitlich ist und die Leistungen, die das System i n den drei Dimensionen des Generalisierungsprozesses erreicht, parallel sind, schließt Diskrepanzen zwischen den Mechanismen der Generalisierung nicht aus. Die Mechanismen sind heterogen; sie können unterschiedliche und miteinander unvereinbare Verhaltenserwartungen generalisieren, wobei es zu Behinderungen, Interferenzen und Störungen zwischen den einzelnen Dimensionen des Generalisierungsprozesses kommt. Nachdem die Mechanismen zur Generalisierung der Erwartungen ausgelöst sind, stellt sich für die Sozialsysteme das Problem, die Diskrepanzen zu überwinden und zu Generalisierungen von Erwartungen zu gelangen, die i n den drei Dimensionen kongruent sind. Die zwischen den verschiedenen Mechanismen der Generalisierung von Erwartungen feststellbaren Diskrepanzen zeigen die natürlichen Inkongruenzen zwischen heterogenen Mechanismen, aber auch die Möglichkeit, Verbindungen festzustellen, die kongruente Zusammenhänge bewirken. Diese Möglichkeit ist einerseits an die Tatsache gebunden, daß die i n den einzelnen Dimensionen tätigen Generalisierungsmechanismen nie eine einzige und ausschließliche Problemlösung bieten, sondern immer eine Reihe funktional äquivalenter Problemlösungen, und andererseits daran, daß es eine Interaktion dieser Mechanismen gibt. Sie erfordern deshalb ein gewisses Maß an Kompatibilität zwischen den gegenseitigen Leistungen, die sich selektiv auf ihr Verhältnis auswirkt. Das Zusammenwirken der Generalisierungsmechanismen führt zu einer Reihe von strukturellen Variationsschranken, die die Kompatibilität der einzelnen Mechanismen miteinander gewährleisten. Alles das, so präzisiert Luhmann, schließt jedoch abweichendes Erwarten und Handeln, selbst abweichende Normprojektion, abweichende Institutionalisierung und abweichende Identifikation von Erwartungszusammenhängen nicht aus, „konstituiert aber eine engere Auswahl von Verhaltenserwartungen, die sowohl zeitlich als auch sachlich generalisiert sind und dadurch besondere Prominenz und Sicherheit genießen" 36 . Recht eines sozialen Systems sind die i n diesem Sinne kongruent generalisierten normativen VerhaltenserWartungen. Die Rechtsauffassung, zu der die soziologische Analyse Luhmanns gelangt, begreift das Recht funktional und selektiv: das Recht ist selektive Leistung und selektive Kongruenz, durch die eine Struktur der Sozialsysteme zustandekommt. Das Recht ist keine Zwangsordnung, 36
14*
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 99.
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keine Ordnung menschlichen Verhaltens, die bestimmte Verhaltensmodelle aufrechterhalten und dafür sorgen soll, daß man sich an diese Modelle hält. Das Recht ist nicht Konfliktregelung, es ist nicht einmal ursprüngliche Eigenschaft des Sollens, genausowenig wie das Recht Sanktion ist, d. h. ein rein faktischer Mechanismus, der vom Staate ausgeht. Das Recht ist eine ErwaTtungserleichterung. Die Erleichterung „liegt i n der Verfügbarkeit kongruent generalisierter Erwartungsbahnen, das heißt hochgradig unschädlicher Indifferenz gegen andere Möglichkeiten, die das Risiko kontrafaktischen Erwartens beträchtlich herabsetzt" 37 . Die Funktion des Rechts besteht gerade i n dieser Selektionsleistung, die eine Auswahl von Verhaltenserwartungen bewirkt, die sich auf kongruente Weise i n der zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension, generalisieren lassen. Dies geschieht auf der Grundlage von Generalisierungsmechanismen, die untereinander i n hohem Maße kompatibel sind. 7. Positives Redit — Die Frage der normativen Kontingenz Das Recht hat keine Geschichte; das Recht hat keine Entwicklung. Das Recht ist die Struktur eines Sozialsystems, das sich i n der gesellschaftlichen Entwicklung differenziert und funktional spezifiziert. Die „Geschichte" oder „Evolution" des Rechts ist die allmähliche entwicklungsmäßige Isolierung der Prozesse der Differenzierung und der funktionalen Spezifizierung, durch die sich eine selektive Struktur der normativen Verhaltenserwartungen stabilisiert und autonom wird. Die Mechanismen der kongruenten Generalisierung stabilisieren diese Struktur. Die Positivität des Rechts bestimmt die gegenwärtige Phase dieser Prozesse. Positiv ist das Recht, „das gesetzt worden ist und kraft Entscheidung g i l t " 3 8 . Als Norm stabilisiert das Recht Verhaltenserwartungen, indem es sie enttäuschungsfest und kontrafaktisch macht. I n diesem Sinne ist das Recht eine selektive Struktur, die dank einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten zustandekommt. Das Potential der Reduktion von Komplexität, dessen das Recht fähig ist, ist das Ergebnis der normativen Fixierung isolierter Verhaltenserwartungen, deren Struktur nicht mehr problematisiert wird. Eine Problematisierung der Struktur würde bedeuten, den Reduktionsfluß der Struktur selbst aufzuheben: „ U m dieser Funktion w i l l e n kommt es zu jener normativen Fixierung, zur Entschlossenheit, nicht zu lernen. Denn Lernen hieße, nach anderen 37
38
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 100.
Luhmann, Positivität des Rechts, S. 182; vgl. auch Rechtssoziologie, S. 207 ff., 217 ff.
Rationalität als Verdrängung
213
Möglichkeiten suchen 39 ." Nach der normativen Fixierung der Struktur ist es notwendig, sie durch Generalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse enttäuschungsfest zu machen. Das schließt jedoch nicht aus, die Struktur i n anderen Situationen zu problematisieren. Nur darf die Struktur nicht i n den Situationen problematisiert werden, die sie strukturiert. Es ist möglich, „daß sie i n anderen Situationen — anderen Zeitpunkten, anderen Rollen, anderen Systemen — als problematisch behandelt wird, sofern nur für hinreichende Differenzierung gesorgt ist" 4 0 . I n einem hinreichend differenzierten System ist es möglich, daß dieselbe Struktur zugleich als lernbereit und als nicht-lernbereit, als enttäuschungsfest und als anpassungsfähig, als invariant und als variabel behandelt wird. Die Positivierung des Rechts führt zu der anscheinend paradoxen Situation, i n der Strukturen von Verhaltenserwartungen zugleich als invariant und variabel institutionalisiert werden, als normative und kognitive Verhaltenserwartungen. Die große evolutive Errungenschaft der Positivierung des Rechts besteht darin, daß sie die normativen Erwartungsstrukturen parallel zur Legalisierung ihrer Transformierbarkeit stabilisiert, daß sie einige Erwartungsstrukturen als enttäuschungsfest fixiert und zugleich die anderen Möglichkeiten, die zeitweise durch die vorgenommene Selektion ausgeschlossen wurden, ständig bereithält. Die Positivierung des Rechts bringt zugleich Gewißheit und Ungewißheit. Sie ermöglicht es, Energien einzusetzen, die dazu bestimmt sind, Widerstand gegen die Enttäuschungen zu leisten, aber auch Energien, die gegenüber den Transformationen der Struktur „lernbereit" sind. Die Positivierung des Rechts, sagt Luhmann, hat die Funktion, den „Aufbau zunehmend riskanter, evolutionär unwahrscheinlicher Erwartungsstrukturen nach Maßgabe der gesellschaftlichen Entwicklung" 4 1 zu bewirken. Die Positivierung des Rechts, diese „widersprüchliche Behandlung von Strukturen auf der Basis der Systemdifferenzierung", führt zu einer Steigerung der Komplexität und der Kontingenz des Rechts; sie werden dem Rechtsbedarf einer Gesellschaft mit einem hohen Differenzierungsgrad gerecht. Die Steigerung der Komplexität des Rechts findet ihren Ausdruck i n der zeitlichen Dimension, i n der Möglichkeit, zu verschiedenen Zeiten unterschiedliches Recht zu haben, d.h. i n der Institutionalisierung der Transformierbarkeit und der Variabilität des Rechts. Heute kann Recht gelten, das gestern galt und morgen möglicherweise nicht gelten wird, sagt Luhmann. I n der sachlichen Dimension kommt die gesteigerte Komplexität i n der Zahl der judifizierbaren Themen zum 39
Luhmann, Positivität des Rechts, S. 185. Luhmann, Positivität der Rechts, S. 185, vgl. auch Ausdifferenzierung des Rechtssystems. 40
41
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 212.
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Ausdruck, die nicht mehr überprüfbar ist und i m Verhältnis zu der Geschwindigkeit wächst, mit der die Geltungszeiten geändert werden können, sowie i m Verhältnis zur wachsenden Differenzierung und Spezifizierung der Rollen und der Filterungsprozesse, die die zu j u r i difizierenden Themen durchlaufen. I n der Sozialdimension bringt diese unüberprüfbare Erweiterung dessen, was rechtlich möglich ist, die Notwendigkeit mit sich, die größtmögliche Zahl von Personen von der Teilnahme an der Erzeugung des Rechts auszuschließen. Das Recht muß für sehr viel mehr und sehr verschiedenartigere Personen gelten, was nur durch eine stärkere Generalisierung i n der Sozialdimension möglich ist, d. h. Recht muß dann ein höheres Maß an Indifferenz erreichen und damit ein höheres Maß an fiktivem Konsens Dritter voraussetzen. „Nur durch Minimierung der Anteilnahme einzelner können so rascher, sichtbarer Wechsel und so unübersehbare Verbreitung des Rechts institutionalisiert werden" 4 2 . M i t der Komplexität des Rechts wächst auch seine Kontingenz. Das positive Recht ist eine selektive Struktur normativer Verhaltenserwartungen. Die Selektion läßt jedoch die ausgeschlossenen Möglichkeiten als Möglichkeiten und damit als ständig gegenwärtige mögliche Orientierungen der Wahl bestehen. Die getroffene Wahl konnte und kann i n Zukunft anders erfolgen, als sie i n Wirklichkeit erfolgt. Das andere als Möglichkeit, als Ungewißheit, existiert zusammen mit der Wirklichkeit, zusammen m i t der von der Struktur isolierten Gewißheit. Die Möglichkeit des Anderen w i r d sogar institutionalisiert, und damit die Lernbereitschaft, d.h. die Ungewißheit. Wie das Recht kraft einer Entscheidung gesetzt ist, dank derer es seine Geltung erlangt hat, so kann es kraft einer Entscheidung verändert werden. Es ist lediglich notwendig, daß das zu juridifizierende oder das zu verändernde Recht, einen Filterungsprozeß durchläuft, der, nachdem er i n Gang gesetzt ist, Selektivität erzeugt und sie gegenüber anderen, weiterhin präsenten Möglichkeiten als Recht isoliert. Positives Recht bedeutet die Entscheidbarkeit und die Transformierbarkeit von Strukturen, die normative Verhaltenserwartungen selektieren. Das positive Recht ist die Legalisierung der Transformierbarkeit des Rechts. Die Positivität ist Kontingenz. Positives Recht, sagt Luhmann, läßt sich durch Kontingenzbewußtsein charakterisieren 43 . Kontingenz ist Ungewißheit, Unsicherheit. Kontingenz ist ständige Präsenz des Anderen als Möglichkeit, die 42
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 212. /Luhmann, Rechtssoziologie, S. 209: „Gesetztheit heißt nämlich K o n t i n genz, heißt, daß die Geltung auf Setzung beruht, die auch anders hätte ausfallen können. E i n Bewußtsein solcher Gesetztheit w i r d n u r erhalten i n dem Maße, als der selektive Entscheidungsprozeß sich nicht i m Unergründlichen einer Vorgeschichte verliert, sondern sichtbar gemacht u n d als laufend präsente Möglichkeit festgehalten werden kann." 43
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Bereitschaft zu lernen, jedesmal wenn dieses Andere als real isoliert wird; Kontingenz ist, nicht an den eigenen Erwartungen festzuhalten. Die Positivität des Rechts beseitigt nicht die Unsicherheit i n den Verhaltenserwartungen, sie schafft aber eine Struktur, die sich stabilisiert, indem sie die Unsicherheit über die A r t der Erwartungen, deren Durchhalten man lernen muß, möglichst groß hält. Diese Struktur macht die Schwelle der Angst vor dem ständig präsenten Anderen erträglich und akzeptabel, da man sicher sein kann, daß die von der Menge des Möglichen isolierten Erwartungen enttäuschungsfest gemacht werden. Luhmann erklärt: „Rechtsänderung heißt mithin: zu lernen, nicht zu lernen 44 ." Die Institutionalisierung des Rechts als Variable ist nur möglich, wenn die Änderung des Rechts Lernprozessen unterworfen ist. Der Aufbau einer Erwartungsstruktur, die i n der Lage ist, das Vertrauen und die Gewißheit zu verstärken, indem sie die Ungewißheit steigert und institutionalisiert, ist nur i n einer hochdifferenzierten Gesellschaft möglich, i n der man zwei unterschiedliche Verfahren spezifizieren kann, das eine für das Erlernen, das andere für die Enttäuschungsabwicklung. Diese beiden Verfahren treten als Entscheidungsprozeß auf, wobei zwischen programmierendem Entscheiden und programmiertem Entscheiden zu differenzieren ist. I m ersten Prozeß w i r d das Recht erzeugt, i m zweiten erfolgt seine Anwendung. Der eine Prozeß operiert unter unbestimmter, übermäßig hoher Komplexität, der andere unter schon stark reduzierter Komplexität. Zu lösen ist jedoch das daraus sich ergebende Problem der Aufrechterhaltung der Identität des normativen Entscheidungsprogramms. Bei der Anwendung des Rechts w i r d das Programm zur Prämisse der Entscheidung; es ist die Bedingung dafür, daß die Entscheidung richtig ist, unabhängig vom Problem, ob das Programm selbst es ist. Das Programm ist Erklärung einer stark reduzierten Komplexität von Verhaltenserwartungen, die enttäuschungsfest bleiben müssen. Das Programm ist gültiges Recht; der Richter ist nicht bereit, angesichts der Erwartungsenttäuschung zu lernen. Das Programm kann nicht problematisiert und nicht zur Diskussion gestellt werden. Bei der Ausführung des Programms ist es außerdem möglich, die Rationalität i m Sinne der Beachtung von festgesetzten Entscheidungskriterien zu behaupten, d.h. die unterschiedlichen Entscheidungen können untereinander äußerst kohärent sein. A u f der Ebene der programmierenden Entscheidungen ist die Lage jedoch anders. Hier kann der Gesetzgeber reagieren angesichts der Unwirksamkeit der Norm, eines hohen Maßes an Nichtbeachtung, der Verhaltenskonflikte und allgemein angesichts der Dysfunktionen, die sich i n der Struktur der normativen Erwartungen ergeben, indem er 44
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 238.
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die Bereitschaft zeigt, „seine Erwartungen zu korrigieren. Er ist der Adressat für Änderungswünsche, die Instanz für institutionalisiertes Lernen i m Recht" 45 . Für den Gesetzgeber, der das Programm festlegt, besteht die Identität des normativen Entscheidungsprogramms i n der provisorischen Lösung des Problems, das er vor sich hat, d.h. i n der Tatsache, daß er eine Selektion vornimmt, indem er eine Lösung einer anderen vorzieht. Die Differenzierung dieser beiden Verfahren, durch die das Lernen und die Transformierbarkeit des Normativen institutionalisiert werden, hat zumindest zwei wichtige Folgen. Die erste Folge ist die, daß das Recht aus den übrigen Normenordnungen als Struktur eines Sozialsystems ausdifferenziert wird, das seine Variabilität institutionalisiert. Trotz dieser Funktion ist die Struktur stabiler und differenzierter als andere normative Strukturen, da sie über physische Gewalt als Zwangsmittel verfügen kann und da das positive Recht die Form eines Konditionalprogramms annimmt. Gegenüber anderen Systemen, die die Beachtung der Norm beeinflussen wollen, hat die physische Gewalt den Vorteil, universell verwendbar zu sein. Außerdem ist sie von den Strukturen des Systems unabhängig, und es besteht nur ein äußerst geringes Risiko, daß der Betroffene sich nicht beugt und einen verzweifelten, ausweglosen Kampf aufnimmt. Die zweite Folge, die der Prozeß der Positivierung des Rechts mit sich bringt, besteht darin, daß sich die Frage nach dem Konsens der Adressaten, also die Frage der Legitimität des Rechts, neu stellt. Das Recht w i r d nicht deshalb legitimiert, w e i l es höhere Werte und Prinzipien verwirklicht, an die die Adressaten mit dem Resultat glauben, daß sie ihren Konsens geben. Das positive Recht muß nicht seine Unbeweglichkeit, aufgefaßt als die Unbeweglichkeit seiner Werte und Standpunkte, legitimieren, sondern ihre Veränderbarkeit. Außerdem wäre eine Konsensbereitschaft, die sich auf den faktischen Konsens beschränken würde — die dem Konsens die Werte entgegenbringt, die man i m Recht v e r w i r k t glaubt —, eine äußerst spärliche Quelle. Das System des Rechts muß den Konsens generalisieren, u m zwei Erfordernisse zu erfüllen, nämlich „die Notwendigkeit von unterstelltem, mehr oder weniger fiktivem Konsens und die soziale Isolierung derjenigen, die sich offen als abweichend bekennen" 46 . Z u diesen Ergebnissen kommt das System, indem es seine Adressaten an den Entscheidungsprozessen beteiligt. Letztere nehmen die Form von Verfahren, von sozialen Systemen an, die die spezifische Funktion haben, einmalige 45 46
Luhmann, Positivität des Rechts, S. 191. Luhmann, Positivität des Rechts, S. 189.
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und bindende Entscheidungen zu erarbeiten. Zu den legitimierenden Verfahren gehören die Wahlen, die parlamentarischen Debatten und die Gerichtsverfahren. Luhmann erklärt: „Solche Verfahren haben die Beweglichkeit von fallweise veranstalteten Sondersystemen mit je verschieden für sie relevanten Entscheidungsprämissen, und sie engagieren den, der sich beteiligt, durch Implikationen seiner Rolle und seiner Selbstdarstellung 47 ." Die Teilnahme am Verfahren erfordert, vernünftig und verträglich zu sein. Sie setzt voraus, daß das Ergebnis, das während des Verfahrens immer offen ist, hingenommen w i r d ; es w i r d dann zur Prämisse von zukünftigen Entscheidungen und zukünftigem Verhalten. Die Beteiligung erfordert die Festlegung besonderer Rollen, die die anderen Rollen der Beteiligten neutralisieren, so daß erstere nach den Regeln des Verfahrens gespielt werden. Für die Beteiligten gilt weiterhin: „ I h r kommunikativer Beitrag zur Entscheidungsfindung w i r d als frei gewähltes Verhalten stilisiert, ihnen also persönlich zugerechnet 48 ." Derart strukturierte Verfahren dienen nicht nur dazu, Entscheidungen zu erzeugen, sondern auch dazu, Protest zu absorbieren. Die Legitimität, die durch die Verfahren erzeugt wird, ist eine „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen" 49. Durch das Verfahren, d.h. Institutionen, die spezifische, von gesellschaftlich institutionalisierten Wertvorstellungen unabhängige Vorstellungen erzeugen, versucht das System, sich und das von i h m geschaffene Recht selbst zu legitimieren. Wenn es dem System gelingt, eine derartige Legitimierung unabhängig von den Wertvorstellungen durchzuführen, so ist es möglich, folgert Luhmann, auch auf die „Indoktrination einer für alle Lebensbereiche gültigen Ideologie" zu verzichten 50 . 8. Rechtstheorie und funktionale Wissenschaftsauffassung Die funktionale Betrachtung des Rechts macht eine Neustrukturierung der Rechtswissenschaft notwendig. Die Wissenschaft muß sich als ein System organisieren, i n dem „die Arbeit an Theorien ein Handeln ist wie jedes andere Handeln auch" 51 . Die Wissenschaft muß demnach die Probleme aufwerfen und lösen, die m i t ihrer Struktur und der A r t 47
Luhmann, fahren, S. 38 ff. 48 Luhmann, 49 Luhmann, 50 Luhmann, 51 Luhmann, S. 253-267, S. S.232 - 252.
Positivität des Rechts, S. 189; vgl. a. Legitimation durch V e r Rechtssoziologie, S. 263. Legitimation durch Verfahren, S. 28. Positivität des Rechts, S. 189. Die Praxis der Theorie, i n : Soziologische Aufklärung, I, 253; vgl. auch Selbststeuerung der Wissenschaft, ebd.,
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von Selektionen zusammenhängen, die sie durchführt. Folglich muß sie sich auch das Problem ihrer inneren Komplexität sowie der Mechanismen stellen, die diese Komplexität erfassen und reduzieren können. Evolutionär kommt es i m Sozialsystem der Wissenschaft zu Prozessen der funktionalen Differenzierung und Spezifizierung, die die Steigerung der inneren Komplexität des Systems zum Ausdruck bringen und die Selektionsstrategien verwirklichen, die der Struktur des Systems ein höheres Potential zur Verarbeitung der Komplexität verleihen. Die Wissenschaft ist so ein äußerst komplexes und differenziertes System, in dem Mechanismen zur Erfassung und Reduktion der Komplexität erarbeitet werden, ein System, das dazu dient, die reduzierte Komplexität zu übermitteln und diese Reduktion auf einem hohen Grad zur sicheren Orientierung für das Handeln zu erhalten. Das Problem der Reduktion der Komplexität ist wie für die anderen Systeme letzter Bezugspunkt, zu dem sich die verschiedenen Theorien unter einem äußerst abstrakten Gesichtspunkt als funktional äquivalent, vergleichbar und demnach austauschbar deuten lassen. Eine neu formulierte Rechtstheorie, die der Komplexität einer hochdifferenzierten Gesellschaft gerecht werden w i l l , muß i n der Lage sein, geeignete Mechanismen zur Erfassung und Reduktion der Komplexität ihres Universums zu entwickeln und die reduzierte Komplexität zu übermitteln. Die funktionale Betrachtung des Rechts ermöglicht der Rechtstheorie, ihr System als funktional spezifisches und differenziertes Sozialsystem zu entwickeln, das die Probleme seiner inneren und äußeren Komplexität lösen kann. Die innere Komplexität, die die Theorie verarbeiten muß, ergibt sich aus der Tatsache, daß eine wissenschaftliche Rechtstheorie mit jedem möglichen Recht vereinbar sein muß. Die Theorie muß deshalb ihre Konzepte als reduktive Vereinfachungen betrachten, die einen hohen Grad an Selektivität verwirklichen und damit einen hohen Grad an Abstraktion erhalten müssen. Gerade aufgrund der Tatsache, daß die Rechtstheorie Problemlösungen für eine Vielfalt möglicher Rechtsordnungen anbieten muß, hat sie i n ihrem Innern die i n den unterschiedlichen Rechtssystemen möglichen Widersprüche „zu enthalten und aufzubauen". Die äußere Komplexität jedoch, die die Theorie erfassen und reduzieren muß, rührt von der Notwendigkeit her, trotz der Komplexität ihres jeweiligen Gegenstandes Beziehungen zu anderen Disziplinen aufzunehmen. Nur eine Theorie, die sich selbst als ein Sozialsystem versteht, die einen gewissen Grad und eine gewisse Form von Komplexitätsreduktion übermittelbar macht und das Recht ebenfalls als ein Sozialsystem versteht, i n dem eine spezifische Form von Komplexitätsreduktion bindend strukturiert ist, kann auf angemessene Weise auch die Probleme des Verhältnisses zwischen „der Wissenschaft und ihrem Gegen-
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stand", d.h. des Verhältnisses zwischen den Strukturen der jeweiligen Systeme lösen. Daß das Universum der Wissenschaft dem Universum ihres Gegenstandes gerecht wird, bedeutet, daß angesichts der wachsenden Komplexität des Sozialsystems Recht das Sozialsystem Wissenschaft reagiert, indem es hochselektive Prozesse i n Gang setzt, die die Strukturen stabilisieren, die die Komplexität des Universums des Rechts erfassen und reduzieren und sie so trotz des geringen Potentials menschlicher Aufmerksamkeit übermittelbar machen können. Luhmann hat sich nicht auf organische Weise mit dem Problem der Rechtstheorie beschäftigt. Deshalb bleibt auch dunkel, wie die Struktur entsteht, welche die theoretische Praxis u m das Recht organisiert und selektiert. Folglich w i r d auch das Problem der Probleme der Rechtstheorie als autonomer Struktur i m System der Rechtswissenschaft nicht erhellt. Sicher ist auf jeden Fall, daß Luhmann nach der Rechtssoziologie der Rechtstheorie einen besonderen Platz zuweist. Das Thema, das Luhmann bis jetzt interessiert hat, ist vor allem das Verhältnis zwischen Rechtssoziologie und Rechtstheorie. So schließt denn auch der zweite Band von Rechtssoziologie mit einer Reihe von Fragen an die Rechtstheorie und einer Reihe von Hinweisen für eine Zusammenarbeit von Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Diese Zusammenarbeit muß es der Rechtstheorie ermöglichen, sich den funktionalstrukturalen Standpunkt zu eigen zu machen und ihre Probleme nach dem darin enthaltenen Gesichtspunkt neu aufzubauen. Die Rechtswissenschaft befaßt sich mit der symbolischen Realität des Rechts, die Soziologie dagegen m i t der sozialen Realität. Die Wissenschaft behandelt das Recht als sinnhaft-symbolischen Zusammenhang. Sie kann also ihre Autonomie vom soziologischen Wissen beanspruchen, nicht weil sie Wissenschaft des Sollens ist, sondern weil sie eine „Sinnverdichtung, die das Recht i n einem engeren Horizont des Möglichen zusammenzieht und i n i h m interpretierbar macht" 5 2 , zum Gegenstand hat. Diese Sinnverdichtung, ihre symbolische Form, die i n den Figuren des Rechts zum Ausdruck kommt, und die vom Recht durchgeführte Reduktion der Komplexität stellen das dar, was man auf traditionelle Weise als Gegenstand der Wissenschaft bezeichnen würde. Luhmann schreibt: „Eine allgemeine Rechtstheorie, die heute weitgehend Postulat ist, könnte sich dann den Fragen widmen, die mit der besonderen Funktion dieser symbolischen Verdichtung des Rechts, mit ihren Reduktionsweisen, ihren allgemeinen Formen, ihrem Anspruchsniveau i n bezug auf Konsistenz und mit der inneren Folgeproblematik, die bei jeder selektiven Verdichtung zu erwarten ist, zusammenhängen 53 ." 52 53
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 354. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 354.
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W i r d sie als Dogmatik verstanden, so ist die Rechtswissenschaft Entscheidungswissenschaft. I n diesem Sinne erhält sie von der Rechtssoziologie nützliche Hinweise zur Verarbeitung der Informationen, die für die von ihr zu treffenden Entscheidungen notwendig sind 54 . W i r d sie dagegen als allgemeine Rechtstheorie aufgefaßt, so beschäftigt sie sich mit den Denkfiguren, i n denen diese Sinnverdichtung, die durch die Prozesse der kongruenten Generalisierung von Verhaltenserwartungen strukturiert wurde, fixiert ist. Sowohl der Rechtswissenschaft als Dogmatik als auch der Rechtswissenschaft als allgemeiner Rechtstheorie bietet die Soziologie mit ihrer funktional-strukturalistischen Betrachtungsweise einen notwendigen Bezugspunkt zur Lösung der Probleme des Rechtssystems. Um aufzuzeigen, welche Vorteile die Rechtstheorie aus der Soziologie, die die funktionale Betrachtung der Wissenschaft entwickelt, ableiten kann, untersucht Luhmann kurz drei Probleme, die die Reflexion der Rechtstheorie bis jetzt bewegt hat. I n bezug auf die Frage der Einheit des Rechts, der Zeitlichkeit des Rechts und auf die Frage von Recht und Unrecht sei es der Rechtstheorie noch nicht gelungen, Strukturen aufzubauen, um der Komplexität des Rechtssystems gerecht zu werden: es sei ihr nicht gelungen, genauso komplexe Systeme aufzubauen, die Instrumente zur Analyse und Steuerung der Selektionsprozesse liefern, auf denen die Struktur der normativen Verhaltenserwartungen stabilisiert würde. Aus dieser kurzen Schilderung w i r d die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen der funktional-strukturalistischen Rechtssoziologie und einer Rechtstheorie deutlich, die nicht nur ihre Grundlagen überdenken w i l l , indem sie die Modelle problematisiert, auf denen sie traditionell ihre Wissenschaftlichkeit aufgebaut hatte, sondern auch ihre Rolle und ihre Funktion i m Verhältnis zum Rechtssystem. Und nicht zuletzt gibt sich diese Notwendigkeit, i n einem interdisziplinaren Kontext, der auf der Grundlage der funktional-strukturalistischen Betrachtungsweise neu hergestellt wird, die Aufgaben des theoretischen Wissens über das positive Recht zu umreißen. M i t diesen Problemen hat sich Luhmann auch später immer wieder beschäftigt 55 , ohne sie jedoch organisch zu behandeln, so daß die Grenzen der beanspruchten relativen Autonomie des theoretischen Wissens gegenüber anderen Formen des Rechtswissens noch unklar sind. Ebenfalls unklar sind die Themen, die den Problembereich der Theorie be54
Vgl. Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik. Siehe den letzten T e i l von: Luhmann, Rechtssoziologie: „Fragen an die Rechtstheorie", S. 354-362; ders., Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie; Rechtstheorie i m interdisziplinären Zusammenhang; Soziologische Aufklärung, i n : Soziologische Aufklärung, I, 8 0 - 8 1 . 55
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stimmen. Es ist aber möglich, diese Ungewißheit und dieses Dunkel hinter sich zu lassen und — auf der Grundlage der Ergebnisse, die durch die funktional-strukturalistische Analyse des Rechts und der Struktur der Theorie gewonnen wurden — zu versuchen, die notwendige Gestalt der Rechtstheorie zu bestimmen, auch wenn diese „weitgehend ein Postulat ist". 9. Kontingenz und Verdrängung — Rechtstheorie und Verdrängung der materiellen Instanz Die herkömmlichen Auffassungen der Rechtstheorie betrachten das Recht als ein einheitliches und gegenüber den äußeren Prozessen isoliertes System. Sie betrachten es als stabil und i n einem Komplex kristallisiert, dessen Einheit von einem gesetzten oder vorausgesetzten Prinzip herrührt, der das menschliche Verhalten regulieren soll. Die Rechtstheorie, die sich eine derartige Auffassung des Rechtssystems zu eigen gemacht hat, verstand sich selbst als Systemtheorie. Ihre Aufgabe bestand darin, die Formen und die Prinzipien der systematischen Einheit zu fixieren, zu ordnen und zu erklären. Außerdem mußte sie innerhalb des Systems eine Reihe von Subsystemen, die Teile des Ganzen, unterscheiden, deren Gleichgewicht und deren Ordnung Zeichen für die Kohärenz des Systems sein sollten, und sie sollte schließlich die Interdependenzrelationen innerhalb des Systems aufzeigen. Die funktional-strukturalistische Analyse des Rechts hat gezeigt, daß das System des Rechts keine statische Ordnung von vorausgesehenen Regelmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens ist. Es ist auch kein Ganzes, das aus Teilen besteht, die durch gegenseitiges Gleichgewicht das Leben des Systems regulieren und ordnen. Es ist auch keine Gesamtheit von Erkenntnissen, nach einem einheitlichen Gesichtspunkt geordnet, und schließlich kein „Bereich faktischen Handelns, i n dem Rechtsangelegenheiten bearbeitet werden" 5 6 . Das System des positiven Rechts ist das Ergebnis der kongruenten Generalisierung einer Struktur von normativen Verhaltenserwartungen. Seine Einheit beruht auf einer Selektionsleistung, während seine Positivität i n dem Sinne zu verstehen ist, daß das Recht gesetzt wurde und kraft einer Entscheidung gilt. Die Existenz des Rechts sowie das Verhältnis seines Systems zur Zeit hängen von Entscheidungsprozessen ab. Durch diese Prozesse werden innerhalb des Universums der Möglichkeiten Selektionen durchgeführt, für die jeweils ein hohes Potential der Kompatibilität und der Abgrenzbarkeit charakteristisch ist. Diese 56
Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, S. 257.
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Selektionen bilden die Struktur des Systems. Die Struktur i n ihrer relativen Invarianz ist und bleibt an Entscheidungsprozesse und Selektionsprozesse gebunden, die das Mögliche nicht ausschließen, nicht eliminieren, sondern nur isolieren, abschirmen, das Licht dämpfen, i n das es vor der Entscheidung getaucht war. Die Struktur des Rechtssystems ist das Erzeugnis dieser Selektivität, die von der Eigenschaft der Kontingenz bestimmt wird 5 7 . Das System des Rechts kann so als strukturierte Selektivität einer Gesamtheit von Entscheidungsprozessen definiert werden. Eine Rechtstheorie, die sich darauf beschränkt, nur Systemtheorie zu sein, würde die Selektionsprozesse unberücksichtigt lassen, auf denen sich das System strukturiert. Die Rechtstheorie würde sich die Möglichkeit nehmen, selbst Mechanismen zur Steuerung und Regulierung des Systems zu entwickeln. Eine solche Rechtstheorie wäre positive oder dogmatische Rechtstheorie. Sie wäre unfähig, die Komplexität der Selektionsprozesse, die das Recht strukturieren, zu erfassen und zu reduzieren; sie wäre demnach unfähig, Instrumente zur Überprüfung gerade dieser Komplexität zur Verfügung zu stellen. Ihre Erkenntnisse würden sich auf die Deutung der Rechtssätze und ihre Feststellung beschränken; sie wären auf den Aufbau eines Normensystems gerichtet, das als System von Rechtssätzen aufgefaßt wird, welche nach bestimmten Kriterien geordnet werden. Eine solche Theorie wäre gezwungen, das Problem der Komplexität zu verschleiern, da sie es nicht bewältigen könnte. Nur eine Theorie, die zugleich Systemtheorie und Entscheidungstheorie ist, erfaßt und reduziert die Komplexität des Rechts und der Selektionsprozesse, die es strukturieren, und erarbeitet folglich Instrumente zur Selbstregulierung und Steuerung des Rechtssystems. Die Selektivität, die von den Entscheidungen erzeugt w i r d und die Struktur des Rechts darstellt, hat die Eigenschaft der Kontingenz. Kontingent sind die durchgeführten Entscheidungen, die Fragmente des Möglichen, die isoliert werden und normative Struktur erlangen; kontingent ist die Struktur selbst. Die normative Invarianz der Struktur ist nicht an Wertprinzipien, an logische Prinzipien oder an die menschliche Natur gebunden. Sie ist an Entscheidungsprozesse gebunden, durch die sie, genau wie sie hergestellt wurde, transformiert werden kann. Und sie ist an die Tatsache gebunden, daß diese Möglichkeit institutionalisiert und legalisiert, m i t anderen Worten: ständig vorhanden ist. Das Rechtssystem hat also eine kontingente Struktur: das Problem der Struktur des Rechtssystems ist das Problem der Kontingenz. Sowohl die Invarianz des Systems, d. h. die Existenz einer strukturierten Selektivität, als auch die Variabilität der hergestellten Struk57
Vgl. Luhmann, Rechtstheorie i m interdisziplinären Zusammenhang, S. 216 ff.; ders., Ausdifferenzierung des Rechtssystems, S. 123 - 125.
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tur, ihre Positivität als Legalisierung ihrer Transformierbarkeit, sind Prozesse, die vom Prinzip der Kontingenz reguliert werden. Daraus folgt, daß die Rechtstheorie als Entscheidungstheorie als ihr wichtigstes Problem das der Kontingenz der Entscheidungen betrachtet, auf denen die Struktur aufbaut. Das Rechtssystem strebt wie jedes andere System seine Stabilisierung an; es ist bestrebt, sich i n einem veränderbaren Universum zu behaupten und zu widerstehen. Stabilisierung bedeutet für das System Konsolidierung einer kontingenten Struktur, deren Invarianz i n der Legalisierung der Variabilität der Entscheidungen besteht, auf denen die Invarianz selbst aufbaut. Die Normativität des positiven Rechts ist an die Kontingenz seiner Struktur gebunden. Seine Stabilisierung erreicht das Rechtssystem nicht durch die Invarianz seiner Struktur, durch Verstärken seiner Grenzen oder Blockieren der Entscheidungsprozesse, die Recht erzeugen. Dies ist unvorstellbar. Die einzig mögliche und sichere Stabilisierungsstrategie des Systems hat unverzüglich die Kontingenz zu berücksichtigen. Stabilisierung des Rechtssystems bedeutet Stabilisierung einer normativen Struktur, für die eine außerordentlich hohe Kontingenz charakteristisch ist und die von Entscheidungsprozessen abhängt, deren Inhalt variabel ist. Das theoretische Problem der Stabilisierung des Systems, das auch das Problem der Rationalität des Systems ist, kann nicht dadurch gelöst werden, daß man den Gegenstandsbereich der Theorie auf das Rechtssystem beschränkt. Dieses Problem kann nur von einer Theorie gelöst werden, die die Kontingenz der Selektivität als spezifischen Gegenstandsbereich hat. Das Rechtssystem muß, anders ausgedrückt, über Mechanismen zur Regulierung der Kontingenz, über Mechanismen zur Steuerung und Orientierung verfügen, die zur Setzung von Problemen geeignet sind, deren Lösung es ermöglicht, innerhalb von funktional äquivalenten Gesamtheiten Selektionen durchzuführen. Die Konsistenz dieser Selektionen hängt einzig und allein von ihrer Fähigkeit ab, die normative kontingente Struktur des Systems zu stabilisieren. Die Rechtstheorie muß also imstande sein, solche Orientierungs- und Steuerungsmechanismen zu erarbeiten; sie muß Regeln erarbeiten zur Transformation der m i t dem System zusammenhängenden Probleme i n Probleme, die mit den Entscheidungen zusammenhängen, durch die das System entsteht; sie muß die für die Steuerung und Orientierung des Systems notwendigen Informationen erarbeiten. Das erfolgt durch die Setzung von Problemen, deren Lösung die Kontingenz der Selektionen reguliert, auf denen das System aufbaut. Das Problem der Probleme des Rechts und folglich das Problem der Rechtstheorie ist die Regulierung der Kontingenz der Selektionen, auf denen das System aufbaut. Indem die Rechtstheorie systemrelative Probleme i n entschei-
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dungsrelative Probleme umwandelt, indem sie die Regeln für diese Transformation erarbeitet, d. h. indem sie Abstraktionsgrade herstellt, die Mechanismen zur Selektion von Problemlösungen i n Gang setzen zur Stabilisierung des Rechtssystems, w i r d sie Ort der Erzeugung, Lenkung und Überprüfung der Rationalität des Rechtssystems. Die Rechtstheorie, die das System als ein aus Teilen bestehendes Ganzes auffaßt, deren Harmonie das Ganze gewährleistete, begriff die Rationalität als eine ordnende Leistung, die das Ergebnis der Anwendung des theoretischen Schemas auf seinen Gegenstandsbereich ist. Die Rationalität war immanente Qualität der Theorie und i m System reproduzierbar, das so die i h m von der Theorie zugewiesenen Eigenschaften erhielt. A u f diese Weise wurde auch das System zu einer objektiven und rationalen Wesenheit, durch die Instrumente der Theorie isolierbar und isoliert von allen Prozessen der Wechselwirkung mit den anderen Systemen, die i h r Universum bildeten. Die Theorie trug weder zur Erfassung der Komplexität noch zu ihrer Reduktion bei; sie blieb den Problemen des Systems i m wesentlichen fremd, auch wenn sie ihre Legitimität behauptete und erklärte, diese von der Beobachtung der Welt abzuleiten. Die Theorie stellte sich das Problem der Kontingenz als Problem des Universums, nicht als Problem des Systems. Die funktionale Betrachtung dagegen behandelt die Theorie als ein Sozialsystem zur Reduktion der Komplexität und zur Übermittlung reduzierter Komplexität. Die Rationalität der Theorie hängt nicht von ihrer Fähigkeit ab, objektive Schemata zu reproduzieren, auch nicht von ihrer Geeignetheit, ihren Gegenstandsbereich nach diesen Schemata zu gliedern, sie hängt dagegen von ihrer Fähigkeit ab, die Komplexität ihres Gegenstandsbereiches zu erfassen und zu reduzieren, m i t anderen Worten: von ihrer Eignung, Lösungen für die Probleme zu erarbeiten, die mit der Stabilisierung des Systems zusammenhängen, dessen Theorie sie ist. Die Theorie ist der Ort, an dem untereinander funktional äquivalente Lösungen für die wichtigen Probleme des Systems erarbeitet werden. Das Verhältnis zwischen dem System als Gegenstandsbereich der Theorie und der Theorie selbst w i r d also umgekehrt, und damit w i r d auch die Auffassung von der Rationalität der Theorie umgekehrt. Die Rationalität der Theorie ist eine funktionale Rationalität, die den Lösungen immanent ist, die für die vom System gestellten Probleme erarbeitet wurden. Das grundlegende Problem des Systems besteht i n seiner Stabilisierung innerhalb eines veränderlichen Universums. Rational ist die Theorie, die die Komplexität des Systems erfaßt und reduziert, indem sie Mechanismen zur Selbstregulierung und Steuerung erarbeitet, die das System lenken, seine Struktur verstärken, seine Grenzen konsolidieren, d. h. es stabilisieren. Die Rationalität der Theorie ist unmittelbar die Rationalität des Systems. Die Ratio-
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nalität des Rechtssystems ist die Rationalität der Lösungen für die Probleme, die die Stabilisierung seiner normativen und kontingenten Struktur stellt. Die Rationalität der Rechtstheorie ist die Rationalität eines Sozialsystems, das über Mechanismen zur Selbstregulierung, Steuerung und Überprüfung der Lösungen für die Probleme verfügt, die von der normativen kontingenten Struktur des Rechtssystems i n den Prozessen seiner Stabilisierung gestellt werden. Die Theorie ist dann rational, wenn es ihr gelingt, für die Probleme des Systems rationale Lösungen zu bieten. Für das Rechtssystem sind solche Problemlösungen rational, die seine Struktur stabilisieren, sie vor Bedrohungen schützen und ihre Sicherheit verstärken 58 . Die Rationalität der Theorie hängt nicht von der Beachtung einer gewissen Gesamtheit von Regeln ab, die als Garantie für Objektivität oder Wahrheit angenommen werden, auch nicht von der Tatsache, daß es einem mehr oder weniger abstrakten Begriffsschema zur Deutung der Realität gelingt, diese Wirklichkeit als widerspruchsfreies Ganzes zu reproduzieren und uns eine kohärente, empirisch verfizierbare Erklärung zu geben. Die Rationalität der Theorie hängt jedoch auch nicht von der Tatsache ab, daß die Realität sich durch die Theorie als Erklärung eines abstrakt fixierten Prinzips darstellt, als das dieser Realität Immanente. Die Rationalität der Theorie ist ihre Fähigkeit, durch die Regulierung der Kontingenz und durch die Reduktion der Komplexität das System zu stabilisieren. Die Rechtstheorie, die ein System strukturiert, i n dem Instrumente und Mechanismen zur Lösung des Kontingenzproblems vorbereitet werden müssen, ist nur i n dem Maße rational, wie diese Lösungen für die Rationalität des Systems zweckdienlich sind. Sie ist nur dann rational, wenn die von i h r erarbeiteten Lösungen i m Sinne des Systems rational sind. Rational ist die Rechtstheorie nur dann, wenn sie die Komplexität des Systems erfaßt und reduziert, wenn sie das System auf der Grundlage ihrer Kontingenz stabilisiert. Reduktion von Komplexität des Rechtssystems auf der Ebene der Kontingenz bedeutet, daß die Selektionen, aus denen die Struktur des Systems besteht, sich stabilisieren, und dabei der Grad ihrer Variabilität hoch bleibt. Die Selektionen, die die Struktur des Rechts ausmachen, dienen dazu, das menschliche Verhalten zu orientieren und zu erleichtern, indem sie auf die Erwartungssysteme einwirken. Diese Selektionen müssen jedoch von den Subjekten nicht bewußt als Selektionen, als Entscheidungen, erlebt werden, deren Zweck i n der Stabilisierung des Systems i n einem komplexen veränderlichen Universum besteht. 58
Vgl. unter den letzten Arbeiten Luhmanns, Interpretation.
15 De Giorgi
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Sie müssen von den Subjekten als Ersatzformeln ihrer Unsicherheit gegenüber der Komplexität der Welt erfahren und erlebt werden, als sichere Orientierung für das Verhalten, die nicht i n Frage gestellt werden kann, nicht problematisiert und überprüft werden muß. Die Mechanismen zur Generalisierung der Erwartungsstrukturen erfüllen diese Funktion der Illusion über die Komplexität der Welt und damit der Erleichterung des Verhaltens, sie ersetzen die Realität durch die normativen Prämissen der Verarbeitung der Erfahrung. Die normativen Strukturen sind bereits durchgeführte Selektion, bereits reduzierte Komplexität und demnach Instrumente, die leicht dazu verwendet werden können, u m m i t nur geringem Aufmerksamkeitspotential die Verhaltenserwartungen der Subjekte zu orientieren und zu regulieren. Die generalisierten Strukturen müssen als Sicherheit, als Gewißheit gelebt werden. Würde man sie zur Diskussion stellen, so bestünde ständig die Gefahr der Schwächung, sogar der Verletzung der Struktur, aber auch der Gefährdung der Gewißheit und der Sicherheit, die die Strukturen i n der Welt bewirken. Die Selektivität der Strukturen erscheint den Subjekten nur dann als Ersatzformel ihrer Ungewißheit, als stabile Orientierung für ihr Handeln, wenn sie bei den Subjekten eine tiefe Illusion über die Komplexität der Welt hervorruft und stabilisiert und so das grundlegende Systemproblem, das Problem seiner Stabilisierung, vor den Subjekten verborgen hält. Schließlich muß sie diesem Problem eine Formulierung geben können, die innerhalb des Systems verarbeitet werden kann. Selektivität der Struktur bedeutet, daß die Struktur hergestellt wird, indem die Komplexität der Wirklichkeit durch die normativen Prämissen ersetzt, die wirkliche Komplexität verschleiert und über die Komplexität der Welt mittels Entscheidungen hinweggetäuscht wird, die die Bereiche der Wirklichkeit verdrängen, die dem System und seiner Stabilität nicht funktional sind, und sie dann i n der Welt des Möglichen isolieren.Möglich ist der Bereich der Wirklichkeit, der verdrängt worden ist und latent erhalten wird. Selektivität der Struktur bedeutet die Erzeugung von Latenz 59 , von Vereinfachungen für die Handlung. Sie bedeutet die Anhäufung von Latenz, die Verdrängung der Bereiche der Wirklichkeit i n die Möglichkeit. Die Möglichkeit als Universum der Latenz, durch die Selektionsprozesse aufgebaut, ist Verdrängung. Reduktion der Komplexität bedeutet Verdrängung. Die Verschiebung der Probleme des Universums i n systemrelative Probleme ist Verdrängung bestimmter Wirklichkeitsbereiche und ihre Isolierung i m Universum der Latenz auf der Grundlage von Selektionsprozessen, die der Stabilisierung des Systems funktional sind. A l l e 59 A u f das Problem der Latenz i n der Theorie Luhmanns hat besonders Giegel, System u n d Krise, S. 15 ff., die Aufmerksamkeit gelenkt.
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Probleme, die das System i n Angriff nehmen und bewältigen muß, hängen letztlich m i t seiner Stabilisierung zusammen. Die Erzeugung von Latenz ist das gefährlichste; von seiner rationalen Lösung kann sich das System aber erhebliche Vorteile erwarten. Latent muß alles das bleiben, was das System nicht als Produkt seiner Entscheidungen akzeptieren kann, weil es von i h m destabilisiert werden könnte. Wie das System gegenüber all dem indifferent ist, was es stabilisiert, i n dem Sinne, daß die Entscheidungen seiner Rationalität, seiner Stabilisierung funktional sind, so ist es gegenüber allem hochempfindlich, was, falls es den Zustand der Latenz verlassen würde, eine Gefahr für seine Stabilität i n einem veränderlichen Universum darstellen könnte. Die Kongruenz der Generalisierungen von Verhaltenserwartungen ist dem System und den Problemen seiner Stabilisierung funktional. Das System führt Generalisierungen durch, die u m so kongruenter sind, je mehr es i h m gelingt, Abstraktion und Indifferenz zu erzeugen. Nur bei einem hohen Abstraktions- und Indifferenzgrad können die Entscheidungen des Systems kongruent, untereinander hinreichend kompatibel und abgrenzbar und demnach funktional äquivalent sein. M i t anderen Worten: nur wenn die Schwelle der i m System erzeugten Latenz ständig hoch gehalten wird, gelingt es dem System angesichts der Knappheit an realem Konsens, die Bedingungen für die Erzeugung von fiktivem Konsens zu schaffen, der für seine Stabilisierung unerläßlich ist. Das erste Problem, m i t dem sich das System beschäftigen muß, u m die Mechanismen seiner Stabilisierung i n Gang zu setzen, hängt m i t der Erzeugung von Latenz und der Aufrechterhaltung einer ständig hohen Schwelle der erzeugten Latenz zusammen. Selbst das Problem der Kontingenz ist von dem der Latenz abgeleitet und i h m funktional. Die Kontingenz der vom System durchgeführten Selektionen bedeutet nichts anderes als die Möglichkeit zur Variierung der Latenzschwelle i n einem der Stabilisierung des Systems funktionalen Sinne. Die Funktionalität der Kontingenz der Selektionen i n bezug auf die erzeugte Latenz kommt auch darin zum Ausdruck, daß die erzeugte Latenz als Latenz bleibt, gerade weil die Selektionen kontingent sind. Die Selektionen, die die Latenz erzeugt haben, haben i m Universum des Möglichen nur das isoliert, was verdrängt worden ist; sie halten die Möglichkeit offen, das Verdrängte i n Zukunft zum Gegenstand einer Entscheidung zu machen. Der Mechanismus der Kontingenz dient i n positivem Sinne dazu, weiteren fiktiven Konsens zu erzeugen, indem er gerade das Verdrängte ausnützt, denn angesichts der Kontingenz der Entscheidung, auf der es erzeugt wurde, kann das Verdrängte immer zum Gegenstand einer Wahl werden. Die Kontingenz der Selektionen bringt so auch eine A n is«
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nähme der Gegenwart m i t sich, seine Mitarbeit an der ständigen Erzeugung dieser Gegenwart, da die Struktur, auf der sie jeweils aufbaut, zugleich Verdrängung und Vertrauen ist, daß Verdrängungsinstrumente, welche die Illusionen über die Gegenwart erzeugt haben, i n Zukunft das latent gehaltene Verdrängte befreien können. Die Positivität des Rechts schafft i n der modernen Gesellschaft eine Lage, i n der die Kontingenz der normativen Struktur das Rechtssystem stabilisiert, durch die die funktionale Ausnützung der Latenz, die das Rechtssystem selbst als W i r k u n g der Selektionen, auf denen es aufbaute, erzeugt hat. Doch Latenz ist Verdrängung von Wirklichkeitsbereichen, Latenz ist Verdrängung bestimmter Orientierungen des Handelns. Latenz ist Verdrängung von Bedürfnissen, die, wenn sie die Selektion regulierten, die Stabilisierung des Systems bereits getroffener Entscheidungen bedrohen könnte. Gerade deshalb braucht das System Generalisierungsmechanismen, die dazu dienen, Stabilität durch Steigerung von A b straktion und Indifferenz herzustellen. Die Indifferenz des Systems ist unschädlich, nicht i n dem Sinne, daß sie keine Verdrängung und Gewalt erzeugt, sondern i n dem Sinne wie die erzeugte Verdrängung und die gegen das Wirkliche durch die Indifferenz des Systems angewendete Gewalt kontingent ist. D. h., daß Gewalt und Verdrängung anders sein können und niemand darf ausschließen, daß es sie nicht gäbe. Auch wenn sich diese Hypothese einer möglichen Übereinstimmung von repressivem Interesse — gerichtet auf Stabilisierung mittels Erzeugung von Latenz — und der Befriedigung bestimmter, von den Subjekten für lebenswichtig gehaltenen Bedürfnissen bewahrheiten würde, dann bestünde die Gewalt darin, daß diese Übereinstimmung i n ihrer Zufälligkeit auf dem Unwissen der Subjekte aufgebaut wäre. Die Reduktion der Komplexität ist eine Operation, zu der nur das System und nicht die Subjekte auf der Grundlage von immanenten und internen Stabilisierungskriterien fähig ist, sie ist aber vor allem eine Operation, die auf der Illusion, auf der Verschleierung und auf der Unwissenheit über die wirkliche Komplexität gründet. Das positive Recht, das auf der Selektivität einer variablen Struktur aufbaut, d. h. auf der Möglichkeit, ständig Selektionen zwischen funktional äquivalenten Lösungen auf der Grundlage einer tiefen Illusion über die Komplexität der Welt durchzuführen, ist ein wirksamer Mechanismus zur Reduktion der Komplexität, gerade weil es i n hohem Maße Latenz, d. h. Verdrängung, erzeugt. Das funktionale Verhältnis von Kontingenz und Latenz i m System des positiven Rechts stellt eine i n hohem Maße produktive Errungenschaft zur Stabilisierung repressiver Mechanismen dar, die Konsens i n einem Universum gewährleisten können, welches nur i n geringem Maße über entsprechende Ressourcen verfügt. Das Recht, das die Erzeugung seiner
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Selektionen auf der Ebene der Kontingenz reguliert, schafft Sicherheit, indem es ständig die Unsicherheit und zugleich das Vertrauen steigert. Das Recht ersetzt die Realität durch die normativen Prämissen als Indifferenz und Abstraktion von dieser Realität; es bestimmt und generalisiert Sinnzusammenhänge, die das Handeln leiten. Die Sinnzusammenhänge werden als Un-Sinn verdrängt, die für die Stabilisierung des Systems dysfunktional sein könnten und werden latent gehalten. Das moderne positive Recht stabilisiert sich als System der Verdrängung der Sinnzusammenhänge, die die Selektionen, auf denen die Struktur aufbaut, als Zusammenhänge isoliert haben, welche dem System nicht funktional sind. Die vom Recht erzeugte Latenz ist das Universum dessen, was das Recht, als es sich als Generalisierung von Erwartungen konstituiert hat, verdrängt hat. Dieses abgesonderte Universum besteht jedoch nicht als Realität, sondern als Möglichkeit. Es besteht nicht aufgrund seiner Effektivität, sondern aufgrund dessen, was es sein kann: als eine Leistung, deren sich das Recht bei seinem Stabilisierungsprozeß bedient, immer genau dann, wenn die Kontingenz der Verhalten so groß wird, daß sie nicht mehr vom System ertragen werden kann, d. h. immer dann, wenn aus dem Universum des Verdrängten das Bewußtsein der Verdrängung hervorgeht und das System bedroht. Das System reagiert darauf, indem es weitere Selektivität erarbeitet und neue Instrumente und Mechanismen zur Regulierung der Kontingenz sucht: es erzeugt Latenz i n anderen für das System unschädlichen Bereichen. Das Negative, das Verdrängte, das Ausgeklammerte darf jedoch nicht als das, was es ist, als Wirklichkeit erscheinen, als negativer Ausdruck der Selektion, als Ausdruck dessen, was als real und zugleich als w i r k l i c h verdrängt gefühlt und erlebt wird. Das Negative muß als positive Möglichkeit erscheinen, als Potentialität für eventuelle Transformation. Das Verdrängte erlangt so eine positive Funktionalität für die Stabilisierung des Systems. Die Verdrängung ist kein sich schließender, begrenzter und kaum wirksamer Prozeß, sie ist ein reflexiver Mechanismus, der, falls er auf sich selbst angewandt wird, die Fähigkeiten der Selektivität, die er strukturiert, steigert. Der reflektive Mechanismus zur Erzeugung von Latenz ermöglicht dem Rechtssystem, sich auf der Ebene der Kontingenz zu stabilisieren. Wenn Luhmann behauptet, die Positivität des Rechts sei die Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, so w i l l er damit sagen, daß der Mechanismus, der die moderne Gesellschaft stabilisiert — die größte evolutionäre Errungenschaft dieser Gesellschaft — das positive Recht ist, der Mechanismus, der einen hohen Grad an kontingenter Verdrängtheit und Latenz erzeugt und die Latenz durch Entscheidungsprozesse reguliert, welche die Adressaten übernehmen, ohne sie i n
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Frage zu stellen, da sie über die Komplexität der Welt und über ihre Wirklichkeit i m unklaren sind. Die Generalisierung der Erwartungen, die Kongruenz der Generalisierungen, die Dreidimensionalität des Generalisierungsmechanismus, die Kontingenz dieses Mechanismus sowie der Eingriff i n das System der Erwartungen anstatt i n das der Verhalten stellen einen einzigen Prozeß dar, der dazu dient, einen hohen Grad an Verdrängung zu erzeugen und i h n ständig erträglich zu halten. Die Erzeugung von Latenzen ist von größter Wichtigkeit für die Herstellung der rechtlichen Struktur, der Koeffizient der erzeugten Latenz ist ihrer Stabilisierung funktional, der Latenzkoeffizient bleibt variabel, die Erzeugung von Latenz dagegen konstant. Sie erfüllt zwei Funktionen, die — auf sich selbst bezogen — die Bedingungen für die Entwicklung der modernen Gesellschaft durch die Stabilisierung des Verdrängungssystems des positiven Rechts schaffen. Einerseits bietet die Latenz als positive, faktische Bedingung der Stabilisierung des Rechtssystems auf der Ebene der Kontingenz dem System einen Handlungsspielraum, den es nicht hätte, wäre es auf der Ebene der reinen normativen Invarianz erstarrt. Die auf der Latenz stabilisierte Kontingenz ist Reichtum an Ressourcen, ist die Bereitschaft zu sofortigen Reaktionen, ist Anpassungsfähigkeit, ist die Sicherheit, daß vom Verdrängten nur das vom System rational selektierte vorherrschen kann. Durch diesen Mechanismus, der die neueste Errungenschaft und der komplexeste Mechanismus ist, über den das Recht verfügt, hat das System die Möglichkeit, ungeheure Ressourcen i n einem Universum anzuhäufen, i n dem alle Mittel begrenzt sind. Als Ressource ist die herstellbare Latenz unbegrenzt. Wenn die Mechanismen zur Generalisierung der Erwartungsstrukturen funktionieren, wenn also die Mechanismen zur Selbstregulierung innerhalb des Systems jeweils einen hohen Grad an gegenseitiger Kompatibilität und Abgrenzbarkeit entwickeln, kann die Kongruenz dieser Mechanismen Latenz i n großen Mengen herstellen. Der Grad der Verdrängung, der durch das positive Recht erreicht werden kann, w i r d nur durch das Interesse des Systems beschränkt, keine Risiken einzugehen. Risiken einzugehen bringt für das System die Notwendigkeit m i t sich, ergänzende Mechanismen vorzubereiten, die i n der Lage sind, die i m System selbst enstandene Komplexität durch ergänzende Erzeugung von Latenz zu erfassen und zu reduzieren. Andererseits ist die Latenz als Erzeugnis der Selektion i m Möglichen isoliert und auf reines Risiko des Anderen, auf Ungewißheit und Angst reduziert, ein Universum zur bewußten Erarbeitung der Erfahrung; sie ist abgeschirmte, verschleierte Wahrheit. Sie erzeugt Vertrauen
Rationalität als Verdrängung
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i n die Institutionen, Sicherheit i n den von den Selektionsmechanismen durchgeführten Entscheidungen. Sie ist Dunkelheit, dem Lichte der Entscheidungen entzogen, da man riskieren würde, das Negative zu erhellen. Zwischen die Dunkelheit der Latenz und den Schein des von der Selektion erzeugten Positiven t r i t t der wissende Wille; der Wille, der die Entscheidung über die Generalisierungsinstrumente erhellt, die das Böse der Welt beseitigen und verdrängen können. Das Rechtssystem stabilisiert sich, indem es Latenz erzeugt und sie erträglich macht, normative Erwartungsstrukturen generalisiert und sie an Entscheidungsprozesse bindet, u m einen hohen Grad an Kontingenz aufrechtzuerhalten, sowie die Variabilität der erzeugten Invarianz stabilisiert, Komplexität durch Selektionsakte reduziert und Mechanismen zur Reduktion der i m System entstandenen Komplexität erzeugt. Die Stabilisierung ist ein Prozeß, und das Erreichen der Stabilisierung stellt das System vor eine wachsende Zahl von Problemen. Lösungen für diese Probleme zu erarbeiten, ist Aufgabe der Rechtstheorie. Die Rechtstheorie ist der Ort, an dem rationale Lösungen für die vom System gestellten Probleme erzeugt und geplant, überprüft und gesteuert werden. Die Rechtstheorie ist sozusagen der Kontrollt u r m des Systems, das Latenz erzeugt. Die Latenz ist funktionale Bedingung für die Erzeugung der Selektionen, auf denen das Rechtssystem aufbaut. Die rationale Überprüfung der Latenz ist Bedingung für die Stabilisierung des Systems. Die Rechtstheorie erarbeitet die Regeln der Transformation der Probleme des Systems i n Entscheidungsprobleme, sie erarbeitet die Abstraktionen, die notwendig sind, u m den Indifferenz- und Unempfindlichkeitsindex des Systems festzustellen, welches ständig dem aus der Produktion von Latenz sich ergebenden Risiko ausgesetzt ist. Die Rechtstheorie ist rationale Theorie der Verdrängung: ihre Bedingung der Möglichkeit ist das Bestehen von Latenz, Verdrängung und Unwissen über die Welt, das Bestehen von Angst und Unsicherheit, von Illusion über die Wirklichkeit. Ihre Bedingung ist die Existenz eines unbewußten Handelns, das von den Interessen des Systems manipuliert wird, und dem die verborgene Dimension der Realität der Repression entzogen ist. Der Zweck der Rechtstheorie besteht darin, i n ständig wachsendem Maße Verdrängung zu erzeugen, systemfunktionale Sinnselektion herzustellen, und dem System Mechanismen zur Selbstregulierung und Steuerung zu liefern, d. h. Mechanismen zur Absorbierung des Un-Sinns, der i n dem zur Systemstabilisierung funktionalen Handeln angehäuft ist. Der Zweck der Theorie besteht weiterhin darin, Abstraktionen und Indifferenz zu erzeugen, die das angehäufte Verdrängungskapital verwerten und es befähigen können, unverzüglich auf das Risiko zu reagieren, sollte sich das Verdrängte vor dem Bewußtsein offenbaren.
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Teil I I I : Die Rationalität
Die Rechtstheorie ist das System der Rationalität, das dem Rechtssystem die Instrumente und Hinweise zur Selbstregulierung und Steuerung der Selektionen von Lösungen bietet, die mittels der Variabilität der Latenzschwelle die Stabilisierung des Systems überprüfen können. Wenn es stimmt, daß die Rationalität der Theorie die Rationalität des Rechtssystems ist, so stimmt es auch, daß das positive Recht nur i n dem Maße rational sein kann, wie es über eine Rechtstheorie verfügt, die i n der Lage ist, die Steuerungsinstrumente und Hinweise für rationale Entscheidungen zu erarbeiten, die das System stabilisieren. Als Entscheidungstheorie erarbeitet die Rechtstheorie Mechanismen zur Selbstkontrolle und Steuerung des Rechtssystems i n dem Sinn, daß sie die Latenzschwellen, derer das Rechtsuniversum fähig ist, vorbereitet. Sie setzt den Grad der i m System reproduzierbaren Verdrängbarkeit fest, sowie den Grad des Unwissens über die Welt, der notwendig ist, u m die Wirklichkeit zu verschleiern und den Entscheidungsmechanismen zu ermöglichen, auf das Wirkliche die Gewalt auszuüben, die das System bei seiner Stabilisierung als reduzierte Komplexität ausgeben wird. Die Rechtstheorie Luhmanns ist der Höhepunkt der modernen Rechtsepistemologie. Sie ist die zusammenhängendste, reinste und mutigste Konstruktion, zu der das bürgerliche Rechtsdenken gelangt ist. Doch auch ihr Mut ist kontingent und die Kontingenz ihres Mutes ist an die Fähigkeit des Systems gebunden, Latenz, d.h. Verdrängung, zu erzeugen, und den Grad der Gewalt und des Nichtwissens über die Welt hoch zu halten. Die Rechtstheorie Luhmanns ist ein Untersystem innerhalb des Verdrängungssystems der modernen Gesellschaft; sie ist das Untersystem, das die Instrumente zur Erzeugung der Rationalität der Rechtsabstraktion als kongruente und indifferente Generalisierung der Verdrängung erarbeitet, die sich i n den ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen niederschlägt. Das System Wirtschaft hat den funktionalen Primat i n der bürgerlichen Gesellschaft erlangt, sagt Luhmann 8 0 . Die Rechtstheorie systematisiert rational die Koeffizienten der Repression, der materiellen Instanz, die durch das Recht produzierbar und reproduzierbar sind, und zeigt die Entscheidungen auf, die dem System ermöglichen, die Repression erträglich zu machen. Die Rechtstheorie Luhmanns hat den Mut, die A r t und Weise zu beschreiben, wie die Realität dieser Verdrängung durch das System des modernen positiven Rechts gelebt und akzeptiert, verschleiert sowie erträglich und abstrakt gemacht werden kann.
60
Luhmann, Positivität des Rechts, S. 199 ff.
Schlufibemerkung Über die Unentbehrlichkeit einer emendatio des Rechtedenkens „Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte Vervielfältigung u n d Spezifizierung der Bedürfnisse, M i t t e l u n d Genüsse (...) ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit u n d Not, welche es m i t einer den unendlichen Widerstand leistenden Materie, nämlich m i t äußeren M i t t e l n von der besonderen A r t , Eigentum des freien W i l l e n zu sein, dem
somit absolut Harten zu tun hat 1 ."
„Personen wären dafür zu konkrete 2 ." „Positives Recht w i r d i n dem Maße seiner Ausbreitung u n d Änderbarkeit triviales Recht. (...) T r i v i a l i t ä t heißt hohe Indifferenz gegen Unterschiede 5 ."
1 I m Vorstehenden habe ich versucht zu verfolgen, wie sich die Positivität des Rechts als Anfang der Rechtswissenschaft behauptet, sowie die Anstrengungen, die die theoretische Reflektion unternommen hat, um diese Positivität zu legitimieren. A m Ende des von m i r aufgezeigten Weges steht Luhmann. Seine Theorie stellt i n der Tat eine umfangreiche, aufgeklärte, i n sich schlüssige und mutige epistemologische Formation dar. Luhmann schließt die gesamte Entwicklung des Problems ab, dem diese Arbeit gilt, und führt den wissenschaftlichen Diskurs bis zur äußersten Konsequenz. Ein Abschluß meiner Überlegungen kann somit nur i n einer Auseinandersetzung m i t Luhmanns rechtstheoretischen Vorstellungen liegen. Die Rechtstheorie Luhmanns schließt jene Mythen aus, die das Rechtsdenken in eine Geschichtsphilosophie bzw. i n eine abstrakte Auffassung der Rationalität eingebunden hatten, und stellt sich als Theorie der Systemrationalität dar. Das System ist dann rational, wenn es i h m gelingt, seine Stabilisierung zu erreichen: Dies erfolgt durch die Schaffung 1 2 8
Hegel, Rechtsphilosophie, § 195. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 92. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 225.
Schlußbemerkung
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von Subsystemen, die zur Handlungsorientierung dienen. Die Struktur dieser Systeme besteht aus Selektionen, die die Welt auf ein für die Praxis greifbares Format reduzieren. Die Theorie w i r d so zu einer Entscheidungstheorie; das Rechtssystem zu einem auf Kontingenz gegründeten Rationalprogramm. Kontingenz bedeutet aber Latenz; und Latenz wiederum Verdrängung und Zwang. Diese Theorie geht von der Positivität des Rechts aus und zeigt, wie die Positivität für das allgemeine System der Verdrängung und des Zwangs funktional gemacht werden kann: Sie beschreibt eine Funktionsweise und zeigt, wie diese für eine bestimmte Strategie gewonnen wird. Die Theorie stellt sich also nicht die epistemologische Frage des Rechts, sondern das Problem der praktischen Verwendbarkeit eines generalisierten Abstraktionssystems. A u f diese Weise zerstört sich die Theorie selbst, denn sie verzichtet auf die Frage: was das Recht sei. Sie verschließt sich selbst die Möglichkeit, die eigentümliche Logik ihres Gegenstandes zu fassen, da sie α priori den Gegenstand als ein System von Problemlösungen hinstellt und zugibt, die Probleme seien durch das allgemeine Gesellschaftssystem gestellt, die Lösungen seien aber m i t anderen Lösungen äquivalent, die zur Verfolgung der gleichen Strategie dienen. Die Theorie unterliegt jedoch einer skeptischen Selbstzerstörung, denn Voraussetzung der Theorie ist das Nichtwissen über die Welt und somit eine Fiktion. Es ist die Fiktion des Konsens, des Prozesses: die Fiktion, die „bürgerliche Gesellschaft" sei eine ruhende Welt, von der sich die Abstraktionen des Rechts erheben und aus der jegliche Spuren materieller Gesellschaftsverhältnisse verschwunden sind. Diese Fiktion ermöglicht es Luhmann zu verbergen, daß die Rechtskategorie — wie Hegel sagt — „ m i t einer den unendlichen Widerstand leistenden Materie, nämlich m i t äußeren M i t t e l n von der besonderen A r t , Eigentum des freien Willens zu sein, dem damit absolut Harten zu t u n hat" 4 .
2 Luhmanns Theorie ist phänomenologisch haltbar. M i t äußerster Gründlichkeit beschreibt sie den Mechanismus des modernen Rechts und geht die Funktionsweise des Rechtssystems kohärent an. Jene K r i t i k e n scheinen m i r unbegründet zu sein, die behaupten, Luhmann habe den Wert der Person zerstört, das Recht auf ein System von äquivalenten Variablen reduziert und jeglicher Wertanschauung keinen Platz eingeräumt. Man sollte Luhmann nicht seinen M u t vorwerfen. Denn ab4
Hegel,
Rechtsphilosophie,
§195
(Hervorhebung
von
mir
—
D. G.).
Über die Unentbehrlichkeit einer emendatio des Rechtsdenkens
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strakt ist die „bürgerliche Gesellschaft", abstrakt ist ihre geschichtliche Zeit, das Tun, das Handeln i n ihr; gegeneinander gleichgültig die Einzelnen. Diese Gesellschaft hat den Anschein, i n der Abstraktion die allgemeine Versöhnung und den Zusammenhalt der zerrissenen Systeme bewirkt sowie die allgemeine gegenseitige Abhängigkeit, das Bedürfnis und die Not der Einzelnen abgeschafft zu haben. Von diesem Schein geht Luhmann aus, und hält an i h m fest. Konsequent schafft er jegliche Geschichts- und Wertphilosophie ab: sie seien nicht dazu geeignet, das Konkrete wiederzugewinnen. Wolle man i m Rahmen derartiger Metaphysik das Recht erfassen, gelange man nur zu einer schlechten Philosophie des entfremdeten Geistes: das Recht aber werde nicht erklärt. 3 U m zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, muß die Wissenschaft gerade jene Seiten des Gegenstandes betrachten, die das ideologische Bewußtsein verdrängt und die sich der phänomenologischen Betrachtung entziehen. Die Positivität des Rechts kann aus zwei Gründen nicht Ausgangspunkt der Wissenschaft sein: Erstens ist sie ein Ergebnis, und zwar, ein widersprüchliches; zweiten sind die Abstraktionen, w o r i n die Positivität des Rechts besteht, keine einfachen, unschuldigen Generalisierungen. Gerade diese Positivität des Rechts w i r d von Luhmann als sicherer Ausgangspunkt der Wissenschaft, und die Unschuld ihrer Abstraktionen als feste Grundlage der Theorie angenommen. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, eben diesen Schein zu enthüllen; die Prozesse zu erklären, die ihm zugrundeliegen, letztlich den eigentlichen Teleologismus der „bürgerlichen Gesellschaft" zu erfassen, der allein den Erzeugungsort der Verdrängung sowie der Unschuld aufzeigt. Über Luhmann hinauszugehen, verlangt die Negation der Positivität als Ausgangspunkt der Wissenschaft, die Infragestellung der wissenschaftlichen Kategorien, um so zu einem Resultat zu gelangen, das phänomenologisch die Analyse Luhmanns legitimiert, gleichzeitig den eigentlichen Mechanismus der Verdrängung aufdeckt und die strategische Bedeutung der Theorie und ihrer Abstraktionen enthüllt. I m positiven Recht schlägt sich nach Luhmann das System der i m Universum des Möglichen durchgeführten Selektionen nieder. Das Recht stellt daher den Inbegriff von Wirklichkeitsfragmenten dar, welche anerkannt worden sind, d. h. ausdifferenziert, ausgesondert und als allgemein geltend gesetzt. Recht ist Negation dessen, was ausgeschlossen,
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Schlußbemerkung
nicht anerkannt worden ist. Bildet das positive Recht den Gegenstand der Rechtswissenschaft, so heißt dies, daß die Wissenschaft nur das Ergebnis der Selektionsabläufe betrachtet, aufgrund deren das Recht entsteht. Das Ausgeschlossene ist kein Gegenstand der Rechtswissenschaft. Das Verschwinden des Ausgeschlossenen ist die Bedingung dafür, daß sich das Recht als Absolutheit darstellt; diese Absolutheit des Rechts — durch das Verschwinden bedingt — ist keine positive, sondern eine negative. Sie ist Totalität der Negativität, wie Hegel sagt. Das Negative, das Ausgeschlossene verschwindet. Die Rechtskategorie ist nicht die Vermittlung der Gesellschaftsverhältnisse, sondern das Subjekt eines Prozesses, der i n Wirklichkeit bloße Ruhe ist. Versteckt hinter einem undurchsichtigen Dezisionismus, vergibt sich Luhmann die Möglichkeit, das Recht als die Grundform der Vermittlung zu erfassen und somit als widersprüchliches Ergebnis des Kampfes, den das Ausgeschlossene um seine Anerkennung ewig führt. Subjekt der Bewegung ist gerade dieses Universum der toten Identität und der Ruhe, das Luhmann als „Überfülle an Möglichkeiten" bezeichnet, und das ich i n dieser Arbeit als materielle Instanz bestimmt habe. Die Dialektik der Bewegung entsteht aus der Unbeherrschbarkeit jener Instanz. Daher auch die Widersprüchlichkeit des Ergebnisses. Die „eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes" erfassen, heißt, diese Dialektik und den inneren Widerspruch zu begreifen; es heißt weiterhin, das Ausgeschlossene, das Verdrängte als wirkliches Subjekt der Bewegung und als Ausgangspunkt der Wissenschaft aufzunehmen. Die Wissenschaft betrachtet die Rechtskategorie als Abstraktion. Luhmann definiert das Recht als ein System „kongruenter Generalisierungen". Hält man an der Positivität des Rechts als Ausgangspunkt der Wissenschaft fest, so können die Abstraktionen des Rechts als indifferente, unschuldige Generalisierungen dargestellt werden. Unter der phänomenologischen Unschuld jener Abstraktionen verbirgt sich ihr Herrschaftsverhältnis zu dem Realen; es verbirgt sich ihre Eigenschaft, allgemeine Vermittlungsformen eines Prozesses zu sein, dessen Ergebnis die Verdrängung und der Zwang ist. Luhmann beschreibt korrekt das System dieser Abstraktionen, er erfaßt aber nicht ihre Struktur; er beschreibt die Funktion der Abstraktionen, er begreift aber nicht die eigentümliche Logik, die zu ihrer Erzeugung führt, sowie den Teleologismus der Herrschaftsformen, der den Anschein der reinen Generalisierungen erweckt und die eigentliche geschichtliche Zeit eben dieser Generalisierungen bestimmt. Da es i h m nicht gelingt, die geschichtliche Zeit der Abstraktionen zu begreifen, muß Luhmann folgern, das Recht habe keine Geschichte.
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Leer sind die Generalisierungen, die sich als geschichtslos darstellen, da sie sich als von der Last der materiellen Instanz befreite Denkobjekte darstellen. Nur die theoretische Wiederherstellung dieses Bezugs ermöglicht es der Rechtswissenschaft, die Geschichtlichkeit der Abstraktionen zu gewinnen, sowie die Herrschaftsform, die diese verbergen, zu erfassen. 4 Diese Arbeit ist ein Prolog. Sie hat die Entfaltung der modernen Rechtswissenschaft bis zur skeptischen Selbstzerstörung der Theorie verfolgt. Aufgabe der Theorie ist es nun, die epistemologischen Bedingungen ihrer Selbstzerstörung zu negieren, die Positivität des Rechts als Ausgangspunkt der Wissenschaft aufzuheben und die Dialektik der Verdrängung der materiellen Instanz als Subjekt der Bewegung aufzunehmen. Diese Dialektik ist widersprüchlich und tragisch zugleich. Dem Prolog folgt die Darstellung der Dialektik des „absolut Harten": „Es ist dies nichts anderes als die Aufführung der Tragödie i m Sittlichen, welche das Absolute ewig m i t sich selbst spielt 5 ."
5
Hegel, Behandlungsarten des Naturrechts, S. 495.
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